Europaisches Sektorales Wirtschaftsrecht 3848758938, 9783848758937

Die Idee der Europaischen Wirtschaftsintegration verwirklicht sich in den verschiedenen Sektoren des offentlichen wie pr

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Europaisches Sektorales Wirtschaftsrecht
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Herausgegeben von Armin Hatje und Peter-Christian Müller-Graff

Matthias Ruffert [Hrsg.]

Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht 2. Auflage

Nomos https://doi.org/10.5771/9783748900238-1 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Dieser Band ist Bestandteil der 2. Edition der Enzyklopädie Europarecht. Diese beinhaltet folgende Bände: Band 1: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, 2. Auflage Band 2: Europäischer Grundrechteschutz, 2. Auflage Band 3: Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht, 2. Auflage Band 4: Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht, 2. Auflage Band 5: Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, 2. Auflage Band 6: Europäisches Privat- und Unternehmensrecht, 2. Auflage Band 7: Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, 2. Auflage Band 8: Europäische Querschnittpolitiken, 2. Auflage Band 9: Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, 1. Auflage Band 10: Europäischer Freizügigkeitsraum – Unionsbürgerschaft und Migrationsrecht, 1. Auflage Band 11: Europäisches Strafrecht, 2. Auflage Band 12: Europäische Außenbeziehungen, 2. Auflage

Enzyklopädie des Europarechts [EnzEuR] Band 5: Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht Gesamtherausgeber der Enzyklopädie: Prof. Dr. Armin Hatje Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter-Christian Müller-Graff Gesamtschriftleitung: Prof. Dr. Jörg Philipp Terhechte https://doi.org/10.5771/9783748900238-1 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

[EnzEuR] Prof. Dr. Matthias Ruffert [Hrsg.]

Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht 2. Auflage Prof. Dr. Matthias Ruffert, Berlin | Prof. Dr. Jörg Gundel, Bayreuth | Prof. Dr. Constanze Janda, Speyer | Prof. Dr. Ines Härtel, Frankfurt (Oder) | Prof. Dr. Markus Ludwigs, Würzburg | Prof. Dr. Stefan Storr, Wien | Prof. Dr. Josef Ruthig, Mainz | Prof. Dr. Matthias Knauff, Jena | Prof. Dr. Jürgen Kühling, Regensburg | Prof. Dr. Dirk Looschelders, Düsseldorf | Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf | Prof. Dr. Christoph Ohler, LL.M. (Brügge), Jena

Nomos https://doi.org/10.5771/9783748900238-1 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Zitiervorschlag: Autor in Ruffert (Hrsg.), Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht (EnzEuR Bd. 5), § …, Rn …

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5893-7 (Print – Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden) ISBN 978-3-8452-9945-7 (ePDF – Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden) ISBN 978-3-03891-205-7 (Dike Verlag, Zürich/St. Gallen) ISBN 978-3-7089-1966-9 (facultas Verlag, Wien)

2. Auflage 2020 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gedruckt in der EU. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. https://doi.org/10.5771/9783748900238-1

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Vorwort der Gesamtherausgeber zur 2. Edition Die positive Aufnahme der 1. Ausgabe der Enzyklopädie Europarecht und die fortlaufenden Änderungen des maßgeblichen Rechts haben uns veranlasst, diese neue Ausgabe in Angriff zu nehmen. Sie entwirft, wie schon ihre Vorgängerin, ein systemgeleitetes Panorama des Europarechts in seiner ganzen Breite und Vielgestaltigkeit auf dem neuesten Stand. Zugleich liefern die Teilbände verlässliche Informationen über die jeweils behandelten Organisationen und Rechtsgebiete. Die fortlaufenden Entwicklungen in zwei der vertragspositiv der Europäischen Union aufgegebenen operativen Hauptziele haben uns veranlasst, das Werk um zwei Bände zu ergänzen. Zum einen wird das Recht der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nunmehr vertieft und zusammenhängend in einem eigenen Band behandelt (Band 9). Zum anderen ist dem Europäischen Freizügigkeitsraum, mithin dem Freizügigkeits- und Migrationsrecht, als Teil des unionsvertraglich sogenannten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gleichermaßen ein gesamter Einzelband gewidmet (Band 10). Die Bände 9 (Europäisches Strafrecht) und 10 (Europäische Außenbeziehungen) der 1. Ausgabe erhalten neu die Bandzählung 11 und 12. Da die Ausgabe mithin zwei erstaufgelegte und zehn zweitaufgelegte Bände umfasst, handelt es sich werktechnisch um eine zweite Edition. Mit dieser hoffen wir, unserem Anliegen gerecht zu werden, mit der Enzyklopädie ein ebenso systemfundiertes wie umfassendes Orientierungsund Referenzwerk vorzulegen. Armin Hatje

Peter-Christian Müller-Graff

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5

Vorwort der Gesamtherausgeber zur 1. Edition Die Enzyklopädie – EnzEuR – versteht sich als grundlegender Beitrag zur Einheitsbildung im Europarecht. Das Europarecht hat seit mehr als einem halben Jahrhundert einen epochalen Aufstieg genommen. Heute zählt es im Verbund mit den es tragenden nationalen Rechtsordnungen zu den großen Rechtssystemen der Welt. Es weist im globalen Vergleich ein historisch und rechtskatorial einzigartiges Profil mit zahlreichen Facetten auf. Die meisten europäischen Staaten haben in den letzten 60 Jahren ihre Kräfte in internationalen und supranationalen Organisationen gebündelt, um gemeinsam Aufgaben zu erfüllen, denen der Einzelstaat nicht mehr gewachsen ist. Zwar wird die Europäische Union als die zweifellos bedeutsamste Organisation weithin mit „Europa“ gleichgesetzt. Sie ist jedoch nur eine von vielen Organisationen, derer sich die Europäer bedienen, um ihre gemeinsamen Ziele zu verfolgen. Der organisatorischen Vielfalt korrespondiert, zumindest vordergründig betrachtet, eine Zersplitterung der Rechtsquellen des europäischen Rechts, welche dem Ziel der Einheitsbildung auf dem Kontinent zu widersprechen scheint. Umso bedauerlicher ist es, dass eine konzeptionsgeleitete und rechtspositiv verlässliche Gesamtdarstellung der vielgliedrigen Ausfaltungen des Europarechts auf dem gegenwärtigen Stand fehlt. Die „Enzyklopädie des Europarechts“ will diese Lücke schließen und ein ebenso fundiertes wie umfassendes Orientierungs- und Referenzwerk für das gesamte Europarecht bieten. Ziel des auf zehn Bände angelegten Werkes ist eine aufeinander abgestimmte Durchdringung der einzelnen Bereiche des Gesamtsystems des Europarechts, die in der Behandlung ihrer Gegenstände systematisch von den positiven konzeptionellen Grundlagen über die daraus sich ableitenden allgemeinen Regeln zu den Einzelfragen fortschreitet. Die Enzyklopädie des Europarechts – EnzEuR – soll die Wirtschafts- und Rechtspraxis ebenso wie die Rechtspolitik und die Wissenschaft über die Gesamtheit des europäischen Rechts informieren und seiner Fortentwicklung solide systemrationale Wegweisungen bieten. Armin Hatje

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Peter-Christian Müller-Graff

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Vorwort des Herausgebers Europäisches Wirtschaftsrecht verwirklicht sich nicht nur in großen Linien der Rechtsentwicklung, sondern vor allem auch in den praxiswirksamen, detailreichen Regeln und Prinzipien für einzelne Wirtschaftssektoren. Diese zu präsentieren und zu systematisieren ist eine Aufgabe der Europarechtswissenschaft, derer sich der vorliegende Band nun in zweiter Auflage anzunehmen versucht. Das ist nicht leicht: Gerade in den politisch sensiblen Feldern, beispielsweise im Telekommunikations-, Energie- oder Finanzmarktrecht, ist der europäische Gesetzgeber sehr aktiv – allerdings nicht kontinuierlich, sondern in „Schüben“ mitunter nach langen Wartezeiten. In der ersten Auflage hat die sorgfältige Bearbeitung und vor allem pünktliche Lieferung dazu geführt, dass dieser Band als erster in der Enzyklopädie erscheinen konnte. Das bleibt unvergessen. Auch diesmal schulde ich als Bandherausgeber „meinen“ Autoren besonderen Dank dafür, die Manuskripte trotz der vielfältigen sonstigen Belastungen so zeitig eingereicht zu haben, dass der Band nun die erste Hälfte der zweiten Auflage (Bände 1–5) einläuten kann. Meinen Berliner Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich für wertvolle Zuarbeiten. Schließlich bin ich auch diesmal dem Nomos-Verlag zu großem Dank für die gute verlegerische Betreuung verpflichtet. Berlin, im Juni 2019

Matthias Ruffert

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Inhaltsübersicht Vorwort der Gesamtherausgeber zur 2. Edition ................................................. Vorwort der Gesamtherausgeber zur 1. Edition ................................................. Vorwort des Herausgebers ........................................................................... Bearbeiterverzeichnis .................................................................................. Abkürzungsverzeichnis ...............................................................................

5 6 7 17 19

A. Einleitung §1

Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts (Ruffert) ..........................................................................................

37

B. Berufsrecht §2

Recht der Freien Berufe (Storr) .............................................................

59

§3

Recht des Handwerks (Ruthig) ............................................................. 105 C. Infrastrukturrecht

§4

Telekommunikationsrecht (Kühling) ...................................................... 141

§5

Energierecht (Ludwigs) ....................................................................... 219

§6

Transportrecht (Knauff) ...................................................................... 363 D. Recht der Gesundheits- und Ernährungswirtschaft

§7

Agrarrecht (Härtel) ............................................................................ 463

§8

Lebensmittelrecht (Gundel) ................................................................. 557

§9

Arzneimittelrecht (Janda) .................................................................... 633 E. Recht der Finanzwirtschaft

§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht (Ohler) ......................................... 695 § 11 Europäisches Versicherungsrecht (Looschelders/Michael) ............................ 763 Allgemeines Literaturverzeichnis ................................................................... 901 Stichwortverzeichnis ................................................................................... 909

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Inhaltsverzeichnis Vorwort der Gesamtherausgeber zur 2. Edition ................................................. Vorwort der Gesamtherausgeber zur 1. Edition ................................................. Vorwort des Herausgebers ........................................................................... Bearbeiterverzeichnis .................................................................................. Abkürzungsverzeichnis ...............................................................................

5 6 7 17 19

A. Einleitung Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts ...........

37

A. Sektorales Wirtschaftsrecht: Ausgangspunkte und Entstehungsabläufe ..............

§1

38

I. Wirtschaft: Ökonomie als Kern des Integrationsprojekts .........................

38

II. Recht: Wirtschaftsrecht als Rechtsgebiet .............................................

46

III. Sektorenbildung: Wirtschaftssektoren und sektorales Wirtschaftsrecht .......

47

B. Primärrechtlicher Rahmen und sekundärrechtliche Strukturbildung .................

48

I. Typen der Herausbildung sektoralen Wirtschaftsrechts ...........................

48

II. Die wirtschaftsrechtliche Kompetenzordnung der EU .............................

49

III. Sektorales Wirtschaftsrecht in der Rechtsordnung .................................

49

C. Sektorales Wirtschaftsrecht als Wirtschaftsrecht ..........................................

49

I. Rezeption wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse im Recht ................

49

II. Sachspezifische Eigenrationalitäten ....................................................

50

III. Interessenspezifische Rationalitäten und Irrationalitäten .........................

51

IV. Grenzen des Rechts und seiner Steuerungskraft .....................................

51

D. Sektorenübergreifende Systematisierungsansätze ..........................................

52

I. Sektorenübergreifende Konzepte .......................................................

52

II. Organisationsformen ......................................................................

53

III. Handlungsinstrumente ....................................................................

54

IV. Individualrechte und Rechtsschutz .....................................................

55

B. Berufsrecht Recht der Freien Berufe .......................................................................

59

A. Einführung .........................................................................................

§2

61

I. Entwicklung und Typus der Freien Berufe ............................................

61

II. Die Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor ..........................

63

B. Gegenstandsbeschreibung .......................................................................

65

I. Überblick über die Verwendung des Begriffs der „Freien Berufe“ im primären und sekundären Unionsrecht ................................................

65

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11

Inhaltsverzeichnis II. Interpretationshinweis des EuGH ......................................................

66

III. Die Berufsanerkennungsrichtlinie ......................................................

66

IV. Zu der Schwierigkeit und Bedeutung, Freie Berufe im unionsrechtlichen Kontext zu definieren .....................................................................

67

V. Einzelne Begriffsmerkmale der Freien Berufe ........................................

68

VI. Zusammenfassung .........................................................................

71

C. Der grundlegende Rechtsrahmen für die Freien Berufe ..................................

72

I. Grundfreiheiten .............................................................................

72

II. Grundrechte .................................................................................

73

III. Sonstiges primäres Wettbewerbsrecht .................................................

73

IV. Berufsanerkennungsrichtlinie und Dienstleistungsrichtlinie ......................

74

D. Ausgewählte Freie Berufe .......................................................................

77

I. Rechtsanwälte ...............................................................................

78

II. Notare ........................................................................................

89

III. Heilberufe ....................................................................................

92

IV. Architekten ..................................................................................

97

E. Berufsständische Vereinigungen ...............................................................

99

§3

Recht des Handwerks ......................................................................... 105

A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa ......... 107 I. Die Historische Entwicklung ............................................................ 109 II. Liberalisierung durch Europarecht: Die Grundfreiheiten ......................... 112 III. Harmonisierung durch Richtlinien: Die Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor ...................................................................... 114 IV. Handwerksaufsicht im Mehrebenenverbund ........................................ 117 V. Ausblick ...................................................................................... 118 B. Handwerk als reglementierter Beruf .......................................................... 120 I. Handwerk und Berufsanerkennungsrichtlinie ....................................... 120 II. Der persönliche Anwendungsbereich .................................................. 124 C. Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (Titel II) ......................... 125 I. Anwendbarkeit von Titel II .............................................................. 126 II. Rechtsfolgen: Keine Beschränkung der Aufnahme der Tätigkeit im Aufnahmestaat .............................................................................. 128 III. Kontrolle der Berufsausübung durch den Aufnahmestaat ........................ 130 IV. Exkurs: Die Dienstleistungsfreiheit deutscher Handwerker im EUAusland ....................................................................................... 131 D. Die grenzüberschreitende Niederlassung (Titel III) ........................................ 132 I. Die Anerkennung von Berufserfahrung ............................................... 132 II. Die Anerkennung von Ausbildungs- und Befähigungsnachweisen .............. 133 12

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Inhaltsverzeichnis III. Das Anerkennungsverfahren ............................................................. 134 IV. Die Pflichtmitgliedschaft in der Handwerkskammer ............................... 135 C. Infrastrukturrecht §4

Telekommunikationsrecht .................................................................... 141

A. Einleitung ........................................................................................... 147 I. Telekommunikationsbegriff .............................................................. 147 II. Bedeutung und Besonderheiten der Telekommunikation ......................... 150 III. Entwicklung des europäischen Telekommunikationsrechts ...................... 152 IV. Quellen des europäischen Telekommunikationsrechts ............................. 153 B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts ....................... 161 I. Grundmechanismen der Marktregulierung im EKEK und in der GEREK-VO ................................................................................. 161 II. Zugangs- und Entgeltregulierung im EKEK .......................................... 179 III. Knappe Ressourcen: Frequenzen, Nummern und Wegerechte ................... 200 IV. Universaldienstregulierung in Teil III (Dienste) des EKEK ........................ 207 V. Rechte der Endnutzer/Teilnehmer (Teil III, Titel II EKEK) ........................ 210 C. Ausblick ............................................................................................. 213 §5

Energierecht ..................................................................................... 219

A. Einleitung ........................................................................................... 232 I. Entwicklungslinien der europäischen Energiepolitik ............................... 232 II. Die drei Säulen der EU-Energiepolitik ................................................. 233 B. Gegenstandsbereich .............................................................................. 251 I. Primärrechtliche Perspektive ............................................................. 252 II. Sekundärrechtliche Perspektive ......................................................... 287 C. Ausblick ............................................................................................. 358 §6

Transportrecht .................................................................................. 363

A. Einführung ......................................................................................... 366 I. Mobilität als Voraussetzung des Vereinten Europas ............................... 367 II. Entwicklung des europäischen Transportrechts ..................................... 370 III. Politische Einordnung ..................................................................... 371 IV. Rechtliche Einordnung .................................................................... 373 B. Transport als Gegenstand des Europarechts ................................................ 374 I. Transport im Primärrecht ................................................................ 374 II. Transportsekundärrecht .................................................................. 411 III. Sonstige Maßnahmen auf dem Gebiet des Transports ............................. 449

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Inhaltsverzeichnis C. Ausblick ............................................................................................. 453 I. Grundentscheidungen ..................................................................... 453 II. Defizite ....................................................................................... 454 III. Perspektive ................................................................................... 455 D. Recht der Gesundheits- und Ernährungswirtschaft §7

Agrarrecht ........................................................................................ 463

A. Einordnung in das Gesamtsystem ............................................................. 471 I. Der Agrarbereich als Kultursystem ..................................................... 471 II. Begriff des europäischen Agrarrechts .................................................. 474 III. Historischer Kontext ...................................................................... 485 IV. Kompetenzgrundlagen für die europäische Agrargesetzgebung ................. 495 B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts ............................ 511 I. Komplexe Ausdifferenzierungen des Agrarrechts ................................... 511 II. Europäisches Agrarwettbewerbsrecht ................................................. 512 III. Die Zwei-Säulen-Struktur der Gemeinsamen Agrarpolitik ....................... 524 IV. Die 1. Säule der GAP – gemeinsame Marktordnung und Direktzahlungen ... 526 V. Die 2. Säule der GAP – die Förderung des ländlichen Raums .................... 534 VI. Verwaltungsvollzug des europäischen Agrarrechts ................................. 537 C. Aktuelle Entwicklung und Ausblick .......................................................... 542 I. Die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020 ............................................ 542 II. Ausblick ...................................................................................... 552 §8

Lebensmittelrecht ............................................................................... 557

A. Zielsetzung und Gegenstand des europäischen Lebensmittelrechts ................... 560 I. Der Lebensmittelsektor im EU-Recht .................................................. 560 II. Abgrenzungen zu verwandten Bereichen .............................................. 561 B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts .......................... 562 I. Das Lebensmittelrecht als Gegenstand des Primärrechts .......................... 562 II. Rechtssetzung und Vollzug im europäischen Lebensmittelrecht ................. 574 III. Die einzelnen Bereiche .................................................................... 594 IV. Der Lebensmittel-Außenhandel der EU und seine völkerrechtlichen Rahmenvorgaben ........................................................................... 622 C. Ausblick ............................................................................................. 628 §9

Arzneimittelrecht ............................................................................... 633

A. Einleitung ........................................................................................... 635 I. Allgemeine Einführung .................................................................... 635 14

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Inhaltsverzeichnis II. Historischer Kontext ...................................................................... 636 III. (Rechts-)Politische Einordnung ......................................................... 638 IV. Einordnung ins Gesamtsystem .......................................................... 639 B. Gegenstandsbeschreibung ....................................................................... 640 I. Arzneimittelrechtliche Kompetenzen der EU ......................................... 640 II. Begriff des Arzneimittels .................................................................. 642 III. Herstellung von Arzneimitteln .......................................................... 648 IV. Genehmigung des Inverkehrbringens .................................................. 649 V. Abgabe von Arzneimitteln ............................................................... 666 VI. Sozialrechtliche Bezüge des Arzneimittelrechts ...................................... 682 C. Ausblick ............................................................................................. 687 E. Recht der Finanzwirtschaft § 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht ..................................................... 695 A. Finanzmarktregulierung im System des Europarechts .................................... 699 I. Die Europäisierung der Finanzmarktregulierung ................................... 699 II. Strukturelle Besonderheiten der Finanzmärkte ...................................... 703 B. Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen ............................................... 713 I. Das Ziel der Marktintegration .......................................................... 713 II. Wirtschaftspolitische Konzeptionen des europäischen Gesetzgebers ........... 714 III. Die Bedeutung internationaler Standards ............................................. 717 IV. Mindestharmonisierung vs. Vollharmonisierung .................................... 719 V. Die Rolle der Grundfreiheiten ........................................................... 720 VI. Vertragliche Grundlagen europäischer Gesetzgebung .............................. 722 VII. Die Verwirklichung des Herkunftslandprinzips ..................................... 726 VIII. Verwaltungskooperation im Binnenmarkt ............................................ 738 C. Das Europäische System der Finanzaufsicht ................................................ 740 I. Überblick ..................................................................................... 740 II. Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts ...................................... 741 III. Organisationsstruktur ..................................................................... 742 IV. Unabhängigkeit ............................................................................. 743 V. Regulatorische Befugnisse ................................................................ 746 VI. Aufsichtliche Befugnisse .................................................................. 748 VII. Der Europäische Ausschuss für Systemrisiken ....................................... 752 D. Die Europäische Bankenunion ................................................................. 753 I. Überblick ..................................................................................... 753

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Inhaltsverzeichnis II. SSM ........................................................................................... 754 III. SRM ........................................................................................... 758 § 11 Europäisches Versicherungsrecht ............................................................ 763 A. Einleitung ........................................................................................... 774 I. Rechtsquellen und Entwicklung des Europäischen Versicherungsrechts ....... 774 II. Themenstruktur ............................................................................ 776 B. Versicherungsaufsichtsrecht .................................................................... 776 I. Institutionelle Seite ......................................................................... 776 II. Solvency II ................................................................................... 793 III. Grenzüberschreitende Versicherungsgeschäfte und ihre Beaufsichtigung ...... 820 IV. Die grenzüberschreitende Bestandsübertragung ..................................... 822 C. Versicherungsvertragsrecht ..................................................................... 824 I. Grundfragen ................................................................................. 824 II. Schutz von Verbrauchern und Versicherungsnehmern ............................. 826 III. Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote .......................... 850 IV. Unionsrechtliche Vorgaben für die Rechtsschutzversicherung ................... 857 V. Harmonisierung des Rechts der Kfz-Haftpflichtversicherung .................... 858 VI. Internationales Versicherungsvertragsrecht nach der Rom I-VO ................ 867 VII. Internationale Zuständigkeit in Versicherungssachen nach der Brüssel Ia-VO ............................................................................... 879 VIII. Einführung eines optionalen Instruments für Versicherungsverträge ........... 884 D. Versicherungskartellrecht ....................................................................... 886 I. Rechtliche Grundlagen und Entwicklung des Versicherungskartellrechts ..... 886 II. Die horizontalen Leitlinien der Kommission ......................................... 888 III. Die durch die VO (EU) Nr. 267/2010 freigestellten Bereiche ..................... 888 IV. Durch die früheren GVO zusätzlich freigestellte Bereiche ........................ 892 E. Gewerberechtliche Anforderungen an Versicherungsvermittler ....................... 892 I. Systematische Vorbemerkung ........................................................... 892 II. Anwendungsbereich ....................................................................... 893 III. Zulassungsverfahren ....................................................................... 894 IV. Niederlassung und Erbringung von Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten ............................................................................. 895 V. Berufliche Anforderungen ................................................................ 895 Allgemeines Literaturverzeichnis ................................................................... 901 Stichwortverzeichnis ................................................................................... 909

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Bearbeiterverzeichnis Professor Dr. Jörg Gundel, Universität Bayreuth

§8

Lebensmittelrecht

Professor Dr. Ines Härtel, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

§7

Agrarrecht

Professor Dr. Constanze Janda, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

§9

Arzneimittelrecht

Professor Dr. Matthias Knauff, LL.M. Eur., Friedrich-Schiller-Universität Jena

§6

Transportrecht

Professor Dr. Jürgen Kühling, LL.M. (Brüssel), Universität Regensburg

§4

Telekommunikationsrecht

Professor Dr. Dirk Looschelders, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

§ 11

Europäisches Versicherungsrecht

Professor Dr. Markus Ludwigs, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

§5

Energierecht

Professor Dr. Lothar Michael, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

§ 11

Europäisches Versicherungsrecht

Professor Dr. Christoph Ohler, LL.M. (Brügge), Friedrich-Schiller-Universität Jena

§ 10

Finanzmarktregulierung und -aufsicht

Professor Dr. Matthias Ruffert, Humboldt-Universität zu Berlin

§1

Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts

Professor Dr. Josef Ruthig, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

§3

Recht des Handwerks

Professor Dr. Stefan Storr, Wirtschaftsuniversität Wien

§2

Recht der Freien Berufe

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Abkürzungsverzeichnis aA aaO AASM Abg. AbkGemOrg. abl ABl. ABl. EGKS Abs. AbsFondsG Abschn. Abt. abw. AdR aE ÄndG ÄndVO AERP AETR AEUV aF AFDI AFG AFIG AfP AG AG AgrarR AID AIF AIFK AJCL AJDA AJIL AKP-Staaten AktG allg. aM AmstV Anh. Anm. Ann.eur. AO AöR

anderer Ansicht am angegebenen Ort Assoziierte Afrikanische Staaten und Madagaskar Abgeordneter Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften ablehnend Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Absatz Absatzfondsgesetz Abschnitt Abteilung abweichend Ausschuss der Regionen am Ende Gesetz zur Änderung Verordnung zur Änderung Europäische Agentur für Forschung und Entwicklung Europäisches Übereinkommen über die Arbeit der im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrzeugbesatzungen Vertrag über die Arbeitsweise der EU alte Fassung Annuaire Français de Droit International Arbeitsförderungsgesetz Agrar- und Fischereifonds-Informations-Gesetz Archiv für Presserecht Die Aktiengesellschaft, Zeitschrift für das gesamte Aktienwesen Aktiengesellschaft Agrarrecht (Zeitschrift) Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Alternativer Investmentfornds Betreiber eines alternativen Investmentfonds American Journal of Comparative Law Actualités Juridiques de Droit Administratif American Journal of International Law Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (Mitgliedstaaten der Lomé-Abkommen) Aktiengesetz allgemein anderer Meinung Amsterdamer Vertrag Anhang Anmerkung Annuaire européen (= EuYB) Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts

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Abkürzungsverzeichnis ARB ArbG ArbZG ArchVR Art. ASIL AStV ATV AUE AufenthG/EWG Aufl. AuR AUR AuS AuslG AWD AWG AW-Prax AWVO Az. AZO

Assoziationsratsbeschluss Arbeitsgesetz Arbeitszeitgesetz Archiv des Völkerrechts Artikel American Society of International Law Ausschuss der Ständigen Vertreter Allgemeine Tarifierungsvorschrift Acte Unique Européen Aufenthaltsgesetz/EWG Auflage Arbeit und Recht (Zeitschrift) Agrar- und Umweltrecht (Zeitschrift) Arbeit und Sozialpolitik Ausländergesetz Außenwirtschaftsdienst Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschafts-Praxis Außenwirtschaftsverordnung Aktenzeichen Allgemeine Zollordnung

BAG BAGE BAnz. BArbBl. BauGB BayAgrarWiG BayObLG BayVBl. BB BbankG BBiG BBodenSchG Bd. BeaSt BeitrA Benelux-Staaten Ber. BErzGG Beschl. BetrPrämDurchfG BetrPrämDurchfV BewG BfA BFH BFHE BGB BGBl.

Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanzeiger Bundesarbeitsblatt Baugesetzbuch Bayerisches Agrarwirtschaftsgesetz Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Der Betriebs-Berater Gesetz über die Deutsche Bundesbank Bundesbildungsgesetz Bundesbodenschutzgesetz Band Beamtenstatut Beitrittsakte Belgien, Niederlande, Luxemburg Berichte der Kommission über die Wettbewerbspolitik (jährlich seit 1972) Bundeserziehungsgeldgesetz Beschluss Betriebsprämiendurchführungsgesetz Betriebsprämiendurchführungsverordnung Bewertungsgesetz Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofes Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt

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Abkürzungsverzeichnis BGH BGHZ BImSchG BIP BIRD BIZ BK BKartA BLE BLwG BMELF BMELV BMF BML BMU BMVEL BNetzA BR-Drs. BReg. BSB BSC BSG BSGE BSP bspw. BStBl. BT-Drs. BüL BullEG BullEU BuW BVA BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BYIL BZBl. bzgl. bzw. B-VG CCCE CDE CE

Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundesimmissionsschutzgesetz Bruttoinlandsprodukt Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Bank für internationalen Zahlungsausgleich Berichtigungskoeffizient Bundeskartellamt Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung Bundeslandwirtschaftsgesetz Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Bundesministerium für Finanzen Bundesministerium für Landwirtschaft Bundesministerium für Umwelt und Reaktorsicherheit Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Bundesnetzagentur Drucksache des Deutschen Bundesrates Bundesregierung Beschäftigungsbedingungen für die Sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften Ausschuss für Bankenaufsicht Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bruttosozialprodukt beispielsweise Bundessteuerblatt Drucksache des Deutschen Bundestages Berichte über Landwirtschaft (Zeitschrift) Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Betrieb und Wirtschaft Beratender Verbraucherausschuss Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts British Yearbook of International Law Bundeszollblatt bezüglich beziehungsweise österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz Comité de Contact des Consommateurs des Communautés Européennes Cahiers de droit européen Communauté(s) Européenne(s)

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Abkürzungsverzeichnis CEE CEEP CEMT CEN CENELEC CEPT

Communauté Economique Européenne Centre Européen de l'Entreprise Publique Europäische Konferenz der Verkehrsminister Comité Européen de Normalisation Comité Européen de Normalisation Electronique Conférence Européenne des Administrations des Postes et des Télécommunications (Europäischen Konferenz der Verwaltungen für Post und Fernmeldewesen) Comité de la Recherche et du Développement Sachverständigengruppe für Clearing und Abrechnung Common Market Centrale Marketinggesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft Common Market Law Review Communications Committee (Kommunikationsausschuss) Comité des Représentants Permanents des États Membres Coopération européenne dans la domaine de la Recherche Scientifique et Technique Computer und Recht Comité de la Recherche Scientifique et Technique

CERD CESAME CM CMA CMLR COCOM COREPER COST CR CREST DAC

Dr. DRiZ Drs. DS DStR DStZ DVAuslG DVBl. DVO DWA DZWir

Development Assistance Committee / Ausschuss für Entwicklungshilfe Der Betrieb Diritto comunitario e degli scambi internazionali derselbe das heißt Deutsches Handelsarchiv dieselbe(n) Dienstanweisung für den Kanzler (des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften) Deutsches Institut für Normung Diritto internazionale Direktzahlungen-Verpflichtungengesetz Direktzahlungen-Verpflichtungenverordnung Die Öffentliche Verwaltung Dokument Departements d'outre mer (französische überseeische Departements) Droit Deutsche Richterzeitung Drucksache Droit Social Deutsches Steuerrecht Deutsche Steuer-Zeitung Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes Deutsches Verwaltungsblatt Durchführungsverordnung Direktwahlakte Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

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DB DCSI ders. dh DHA dies. DienstanwK DIN Dir.int. DirektZahlVerpflG DirektZahlVerpflV DÖV Dok. DOM

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Abkürzungsverzeichnis E. EA EA/D EAFE EAG EAGFL EAGV EAS EBA ebd. EBWE ECA ECAC ECAFE ECC ECE ECLR ECOSOC ECRC ECU EEA EEC EEF EFRE EFTA EFWZ EG EGB EGBGB EGFL EGKS EGKSV EGMO EGMR EGV EGZ EIB EIF EIOPA EIPR EJIL EKMR ELEC ELER ELR

Entwurf Europa-Archiv; Europaabkommen Europa-Archiv (Dokumente) Europäischer Ausschuss für Forschung und Entwicklung Europäische Atomgemeinschaft Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Europäisches Arbeits- und Sozialrecht European Banking Authority ebenda Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Afrika Europäische Zivilluftfahrtkonferenz Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Asien und den Fernen Osten Electronic Communications Committee (Ausschuss für elektronische Kommunikation) Economic Commission for Europe European Competition Law Review Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen European Coalition for Responsible Credit European Currency Unit Einheitliche Europäische Akte European Economic Community(ies) Europäischer Entwicklungsfonds Europäischer Fonds für regionale Entwicklung Europäische Freihandelszone Europäischer Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit Europäische Gemeinschaften Europäischer Gewerkschaftsbund Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Einheitliche Gemeinsame Marktorganisation Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag über die Europäische Gemeinschaft Europäische Gesellschaft für Zusammenarbeit Europäische Investitionsbank Europäischer Investitionsfonds European Insurance and Occupational Pensions Authority European Industrial Property Review European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Liga für wirtschaftliche Zusammenarbeit Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums European Law Review

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Abkürzungsverzeichnis EMRK endg. EnergieStG Entsch. entspr. EÖD EP EPC EPD oder EPPD EPL EPZ ERE ERG Erl. ESA ESF ESFS ESMA ESME ESRB EStG ESZB etc ETL ETS ETSI EU EU/EWR-HwV

EuRH EURONET EurWi. EuV EUV aF EUV nF

Europäische Menschenrechts-Konvention endgültig Energiesteuergesetz Entscheidung entsprechend Europäischer Öffentlicher Dienst Europäisches Parlament European Payments Council Einheitliches Programmplanungsdokument European Public Law Europäische Politische Zusammenarbeit Europäische Rechnungseinheit European Regulators Group Erläuterungen European Space Agency Europäische Wissenschaftsstiftung Europäisches Finanzaufsichtssystem European Securities and Markets Authority Expertengruppe Europäische Wertpapiermärkte European Systemic Risk Board Einkommensteuergesetz Europäisches System der Zentralbanken et cetera European Transport Law European Treaty Series European Telecommunications Standards Institute Europäische Union Verordnung über die für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz geltenden Voraussetzungen für die Ausübung eines zulassungspflichtigen Handwerks Europäisches Gericht 1. Instanz Europäische Genossenschaft Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäischer Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen Europarecht (Zeitschrift) EURO Europäische Atomgemeinschaft Europäisches Beamtenstatut, Europäisches Statut der Beamten der Gemeinschaften Europäischer Rechnungshof Europäisches Informations- und Datenübertragungsnetz Europäische Wirtschaft Europäischer Verein Vertrag über die Europäische Union Vertrag über die Europäische Union (Lissabon)

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EuG oder EuGeI EuGen EuGGes EuGH EuGRZ EuGVÜ EuR EUR Euratom EurBSt.

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Abkürzungsverzeichnis EuYB EuZW evtl. EVV EWA EWG EWGV EWI EWIV EWR EWS EZB EZU f. FAO

European Yearbook Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eventuell Europäischer Verfassungsvertrag Europäisches Währungsabkommen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Währungsinstitut Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Währungssystem; Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Europäische Zentralbank Europäische Zahlungsunion

Fn. FR FS FSB FSC FSCG FusV

folgende Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgende Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Fusionskontrollverordnung Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei Fédération Internationale de Droit Européen Finanzarchiv Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung des Erwerbs von Anteilen an sowie Risikooptionen von Unternehmen des Finanzsektors durch den Fonds „Finanzmarktstabilisierungsfonds – FMS“ (Finanzmarktstabilisierungsbeschleunigungsgesetz) Gesetz zur weiteren Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz) Gesetz zur Errichtung eines Finanzmarktstabilisierungsfonds Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz) Fußnote Finanz-Rundschau Festschrift Financial Stability Board Financial Services Committee Financial Services Consumer Group Fusionsvertrag

G. GA GA GAK GAP GASP

Gemeinschaft; Gesetz Generalanwalt Goltdammers Archiv Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz Gemeinsame Agrarpolitik Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

FAZ ff. FG FGO FKVO FIAF FIDE Fin.Arch. FMSBechlG

FMStErgG FMStFG FMStG

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Abkürzungsverzeichnis GATS

GS GU GVBl. GVG GVO GWB GZT GYIL

Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen Jährlicher Gesamtbericht der Kommission der EG Generaldirektion gemäß Genossenschaftsgesetz Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation Gewerbeordnung Gewerbesteuergesetz Genfer Flüchtlingskonvention Gemeinsame Forschungsstelle Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Gemeinsame Handelspolitik Gemeinsame Maßnahme Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau Gemeinsames Ministerialblatt Gemeinsame Marktordnung Geschäftsordnung Grundrechtecharta Grundsätzlich Grundstücksverkehrsgesetz grundlegend Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Auslands- und internationaler Teil Gedächtnisschrift Gazetta Ufficiale Gesetz- und Verordnungsblatt (deutsches) Gerichtsverfassungsgesetz Gruppenfreistellungsverordnung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gemeinsamer Zolltarif German Yearbook of International Law

hA Hdb HGB HKG hL hM HO HöfeO HolzabsFondsG Hrsg., hrsg. Hs. HwO

herrschende Auffassung Handbuch Handelsgesetzbuch Handelsklassengesetz herrschende Lehre herrschende Meinung Haushaltsordnung Höfeordnung Holzabsatzfondsgesetz Herausgeber, herausgegeben Halbsatz Handwerksordnung

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GATT GB GD gem. GenG GEREK GewO GewStG GFK GFS GG ggf GHP GM GmbH GmbHR GMBl. GMO GO GRC grds. GrdStVG grundl. GRUR GRUR Int.

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Abkürzungsverzeichnis HZA

Hauptzollamt

iA IAA IAEO IAO IATA ICAO ICJ ICJ-Rep.

ILA ILC ILM ILO IMO (früher IMCO) InfAuslR insbes. InVeKosDG InVeKosV InVeKosS IPR IPRax iSd iSv iVm IWB IWF iwS

im Auftrag Internationales Arbeitsamt Internationale Atom-Energie-Organisation Internationale Arbeitsorganisation International Air Transport Association International Civil Aviation Organisation International Court of Justice International Court of Justice; Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders International and Comparative Law Quarterly Internationale Entwicklungsorganisation in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im engeren/eigentlichen Sinn Internationale Finanz-Corporation Informations-Freiheitsgesetz Internationaler Gerichtshof International Review of Industrial Property and Copyright Law International Law Association International Law Commission International Legal Materials International Labour Organization International Maritime Organization Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere InVeKos-Datengesetz InVeKos-Verordnung Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts im Sinne des/r im Sinne von in Verbindung mit Internationale Wirtschaftsbriefe Internationaler Währungsfonds im weiteren Sinn

JA JAR JArbZeitG JBl JBL JCMS JCP JdEI JDI JIR

Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des Agrarrechts Jugendarbeitszeitgesetz Juristische Blätter Journal of Business Law Journal of Common Market Studies Jurisclasseur périodique – La semaine juridique Jahrbuch der Europäischen Integration Journal du Droit international Jahrbuch des Internationalen Rechts

ICLQ IDA idF idR idS ieS IFC IFG IGH IIC

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Abkürzungsverzeichnis JO JöR JR JurBüro JuS JT JWTL JZ

Journal Officiel de la République Française Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Juristisches Büro Juristische Schulung Journal des Tribunaux Journal of World Trade Law Juristenzeitung

KartR Kfz KindArbSchG KMB KMU KN KOM KritV KrW-/AbfG KSchG KSE KStG KSZE KWG

Kartellrecht Kraftfahrzeug Kindesarbeitsschutzgesetz Klein- und Mittelbetriebe Kleinere und mittlere Unternehmen Kombinierte Nomenklatur Kommissionsdokument(e) Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz Kündigungsschutzgesetz Kölner Schriften zum Europarecht Körperschaftsteuergesetz Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kreditwesengesetz

LegRegG Lfg. LFGB LHO LIEI lit. LMBG LRE Ls.

Legehennenregistrierungsgesetz Lieferung Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch Landeshaushaltsordnung Legal Issues of European Integration litera Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Lebensmittelrechtliche Entscheidungen (Zeitschrift) Leitsatz

M. MA MarktStrG MBl. MDR MedR MilchAbgV MilchQuotV MinBlNW Mio. MJ MLR MMR MOE MOEL MOG

Meinung Markenartikel Marktstrukturgesetz Ministerialblatt Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht Milchabgabenverordnung Milchquotenverordnung Ministerialblatt Nordrhein-Westfalen Million(en) Maastricht Journal of European and Comparative Law The Modern Law Review Multi Media und Recht Mittel- und Osteuropa mittel- und osteuropäische Länder Marktorganisationsgesetz

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Abkürzungsverzeichnis Mrd. mwN MWSt.

Milliarde(n) mit weiteren Nachweisen Mehrwertsteuer

NATO NDV

North Atlantic Treaty Organization Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge neue Folge; neue Fassung Next Generation Access Neues Instrument gemeinschaftlicher Anleihen und Darlehen Non-governmental Organization(s) Warenverzeichnis für die Statistik des Außenhandels der Gemeinschaft und des Handels zwischen ihren Mitgliedstaaten Neue Justiz Nederlands Juristenblad Neue Juristische Wochenschrift Neue Landwirtschaft – Briefe zum Agrarrecht (Zeitschrift) Nichtregierungsorganisation(en) Nomenklatur des Rates über die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens Neue Zeitschrift für Strafrecht Natur und Recht noch nicht in der amtlichen Slg veröffentlicht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrheinwestfälisches Verwaltungsblatt Österreichische Zeitschrift für Notariatsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht

nF NGA NGI NGO NIMEXE NJ NJB NJW NL-BzAR NRO NRZZ NStZ NuR nv NVwZ NWVBl. NZ NZA NZG NZS OAS ÖBA OECD öDRdA OEEC ÖJT ÖJZ ÖZÖffR ÖZöRV ÖZW OHG OLAF OVG PCIJ PharmaR PJZS PrivProt.

Organisation Amerikanischer Staaten Österreichisches Bank-Archiv Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Das Recht der Arbeit Organisation für Europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit Verhandlungen des österreichischen Juristentages Österreichische Juristen-Zeitung Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Offene Handelsgesellschaft Office Européen de Lutte Antifraude Oberverwaltungsgericht Permanent Court of International Justice Pharmarecht Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften

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Abkürzungsverzeichnis Prot. PVS

Protokoll Politische Vierteljahresschrift

RabelsZ

RMC RMCUE RMT RMUE Rn. ROW Rs. RSC RSPG Rspr RStV RTDE RVO RZZ

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue des affaires européennes Ratsbeschluss Rahmenbeschluss Revue belge de droit international Recht der Arbeit Recht der Energiewirtschaft Recht der Jugend und des Bildungswesens Recht der Landwirtschaft (Zeitschrift) Revue du droit de l’Union Européenne Rechnungseinheit Registration, Evaluation and Authorization of Chemicals Recueil des Cours de l'Académie de Droit International de la Haye Revue Française de Droit administratif Revue Générale des Assurances Terrestres Reichsgesetzblatt Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) Revue Hellenique de Droit International Revue Internationale de Droit Comparé Revue internationale de la propriété industrielle et artistique Rivista di diritto europeo Rivista di diritto internazionale Recht der Internationalen Wirtschaft [-Außenwirtschaftsdienst] Richtlinie Raccolta delle lezioni Trieste, hrsg. vom Istituto per lo studio dei Trasporti nell'integrazione economica europea Revue de Marché commun Revue du Marché commun et de l'Union européenne Rechtsgeleerd Magazijn Themis Revue du Marché Unique Européen Randnummer Recht in Ost und West Rechtssache Radio Sectrum Committee (Frequenzausschuss) Radio Spectrum Policy Group (Gruppe für Frequenzpolitik) Rechtsprechung Rundfunkstaatsvertrag Revue trimestrielle du droit européen Reichsversicherungsordnung Rat über die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens

s. S. s.o. s.u.

siehe Seite siehe oben siehe unten

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RAE Ratsbeschl. RB RBDI RdA RdE RdJB RdL RDUE RE REACH Rec. RFDA RGAT RGBl. RGW RHDI RIDC RIPIA Riv. dir. eur. Riv. dir. int. RIW [/AWD] RL RLT

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Abkürzungsverzeichnis SDÜ SE SEK SEPA SEW SGb SGB Slg Slg ÖD sog. SozR Spiegelstr. st. Rspr. STABEX StGB StGH StHG StIGH StoffR StPO str. StuW StVO SVN SZR TA TAC tir. TKG tlw TMG Tr. TR TranspR TRIPS Tsd. ua UCLAF überw. UEBL UEC UGB UIG ÜLG umstr.

Schengener Durchführungsübereinkommen Societas Europaea (Europäische Aktiengesellschaft) Dokumente des Sekretariats der KOM Single European Payments Area Sociaal Economische Wetgeving Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Sammlung (der Rspr. des EuGH) Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs – Öffentlicher Dienst sogenannte(n)(r) Sozialrecht, Entscheidungssammlung BSG Spiegelstrich ständige Rechtsprechung System zur Stabilisierung der Ausfuhrerlöse für die von den AKP-Staaten nach der Gemeinschaft ausgeführten Waren Strafgesetzbuch Staatsgerichtshof Staatshaftungsgesetz Ständiger Internationaler Gerichtshof Zeitschrift für Stoffrecht Strafprozessordnung streitig Steuer und Wirtschaft Straßenverkehrs-Ordnung Satzung der Vereinten Nationen Sondererziehungsrechte Technische Anleitung Gesamtfangmenge (total allowable catch) tiret (Spiegelstr.) Telekommunikationsgesetz teilweise Telemediengesetz Traité Transportrecht Transportrecht Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights Tausend unter andere(m)(n); und andere Unité de Coordination de la Lutte Antifraude überwiegend Union Economique Belgo-Luxembourgoise (Journal UEC) Zeitschrift der Union Européenne des Experts Comptables Umweltgesetzbuch Umweltinformationsgesetz Überseeische Länder und Gebiete umstritten

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Abkürzungsverzeichnis UN UNCITRAL UNCTAD UNEP UNESCO UNICE UNIDO UNO UNRWA unstr. UAbs. UNTS UPR UR Urt. UStG UStR usw UTR uU UVR UWG Var. VBlBW VE verb. VerfGH VerfO VerwArch. VG VGH vgl VK VN VO VÖB Vorbem. VR VRÜ VSSR VuR VV VVDStRL

Vereinte Nationen Kommission der Vereinten Nationen für Internationales Handelsrecht Welthandelskonferenz Programm der Vereinten Nationen für den Umweltschutz Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur Union der Industrien der Europäischen Gemeinschaft UN-Organisation für industrielle Entwicklung United Nations Organisation Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge unstreitig Unterabsatz United Nations Treaty Series Umwelt- und Planungsrecht Umsatzsteuer-Rundschau Urteil Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuer-Richtlinie(n) und so weiter Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts unter Umständen Umsatz- und Verkehrssteuerrecht Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

VWD VwGO VwVfG

Variante Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verpflichtungsermächtigung verbunden Verfassungsgerichtshof Verfahrensordnung Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vereinigtes Königreich Vereinte Nationen Verordnung Verband öffentlicher Banken Vorbemerkung Verwaltungsrundschau Verfassung und Recht in Übersee Vierteljahresschrift für Sozialrecht Verbraucher und Recht Verwaltungsvorschrift Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer Vereinigter Wirtschaftsdienst Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz

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Abkürzungsverzeichnis vZA

verstärkte Zusammenarbeit

WAB WB WBl WEU WHG WHO WiGBl. WiR WissR WiVerw W.L.R. WM WpDVerOV WRP WSA WTA WTO WuW WVRK WWU

Währungsausgleichsbetrag bzw. -beträge Wettbewerbsbericht Wirtschaftsrechtliche Blätter, Beilage zu “Juristische Blätter” Westeuropäische Union Wasserhaushaltsgesetz World Health Organisation Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes Wirtschaftsrecht Wissenschaftsrecht Wirtschaft und Verwaltung The Weekly Law Reports Wertpapiermitteilungen Verordnung zur Konkretisierung der Verhaltensregeln und Organisationsanforderungen für Wertpapierdienstleistungsunternehmen Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschafts- und Sozialausschuss Welttextilabkommen, Multifaserabkommen Welthandelsorganisation Wirtschaft und Wettbewerb Wiener Vertragsrechtskonvention Wirtschafts- und Währungsunion

YEL

Yearbook of European Law

ZAR ZaöRV

Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Zahlungsermächtigung Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für internationales Arbeits- und Sozialrecht Zentrale InVeKoS-Datenbank Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik zitiert Zollkodex

ZBJI zB ZBR ZE ZEuP ZEuS ZfA ZfRV ZfS ZfSH/SGB ZfZ ZG ZGR ZgS ZHR ZIAS ZID ZIP ZIS zit. ZK

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Abkürzungsverzeichnis ZK-DVO ZKR ZKreditw. ZLR ZLW ZÖR ZögU

ZusVerfO ZVerglRW ZVerkehrsw. ZVP zzgl. zzt. ZZP

Durchführungsverordnung zum Zollkodex Zentralkommission für die Rheinschifffahrt Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen Zusatzprotokoll Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Sozialreform Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil Zeitschrift für Tarifrecht Zeitschrift für Umweltrecht Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht - Rechtsprechungsdienst Zusätzliche Verfahrensordnung (des EuGH) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Verkehrswissenschaft Zeitschrift für Verbraucherpolitik zuzüglich zur Zeit Zeitschrift für Zivilprozess

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ZP ZParl. ZPO ZRP ZSR ZStW zT ZTR ZUR ZUM ZUM-RD

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A. Einleitung

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§ 1 Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts Matthias Ruffert A. Sektorales Wirtschaftsrecht: Ausgangspunkte und Entstehungsabläufe . . . . . . . . . . . . I. Wirtschaft: Ökonomie als Kern des Integrationsprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Integration als funktionalistische Konsequenz . . . . . . . . . . 2. Ökonomische Integration und Ökonomische Theorie: Zur besonderen Rolle des Ordoliberalismus 3. Ökonomische Integration, nationale Divergenzen und europäische Kompromisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundfreiheiten und Rechtsangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . c) Europäische Wirtschafts- und Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . d) Marktfremde Einschnitte . . . . . . . 4. Öffnungen, Weiterentwicklungen und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftsunion und politische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Von der Philippika auf den Ordoliberalismus zur Kaptitalismuskritik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Recht: Wirtschaftsrecht als Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Idee und Wirklichkeit des Wirtschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen rechtlicher Steuerung – Potenziale rechtswissenschaftlicher Überwindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 1 4 9 9 14 17 24 25 25 27 29 29 33

III. Sektorenbildung: Wirtschaftssektoren und sektorales Wirtschaftsrecht . . . . . . . . B. Primärrechtlicher Rahmen und sekundärrechtliche Strukturbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Typen der Herausbildung sektoralen Wirtschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sektorales Wirtschaftsrecht als Binnenmarktsekundärrecht . . . . . . . . 2. Sektorales Wirtschaftsrecht als sekundäres Wettbewerbsrecht . . . . . 3. Sektorales Wirtschaftsrecht durch sektorales Primärrecht . . . . . . . . . . . . . II. Die wirtschaftsrechtliche Kompetenzordnung der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sektorales Wirtschaftsrecht in der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Sektorales Wirtschaftsrecht als Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rezeption wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse im Recht . . . . . . . . . . . . II. Sachspezifische Eigenrationalitäten . . . . III. Interessenspezifische Rationalitäten und Irrationalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Grenzen des Rechts und seiner Steuerungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Sektorenübergreifende Systematisierungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sektorenübergreifende Konzepte . . . . . . . II. Organisationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Handlungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Individualrechte und Rechtsschutz . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

38 40 40 40 41 42 43 44 46 46 50 51 53 56 56 61 67 72 73

Literatur: Badura, Peter, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 4. Aufl., Tübingen, 2011; Baquero Cruz, Julio, Between Competition and Free Movement, Oxford, 2002; Brunnermeier, Markus/James, Harold/Landau, Jean-Pierre, The Euro and the Battle of Ideas, Princeton 2016; Calliess, Christian, Finanzkrisen als Herausforderung der internationale, europäischen und nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), 113; Enderlein, Henrik, Die Krise im Euro-Raum: Auslöser, Antworten, Ausblick, APuZ 43/2010, 7; Fehling, Michael/ Ruffert, Matthias (Hrsg.), Regulierungsrecht, Tübingen, 2010; Huber, Ernst Rudolf, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Tübingen, 1953; Joerges, Christian, Europa nach dem Ordoliberalismus: Eine Philippika, KJ 2010, 395; ders., Macht Europa seiner Wirtschaftsverfassung den Prozeß? – Ein melancholischer Rückblick, in: Brüggemeier, Gert (Hrsg.), Liber Amicorum Eike Schmidt, Heidelberg, 2005, S. 188; Kingreen, Thorsten, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Berlin, 1999; Krebber, Sebastian, Soziale Rechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung, RdA 2009, 224; Majone, Giandomenico, Europe as the Wouldbe World Power, Cambridge, 2009; Müller-Graff, Peter-Christian, Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, Tübingen, 1984; Mussler, Werner, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, Baden-Baden, 1998; Pfeil, Werner, Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der „Vier Grundfreiheiten“ im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Frankfurt am Main, 1998; Poiares Maduro, Antonio, We the Court, Oxford, 1998; Rittner, Fritz/Dreher, Meinrad, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., Heidelberg, 2008; Ruffert, Matthias, Grundfragen der Wirtschaftsregulierung, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Heidelberg, 2012; ders., The European Debt Crisis and European Union Law, CMLRev. 48 (2011), 1777; ders., Zur Leis-

Ruffert https://doi.org/10.5771/9783748900238-37 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 1 Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts tungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, AöR 134 (2009), 197; Scharpf, Fritz, The European Social Model: Coping with the Challenges of Diversity, JCMS 40 (2002), 645; SchmidtAßmann, Eberhard, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin, 2004; Schulz-Forberg, Hagen/Stråth, Bo, The political history of European integration: the hypocrisy of democracy-through-market, London, 2010; Steindorff, Ernst Unvollkommener Binnenmarkt, ZHR 158 (1994), 149; Wahl, Rainer, Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang/Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, Baden-Baden, 1993, S. 177; Walter, Christian, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers, Dirk (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., Berlin, 2009; Wegmann, Milène, Früher Neoliberalismus und europäische Integration, Baden-Baden, 2002.

A. Sektorales Wirtschaftsrecht: Ausgangspunkte und Entstehungsabläufe I. Wirtschaft: Ökonomie als Kern des Integrationsprojekts 1. Ökonomische Integration als funktionalistische Konsequenz 1 Europäische Integration ist vor allem ökonomische Integration. Dieser Befund gilt auch im frühen 21. Jahrhundert, über 60 Jahre nach den ersten politischen und rechtswirksamen Integrationsschritten. Ohne Grundfreiheiten (mit Rechtsangleichung) und Wettbewerbsrecht, ohne die (zunächst) überwiegend wirtschaftlich geprägten sog „begleitenden“ Politiken wäre nicht ansatzweise der heute erreichte Integrationsstand erzielt worden. Auch die zentrale Krise der laufenden Dekade ist eine wirtschaftliche: Strukturschwächen und Überschuldung in fast allen Mitgliedstaaten reichen heute so weit, dass für viele das gesamte Integrationsprojekt in Frage zu stehen scheint. 2 Die Präponderanz des Ökonomischen ist bekanntermaßen Konsequenz des funktionalistischen Integrationsansatzes insbesondere in den 1950er Jahren, aber auch darüber hinaus.1 In der Frühphase konnte der Schwung der politischen Integrationsutopien nicht in eine enge politische Integration umgesetzt werden: Der hierfür gegebene Anstoß durch Churchills Züricher Rede und die Haager Konferenz mündete zwar in die Gründung des Europarates, doch verhinderte das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) die weitergehende Gründung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) – der Bundesstaat musste unvollendet bleiben.2 Allein die wirtschaftliche Verbindung Frankreichs und Deutschlands gemeinsam mit Italien und den Benelux-Staaten, zunächst bezogen auf die zentralen ökonomischen Güter der Zeit in der Montanunion und später in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), gelang. Historisch betrachtet ist die Realisierung der Wirtschaftsgemeinschaft für die Wohlfahrt in Europa kaum zu unterschätzen, und die funktionalistische Verengung auf das Wirtschaftliche – in Erwartung politischer spill-over-Effekte – bringt auch den Zeitgeist zum Ausdruck, der Frieden und Wohlstand vor demokratische politische Gestaltung stellte. Auch später wird die wirtschaftliche Vereinigung der politischen Verbindung vorangestellt, namentlich bei der Begründung der Europäischen Währungsunion. 3 In dieser integrationshistorischen Ausgangslage ist für die rechtliche Betrachtung die Identifikation der wirtschaftsrechtlichen Grundkoordinaten zentral. Materielles Europarecht ist im Wesentlichen Wirtschaftsrecht – ist vor allem Marktrecht.3 Erkenntnisse über das Wirtschaftsrecht einzelner Sektoren der europäischen Ökonomie haben daher Rückwirkungen auf die Struktur des europäischen Wirtschaftsrechts und das Europarecht insge-

1 Illustrativ Majone, S. 72 ff. 2 Ausf. Schulz-Forberg/Stråth, S. 21 ff. 3 Grundlegend Müller-Graff, S. 246 ff.

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samt. Sie müssen sich umgekehrt in den (verfassungs-)theoretischen Rahmen des europäischen Wirtschaftsrechts einordnen lassen können. 2. Ökonomische Integration und Ökonomische Theorie: Zur besonderen Rolle des Ordoliberalismus Keinesfalls unerforscht ist auch die Frage, ob es ein geschlossenes wirtschaftspolitisches Konzept der europäischen Integration gibt und welcher Denkschule, Denkrichtung oder gar Ideologie es sich zuordnen ließe. Besonders intensiv ist die Diskussion um die Bedeutung der deutschen ordo- oder neoliberalen (Freiburger) Schule. Die Analyse dieser Diskussion ergibt ein interessantes Bild: Einerseits lässt sich der Einfluss der Schule auf die Vertragsinhalte in den jeweiligen Verhandlungsprozessen empirisch kaum belegen. Zu groß war die Ablehnung des Integrationsprojekts unter prominenten Neoliberalen,4 zu schwach die Position Nachkriegswestdeutschlands in der Durchsetzung des eigenen wirtschaftspolitischen Konzepts (soziale Marktwirtschaft) gegenüber einer starken etatistischen Grundströmung in Europa.5 Andererseits ist das Verhandlungsergebnis (Römische Verträge) mit den Ideen der ordoliberalen Schule in hohem Maße kompatibel: Die Gewährleistung wirtschaftlicher Freiheit für den transnationalen Waren-, Personen-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr (Grundfreiheiten) ebenso wie die Bekämpfung privater Machtansammlung und unternehmerischen Machtmissbrauchs (Wettbewerbsrecht) liest sich geradezu als Implementierung des deutschen Ordnungsrechtsgedankens. Ein ähnlicher Befund lässt sich für die europäische Währungsunion erkennen: Einerseits von vielen (wohl der Mehrzahl) ordnungspolitisch denkender Ökonomen zu Beginn abgelehnt (→ Rn. 18), setzt die Währungsunion ursprünglich auf die disziplinierenden Kräfte des Marktes, um die Defizitaufnahme der Mitgliedstaaten zu disziplinieren und realisiert damit letztlich im Kern Friedrich von Hayeks Modell des Vorrangs der Wissensgenerierung im Wettbewerb. Man mag diese Befunde in kritischer Absicht erheben – ob aus der Sicht des Ordoliberalismus mit Bezug auf die Währungsunion oder aus der sozialpolitischen Perspektive hinsichtlich der sozialen Folgen der Wirtschaftsgemeinschaft: Sie geben jeweils in einer nachvollziehbaren Nachrationalisierung (Christian Joerges) wirtschafts- und rechtshistorischer Prozesse ein treffendes Bild.6 Durch die Zuordnung zur ordoliberalen Theorie wird gleichzeitig dem europäischen Wirtschaftsrecht, ja dem Europarecht insgesamt, eine eindeutige Funktion zugewiesen. Klare (wirtschafts-)rechtliche Regeln steuern den ökonomischen Prozess in freien Märkten, wodurch es zu einer optimalen Ressourcenallokation und zu größtmöglicher Wohlfahrt kommen soll. Empirisch lässt sich diese Wohlfahrtssteigerung im internationalen Maßstab kaum bestreiten;7 eine andere Frage ist die Kompatibilität mit bestimmen Vorstellungen von Demokratie und des Sozialen (dazu → Rn. 24 ff.). Sektorales Wirtschaftsrecht muss daher auch in der Zuordnung zur – mit Recht – dominierenden wirtschaftlichen Integrationstheorie gesehen werden.

4 Ausführlich zur Entstehung einer integrationskritischen Linie Wegmann, S. 297 ff. 5 Majone, S. 128 f. 6 Joerges KJ 2010, 395 (399). Grundlegend auch die vorangehenden Schriften Joerges, What is Left of the European Economic Constitution, EUI Working Paper Law No. 2004/13, S. 9 ff.; ders. in LA Schmidt, S. 188, 192 ff.; ders. in ders./Singh Galeigh (Hrsg.), Darker Legacies of Law in Europe, 2003, S. 167, 187. S. auch die umfassende, differenzierte historische Bewertung bei Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl., München 2011, S. 213 ff. 7 Kritisch allerdings Majone, S. 81 ff., wenngleich nicht auf umfassender empirischer Basis.

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§ 1 Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts 3. Ökonomische Integration, nationale Divergenzen und europäische Kompromisse a) Grundfreiheiten und Rechtsangleichung

9 Die wirtschaftsverfassungsrechtliche Bedeutung der Grundfreiheiten kann insoweit kaum überschätzt werden. In der Gründungsphase wurde ihr integrativer Effekt wahrscheinlich nur begrenzt erfasst, ihre wohlfahrtssteigernde Wirkung nicht einmal erahnt und ihr Potenzial zur Umgestaltung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen schlicht verkannt. Nicht anders ist es zu erklären, dass die Mitgliedstaaten die historisch in bi- und multilateralen Handelsabkommen (zuletzt zusammengeführt im GATT 1947) wurzelnden Normen zu ihren Gunsten nicht anders abschirmten als durch Vorbehaltsregelungen, die Art. XX GATT 1947 nachempfunden waren:8 Die Effekte der Grundfreiheiten – Integration, Wohlfahrt, Rechtsumbildung – konnten sie auch nur infolge der Dynamisierung durch die Rechtsprechung des EuGH entfalten, der ihnen erstens individualrechtliche Wirkung zuerkannte und zweitens ihren über Diskriminierungsverbote hinausgehenden Gehalt als Beschränkungsverbote herausarbeitete9 (s. Wollenschläger in Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (EnzEuR Bd. 1) → Bd. 1 § 13 Rn. 1. 10 Sektorales Wirtschaftsrecht erfasst und systematisiert zunächst diese grundfreiheitsrechtlichen Gehalte. Darüber hinaus enthält es das durch Rechtsangleichung im Wirkungsbereich der Grundfreiheiten entstehende Sekundärrecht. Weil den Mitgliedstaaten über die geschriebenen und ungeschriebenen Vorbehalte zu den Grundfreiheiten die Möglichkeit zu deren verhältnismäßiger Beschränkung belassen ist, kann der durch die Grundfreiheiten geschaffene Binnenmarkt nur unvollkommen sein.10 Harmonisierung ist durch Rechtsangleichung auf der Grundlage der dafür vorhandenen Kompetenznormen im AEUV zu leisten. Auf dieser Basis bildet sich sektorales Wirtschaftsrecht in den Sektoren Freie Berufe (s. Storr → § 2 Rn. 29 ff.), Recht des Handwerks (s. Ruthig → § 3 Rn. 14 ff.), Telekommunikationsrecht (s. Kühling → § 4 Rn. 16 f.), Lebensmittelrecht (s. Gundel → § 8 Rn. 1) sowie Finanzmarktrecht (s. Ohler → § 10 Rn. 47 ff., 61 ff.) heraus. 11 Wenngleich in neuerer Zeit etwas abgeschwächt, ist die vor allem zu Beginn des Jahrtausends geführte Debatte zur kompetenz-, demokratie- und politikbezogenen Wirkung der Grundfreiheiten noch präsent. Aus unterschiedlichen Richtungen ist Kritik daran formuliert worden, dass die Grundfreiheiten mitgliedstaatliche Regelungsspielräume verengten, den hierfür demokratisch legitimierten nationalen, parlamentarischen Gesetzgebern politische Gestaltungsfreiräume nähmen und wichtige Gemeinwohlbelange, vor allem solche sozialer Natur vernachlässigten. In der Methode hat sich diese Kritik sehr unterschiedlich positioniert, teils als offen rechtspolitische Kritik auf der vorgenannten Linie, teils als rechtsdogmatische Kritik an der Umdeutung der Grundfreiheiten von Diskriminierungsverboten für den transnationalen Güteraustausch zu grundrechtsähnlichen Beschränkungsnormen mit unbegrenzten Liberalisierungseffekten.11 12 Die Rechtsprechung des EuGH hat auf die Kritik kasuistisch-tastend, teilweise konsequent, teilweise mit überraschender Anpassung an kritische Stimmen reagiert. Die Forderung nach Rücknahme der Beschränkungsverbote und Konzentration auf Diskriminierungsverbote wurde eine explizite Absage erteilt.12 In der Gegenüberstellung von Grundfreiheiten und sozialen Rechten (konkret: Streikrecht) ist der Gerichtshof dem überkom8 S. allgemein zur Geschichte der Grundfreiheiten Pfeil. 9 Walter in Ehlers § 1 Rn. 43. Die in neuerer Zeit erfolgte weitere Dynamisierung durch die Unionsbürgerschaft sowie die Drittwirkung der Grundfreiheiten sind im vorliegenden Kontext zurückzustellen. 10 Klassisch: Steindorff ZHR 158 (1994), 149. 11 Rechtsdogmatische Kritik: Poiares Maduro; Kingreen, S. 120 ff.; Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, 2004, S. 62 ff. Überblick über die rechtspolitische Kritik bei Ruffert in Fehling/ders. § 3 Rn. 30 ff. 12 EuGH 14.9.2006 – verb. Rs. C-158 und 159/04, Slg 2006, I-8135 – Alfa Vita.

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menen Muster der Abwägung nach Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit gefolgt, was ihm vor allem rechtspolitische Kritik eingebracht hat, aber auch in rechtsdogmatischer Hinsicht nicht vollständig gelungen ist.13 Punktuell ist der Gerichtshof geradezu „eingeknickt“ und hat völlig unerwartet mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume anerkannt.14 Neuere Rechtsprechung, namentlich zur Preisbildung im Arzneimittelsektor, erreicht wieder die erwünschte liberalisierende Wirkung (s. dazu Janda → § 9 Rn. 137). Die rechtsprechungsgestützte Integration auf der Basis der Grundfreiheiten erreicht in die- 13 sen rechtspolitischen Konfliktfeldern ihre Leistungsgrenzen. Man muss nicht der verdeckt polemischen Entgegensetzung von „negativer Integration“ durch Regelungsabbau und „positiver Integration“ durch sozialpolitische Gestaltung folgen,15 wenn man die besondere Bedeutung supranational verantworteten, harmonisierten – sektoralen – Wirtschaftsrechts für die Konfliktlösung betont. Wo die Harmonisierung nicht erfolgt, bleibt der Rationalisierungsdruck der Grundfreiheiten auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erhalten. Berechtigte Gemeinwohlbelange können in die Rechtsprechung durchaus integriert werden, wie dies im Umweltschutz seit Jahrzehnten praktiziert wird. Dass sozialpolitische Gestaltung hier keinen Raum finden könnte, ist mehr (teils an Einzelfällen exemplifizierte und illustrierte) Behauptung denn empirisch zu sichernde Erkenntnis. b) Wettbewerbsrecht Im Wettbewerbsrecht waren die Mitgliedstaaten von Beginn an aufmerksamer in der 14 Wahrnehmung des Liberalisierungs- und Umgestaltungspotenzials. Art. 90 Abs. 1 EWGV (später Art. 86 Abs. 1 EGV, heute Art. 106 Abs. 1 AEUV), der auch die öffentlichen Unternehmen auf das Wettbewerbsrecht (und – ohne durchgreifende Bedeutung – das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit) verpflichtet, wurde von Anfang an durch Abs. 2 ergänzt, um die französischen service-public-Vorstellungen im gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht zur Geltung zu bringen.16 Diese Vorstellungen haben mit dem Vertrag von Amsterdam durch Art. 7 d EGV (später Art. 16 EGV, jetzt Art. 14 AEUV) weiteren Schub erfahren. Art. 222 EWGV (später Art. 295 EGV, jetzt Art. 345 AEUV) ist insoweit bedeutungslos geblieben.17 Dem EuGH ist es bisher gelungen, die beiden Absätze in Art. 106 AEUV (und den Vorläu- 15 fernormen) weitgehend auszutarieren, wenn auch von der ursprünglichen Stoßkraft des Abs. 1 nach der Corbeau-Rechtsprechung, der Umdeutung des Tatbestandsmerkmals „verhindert“ in „gefährdet“ (Abs. 2 S. 1 aE) und dem „Durcheinander“ infolge der Altmark-Trans-Rechtsprechung und dem Monti-Paket mit seinen Überarbeitungen wenig übriggeblieben ist (zu diesen Entwicklungen Koenig/Hellstern in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4) → Bd. 4 § 14) und weitere Erosionen dadurch drohen, dass – entgegen der Rechtsprechung des EuGH – 13 Ausführliche dogmatisch-kritische Analyse bei Krebber RdA 2009, 224. Rechtspolitisch statt vieler Joerges/Rödl, Von der Entformalisierung europäischer Politik und dem Formalismus europäischer Rechtsprechung im Umgang mit dem „sozialen Defizit“ des Integrationsprojekts, ZERP-Diskussionspapier 2/2008. 14 Paradigmatisch EuGH 19.5.2009 – verb. Rs. C-171/07 und C-172/07, Slg 2009, I-4171 – Doc Morris II; dazu die kritischen Anmerkungen von Eichenhofer MedR 2009, 597; Fuchs, Anmerkung, JZ 2009, 793; Herrmann EuZW 2009, 413; Martini NJW 2009, 2116, und Streinz JuS 2009, 1034. 15 Besonders prominent vertreten von Scharpf JCMS 40 (2002), 645. Die kritisierte suggestive Verwendung des Begriffspaars positive/negative Integration übersieht, dass es im Ursprung insoweit neutral ist, vgl. Tinbergen, Centralization and Decentralization in Economic Policy, 1954, S. 74 f. (noch unter dem Begriff der positive/negative centralization); ders., Economic Policy: Principles and Design, 1956, S. 178; näher Mussler, S. 62 f. Hierzu bereits Ruffert AöR 134 (2009), 197 (215 f., Fn. 80 aE). 16 S. nur Löwenberg, Service Public und öffentliche Dienstleistungen in Europa, 2001, S. 127. 17 Zur Übersicht über die im Text skizzierten Entwicklungen Ruffert in Fehling/ders. § 3 Rn. 67 ff. mwN.

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nicht nachgelassen wird, einen more economic approach zur Aufweichung der strikten Wettbewerbskontrolle in das Unionsrecht zu tragen.18 Für das sektorale Wirtschaftsrecht ist vor allem bedeutsam, wie Art. 106 Abs. 3 AEUV in diesem Kontext als Kompetenznorm zum Tragen kommt, namentlich im Telekommunikationssektor (s. Kühling → § 4 Rn. 16). 16 Im wettbewerbsbezogenen sektoralen Wirtschaftsrecht ist schließlich die Vorbild- und Ausstrahlungswirkung des allgemeinen Wettbewerbsrechts bedeutsam. Etablierte methodische Figuren wie die Marktabgrenzung und Marktdefinition (für das Telekommunikationsrecht Kühling → § 4 Rn. 41 ff.) können ihm entlehnt werden, wobei gleichzeitig durch sektorspezifisches (Regulierungs-, → Rn. 58)Recht Insuffizienzen des allgemeinen Wettbewerbsrechts kompensiert werden können (s. Kühling → § 4 Rn. 52, 92). Teilweise sind sektorales Wirtschaftsrecht und allgemeines Wettbewerbsrecht miteinander verzahnt, so in Teilen des Energierechts (s. Ludwigs → § 5 Rn. 117 ff.), im Bereich des Transportrechts (s. Knauff → § 6 Rn. 107 ff.) sowie im Arzneimittelrecht (Zulässigkeitsfragen von Parallelimporten, s. Janda → § 9 Rn. 103 ff.); allein im Agrarrecht ist das Wettbewerbsrecht praktisch vollständig ausgeschaltet (s. Härtel → § 7 Rn. 91 ff.). c) Europäische Wirtschafts- und Währungsunion 17 Durch die Weltfinanzkrise und die sich daran anschließende, nur partiell kausal mit ihr verknüpfte europäische Schuldenkrise ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion als dritter Bestandteil neben Binnenmarkt und Wettbewerbsrecht verstärkt in das (fach-)öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Krisenerscheinungen bergen durchaus das Potenzial, Integrationserfolge nicht nur im europäischen Wirtschaftsrecht erheblich zu gefährden. Andererseits sind der EU in der Krisenreaktion bemerkenswerte Erfolge gelungen, namentlich die Errichtung eines Bankenaufsichts- und -abwicklungsregimes binnen kurzer Zeit (Ohler → § 10 Rn. 137 ff.). 18 Der EWWU mit der Euro-Einführung ist in den frühen 1990er-Jahren von einer Vielzahl von Ökonomen heftiger Widerstand entgegengesetzt worden. Gerade die ordoliberale Strömung, deren Konzepte für die Frühphase der europäischen Integration so bedeutsam waren (→ Rn. 4 ff.), wandte sich dagegen, weil durch die gemeinsame Währung der Wettbewerb um die beste Wirtschaftspolitik ausgehebelt würde.19 Verstärkt wurde die Kritik dadurch, dass nach der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre von der „optimalen Währungsunion“ deren Bedingungen in der seinerzeitigen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als nicht erfüllt angesehen worden waren.20 Das Auseinanderfallen von Währungsunion und wirtschaftspolitischer Gemeinschaft ist argumentativer Generalbass in der Diskussion zur Schuldenkrise.21 – unabhängig von der Tragfähigkeit der Argumentation im Einzelnen.22 19 Dabei darf nicht übersehen werden, dass es zur Realisierung der Währungsunion handfeste ökonomische Argumente gab und gibt. Schon zu Beginn der wirtschaftlichen Integrationsbemühungen sind Überlegungen über die Vereinigung in Währungsfragen angestrengt worden. Im Werner-Plan und Delors-Bericht23 wurden diese inhaltlich vertieft, im Europäischen Wechselkursverbund („Währungsschlange“) und Europäischen Währungssystem 18 Aus der weit überwiegend kritischen Literatur s. nur Kersten VVDStRL 69 (2010), 288 (297 ff. mwN). 19 Auf verfassungsjuristischer Seite steht pars pro toto das Verfahren, das zur Entscheidung BVerfGE 97, 350, geführt hat. 20 Referiert bei Oppermann/Classen/Nettesheim EuropaR § 19 Rn. 6. 21 Statt aller s. Calliess VVDStRL 71 (2012), 113 (167). 22 Grundlegend Brunnermeier/James/Landau, The Euro and the Battle of Ideas, 2016. 23 Zur Übersicht über die Entwicklungsschritte s. nur Louis, Du système monétaire européen à l’union monétaire, 2. Aufl., 1990.

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(EWS) in praktische politische Schritte umgesetzt24 (s. auch Selmayr in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4), 1. Aufl., § 23). Hinter diesen Plänen und Schritten steht die Erkenntnis um wirtschaftliche Vorteile einer gemeinsamen Währung im Binnenmarkt, namentlich die Reduzierung von Transaktionskosten, der Wegfall des Wechselkursrisikos im Binnenhandel sowie Effizienzsteigerung durch Preistransparenz. Der praktische Bedarf an einer Neuordnung des Währungswesens nach dem Ende des Systems von Bretton Woods sowie die handfesten Schwierigkeiten im europäischen Währungssystem in den frühen 1990er-Jahren unterstreichen diese Erkenntnisse.25 Hinzu tritt der Gedanke der gefestigten Außenwahrnehmung der EU durch Aufbau des Euro zur zweiten Weltleitwährung. Natürlich sind alle diese ökonomischen Argumente nicht unumstritten – im Gegenteil. Insbesondere die Nachteile eines einheitlichen Leitzinses für ein uneinheitliches Gefüge von Volkswirtschaften lassen sich nur schwer bewältigen.26 Aus der Sicht der Rechtswissenschaft, die den verfassungsrechtlich legitimierten politischen Akteuren stets Einschätzungs- und Entscheidungsspielräume zu gewähren bereit ist, sind die Argumente für die gemeinsame Währung jedoch nicht so fernliegend, dass man von einer Überschreitung jener Spielräume durch Fehleinschätzungen oder gar sachfremde Überlegungen sprechen müsste. Und in der Tat: Nach ungefähr zehn Jahren Staatsschuldenkrise ist die Forderung nach Abschaffung der gemeinsamen Währung weiter eine randständige Position. Hinzu kommt, dass die im Vertrag von Maastricht verankerte Währungsunion als Stabili- 20 tätsunion ausgestaltet ist, die Stabilität durch Wettbewerbsdruck auslösen soll. Mehrere im Vertrag von Maastricht vereinbarte Vorschriften sollen dadurch Haushaltsdisziplin und in der Folge Preisstabilität herstellen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, sich auf den Kapitalmärkten zu dortigen Marktkonditionen zu finanzieren – zu nennen sind vor allem das „Bail-out-Verbot“, aber auch weitere Verbote der bevorzugten Kreditgewährung an Mitgliedstaaten sowie das Verbot der monetären Staatsfinanzierung.27 Der EuGH hat dieses Stabilitätskonzept in seinem grundlegenden Pringle-Urteil ausdrücklich als solches ausgewiesen.28 Es ist durch das Defizitverfahren sowie dessen weitere Unterfütterung im Stabilitäts- und Wachstumspakt ausgebaut worden. Zumindest insoweit kann hinterfragt werden, ob der EU wirklich eine gemeinsame wirtschaftspolitische Ausrichtung fehlte, wie dies häufig behauptet wird. Offensichtlich war das Modell der Stabilitätsunion aber nicht so stark politisch verankert, 21 dass es sich in der Krise vollständig hat halten lassen. Die Aufweichung in den Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich ist insoweit ein wirtschaftsverfassungsrechtliches Schlüsselereignis29 (Selmayr in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4, 1. Aufl.) § 23). Auch Anfang 2010 konnte die Bundesregierung dem politischen Druck zur Errichtung der ursprünglich vertragswidrigen30 Rettungsschirme (zunächst Griechenland, sodann EFSM und vor allem EFSF) nur wenige Wochen standhalten. Inzwischen ist die EWWU umfassend reformiert worden.

Überblick: Oppermann/Classen/Nettesheim EuropaR § 19 Rn. 10 ff. Zum Ganzen Streinz EuR Rn. 1080 ff. Statt aller s. nur Enderlein APuZ 43/2010, 7. Vgl. Ruffert CMLRev. 48 (2011), 1777 (1785 f.). EuGH 27.11.2012 – C-370/12, ECLI:EU:C:2012:756 Rn. 135 – Pringle. Differenzierend im Anschluss an EuGH 13.7.2004 – C-27/04, Slg 2004, I-6679 – Kommission/Rat; Calliess/Ruffert/Häde EUV/AEUV AEUV Art. 126 Rn. 106 ff. 30 Paradigmatisch der berühmte Ausspruch der seinerzeitigen französischen Finanzministerin Christine Lagarde: „We violated all the rules because we wanted to close ranks and really rescue the euro zone.“ (abrufbar unter: http://www.reuters.com/article/2010/12/18/us-france-lagarde-idUSTRE6BH0V020101 218). 24 25 26 27 28 29

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Der Rettungsschirm ESM hat in Art. 136 Abs. 3 AEUV (nach Vertragsänderung) eine primärrechtliche Grundlage gefunden.31 22 Weitere Reformen gestalten sich indes als schwierig. Der EZB gelingt es nicht, dem übermäßigen Druck der verschuldeten Mitgliedstaaten – zu denen auch die vermeintlich stabilen des „Nordens“ gehören – standzuhalten und eine Geldpolitik zu betreiben, die in den Staaten Reformnotwendigkeiten aktiviert. Der Leitzins wirkt als Steuerungsinstrument praktisch nicht mehr; Anleihekaufprogramme geraten an ihre Grenzen. Der EuGH hat dieser Politik zunächst Grenzen gesetzt, scheut sich aber, monetäre Staatsfinanzierung als solche zu identifizieren.32 Die Reformansätze der Kommission für die EWWU33 waren überambitioniert und einseitig. Weder für einen Europäischen Währungsfonds mit Auffangfunktion für die Bankenunion noch für einen größer dimensionierten Eurozonenhaushalt gibt es dort politische Mehrheiten, wo solche Ideen finanziert werden sollen. Hatte das Stabilitätsziel in der Krise – nicht zuletzt auf deutsche Initiative – durch den Fiskalpakt Auftrieb erhalten, ist es heute als gemeinschaftliches Ziel kaum sichtbar. Insofern wird Idee, über eine gemeinsame Währung europäische Identität zu stiften und erneut funktionalistisch auf einen spill over-Effekt zu setzen, heute besonders stark herausgefordert. Die EU wird aus der Krise nur dann als gestärkter politischer Verband hervorgehen, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass gegen wirtschaftswissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten keine Wirtschaftspolitik betrieben werden kann. Dann aber bezeichnet das Schlagwort „Mehr Europa“ ein Zukunftsmodell. 23 Politische Schlagworte inspirieren die rechtswissenschaftliche Analyse nur bedingt und tragen sie nicht weit. Generell ist in der Schuldenkrise (wie zuvor in der Finanzkrise) ein blinder Fleck der (Europa-)Rechtswissenschaft erkennbar geworden. Fragen von Geld und Währung gehörten nicht zu ihren Kern-Forschungsanliegen. Neben den akuten integrationsverfassungsrechtlichen Fragen (Hufeld in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4) → Bd. 4 § 24 und Manger-Nestler in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4) → Bd. 4 § 25 muss es einerseits darum gehen, Grenzen der Steuerung durch Recht herauszuarbeiten (→ Rn. 52 ff.). Im sektoralen europäischen Wirtschaftsrecht sind es die Themengebiete der Finanzmarktaufsicht einschließlich der Versicherungsaufsicht, in denen die Sicherung der Wirtschafts- und Währungsunion eingebunden ist. Es darf nicht übersehen werden, dass hier Fundamente für eine sichere Wirtschafts- und Währungsunion zu legen sind, auf denen die größeren integrationspolitischen Linien aufbauen können. d) Marktfremde Einschnitte 24 Im sektoralen Wirtschaftsrecht finden sich schließlich auch Bereiche, in denen von Anfang an Marktmechanismen aus dem Integrationskonzept ausgeblendet wurden. An die Stelle der wirtschaftswissenschaftlich inspirierten, marktorientierten Wirtschaftsintegration treten planwirtschaftliche Elemente infolge politischer Kompromisse. In erster Linie gehört hierzu die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die sich in der Entstehung der französischen 31 Beschluss (2011/199/EU) des Europäischen Rates vom 25.3.2011 zur Änderung des Art. 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, ABl.EU 2011 L 91/1, in Kraft seit 1.5.2013. 32 Zunächst EuGH 16.6.2015 – C-62/14, ECLI:EU:C:2015:400 – Gauweiler – OMT. Nunmehr aber EuGH 11.12.2018 – C-493/17, ECLI:EU:C:2018:1000 – Weiss ua. 33 Zusammengefasst im sog „Nikolauspaket“ v. 6.12.2017: Mitteilung der Kommission, Weitere Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion Europas: Ein Fahrplan, Dok. KOM(2017) 821 endg. (dort mit Erörterung der Vorschläge für Rechtsakte vom gleichen Tag); begrenztes Ergebnis: Erklärung des Euro-Gipfels v. 14.12.2018, Dok. EURO503/18.

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Forderung nach einem Gegengewicht zur Stärkung der deutschen Industriewirtschaft infolge des Gemeinsamen Marktes verdankt, sodann aber aufgrund vielfältiger grenzüberschreitender Beharrungsinteressen im Kern aufrechterhalten, jedoch mit der Zeit immer weiter reformiert wurde (s. Härtel → § 7 Rn. 37 ff.). Genannt wurden ferner bereits die wettbewerbsdurchbrechenden Elemente im europäischen Wettbewerbsrecht (→ Rn. 14 ff.). 4. Öffnungen, Weiterentwicklungen und Kritik a) Wirtschaftsunion und politische Union Das Ringen um eine Stabilisierung des Europäischen Verfassungsrechts in den vergange- 25 nen gut 20 Jahren ist inhaltlich facettenreich. Die Reformbemühungen in den Vertragsreformen von Maastricht, Amsterdam und Nizza bis hin zum Verfassungsgebungsprozess, der in den Reformvertrag von Lissabon mündete, können auch als Auseinandersetzung um die Strukturierung des in den 1950er-Jahren erstrebten spill-over-Effekts gelesen werden. Der politische Koordinierungs- und Strukturierungsbedarf infolge der Herstellung des Binnenmarktes ist so groß, dass die politische Einheit in den Mittelpunkt rückt. Diese Bedarfe nachhaltig zu befriedigen, ohne sich an der Grenze zur Staatlichkeit in fruchtlosen Diskussionen um Souveränität und Identität aufzureiben, ist Kernaufgabe der modernen Europarechtswissenschaft. Die Sorge um die politische Union darf dabei nicht über die Erfolge wirtschaftlicher Inte- 26 gration hinwegtäuschen. Hinter der ökonomischen Faktormobilität im Binnenmarkt stehen greifbare Verbindungen zwischen wirtschaftlichen Akteuren und damit letztlich Unionsbürgern. Grenzüberschreitendes Wirtschaften ist Freiheitsverwirklichung unter Überwindung von Schranken, die vielfach nur in Traditionen und Interessenverkrustungen ihren Rückhalt haben. Es ist Aufgabe des Europarechts, Instrumente für die Gemeinwohlsicherung in diesem freiheitlichen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Das sektorale europäische Wirtschaftsrecht leistet dies durch eine instrumentelle und institutionelle Vielfalt, die eher nach Ordnung und Strukturierung ruft als nach unspezifischer Ergänzung und Vertiefung. b) Von der Philippika auf den Ordoliberalismus zur Kaptitalismuskritik? Dass die Realisierung eines derart freiheitlichen Rahmens Kritik auf den Plan ruft, nimmt 27 nicht wunder. Auch wenn die europäische Integration nirgends als Nullsummenspiel verstanden wird, wähnen sich manche Interessen auf der Verliererseite. Einer der schärfsten Beobachter des europäischen Wirtschaftsverfassungsrechts der letzten Jahre, Christian Joerges, sieht sich sogar zu einer Philippika auf den Ordoliberalismus veranlasst.34 Anderenorts – nicht nur, aber vor allem außerhalb der Rechtswissenschaft – macht sich eine plumpe „Kapitalismuskritik“ breit. Während Letztere angesichts der konzeptionellen Bedeutungslosigkeit der Kapitalismus- 28 Sozialismus-Dichotomie für das europäische Wirtschaftsrechts sowie angesichts ihrer stupenden Uninformiertheit über grundlegende Zusammenhänge des Integrationsrechts getrost vernachlässigt werden kann, verdienen die konkreten Defizite, die sich in der spezifischen strukturellen Verkopplung von Politik, Wirtschaft und Recht in der europäischen Wirtschaftsverfassung zeigen, durchaus nähere Beachtung. Ihre Untersuchung führt unmittelbar zur Idee des Wirtschaftsrechts und ihren Grenzen.

34 Joerges KJ 2010, 395.

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II. Recht: Wirtschaftsrecht als Rechtsgebiet 1. Idee und Wirklichkeit des Wirtschaftsrechts 29 Die Verknüpfung spezifisch wirtschaftsbezogener Gehalte im „Wirtschaftsrecht“ ist eine deutsche Erfindung. Seit Heinrich Lehmanns „Industrierecht“ von 191335 haben sich die Ansätze verstetigt, den wirtschaftsorientierten Rechtsstoff zusammenzuführen und zu systematisieren.36 Nach den Systematisierungsleistungen der Weimarer Zeit erreicht die Idee des Wirtschaftsrechts eine ihrer intensivsten Phasen in der Frühzeit der Bundesrepublik.37 Alle weiteren Entwicklungen des Gebiets knüpfen hier im Wesentlichen an, und zwar unter zwei leitenden Gesichtspunkten: 30 Erstens ist das Wirtschaftsrecht in der Bundesrepublik untrennbar mit der ökonomischen Lehre des Ordoliberalismus verknüpft. Wirtschaftsrecht zielt zuvörderst auf die Verwirklichung der gesamtwirtschaftlichen Ordnung ab.38 Zentrales Anliegen ist die Steigerung ökonomisch-sozialer Wohlfahrt durch regelgeleitetes Wirtschaftsleben in den Bahnen des Wirtschaftsrechts. Hieraus ergibt sich ein spezifischer Begriff von „Wirtschaftsverfassung“ als Gesamtheit der im Wirtschaftsrecht zusammengeführten Grundprinzipien und -regeln, der auch insoweit maßstabsbildend wirkt, als sich Einzelfragen und -regelungen am übergeordneten Ziel freiheitlich-marktlicher Wohlfahrtssteigerung messen lassen müssen.39 31 Zweitens sucht das Wirtschaftsrecht von Beginn an, die Grenze zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht zu überwinden, um die wirtschaftsbezogenen Prinzipien und Regeln sachgebietsorientiert aufzuarbeiten.40 Dieser Denkansatz hat durch das europäische (und internationale) Wirtschaftsrecht besonderen Auftrieb erfahren, da sich die supranationale Ebene nicht am überkommenen „public-private-law-divide“41 orientiert. 32 Eine Darstellung des sektoralen europäischen Wirtschaftsrechts kann sich des Systematisierungsanspruchs des „Wirtschaftsrechts“ bedienen und auf seiner Linie Grenzziehungen zwischen privatem und öffentlichem Recht dort überwinden, wo sie sachlich nicht angemessen sind. Sie kann entsprechend der ordoliberalen Nachrationalisierung der ökonomischen Integration ihren Ausgangspunkt im Marktrecht nehmen und Abweichungen mit ihren Sonderrationalitäten kennzeichnen und analysieren. 2. Grenzen rechtlicher Steuerung – Potenziale rechtswissenschaftlicher Überwindung 33 Ein realitätsnahes, modernes europäisches (sektorales) Wirtschaftsrecht muss auch die Grenzen (wirtschafts-)rechtlicher Steuerung im Blick behalten, wie sie auf der supranationalen Ebene der EU besonders augenfällig werden, weil hier Leistungsdefizite kaum durch überkommen-traditionale Regelungsstrukturen überdeckt werden können, wie dies partiell in staatlichen Rechtsordnungen gelingen mag. Zu unterscheiden sind soweit zwei Komplexe: interne und externe Leistungsgrenzen. 34 Interne Leistungsgrenzen entstehen vor allem durch Probleme der Rechtsetzungsqualität. Diese ist im Unionsrecht noch augenfälliger als im nationalen Recht. Dies liegt zum einen daran, dass supranationale Rechtsetzung stärker noch als innerstaatliche Gesetzgebung auf punktuelle Politikverwirklichungsansprüche reagiert. Deutlich wird dies schon in der

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Lehmann, Grundlinien des deutschen Industrierechts in FS Zitelmann, 1913, S. 1 ff. S. die Darstellung bei Rittner/Dreher § 1 mwN zur älteren Literatur. Früher Ansatz auch bei Huber § 1. S. statt vieler die Darstellung bei Badura, Rn. 14. Rittner/Dreher § 1 Rn. 45 ff. Für die EU s. nur Baquero Cruz, S. 63 ff. Besonderes deutlich Rittner/Dreher § 1 Rn. 54 ff. Anders wohl Huber § 2. Rechtsvergleichend: Ruffert (Hrsg.), The Public-Private Law Divide: Potential for Transformation?, 2009.

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A. Sektorales Wirtschaftsrecht: Ausgangspunkte und Entstehungsabläufe

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Überschrift des einschlägigen Titels des AEUV – „Rechtsakte“ –, die an die traditionelle Maßnahmebefugnis Internationaler Organisationen anknüpft. Die Überprüfungsmechanismen der Europäischen Union im Vorfeld eines Rechtsakts – Subsidiaritätskontrolle, Impact Assessment42 – beziehen sich auf außerrechtssystematische Faktoren (zB Effizienz, Wahrung mitgliedstaatlicher Handlungsspielräume), nicht auf die Wahrung einer inneren Systematik der Rechtsetzung. Kodifikation findet praktisch nicht statt. Die beachtliche Better-Legislation-Initiative der Kommission hat insoweit noch keine tiefgreifenden Ergebnisse gezeitigt.43 Beispiel für diesen Gesichtspunkt innerer Leistungsgrenzen aus dem sektoralen Wirtschaftsrecht ist etwa die Komplexität des Telekommunikations- und Energieregulierungsrechts (s. Kühling → § 4 Rn. 1 ff. sowie Ludwigs → § 5 Rn. 1 ff.). Im Lebensmittelsektor soll das Evaluationsprogramm „REFIT“ der Deregulierung und Reduktion von Komplexität dienen (s. Gundel → § 8 Rn. 34). Zum anderen ist der Verhandlungscharakter der Rechtsinhalte in der EU noch stärker 35 ausgeprägt als im innerstaatlichen Recht. Nicht nur das Auffinden von Mehrheiten im Rat mit den berühmten Paketlösungen, auch die „trilogische“ Struktur des Miteinander von Kommission, Rat und Parlament führen dazu,44 dass die systematische Konsistenz von Rechtsakten häufig hinter den Anforderungen zurückbleibt. Externe Leistungsgrenzen knüpfen an den politischen Ursprung des supranational gesetz- 36 ten Rechts und seiner Durchsetzung an. Im politischen Raum besteht wenig – und tendenziell abnehmende – Neigung, rechtliche Bindungen zu implementieren. Je geringer die Möglichkeiten zu Rechtskontrolle und Rechtsschutz, desto schwächer die Steuerungskraft des Rechts. Im Großen zeigt sich dies augenfällig in der Gestaltung der Instrumente zur „Euro-Rettung“: Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundregeln des europäischen Verfassungsrechts werden häufig durch politische Rationalitäten bzw. die Rationalitäten der am Finanzmarkt wirksamen Interessen überdeckt. Der Ausfall regulärer Kontrollmechanismen (Aufsichtsfunktion der Kommission, Kontrolle durch den EuGH) führt zur Herausbildung notwehrartiger Kontrollinstrumente, mit denen „Ausreißer eingefangen“, aber kein konsistent-systematisches Recht konstruiert werden kann. Auf punktuell-politische Rechtsumbildung folgt punktuell-politische richterliche Nothilfekontrolle. Der Aufbau der Verfassungsbeschwerde zur Popularklage gegen Übergriffe der supranationalen Ebene und intergouvernementalen Steuerung in die demokratisch verstandene Souveränitätssphäre Deutschlands, angeknüpft an Art. 1 Abs. 1, 38 Abs. 1, 79 Abs. 3 und 146 GG,45 ist paradigmatisch für diese Erscheinung. Auch im „Kleinen“ des sektoralen Wirtschaftsrechts werden jedoch Durchbrechungen 37 sichtbar, so bei den Krisenpräventionsmechanismen der Finanzmarktaufsicht (s. Ohler → § 10 Rn. 129 ff.).

III. Sektorenbildung: Wirtschaftssektoren und sektorales Wirtschaftsrecht Gleich in welcher Rechtsordnung sind Darstellungen des Wirtschaftsrechts und wirt- 38 schaftsrechtliche wissenschaftliche Analysen nur bedingt an normative Kategorisierungsvorgaben gebunden. Abstrakte Fragestellungen und Strukturen lassen sich gleichsam vor die Klammer ziehen, so dass Grundfragen der Wirtschaftsverfassung von solchen der 42 Dazu http://ec.europa.eu/governance/impact/index_en.htm. 43 Zu ihr statt vieler Schroeder ZG 2016, 193. 44 Eindrücklich illustriert in BVerfG 9.11.2011, BVerfGE 129, 300 (333 f.) – 5 %-Klausel. Berechtigte Kritik bei von Achenbach Der Staat 55 (2016), 1. 45 In diesem Kontext besonders deutlich BVerfG 7.9.2011, BVerfGE 129, 124 (167 f.); nunmehr „kanonisiert in BVerfG 18.3.2014, BVerfGE 135, 317 (386), als „Anspruch auf die Demokratie“ (seither st. Rspr.).

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Wirtschaftsverwaltung abgeschichtet werden können. Eine weitere Abstraktion besteht in der Differenzierung von Aufsicht, Lenkung und (neuerdings) Regulierung. Bei der Aufgliederung des direkt mit der wirtschaftlichen Tätigkeit verbundenen Stoffes („Besonderer Teil“) bieten sich generell drei Methoden an: (1) Entweder, sie erfolgt nach historischen Gesichtspunkten, indem solche Teile des Rechtsstoffes miteinander verbunden werden, die in der historischen Rückschau miteinander verknüpft sind, (2) oder sie arbeitet sich an einzelnen Gesetzen (mit dem dazugehörigen untergesetzlichen Recht) ab (3) oder sie erfolgt schließlich in Nachvollzug der Ausdifferenzierung des wirtschaftlichen Realbereichs. 39 In diesem Band sind die Methoden miteinander kombiniert, wobei Methode (3) – Orientierung an den Rechtstatsachen – im europäischen Wirtschaftsrecht schon deswegen vorrangig ist, weil traditionale Elemente oder gar erkenntnisleitende Gesetze (vergleichbar der Gewerbeordnung oder dem GWB; s. aber die unter → Rn. 67 aufgezählte Gesetzgebung) fehlen. Partiell greift die Aufgliederung allerdings traditionale Elemente mitgliedstaatlichen Rechts auf, namentlich beim Berufsrecht (Teil B), während die übrigen Teile C–E weit überwiegend nach den Wirtschaftssektoren gegliedert sind. Nicht geklärt ist mit dieser Unterteilung schließlich die Frage, inwieweit sich das Recht eines Wirtschaftssektors als Referenzgebiet entfalten kann, denn Referenzgebiete sind nicht lediglich Unterteilungen eines Gesamtgebiets, sondern solche mit spezifischen Rückwirkungen auf das Allgemeine,46 hier im Wirtschaftsrecht (s. daher zutreffend für das Lebensmittelrecht Gundel → § 8 Rn. 1).

B. Primärrechtlicher Rahmen und sekundärrechtliche Strukturbildung I. Typen der Herausbildung sektoralen Wirtschaftsrechts 1. Sektorales Wirtschaftsrecht als Binnenmarktsekundärrecht 40 Gleichwohl entwickelt sich das sektorale Wirtschaftsrecht nicht losgelöst von rechtlichen Vorgaben allein anhand der Strukturierung der Realbereiche, sondern knüpft an primärrechtliche Strukturvorgaben an. Unter diesen ist die binnenmarktliche von besonderem Gewicht: Sektorales Wirtschaftsrecht der EU entsteht anknüpfend an die Grundfreiheiten dort, wo durch Rechtsangleichung Hindernisse im grenzüberschreitenden Waren-, Personen-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr im Wege der supranationalen Rechtsetzung beseitigt werden. Dies geschieht unter Rückgriff auf die allgemeine Rechtsangleichungskompetenz des Art. 114 AEUV oder unter Verwendung der grundfreiheitenspezifischen Harmonisierungsbefugnisse zur Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit im Berufs- und Handwerksrecht, Telekommunikationsrecht, Lebensmittelrecht sowie Finanzmarktrecht (s. insgesamt → Rn. 9 ff.). Ziel der sektorspezifischen Regelungen ist die Herstellung eines wirtschaftlichen Raums ohne Binnengrenzen (Art. 26 AEUV); die Vorschriften zielen dementsprechend darauf ab, diesen Raum herzustellen und Rechtfertigungsgründe für Differenzierungen nach den einzelnen Rechtsordnungen normativ zu erfassen. 2. Sektorales Wirtschaftsrecht als sekundäres Wettbewerbsrecht 41 Hiermit verwandt, aber geringeren quantitativen Aufkommens sind wettbewerbsrechtliche Sekundärrechtsnormen. Sie dienen vor allem dem sekundärrechtlich geleiteten Ausgleich des Spannungsverhältnisses von Art. 106 Abs. 1 und 2 AEUV (bzw. der Vorläufernormen in Art. 90 E(W)GV/Art. 86 EGV). Für die hier behandelten Wirtschaftssektoren unbedeutend sind die beihilfenrechtliche Kompetenz in Art. 109 AEUV (s. Koenig/ Hellstern in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungs46 Begriffsbildend Schmidt-Aßmann, 1/13.

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recht (EnzEuR Bd. 4) → Bd. 4 § 14 Rn. 7) und bislang die wettbewerbsfeindliche Sonderbefugnis in Art. 14 S. 2 AEUV, von der noch nicht Gebrauch gemacht wurde. 3. Sektorales Wirtschaftsrecht durch sektorales Primärrecht Partiell ist schließlich bereits das Primärrecht nach Wirtschaftssektoren gegliedert. Das 42 trifft in den Fällen zu, in denen „Politiken“ der Union nicht wie Binnenmarkt und Wettbewerb sektorenunabhängig sind, sondern sich auf spezifische Wirtschaftssektoren beziehen, namentlich im Transport- (s. Knauff § 6) und Agrarrecht (s. Härtel § 7). Die primärrechtliche Aufwertung dieser Sektoren führt zu rechtspolitischen, aber auch rechtsdogmatischen Sonderentwicklungen (→ Rn. 49 ff.). Eine Sonderstellung nimmt insoweit das Energierecht ein, denn die besondere Kompetenznorm in Art. 194 AEUV knüpft zwar an andere Kompetenztitel (namentlich im binnenmarktlichen Kontext) an, bündelt die Kompetenzen jedoch und rundet sie ab (s. Ludwigs → § 5 Rn. 61 ff.).

II. Die wirtschaftsrechtliche Kompetenzordnung der EU Sektorales Wirtschaftsrecht gehört überwiegend nicht zu den Bereichen, deren kompeten- 43 zielle Zuordnung zur EU hoch umstritten ist – zu offensichtlich erfolgreich ist namentlich die Zuordnung von Binnenmarkt und Wettbewerb zur Verbandskompetenz der supranationalen Union, zu festgefügt ist das Interessengeflecht beispielsweise in der Landwirtschaftspolitik, als dass die einschlägigen stakeholders von einer Rückverlagerung von Befugnissen auf die Mitgliedstaaten profitieren könnten, zu offenkundig ist wie im Bereich der Finanzmarktaufsicht die Notwendigkeit supranationaler Rechtsetzung, als dass die EU-Kompetenz nachhaltig in Frage gestellt werden könnte. Überwiegend sind die auf die hier abgehandelten Sektoren bezogenen Befugnisse den geteilten Zuständigkeiten zugeordnet (s. Art. 4 AEUV). Ausgenommen ist allein das binnenmarktbezogene Wettbewerbsrecht (Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV) sowie ein Teil der Fischereipolitik, die zur Agrarpolitik gehört (Art. 3 Abs. 1 lit. d AEUV).

III. Sektorales Wirtschaftsrecht in der Rechtsordnung Die Gattungsbezeichnung „sektorales Wirtschaftsrecht“ liegt – auch in seinen Einzelsek- 44 toren – quer zu den üblichen Unterteilungskategorien der Rechtsordnung. Es kommt nicht auf die Zuordnung zum öffentlichen Recht oder zum Privatrecht an, und sollten (gleichsam als Annex) Strafnormen in einen Wirtschaftssektor eingebunden sein, lassen sich diese in die Analyse einbeziehen. Das europäische sektorale Wirtschaftsrecht vollzieht die mitgliedstaatliche Unterteilung der „Säulen“ der Rechtsordnung nicht nach, steht ihr andererseits aber auch nicht entgegen, sofern sie kraft mitgliedstaatlichen Rechts oder/und zur Wahrung bestimmter säulenspezifischer Gewährleistungen (vor allem im Strafrecht) erforderlich ist. Sektorales Wirtschaftsrecht kann schließlich auch in Bereichen vorgefunden werden, die 45 außerhalb der in diesem Band abgehandelten liegen. Beispielhaft zu nennen sind die in Band 4 und 6 erörterten Gebiete des Beihilfen-, Vergabe- und Unternehmensrechts.

C. Sektorales Wirtschaftsrecht als Wirtschaftsrecht I. Rezeption wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse im Recht Der Idee eines säulenübergreifenden Wirtschaftsrechts folgend ist sein vorrangiges Rege- 46 lungsziel, ökonomischen Wohlstand herzustellen und zu sichern. Außerdem sind über das

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Wirtschaftsrecht andere Gemeinwohlziele in Relation zur ökonomischen Entwicklung zu setzen. 47 In der supranationalen Demokratie der EU (s. Art. 10 Abs. 1 EUV) sind diese Regelungsleistungen durch Interessenausgleich im politischen Prozess zu erzielen. Das Demokratieprinzip schließt es wegen seiner formalen Natur nicht aus, dass ökonomisch ineffiziente, ja unsinnige Entscheidungen im Recht implementiert werden;47 Anforderungen an die wirtschaftliche Rationalität von Recht bezieht es aus anderen übergeordneten Quellen, namentlich dem Rechtsstaatsprinzip und den wirtschaftsbezogenen Grundrechten. 48 Rechtlich – und durch demokratisch legitimierte Entscheidung – kann aber vorgesehen werden, Mechanismen zur Einbeziehung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in das Recht zu ermitteln und zu nutzen. Gemessen am Maßstab des ökonomischen Wohlstands erhöht sich dadurch die Qualität des Wirtschaftsrechts. Tatsächlich resultiert der Erfolg des europäischen Wirtschaftsrechts aus der Rezeption dreier ökonomischer Grundannahmen, die bewusst zur Wohlfahrtssteigerung – und möglicherweise unter Hintanstellung anderer Werte – im Primärrecht implementiert worden sind: n Die Herstellung des Binnenmarktes durch Grundfreiheiten und Rechtsangleichung führt zu einer Vergrößerung der jeweiligen Gütermärkte und zu einer Intensivierung der Marktdynamik; beides ruft wirtschaftliches Wachstum hervor. Ein zentrales Feld, in dem diese Strategie auch heute noch auf Defizite stößt, ist der Dienstleistungssektor (s. Storr → § 2 Rn. 5 ff.). n Märkte müssen vor Beeinträchtigungen von privater Seite, durch Kartelle, den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen sowie wettbewerbshindernde Fusionen geschützt werden; dies geschieht im EU-Wettbewerbsrecht, das auch Wettbewerbsbeeinträchtigungen erfasst, die von den Staaten ausgehen. n Eine gemeinsame Währung bedarf der Preisstabilität für die wirtschaftliche Prosperität des Euro-Raumes und nicht zuletzt, um auf den globalen Kapitalmärkten bestehen zu können. Inflationsraten können nur niedrig gehalten werden, wenn die Staatsverschuldung nicht überbordet; disziplinierend wirkt insofern der Druck auf die Staaten, sich auf den regulären Kapitalmärkten zu finanzieren. Anders als die beiden ersten Aussagen, die im Kern wohl nicht ernsthaft bestritten werden (können), ist dieser Punkt angesichts der jüngeren Entwicklungen ausgesprochen umstritten. 49 Neben diesen ökonomischen Grundorientierungen des Primärrechts kann auch die Einbeziehung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse im Sekundärrecht sichergestellt werden. Hierfür ist der Rechtsetzungsprozess der EU deswegen offen, weil an seinem Beginn das Initiativmonopol einer Einrichtung steht, die idealtypisch einen techno- bzw. expertokratischen Vorschlagsstil pflegt. Praktische Defizite sind in diesem Idealbild von der Kommission natürlich nicht ausgeschlossen. Im sektoralen Wirtschaftsrecht wird die Rezeption ökonomischer Erkenntnisse namentlich im Regulierungsrecht sichtbar. Die Liberalisierungserfolge im Telekommunikationsrecht machen die Dynamik von Marktmechanismen besonders offenkundig (s. Kühling → § 4 Rn. 1, 12 ff. hinsichtlich der empirischen Grundlagen).

II. Sachspezifische Eigenrationalitäten 50 Die sektorenorientierte Analyse des Wirtschaftsrechts ermöglicht es, Eigenrationalitäten der Wohlstandserhaltung und -steigerung in den einzelnen Wirtschaftsbereichen herauszuarbeiten. Dadurch wird eine holzschnittartige Vereinfachung vermieden, die sich allein auf Marktmechanismen konzentriert oder ausschließlich an den Dreiklang Grundfreiheiten – 47 Dies räumt Krajewski DÖV 2005, 665 (674), ein.

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Wettbewerbsrecht – Währungsunion anknüpft. Im Einzelnen wirken folgende sektorspezifische Eigenrationalitäten prägend: n die besondere (letztlich gemeinwohlorientierte) Pflichtigkeit in den Freien Berufen (s. Storr → § 2 Rn. 1 ff., 25 ff.), n die berufsbildspezifischen Charakteristika einzelner Freier Berufe (s. Storr → § 2 Rn. 47 ff.), n die Notwendigkeit der Verteilung knapper Ressourcen (Frequenzen, Nummern, Wege) im Telekommunikationsrecht (s. Kühling → § 4 Rn. 155 ff.), n die Gemengelage von Versorgungssicherheit und Umwelt-/Klimaschutz im Energierecht (s. Ludwigs → § 5 Rn. 16 ff.), n die Gewährleistung von Mobilität als tatsächliche Basis der europäischen Integration durch das Transportrecht (s. Knauff → § 6 Rn. 3 ff.), n technische Regelungen (einschließlich der Sicherung von Umweltstandards) im Transportrecht (s. Knauff → § 6 Rn. 138 ff., 159 ff., 184 ff.), n die Gewährleistung von Gesundheitsschutz und die Einbindung in soziale Sicherungssysteme im Arzneimittelrecht (s. Janda → § 9 Rn. 9 ff.) sowie n die strukturellen Besonderheiten der Finanzmärkte: relative Natur von Geldforderungen und dezentraler Handel, volkswirtschaftliche Bedeutung und internationale Dimension, Risikoübernahme durch Finanzinstitute, Finanzintermediation, Informationsasymmetrien und Produktkomplexität sowie das Problem der Systemstabilität (s. Ohler → § 10 Rn. 29 ff.).

III. Interessenspezifische Rationalitäten und Irrationalitäten Daneben gilt es, solche Sachstrukturen in den einzelnen sektorspezifischen Regelungen 51 herauszuarbeiten, in denen sich offensichtlich Partikularinteressen durchgesetzt haben. Wohlstandssteigerung wird durch diese Art des normativen capture verhindert, und es ist Sache der Wirtschaftsrechtslehre, solche interessengeleiteten Verschattungen aufzudecken. Zentrales Beispiel für diese Verzerrungen des Wirtschaftsrechts ist das Agrarrecht. Die be- 52 sondere Aufgabe der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln, die eine spezifische Eigenrationalität in den Agrarsektor und sein Recht bringt (s. Härtel → § 7 Rn. 1 ff., 32 ff. sowie oben → Rn. 16), trägt die Aufblähung des Agrarsektors in der EU seit langem nicht mehr. Immerhin gibt es eine sichtbare Reformagenda, die eine Beseitigung der schlimmsten Auswüchse verhindert hat. Die schrittweise Ablösung der Interventionsmaßnahmen (und Interventionspreisfestsetzungen) durch Direktbeihilfen, die auch Gemeinwohlgüter (Umweltschutz, Struktur des ländlichen Raumes) in den Blick nehmen, ermöglicht die ansatzweise Einführung von Marktstrukturen in den Sektor, ohne dass die Versorgung mit Lebensmitteln in der EU gefährdet wäre. Der Umstand, dass mit dem EU-Haushalt überwiegend die Gemeinsame Agrarpolitik finanziert wird, wobei der Agrarsektor in Europa eine untergeordnete Rolle spielt – verdeutlicht aber auch, dass die Reformbemühungen hier noch nicht abgeschlossen sein können.

IV. Grenzen des Rechts und seiner Steuerungskraft Rechtswissenschaftliche Darstellungen mögen dazu neigen, die Steuerungskraft des Rechts 53 im Wirtschaftsleben zu überschätzen. Im Europarecht wird diese Neigung durch das Konzept der Integration durch Recht noch zusätzlich befördert – und durch seinen unbestreitbaren Erfolg. Allerdings gibt es gerade im Wirtschaftsrecht Steuerungsgrenzen, die es zu erkennen gilt, um seine Leistungskraft realitätsgerecht zu evaluieren und Steuerungs-

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schwächen abzubauen. Im Kontext des (sektoralen) europäischen Wirtschaftsrechts sind vor allem zwei Begrenzungen der Leistungsfähigkeit zu identifizieren: 54 Nur bedingt ist (Wirtschafts-)Recht in der Lage, aus sich heraus Wohlstand zu generieren. Die Rezeption wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse im Recht ist erstrebenswert, aber nicht garantiert (→ Rn. 45 ff.), und wenn sie gelingt, handelt es sich eben um einen externen Faktor der Gestaltung des Rechts. Rechtssicherheit, innere Konsistenz und Systemgerechtigkeit können allerdings auch einen genuinen rechtlichen Beitrag zur Wohlstandssicherung und -mehrung leisten. 55 Daran anknüpfend sind als zweite Begrenzung jedoch Durchsetzungsschwächen des Rechts zu nennen. Je nach verfassungsrechtlicher Konstruktion von Herrschaft ist es möglich, durch politische Entscheidungen rechtliche Festlegungen zu übergehen oder zumindest an den Rand zu drängen. Dies ist in der Staatsschuldenkrise augenfällig geworden, in der rechtliche Vorgaben durch die Politik in zum Teil erschreckender Weise tagespolitischen Interessen geopfert worden sind. Derartige Verdrängungsprozesse sind aber auch im sektoralen Wirtschaftsrecht nicht auszuschließen. Generell führen Regelungen mit unpräzisen Anwendungsvorgaben oder eingeschränkten Sanktionsmöglichkeiten zu Steuerungsschwächen.

D. Sektorenübergreifende Systematisierungsansätze I. Sektorenübergreifende Konzepte 56 Es gehört zu den hervortretenden Leistungen der – namentlich deutschen – Rechtswissenschaft, den Rechtsstoff dadurch zu ordnen und zu systematisieren, dass aus einer Vielfalt des Besonderen Elemente des Allgemeinen abstrahiert und zusammengeführt werden. Dieser Ansatz wird auch hier verfolgt, soweit Organisationsformen, Handlungsinstrumente sowie Rechtsschutzkonstellationen im sektoralen Wirtschaftsrecht aufscheinen, die allgemein im Recht der europäischen Integration bekannt sind und eine entsprechende Zuordnung erfahren können. 57 Überdies ist seit langem vor allem die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht auf der Suche nach Systematisierungskonzepten, die in Bereichen hoher sachspezifischer Ausdifferenzierung („Besonderes Verwaltungsrecht“) eine Ordnungsleistung erbringen können, die im Abstraktionsgrad unterhalb des „Allgemeinen Teils“ steht, gleichwohl aber Regelungsfelder zusammenführt, die sachspezifisch innerlich miteinander verbunden sind. Für diese seit langem thematisierte „mittlere Ebene“ stehen im Wirtschaftsrecht allerdings nur wenige Konzepte bereit.48 58 Überkommen und etabliert ist das „Marktrecht“ – Recht zur Marktermöglichung, Marktordnung und Marktsicherung.49 Seine Bedeutung ist hier bereits erwähnt worden. Recht, das durch Rechtsvergleichung für den Binnenmarkt entsteht, lässt sich auf dieser Basis inhaltlich zusammenführen. 59 Neueren Datums und erheblich stärker in der methodischen Diskussion steht das Regulierungsrecht. Regulierung ist zu verstehen als hoheitliches Handeln, mit dem die Verwaltung auf einen Wirtschaftssektor einwirkt, um sowohl Bedingungen für Wettbewerb zu schaffen und aufrechtzuerhalten als auch anstelle einer staatlichen Eigenvornahme die Gemeinwohlsicherung im betreffenden Sektor zu garantieren.50 Ein solches Verständnis von Regulierung ist voraussetzungsvoll; der genaue Gehalt weiterhin umstritten und mit Unsi48 Zur Figur der „mittleren Ebene“ grundlegend Wahl in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, S. 177, 213. 49 S. bei Fn. 3. 50 Die Überlegungen zur Regulierung sind ausführlich entwickelt in: Ruffert in Fehling/ders. § 7 Rn. 58 (zum Begriff), sowie in Kurzform Ruffert in Ehlers/Fehling/Pünder § 22.

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D. Sektorenübergreifende Systematisierungsansätze

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cherheiten behaftet. Dennoch betritt die hier formulierte Definition kein juristisches Neuland, sondern konsolidiert eine Begriffsentwicklung und zielt darauf ab, die verbliebenen Unschärfen nachhaltig zu reduzieren. Zentral ist es, das sehr weite, in den USA entstandene Verständnis von Regulierung, das sämtliches normierend und normgesteuert regelndes Handeln einbezieht, auf die Regulierungsziele Wettbewerbsermöglichung, Gemeinwohlverwirklichung und Gefahrenabwehr zurückzuführen.51 In der Analyse namentlich der Sektoren Telekommunikation, Energie und Verkehr tritt 60 das Regulierungskonzept in Erscheinung (s. Kühling § 4; Ludwigs § 5; Knauff § 6). Eine abweichende Idee von Regulierung dominiert das Finanzmarktrecht (s. Ohler → § 10 Rn. 3).

II. Organisationsformen Organisationsrechtlich dominiert im sektoralen europäischen Wirtschaftsrecht die Euro- 61 päische Kommission (s. generell Hatje in ders./Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (EnzEuR Bd. 1) → Bd. 1 § 15, und Sydow in Hatje/ Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (EnzEuR Bd. 1) → Bd. 1 § 17). Soweit es sich um Bereiche der direkten Verwaltung durch die EU handelt, ist sie einzige Behörde zur Implementierung des sektoralen Wirtschaftsrechts (zur Stärkung der Kommission im Energierecht s. Ludwigs → § 5 Rn. 158 ff.). Bei geteilter Verwaltungszuständigkeit mit den Mitgliedstaaten tritt die Kommission in den Europäischen Verwaltungsverbund ein, der mitgliedstaatliche Verwaltungen und Kommission mit- und untereinander verknüpft (s. vor allem Kühling → § 4 Rn. 78 ff.). Außerdem ist im sektoralen Wirtschaftsrecht die Begleitung durch wissenschaftliche Ausschüsse zu beobachten (s. Gundel → § 8 Rn. 47). Aus dem Regulierungsrecht stammt indes die wichtigste organisationsrechtliche Neuerung 62 des sektoralen Wirtschaftsrechts, die Errichtung von in die europäischen Verbundstrukturen eingebundenen unabhängigen Regulierungsbehörden (s. auch Gundel in Leible/ Terhechte (Hrsg.), Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht (EnzEuR Bd. 3) → Bd. 3 § 39). Der Grundgedanke besteht darin, von wettbewerbsverzerrender Einflussnahme losgelöste, sachverständige Regulierungsverfahren zu organisieren. Die Agenturen sind nach Rechtsträgerschaft zu unterscheiden: Einerseits hat die Union selbst eine Fülle von Agenturen errichtet, davon in den hier be- 63 handelten Sektoren die Folgenden: n Europäische Energieagentur (ACER, s. Ludwigs → § 5 Rn. 136 ff.), n Europäische Eisenbahnagentur (ERA, s. Knauff → § 6 Rn. 198), n Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (s. Knauff → § 6 Rn. 199), n Europäische Agentur für Flugsicherheit (s. Knauff → § 6 Rn. 200), n Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA, s. Gundel → § 8 Rn. 48 ff.), n Europäische Arzneimittelagentur (s. Janda → § 9 Rn. 5, 38 ff.), n EBA, EIOPA und ESMA im Finanzsektor (s. Ohler → § 10 Rn. 103 ff., sowie Looschelders/Michael → § 11 Rn. 8 ff.). Die Kompetenz zur Errichtung solcher Organisationsstrukturen – zumeist gestützt auf Art. 114 AEUV – ist umstritten (s. Ludwigs → § 5 Rn. 149; Looschelders/Michael → § 11 Rn. 33 ff.), wenngleich sich mittlerweile eine hohe Akzeptanz eingestellt und die Abstüt-

51 S. bereits Ruffert AöR 124 (1999), 237.

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§ 1 Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts

zung über Art. 114 AEUV sich auch beim EuGH durchgesetzt hat.52 Spezielle Kompetenzgrundlagen wie Art. 194 AEUV treten hinzu (s. wiederum Ludwigs → § 5 Rn. 149). 64 Eine Zwischenform der Verdichtung im Verwaltungsverbund lässt sich im Telekommunikationssektor beobachten. Das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) verbindet die nationalen Regulierungsbehörden in einer „Vermittler- bzw. Zwischenposition“ miteinander, ohne dass es zur Gründung einer eigenen europäischen Agentur wie etwa im Energiesektor gekommen ist (näher s. Kühling → § 4 Rn. 27, 59 ff., Begriff → Rn. 62). 65 Andererseits gibt es Wirtschaftssektoren, in denen den Mitgliedstaaten die Errichtung von Agenturen aufgegeben wird, wie seit langem von den einschlägigen EU-Richtlinien im Telekommunikations-, Energie- und Eisenbahnrecht. In den Wirtschaftssektoren dieses Bandes gibt es solche Vorgaben an folgenden Stellen: n die nationalen Regulierungsbehörden des Telekommunikationsrechts (s. Kühling → § 4 Rn. 71 ff.) sowie n die nationalen Regulierungsbehörden des Energierechts (s. Ludwigs → § 5 Rn. 171 ff.). 66 Bis vor kurzem diente die Unabhängigkeit der Agenturen vor allem der Trennung von Eigentümerinteressen und Regulierungsinteressen: Mitgliedstaaten als Allein- oder Mehrheitseigentümer von Telekommunikations-, Energie- oder Eisenbahnunternehmen sollten nicht in die Lage versetzt werden, durch Einflussnahme auf Regulierungsentscheidungen die vorhandene Monopolstruktur zu perpetuieren. Mit den Richtlinien des Dritten Legislativpakets im Energiesektor sowie die neue Telekommunikationsrahmenrichtlinie (→ Rn. 67) ist eine erhebliche Verstärkung der politischen Unabhängigkeit vorgeschrieben worden. Die dadurch ausgelösten Probleme demokratischer Legitimation sind noch nicht vollständig verarbeitet (s. Ludwigs → § 5 Rn. 173 ff.; Ohler → § 10 Rn. 107 mwN).

III. Handlungsinstrumente 67 Natürlich arbeitet das sektorale europäische Wirtschaftsrecht mit den etablierten Rechtsetzungsformen der EU, Verordnung und Richtlinie. Nachdem die Neubenennung in Europäisches Gesetz/Rahmengesetz, wie sie noch die VerfEU vorgesehen hatte, im Vertrag von Lissabon aufgegeben wurde, ist diese Nomenklatur auf absehbare Zeit im Europarecht prägend und die Dogmatik dieser Rechtsetzungsformen im sektoralen Wirtschaftsrecht vollständig zu beachten. Dies gilt auch für dogmatische Weiterungen, die teilweise als Fehlentwicklung wahrgenommen werden, so die hohe Regelungsdichte von Richtlinien, die im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des EuGH zu sehr eingeschränkten Regelungsspielräumen der Mitgliedstaaten führen kann (s. Kühling → § 4 Rn. 1, 13). 68 Teilweise entwickelt sich im sektoralen Wirtschaftsrecht aus diesen Rechtssatzformen auch eine weitere Differenzierung: Einzelne Sektoren bilden eine Leit- oder Rahmenbestimmung (Verordnung oder Richtlinie) heraus, um die sich speziellere Rechtsakte gruppieren. Beispiele hierfür sind: n die Berufsanerkennungsrichtlinie (s. Storr → § 2 Rn. 11, 35 ff., sowie Ruthig → § 3 Rn. 30 ff.), n der europäische Kodex für elektronische Kommunikation (s. Kühling → § 4 Rn. 18 ff.), n die Elektrizitäts- und Gasbinnenmarktrichtlinien (s. Ludwigs → § 5 Rn. 15), n die Rahmenverordnungen des Transportrechts (s. Knauff → § 6 Rn. 186), 52 EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 88 ff. – UK/Parlament und Rat – ESMA.

54

Ruffert https://doi.org/10.5771/9783748900238-37 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

D. Sektorenübergreifende Systematisierungsansätze

1

der Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel (s. Janda → § 9 Rn. 7) sowie die Solvency-Richtlinie im Versicherungsaufsichtsrecht (s. Looschelders/Michael → § 11 Rn. 51 ff.). Mit dem Vertrag von Lissabon beginnt sich zudem die delegierte Rechtsetzung im sektora- 69 len Wirtschaftsrecht der EU zu etablieren. Delegierte Rechtsakte sind solche Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, mit denen die Kommission auf der Basis einer Delegation in einem Gesetzgebungsakt nichtwesentliche Vorschriften ergänzen und in diesem Rahmen abändern kann, Art. 290 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV.53 Diese Form der Exekutivrechtsetzung tritt neben die bereits seit langem vorhandene Befugnis zur Durchführung des Unionsrechts durch Rechtsetzung wie durch Einzelakte (Art. 290 AEUV)54 (s. auch Härtel in Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (EnzEuR Bd. 1) → Bd. 1 § 16). Die Verfahren zur Beteiligung des Rates an der Durchführungsrechtsetzung („Komitologie“) sind auf der Basis von Art. 291 Abs. 3 AEUV überarbeitet worden.55 Problematisch ist im sektoralen Wirtschaftsrecht der verstärkte Einsatz von ungekenn- 70 zeichneten Rechtsakten mit erheblicher Steuerungswirkung. Während Verwaltungsvorschriften (zB Mitteilungen der Kommission) die Information über die Verwaltungstätigkeit verbessern und für Rechtssicherheit sorgen können, ohne dass es formaliter zum Erlass einer Verordnung oder Richtlinie kommt, wird zu Recht kritisiert, wenn durch „Leitlinien“ Sachentscheidungen determiniert werden, ohne dass sie als nominell nicht verbindliche Rechtsetzung den gleichen Legitimations- und Rechtsschutzanforderungen unterstellt würden wie verbindliche Rechtsakte (s. im Verkehrssektor: Knauff → § 6 Rn. 90). Verwandt damit sind die Probleme einer „Expertenrechtsetzung“, die auf private Standardsetter rekurriert und deren Standards in Exekutivrechtsetzung (oder in Gesetzgebungsakten) rezipiert (s. Looschelders/Michael → § 11 Rn. 68 ff.). Jenseits der – abstrakten – Rechtsetzung sind auf der mittleren Ebene (→ Rn. 56) des 71 Wirtschaftsrechts zwei spezifische Instrumente/Verfahren zu verzeichnen: n Preiskontrollen werden an so unterschiedlichen Stellen wie der Entgeltregulierung im Telekommunikations- und Energierecht (s. Kühling → § 4 Rn. 111 ff.; Ludwigs → § 5 Rn. 182 ff.) ebenso sichtbar wie bei der Preisbildung für Arzneimittel (s. Janda → § 9 Rn. 136 ff.). n Besonders bedeutsam sind Vorschriften über die Wirtschaftsaufsicht (s. Ruthig → § 3 Rn. 24; Härtel → § 7 Rn. 156 ff.; Gundel → § 8 Rn. 84 ff.; Ohler → § 10 Rn. 61 ff., 103 ff.), einschließlich besonderer Zulassungsverfahren (s. Gundel → § 8 Rn. 62 ff.). n

n

IV. Individualrechte und Rechtsschutz Wirtschaftsrecht geht im Kern von den Rechtspositionen der privaten Rechtssubjekte 72 (Einzelne und Unternehmen) aus. Je höher die verwaltungsrechtlich-steuernden Gehalte, desto höher gleichermaßen der Bedarf an der wirkungsvollen Verankerung von Beteiligungsrechten und Rechtsschutzregelungen, die es dementsprechend etwa im Telekommunikationsrecht (s. Kühling → § 4 Rn. 147 ff.) gibt.

53 Statt aller über diese neue Rechtsetzungsform Hofmann ELJ 15 (2009), 482 (491 ff.). 54 Die Einbeziehung von Einzelakten ist umstritten; besonders skeptisch Stelkens VVDStRL 71 (2012), 369 (384 f.). 55 VO (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.2.2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, ABl. 2011 L 55, 13.

Ruffert https://doi.org/10.5771/9783748900238-37 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1

§ 1 Sektorales Wirtschaftsrecht als Teil des europäischen Wirtschaftsrechts

73 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

14.9.2006

verb. Rs. C-158 und 159/04

Slg 2006, I-8135

Alfa Vita

EuZW 2006, 671

EuGH

19.5.2009

verb. Rs. C-171/07 und C-172/07

Slg 2009, I-4171

Doc Morris II

NJW 2009, 2112 = EuZW 2009, 409

EuGH

13.7.2004

C-27/04

Slg 2004, I-6679

Kommission/Rat

DVBl. 2004, 1017 = EuR 2004, 738

EuGH

27.11.2012 C-370/12

ECLI:EU: C:2012: 756

Pringle

EuGH

22.1.2014

C-270/12

ECLI:EU: C:2014:18

UK/Parlament und Rat – ESMA

EuGH

16.6.2015

C-62/14

ECLI:EU: C:2015: 400

Gauweiler – OMT

EuGH

11.12.2018 C-493/17

ECLI:EU: C:2018: 1000

Weiss ua

56

Ruffert https://doi.org/10.5771/9783748900238-37 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Berufsrecht

https://doi.org/10.5771/9783748900238-57 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

https://doi.org/10.5771/9783748900238-57 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 2 Recht der Freien Berufe Stefan Storr A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entwicklung und Typus der Freien Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gegenstandsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick über die Verwendung des Begriffs der „Freien Berufe“ im primären und sekundären Unionsrecht II. Interpretationshinweis des EuGH . . . . . . III. Die Berufsanerkennungsrichtlinie . . . . . . IV. Zu der Schwierigkeit und Bedeutung, Freie Berufe im unionsrechtlichen Kontext zu definieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Einzelne Begriffsmerkmale der Freien Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Intellektueller Charakter . . . . . . . . . . . 2. Hohe Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewöhnlich einer genauen und strengen berufsständischen Regelung unterliegend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Persönliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 5. Große Selbstständigkeit bei der Vornahme der beruflichen Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Besondere Verantwortung . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der grundlegende Rechtsrahmen für die Freien Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sonstiges primäres Wettbewerbsrecht . . IV. Berufsanerkennungsrichtlinie und Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Regelungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eintragung und Pro-FormaMitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sprachkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Werbeverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gemeinschaftliche Tätigkeiten . . . . . 6. Berufshaftpflichtversicherung . . . . . . 7. Sonstige Pflichten zur Prüfung der Aufrechterhaltung von Anforderungen nach der Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 5 9 9 10 11 12 17 18 19 21 22 23 25 28 29 29 32 34 35 35 38 39 40 41 43

44

8. Qualitätssicherungsmaßnahmen . . . 9. Europäischer Berufsausweis . . . . . . . D. Ausgewählte Freie Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsanwälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Liberalisierungspotenzial der Grundfreiheiten für den Rechtsanwaltsberuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit nach Maßgabe der RL 77/249/EWG . . . . 3. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen im Bereich der Niederlassungsfreiheit nach Maßgabe der Richtlinie 98/5/EG . . 4. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen nach Maßgabe der Richtlinie 2005/36/EG . . . . . . . . . 5. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen nach Maßgabe der Richtlinie 2006/123/EG . . . . . . . . 6. Rechtsanwälte betreffende Spezifika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legal privilege . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geldwäsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwaltsgebührenrecht . . . . . . . . . d) Vorbereitungsdienst und universitäre Ausbildung . . . . . . . . e) Rechtsschutzversicherung . . . . . . II. Notare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Notariat: öffentliches Amt, aber keine Ausübung öffentlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Geltung der Dienstleistungsrichtlinie und der Berufsanerkennungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grundfreiheiten als maßgeblicher Rechtsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Heilberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Apotheker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Architekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Berufsständische Vereinigungen . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

45 46 47 48 48

53

57 64 65 66 66 67 68 71 74 75 75 77 79 80 80 84 88 94 97 102

Literatur: Bormann, Jens/Stürner, Rolf, Der Anwalt – vom freien Beruf zum dienstleistenden Gewerbe? – Kritische Gedanken zur Deregulierung des Berufsrechts und zur Aushöhlung der anwaltlichen Unabhängigkeit, NJW 2004, 1481; Eichele, Wolfgang/Happe, Eike, Verstoßen die BORA und die FAO gegen das europäische Kartellrecht?, NJW 2003, 1214; Frenz, Die europäische Berufsfreiheit, GewArch 2008, 465; ders./Wübbenhorst, Hendrik, Der juristische Vorbereitungsdienst im europäischen Anerkennungsrecht, NJW 2011, 2849; ders./Wübbenhorst, Hendrik, Rechtsanwaltstätigkeit in anderen EU–Staaten, NJW 2011, 1262; Gärditz, Klaus, Das lateinische Notariat als öffentliches Amt im Binnenmarkt, EWS 2012, 209 ff; Haage, Heinz, Die Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen – Rechtsfolgen für die Zulassung insbesondere als Ärztin/Arzt, MedR 2008, 70; Henssler, Martin, Die internationale Entwicklung und die Situation der Anwaltschaft als Freier Beruf, AnwBl 2009, 1; Henssler, Martin/Kilian, Matthias, Europäische Wettbewerbspolitik und die Freien Be-

Storr https://doi.org/10.5771/9783748900238-59 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

59

2

§ 2 Recht der Freien Berufe rufe, AnwBl 2005, 1; Kämmerer, Jörn Axel, Die Zukunft der Freien Berufe zwischen Deregulierung und Neuordnung, Gutachten zum 68. Deutschen Juristentag, 2010, S. H 1; Kilian, Matthias, Brennpunkte des anwaltlichen Berufsrechts, NJW 2011, 3413; Henssler, Martin/ Kilian, Matthias, Das deutsche Notariat im Europarecht, NJW 2012, 481; Kleine-Cosack, Michael, Liberalisierung des Gesellschaftsrechts der Freiberufler, DB 2007, 1851; Kluth, Winfried, Die neue Freiheit der Freien Berufe, in: Kluth, Winfried/Peilert, Andreas (Hrsg.), FS Rolf Stober, 2008, S. 77; Kluth, Winfried, Die Zukunft der Freien Berufe in der globalisierten Dienstleistungsgesellschaft, in: Kluth, Winfried (Hrsg.), Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts, 2006; Kluth, Winfried, Recht und Ethos der Freien Berufe, JZ 2010, 844; Kluth, Winfried/Goltz, Ferdinand/Kujath, Karsten, Die Zukunft der Freien Berufe in der Europäischen Union, 2005; Kluth, Winfried/Rieger, Frank, Die neue EU–Berufsanerkennungsrichtlinie – Regelungsgehalt und Auswirkungen für Berufsangehörige und Berufsorganisationen, EuZW 2005; 486; Krejci, Heinz, Interdisziplinäre Gesellschaften für freie Berufe, ÖZW 2011, 102; Laufs, Adolf/Kern, Bernd-Rüdiger, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., 2010; Lenk, Jennifer, Die Ausnahme standesrechtlicher Werbeverbote aus dem EG–Kartellrecht, 2006; Lorz, Ralph Alexander, Kein Grund zur Sorge – Grund zur Entwarnung? – Anmerkungen zum Urt. des EuGH v. 24.5.2011 zur Staatsangehörigkeitsvoraussetzung für Notare, DNotZ 2011, 491; Mann, Thomas, Randnotizen zum Richtlinienentwurf über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, EuZW 2004, 615; Moosmayer, Klaus, Der EuGH und die Syndikusanwälte, NJW 2010, 3548; Neumann, Andreas, Das österreichische Apothekenwesen unter dem Einfluß der EU, 2009; Nauta, Walther. Das Recht der freien Berufe – Verfassungs- und europarechtliche Grenzen, 1998; Nuckelt, Jana, Rechtsanwaltsgebührenordnungen auf dem Prüfstand des Gemeinschaftsrechts, in: Kluth, Winfried (Hrsg.), Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts, 2006, S. 283; Paterson, Iain/Fink, Marcel/Ogus, Anthony et al., Economic impact of regulation in the field of liberal professions in different Member States, 2003; Peter, Alexander, Warum die Initiative „Law – Made in Germany“ bislang zum Scheitern verurteilt ist, JZ 2011, 939; Pohl, Kay-Thomas, Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit für Notare in Europa, EWS 2011, 353; Ruthig, Josef/Storr, Stefan, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl., 2015; Redeker, Konrad, Der Rechtsanwalt: „Freier Beruf“ – „unreglementiert“ – „dereguliert“, NJW 2004, 2799; Reinshagen, Felix, Das Kapitel Freie Berufe im 16. Hauptgutachten der Monopolkommission, in: Kluth, Winfried (Hrsg.), Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts, 2006, S. 255; Schlachter, Monika/Ohler, Christoph (Hrsg.), Europäische Dienstleistungsrichtlinie, 2008; Schmid, Christoph/Pinkel, Tobias, Grundfreiheitskonforme Reformierung der nationalen Notariatsverfassung, NJW 2011, 2928; dies., Die Zulässigkeit nationaler Einschränkungen der Grundfreiheiten für juristische Dienstleistungen im Grundstücksverkehr vor dem Hintergrund des Verfahrens Kommission ./. Deutschland (EuGH C–54/08), Hanse Law Review 2009, 129; Schmidt–Kessel, Martin, DienstleistungsRL versus BerufsqualifikationsRL – Zum Verhältnis der beiden zentralen wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Richtlinien bei der Dienstleistungsfreiheit, ecolex 2010, 320; Schnichels, Dominik/Resch, Thorsten, Das Anwaltsprivileg im europäischen Kontext, EuZW 2011, 47; Sodan, Helge, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997; Stelkens, Ulrich/Seyfarth, Markus, Unionsrechtlicher Schutz der Berufsfreiheit vor dem nationalen Gesetzgeber: Relevanz der Dienstleistungsrichtlinie, der Berufsqualifikationsrichtlinie und der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie für Inlandssachverhalte, FÖV Discussion Paper 88 (2019); Stöger, Karl, Anwaltliche und notarielle Beglaubigung im Binnenmarkt, NZ 2017, 161; Storr, Stefan, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Der Staat, Bd. 36 (1997), S. 547; ders., Konfusion um die Konstruktion der Konzession, in: Kluth, Winfried/Peilert, Andreas (Hrsg.), FS Rolf Stober, 2008, S. 417; Stumpf, Cordula, Freie Berufe und Handwerk, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 44. EL Februar 2018, E. II; Taupitz, Jochen, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991; Vallone, Angelo, Auswirkungen des Kartellverbots auf das Standesund Berufsrecht der verkammerten Freien Berufe, 2006; Wallner, Felix, Handbuch Ärztliches Berufsrecht, 2011; Waldhoff, Christian, Notarvorbehalt im Grundstückverkehr europarechtskonform – EuGH stärkt Notariatsverfassungen der Mitgliedstaaten, EuZW 2017, 382; Weiß, Wolfgang, Der Vertragsarzt zwischen Freiheit und Bindung, NZS 2005, 67; Weskott, Madeleine, Berufsaufsicht der Ärzte und Psychotherapeuten – Deutschland und Großbritannien

60

Storr https://doi.org/10.5771/9783748900238-59 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

A. Einführung

2

im Spannungsfeld der Berufsanerkennungsrichtlinie (2005/36/EG), 2009; Zirm, Michaela, Der selbstständige Apotheker und seine Konzession, 2018. Vorschriften Sekundärrecht: Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255 vom 30.9.2005, 22 ff. Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 2. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376 vom 27.12.2006, 36 ff. Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte, ABl. L 78 vom 26.3.1977, 17 ff. Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, ABl. L 77 vom 14.3.1998, 36 ff. Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, ABl. L 141 vom 5.6.2015, 73 ff. Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl. L 305 vom 17.12.2009, 1 ff. Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, ABl. L 173 vom 9.7.2018, 2 ff. Sonstige Rechtsakte der Union: Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament – Eine Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor vom 29.12.2000, KOM(2000) 0888 endg. Mitteilung der Kommission, Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen vom 9.2.2004, KOM(2004) 83 endg. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Freiberufliche Dienstleistungen – Raum für weitere Reformen – Follow-up zum Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen, KOM(2004) 83 vom 9.2.2004, KOM(2005) 0405 endg. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über Reformempfehlungen für die Berufsreglementierung vom 10.1.2017, KOM(2016) 820 final. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen vom 10.1.2017, KOM(2016) 822 final.

A. Einführung I. Entwicklung und Typus der Freien Berufe Die Kategorisierung „Freier Beruf“ neben anderen Berufen und Berufsgruppen war seit je- 1 her mit erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten verbunden. Der Begriff geht einerseits auf die pandektenwissenschaftlichen „operae liberales“ zurück. Das waren Tätigkeiten, die nach altrömischer Sitte unentgeltlich geleistet wurden; nur die höheren Stände waren dieser Tätigkeiten würdig.1 Andererseits hatte es im 18. und frühen 19. Jahrhundert Bestrebungen gegeben, die Tätigkeiten der Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte in das staatliche System der Verwaltung einzugliedern, sie umfassend in die Pflicht zu nehmen2 („Ver1 V. Savigny, Pandektenvorlesung 1824/25, S. 409 (hrsg. von J. Rückert, 1993) S. 286. 2 Etwa Sodan, S. 19 ff.

Storr https://doi.org/10.5771/9783748900238-59 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 2 Recht der Freien Berufe

beamtung“, „Staatsdienerstellung“3). Die frühliberalistische Gegenbewegung war vom Geist des eine Abwehr staatlicher Eingriffe in die eigenverantwortliche Lebensführung und -gestaltung befürwortenden Bürgertums getragen, das sich des Wertes unabhängiger, möglichst frei schaffender Persönlichkeiten für das Gemeinwohl bewusst war („Freiheit vom Staat“).4 2 Heute sind die Freien Berufe niemandem per se vorbehalten und sie werden auch nicht mehr qua definitionem unentgeltlich ausgeübt, doch vermag dieser geschichtliche Hintergrund die Sonderstellung der Freien Berufe, die gerade von ihren Berufsträgern und Mitgliedstaaten nicht selten betont wird,5 verständlicher machen. Dabei haben die verschiedenen Freien Berufe in vielen Mitgliedstaaten eine eigene Identität entwickelt. In der Regel sind es bestimmte akademische Berufe, für die traditionellerweise ein Sonderrechtsregime gilt. Die „Freiheit“ der Freien Berufe liegt heute – nicht für alle, aber für einige – in dem Privileg einer gewissen Selbstregulierungsbefugnis der Berufsausübenden. Eine Besonderheit ist deshalb nicht selten ihre Organisation in mitgliedschaftlich verfassten Selbstverwaltungseinrichtungen. Diese Organisationen sind nicht nur Standesvertretungen, sondern können als Berufskammern bisweilen auch das Berufsrecht regeln und andere Rechtsnormen setzen, wobei in der Vergangenheit mangels effektiven Grundrechtsschutzes den Trägern der Freien Berufe weit reichende Pflichten und Beschränkungen auferlegt werden konnten.6 Auch heute noch sind die „Freien Berufe“ in den Mitgliedstaaten zum Teil erheblich reglementiert durch staatliche Bestimmungen, Vorschriften der berufsständischen Selbstverwaltungseinrichtungen und traditionelle, überkommene Verhaltensregeln.7 Rechtsberatungsmonopole der Rechtsanwälte und Staatsangehörigkeitsvorbehalte der Notare waren bis in die jüngste Zeit geradezu klassische Marktzugangsbeschränkungen. 3 Es mag gute Gründe dafür geben, einzelne Tätigkeiten Freier Berufe bestimmten Berufsausübenden vorzubehalten, in Einzelfällen gar ganze Berufe, vom Wettbewerb abzuschotten,8 stets bedarf es dafür aber einer Rechtfertigung. Dabei sind es nicht selten die Selbstverwaltungseinrichtungen der Freien Berufe selbst, die überregulieren, für Liberalisierungen nicht aufgeschlossen sind9 und Wettbewerb verhindern. Ein Grund kann darin liegen, dass die mitgliedschaftlich organisierten berufsständischen Einrichtungen Vertreter ihrer Mitglieder sind und in den maßgebenden Gremien die Interessen der Mitglieder großen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse haben. Deshalb können gerade berufsständische Regelungen einen konservativen, die Marktgegebenheiten konservierenden Charakter ha3 Taupitz, S. 115. 4 Vgl. nur BVerfGE 10, 364 ff.: „‚Freier Beruf’ ist ein soziologischer Begriff; er kennzeichnet einen Sachverhalt, der aus einer bestimmten gesellschaftlichen Situation erwachsen ist, der des frühen Liberalismus. Die damals herrschende Staats- und wirtschaftspolitische Anschauung, es sei ‚dem Staate und seinen Gliedern immer am zuträglichsten, die Gewerbe jedesmal ihrem natürlichen Gang zu überlassen, dh keines derselben vorzugsweise durch besondere Unterstützungen zu begünstigen und zu heben, aber auch keines in ihrem Entstehen, ihrem Betriebe und Ausbreiten zu beschränken, insofern das Rechtsprinzip dabei nicht verletzt wird oder sie nicht gegen die Religion, guten Sitten oder Staatsverfassung anstoßen’ (so die Preuß. Geschäfts-Instruktion von 1808, abgedr. bei W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1952, S. 357), mußte sich naturgemäß besonders bei den Berufen auswirken, deren Angehörige vorwiegend unter Einsatz ihrer Arbeitskraft und ihrer persönlichen Fähigkeiten Leistungen höherer Art erbringen, durch die sie zugleich der Verwirklichung ideeller Werte im gesellschaftlichen Leben dienen.“. 5 Vgl. nur die italienische Regierung, die auf die „Würde des Rechtanwaltsberufs“ hingewiesen hat: GA Poiares v. 1.2.2006 – C-94/04 und C-202/04, Slg I-11421 Rn. 84 – Cipolla und Meloni. 6 Kluth JZ 2010, 844 (845). 7 Kritisch hierzu Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005 v. 25.8.2006, BT-Drs. 16/2460, 377 f. 8 ZB Österr. VfGH, Slg 8765/1980: Bedarfsprüfung für Apotheken; dazu Nauta, S. 40 f. 9 Vgl. zB Peter JZ 2011, 939 (945), zur Öffnung des Zugangs zum Rechtsanwaltsberuf; Krejci ÖZW 2011, 102 f. für multidisziplinäre Kooperationen in Österreich.

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A. Einführung

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ben. Berufseinsteiger, ausländische oder auswärtige Dienstleister, die die Konkurrenz im Kammerbezirk erhöhen können, haben keine Interessenvertreter in den Kammergremien. Ein weiterer Grund können auch hohe Anforderungen an die eigene Qualität sein: Denn Vorschriften, die Qualität sichern sollen, können negative Effekte in Form von Wettbewerbsbeschränkungen bis hin zu Marktzugangshindernissen haben.10 Für die Verwirklichung des Binnenmarkts der Freien Berufen sind insbes. die Niederlas- 4 sungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) von Bedeutung. Im EWGV 1957 war es Aufgabe des Rates – zunächst für eine Übergangszeit11 einstimmig, dann mit qualifizierter Mehrheit –, Richtlinien zu erlassen, um die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten zu erleichtern (Art. 57). Die für die Übergangszeit geltende Einstimmigkeitsregel machte den Erlass von Harmonisierungsvorschriften aber schwierig. Frankreich hatte Mitte der 60er Jahre die Blockade der Legislative mit seiner „Politik des leeren Stuhls“ auf die Spitze getrieben. Durchaus „verdient“ ist deshalb der Titel „Motor der Integration“, der dem EuGH im Schrifttum verliehen wurde, weil er die Grundfreiheiten zu den wichtigsten Impulsgebern für eine Liberalisierung der Märkte entwickelt hat.12 Für die Freien Berufe grundlegend sind die Entscheidungen in den Rechtssachen Reyners13 und Van Binsbergen.14 Darin hat der EuGH ausgeführt, dass den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit nach Ablauf der Übergangszeit unmittelbare Wirkung zukommt.

II. Die Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor In den 1970er- bis 1990er-Jahren konnte die Gemeinschaft berufsspezifische Liberalisie- 5 rungsmaßnahmen setzen, zB für Ärzte,15 Zahnärzte,16 Tierärzte,17 Apotheker18 und Archi-

10 11 12 13 14 15

Kluth in FS Stober, S. 86. Von zwölf Jahren (Art. 8 EWGV), also bis 1970. Ruthig in Ruthig/Storr, Rn. 39. EuGH 21.6.1974 – Rs. 2/74, Slg 1974, 631 Rn. 30 – Reyners. EuGH 3.12.1974 – Rs. 33/74, Slg 1974, 1299 Rn. 24 – Van Binsbergen. Richtlinie 75/362/EWG des Rates v. 16.6.1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstiger Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl. L 167 v. 30.6.1975, 1; Richtlinie 75/363/EWG des Rates v. 16.6.1975 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes ABl. L 167 v. 30.6.1975, 14; Richtlinie 86/457/EWG des Rates v. 15.9.1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin, ABl. L 267 v. 19.9.1986, 26; Richtlinie 93/16/EWG des Rates v. 5.4.1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, ABl. L 165 v. 7.7.1993, 1. 16 Richtlinie 78/686/EWG des Rates v. 25.7.1978 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstiger Befähigungsnachweise des Zahnarztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl. L 233 v. 24.8.1978, 1; Richtlinie 78/687/EWG des Rates v. 25.7.1978 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Zahnarztes ABl. L 233 v. 24.8.1978, 10. 17 Richtlinie 78/1026/EWG des Rates v. 18.12.1978 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Tierarztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl. L 362 v. 23.12.1978, 1; Richtlinie 78/1027/EWG des Rates v. 18.12.1978 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Tierarztes, ABl. L 362 v. 23.12.1978, 7. 18 Richtlinie 85/433/EWG des Rates v. 16.9.1985 über die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Apothekers und über Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts für bestimmte pharmazeutische Tätigkeiten, ABl. L 253 v. 24.9.1985, 37.

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tekten.19 Doch erst mit ihrer „Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor“20 nahm die Kommission nach Aufforderung durch den Europäischen Rat von Lissabon im Jahr 2000 – unter Bezugnahme auf die Lissabon Strategie, die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – eine Deregulierung der Dienstleistungstätigkeit in Europa erfolgversprechend in Angriff, nicht nur der Freien Berufe, sondern auch der gewerblichen, handwerklichen und kaufmännischen Professionen.21 Die Kommission hatte verbindliche Festpreise, Preisempfehlungen, Regeln für Werbung, Zugangsvoraussetzungen und ausschließliche Rechte sowie Vorschriften für die zulässige Unternehmensform und die berufsübergreifende Zusammenarbeit als größte Hemmfaktoren festgestellt22 und sich gegen „übermäßige oder veraltete Reglementierung“, die sich nachteilig auf die Verbraucher auswirken könne, gewandt. Der Wettbewerb zwischen Leistungserbringern könne ausgeschaltet oder eingeschränkt werden; Anreize für Freiberufler, kosteneffizient und kostengünstig zu arbeiten, die Servicequalität zu verbessern oder innovative Dienstleistungen anzubieten, würden gemindert. 6 In ihrer Binnenmarktstrategie verwies die Kommission auf die Informationsgesellschaft, die dem Dienstleistungssektor neue Dynamik verliehen habe, wodurch das Potenzial für grenzüberschreitende Nachfrage nach Dienstleistungen „gewaltig erhöht“ worden sei. Dienstleistungen seien der „Motor der ‚neuen‘ Wirtschaft“. Das Ziel dieser Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor sollte es sein, den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr „genauso einfach zu machen wie dies auf nationaler Ebene möglich ist“. 7 Diese Einschätzung ist, auch wenn sie 20 Jahre zurückliegt, schon deshalb erstaunlich, weil die Kommission auch vier Jahre später keine genauen Angaben über den Umfang freiberuflicher Tätigkeiten in der Union hatte. Sie schätzte aber, dass etwa ein Drittel der Beschäftigung in „sonstigen Dienstleistungen für Unternehmen“ den freiberuflichen Dienstleistungen zuzuordnen waren, das wären ca. 3–4 Mio. Menschen (der EU 15) gewesen.23 In einer Follow-up-Mitteilung24 führte sie aus, dass im Jahr 2001 durch „Dienstleistungen für Unternehmen“ ein Umsatz von mehr als 1.281 Mrd. EUR erwirtschaftet worden sei, das entspreche rund 8 % des Gesamtumsatzes in der EU. Ferner gab die Kommission beim Institut für Höhere Studien in Wien ein Gutachten in Auftrag, in dem anhand einer Benchmarking-Analyse die Regulierungsdichte der Freien Berufe in den Mitgliedstaaten beurteilt werden sollte. Für den Beruf des Rechtsanwalts wurden Finnland und Schweden als die Länder mit den liberalsten Vorschriften festgestellt.25 Dieses Vorgehen ist kritisiert worden,26 an dem „approach“ der Kommission konnte das nichts ändern. Eine Bewertung der wirtschaftlichen Auswirkungen bestimmter Hindernisse auf vier Unternehmensdienstleistungen (Architekt, Bauingenieur, Buchprüfer, Rechtsanwalt) durch die Europäische Kommission bestätigte eine erhebliche wirtschaftliche Auswirkung auf die Wettbewerbsintensität, die Rentabilität der Branche und die Effizienz der Ressourcenzu19 Richtlinie 85/384/EWG des Rates v. 10.6.1985 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise auf dem Gebiet der Architektur und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl. L 223 v. 21.8.1985, 15. 20 KOM(2000)0888 endg. 21 Vgl. später auch Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005 v. 25.8.2006, BTDrs. 16/2460. 22 KOM(2004) 83 endg., 3. 23 KOM(2004) 83 endg., 7. 24 KOM(2005) 405, 3. 25 Paterson/Fink/Ogus et al., Economic impact of regulation in the field of liberal professions in different Member States, 2003. 26 Henssler/Kilian AnwBl 2005, 1 ff.; Henssler AnwBl 2009, 1 (4).

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B. Gegenstandsbeschreibung

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weisung.27 Deshalb hat die Kommission 2016 weitere Vorschläge zur Liberalisierung vorgelegt.28 Im Jahr 2018 ist die Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen (RL 2018/958/EU) beschlossen worden.29 Ohne Zweifel sind die Berufsanerkennungsrichtlinie (RL 2005/36/EG) und die Dienstleis- 8 tungsrichtlinie (RL 2006/123/EG) Meilensteine der Deregulierung und Liberalisierung auch der Freien Berufe. Aus den Reihen der Freien Berufe sind diese Deregulierungsbestrebungen zum Teil heftiger Kritik ausgesetzt. Der Europäischen Kommission ist vorgeworfen worden, „seit … Jahren zum Angriff auf das Berufsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten“ zu blasen 30 und sich der „Destruktivität“ der Grundfreiheiten zu bemühen.31 Es wird aber auch vehement für weitergehende Öffnungen des Zugangs zu den Märkten der Freien Berufe eingetreten (zB für Nicht-EU-Ausländer).32 Die Kommission nennt drei Argumente, die für eine gewisse Reglementierung sprechen: n die Asymmetrie der Information zwischen Klienten und Dienstleistern: Freiberufliche Dienstleister haben ein hohes Fachwissen, über das Klienten oftmals nicht verfügen, die deshalb die Qualität der Dienstleistung nicht beurteilen können. n externe Effekte: Die Erbringung von Dienstleistungen kann Auswirkungen auf Dritte haben, wie zB eine fehlerhafte Buchprüfung, die Gläubiger täuschen kann. n die Bedeutung einiger freiberuflicher Dienstleistungen als „öffentliche Güter“: Es muss sichergestellt werden können, dass bestimmte öffentliche Güter in ausreichendem oder angemessenem Maß bereitgestellt werden.33

B. Gegenstandsbeschreibung I. Überblick über die Verwendung des Begriffs der „Freien Berufe“ im primären und sekundären Unionsrecht Im Unionsrecht – wie auch im deutschen oder österreichischen Recht – findet sich keine 9 klare Definition der Freien Berufe (im Englischen: „liberal professions“, im Französischen: „professions libérales“, im Italienischen: „professioni liberali“). Mitunter wird in Unionsvorschriften die Formulierung der „freien Berufe“ verwendet, der Begriff wird aber nicht definiert. Art. 57 Abs. 2 lit. d AEUV bestimmt die „freiberuflichen Tätigkeiten“ zwar als Dienstleistungen, lässt aber offen, was diese „freiberuflichen Tätigkeiten“ vor anderen auszeichnet. In der Richtlinie über irreführende und vergleichende Werbung34 wird ohne weitere Begriffsbestimmung auf die Freien Berufe Bezug genommen und in der Mehrwertsteuer–Richtlinie findet sich kaum weniger deutlich die Formulierung eine Steuerbefreiung betreffend: „Dienstleistungen von Autoren, Künstlern und Interpreten von Kunstwerken sowie Dienstleistungen von Rechtsanwälten und Angehörigen anderer freier Berufe, mit Ausnahme der ärztlichen oder arztähnlichen Heilberufe“.35 Eine Ausnahme ist die Berufungsanerkennungsrichtlinie (→ Rn. 11). Die Kommission beschreibt die Freien

27 KOM(2016)0820 final, 3. 28 Ebd. 29 Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.6.2018 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, ABl. L 173 vom 9.7.2018, 2. 30 Bormann/Stürner NJW 2004, 1481 (1489); kritisch auch Redeker NJW 2004, 2799 (2801). 31 Henssler AnwBl 2009, 1 (2). 32 Peter JZ 2011, 939 f. 33 KOM(2004) 83 endg., 10. 34 Art. 2 Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. L 376 v. 27.12.2006. 35 Art. 9 Abs. 1 2. UAbs. RL 2006/112 iVm Anhang X Teil B Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. Nr. L 347 v. 11.12.2006, 1.

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§ 2 Recht der Freien Berufe Berufe als „Tätigkeiten, die eine besondere künstlerische oder wissenschaftliche Ausbildung voraussetzen,36 „zB Rechtsanwalt, Notar, Ingenieur, Architekt, Wirtschaftsprüfer und Apotheker.“37

II. Interpretationshinweis des EuGH 10 Der EuGH hatte im Urteil „Adam“ den Begriff der „freien Berufe“, wie er in der – inzwischen außer Kraft getretenen – 6. Mehrwertsteuerrichtlinie Verwendung fand, zu interpretieren und unter ausdrücklicher Berücksichtigung des steuerrechtlichen Hintergrunds auf bestimmte Merkmale hingewiesen, die die Freien Berufe im Sinne der genannten Richtlinie kennzeichnen. Sie umfassen „Tätigkeiten, die ua ausgesprochen intellektuellen Charakter haben, eine hohe Qualifikation verlangen und gewöhnlich einer genauen und strengen berufsständischen Regelung unterliegen. Hinzu kommt, dass bei der Ausübung einer solchen Tätigkeit das persönliche Element besondere Bedeutung hat und diese Ausübung auf jeden Fall eine große Selbstständigkeit bei der Vornahme der beruflichen Handlungen voraussetzt.“38 Ob die Tätigkeit eines Wohnungseigentumsverwalters nach – in concreto – luxemburgischem Recht dazu gehörte, ließ der EuGH ausdrücklich offen, für Rechtsanwälte nahm er das im Urteil „Reyners“ dezidiert an.39

III. Die Berufsanerkennungsrichtlinie 11 In Erwägungsgrund 43 der Berufsanerkennungsrichtlinie sind die Freien Berufe nicht definiert aber ähnlich wie in dem Urteil „Adam“ umschrieben. Wörtlich heißt es: „Diese Richtlinie betrifft auch Freie Berufe soweit sie reglementiert sind, die gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie auf der Grundlage einschlägiger Berufsqualifikationen persönlich, in verantwortungsbewusster Weise und fachlich unabhängig von Personen ausgeübt werden, die für ihre Kunden und die Allgemeinheit geistige und planerische Dienstleistungen erbringen. Die Ausübung der Berufe unterliegt möglicherweise in den Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit dem Vertrag spezifischen gesetzlichen Beschränkungen nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts und des in diesem Rahmen von der jeweiligen Berufsvertretung autonom gesetzten Rechts, das die Professionalität, die Dienstleistungsqualität und die Vertraulichkeit der Beziehungen zu den Kunden gewährleistet und fortentwickelt.“40 Die Vorschrift hat ihren Grund in dem Umstand, dass der Ausschuss für Recht und Binnenmarkt des Europäischen Parlaments die Berufsanerkennungsrichtlinie nicht auf sämtliche reglementierte Berufe, sondern nur auf die Freien Berufe beschränkt wissen wollte.41 Dem ist die Kommission in ihrem geänderten Vorschlag nicht gefolgt, weil der Begriff „ohne Belang für die Richtlinie ist und sich in keiner ihrer Bestimmungen wiederfindet“. Ferner verwies sie darauf, dass eine Beschränkung der Anwendung der Richtlinie auf Freie Berufe zur Folge hätte, dass eine große Zahl von Berufen vom abgeleiteten Recht ausgenommen wäre, was einen enormen Rückschritt gegenüber dem Besitzstand dargestellt hätte.42 Die Erwähnung der Freien Berufe in Erwägungsgrund 43 ist ein Kompro36 37 38 39 40 41

KOM(2004) 83 endg., 3. KOM(2004) 83 endg., 6. EuGH 11.10.2001 – C-267/99, Slg I-2001, 7467 Rn. 39 – Adam. EuGH 21.6.1974 – Rs. 2/74, Slg 1974, 631 Rn. 47 – Reyners. Erwägungsgrund 43 RL 2005/36/EG. Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (KOM(2002) 119 – C5-0113/2002 – 2002/0061(COD)) v. 15.12.2003, A5-0470/2003, 25. 42 Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (KOM[2004] 317 endg., 46).

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B. Gegenstandsbeschreibung

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miss zwischen den politischen Kräften, die den Anwendungsbereich der Berufsanerkennungsrichtlinie grundlegend verschieden bestimmen wollten.43

IV. Zu der Schwierigkeit und Bedeutung, Freie Berufe im unionsrechtlichen Kontext zu definieren Es ist bisher nicht gelungen, den Begriff der Freien Berufe im unionsrechtlichen Kontext 12 überzeugend zu definieren.44 Auch eine definitorisch scharfe Abgrenzung zur gewerblichen Tätigkeit – wie sie bisweilen in Gesetzgebungsverfahren gefordert wurde, um zB Qualitätssicherungsmechanismen verbraucherschutzfreundlich ausrichten zu können45 – konnte nicht erreicht werden. Das hat vor allem drei Gründe: erstens verweist der Begriff auf das nationale Recht.46 13 „Frei“ sind viele Freie Berufe ja deshalb, weil sie nicht herkömmlicher staatlicher Überwachung unterliegen, sondern – mehr oder weniger – einer Überwachung durch mitgliedschaftlich organisierte Selbstverwaltungseinrichtungen. Das muss nicht bei allen Berufen so sein, Künstler und Schriftsteller zB unterliegen keiner besonderen staatlichen oder berufsständischen Überwachung. Deshalb kommt es darauf an, ob das jeweilige mitgliedstaatliche Recht den betreffenden Beruf als einen „freien“ organisiert hat, wobei ein Mitgliedstaat in dieser Einschätzung frei ist. Deshalb kann zB in Italien der Zollinspektor47 oder in Luxemburg der Wohnungseigentumsverwalter (→ Rn. 10) ein Freier Beruf sein. Insbes. können Freie Berufe nicht mit reglementierten Berufen gleichgesetzt werden. Der Begriff der reglementierten Berufe entstammt der Berufsanerkennungsrichtlinie (Art. 3 Abs. 1 lit. a) und beschreibt eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist. Wie intensiv diese Regulierungen sein können, zeigen die Vorschriften für Vertragsärzte in Deutschland (Bedarfsplanung, Budgetierung).48 Die Vertragsärzte sollen „überreguliert“,49 gar „staatlich gebundene Berufe“50 sein. Auch die Notare, die in Deutschland ein öffentliches Amt ausüben,51 stehen in einem besonderen Naheverhältnis zum Staat. Gleichwohl werden beide Berufe weiterhin den „Freien“ Berufen zugeordnet.52 43 Kluth/Rieger EuZW 2005, 486 (487). 44 Kritisch zur Definition des deutschen Bundesverbands der Freien Berufe („Angehörige Freier Berufe erbringen aufgrund besonderer beruflicher Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Leistungen im gemeinsamen Interesse ihrer Auftraggeber und der Allgemeinheit. Ihre Berufsausübung unterliegt in der Regel spezifischen berufsrechtlichen Bindungen nach Maßgabe der staatlichen Gesetzgebung oder des von der jeweiligen Berufsvertretung autonom gesetzten Rechts, welches die Professionalität, Qualität und das zum Auftraggeber bestehende Vertrauensverhältnis gewährleistet und fortentwickelt“): Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005 v. 25.8.2006, BT-Drs. 16/2460, 373. 45 Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt“ KOM(2004) 2 endg. – 2004/0001 (COD), v. 16.2.2005, INT/228 „Dienstleistungen im Binnenmarkt“, Punkt 3.3.2. 46 Für Deutschland vgl. die Begriffsumschreibung in § 1 Abs. 2 PartGG und in § 18 Abs. 1 EStG; ausschließend in § 6 GewO. 47 EuGH 18.6.1998, C-35/96, Slg 1998, I-3851 Rn. 34 – CNSD; vgl. a. GA Léger v. 10.7.2001 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 65 – Wouters. 48 Vgl. §§ 72 ff. SGB V. 49 Steinhilper in Laufs/Kern § 25 Rn. 2. 50 Krit. Weiß NZS 2005, 67 ff. mwN 51 § 1 BNotO in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 303-1, veröffentlichten bereinigten Fassung. 52 Kämmerer, S. H 26 und 27.

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§ 2 Recht der Freien Berufe

14 Zweitens bezieht Art. 57 AEUV die freiberuflichen Tätigkeiten in die Dienstleistungsfreiheit ein und stellt sie damit gewerblichen, kaufmännischen und handwerklichen Tätigkeiten gleich. Einer Unterscheidung dieser vier Tätigkeiten bedarf es dann bei der Subsumtion dieser Grundfreiheit nicht mehr, eine eigene normative Relevanz hat der Begriff praktisch nicht.53 Und auch sekundärrechtliche Vorschriften stellen freiberufliche Tätigkeiten mitunter gewerblichen und industriellen Tätigkeiten gleich.54 15 Und soweit – drittens – wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen iSd Art. 101, 102 und 106 AEUV in Frage stehen, kommt es unter Binnenmarktgesichtspunkten weniger darauf an, ob eine Tätigkeit freiberuflich ausgeübt wird, als darauf, ob es sich um eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ handelt. Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist nach st. Rspr. des EuGH jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten.55 Demzufolge ist ein Unternehmen definiert als jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.56 16 Die klassischen Freien Berufe werden wirtschaftlich und unternehmerisch ausgeübt. Rechtsanwälte beispielsweise – so der EuGH maßgebend in „Wouters“57 – bieten gegen Entgelt juristische Dienstleistungen in Form der Erstattung von Gutachten, der Ausarbeitung von Verträgen und anderen Dokumenten sowie des Beistands und der Vertretung vor Gericht an. Sie tragen zudem die mit der Ausübung dieser Tätigkeiten verbundenen finanziellen Risiken, da sie im Falle eines Ungleichgewichts zwischen den Ausgaben und den Einnahmen die Verluste zu übernehmen haben. Sie üben somit eine wirtschaftliche Tätigkeit aus und sind in der Folge Unternehmen iSd Art. 101, 102 und 106 AEUV. Wenngleich der Gerichtshof einzelne Berufe nicht als „freie“ benannt hat, hat er doch bisweilen darauf hingewiesen oder jedenfalls auf das nationale Recht Bezug genommen, dass ein Beruf in einem Mitgliedstaat freiberuflich ausgeübt wird, wie der Apotheker in Frankreich,58 der Arzt59 oder Zahnarzt in Österreich, 60 der Rechtsanwalt in Frankreich 61 oder Spanien62 oder zB der Notarberuf in Belgien, Frankreich, Luxemburg, Portugal, Österreich, Deutschland und Griechenland.63

V. Einzelne Begriffsmerkmale der Freien Berufe 17 Im Folgenden sollen einzelne Merkmale und Eigenschaften, die mit den Freien Berufen verbunden werden, näher beleuchtet werden. Es wird sich zeigen, dass eine einheitliche 53 Kämmerer, S. H 15. 54 ZB Erwägungsgrund 43 RL 2005/36/EG; Art. 7 Abs. 3 lit. 3 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. L 177 v. 4.7.2008. 55 EuGH 16.6.1987 – Rs. 118/85, Slg 1987, 2599 Rn. 7 – AAMS. 56 EuGH 23.4.1991 – C-41/90, Slg 1991, I-1979 Rn. 21 – Höfner und Elser; EuGH 16.11.1995 – C-244/94, Slg 1995, I-4013 Rn. 14 – Fédération française des sociétés d'assurances; EuGH 11.12.1997 – C-55/96, Slg 1997, I-7119 Rn. 21 – Job Centre. 57 EuGH 19.2.2002 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 48 – Wouters. 58 EuG 26.10. 2010 – T-23/09, Rn. 61 – CNOP. 59 EuGH 25.6.2009 – C-356/08, Slg 2009, I-108 Rn. 2 – Umlageordnung. 60 EuGH 10.3.2009 – C-169/07, Slg 2009, I-1721 Rn. 14 – Hartlauer. 61 EuGH 3.4.2008 – C-103/06, Slg 2008, I-1853 Rn. 12 – Derouin. 62 EuGH 10.3.2005 – C-235/03, Slg 2005, I-1937 Rn. 6 – QDQ Media SA. 63 EuGH 24.5.2011 – C-47/08, Rn. 8 – belgische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-50/08, Rn. 2 – französische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-51/08, Rn. 8 – luxemburgische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-52/08, Rn. 8 – portugiesische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-53/08, Rn. 10 – österreichische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-54/08, Rn. 10 – deutsche Notare; EuGH 24.5.2011 – C-61/08, Rn. 8 – griechische Notare.

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B. Gegenstandsbeschreibung

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Begriffsdefinition nicht gefunden werden kann. Die Freien Berufe können nicht zu anderen Berufen scharf abgegrenzt werden. Dennoch gibt es Eigenschaften und Merkmale, die die verschiedenen Freien Berufe wie eine Klammer zusammenzuhalten scheinen. 1. Intellektueller Charakter Die Freien Berufe sollen sich vom Handwerk vor allem dadurch unterscheiden, dass jene 18 „typischerweise einen intellektuellen Charakter zeigen“, während Handwerksberufe wesensmäßig mit „praktischen Tätigkeiten“ verbunden sind. Wie auch immer diese Intellektualität genau verstanden werden soll, nicht selten verlangen Handwerksberufe heute wegen ihrer individuell–persönlichen Tätigkeit eine nicht weniger hohe Qualifikation.64 Als Abgrenzungskriterium zu Handwerk und Gewerbe ist der „intellektuelle Charakter“ der Freien Berufe auch deshalb mit Vorsicht zu verwenden, weil Ingenieure und in gewissem Grade auch Architekten, die ja zu den Freien Berufen gezählt werden, auch „handwerklich“ tätig werden und bei der Tätigkeit von Lotsen, Krankengymnasten und Hebammen steht die „Intellektualität“ ihrer Tätigkeit eher weniger im Vordergrund.65 Besser ist es, von überwiegend intellektuellen Tätigkeiten, vorgeschlagen wird auch, von „ideellen“ Tätigkeiten zu sprechen.66 An der Kritik an diesem Kriterium ändert das aber nichts. 2. Hohe Qualifikation Die Anforderung einer hohen Qualifikation an die Ausübung eines Freien Berufs soll aus 19 dem „intellektuellen Charakter“ der betreffenden Tätigkeit folgen sowie aus der persönlichen und selbstständigen Tätigkeit des Berufs abgeleitet werden. Die Anforderung wird auch mit dem Verbraucherschutz in Verbindung gebracht.67 Zu Recht darf von bestimmten Freien Berufen (etwa Rechtsanwälten und Ärzten) ein ho- 20 hes Qualitätsniveau erwartet werden. Will man diesen Gedanken weiterführen, wird man aber kaum abstreiten können, dass auch bei vielen anderen Tätigkeiten eine hohe Qualität gefordert wird. Gerade unter Verbraucherschutzgesichtspunkten werden an handwerkliche und gewerbliche Tätigkeiten nicht unerhebliche Qualitätsanforderungen gestellt. Zudem sind die geforderten Qualifikationen berufsentsprechend verschieden. In der Tat ist es aber ein Kennzeichen der Freien Berufe, dass sie einer besonderen, nicht selten akademischen, Ausbildung bedürfen. Für Rechtsanwälte, Ärzte und Notare liegt das auf der Hand. Eine hinreichende Qualifikation als Berufseintrittsvoraussetzung wird durch gesetzliche Vorgaben sichergestellt. Insoweit sind Freie Berufe oft reglementiert iSd Art. 3 Abs. 1 lit. a Berufsanerkennungsrichtlinie, bei der die Aufnahme oder Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist. Dass eine hohe Qualität als Berufsantrittsvoraussetzung oder aus Verbraucherschutzgründen nicht zwingend sein muss, zeigen die vielen (freien) Berufe der Künstler und der Beruf des Journalisten. 3. Gewöhnlich einer genauen und strengen berufsständischen Regelung unterliegend Viele Freien Berufe unterliegen einer besonderen berufsständischen Regulierung wie 21 Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker, Notare oder Architekten. Aber auch dieses Kriterium kann nicht zwingend sein, zum einen weil Art. 57 AEUV auf die Tätigkeit an sich abstellt (freiberufliche Tätigkeit) und nicht darauf, ob es Berufsstände oder gar eigene berufsständische Regelungen gibt, zum anderen weil es auch nicht besonders reglementierte freibe64 65 66 67

Dauses/Ludwigs/Stumpf HdBEUWiR Bd. 1 E. II. Rn. 9. Kämmerer, S. H 18. Kluth, Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts, 2006, S. 269. Dauses/Ludwigs/Stumpf HdBEUWiR Bd. 1 E. II. Rn. 8.

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§ 2 Recht der Freien Berufe rufliche Tätigkeiten gibt (wie schon erwähnt Journalisten, Schriftsteller oder Künstler).68 Zudem ist die „Strenge“ der berufsständischen Regelung als Definitionskriterium angesichts des Liberalisierungsanspruchs der Grundfreiheiten an sich schon zu hinterfragen. Nicht selten sind es gerade die Vorschriften zur Qualitätssicherung, die den Wettbewerb beschränken und den Marktzugang behindern.69 4. Persönliche Tätigkeit

22 Dem persönlichen Element soll nach der „Adam“–Rechtsprechung des EuGH „besondere Bedeutung“ zukommen.70 Zwingend ist es also nicht, allenfalls ein Indiz. In der Tat dürfte es sich auch dabei eher um ein deskriptives Merkmal bestimmter freiberuflicher Tätigkeiten handeln und seinen Grund in dem Umstand haben, dass einerseits die besondere fachliche Kenntnis des Dienstleistungserbringers angefragt wird, andererseits freiberufliche Tätigkeiten häufig selbstständig ausgeübt werden. Dass das aber nicht immer der Fall ist, zeigt der Trend zu großen Rechtsanwaltsgesellschaften sowie Steuerberater- und Wirtschaftsprüferkanzleien. Sie halten für verschiedene Angelegenheiten Spezialisten vor und bieten ihre Dienstleistungen als Team an. Auch (Unter-)Beauftragung von Dritten ist nicht ungewöhnlich. Vergleichbare Phänomene gibt es bei Architekten und Ärzten. 5. Große Selbstständigkeit bei der Vornahme der beruflichen Handlungen 23 Dieses Kriterium kann in einem doppelten Sinne verstanden werden. Zum einen kann die „große Selbstständigkeit“ auf eine unternehmerische Betätigung abzielen – in Abgrenzung zur unselbstständigen Arbeitnehmertätigkeit. Damit würde aber verkannt werden, dass viele herkömmliche Freie Berufe in Angestelltenbeschäftigungsverhältnissen ausgeübt werden. Der angestellte Krankenhausarzt ist ein Beispiel,71 der in einer Rechtsanwaltskanzlei angestellte Rechtsanwalt ein anderes, wobei der Trend zur Spezialisierung und die Tendenz der Zusammenschlüsse von Rechtsanwaltskanzleien zu „law-firms“ die Entwicklung zu angestellten Beschäftigungsverhältnissen in dieser Berufsgruppe eindeutig erhöht hat. Gleichwohl: der Begriff „freiberuflich“ impliziert eine selbstständige Tätigkeit, die bei der Ausübung eines „Freien Berufs“ nicht zwingend vorliegen muss. 24 Das Kriterium kann auch auf eine „fachliche Unabhängigkeit“ bezogen sein. Fachliche Unabhängigkeit liegt aber weniger in der arbeitsrechtlichen Weisungsfreistellung oder Unabhängigkeit vom Arbeitgeber, als in der fachlich kompetenten Erbringung der Arbeit/ Dienstleistung oder der Herstellung des Werks für den Auftraggeber. Dieses Kriterium schließt also an die „hohe berufliche Qualifikation“ an, ohne allerdings ein zwingendes Merkmal für Freie Berufe zu sein. 6. Besondere Verantwortung 25 Kaum weiterführend ist es, die Abgrenzung der Freien Berufe von anderen Berufen mit einer „gesamtgesellschaftlichen Funktion“ in Verbindung zu bringen.72 Das Kriterium der „gesamtgesellschaftlichen Funktion“ erhellt nichts. „Gesamtgesellschaftlich“ relevant – was immer damit genau gemeint sein mag – ist letztendlich jede Dienstleistung, die für die Allgemeinheit angeboten wird.

68 69 70 71 72

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Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005 v. 25.8.2006, BT-Drs. 16/2460, 374. Kluth in FS Stober, S. 86. Kluth, Jahrbuch, S. 269. AA für Österreich aber Wallner, S. 40. Dauses/Ludwigs/Stumpf HdBEUWiR Bd. 1 E. II. Rn. 8.

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B. Gegenstandsbeschreibung

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Ob einem Freien Beruf eine besondere Berufsethik, ein „gemeinwohlaffiner Ethos“73 zu- 26 grunde liegt, die ihn von anderen Berufen abhebt, ist in dieser Pauschalität zu bezweifeln. Schon der Begriff der Berufsethik, sofern er nicht normativ konkretisiert wird, bleibt vage. Ferner kann es „eine“ Berufsethik für die Freien Berufe ohnehin nicht geben. Sicher, bei Heilberufen, insbes. bei Ärzten, gibt es wohl ein besonderes Berufsethos, bei Rechtsanwälten erscheint das schon fraglicher,74 bei Künstlern ist es nicht erkennbar. Es lässt aufhorchen, wenn Kluth deshalb eine Rückbesinnung auf das früher geltende Berufsethos fordert.75 Der Vorschlag mag einiges für sich haben, für den vorliegenden Beitrag wäre es aber zu einengend, diesen aufzugreifen. Nicht selten werden für Freie Berufe „besondere Pflichten“ gegenüber der Allgemeinheit 27 behauptet, die es erfordern, das Eigeninteresse an Gewinnmaximierung zurückzustellen.76 Auch wenn die überdurchschnittliche Einkommen beziehenden Ärzte wohl kein gutes Beispiel dafür sind, muss die Kritik an der Konturenlosigkeit des Kriteriums der „besonderen Pflichten“ ansetzen. Gleichwohl hat auch der EuGH in „Apothekerkammer des Saarlandes“77 auf die „besondere Verantwortung“, die einem Apotheker auferlegt ist, aufmerksam gemacht. In der Entscheidung hat er weniger die Berufsethik gemeint, als die Bedeutung des Berufs für das wirtschaftliche Auskommen des Apothekers in den Vordergrund gestellt und ausgeführt: „Als Berufsapotheker ist bei ihm aber davon auszugehen, dass er die Apotheke nicht nur aus rein wirtschaftlichen Zwecken betreibt, sondern auch unter einem beruflich–fachlichen Blickwinkel. Sein privates Interesse an Gewinnerzielung wird somit durch seine Ausbildung, seine berufliche Erfahrung und die ihm obliegende Verantwortung gezügelt, da ein etwaiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder berufsrechtliche Regeln nicht nur den Wert seiner Investition, sondern auch seine eigene berufliche Existenz erschüttert.“ Für den Betreiber – so der EuGH weiter –, der Apotheker ist, lässt sich nicht leugnen, dass er ebenso wie andere Personen das Ziel verfolgt, Gewinne zu erwirtschaften.

VI. Zusammenfassung Aus europarechtlicher Perspektive können die Freien Berufe nicht als Berufsgruppe, als 28 ein spezifisches Berufsbild oder als ein bestimmter Berufstypus definiert und von anderen Berufen scharf abgegrenzt werden. Ein widerspruchsfreies „Leitbild“ wird sich nicht finden lassen. Das hat seinen Grund nicht nur in der Vielfalt und Abstraktheit der Beschreibungsmerkmale,78 sondern vor allem auch darin, dass es idR die nationalen Gesetzgeber sind, die einen Beruf als einen Freien Beruf (legal-)definieren. Das primäre Unionsrecht unterscheidet nicht zwischen den „freien“ und anderen Berufen, wie Art. 57 Abs. 2 AEUV zeigt. Und auch das Sekundärrecht enthält nur wenige Vorschriften, die Freie Berufe in ihrer Gesamtheit explizit betreffen. Bezeichnend ist, dass die Freien Berufe in der Berufsanerkennungsrichtlinie lediglich in den Erwägungsgründen beschrieben, also gerade nicht legaldefiniert werden. Dabei wird auf „reglementierte“ Berufe Bezug genommen, mithin auf solche, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch – idR nationale – Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz

73 74 75 76 77 78

Als maßgebliches Kriterium: Kluth JZ 2010, 844. S. die Umfrage zur Schaffung berufsethischer Regeln: Kilian NJW 2011, 3413 (3418). Kluth JZ 2010, 844 (850). Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Denzin EuR, S. 1468. EuGH 19.5.2009 – C-171/07, Slg 2009 I-4171 Rn. 37 – Apothekerkammer des Saarlandes. Kluth, Jahrbuch, S. 279.

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§ 2 Recht der Freien Berufe bestimmter Berufsqualifikationen gebunden sind.79 Besondere Rechtsfolgen sind damit nicht verbunden.

C. Der grundlegende Rechtsrahmen für die Freien Berufe I. Grundfreiheiten 29 Für die Freien Berufe sind – wie ausgeführt – die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56, vgl. insbes. Art. 57 Abs. 2 lit. d AEUV) von besonderer Bedeutung, aber auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) insofern, als „Freiberufler“ auch angestellt werden können und deshalb die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit im Fall von grenzüberschreitender Bedeutung der betreffenden Tätigkeit dann nicht einschlägig sind.80 Das folgt unmittelbar aus Art. 57 Abs. 1 AEUV, der die Dienstleistungsfreiheit als gegenüber der Arbeitnehmerfreizügigkeit subsidiär bestimmt. Berufsspezifisch kann aber auch die Warenverkehrsfreiheit zB bei Apothekern für deren Tätigkeit von Bedeutung sein81 oder die Kapitalverkehrsfreiheit, wenn es zB um eine Investition in ein Unternehmen geht, das freiberufliche Tätigkeiten ausübt. Auf die Grundfreiheiten können sich die Staatsbürger der Unionsmitgliedstaaten sowie die des Europäischen Wirtschaftsraums, Norwegen, Island, Liechtenstein, berufen, auf die Kapitalverkehrsfreiheit auch Angehörige dritter Staaten (Art. 63 AEUV). 30 Die Grundfreiheiten schützen vor offenen Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit82 und vor versteckten Diskriminierungen wie Wohnsitzerfordernissen.83 Diskriminierungen dürfen auch nicht von Berufsverbänden ausgehen. Der EuGH hat das zB für eine französische Tierärztekammer angenommen, weil sie mit „öffentlichen Aufgaben“ betraut war (→ Rn. 97 f.).84 31 Die Grundfreiheiten schützen außerdem vor ungerechtfertigten Beschränkungen.85 Beschränkungen sind nur zulässig, wenn sie in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sind und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.86 Nicht selten beruhen berufsbeschränkende Regelungen auf prognostischen Erwägungen; auch Auswirkungen ihres Wegfalls sind im Voraus kaum abschätzbar.87 Im Bereich der Freien Berufe sind Werbeverbote, Fremdbesitzverbote, dh dass im Fall einer Gesellschaftsgründung die Gesellschafter den Freien Berufen angehören müssen (zulässig bei Apotheken),88 Filialverbote (unzulässig bei Augenoptikern)89 und Verbote gemischter Kooperationen, dh von Trägern verschiedener Berufe (zulässig bei Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern),90 häufig anzufindende Beschränkungen. Gerechtfertigt sein können zB Anforderungen an die Zuverlässigkeit,91 hinreichende Sprachkenntnisse 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

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Art. 3 Abs. 1 lit. a RL 2005/36/EG. Kämmerer, S. H 15. ZB EuGH 11.12.2003 – C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff. – DocMorris. ZB EuGH 14.7.1988 – Rs. 38/87, Slg 1988, 4427 ff. – Kommission/Griechenland. EuGH 18.1.2001 – C-162/99, Slg 2001, I-558 Rn. 34 – Kommission/Italien. EuGH 22.9.1983 – Rs. 271/82, Slg 1983, 2727 Rn. 19 – Auer. EuGH 11.12.2003 – C-322/01, Slg 2003, I-14887 ff. – DocMorris. Grundlegend für die Niederlassungsfreiheit: EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn. 37 – Gebhard. Kluth JZ 2010, 844 (849). EuGH 19.5.2009 – C-171/07, Slg 2009 I-4171 – Apothekerkammer des Saarlandes. EuGH 21.4.2005 – C-140/03, Slg 2005, I-3193 Rn. 35 – Kommission/Griechenland; Kleine-Cosack DB 2007, 1851 ff. EuGH 19.2.2002 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 123 – Wouters. EuGH 19.1.1988 – Rs. 292/86, Slg 1988, 131 ff. – Gullung.

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C. Der grundlegende Rechtsrahmen für die Freien Berufe

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(Zulassung Zahnarzt,92 anders für Rechtsanwalt93) und die Zugehörigkeit zu einer Kammer,94 ungerechtfertigt ist zB das Erfordernis, dass nur dann im Aufnahmestaat praktiziert werden darf, wenn die im Herkunftsstaat erworbene Zulassung zurückgegeben wird95 oder Beiträge zu einer weiteren Sozialversicherung abgeführt werden, wenn damit kein zusätzlicher sozialer Schutz verbunden ist96 (zum Liberalisierungspotential der Grundfreiheiten s. ausführlich zu den Rechtsanwälten → Rn. 48 ff.).

II. Grundrechte Für die Freien Berufe sind vor allem das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 15 GRC) und 32 das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit (Art. 16 GRC) wichtig. Wird die freiberufliche Tätigkeit selbstständig ausgeübt, liegt eine unternehmerische Tätigkeit iSv Art. 16 GRC vor, die Tätigkeit unselbstständiger Freiberufler wird durch Art. 15 GRC geschützt.97 Nach den amtlichen Erläuterungen zur Grundrechtecharta gründet das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit auf der Rechtsprechung des Gerichtshofs,98 der die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, sowie die Vertragsfreiheit99 anerkannt hat. Aus der Grundrechtecharta wird nicht hinreichend deutlich, ob die unternehmerische Freiheit, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anerkannt ist, ein Ausgestaltungsrecht sein soll100 oder – was zutreffend sein dürfte – ein Abwehrrecht. Noch nicht geklärt ist, ob der Vorbehalt des Geltungsbereichs der unternehmerischen Freiheit „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ den Grundrechtsschutz gegenüber dem Grundrecht der Berufsfreiheit, das einen solchen Vorbehalt nicht kennt, absenken soll. Um das zu vermeiden, wird in der Literatur vorgeschlagen, freiberufliche Tätigkeiten unter beide Grundrechte zu subsumieren (Idealkonkurrenz).101 Jedenfalls können die Grundrechte der unternehmerischen Freiheit und der Berufsfreiheit nach Art. 52 Abs. 1 GRC beschränkt werden. Künstler und Schriftsteller können sich auf die Kunstfreiheit (Art. 13 GRC), Journalisten 33 auf die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 11 GRC, Art. 10 EMRK) berufen. Darüber hinaus können die Gleichheitsrechte (Art. 20 ff. GRC, Art. 14 EMRK) und das Eigentumsrecht (Art. 17 GRC, I. ZP EMRK) Bedeutung haben.

III. Sonstiges primäres Wettbewerbsrecht Bestimmte Tätigkeiten, die von Freien Berufen wahrgenommen werden, können mit Er- 34 bringungspflichten verbunden sein, zB einer Rechtsberatung oder dem Vorhalten von Medikamenten durch Apotheker. Ist diese Pflichtvorgabe (Konzession)102 mit wettbewerbsbe-

92 EuGH 4.7.2000 – C-424/97, Slg 2000, I-5148 Rn. 59 – Haim. 93 EuGH 19.9.2006 – C-506/04, Slg 2006, I-8643 Rn. 51 f. – Wilson – allerdings im Hinblick darauf, dass eine Richtlinie abschließend die Zugangsvoraussetzungen regelt. 94 EuGH 22.9.1983 – Rs. 271/82, Slg 1983, 2727 Rn. 18 – Auer. 95 EuGH 30.4.1986 – Rs. 96/85, Slg 1986, 1483 Rn. 17 – Kommission/Frankreich. 96 EuGH 15.2.1996 – C-53/95, Slg 1996, I-711 Rn. 13 – Kemmler. 97 Calliess/Ruffert/Ruffert EUV/AEUV Art. 16 EU-GRC Rn. 1; Frenz HB Europarecht Bd. 4, S. 795; Grabenwarter in ders. (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz (EnzEuR Bd. 2) → Bd. 2 § 14 Rn. 25. 98 EuGH 14.5.1974 – Rs. 4/73, Slg 1974, 491 Rn. 14 – Nold; EuGH 27.9.1979 – Rs. 230/78, Slg 1979, 2749 Rn. 20 und 31 – SPA Eridania. 99 ZB EuGH 16.1.1979 – Rs. 151/78, Slg 1979, 1 Rn. 19 – Sukkerfabriken Nykoebing. 100 Zum immerhin sehr weiten Gestaltungsspielraum, den der EuGH dem europäischen Gesetzgeber belässt: Frenz GewArch 2008, 46 (470); Storr Der Staat 36, 547 ff. 101 Frenz HB Europarecht Bd. 4, S. 741. 102 Dazu Storr in FS Stober, S. 417.

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§ 2 Recht der Freien Berufe schränkenden Maßnahmen verbunden (ausschließliches Recht oder besonderes Recht), sind diese Maßnahmen nach Art. 106 AEUV und Art. 14 AEUV zu beurteilen.

IV. Berufsanerkennungsrichtlinie und Dienstleistungsrichtlinie 1. Regelungsbereiche 35 Die Berufsanerkennungsrichtlinie und die Dienstleistungsrichtlinie harmonisieren nationale Regeln über Marktzugang und Marktverhalten und sollen die grenzüberschreitende Niederlassung und die Ausübung einer Dienstleistung oder einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat vereinfachen. Dennoch ist ihr Regelungsansatz verschieden: Die Berufsanerkennungsrichtlinie harmonisiert die Vorschriften in den Aufnahmestaaten über Marktzugang und -verhalten und ist sektoral, dh auf einzelne Berufe bezogen. Für bestimmte Heilberufe (zB Ärzte, Zahnärzte, Apotheker) und Architekten werden im Fall der Niederlassung einige Berufsqualifikationen, die in einem Mitgliedstaat erbracht wurden, in anderen Mitgliedstaaten automatisch anerkannt. Subsidiär sowie für alle anderen Berufe ist eine individuelle Prüfung der Gleichwertigkeit der Berufsqualifikationen durch nationale Stellen vorgesehen. Je nach Übereinstimmung mit nationalen Ausbildungsstandards ist eine Voll- oder Teilanerkennung möglich (vgl. zum Anerkennungskonzept bei Ärzten: → Rn. 81 f.). Der Dienstleistungsrichtlinie liegt ein breiterer horizontaler Deregulierungsansatz zugrunde, der sämtliche Marktzugangs- und -verhaltensvorschriften betrifft und die passive Dienstleistungsfreiheit einschließt;103 für Gesundheitsdienstleistungen gilt sie aber nicht.104 Der Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie und der Berufsanerkennungsrichtlinie können sich überschneiden.105 ZB regelt die Berufsanerkennungsrichtlinie außerdem Aspekte der Dienstleistungsfreiheit.106 Im Konfliktfall ist die Dienstleistungsrichtlinie grundsätzlich107 subsidiär.108 36 Ein weiteres Ziel der Berufsanerkennungsrichtlinie ist es, die verschiedenen berufsspezifischen Vorschriften und Varianten über die berufliche Anerkennung zusammenzufassen. Im Jahr 2002 gab es um die 15 spezifische, vor allem Freie Berufe betreffende Richtlinien – ein „Flickenteppich“ (so die Kommission).109 Allerdings gibt es auch nach Erlass der Berufsanerkennungsrichtlinie weiterhin eine Vielzahl von Sonderrichtlinien für bestimmte Berufe, während für die nicht besonders geregelten Berufe nur die Berufsanerkennungsrichtlinie einschlägig ist. Diese Unterscheidung ist nicht immer nachvollziehbar, in der Literatur ist deshalb der Vorwurf der Willkür erhoben worden.110 37 In der Berufsanerkennungsrichtlinie werden die Freien Berufe umschrieben, obgleich sie keine Sonderstellung einnehmen; konsequent wird auf diese Bezeichnung in der Dienstleistungsrichtlinie verzichtet. Das ist kritisiert worden, weil so die „gesamtgesellschaftliche Bedeutung“ Freier Berufe als Anknüpfungspunkt für die Beschränkung der Dienstleistungserbringung besser hätte gewürdigt werden können,111 aber gerade der horizontale Ansatz der Dienstleistungsrichtlinie steht einer Sonderstellung besonderer Berufe grund103 Kluth in FS Stober, S. 87. 104 Art. 2 Abs. 2 lit. f RL 2006/123/EG. 105 Vgl. für den begrenzten Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie aber Art. 17 Nr. 6 RL 2006/123/EG. 106 Art. 5 ff. RL 2005/36/EG; sa EuGH 12.9.2013 – C-475/11, ECLI:EU:C:2013:542 – Konstantinides. 107 Zur begrenzten Wirkung dieser Ausnahmen wegen des Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten: Schmidt-Kessel ecolex 2010, 320 ff. 108 Art. 3 Abs. 1 lit. d RL 2006/123/EG. 109 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen v. 7.3.2002, KOM(2002)119 endg. 110 Mann EuZW 2004, 615 (618). 111 Kämmerer, S. H 16.

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C. Der grundlegende Rechtsrahmen für die Freien Berufe

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sätzlich entgegen, insbes. wenn diese inhaltlich weder homogen noch abschließend geregelt sind. 2. Eintragung und Pro-Forma-Mitgliedschaft Soweit die Berufsanerkennungsrichtlinie einschlägig ist, können die Mitgliedstaaten für 38 eine auswärtige Dienstleistungserbringung eine automatische vorübergehende Eintragung oder eine Pro-Forma-Mitgliedschaft bei einer Berufsorganisation vorsehen, um die Anwendung von Disziplinarbestimmungen zu erleichtern. Diese Eintragung oder Mitgliedschaft darf die Erbringung der Dienstleistungen in keiner Weise verzögern oder erschweren und für den Dienstleister keine zusätzlichen Kosten verursachen.112 Außerdem können die Mitgliedstaaten verlangen, dass den zuständigen Behörden im Aufnahmemitgliedstaat vorher schriftlich Meldung erstattet wird. Und sie können verlangen, dass sie über Einzelheiten zu einem Versicherungsschutz oder einer anderen Art des individuellen oder kollektiven Schutzes in Bezug auf die Berufshaftpflicht informiert werden.113 3. Sprachkenntnisse Nach der Berufsanerkennungsrichtlinie müssen auswärtige Dienstleistungserbringer über 39 die Sprachkenntnisse verfügen, die für die Ausübung ihrer Berufstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat erforderlich sind;114 Die Überprüfungen dürfen erst nach der Ausstellung eines Europäischen Berufsausweises bzw. nach der Anerkennung einer Berufsqualifikation vorgenommen werden. Überprüfungen der Sprachkenntnisse müssen in angemessenem Verhältnis zur auszuübenden Tätigkeit stehen. Ausbildungs- und Berufsbezeichnungen sind in der Sprache des Herkunftsmitgliedstaats bzw. Niederlassungsstaats zu führen.115 4. Werbeverbote In der Dienstleistungsrichtlinie ist geregelt, dass absolute Werbeverbote zur Förderung des 40 Absatzes von Waren und Dienstleistungen oder des Erscheinungsbildes unzulässig sind.116 Werbebeschränkungen müssen nicht diskriminierend, durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig sein. Sie müssen insbes. die Unabhängigkeit, die Würde – was immer damit genau gemeint sein soll (im Englischen: dignity, im Französischen: la dignité, im Italienischen: la dignità) – und die Integrität des Berufsstandes sowie die „Wahrung des Berufsgeheimnisses“ gewährleisten.117 Ein Verbot118 der Rechtsanwälte, mit Umsatz- und Erfolgszahlen zu werben,119 wird diesen Voraussetzungen wohl nicht standhalten, weil diese Angaben (vielleicht kein zuverlässiges, aber immerhin) ein Indiz für Mandanten zur Auswahl eines Rechtsanwalts sein können.120

112 113 114 115 116 117 118 119

Art. 6 Abs. 1 lit. a RL 2005/36/EG. Art. 7 Abs. 1 S. 1 RL 2005/36/EG; vgl. Art. 23 RL 2006/123/EG. Art. 53 RL 2005/36/EG. Art. 7 Abs. 3, Art. 54 RL 2005/36/EG. Art. 24 Abs. 1 RL 2006/123/EG. Art. 24 Abs. 2 RL 2006/123/EG. Generell eine liberalere Werbepraxis aus den Grundfreiheiten anmahnend: Kluth/Goltz/Kujath, S. 61 f. Vgl. jetzt § 6 Abs. 2 S. 1: Berufsordnung der Rechtsanwälte in Deutschland: „Die Angabe von Erfolgsund Umsatzzahlen ist unzulässig, wenn sie irreführend ist.“. 120 Auch Kämmerer, S. H 95.

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§ 2 Recht der Freien Berufe 5. Gemeinschaftliche Tätigkeiten

41 Fremdbesitzverbote – gleich welcher Art121 – stellen eine Beeinträchtigung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, ggf. auch der Kapitalverkehrsfreiheit dar und müssen nach Art. 15 Abs. 2 lit. c. Dienstleistungsrichtlinie dahin gehend überprüft werden, ob sie nicht diskriminierend, durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt, geeignet und erforderlich sind.122 Ob durch Fremdbesitzverbote die Qualität der Dienstleistung oder die Unabhängigkeit des Freien Berufs gesichert werden kann, muss im konkreten Einzelfall beurteilt werden. Weniger belastend können Haftungs- und Versicherungsverpflichtungen oder Präsenzpflichten von Berufsträgern sein.123 42 Mit der Dienstleistungsrichtlinie sind staatliche Verpflichtungen an den Dienstleistungserbringer, ausschließlich eine bestimmte Tätigkeit auszuüben oder Beschränkungen der gemeinschaftlichen oder partnerschaftlichen Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten grundsätzlich unzulässig. Ausnahmen sind zulässig für Angehörige reglementierter Berufe, um die Einhaltung von Standesregeln sicherzustellen sowie für Dienstleistungserbringer in den Gebieten Zertifizierung, Akkreditierung, technische Überwachung und Versuchs- und Prüfwesen, wenn diese Beschränkungen erforderlich sind, um ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu gewährleisten. Sofern sog multidisziplinäre Tätigkeiten erlaubt werden,124 muss sichergestellt sein, dass Interessenkonflikte und Unvereinbarkeiten vermieden werden, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – soweit erforderlich – gewährleistet und die Anforderungen der Standesregeln für die verschiedenen Tätigkeiten miteinander vereinbar sind.125 6. Berufshaftpflichtversicherung 43 Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Dienstleistungserbringer eine Berufshaftpflichtversicherung abschließen oder eine vergleichbare Sicherheit oder eine gleichwertige Vorkehrung vorsehen müssen, wenn ihre Dienstleistungen ein unmittelbares und besonderes Risiko für die Gesundheit oder Sicherheit des Dienstleistungsempfängers oder eines Dritten oder für die finanzielle Sicherheit des Dienstleistungsempfängers darstellen.126 Eine Berufshaftpflichtversicherung ist eine Versicherung, die eine potenzielle Haftung eines Dienstleistungserbringers gegenüber Dienstleistungsempfängern und gegebenenfalls Dritten, die sich aus der Erbringung der Dienstleistung ergibt, absichert.127 Die Berufshaftpflichtversicherung muss der Art und dem Umfang des Risikos angemessen sein. Eine Berufshaftpflichtversicherung darf nicht gefordert werden, wenn das Risiko bereits durch eine in seinem Heimatstaat abgeschlossene vergleichbare Berufshaftpflichtversicherung abgedeckt ist. 7. Sonstige Pflichten zur Prüfung der Aufrechterhaltung von Anforderungen nach der Dienstleistungsrichtlinie 44 Eine Pflicht zur Prüfung der Aufrechterhaltung von Anforderungen obliegt den Mitgliedstaaten ferner für Anforderungen, die bestimmte Mindestentfernungen zwischen Dienst121 Eigentumsverbote, Besitzverbote, Stimmrechtsverbote etc; vgl. für Apotheken krit. auch Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005 v. 25.8.2006, BT-Drs. 16/2460, 420. 122 Art. 15 Abs. 3 RL 2006/123/EG. 123 Krit. für Rechtsanwälte etwa: Cornils in Schlachter/Ohler Art. 15 Rn. 15; für Apotheken vgl. aber EuGH 19.5.2009 – C-171/07, Slg 2009 I-4171 – Apothekerkammer des Saarlandes. 124 Für dahin gehende legistische Vorhaben in Österreich: Krejci ÖZW 2011, 102 f. 125 Art. 25 RL 2006/123/EG. 126 Art. 23 Abs. 1 RL 2006/123/EG; Art. 7 RL 2005/36/EG.. 127 Art. 23 Abs. 5, 4. Spstr. RL 2006/123/EG.

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D. Ausgewählte Freie Berufe

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leistungserbringern betreffen, die Verpflichtung des Dienstleistungserbringers, eine bestimmte Rechtsform zu wählen, das Filialverbot, die Verpflichtung einer Mindestbeschäftigtenzahl, bestimmte Mindest- und/oder Höchstpreise oder die Verpflichtung des Dienstleistungserbringers128, zusammen mit seiner Dienstleistung bestimmte andere Dienstleistungen zu erbringen.129 8. Qualitätssicherungsmaßnahmen Die Dienstleistungsrichtlinie forciert freiwillige Maßnahmen der Qualitätssicherung, 45 bleibt aber inhaltlich sehr unbestimmt. Genannt werden Zertifizierung und Bewertung durch unabhängige oder akkreditierte Einrichtungen, durch Qualitätscharten oder Gütesiegel von Berufsverbänden. Die Berufsverbände und die Verbraucherverbände sollen auf Unionsebene kooperieren, um die Dienstleistungsqualität zu fördern, insbes. indem sie die Einschätzung der Kompetenz eines Dienstleistungserbringers erleichtern. Verbraucherverbände sollen Qualität und Mängel von Dienstleistungen unabhängig bewerten und ihre Ergebnisse veröffentlichen. Ausdrücklich wird die Entwicklung von freiwilligen europäischen Standards angesprochen, um die Vereinbarkeit der von Dienstleistungserbringern aus verschiedenen Mitgliedstaaten erbrachten Dienstleistungen, die Information der Dienstleistungsempfänger und die Qualität der Dienstleistungen zu verbessern.130 9. Europäischer Berufsausweis Im Jahr 2011 hat die Europäische Kommission eine neue Initiative für wesentliche Ände- 46 rungen der Berufsanerkennungsrichtlinie vorgelegt131 und die Einführung eines „Europäischen Berufsausweises“ vorgeschlagen. Der „Europäische Berufsausweis“ (vgl. inzwischen Art. 4 a ff. Berufsanerkennungs-RL) ist eine elektronische Bescheinigung zum Nachweis, dass der Berufsangehörige sämtliche notwendigen Voraussetzungen für die vorübergehende und gelegentliche Erbringung von Dienstleistungen in einem Aufnahmemitgliedstaat erfüllt.132 Er kann auch ein Nachweis der Anerkennung von Berufsqualifikationen für die Niederlassung in einem Aufnahmemitgliedstaat sein. Das Anerkennungsverfahren soll dadurch einfacher, schneller und transparenter werden. Die technische Abwicklung des Europäischen Berufsausweises erfolgt durch das Binnenmarktinformationssystem. Vorauszusetzen ist aber, dass die Kommission entsprechende Durchführungsrechtsakte erlassen hat.133 Die Einheitlichen Ansprechpartner, die mit der Dienstleistungsrichtlinie eingeführt wurden, sollen ein Verzeichnis führen, in dem alle Berufe, für die ein Europäischer Berufsausweis verfügbar ist, seine Funktionsweise, etwaige Gebühren sowie die zuständigen Behörden angegeben sind.134

D. Ausgewählte Freie Berufe Für eine Reihe von Freien Berufen gelten lediglich die, zT auch nur die allgemeinen, Vor- 47 schriften der Berufsanerkennungsrichtlinie, die Dienstleistungsrichtlinie und subsidiär die Grundfreiheiten. Eine besondere Regulierung erfahren sie nicht. Das trifft zB auf die Lot128 129 130 131

S. D I. 6 c für Rechtsanwälte. Art. 15 Abs. 2 RL 2006/123/EG. Art. 26 RL 2006/123/EG. Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems, KOM(2011)0883 endg. 132 Art. 3 Abs. 1 lit. k RL 2006/123/EG. 133 Art. 4 a ff. RL 2005/36/EG. 134 Art. 57 RL 2005/36/EG.

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§ 2 Recht der Freien Berufe sen, die Insolvenzverwalter, die Steuerberater und die Wirtschaftsprüfer zu, deren Tätigkeiten allerdings von der Dienstleistungsrichtlinie teilweise ausgenommen sind.135 Im Folgenden sollen fünf Freie Berufe hervorgehoben werden: die Rechtsanwälte, die Notare, die Ärzte, die Apotheker und die Architekten.

I. Rechtsanwälte 1. Das Liberalisierungspotenzial der Grundfreiheiten für den Rechtsanwaltsberuf 48 In der Rechtssache „Reyners“ (1974) hat der EuGH entschieden, dass die anwaltliche Tätigkeit als freiberufliche Tätigkeit unter die Niederlassungsfreiheit zu subsumieren ist. Eine Ausübung öffentlicher Gewalt iSv Art. 51 AEUV liegt nicht vor: Allein der Umstand, dass Rechtsanwälte bei Gericht auftreten, bedeutet nicht, dass ihre Dienstleistungen als Ausübung öffentlicher Gewalt zu qualifizieren sind, selbst wenn sie regelmäßig erbracht werden, in das Gerichtsverfahren eingebettet sind und auf eine obligatorische Mitarbeit bei der Erfüllung der Aufgaben der Gerichte hinauslaufen. Insbes. die typischen Tätigkeiten des Anwaltsberufes, wie Rechtsberatung, Rechtsbeistand, Vertretung und Verteidigung des Auftraggebers vor Gericht sind keine Ausübung öffentlicher Gewalt. Das gilt selbst dann, wenn die Einschaltung oder die Betreuung durch Gesetz zwingend vorgeschrieben oder ausschließlich einem Rechtsanwalt vorbehalten ist. Denn die Wahrnehmung dieser Aufgaben – so der EuGH – lässt die richterliche Beurteilung und die freie Ausübung der Rechtsprechungsbefugnis unberührt.136 49 Spätestens mit der ein Jahr später ergangenen, für den Rechtsanwaltsberuf in Europa fundamentalen Entscheidung „Gebhard“137 wird das Liberalisierungspotenzial dieser Rechtsprechung deutlich: Der Begriff der Niederlassung ist – so der EuGH – „ein sehr weiter Begriff, der die Möglichkeit für einen Gemeinschaftsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Gemeinschaft im Bereich der selbstständigen Tätigkeiten gefördert wird.“ Niedergelassen ist ein Rechtsanwalt nicht erst, wenn er dem inländischen Berufsstand tatsächlich angehört, dh die Bedingungen für die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten erfüllt. Die Erfüllung dieser Voraussetzung ist kein konstitutives Element der Niederlassung. 50 Die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit kann von Voraussetzungen abhängig gemacht werden. In „Gebhard“ stellt der EuGH zurückgreifend auf die Cassis–Formel, die er für die Warenverkehrsfreiheit entwickelt hat, fest, dass nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.138 Dabei dürfen die nationalen Zulassungsbehörden bei der Anwendung ihrer Vorschriften nicht die Kenntnisse und Qualifikationen außer Acht lassen, die der Betroffene bereits in einem anderen Mitgliedstaat erworben 135 Art. 17 Ziff. 13 RL 2006/123/EG iVm RL 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates, ABl. L 157 v. 9.6.2006, 87. 136 EuGH 21.6.1974 – Rs. 2/74, Slg 1974, 631 Rn. 51/53 – Reyners. 137 EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Slg 1995, I-4165 Rn. 25 – Gebhard. 138 EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Slg 1995, I-4165 Rn. 37 – Gebhard.

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D. Ausgewählte Freie Berufe

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hat. Sie müssen die Gleichwertigkeit der Diplome berücksichtigen und gegebenenfalls eine vergleichende Prüfung der in ihren nationalen Vorschriften geforderten Kenntnisse und Qualifikationen und derjenigen des Betroffenen vornehmen. Die Entscheidungen des EuGH auf der Grundlage dieser Systematik sind zwangsläufig kasuistisch und erscheinen nicht immer konsequent, etwa wenn die gerichtliche Einziehung fremder Forderungen anwaltlichen Berufen vorbehalten werden konnte,139 die Überwachung gewerblicher Schutzrechte140 aber nicht. Die Niederlassungsfreiheit steht einer nationalen Vorschrift entgegen, die eine Niederlas- 51 sung in einem Mitgliedstaat verbietet, wenn der Rechtsanwalt in einem anderen Mitgliedsstaat bereits eine Niederlassung unterhält. Denn das hätte zur Folge, dass ein Rechtsanwalt, der in einem Mitgliedstaat bereits eine Niederlassung unterhält, sich in einem anderen Mitgliedstaat nur niederlassen kann, wenn er die Niederlassung im ersten Mitgliedstaat aufgibt. Die Niederlassungsfreiheit beschränkt sich aber nicht auf die Möglichkeit, nur eine Niederlassung unterhalten zu dürfen, wie bereits das Recht, Zweigstellen zu eröffnen, zeigt (Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV).141 Inzwischen ist die grenzüberschreitende anwaltliche Tätigkeit durch besondere Richtlinien 52 geregelt: die RL 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte, die RL 98/5/EG zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde und die Berufsanerkennungsrichtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Die Berufsanerkennungsrichtlinie ist neben der RL 98/5/EG anwendbar; die Richtlinien ermöglichen für Rechtsanwälte also zwei Wege des Zugangs zum Rechtsanwaltsberuf in einem Aufnahmemitgliedstaat unter der dortigen Berufsbezeichnung.142 Darüber hinaus bleibt die Möglichkeit einer Äquivalenzprüfung auf primärrechtlicher Grundlage.143 2. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit nach Maßgabe der RL 77/249/EWG Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat – darin unterscheiden sie sich von Tätig- 53 keiten aus Niederlassungen in einem anderen Mitgliedstaat – sind nur vorübergehend. Eine Niederlassung liegt vor, wenn eine selbstständige Tätigkeit auf unbestimmte Zeit und mittels einer festen Einrichtung von dieser aus tatsächlich ausgeübt wird. Die Dienstleitungsfreiheit ist hingegen einschlägig, wenn es an einer dauerhaften Eingliederung des Unionsbürgers in das Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats fehlt.144 Für die Feststellung, ob eine Tätigkeit nur vorübergehend in einem Mitgliedstaat ausgeübt werden soll, kommt es nicht allein auf die Dauer der Erbringung der Leistung an, sondern auch auf ihre Häufigkeit, ihre regelmäßige Wiederkehr und ihre Kontinuität. Eine Tätigkeit ist nicht schon deshalb keine Dienstleistung, weil der Dienstleistungserbringer vorübergehend eine bestimmte Infrastruktur, zB eine Kanzlei, benutzt, wenn diese für die Erbringung der betreffenden Leistung erforderlich ist.145 139 EuGH 12.12.1996 – C-3/95, Slg I-1996, 6511 Rn. 43 – Reisebüro Broede – zur Dienstleistungsfreiheit. 140 EuGH 25.7.1991 – C-76/90, Slg, I-4239 Rn. 20 – Säger – zur Dienstleistungsfreiheit. 141 EuGH 12.7.1984 – Rs. 107/83, Slg 1984, 2973 Rn. 18 – Klopp. 142 EuGH 3.2.2011 – C-359/09, Slg 2011 I-269 Rn. 35 – Ebert – allerdings zur RL 89/48/EWG (Hochschuldiplomanerkennungsrichtlinie); vgl. aber Erwägungsgrund 42 RL 2005/36/EG sowie Art. 10 Abs. 2 RL 98/5 iVm Art. 62 RL 2005/36/EG. 143 EuGH 22.10.2002 – C-31/00, Slg 2002, I-663 Rn. 31 – Dreessen. 144 Ruthig in Ruthig/Storr, Rn. 78. 145 Vgl. zur Abgrenzung etwa Erwägungsgrund 77 RL 2006/123/EG, die EuGH-Judikatur aufgreifend.

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§ 2 Recht der Freien Berufe

54 Für grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit ist maßgebender Sekundärrechtsakt die RL 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte.146 Die Richtlinie betrifft die aktive147 wie die passive Dienstleistungsfreiheit,148 nicht aber die Niederlassung. Jeder Aufnahmestaat ist verpflichtet, die Berufsbezeichnung des Herkunftsstaats, in dem der Rechtsanwalt also niedergelassen ist, anzuerkennen, dh der Rechtsanwalt darf grundsätzlich unter der Berufsbezeichnung des Herkunftsstaats (zB in Deutschland: Rechtsanwalt; im Vereinigten Königreich: Advocate, Barrister oder Solicitor; in Frankreich: Avocat; in Italien Avvocato) im Aufnahmestaat dienstleistend tätig werden. Der in einem Aufnahmestaat tätige Rechtsanwalt hat die in der Sprache oder in einer der Sprachen des Herkunftsstaats gültige Berufsbezeichnung zu verwenden, unter Angabe der Berufsorganisation, deren Zuständigkeit sie unterliegt, oder des Gerichtes, bei dem sie nach Vorschriften dieses Staates zugelassen ist (Art. 3). Die mit der Vertretung oder der Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden zusammenhängenden Tätigkeiten des Rechtsanwalts werden im jeweiligen Aufnahmestaat unter den für die in diesem Staat niedergelassenen Rechtsanwälte vorgesehenen Bedingungen ausgeübt, wobei jedoch das Erfordernis eines Wohnsitzes sowie das der Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation in diesem Staat ausgeschlossen sind. Anwaltskosten fallen deshalb nach den Vorschriften des Aufnahmestaats an.149 Mit der Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar ist es, wenn dienstleistende Rechtsanwälte dem Grundsatz der territorialen Ausschließlichkeit unterworfen werden.150 Das Abfassen förmlicher Urkunden, mit denen das Recht auf Verwaltung des Vermögens verstorbener Personen verliehen oder mit denen ein Recht an Grundstücken geschaffen oder übertragen wird, kann aber bestimmten Gruppen von Rechtsanwälten vorbehalten werden (zB den Solicitors im Vereinigten Königreich).151 55 Es gelten die Standesvorschriften des Aufnahmestaats (Art. 4 Abs. 1 und 2). Deshalb kann sich ein Rechtsanwalt, der in einem Mitgliedstaat wegen Verletzung von Standesregeln (ic: wegen mangelnder „Würde, Ehrenhaftigkeit und Lauterkeit“) seine Zulassung verloren hat, und der sich inzwischen in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat und dort als Anwalt zugelassen wurde, nicht auf die RL 77/249/EWG berufen, um im erstgenannten Mitgliedstaat – ggf. unter Beiziehung eines Einvernehmensanwalts – anwaltlich tätig zu werden.152 Für die Ausübung anderer Tätigkeiten als Vertretung oder Verteidigung von Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden (also der Kerntätigkeiten) bleibt der Rechtsanwalt den im Herkunftsstaat geltenden Bedingungen und Standesregeln unterworfen (Art. 4 Abs. 4). Doch hat er auch die im Aufnahmestaat geltenden Regeln über die Ausübung des Berufes, insbes. in Bezug auf die Unvereinbarkeit zwischen den Tätigkeiten des Rechtsanwalts und anderen Tätigkeiten in diesem Staat, das Berufsgeheimnis, die Beziehungen zu Kollegen, das Verbot des Beistands für Parteien mit gegensätzlichen Interessen durch denselben Rechtsanwalt und die Werbung einzuhalten. Die Richtlinie sieht zwei einschränkende Voraussetzungen vor: Diese Regeln sind nur anwendbar, wenn sie von einem Rechtsanwalt beachtet werden können, der nicht in dem Aufnahmestaat niedergelassen ist, und nur insoweit, als ihre Einhaltung in diesem Staat objektiv gerechtfertigt ist, um eine ordnungsgemäße Ausübung der Tätigkeiten des Rechtsanwalts 146 Richtlinie 77/249/EWG des Rates v. 22.3.1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte, ABl. L 78 v. 26.3.1977, 17 f. 147 EuGH 10.7.1991 – C-294/89, Slg 1991, I-3606 Rn. 11 – Kommission/Frankreich. 148 EuGH 9.3.2017 – C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196 Rn. 36 – Piringer. 149 EuGH 11.12.2003 – C-289/02, Slg 2003, I-15059 Rn. 30 – AMOK. 150 EuGH 25.2.1988 – Rs. 427/85, Slg 1988, 1123 Rn. 46 – Kommission/Deutschland. 151 EuGH 9.3.2017 – C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196 Rn. 43 – Piringer. 152 EuGH 19.1.1988 – Rs. 292/88, Slg 1988, 131 Rn. 22 – Gullung.

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sowie die Beachtung der Würde des Berufes und der Unvereinbarkeiten zu gewährleisten. Zulässig ist eine Verpflichtung dahin gehend, dass die betreffenden Rechtsanwälte im Aufnahmemitgliedstaat nach den örtlichen Regeln und Gepflogenheiten beim Präsidenten des Gerichts oder dem Vorsitzenden der Anwaltskammer einzuführen sind. Umgekehrt müssen den betreffenden Rechtsanwälten grds. die gleichen Möglichkeiten zukommen, ihre Dienstleistungen erbringen zu können. Deshalb kann es zB einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 4 RL 77/249 darstellen, wenn einem Rechtsanwalt von einer Anwaltskammer ein Router für den Zugang zum privaten virtuellen Anwaltsnetzwerk verweigert und damit die Möglichkeit elektronischer Kommunikation mit Gerichten erschwert wird.153 Die Mitgliedstaaten können bestimmen, dass nicht im Inland niedergelassene Rechtsan- 56 wälte mit einem örtlich zugelassenen Anwalt, der die Verantwortung übernimmt, handeln (Art. 5), sog Einvernehmensanwalt. Das gilt nur für die Tätigkeiten, die mit der Vertretung und Verteidigung von Mandanten im Bereich der Rechtspflege verbunden sind. Daraus ist herzuleiten, dass für die Ausübung von Tätigkeiten vor Einrichtungen oder Behörden, die keine Aufgaben der Rechtspflege wahrnehmen, entsprechende Verpflichtungen nicht auferlegt werden können.154 Darüber hinaus muss im Aufnahmestaat auch Anwaltszwang vor Gerichten bestehen. Wo kein Anwaltszwang besteht, wo sich die Parteien des Beistands eines Rechtsanwalts nicht bedienen müssen, sondern ihre Sache selbst vor Gericht vertreten können oder sich durch Personen vertreten lassen können, die nicht Rechtsanwälte sind, muss auch kein Einvernehmensanwalt bestellt werden.155 Deutschland und Österreich haben von dieser Möglichkeit, einen Einvernehmensanwalt bestellen zu müssen, Gebrauch gemacht (§ 28 EuRAG156 bzw. § 5 EIRAG157). Der Einvernehmensanwalt muss in dem entsprechenden Verfahren aber nicht Bevollmächtigter oder Verteidiger sein und der dienstleistende Anwalt darf in einer mündlichen Verhandlung oder einer Hauptverhandlung nicht nur dann auftreten oder einen Gefangenen besuchen, wenn er in Begleitung dieses Einvernehmensanwalts ist.158 Diese Vertretung durch zwei Anwälte erhöht freilich die Anwaltskosten. Der EuGH hat ausdrücklich gebilligt, dass die Kosten für beide Anwälte der unterlegenen Partei auferlegt werden können. Andernfalls – so der EuGH – wäre die Erbringung grenzüberschreitender anwaltlicher Dienstleistungen weniger attraktiv als die Beauftragung eines inländischen Rechtanwalts.159 Für die Beschränkung der Tätigkeit von Syndikusanwälten vgl. Art. 6 RL 77/249/EWG. 3. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen im Bereich der Niederlassungsfreiheit nach Maßgabe der Richtlinie 98/5/EG Die RL 98/5/EG betrifft die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als Arbeitnehmer 57 (abhängig Beschäftigter) oder als Selbstständiger in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde. Jeder Rechtsanwalt hat das Recht, Anwaltstätigkeiten auf Dauer in jedem anderen Mitgliedstaat auszuüben und zwar unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung, also unter der Berufsbezeichnung, die er vor seiner Tätigkeit im Aufnahmestaat erworben hat (Art. 2).

153 154 155 156 157

EuGH 18.5. 2017 – C-99/16, ECLI:EU:C:2017:391 – Lahorgue. EuGH 10.7.1991 – C-294/89, Slg 1991, I-3591 Rn. 16 – Kommission/Frankreich. EuGH 10.7.1991 – C-294/89, Slg 1991, I-3591 Rn. 19 – Kommission/Frankreich. Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland v. 9.3.2000, BGBl. I 182, 1349. Bundesgesetz über den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassung von europäischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sowie die Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch international tätige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Österreich (EIRAG); StF: BGBl. I Nr. 27/2000. 158 EuGH 25.2.1988 – Rs. 427/85, Slg 1988, I-1123 Rn. 46 – Kommission/Deutschland. 159 EuGH 11.12.2003 – C-289/02, Slg 2003, I-15059 Rn. 36 – AMOK.

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58 Die Richtlinie sieht vor, dass sich der betreffende Rechtsanwalt bei der zuständigen Stelle des Aufnahmestaats eintragen lassen muss und die Bescheinigung über seine Eintragung bei der zuständigen Stelle des Herkunftsstaats vorzulegen hat (Art. 3). Darüber hinausgehende Anforderungen sind unzulässig, zB eine Vorabprüfung, ob die dortige Amtssprache hinreichend beherrscht wird.160 Art. 3 der Richtlinie ist vollharmonisiert.161 Deshalb ist es grds. unzulässig, einem Angehörigen eines Mitgliedstaats, der die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat, die Eintragung in das Verzeichnis der Rechtsanwaltskammer zu verweigern (→ Rn. 73). Im Fall einer Verweigerung der Zulassung und Eintragung muss ein Rechtsmittel an ein Gericht möglich sein, dh an eine unabhängige und unparteiische Stelle.162 59 Im Aufnahmestaat muss der Rechtsanwalt seine ursprüngliche Berufsbezeichnung in der Amtssprache des Herkunftsstaats führen; eine Verwechslung mit der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats muss ausgeschlossen sein. Ua kann der Rechtsanwalt verpflichtet werden, die Berufsorganisation seines Herkunftsstaats oder das Gericht, bei dem er im Herkunftsstaat zugelassen ist, anzugeben. Er unterliegt weiterhin den Berufs- und Standesregeln des Herkunftsstaates und, soweit er im Aufnahmestaat tätig wird, zusätzlich den dort geltenden Berufs- und Standesregeln (Art. 6 Abs. 1). Entsprechendes gilt für die Disziplinargewalt (Art. 7). Das nationale Gesetz kann die Verpflichtung vorsehen, dass ein Rechtsanwalt, der im Aufnahmestaat unter der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats tätig werden will, Mitglied einer Rechtsanwaltskammer werden muss.163 Dafür muss auch eine angemessene Vertretung in der Standesvertretung des Aufnahmestaats gewährleistet sein (Art. 6 Abs. 2). Der Rechtsanwalt kann ferner verpflichtet werden, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen oder einer Berufsgarantiekasse beizutreten (Art. 6 Abs. 3). 60 Im Aufnahmestaat darf er die gleichen beruflichen Tätigkeiten wie der unter der jeweiligen Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats niedergelassene Rechtsanwalt ausüben und kann insbes. Rechtsberatung im Recht seines Herkunftsstaats, im Unionsrecht, im internationalen Recht und im Recht des Aufnahmestaats erteilen. Somit darf der unter der Berufsbezeichnung des Herkunftsstaats tätige Rechtsanwalt im Aufnahmestaat in diesem Recht praktizieren – und zwar ohne dass er dort vorher eine Ausbildung gemacht haben muss. Im Gegensatz dazu können die Mitgliedstaaten verlangen, dass die Rechtsanwälte, die unter der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats tätigen werden, dort vorher eine Ausbildung gemacht haben müssen. Eine Gleichheitsverletzung konnte der EuGH darin nicht erkennen:164 Denn erstens werden die betreffenden Rechtsanwälte unter einer besonderen Berufsbezeichnung tätig, nämlich der des Herkunftsstaats, und diese Bezeichnung muss verständlich und so formuliert sein, dass keine Verwechslung mit der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats möglich ist. Und zweitens kann dem unter der Berufsbezeichnung des Herkunftsstaats tätigen Rechtsanwalt die Wahrnehmung bestimmter anwaltlicher Aufgaben untersagt sein, zB bestimmte notarielle Tätigkeiten und für die Führung von Gerichtsprozessen kann – soweit Anwaltszwang besteht – die Beiziehung eines inländischen Rechtsanwalts verlangt werden. Auch der Zugang zu Höchstgerichten kann beschränkt werden (Art. 5). 61 Als angestellter Rechtsanwalt in einer Sozietät oder Bürogemeinschaft oder als Syndikusanwalt kann er Dienstleistungen erbringen, wenn diese Organisationsform der anwaltli160 161 162 163 164

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EuGH 19.9.2006 – C-506/04, Slg 2006, I-8643 Rn. 51 f. – Wilson. EuGH 17.7.2014 – C-58/13, ECLI:EU:C:2014:2088 Rn. 38 – Torresi. EuGH 19.9.2006 – C-193/05, Slg 2006, I-8673 Rn. 40 – Kommission/Luxemburg. EuGH 3.2.2011 – C-359/09, Slg 2011 I-269 Rn. 42 – Ebert. EuGH 7.11.2000 – C-168/98, Slg 2000, I-9161 Rn. 24 – Luxemburg/Parlament und Rat.

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chen Betätigung im Aufnahmestaat erlaubt ist (Art. 8 für angestellte Rechtanwälte; Art. 11 für Rechtsanwälte in einer „Gruppe“ → Rn. 63). Art. 8 wird vom EuGH weit ausgelegt: Die Bestimmung schließt auch Vorschriften ein, die der Aufnahmestaat eingeführt hat, um Interessenkonflikte zu verhindern. ZB darf es verboten werden, als Teilzeitbeschäftigter der öffentlichen Verwaltung und als Rechtsanwalt seinen Beruf auszuüben.165 Außerdem soll die Bestimmung auch umgekehrte Diskriminierungen der inländischen Rechtanwälte verhindern.166 Eine Gleichstellung mit den Rechtsanwälten des Aufnahmestaats ist nach drei Jahren Be- 62 rufsausübung im Aufnahmestaat möglich, ohne dass die Voraussetzungen der Berufsanerkennungsrichtlinie167 vorliegen müssen (Art. 10 Abs. 1). Dafür muss der Rechtsanwalt unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung mindestens drei Jahre „effektiv und regelmäßig“ im Aufnahmestaat tätig gewesen sein und zwar im Recht dieses Mitgliedstaats, einschließlich des Unionsrechts. Unter Umständen kann eine Gleichstellung auch der beantragen, der zwar drei Jahre rechtsanwaltliche Tätigkeiten ausgeübt hat, diese aber nicht voll im Aufnahmestaat (Art. 10 Abs. 3). Diese besonderen Aufnahmeverfahren schließen es nicht aus, dass ein Rechtsanwalt jederzeit die Anerkennung seines Diploms nach der Berufsanerkennungsrichtlinie beantragen kann. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, Rechtsanwälten, die derselben Sozietät, 63 Partnerschaftsgesellschaft, Bürogemeinschaft (die Richtlinie verwendet den weiteren Begriff „Gruppe“168) angehören oder die aus einem oder mehreren Mitgliedstaaten kommen und die unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung im Aufnahmestaat tätig sind, „die Möglichkeit des Zugangs zu einer Form der gemeinsamen Berufsausübung“ zu gewähren.169 Kommen sie von derselben Gruppe im Herkunftsstaat, können sie ihre beruflichen Tätigkeiten im Rahmen einer Zweigstelle oder Niederlassung ihrer Gruppe im Aufnahmestaat ausüben.170 Etwaige Beschränkungen für eine gemeinsame Berufsausübung für Rechtsanwälte sind nach Art. 15 Abs. 2 RL 2006/123/EG zu prüfen. Für den Fall, dass die für die Gruppe im Herkunftsstaat geltenden Vorschriften mit den grundlegenden Regeln nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmestaats unvereinbar sind, gelten die Vorschriften des Aufnahmestaats, soweit ihre Beachtung im allgemeinen Interesse zum Schutz der Mandanten und Dritter gerechtfertigt ist. Der Rechtsanwalt, der unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig sein möchte, hat die zuständige Stelle des Aufnahmestaats davon in Kenntnis zu setzen. Die gemeinsame Berufsausübung kann untersagt werden, wenn der Gruppe standesfremde Personen angehören.171 4. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen nach Maßgabe der Richtlinie 2005/36/EG Außer über die RL 89/5/EG ist ein Zugang zum Rechtsanwaltsberuf in einem anderen 64 Mitgliedstaat auch über die Berufsanerkennungsrichtlinie möglich.172 Die Berufsanerkennungsrichtlinie setzt nicht eine dreijährige Berufsausübung im Aufnahmestaat voraus, sondern ermöglicht eine Anerkennung der im Herkunftsstaat erworbenen Berufsqualifikation: Wenn die Aufnahme oder Ausübung eines reglementierten Berufs in einem Aufnahmestaat von dem Besitz bestimmter Berufsqualifikationen abhängig gemacht wird, hat die 165 166 167 168 169 170 171 172

EuGH 2.12.2010 – C-225/09, Slg 2010, I-12329 Rn. 60 – Jakubowska. EuGH 2.12.2010 – C-225/09, Slg 2010, I-12329 Rn. 31 – Jakubowska. Die RL 89/5/EG verweist auf RL 89/48/EWG. Vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. e RL 89/5/EG. Art. 11 Ziff. 2 S. 1; Ziff. 3 RL 89/5/EG. Art. 11 Ziff. 1 RL 89/5/EG. Art. 11 Ziff. 5 RL 89/5/EG. Ablehnend noch Kluth/Rieger EuZW 2005, 486 (487, 491).

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§ 2 Recht der Freien Berufe zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats die Aufnahme oder Ausübung dieses Berufs unter denselben Voraussetzungen wie Inländern zu gestatten, wenn der Antragsteller den Befähigungs- oder Ausbildungsnachweis besitzt, der in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich ist, um in dessen Hoheitsgebiet die Erlaubnis zur Aufnahme und Ausübung dieses Berufs zu erhalten.173 Im Fall einer Diskrepanz der Ausbildungsdauer im Herkunftsstaat und der im Aufnahmestaat – Einzelheiten sind in Art. 14 Berufsanerkennungsrichtlinie geregelt – können unter bestimmten Umständen sog Ausgleichsmaßnahmen verlangt werden. Für Berufe, deren Ausübung eine genaue Kenntnis des einzelstaatlichen Rechts erfordert und bei denen Beratung und/oder Beistand in Bezug auf das einzelstaatliche Recht ein wesentlicher und beständiger Teil der Berufsausübung ist – wie es bei Rechtsanwälten grundsätzlich anzunehmen ist –, kann der Aufnahmestaat entweder einen Anpassungslehrgang (Art. 3 Abs. 1 lit. g RL 2005/36/EG) oder eine Eignungsprüfung (Art. 3 Abs. 1 lit. h RL 2005/36/EG) vorschreiben.174 Diese Anerkennung eröffnet unmittelbar den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf, wenn der Aufnahmestaat keine weiteren Voraussetzungen vorschreibt. Auch wenn die RL 2005/36/EG das nicht ausdrücklich vorsieht,175 kann der Aufnahmestaat eine Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer des Aufnahmestaats verlangen.176 Weil die Berufsanerkennungsrichtlinie neben den Richtlinien 77/249/EWG und 98/5/EG gelten soll, ist in der Literatur der Vorwurf der „Verwässerung“ des besonders geregelten Qualifikationsniveaus erhoben worden.177 5. Grenzüberschreitende anwaltliche Dienstleistungen nach Maßgabe der Richtlinie 2006/123/EG

65 Die Dienstleistungsrichtlinie findet auf anwaltliche Tätigkeiten grundsätzlich Anwendung. Lediglich für bestimmte Bereiche ist ihre Geltung beschränkt, zB für die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach Art. 16 RL 123/2006/EG, für Angelegenheiten, die in den Anwendungsbereich der RL 77/249/EWG fallen.178 Umstritten ist, ob damit das gesamte Tätigkeitsspektrum der in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwälte von den Verpflichtungen nach Art. 16 Dienstleistungsrichtlinie ausgeschlossen ist179 oder nur soweit Angelegenheiten (spezialgesetzlich) in der RL 77/249/EWG geregelt sind.180 Die Auffassung, die Art. 17 Ziff. 4 RL 123/2006/EG enger interpretiert, kann den Wortlaut der Vorschrift („Angelegenheiten, die unter die RL 77/249/EWG … fallen“) und den breiten horizontalen Ansatz der Dienstleistungsrichtlinie181 für sich in Anspruch nehmen. Ein anderer Bereich, in dem die Dienstleistungsrichtlinie ausgeschlossen ist, betrifft Anforderungen an den Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung.182 6. Rechtsanwälte betreffende Spezifika a) Legal privilege 66 Maßgebend in der Entscheidung „AM & S“ (1982) hat der EuGH die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant („legal privilege“) als durch das Unions173 174 175 176 177 178 179 180 181 182

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Art. 13 RL 2005/36/EG. Art. 14 Abs. 3 RL 2005/36/EG. S. aber Erwägungsgrund 11. EuGH 3.2.2011 – C-359/09, Slg 2011 I-269 Rn. 38 – Ebert – zur RL 89/48/EWG; iErg ebenso Frenz/ Wübbenhorst NJW 2011, 1262 (1263). Mann EuZW 2004, 615 (618) ausdrücklich für Ärzte. Art. 17 Ziff. 4 RL 2006/123/EG. Schmidt-Kessel in Schlachter/Ohler, Art. 17 Rn. 64. Kämmerer, S. H 63. Vgl. Erwägungsgrund 7 RL 2006/123/EG. Art. 23 Abs. 3 RL 2006/123/EG, vgl. etwa Art. 6 RL 89/5/EG.

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recht geschützt erkannt. Zwar werden in den Mitgliedstaaten mit der Gewährleistung dieses besonderen Vertrauensverhältnisses verschiedene Ziele verfolgt – in einigen Mitgliedstaaten um die dem Anwaltsberuf zuerkannte Bedeutung eines Mitgestalters der Rechtspflege willen, in anderen Mitgliedstaaten stärker unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung –, in allen Mitgliedstaaten wird die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant aber unter vergleichbaren Voraussetzungen geschützt. Der EuGH stellt zwei Voraussetzungen auf: Erstens muss der Schriftwechsel im Rahmen und im Interesse des Rechts des Mandanten auf Verteidigung geführt werden. Damit die „volle Ausübung der Rechte der Verteidigung“ möglich ist, muss sich dieser ipso iure auf den gesamten Schriftwechsel während eines Verwaltungsverfahrens beziehen und ggf. auch auf einen früheren Schriftwechsel, der mit dem Gegenstand dieses Verfahrens im Zusammenhang steht. Zweitens besteht dieser Schutz nur, wenn er von unabhängigen Rechtsanwälten ausgeht, dh von Anwälten, die nicht durch einen Dienstvertrag an den Mandanten gebunden sind. Das beruht auf der spezifischen Vorstellung von der Funktion des Anwalts als eines Mitgestalters der Rechtspflege, der in völliger Unabhängigkeit und in deren vorrangigem Interesse dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die dieser benötigt.183 Für Beziehungen mit Syndikusanwälten – das führt der EuGH in „Akzo Nobel“ (2010)184 noch einmal explizit aus – gilt das legal privilege nicht. Ihnen fehlt es an der erforderlichen Unabhängigkeit, weil sie „nicht denselben Grad an Unabhängigkeit von ihrem Arbeitgeber“ genießen und außerdem können sie in einem Unternehmen auch mit anderen Tätigkeiten beauftragt sein. Zudem sei zu berücksichtigen, dass es in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten keine allgemeine Tendenz gebe, die Syndikusanwälte den selbstständig praktizierenden Anwälten gleichzustellen.185 b) Geldwäsche Die Richtlinie 2015/849/EU zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwe- 67 cke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung findet auf Notare und andere selbstständige Angehörige von rechtsberatenden Berufen Anwendung, wenn sie im Namen und auf Rechnung ihres Klienten Finanz- oder Immobilientransaktionen durchführen oder für ihren Klienten an der Planung oder Durchführung von Transaktionen mitwirken. Deren Tätigkeit muss eine der fünf folgenden Alternativen betreffen: den Kauf und Verkauf von Immobilien oder Gewerbebetrieben; die Verwaltung von Geld, Wertpapieren oder sonstigen Vermögenswerten ihres Klienten; die Eröffnung oder Verwaltung von Bank-, Spar- oder Wertpapierkonten; die Beschaffung der zur Gründung, zum Betrieb oder zur Verwaltung von Gesellschaften erforderlichen Mittel oder die Gründung, den Betrieb oder die Verwaltung von Trusts, Gesellschaften, Stiftungen oder ähnlichen Strukturen. Auch Dienstleister für Trusts oder Gesellschaften unterliegen der RL 2015/849.186 Es gelten besondere Sorgfaltspflichten wie die Feststellung der Identität des Kunden und Überprüfung der Kundenidentität, die Feststellung der Identität des wirtschaftlichen Eigentümers und Ergreifung angemessener Maßnahmen zur Überprüfung, die Bewertung und gegebenenfalls Einholung von Informationen über den Zweck und die angestrebte Art der Geschäftsbeziehung sowie die kontinuierliche Überwachung der Geschäftsbeziehung (auch Überprüfung etwaiger Transaktionen hinsichtlich der Geschäftstätigkeit des Kunden, seines Risikoprofils sowie Gewährleistung, dass die betreffenden Dokumente, Daten oder Informationen auf aktuellem Stand sind; Art. 13 RL 2015/849/EU). Die Richt183 184 185 186

EuGH 18.5.1982 – Rs. 155/79, Slg 1982, 1575 Rn. 20–24 – AM & S. EuGH 14.9.2010 – C-550/07 P, Slg 2010, I-8301 Rn. 44 – Akzo Nobel. Krit. Moosmayer NJW 2010, 3548 (3550); anders: Schnichels/Resch EuZW 2011, 47 (49). Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b und c RL 2015/849/EU.

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§ 2 Recht der Freien Berufe linie unterscheidet je nach Risiko zwischen vereinfachten und verstärkten Sorgfaltspflichten. Sollten die Rechtsanwälte ihren Sorgfaltspflichten gegenüber den Kunden nicht nachkommen können, dürfen sie keine Transaktion über ein Bankkonto vornehmen, keine Geschäftsbeziehung begründen und keine Transaktionen ausführen. Sie müssen die Geschäftsbeziehung ggf. beenden und in Erwägung ziehen, eine Verdachtsmeldung an die zentrale Meldestelle zu erstatten. Für Notare, Rechtsanwälte und andere kann davon eine Ausnahme gemacht werden, wenn diese die Rechtslage für einen Klienten beurteilen oder ihn in oder im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren verteidigen oder vertreten, wozu auch eine Beratung über das Betreiben oder Vermeiden eines Verfahrens zählt (Art. 14 Abs. 4 RL 2015/849/EU). Die besonderen Informations- und Zusammenarbeitsverpflichtungen mit den für die Bekämpfung der Geldwäsche zuständigen Behörden verletzen das Recht auf ein faires Verfahren, wie es durch Art. 6 EMRK iVm Art. 6 Abs. 2 EUV gewährleistet wird, nicht.187 c) Anwaltsgebührenrecht

68 Für das Anwaltsgebührenrecht ist das Urteil „Cipolla und Meloni“188 wegweisend, in dem der EuGH über das in einer (von einer berufsständischen Vertretung von Rechtsanwälten vorgeschlagenen und von staatlicher Seite genehmigten (→ Rn. 97 ff.)189 Gebührenordnung geregelte Verbot, von Mindesthonoraren abzuweichen, entschied. In einer Gebührenordnung kann eine Verletzung der aktiven Dienstleistungsfreiheit liegen, weil Rechtsanwälten aus anderen Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen wird, durch geringere Honorarforderungen mit den inländischen Rechtsanwälten wirksam in Konkurrenz zu treten, denen es grundsätzlich leichter fällt als niedergelassenen Rechtsanwälten, sich einen Mandantenstamm aufzubauen. Eine Verletzung der passiven Dienstleistungsfreiheit kann vorliegen, weil für Dienstleistungsempfänger mittelbar die Möglichkeit eingeschränkt wird, Dienstleistungen ausländischer Rechtsanwälte in Anspruch zu nehmen, die bereit sind, für einen geringeren Preis tätig zu werden. In der Tat fordert nun auch die Dienstleistungsrichtlinie von den Mitgliedstaaten ein Screening, ob ihre Vorschriften die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von der „diskriminierenden Anforderung“ festgesetzter Mindest- und/oder Höchstpreise durch den Dienstleistungserbringer abhängig macht.190 69 Eine Mindestgebühr kann aus Gründen des Verbraucherschutzes und einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sein, um also eine gewisse Qualität anwaltlicher Dienstleistungen zu gewährleisten. Dann muss aber auch sichergestellt sein, dass das Verbot, niedrigere Preise zu verlangen, zum einen geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Zieles zu garantieren, und zum anderen nicht über das zur Erreichung dieses Zieles Erforderliche hinausgeht. Es kommt insbes. darauf an, ob es eine Wechselbeziehung zwischen der Honorarhöhe und der Qualität der von den Rechtsanwälten erbrachten Dienstleistungen gibt und ob die Festsetzung derartiger Mindesthonorare geeignet ist, die verfolgten Ziele, nämlich den Schutz der Verbraucher und die geordnete Rechtspflege, zu erreichen.191 Der 187 Sa EuGH 26.6.2007 – C-305/05, Slg 2007, I-5301 – Ordre des barreaux francophones et germanophone. 188 EuGH 5.12.2006 – C-94/04 und C-202/04, Slg 2006, I-11421 – Cipolla und Meloni. 189 Irrelevant allerdings für Deutschland: Nuckelt in Kluth, Jahrbuch, S. 294; anders für Österreich, wo neben dem Rechtsanwaltstarifgesetz die Allgemeinen Honorar-Kriterien (AHK) des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages gelten. 190 Art. 15 Abs. 2 lit. g RL 2006/123/EG; vgl. die Kritik der Monopolkommission an Gebührenordnungen für Rechtsanwälte: Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005 v. 25.8.2006, BT-Drs. 16/2460, 396 f. 191 Ausdrücklich EuGH 5.12.2006 – C-94/04 und C-202/04, Slg I-11421 Rn. 64 f. – Cipolla und Meloni; sa EuGH 23.11.2017 – C-427/16, ECLI:EU:C:2017:890 – CHEZ Elektro Bulgaria.

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EuGH legt Wert auf die Feststellung, dass hohe Mindesthonorare die Mitglieder des Berufsstands nicht davon abhalten, minderwertige Dienstleistungen zu erbringen, meint aber, dass nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass durch solche Honorare ein Konkurrenzkampf zwischen Anwälten vermieden wird, der zu Billigangeboten führt, was das Risiko eines Verfalls der Qualität der erbrachten Dienstleistungen zur Folge haben kann. Das gilt jedenfalls, wenn sich der betreffende Markt durch eine große Anzahl zugelassener und praktizierender Anwälte auszeichnet. Außerdem erkennt der EuGH, dass eine Bewertung der juristischen Dienstleistungen für den Verbraucher regelmäßig nur schwer möglich ist, weil dieser das erforderliche Fachwissen nicht hat (Asymmetrie der Information). Jedoch sind pauschale Antworten nicht möglich. Es muss im Einzelfall geklärt werden, ob die geltenden Berufsregeln, insbes. die Vorschriften über die Organisation, die Qualifikation, das Standesrecht, die Kontrolle und die Haftung erforderlich sind, um die Ziele des Verbraucherschutzes und der geordneten Rechtspflege zu erreichen. Gesetzlich festgelegte Höchsthonorare sind nicht von vornherein eine Beeinträchtigung 70 der Grundfreiheiten, etwa weil ausländische Rechtsanwälte Zusatzkosten nicht abrechnen können, somit ihre Gewinnspannen reduziert werden und ihre Wettbewerbsfähigkeit damit Einbußen erleidet. Das gilt jedenfalls dann nicht, wenn die Gebührenordnung so flexibel ist, dass der Zugang unter den Bedingungen eines „normalen“ und „wirksamen“ Wettbewerbs nicht beeinträchtigt wird. Das kann der Fall sein, weil Rechtsanwälte besondere Vereinbarungen mit ihren Mandanten zur Gebührenhöhe schließen oder angemessene Gebühren für umfangreiche, komplexe und schwierige Angelegenheiten oder für Fälle außergewöhnlicher Belastung geltend machen können.192 d) Vorbereitungsdienst und universitäre Ausbildung Der Rechtsreferendar ist Arbeitnehmer iSv Art. 45 AEUV. Die Ausbildung als Rechtsrefe- 71 rendar ist aber keine Ausübung öffentlicher Gewalt (Art. 45 Abs. 4 AEUV), weil Rechtsreferendare nach Weisung und unter Aufsicht eines Ausbilders tätig werden, ihre Tätigkeiten nicht zur öffentlichen Verwaltung im eigentlichen Sinne gehören und keine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen.193 Mangels einer europarechtlichen Harmonisierung der praktischen Vorbereitungszeit – ins- 72 bes. sind die RL 98/5/EG und die RL 2005/36/EG194 nicht einschlägig – können die Mitgliedstaaten grundsätzlich selbst festlegen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung eines Berufs erforderlich sind. Diese Voraussetzungen dürfen aber keine ungerechtfertigte Behinderung bei der tatsächlichen Ausübung der Grundfreiheiten darstellen. Deshalb müssen die in anderen Mitgliedstaaten bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten berücksichtigt werden. Das Prüfungsverfahren muss so ausgestaltet sein, dass es den Behörden des Aufnahmestaats möglich ist, objektiv festzustellen, ob ein ausländisches Diplom seinem Inhaber die gleichen oder zumindest gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie das innerstaatliche Diplom bescheinigt (sog Äquivalenzprüfung). Erforderlich ist eine „Gesamtbeurteilung“.195 Diese Beurteilung muss ausschließlich danach erfolgen, welches Maß an Kenntnissen und Fähigkeiten dieses Diplom unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums und der praktischen Ausbildung, auf die es sich bezieht, bei seinem Besitzer „vermuten“ lässt.196 Objektiven Unterschieden hinsichtlich des im Herkunftsstaat für den betreffenden Beruf bestehenden rechtlichen Rahmens sowie des Tätig192 193 194 195 196

EuGH 29.3.2011 – C-565/08, Slg 2010, I-4341 Rn. 53 – Kommission/Italien. EuGH 10.10.2009 – C-345/08, Slg 2009, I-11677 Rn. 30 f. – Pesla. Zur Vorgängervorschrift: EuGH 13.11.2003 – C-313/01, Slg 2003, I-13467 Rn. 52 – Morgenbesser. EuGH 13.11.2003 – C-313/01, Slg 2003, I-13467 Rn. 66 – Morgenbesser. EuGH 13.11.2003 – C-313/01, Slg 2003, I-13467 Rn. 68 – Morgenbesser.

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keitsbereichs dieses Berufes kann Rechnung getragen werden. Im Falle des Anwaltsberufs darf ein Mitgliedstaat somit eine vergleichende Prüfung der Diplome unter Berücksichtigung der festgestellten Unterschiede zwischen den betroffenen nationalen Rechtsordnungen vornehmen.197 Der Aufnahmestaat muss nicht niedrigere Anforderungen an die juristischen Kenntnisse des Bewerbers stellen als sie in dem Zeugnis ausgewiesen werden, die der Aufnahmestaat für die Zulassung zum Vorbereitungsdienst verlangt. Kann aber nur eine Teilkenntnis oder -fähigkeit festgestellt werden, darf der Aufnahmestaat keine vollständige Prüfung verlangen, sondern nur soweit Kenntnisse und Fähigkeiten nicht nachgewiesen sind. 73 Anders stellt sich die Situation dar, wenn der Antragsteller die Zulassung zum Rechtsanwaltsberuf in einem Mitgliedstaat beantragt, der ein universitäres Studium und eine praktische Vorbereitungszeit verlangt, er in diesem Aufnahmestaat aber nur ein universitäres Studium abgeschlossen hat, dann aber in einem anderen Mitgliedstaat nach Belegung einiger Lehrgänge und Ergänzungsprüfungen den Nachweis für die Zulassung zum Rechtsanwaltsberuf erlangt hat, weil dort, also in diesem Herkunftsstaat, eine praktische Vorbereitungszeit nicht vorgesehen ist. Nach dem Urteil „Koller“198 zur RL 89/48/EWG hat der Antragsteller eine Zulassung zum Rechtsanwaltsberuf in einem Mitgliedstaat erlangt, die von dem Aufnahmestaat zu berücksichtigen ist. Dh weder, dass die Anerkennung eines Studienabschlusses (Homologation) selbst als Diplom iSd Berufsanerkennungsrichtlinie199 zu qualifizieren ist, auf die sich der Bewerber berufen könnte, noch dass der Aufnahmestaat keine Eignungsprüfung verlangen kann. Der Aufnahmestaat darf aber den Zugang zur Eignungsprüfung nicht deshalb versagen, weil der Nachweis fehlt, dass der Bewerber die nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats geforderte praktische Verwendung absolviert hat. Der Aufnahmestaat hat zuvor zu prüfen, ob die vom Bewerber im Rahmen seiner Berufspraxis erworbenen Kenntnisse die wesentlichen Unterschiede beider Ausbildungssysteme ganz oder teilweise ausgleichen können. Allein, dass ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in diesem Staat einen Universitätsabschluss erworben hat, sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erwerben, und danach in den Mitgliedstaat, dem er angehört, zurückkehrt, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der Berufsbezeichnung auszuüben, die er in dem Mitgliedstaat erlangt hat, in dem er auch die betreffende Qualifikation erworben hat, liegt noch keine missbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts nach Art. 3 RL 98/5/EG. Das ist nach EuGH selbst dann der Fall, wenn die Eintragung in das Verzeichnis der niedergelassenen Rechtsanwälte im Aufnahmemitgliedstaat kurze Zeit nach dem Erwerb der Berufsbezeichnung im Herkunftsmitgliedstaat beantragt wurde.200 Vielmehr wird gerade eines der Ziele der RL 98/5/EG erreicht, nämlich die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, zu erleichtern. e) Rechtsschutzversicherung 74 Für die Rechtschutzversicherung gilt die RL 2009/138/EG betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II. Aus Art. 201 RL 2009/138/EG folgt das Recht der Versicherten, ihren Rechtsanwalt grund197 EuGH 7.5.1991 – C-340/89, Slg 1991, I-2379 Rn. 18 – Vlassopoulou; EuGH 10.10.2009 – C-345/08, Slg 2009, I-11677 Rn. 34 f. – Pesla. 198 EuGH 22.12.2010 – C-118/09, Slg 2010, I-13627 – Koller; dazu Frenz/Wübbenhorst NJW 2011, 2849 ff. 199 Zur RL 89/48/EWG: EuGH 29.9.2009 – C-311/06, Slg 2009, I-415 Rn. 57 – Consiglio Nazionale degli Ingegneri. 200 EuGH 17.7.2014 – C-58/13, ECLI:EU:C:2014:2088 Rn. 50, 51 – Torresi.

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sätzlich frei zu wählen. Deshalb kann sich der Rechtsschutzversicherer für den Fall, dass eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern durch dasselbe Ereignis geschädigt ist, nicht das Recht vorbehalten, selbst den Rechtsvertreter aller betroffenen Versicherungsnehmer auszuwählen.201 Allerdings bezweckt die Richtlinie keine vollständige Harmonisierung der Rechtsschutzversicherungsverträge der Mitgliedstaaten. Die RL 2009/138/EG schließt eine Regelung nicht aus, wonach eine Versicherung nur für Fälle gilt, die sich aus dem Einsatz von Straßenfahrzeugen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ergeben, die Versicherung an einen Vertrag über den Beistand gebunden ist, der bei einem Unfall mit oder einem Schaden an einem Straßenfahrzeug zu gewähren ist, weder das Rechtsschutzversicherungsunternehmen noch der Beistandsversicherer Haftpflichtversicherungszweige abdecken und Vorkehrungen getroffen werden, damit die Rechtsberatung und die Vertretung der Parteien in einem Streitfall durch völlig unabhängige Rechtsanwälte sichergestellt wird, wenn diese Parteien bei ein und demselben Versicherungsunternehmen rechtsschutzversichert sind.202

II. Notare 1. Notariat: öffentliches Amt, aber keine Ausübung öffentlicher Gewalt In den meisten europäischen Ländern gilt das „lateinische Notariat“, dh dass der Notar 75 ein öffentliches Amt ausübt. Ausdrücklich ist das in Deutschland203 und in Österreich204 („vom Staat bestellt und in ihr öffentliches Amt eingeführt“) geregelt, außerdem in Frankreich,205 Luxemburg206 („officiers publics“), in Belgien207 („fonctionnaires publics“), in Portugal208 („oficial público“), in Lettland209 und in Griechenland,210 wo Notare als „unentgeltlich tätige öffentliche Bedienstete“ bezeichnet werden. Das Notariat wird in diesen Ländern freiberuflich ausgeübt. 211 Damit ist die für das Notariat wesentliche Frage bereits aufgeworfen, nämlich ob die notarielle Tätigkeit eine die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit ausschließende öffentliche Gewalt iSv Art. 51 AEUV ist. Die Diskussion über die Möglichkeit einer unionsrechtlichen Liberalisierung des Notariatswesens ist jahrelang geführt worden.212 Das Europäische Parlament hatte in mehreren Entschließungen seine Auffassung bekräftigt, dass es sich bei notariellen Tätigkeiten um Ausübung öffentlicher Gewalt handeln soll.213

201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211

212 213

EuGH 10.9.2009 – C-199/08, Slg 2009, I-8295 Rn. 68 – Eschig – zur RL 87/344/EWG. Art. 202 Abs. 1 RL 2009/138/EU. Bundesnotarordnung v. 24.2.1961, BGBl. 1961 I 97. Notariatsordnung v. 25.7.1871, RGBl. Nr. 75/1871 idF des BGBl. I Nr. 164/2005. Ordonnance Nr. 45-2590 v. 2.11.1945 über die Stellung des Notariats, JORF v. 3.11.1945, S. 7160 idF GesetzNr. 2004-130 v. 11.2.2004, JORF v. 12.2.2004, S. 2847. Gesetz v. 9.12.1976 zur Ausgestaltung des Notariats (Mémorial A 1976, S. 1230). Gesetz v. 25. Ventôse des Jahres XI zur Organisierung des Notariats in der Fassung des Gesetzes v. 4.5.1999. Decreto-Lei Nr. 26/2004 vom 4. Februar 2004 zum Erlass des Notariatsstatuts (Diário da República I, Serie A, Nr. 29, vom 4. Februar 2004. Art. 238 Notariāta likums v. 9.7.1993, Latvijas Vēstnesis, 1993, Nr. 48. Gesetz 2830/2000 v. 16.3.2000 (FEK A’ 96/16.3.2000). EuGH 24.5.2011 – C-47/08, Rn. 8 – belgische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-50/08, Rn. 2 – französische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-51/08, Rn. 8 – luxemburgische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-52/08, Rn. 8 – portugiesische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-53/08, Rn. 10 – österreichische Notare; EuGH 24.5.2011 – C-54/08, Rn. 10 – deutsche Notare; EuGH 24.5.2011 – C-61/08, Rn. 8 – griechische Notare; EuGH 10.9.2015 – C-151/14, Rn. 3 – lettische Notare. Vgl. nur Schmid/Pinkel HanseLR 2009, 129 ff. mwN Entschließung des Europäischen Parlaments v. 23.3.2006 zu den Rechtsberufen und dem allgemeinen Interesse an der Funktionsweise der Rechtssysteme, ABl. C 292E, 105, Nr. 17; Entschließung v.

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76 1987 hatte der EuGH Gelegenheit, die Tätigkeit der niederländischen Notare umsatzsteuerrechtlich zu würdigen und festgestellt, dass sie nicht in einem Unterordnungsverhältnis zum Staat stehen, „da sie nicht in die öffentliche Verwaltung eingegliedert sind.“ Nach der streitmaßgeblichen Umsatzsteuerrechtlinie waren unselbstständige Tätigkeiten nicht umsatzsteuerpflichtig: Der EuGH verwies darauf, dass sie ihre Tätigkeit für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübten, dass sie in bestimmten, gesetzlich festgelegten Grenzen frei die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit regelten und das Entgelt selbst, das ihr Einkommen darstellte, vereinnahmten.214 Erst im Jahr 2011 nahm der EuGH dann ausdrücklich zu dieser Frage Stellung und hielt fest, dass die Beurkundungstätigkeit von Notaren in Deutschland, Portugal, Österreich, Luxemburg, Belgien, Frankreich und Griechenland keine Ausübung „öffentlicher Gewalt“ ist: Die Ausnahmeregelung des Art. 51 AEUV muss auf Tätigkeiten beschränkt werden, die als solche „unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind“.215 Für das Verfassen von Privaturkunden und die Vertretung von Parteien in bestimmten Fällen ist das offensichtlich nicht der Fall, für die Errichtung öffentlicher Urkunden stellte er auf die erforderliche Zustimmung der Parteien ab sowie darauf, dass sich die Parteien einer Beurkundung freiwillig unterwerfen. Als Gerichtskommissär, zB in Verlassenschaftssachen (etwa Erbschaftsangelegenheiten), scheidet seine Tätigkeit als Ausübung öffentlicher Gewalt aus, weil diese unter Aufsicht eines Gerichts ausgeübt wird, dem auch Letztentscheidungsbefugnis zukommt. 2. Zur Geltung der Dienstleistungsrichtlinie und der Berufsanerkennungsrichtlinie 77 Die Dienstleistungsrichtlinie findet auf „Tätigkeiten von Notaren …, die durch staatliche Stellen bestellt werden“, keine Anwendung.216 Darüber hinaus gelten die Vorgaben der Dienstleistungsfreiheit nach Maßgabe des Art. 16 Dienstleistungsrichtlinie nicht für Handlungen, für die die Mitwirkung eines Notars gesetzlich vorgeschrieben ist.217 78 Es ist davon auszugehen, dass auch die Berufsanerkennungsrichtlinie nicht auf Notare anzuwenden ist.218 Das hat der Richtliniengesetzgeber zwar nicht ausdrücklich geregelt, in Erwägungsgrund 41 der Berufsanerkennungsrichtlinie wird aber ausgeführt, dass „diese Richtlinie … nicht die Anwendung des Artikels 39 Absatz 4 [jetzt Art. 45 Abs. 4 AEUV] und des Artikels 45 [jetzt Art. 51 AEUV] des Vertrags, insbesondere auf Notare“ berührt. Im Gesetzgebungsverfahren hatte das Europäische Parlament in seiner legislativen Entschließung vorgeschlagen, ausdrücklich anzugeben, dass sie nicht für Notare gilt. Dieser Vorschlag wurde aber weder im geänderten Vorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates219 noch im Gemeinsamen Standpunkt220 übernommen, was seinen Grund aber darin hatte, dass die betreffenden Organe davon ausgingen, dass notarielle Tätigkeiten bereits durch Art. 51 AEUV ausgeschlossen sind. Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte und wegen der systematischen Unsicherheit – so der EuGH – war es nicht möglich festzu-

214 215 216 217 218 219 220

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18.1.1994 zur Lage und Organisation des Notarstands in den zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, ABl. C 44, 36, Nr. 2. EuGH 26.3.1987 – Rs. 235/85, Slg 1984, I-1471. Rn. 14 – niederländische Notare und Gerichtsvollzieher. EuGH 24.5.2011 – C-53/08, Rn. 87 – österreichische Notare; EuGH 9.3.2017 – C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196 Rn. 54 – Piringer. Art. 2 Abs. 2 lit. l RL 2006/123/EG. Art. 17 Ziff. 12 RL 2006/123/EG. Wie hier Gärditz EWS 2012, 209 (212); aA Schmid/Pinkel NJW 2011, 2928 (2929); iErg wie hier wohl Henssler/Kilian NJW 2012, 481 (486). Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (KOM[2004] 317 endg.). Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 10/2005 v. 21.12.2004.

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stellen, dass bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eine hinreichend klare Verpflichtung für die Mitgliedstaaten bestanden hatte, die Berufsanerkennungsrichtlinie in Bezug auf den Beruf des Notars umzusetzen.221 Nach einem Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 2011 sollte der Beruf des Notars in den Anwendungsbereich der Berufsanerkennungsrichtlinie ausdrücklich aufgenommen werden. Bei Anträgen auf Anerkennung einer Niederlassung sollten die Mitgliedstaaten die erforderliche Eignungsprüfung oder den erforderlichen Anpassungslehrgang vorschreiben können, „damit jegliche Diskriminierung in den einzelstaatlichen Auswahl- und Ernennungsverfahren vermieden wird“. Allerdings sollten Notare im freien Dienstleistungsverkehr keine öffentlichen Urkunden anfertigen oder sonstige das Siegel des Aufnahmemitgliedstaats bedürfende Beglaubigungen durchführen können.222 3. Die Grundfreiheiten als maßgeblicher Rechtsrahmen Damit wird der maßgebliche Rechtsrahmen für Notare durch die Grundfreiheiten be- 79 stimmt,223 insbes. durch die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Weil mit den notariellen Tätigkeiten im Allgemeininteresse liegende Ziele verfolgt werden, die insbes. dazu dienen, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten, also aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ iSd „Cassis“–Rechtsprechung des EuGH, können nationale Gesetze grenzüberschreitende notarielle Tätigkeiten beschränken. Was zB die Erstellung von Urkunden betrifft, können die Funktionsfähigkeit des Grundbuchsystems und die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zwingende Gründe des Allgemeinwohls sein, um diese Tätigkeiten einer bestimmten Berufsgruppe vorzubehalten, „die öffentliches Vertrauen genießt und über die der betreffende Mitgliedstaat eine besondere Kontrolle ausübt.“224 Damit können bestimmte Tätigkeiten also dem Notariat vorbehalten bleiben. Diese Tätigkeiten dürfen aber nicht auf eine bloße Bestätigung der Echtheit von Unterschriften beschränkt sein, sondern müssen auch mit einer Prüfung des Vorgangs einhergehen225 (zB Vergewisserung der Ordnungsmäßigkeit der geplanten Transaktion, Feststellung der Geschäftsfähigkeit der Parteien etc).226 Ausdrücklich hat der EuGH zugelassen: die besonderen Vergabeverfahren zu ihrer Bestellung, die Beschränkung ihrer Zahl und ihrer örtlichen Zuständigkeit sowie Regelungen, die ihre Bezüge betreffen, ihre Unabhängigkeit und die Unvereinbarkeit mit Ämtern und ihre Unabsetzbarkeit, soweit diese Beschränkungen zur Erreichung der genannten Ziele geeignet und erforderlich sind.227 Unzulässig – weil eine direkte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit – ist aber der in einigen mitgliedstaatlichen Notariatsgesetzen geregelte Staatsangehörigkeitsvorbehalt. Umgekehrt kann es aber – je nach mitgliedstaatlicher Regelung – zulässig sein, dass Notare Schriftstücke im Ausland beurkunden.

221 EuGH 24.5.2011 – C-53/08, Rn. 144, 145 – österreichische Notare. 222 Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems, KOM(2011)0883 endg. 223 Lorz DNotZ 2011, 491 (497); Fuchs Urteilsanmerkung EuZW 2011, 475; Waldhoff EuZW 2017, 382 (385). 224 EuGH 9.3.2017 – C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196 Rn. 65 – Piringer. 225 Stöger NZ 2017, 161 (165 f.) 226 EuGH 9.3.2017 – C-342/15, ECLI:EU:C:2017:196 Rn. 64 – Piringer. 227 EuGH 24.5.2011 – C-54/08, Rn. 98 – deutsche Notare.

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III. Heilberufe 1. Überblick 80 Wegen Fehlens sekundärrechtlicher Berufsanerkennungsvorschriften mussten Ärzte in jedem Einzelfall nachweisen, dass ihre Ausbildung im Herkunftsstaat der des Aufnahmestaats entspricht. Erst mit der Richtlinie 75/363/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes228 und der Richtlinie 75/362/EWG für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr229 konnten wichtige Harmonisierungsmaßnahmen durchgesetzt werden. Es folgten die Richtlinie 86/457/EWG über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin230 und die Richtlinie 93/16/EWG zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise,231 die im Jahr 2005 durch die Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG abgelöst wurde, die die bisherigen Vorschriften aber im Wesentlichen weiterführt. 81 Für eine Niederlassung werden folgende Diplome für Heilberufe grundsätzlich „automatisch“ iSv Art. 21 RL 2005/36/EG anerkannt: n Ausbildungsnachweise für die ärztliche Grundausbildung (Anhang V Nr. 5.1.1. RL 2005/36/EG) n Ausbildungsnachweise für den Facharzt (Anhang V Nr. 5.1.2. RL 2005/36/EG) n Ausbildungsnachweise für Krankenschwestern und Krankenpfleger (Anhang V Nr. 5.2.2. Berufsanerkennungsrichtlinie) n Ausbildungsnachweise des Zahnarztes (Grundausbildung) (Anhang V Nr. 5.3.2. Berufsanerkennungsrichtlinie) n Ausbildungsnachweise der Fachzahnärzte (Anhang V Nr. 5.3.3. Berufsanerkennungsrichtlinie) n Ausbildungsnachweise für den Tierarzt (Anhang V Nr. 5.4.2. Berufsanerkennungsrichtlinie) Allerdings müssen weitere, berufsspezifische Voraussetzungen (→ Rn. 84 ff.) erfüllt sein. 82 Liegen die Voraussetzungen für eine automatische Anerkennung nicht vor, ist eine erleichterte Anerkennung nach Art. 10 ff. Berufsanerkennungsrichtlinie möglich. Dafür ist zB ein Diplom vorzulegen, mit dem nachgewiesen wird, dass der Inhaber einen postsekundären Ausbildungsgang von mindestens vier Jahren oder eine Teilzeitausbildung von entsprechender Dauer, die zusätzlich in der entsprechenden Anzahl an ECTS-Punkten ausgedrückt werden kann, an einer Universität oder einer anderen Hochschule oder in einer anderen Ausbildungseinrichtung mit gleichwertigem Ausbildungsniveau erfolgreich abgeschlossen sowie gegebenenfalls die Berufsausbildung, die neben dem Studium gefordert wird, erfolgreich abgeschlossen hat.232 Für andere Diplome, Zeugnisse und Bescheinigun228 Richtlinie 75/363/EWG des Rates v. 16.6.1975 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes, ABl. L 167 v. 30.6.1975, 14. 229 Richtlinie 75/362/EWG des Rates v. 16.6.1975 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl. L 167 v. 30.6.1975, 1. 230 Richtlinie 86/457/EWG des Rates v. 15.9.1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin, ABl. L 267 v. 19.9.1986, 26. 231 Richtlinie 93/16/EWG des Rates v. 5.4.1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, ABl. L 165 v. 7.7.1993, 1. 232 Art. 11 lit. e RL 2005/36/EG.

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gen gelten weitere Voraussetzungen.233 Gleichgestellt sind Ausbildungsnachweise, die den erfolgreichen Abschluss einer in der EU erworbenen Ausbildung bescheinigen, von diesem Mitgliedstaat als gleichwertig anerkannt werden und die in Bezug auf die Aufnahme oder Ausübung eines Berufs dieselben Rechte verleihen oder auf die Ausübung dieses Berufs vorbereiten. Unter diesen Voraussetzungen sind auch solche Ausbildungsnachweise den Berufsqualifikationen gleichgestellt, die zwar nicht den Erfordernissen der Rechts- oder Verwaltungsvorschriften des Herkunftsmitgliedstaats für die Aufnahme oder Ausübung eines Berufs entsprechen, ihrem Inhaber jedoch erworbene Rechte verleihen.234 Wenn die Aufnahme oder Ausübung eines reglementierten Berufs in einem Aufnahmemitgliedstaat den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen voraussetzt, gestattet dieser den Antragstellern die Aufnahme oder Ausübung dieses Berufs unter denselben Voraussetzungen wie Inländern, sofern diese den Befähigungs- oder Ausbildungsnachweis nach Art. 11 Berufsanerkennungsrichtlinie besitzen.235 Die Aufnahme und Ausübung eines Berufs müssen auch den Antragstellern gestattet werden, die den betreffenden Beruf ein Jahr lang in Vollzeit oder während einer entsprechender Gesamtdauer in Teilzeit in den vorangegangenen zehn Jahren in einem anderen Mitgliedstaat, in dem dieser Beruf nicht reglementiert ist, ausgeübt haben und die im Besitz eines oder mehrerer in einem anderen Mitgliedstaat, in dem dieser Beruf nicht reglementiert ist, ausgestellten Befähigungs- oder Ausbildungsnachweise sind. 236 Wenn die Voraussetzung für eine Gleichstellung nicht erfüllt sind, können Ausgleichsmaßnahmen verlangt werden, dh ein Anpassungslehrgang oder eine Eignungsprüfung.237 Bei der Festsetzung von Ausgleichsmaßnahmen zur Beseitigung wesentlicher Unterschiede zwischen der Ausbildung eines Antragstellers und der im Aufnahmemitgliedstaat erforderlichen Ausbildung muss der Mitgliedstaat jede praktische Erfahrung berücksichtigen, die diese Unterschiede ganz oder teilweise ausgleichen kann.238 Die Berufsbezeichnung ist dann in der Amtssprache des Niederlassungsmitgliedstaats zu führen, und zwar so, dass keine Verwechslung mit der Berufsbezeichnung des Aufnahmemitgliedstaats möglich ist.239 Nur subsidiär kommt nach Maßgabe der „Vlassopoulou“-Rechtsprechung240 eine Aner- 83 kennung nach primärrechtlichen Grundsätzen in Betracht. Dann müssen die Mitgliedstaaten, die mit einem Antrag eines Gemeinschaftsangehörigen auf Zulassung zu einem Beruf befasst sind, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation oder von Zeiten praktischer Erfahrungen abhängt, sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstige Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Erfahrung des Betroffenen in der Weise berücksichtigen, dass sie die durch diese Nachweise und diese Erfahrung belegten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleichen.241 2. Ärzte Für die automatische Anerkennung ist eine Grundausbildung erforderlich. Die Zulassung 84 zur ärztlichen Grundausbildung setzt den Besitz eines Diploms oder eines Prüfungszeug233 234 235 236 237 238 239 240

Art. 11 lit. a–d RL 2005/36/EG. Art. 12 RL 2005/36/EG. Art. 13 Abs. 1 RL 2005/36/EG. Art. 14 Abs. 1 RL 2005/36/EG. Art. 14 Abs. 2, 3 UAbs. 2 RL 2005/36/EG. EuGH 2.12.2010 – C-422/09, Slg 2010, I-12411 Rn. 72 – Vandorou. Art. 7 Abs. 3 S. 2 RL 2005/36/EG. EuGH 7.5.1991 – C-340/89, Slg 1991, I-2379 Rn. 16 – Vlassopoulou; s. auch EuGH 21.9.2017 – C-125/16, ECLI:EU:C:2017:707 Rn. 53 – Malta Dental Technologists Association. 241 EuGH 14.9.2000 – C-238/98, Slg 2000, I-6640 Rn. 23 – Hocsman.

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nisses voraus, das für das betreffende Studium die Zulassung zu den Universitäten ermöglicht (Art. 24 Berufsanerkennungsrichtlinie). Die ärztliche Grundausbildung umfasst mindestens fünf Jahre und besteht aus mindestens 5.500 Stunden theoretischer und praktischer Ausbildung an einer Universität oder unter Aufsicht einer Universität.242 In inhaltlicher Hinsicht gewährleistet die ärztliche Grundausbildung, dass die betreffende Person angemessene Kenntnisse in den Wissenschaften, auf denen die Medizin beruht, und ein gutes Verständnis für die wissenschaftlichen Methoden, einschließlich der Grundsätze der Messung biologischer Funktionen, der Bewertung wissenschaftlich festgestellter Sachverhalte sowie der Analyse von Daten und angemessene Kenntnisse über die Struktur, die Funktionen und das Verhalten gesunder und kranker Menschen sowie über die Einflüsse der physischen und sozialen Umwelt auf die Gesundheit des Menschen erworben hat. Ferner wird gewährleistet, dass der Betreffende angemessene Kenntnisse hinsichtlich der klinischen Sachgebiete und Praktiken, die ihm ein zusammenhängendes Bild von den geistigen und körperlichen Krankheiten, von der Medizin unter den Aspekten der Vorbeugung, der Diagnostik und der Therapeutik sowie von der menschlichen Fortpflanzung vermitteln, und angemessene klinische Erfahrung unter entsprechender Leitung in Krankenhäusern erworben hat.243 Die Ausbildung kann teilweise in einem Drittland erfolgen, sofern die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, die das Diplom erteilt, diese Ausbildung anzuerkennen und dementsprechend festzustellen in der Lage ist, dass diese Ausbildung tatsächlich zur Erfüllung der in der Berufsanerkennungsrichtlinie normierten Anforderungen an die ärztliche Ausbildung beiträgt.244 Dabei sind die Behörden des aufnehmenden Mitgliedstaats an eine Anerkennungsbescheinigung gebunden, sofern keine neuen Gesichtspunkte auftreten, die ernste Zweifel daran begründen, ob das ihnen vorgelegte Diplom echt ist oder den einschlägigen Vorschriften entspricht.245 85 Die Zulassung zur fachärztlichen Weiterbildung246 darf erfolgen (vgl. Art. 25 Berufsanerkennungsrichtlinie), wenn eine ärztliche Grundausbildung abgeschlossen und als gültig anerkannt worden ist und angemessene medizinische Grundkenntnisse erworben wurden. Die Berufsanerkennungsrichtlinie behält alle Fachrichtungen bei, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie in mindestens zwei Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Neue medizinische Fachrichtungen müssen in mindestens zwei Fünfteln der Mitgliedstaaten vertreten sein.247 Die Weiterbildung zum Facharzt umfasst eine theoretische und praktische Ausbildung an einem Universitätszentrum, einer Universitätsklinik oder gegebenenfalls in einer hierzu von den zuständigen Behörden oder Stellen zugelassenen Einrichtung der ärztlichen Versorgung. Einzelheiten zu den konkreten Facharztausbildungen sind in Anhang V 5.1.3. der Berufsanerkennungsrichtlinie festgelegt. Die Facharztanwärter müssen in den betreffenden Abteilungen persönlich zur Mitarbeit herangezogen werden und Verantwortung übernehmen. Die Berufsanerkennungsrichtlinie sieht vor, dass die Weiterbildung als Vollzeitausbildung an besonderen Weiterbildungsstellen erfolgt und schließt die Beteiligung an sämtlichen ärztlichen Tätigkeiten in dem Bereich ein. Art. 25 Abs. 3 S. 3 Berufsanerkennungsrichtlinie schreibt dafür eine angemessene Vergütung vor. Die Ausstellung eines Ausbildungsnachweises des Facharztes ist nur zulässig, wenn ein Ausbildungsnachweis für die

242 Bei Berufsangehörigen, die ihre Ausbildung vor dem 1.1.1972 begonnen haben, kann die in UAbs. 1 genannte Ausbildung eine praktische Vollzeitausbildung von sechs Monaten auf Universitätsniveau unter Aufsicht der zuständigen Behörden umfassen: Art. 24 Abs. 2 S. 2 RL 2005/36/EG. 243 Im Einzelnen s. Art. 24 Abs. 3 RL 2005/36/EG. 244 EuGH 19.6.2003 – C-110/01, Slg 2003 I-6258 Rn. 70 – Tennah-Durez. 245 EuGH 19.6.2003 – C-110/01, Slg 2003 I-6258 Rn. 81– Tennah-Durez. 246 S. Art. 25 RL 2005/36/EG. 247 Erwägungsgrund 20 RL 2005/36/EG.

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ärztliche Grundausbildung vorliegt (Art. 25 Abs. 4 Berufsanerkennungsrichtlinie).248 Um die Mobilität von Ärzten, die bereits eine fachärztliche Qualifikation erworben haben und in der Folge eine andere Facharztausbildung absolvieren möchten, können die Mitgliedstaaten eine teilweise Befreiung von einigen Ausbildungselementen gewähren, wenn diese Ausbildungselemente im Rahmen eines früheren Facharztausbildungsprogramms in dem Mitgliedstaat absolviert wurden.249 Art. 28 Berufsanerkennungsrichtlinie regelt die besondere Ausbildung in der Allgemein- 86 medizin. Diese setzt grundsätzlich voraus, dass eine mindestens dreijährige Vollzeitausbildung (vor 1.1.2006: zweijährige Vollzeitausbildung) abgeschlossen wurde.250 Die besondere Ausbildung in der Allgemeinmedizin muss als Vollzeitausbildung unter der Aufsicht der zuständigen Behörden oder Stellen erfolgen. Sie ist mehr praktischer als theoretischer Art. Grundsätzlich hat die praktische Ausbildung während mindestens sechs Monaten in zugelassenen Krankenhäusern mit entsprechender Ausrüstung und entsprechenden Abteilungen stattzufinden. Außerdem muss die praktische Ausbildung für mindestens sechs Monate in einer zugelassenen Allgemeinpraxis oder in einem zugelassenen Zentrum für Erstbehandlung stattfinden. Sie erfolgt in Verbindung mit anderen Einrichtungen oder Diensten des Gesundheitswesens, die sich mit Allgemeinmedizin befassen. Die Anwärter müssen von den Personen, mit denen sie beruflich arbeiten, persönlich zur Mitarbeit herangezogen werden und müssen Mitverantwortung übernehmen. Außerdem muss jeder Mitgliedstaat die Ausübung des ärztlichen Berufs als praktischer 87 Arzt im Rahmen seines Sozialversicherungssystems vom Besitz eines anerkannten Ausbildungsnachweises abhängig machen. Ausnahmen gibt es für besonders erworbene Rechte, für Personen, die gerade eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin absolvieren, oder für die Erteilung von Ausbildungsnachweisen im Fall der Belegung einer anderen Zusatzausbildung, wenn damit der Erwerb äquivalenter Kenntnisse bescheinigt wird.251 3. Apotheker Das Apothekenwesen ist in den Mitgliedstaaten aus zwei Gründen besonders reglemen- 88 tiert: zum einen erfordert die Schutzbedürftigkeit der Verbraucher wegen der therapeutischen Wirkung von Medikamenten einen geregelten Zugang zu Medikamenten und eine fachkundige und unabhängige Beratung. Zum anderen sind den Apotheken zur Gewährleistung einer sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung bestimmte Bevorratungs- und Versorgungspflichten auferlegt.252 In einigen Mitgliedstaaten, etwa in Österreich, wird eine Apothekenkonzession sogar nur erteilt, wenn ein objektiver Bedarf besteht.253 Diese Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann gerechtfertigt werden, wenn sie sich als unerlässlich erweist, um eventuelle Lücken im Zugang zu Leistungen des Gesundheitswesens zu schließen und um die Einrichtung von Strukturen einer Doppelversorgung zu vermeiden, so dass eine Gesundheitsversorgung gewährleistet 248 Haage MedR 2008, 70 (76), schließt daraus, dass die Grundausbildung in einem Mitgliedstaat abgeschlossen sein muss. Das schließt aber nicht aus, dass die Grundausbildung in verschiedenen Mitgliedstaaten absolviert werden kann. 249 Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems, KOM(2011)0883 endg. 250 Vgl. Art. 28 Abs. 2 RL 2005/36/EG. 251 I. e. vgl. Art. 29 und 30 RL 2005/36/EG. 252 EuGH 22.11.2001 – C-53/00, Slg 2001, I-9098 – Ferring. 253 § 10 Abs. 1 Ziff. 2 Gesetz v. 18.12.1906 betreffend die Regelung des Apothekenwesens (Apothekengesetz), StF: RGBl. Nr. 5/1907: „Die Konzession für eine neu zu errichtende öffentliche Apotheke ist zu erteilen, wenn … ein Bedarf an einer neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke besteht“. Zur Verfassungsmäßigkeit: VfGH 2.3.1998 – VfSlg 1503/1998; Zirm, S. 92 ff.

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ist, die den Bedürfnissen der Bevölkerung angepasst ist, das gesamte Hoheitsgebiet abdeckt und geografisch isolierte oder in sonstiger Weise benachteiligte Regionen berücksichtigt.254 Eine Liberalisierung kann in diesen Fällen nicht auf die Dienstleistungsrichtlinie gestützt werden.255 Charakteristisch für nationale wettbewerbsbeschränkende Vorschriften im Apothekenwesen ist das Fremdbesitzverbot: Der EuGH lässt es (ausnahmsweise256) zu, wenn ein Mitgliedstaat Personen, die keine Apotheker sind, aus Gründen des Gesundheitsschutzes den Besitz und den Betrieb von Apotheken verwehrt. Denn nur dem Apotheker obliegt eine besondere Verantwortung, die einem übermäßigen Gewinnstreben mäßigend entgegenwirkt.257 89 Der Zugang zum Apothekerberuf ist im Binnenmarkt über die automatische Anerkennung nach der Berufsanerkennungsrichtlinie möglich, wenn der Apotheker das nach Anhang V Nr. 5.6.1. Berufsanerkennungsrichtlinie vorgegebene Ausbildungsprogramm nachgewiesen hat.258 Die Ausbildung hat – unter anderem – zu gewährleisten, dass angemessene Kenntnisse der Arzneimittel und der zur Arzneimittelherstellung verwendeten Stoffe, der pharmazeutischen Technologie und der physikalischen, chemischen, biologischen und mikrobiologischen Prüfung der Arzneimittel, des Metabolismus und der Wirkungen von Arzneimitteln und Giftstoffen sowie der Anwendung von Arzneimitteln, zur Beurteilung der die Arzneimittel betreffenden wissenschaftlichen Angaben zur Erteilung einschlägiger Informationen und der rechtlichen und sonstigen Voraussetzungen im Zusammenhang mit der Ausübung der pharmazeutischen Tätigkeiten erworben wurden.259 90 Durch den Ausbildungsnachweis des Apothekers muss eine abgeschlossene Ausbildung belegt werden, die sich auf einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren erstreckt und mindestens eine vierjährige theoretische und praktische Vollzeitausbildung an einer Universität oder einer Hochschule mit anerkannt gleichwertigem Niveau oder unter der Aufsicht einer Universität erfasst. Ferner muss ua ein sechsmonatiges Praktikum in einer der Öffentlichkeit zugänglichen Apotheke oder in einem Krankenhaus unter der Aufsicht des pharmazeutischen Dienstes dieses Krankenhauses absolviert werden. 91 Die Tätigkeiten des Apothekers, die durch eine Anerkennung zulässig sind, sind die Tätigkeiten, deren Aufnahme und Ausübung in einem oder mehreren Mitgliedstaaten beruflichen Eignungsbedingungen unterliegen und die den Inhabern eines der in Anhang Nr. 5.6.2. Berufsanerkennungsrichtlinie aufgeführten Ausbildungsnachweise offen stehen. Das betrifft in Deutschland ein Zeugnis über die Staatliche Pharmazeutische Prüfung, in Österreich das Staatliche Apothekerdiplom. Bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen – gegebenenfalls bei einer ergänzenden Berufserfahrung – ist dem Apotheker zumindest die Herstellung der Darreichungsform von Arzneimitteln, die Herstellung und Prüfung von Arzneimitteln, die Arzneimittelprüfung in einem Laboratorium für die Prüfung von Arzneimitteln, die Lagerung, Qualitätserhaltung und Abgabe von Arzneimitteln auf der Großhandelsstufe, die Bevorratung, Herstellung, Prüfung, Lagerung, Verteilung und Verkauf von unbedenklichen und wirksamen Arzneimitteln der erforderlichen Qualität in der Öffentlichkeit zugänglichen Apotheken, die Herstellung, Prüfung, Lagerung und Ver254 EuGH 13.2.2014 – C-367/12, ECLI:EU:C:2014:68 Rn. 24 – Sokoll-Seebacher. S. auch EuGH 30.6.2016 C-634/15– ECLI:EU:C:2016:510 – Sokoll-Seebacher II. 255 Art. 1 Abs. 2 RL 2006/123/EG, vgl. Art. 17 RL 2006/123/EG. 256 Kluth JZ 2010, 844 (847). 257 EuGH 19.5.2009 – C-171/07, Slg 2009 I-4171 Rn. 39 – Apothekerkammer des Saarlandes. 258 Dh Botanik und Zoologie, Physik, Allgemeine und anorganische Chemie, Organische Chemie, Analytische Chemie, Pharmazeutische Chemie, einschließlich Arzneimittelanalyse, Allgemeine und angewandte (medizinische) Biochemie, Anatomie und Physiologie, medizinische Terminologie, Mikrobiologie, Pharmakologie und Pharmakotherapie, Pharmazeutische Technologie, Toxikologie, Pharmakognosie, Rechtsvorschriften und gegebenenfalls Standesordnung. 259 Art. 44 Abs. 2 und 3 RL 2005/36/EG.

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D. Ausgewählte Freie Berufe

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kauf von unbedenklichen und wirksamen Arzneimitteln der erforderlichen Qualität in Krankenhäusern, die Information und Beratung über Arzneimittel als solche, einschließlich ihrer angemessenen Verwendung die Meldung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen an die zuständigen Behörden die personalisierte Unterstützung von Patienten bei Selbstmedikation und die Beiträge zu örtlichen oder landesweiten gesundheitsbezogenen Kampagnen möglich Sofern eine entsprechende Berufserfahrung erforderlich ist, erkennt der betreffende Mitgliedstaat260 die Bescheinigung des Herkunftsstaats als ausreichenden Nachweis an. Das ist nur das Mindesttätigkeitsfeld: die Betätigungsmöglichkeiten für Apotheker, insbesondere hinsichtlich der biomedizinischen Analysen, sollten weder ausgeschlossen werden, noch sollte ein Monopol für Apotheker begründet werden.261 Die Berufsanerkennungsrichtlinie soll weder darauf abzielen, die geografische Verteilung 92 der Apotheken noch das Abgabemonopol für Arzneimittel zu regeln. Sie soll auch nicht die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die Gesellschaften die Ausübung bestimmter Tätigkeiten des Apothekers verbieten oder ihnen für die Ausübung solcher Tätigkeiten bestimmte Auflagen machen, betreffen.262 Dennoch zu weit geht Art. 21 Abs. 4 Berufsanerkennungsrichtlinie: Die Vorschrift bestimmt bezüglich des Betriebs von Apotheken, die keinen territorialen Beschränkungen unterliegen, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, die in Anhang V Nummer 5.6.2. Berufsanerkennungsrichtlinie angeführten Ausbildungsnachweise für die Errichtung von neuen, der Öffentlichkeit zugänglichen Apotheken zuzulassen. Als solche sollen auch Apotheken gelten, die zu einem weniger als drei Jahre zurückliegenden Zeitpunkt eröffnet wurden. Diese Vorschrift widerspricht dem Diskriminierungsverbot Art. 18 EUV, der Niederlassungsfreiheit Art. 49 AEUV und erscheint insofern inkohärent, als eine objektive Berufswahlregelung (die Beschränkung des Apothekenmarktes) mit einer Regelung subjektiver Antrittsvoraussetzungen bewirkt werden soll. Die Kommission hat 2011 vorgeschlagen, diese Vorschrift aufzuheben.263 Liegen die Voraussetzung für eine automatische Anerkennung nicht vor, bleibt eine Ein- 93 zelanerkennung nach Art. 10 ff. Berufsanerkennungsrichtlinie bzw. auf der Grundlage einer Äquivalenzprüfung nach primärrechtlichen Grundsätzen.

IV. Architekten Auch für Architekten ist die Berufsanerkennungsrichtlinie von erheblicher Bedeutung. Der 94 Begriff Architekt ist anhand der Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats zu definieren und setzt somit nicht notwendigerweise voraus, dass der Antragsteller über eine Ausbildung und über Erfahrung verfügt, die nicht nur technische Tätigkeiten der Bauplanung, Bauaufsicht und Bauausführung umfasst, sondern auch künstlerisch-gestaltende, stadtplanerische, wirtschaftliche und gegebenenfalls denkmalpflegerische Tätigkeiten.264 Es gilt der Grundsatz der automatischen Anerkennung für die in Anhang V Nr. 5.7.1. Berufsanerkennungsrichtlinie angeführten Nachweise als Abschluss einer/s Ausbildung/ Studiums des Architekten (in Deutschland etwa Abschluss des Diplom–Ingenieurs an Universitäten, Technischen Hochschulen oder Fachhochschulen [Architekt/Hochbau], in 260 Für Sonderregeln zu Luxemburg und Auswahlverfahren vor 1985 vgl. Art. 45 Abs. 4 und 5 RL 2005/36/EG. 261 Erwägungsgrund 25 RL 2005/36/EG. 262 Ebd. 263 Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems, KOM(2011) 0883 endg. 264 EuGH 16.4.2015 – C-477/13, ECLI:EU:C:2015:239 Rn. 51 zu Art. 10 lit. c RL 2005/36 – Angerer – unter Hinweis auf EuGH 21.2.2013 – C-111/12 – Ordine degli Ingegneri.

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§ 2 Recht der Freien Berufe

Österreich auch Magister der Architektur). Dafür müssen ua folgende in Art. 46 Berufsanerkennungsrichtlinie genannte Voraussetzungen erfüllt sein: Das Studium muss hauptsächlich auf Architektur ausgerichtet sein. In dem Studium müssen die theoretischen und praktischen Aspekte der Architekturausbildung ausgewogen zur Geltung kommen. Es muss der Erwerb bestimmter Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen sichergestellt werden, ua die Fähigkeit zu architektonischer Gestaltung, Kenntnisse in den bildenden Künsten, Kenntnisse in der städtebaulichen Planung und Gestaltung, der Planung im Allgemeinen und in den Planungstechniken, Verständnis der Beziehung zwischen Menschen und Gebäuden sowie zwischen Gebäuden und ihrer Umgebung, Verständnis des Architekten für seinen Beruf und seine Aufgabe in der Gesellschaft, Kenntnis der Methoden zur Prüfung und Erarbeitung des Entwurfs für ein Gestaltungsvorhaben, Kenntnis der strukturellen und bautechnischen Probleme im Zusammenhang mit der Baugestaltung, Kenntnisse der physikalischen Probleme und der Technologien, die mit der Funktion eines Gebäudes im Rahmen nachhaltiger Entwicklung zusammenhängen, technische Fähigkeiten, die erforderlich sind, um den Bedürfnissen der Benutzer eines Gebäudes innerhalb der durch Kostenfaktoren und Bauvorschriften gesteckten Grenzen Rechnung zu tragen sowie Kenntnisse hinsichtlich Gewerbe, Organisationen, Vorschriften und Verfahren, die bei der praktischen Durchführung von Bauplänen betroffen sind, sowie der Eingliederung der Pläne in die Gesamtplanung. Weitere Voraussetzungen als die in der Berufsanerkennungsrichtlinie aufgestellten, insbes. in Art. 21, 46, 49 und Anhang V, sind dem Aufnahmemitgliedstaat verwehrt. Deshalb kann zB die Absolvierung eines Praktikums nicht verlangt werden.265 95 Von diesen Voraussetzungen gibt es Ausnahmen. Art. 10 lit. c Berufsanerkennungsrichtlinie gilt auch für Architekten, wenn der betreffende Migrant über einen Ausbildungsnachweis verfügt, der nicht in Anhang V Nr. 5.7. aufgeführt ist. Der EuGH hat diese Voraussetzung aber eng interpretiert: Wer die für Architekten geltende allgemeine Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen in Anspruch nehmen will, muss nicht nur nachweisen, dass er sich in der in Art. 10 lit. c der Richtlinie genannten Situation befindet, dh, dass er über keinen der in Anhang V Nr. 5.7.1 aufgeführten Ausbildungsnachweise verfügt, sondern auch „besondere und außergewöhnliche Gründe“ anführen, weshalb er sich in dieser Situation befindet.266 Diese Voraussetzung muss sich auf Umstände beziehen, aufgrund derer der Betreffende keinen in Anhang V Nr. 5.7.1 dieser Richtlinie aufgeführten Nachweis besitzt. Dabei darf er sich nicht darauf berufen, dass er Berufsqualifikationen besitzt, die ihm in seinem Herkunftsmitgliedstaat die Aufnahme eines anderen als des Berufs erlauben, den er im Aufnahmemitgliedstaat ausüben will.267 Anerkannt wird ferner die Ausbildung im Rahmen der sozialen Förderung oder eines Hochschulstudiums auf Teilzeitbasis, wenn dieses den Erfordernissen des Art. 46 Berufsanerkennungsrichtlinie entspricht und von einem Berufsangehörigen, der seit mindestens sieben Jahren in der Architektur unter der Aufsicht eines Architekten oder Architekturbüros tätig war, durch eine erfolgreiche Prüfung auf dem Gebiet der Architektur abgeschlossen wird. Diese Prüfung muss Hochschulniveau aufweisen und dem Abschlussexamen268 gleichwertig sein. Außerdem sind die Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeiten des Architekten (unter der Berufsbezeichnung „Architekt“) auch bei Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats als gegeben anzusehen, die zur Führung dieses Titels aufgrund eines Gesetzes ermächtigt worden sind, das der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats die Befugnis zuerkennt, diesen 265 266 267 268

98

EuGH 30.4.2014 – C-365/13, ECLI:EU:C:2014:280 Rn. 27 – Ordre des architectes. EuGH 16.4.2015 – C-477/13, ECLI:EU:C:2015:239 Rn. 32 – Angerer. EuGH 16.4.2015 – C-477/13, ECLI:EU:C:2015:239 Rn. 45 – Angerer. ISd Art. 46 Abs. 1 lit. b RL 2005/36/EG.

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E. Berufsständische Vereinigungen

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Titel Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu verleihen. Das setzt voraus, dass diese sich durch die Qualität ihrer Leistungen auf dem Gebiet der Architektur besonders ausgezeichnet haben. Aufgrund Art. 49 Berufsanerkennungsrichtlinie hat jeder Mitgliedstaat die Ausbildungsnachweise des Architekten,269 die die anderen Mitgliedstaaten ausgestellt haben und die eine Ausbildung abschließen, anzuerkennen. Das gilt selbst dann, wenn sie den Mindestanforderungen des Art. 46 Berufsanerkennungsrichtlinie nicht genügen. Er muss ihnen in seinem Hoheitsgebiet dieselbe Wirkung wie den Ausbildungsnachweisen zukommen lassen, mit denen er selbst die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten des Architekten ermöglicht. Wie oben ausgeführt, kommt subsidiär eine Anerkennung auf der Grundlage des Art. 10 ff. Berufsanerkennungsrichtlinie in Betracht oder eine Anerkennung nach primärrechtlichen Grundsätzen.270 Der EuGH hat kürzlich entschieden, dass ein Mitgliedstaat Mindestpreise für Architekten 96 und Ingenieure vorsehen kann, um die Ziele der Qualität der Planungsleistungen, des Verbraucherschutzes, der Bausicherheit, des Erhalts der Baukultur und des ökologischen Bauens zu erreichen. Die Festsetzung eines Mindestpreises kann dazu beitragen, in einem Markt, der durch eine große Anzahl von Dienstleistungserbringern gekennzeichnet ist, einen Konkurrenzkampf zu vermeiden, der zu Billigangeboten führen könnte, was das Risiko eines Verfalls der Qualität der erbrachten Dienstleistungen zur Folge haben könnte. Jedoch kann eine nationale Regelung nur dann die Erreichung des angestrebten Ziels gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Das hat der EuGH die deutsche HAOI betreffend abgelehnt und eine Verletzung des Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 lit. g und Abs. 3 RL 2006/123/EG erkannt, weil die Erbringung von Planungsleistungen nicht bestimmten Berufsständen vorbehalten war, die einer zwingenden berufs- oder kammerrechtlichen Aufsicht unterliegen, sondern neben Architekten und Ingenieuren auch andere nicht reglementierte Dienstleistungsanbieter Planungsleistungen erbringen konnten.271

E. Berufsständische Vereinigungen Berufsständische Vereinigungen sind keine Staatsbehörden, sondern Selbstverwaltungsein- 97 richtungen, die öffentlich–rechtlich organisiert sein können, zB als Körperschaft des öffentlichen Rechts, und die Rechtsnormen setzen können. In einigen Mitgliedstaaten ist die Autonomie der berufsständischen Vereinigungen sogar verfassungsrechtlich geregelt.272 Unter Binnenmarktgesichtspunkten kann sich die Frage stellen, ob berufsständische Verei- 98 nigungen als Unternehmensvereinigungen iSd Art. 101 AEUV zu qualifizieren sind. Der unionsrechtliche Unternehmensbegriff ist weit und umschließt jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.273 Allerdings wird nicht auf die Berufsvereinigung an sich abgestellt, sondern auf die jeweilige Tätigkeit, die eine Berufsvereinigung ausübt, weshalb sie für eine Tätigkeit als Unternehmensvereinigung qualifiziert werden kann, für andere Tätigkeiten nicht. Eine Tätigkeit soll nicht den Wettbewerbsregeln des AEUV unterliegen, „wenn sie nach 99 ihrer Art, den für sie geltenden Regeln und ihrem Gegenstand keinen Bezug zum Wirt269 270 271 272 273

ISv Anh. VI RL 2005/36/EG. EuGH 22.1.2002 – C-31/00, Slg 2002, S. I-663 Rn. 27 – Dreessen. EuGH 4.7.2019 – C‑377/17, ECLI:EU:C:2019:562 Rn. 91 – HOAI. Vgl. zB Art. 120 a ff. österr. B-VG; Art. 134 niederl. Verf. EuGH 18.6.1998 – C-35/96, Slg 1998, I-3851 Rn. 36 – CNSD – zum italienischen Nationalen Rat der Zollspediteure; EuGH 12.9.2000 – C-180/98, Slg 2000, I-6497 Rn. 74 f. – Pavlov – zur Nationalen Vereinigung der Fachärzte der Königlich Niederländischen Gesellschaft zur Förderung der Heilkunst.

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§ 2 Recht der Freien Berufe

schaftsleben hat … oder wenn sie mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse zusammenhängt.“274 Dabei muss unterschieden werden, ob eine Rechtsetzung maßgeblich durch staatliche Organe erfolgt oder vorgegeben ist oder durch die Unternehmensvereinigung. Eine staatliche Rechtsetzung, auf die Art. 101 ff. AEUV grundsätzlich keine Anwendung finden, kann vorliegen, wenn ein Mitgliedstaat bei der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen an einen Berufsverband Kriterien des Allgemeininteresses und wesentliche Grundsätze festlegt, die bei der Satzungsgebung zu beachten sind, und wenn er sich die Letztentscheidungsbefugnis vorbehält.275 Im Fall „Wouters“ hatte der EuGH diese Voraussetzungen für die niederländische Rechtsanwaltskammer,276 eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, nicht erkennen können, vielmehr die Wirtschaftlichkeit ihrer Tätigkeit bejaht und in ihr eine Unternehmensvereinigung gesehen.277 Sie war mitgliedschaftlich organisiert, wenn auch nicht nach dem Solidaritätsgrundsatz und sie handelte als Organ zur Regelung eines Berufs, dessen Ausübung eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellte. Ihre Leitungsorgane wurden durch die Angehörigen des Freien Berufes gewählt, staatliche Stellen konnten ihre Bestellung nicht beeinflussen. Beim Erlass von Rechtsnormen war die Kammer nicht verpflichtet, bestimmte Kriterien des Allgemeininteresses zu berücksichtigen, „jeder Bezug zum Wirtschaftsleben“ fehlte ihr gerade nicht. 100 Für den Fall, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit und in der Folge eine Unternehmensvereinigung anzunehmen ist, muss weitergeprüft werden, ob die Maßnahme eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder bewirkt.278 Eine Handelsbeeinträchtigung zwischen den Mitgliedstaaten nimmt der EuGH grundsätzlich an. Darüber hinaus hat der EuGH in „Wouters“ eine tatbestandskonforme Interpretation vorgenommen und geprüft, ob die mit einem Beschluss verbundenen wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Verfolgung bestimmter, der ordnungsgemäßen Ausübung des Berufs dienenden Zielen – wie für Rechtsanwälte die Unabhängigkeit der Rechtspflege und der Schutz der Mandanteninteressen – zusammenhängen.279 Deshalb sollen der Gesamtzusammenhang, in dem der fragliche Beschluss zustande gekommen ist oder seine Wirkungen entfaltet, und insbes. dessen Zielsetzung zu würdigen sein. In „Wouters“ hatte die Anwaltskammer lediglich Vorschriften über Organisation, Befähigung, Standespflichten, Kontrolle und Verantwortlichkeit, die den Empfängern juristischer Dienstleistungen die erforderliche Gewähr für Integrität und Erfahrung bieten, und mit den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege zusammenhängen, erlassen, weshalb Art. 101 AEUV – wie es bei anderen Berufskammern iErg häufig nicht anders sein dürfte280 – nicht einschlägig sein sollte. Und selbst wenn Art. 101 AEUV einschlägig sein sollte, kann die Kommission eine Gruppenfreistellungsverordnung auf der Grundlage von Art. 101 Abs. 3 AEUV erlassen.281 101 Aber nicht nur die Regelungen der berufsständischen Vereinigungen können gegen Art. 101 Abs. 1, 102 AEUV verstoßen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch staatliche Maßnahmen: In Verbindung mit der Loyalitätsverpflichtung in Art. 4 Abs. 3 EUV ist es den Mitgliedstaaten verboten, Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufhe-

274 EuGH 19.2.2002 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 57 – Wouters. 275 EuGH 19.2.2002 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 68 f. – Wouters. 276 Zum italienischen Consiglio nazionale forense: EuGH 19.2.2002 – C-35/99, Slg 2002, I-1529 Rn. 34 – Arduino. 277 EuGH 19.2.2002 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 58 f. – Wouters. 278 Kluth/Goltz/Kujath, S. 40 für Gebührenordnungen grundsätzlich annehmend. 279 EuGH 19.2.2002 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 97 – Wouters. 280 Eichele/Happe NJW 2003, 1214 (1218). 281 EuGH 19.2.2002 – C-309/99, Slg 2002, I-1653 Rn. 69 – Wouters.

100

Storr https://doi.org/10.5771/9783748900238-59 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

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ben können.282. Das kann der Fall sein, wenn gegen Art. 101 AEUV verstoßende Kartellabsprachen gesetzlich vorgeschrieben oder erleichtert werden oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt werden oder wenn ein Mitgliedstaat seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt.283 Eine staatliche Rechtsetzung kann ferner an Art. 101 AEUV zu messen sein, wenn der Staat die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt, ohne für hinreichende Schutzvorkehrungen vorzusorgen, wenn er also die zu wahrenden Ziele des Allgemeininteresses nicht klar definiert und sich die letztendliche Entscheidungsbefugnis oder die Kontrolle über die Anwendung nicht vorbehält.284 Wenn er von der berufsständischen Vereinigung aber nur einen (unverbindlichen) Vorschlag einholt, der erst durch einen staatlichen Rechtsakt in Kraft gesetzt werden muss, liegt kein kartellrechtlich relevanter Sachverhalt vor.285 102

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

EuGH

21.6.1947

Rs. 2/74

Slg 1974, 631 Reyners

NJW 1975, 513

EuGH

3.12.1947

Rs. 33/74

Slg 1974, 1299

Van Binsbergen

NJW 1975, 1095

EuGH

18.5.1982

Rs. 155/79

Slg 1982, 1575

AM & S

NJW 1983, 503

EuGH

22.9.1983

Rs. 271/82

Slg 1983, 2727

Auer

NJW 1984/2022

EuGH

12.7.1984

Rs. 107/83

Slg 1984, 2973

Klopp

NJW 1985, 1275

EuGH

30.4.1986

Rs. 86/85

Slg 1986, 1483

Kommission/ Frankreich

EuGH

26.3.1987

Rs. 235/85

Slg 1984, I-1471

niederländische Notare

EuGH

19.1.1988

Rs. 292/86

Slg 1988, 131 Gullung

NJW 1989, 658

EuGH

25.2.1988

Rs. 427/85

Slg 1988, 1123

Kommission/ Deutschland

NJW 1988, 887

EuGH

7.5.1991

C-340/89

Slg 1991, I-2379

Vlassopoulou

NJW 1991, 2073 = JZ 1991, 1131

EuGH

10.7.1991

C-294/89

Slg 1991, I-3606

Kommission/ Frankreich

EuGH

30.11.1995 C-55/94

Slg 1995, I-4165

Gebhard

EuGH

15.2.1996

Slg 1996, 1483

Kemmler

282 283 284 285

Rs. 53/95

Sammlung

Benennung

Fundstellen

NJW 1986, 579 = NVwZ 1996, 365

EuGH 5.12.2006 – C-94/04 und C-202/04, Slg I-11421 Rn. 46 – Cipolla und Meloni. EuGH 9.9.2003 – C-198/01, Slg 2003, I-8079 Rn. 46 – Consorzio Industrie Fiammiferi. KOM(2004) 83 endg., 4. EuGH 5.12.2006 – C-94/04 und C-202/04, Slg I-11421 Rn. 50 – Cipolla und Meloni; EuGH 23.11.2017 – C-427/16, ECLI:EU:C:2017:890 Rn. 42 – CHEZ Elektro Bulgaria; vgl. bereits EuGH 19.2.2002 – 35/99, Slg 2002, I-1529 Rn. 35 f. – Arduino.

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101

2

§ 2 Recht der Freien Berufe Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

4.7.2000

Rs. 424/97

Slg 2000, I-5148

Haim

EuZW 2000, 733 = NVwZ 2001, 903 = ZIP 2000, 1215

EuGH

14.9.2000

C-238/98

Slg 2000, I-6640

Hocsman

NJW 202, 356 = DVBl 2000, 1763

EuGH

7.11.2000

C-168/98

Slg 2000, I-9161

Kommission/ Luxemburg

NJW 2001, 137 = EuZW 2000, 751 = DVBl 2001, 59 = DB 2000, 2320

EuGH

11.10.2001 C-267/99

Slg 2001, I-7467

Adam

IStR 2001, 718

EuGH

19.2.2002

Slg 2002, I-1653

Wouters

BB 2002, 638 = EuZW 2002, 172 = NJW 2002, 877

EuGH

22.10.2002 C-31/00

Slg 2002, I-663

Dreesen

EuZW 2002, 247

EuGH

16.9.2003

C-110/01

Slg 2003, I-6258

Tennah-Durez

EuZW 2003, 696

EuGH

13.11.2003 C-313/01

Slg 2003, I-13467

Morgenbesser

EuZW 2004, 61

EuGH

11.12.2003 C-322/01

Slg 2003, I-14887

Doc Morris

EuZW 2004, 21 = GewA 2004, 118 = NZS 2004, 85

EuGH

11.12.2003 C-289/02

Slg 2003, I-15059

AMOK

EuZW 2004, 92 = IStR 2004, 106 = NJW 2004, 833

EuGH

19.9.2006

Rs. 506/04

Slg 2006, I-8643

Wilson

NJW 2006, 3697 = EuZW 2006, 658

EuGH

19.9.2006

C-193/05

Slg 2006, I-8673

Kommission/ Luxemburg

NJW 2006, 3697

EuGH

5.12.2006

C-94/04 und C-202/04

Slg 2006, I-11421

Cipolla & Meloni NJW 2007, 281 = EuZW 2007, 18 = NZBau 2007, 43 = BB 2007, 462

EuGH

26.6.2007

C-305/05

Slg 2007, I-5301

Ordre des barreaux francophones et germanophone

NJW 2007, 2387

EuGH

19.5.2009

C-171/07

Slg 2009, I-4171

Apothekerkammer Saarland

NJW 2009, 2112 = EuZW 2009, 409 = DVBl 2009, 837

EuGH

10.9.2009

C-199/08

Slg 2009, I-8295

Eschig

NJW 2010, 355 = EuZW 2009, 732

EuGH

29.9.2009

C-311/06

Slg 2009, I-415

Consiglio Nazionale degli Ingengeri

EuZW 2008, 144

102

C-309/99

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

EuGH

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

10.10.2009 C-345/08

Slg 2009, I-11677

Pesla

EuZW 2010, 97 = GewA 2010, 223 = NJW 2010, 137 = EWS 2010, 44

EuGH

14.9.2010

C-550/07

Slg 2010, I-8301

Akzo Nobel

NJW 2010, 3557 = ZIP 2010, 1941

EuGH

2.12.2010

C-225/09

Slg 2010, I-12329

Jakubowska

EuZW 2011, 308 = NJW 2011, 1199 = EWS 2011, 50

EuGH

2.12.2010

C-422/09

Slg 2010, I-12411

Vandorou

EuGH

22.12.2010 C-118/09

Slg 2010, I-13627

Koller

NJW 2011, 833

EuGH

3.2.2011

C-359/09

Slg 2011, I-269

Ebert

NJW 2011, 1273

EuGH

29.3.2011

C-565/08

Slg 2010, I-4341

Kommission/Itali- EuZW 2011, 400 = en NJW 2011, 1575 = NZBau 2011, 300

EuGH

24.5.2011

C-47/08

belgische Notare

EuGH

24.5.2011

C-50/08

französische Notare

EuGH

24.5.2011

C-51/08

luxemburgische Notare

EuGH

24.5.2011

C-53/08

österreichische Notare

ÖJZ 2011, 13 f.

EuGH

24.5.2011

C-54/08

deutsche Notare

EuZW 2011, 468 = GewA 2011, 375 = NJW 2011, 2941 = NVwZ 2011, 1254 = DVBl 2011, 887 = EWS 2011, 234 = JZ 2012, 354

EuGH

24.5.2011

C-61/08

griechische Notare

EuGH

26.5.2011

C-293/10

Stark

NJW 2011, 3077 = EuZW 2011, 564

EuGH

12.9.2013

C-475/11

Konstantinides

DÖV 2013, S. 906

EuGH

17.7.2014

C-58/13

Torresi

NJW 2014, 2849 = EuZW 2014, 782

EuGH

13.2.2014

C-367/12

Sokoll-Seebacher

EuZW 2014, 307 = DÖV 2014, S. 397

EuGH

30.4.2014

C-365/13

Ordre des architectes

EuGH

30.6.2016

C-634/15

SokollSeebacher II

EuGH

16.4.2015

C-477/13

Angerer

NZBau 2015, 302

Storr https://doi.org/10.5771/9783748900238-59 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

103

2

2

§ 2 Recht der Freien Berufe Gericht

Datum

Az.

EuGH

10.9.2015

EuGH

30.4.2014

EuGH

30.06.2016 C-634/15

SokollSeebacher II

EuGH

9.3.2017

C-342/15

Piringer

DNotZ 2017, 447 = EuZW 2017, 394 = NJW 2017, 1455

EuGH

18.5. 2017

C-99/16

Lahorgue

EuZW 2017, 819 = EWS 2016, 179

EuGH

21.9.2017

C-125/16

Malta Dental Technologists Association

EuGH

23.11.2017 C-427/16

CHEZ Elektro Bulgaria

NZKart 2018, 39 = MwStR 2017, 974

EuGH

4.7.2019

HOAI

NVwZ 2019, 1120

104

Sammlung

Benennung

Fundstellen

C-151/14

lettische Notare

EuZW 2015, 764

C-365/13

Ordre des architectes

C-377/17

Storr https://doi.org/10.5771/9783748900238-59 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3 Recht des Handwerks Josef Ruthig A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa . . . . . . . . . . I. Die Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . 1. Das (deutsche) Handwerk zwischen Zunftordnung und Gewerbefreiheit: die Entwicklung bis zur HwO 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Handwerk in anderen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Liberalisierung durch Europarecht: Die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . 2. Die Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . III. Harmonisierung durch Richtlinien: Die Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sektorale Harmonisierungsrichtlinien (vertikaler Ansatz) . . . . . . . . . . . . 2. Horizontale Harmonisierungsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berufsanerkennungs- und Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Handwerksaufsicht im Mehrebenenverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Handwerk als reglementierter Beruf . . . . . . . I. Handwerk und Berufsanerkennungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zulassungspflichtiges Handwerk als Beruf der dritten Qualifikationsstufe nach Art. 13 BerufsanerkennungsRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Erfassung sämtlicher Handwerksberufe (keine Bereichsausnahme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonderregelungen für Gesundheitshandwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausgenommene handwerkliche Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulassungsfreies Handwerk . . . . b) Reisehandwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der persönliche Anwendungsbereich . . 1. Handwerker mit ausländischer Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonderfall juristische Personen . . . . 3. Unselbstständige Tätigkeit . . . . . . . . . C. Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (Titel II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 4

4 9 14 16 17 18 21 22 23 24 26 30 30

31 34 36 37 37 38 40 40 41 43 44

I. Anwendbarkeit von Titel II . . . . . . . . . . . . 1. Der vorübergehende und gelegentliche Charakter der Dienstleistungserbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Qualifikation als Reisegewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsfolgen: Keine Beschränkung der Aufnahme der Tätigkeit im Aufnahmestaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorherige Anzeige gegenüber der Behörde und Information des Dienstleistungsempfängers . . . . . . . . . 2. Keine Eintragung in die Handwerksrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit (des Dienstleistungsempfängers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kontrolle der Berufsausübung durch den Aufnahmestaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausnahmsweise Kontrolle vor Beginn der Dienstleistungserbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Durchsetzung des eigenen öffentlichen Rechts durch den Aufnahmestaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kontrollbefugnisse hinsichtlich des Rechts des Herkunftslandes . . . . . . . . 4. Einschreiten im Einzelfall . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Die Dienstleistungsfreiheit deutscher Handwerker im EU-Ausland D. Die grenzüberschreitende Niederlassung (Titel III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Anerkennung von Berufserfahrung II. Die Anerkennung von Ausbildungsund Befähigungsnachweisen . . . . . . . . . . . 1. Anerkennung bei Reglementierung des Berufs im Herkunftsland . . . . . . . 2. Keine Reglementierung im Herkunftsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Anerkennungsverfahren . . . . . . . . . . . 1. Anforderungen an das Verfahren . . 2. Führen der Berufsbezeichnung . . . . . IV. Die Pflichtmitgliedschaft in der Handwerkskammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

45 46 48 50 51 53 54 55 56 57 58 59 61 63 65 67 67 68 70 70 72 73 76

Literatur: Bauer, Gertraud, Gemeinschaftsrechtliche Regelungen im Bereich der beruflichen Bildung: ein Beitrag zum Spannungsverhältnis zwischen nationaler Rechtsordnung und europäischer Integration, 1992; Beaucamp, Guy, Meister ade – Zur Novelle der Handwerksordnung, DVBl. 2004, 1458; Behling, Christian, Der deutsche Schornsteinfeger – ein Monopolist in Europa, 2010; Bulla, Simon, Freiheit der Berufswahl. Verfassungs- und gemeinschaftsrechtliche Determinanten des Berufszugangs am Beispiel des Handwerksrechts, 2009; Diefenbach, Wilhelm, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 3.10.2000 und die „Registrierung“ von Handwerkern, GewArch 2001, 305; ders., Einwirkungen des EU-Rechts auf das deutsche Kammerrecht, GewA 2006, 217; ders., Zur Organstruktur der Handwerks- und der Industrieund Handelskammern, GewA 2006, 313; Dürr, Wolfram, Kuriosum Reisegewerbe im Hand-

Ruthig https://doi.org/10.5771/9783748900238-105 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

105

3

§ 3 Recht des Handwerks werk, GewArch 2011, 8; Ehlers, Dirk, Das Wirtschaftsverwaltungsrecht im europäischen Binnenmarkt, NVwZ 1990, 810; Erdmann, Joachim, Das System der Ausnahmetatbestände zur Meisterprüfung im Handwerksrecht, DVBl. 2010, 353; Fiege, Carsten, Der Filialhandwerker in Deutschland und Europa, GewArch 2001, 409; Frenz, Walter, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012 (zit. Grundfreiheiten); ders., Fällt der Handwerksmeister durch die Berufsanerkennungsrichtlinie?, DVBl. 2007, 347; ders., Die europäische Berufsfreiheit, GewArch 2008, 465; ders., Die Berufsanerkennungsrichtlinie und verbliebene sektorale Richtlinien, GewArch 2011, 377; Fröhler, Ludwig, Die Bedeutung der Kenntnisse für den Handwerksbegriff, GewArch 1969, 241; Gerhardt, Michael, Zu neueren Entwicklungen der sogenannten Inländerdiskriminierung im Gewerberecht, GewArch 2000, 372; Günther, Thomas, Die Unterscheidung zwischen Handwerk und Industrie vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung, GewArch 2012, 16, 62; Honig, Gerhard/Knörr, Matthias/Thiel, Markus, Handwerksordnung, 5. Aufl. 2017; Jaekel, Natalia A., Status Quo bei der Umsetzung der EU-Berufsanerkennungsrichtlinie – Alter Wein in neuen Schläuchen oder reformistisches Regelwerk?, VBlBW 2010, 419; Jahn, Ralf, Wirtschaftliche und freiberufliche Selbstverwaltung durch Kammern – Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven, GewArch 2002, 353; John, Peter, Handwerk im Spannungsfeld zwischen Zunftordnung und Gewerbefreiheit: Entwicklung und Politik der Selbstverwaltungsorganisationen des deutschen Handwerks bis 1933, 1987; Klinge, Gabriele, Niederlassungs- und Dienstleistungsrecht für Handwerker und andere Gewerbetreibende in der EG, 1990; dies., Europäisches Niederlassungsrecht im Handwerk, WiVerw 1987, 137; dies., Das Berufszulassungs- und Berufsausübungsrecht des selbständigen Handwerkers im Europäischen Binnenmarkt, WiVerw 1992, 1; Kluth, Winfried, Die Organisation der französischen Industrie- und Handelskammern im Jahr 2010, GewArch 2012, 49; Kluth, Winfried/Rieger, Frank, Die neue EU-Berufsanerkennungsrichtlinie – Regelungsgehalt und Auswirkungen für Berufsangehörige und Berufsorganisationen, EuZW 2005, 844; dies., Die gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen und berufsrechtlichen Wirkungen von Herkunftslandsprinzip und Bestimmungslandsprinzip, GewArch 2006, 1; Kugelmann, Dieter, Die Dienstleistungs-Richtlinie der EG zwischen der Liberalisierung von Wachstumsmärkten und europäischem Sozialmodell, EuZW 2005, 327; Leisner, Walter Georg, Die Mitteilung der EU-Kommission COM (2013) 676 final zur Berufs(de)regulierung: Europa- und verfassungsrechtliche Bedenken, WiVerw 2014, 251; Müller, Klaus/Paleczek, Otto, Das deutsche Handwerk im EG-Binnenmarkt, Herausforderung und Chancen, 1989; König, Wolfgang/Müller, Klaus, Der Europäische Binnenmarkt als Herausforderung für das deutsche Handwerk, 1990; Kormann, Joachim/ Hüpers, Frank, Zweifelsfragen der HwO-Novelle 2004, GewArch 2004, 353; Korte, Stefan, Vom goldenen Boden des Reisehandwerks, GewArch 2010, 265; Leisner, Walter, Handwerksrecht und Europarecht: Verstößt der Große Befähigungsnachweis gegen Gemeinschaftsrecht?, GewArch 1998, 445; ders., Der Meistertitel im Handwerk – (weiter) ein Zwang? – Europarechtliche und verfassungsrechtliche Probleme – Bemerkungen zu einem neuen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BvR vom 5.12.2005 – 1 BvR 1730/02), GewArch 2006, 393; Maier, Ralf W./Rupprecht, Bernd, Der Regierungsentwurf des Anerkennungsgesetzes, ZAR 2011, 201; Müller-Graff, Christian, Die Stellung des Handwerksmeisters im Binnenmarkt, in: Everling, Ulrich/Narjes, Karl-Heinz/Sedemund, Jochum (Hrsg.), Europarecht, Kartellrecht, Wirtschaftsrecht, in: Festschrift für Deringer, 1993, S. 95; Roth, Wulf-Henning, Die Harmonisierungspraxis der Gemeinschaft: Eine Bestandsaufnahme. – Grundlagen. – Die Harmonisierungspolitik, EuR 1986, 340; Ruthig, Josef/Storr, Stefan, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2015; Schäfer, Anne, Berufsrecht 2020 – Mit der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie auf dem Weg zu einem modernen Regulierungsrecht?, EuZW 2018, 789; Scheidtmann, André, Wirtschaftsund berufsständische Kammern im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2007; Schmidt-Aßmann, Eberhard, Strukturen Europäischer Verwaltung und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: FS Häberle, 2004, S. 395; ders., in: ders./Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005; Seraphim, Peter Heinz, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte: von der Frühzeit bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, 1962; Schick, Michael, Zwischenbilanz zum Dienstleistungspaket der Europäischen Kommission, DStR 2018, 1454; Sonder, Matthias/Wiemers, Nicolas, Das Handwerksrecht zwischen Liberalisierung und Europäisierung, DÖV 2011, 104; Stöbener de Mora, Patricia Sarah, Eine unverhältnismäßige Ver-

106

Ruthig https://doi.org/10.5771/9783748900238-105 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa

3

hältnismäßigkeitsprüfung, EuZW 2017, 287; Stork, Stefan, Die neue Rahmenrichtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (RL2005/36) unter besonderer Berücksichtigung reglementierter Handwerksberufe, WiVerw 2004, 229; ders., Die neue EU/EWR-Handwerk-Verordnung, GewArch 2008, 177; ders., Der Gesetzentwurf zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen, GewArch 2011, 291; ders., Die Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, GewArch. 2013, 338; ders., Richtlinienentwurf zur Festlegung eines Notifizierungsverfahrens für dienstleistungsbezogene Genehmigungsregelungen und Anforderungen, EuZW 2017, 562; ders., Richtlinien- und Verordnungsentwurf zur Einführung einer Elektronischen Europäischen Dienstleistungskarte, GewArch. 2018, 9; Stumpf, Cordula, Freie Berufe und Handwerk (40. Ergänzungslieferung 2016), in: Dauses, EU-Wirtschaftsrecht (Stand: 45. Ergänzungslieferung 2018); Wallenberg, Gabriela v., Die Bedeutung des Meisterbriefs in Zeiten von Qualitätsmanagement und europäischen Normen, EuZW 1995, 396; Will, Martin, Selbstverwaltung der Wirtschaft, 2011; Ziekow, Jan, Freiheit und Bindung des Gewerbes, 1992; ders., Öffentliches Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2016. Vorschriften Sekundärrecht: Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 7.9.2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255 v. 30.9.2005, 22 ff. – BerufsanerkennungsRL. Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 2.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376 v. 27.12.2006, 36 ff. – DLR. Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.11.2013 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des BinnenmarktInformationssystems („IMI-Verordnung“, ABl. L 354 v. 28.12.2013, 132 ff. Sonstige Rechtsakte der Union: Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, KOM(2002) 119 endg. v. 7.3.2002. Kommission, „Neue Kompetenzen für neue Beschäftigungen. Arbeitsmarkt- und Qualifikationserfordernisse antizipieren und miteinander in Einklang bringen“, KOM(2008) 868 v. 16.12.2008. GRÜNBUCH der Kommission zur Überarbeitung der Richtlinie über Berufsqualifikationen, KOM(2011) 367 endg. v. 22.6.2011. Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarktinformationssystems, KOM(2011) 883 endg v. 19.12.2011. Kommission, „Den Binnenmarkt weiter ausbauen: mehr Chancen für die Menschen und die Unternehmen“, KOM(2015) 550 endg. v. 28.10.2015.

A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa Auf der Ebene des Unionsrechts von einem „Handwerksrecht“ zu sprechen, erscheint 1 gleich in mehrfacher Hinsicht als ein Widerspruch in sich. Das Unionsrecht selbst kennt keine eigenständigen Vorschriften für Handwerksberufe, schon der (Rechts-)Begriff des Handwerks selbst stammt aus dem deutschen und romanischen Rechtskreis. Untrennbar mit dem deutschen Recht verbunden ist der „große Befähigungsnachweis“ als Berufszugangsvoraussetzung. Die deutsche Handwerksordnung geriet denn auch regelmäßig in Konflikt mit den Europäischen Grundfreiheiten. Im Ergebnis blieb, so die verbreitete Auf-

Ruthig https://doi.org/10.5771/9783748900238-105 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

107

3

§ 3 Recht des Handwerks

fassung, angesichts der „Destruktivität“ der Grundfreiheiten1 von der Meisterpflicht „fast nichts übrig“.2 Die tatsächlichen Auswirkungen3 jedenfalls sind nicht zu übersehen. 2 Auf den zweiten Blick relativiert sich dieser Gegensatz. Nicht erst seit der Berufsanerkennungsrichtlinie erkennt auch das Unionsrecht die Handwerksberufe als sog „reglementierte Berufe“ an, die es in Art. 3 Abs. 1 lit. a BerufsanerkennungsRL als berufliche Tätigkeit oder Gruppe beruflicher Tätigkeiten definiert, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten der Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an den Besitz bestimmter Berufsqualifikationen gebunden ist (zum vorherigen Rechtszustand → Rn. 14 ff.). Auch die wirtschaftliche Bedeutung des Handwerks wird sehr wohl gesehen, wenn man berücksichtigt, dass ein erheblicher Teil der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) dem Handwerk zugerechnet werden kann. 3 Erst recht ergibt sich ein differenzierteres Bild, wenn man die Entwicklung des Handwerksrechts in einen größeren historischen Zusammenhang stellt. Auch in Deutschland war und ist das Handwerksrecht keineswegs so beständig wie es die Auseinandersetzung um seine europarechtliche Überformung suggeriert. Auch die entscheidenden Deregulierungsschritte des letzten Jahrzehnts waren nationale: Der mit der Handwerksnovelle 2004 verbundene Paradigmenwechsel,4 bei dem der Meistertitel als zwingende Voraussetzung für die Aufnahme selbstständiger handwerklicher Tätigkeit entfiel, war eine Entscheidung des deutschen Gesetzgebers. Den „race to the bottom“ erhob erst das BVerfG zum Rechtsprinzip, indem es dem „Meisterzwang“, den es über fast ein halbes Jahrhundert gegen Angriffe aus Deutschland verteidigt hatte,5 nach seiner Abschaffung bescheinigte, dass er angesichts der europäischen Entwicklung gar nicht mehr in der Lage, und damit verfassungsrechtlich ungeeignet sei, um dem Regelungsziel (noch) gerecht zu werden.6 Gesetzgeber und BVerfG beriefen sich auf den europäischen Deregulierungsdruck, der nicht zu einer Inländerdiskriminierung führen dürfe. Beide unterstellten, dass es sich beim Handwerksrecht, genauer dessen Qualifikationsanforderungen, um ein Spezifikum des deutschen (sowie österreichischen und luxemburgischen) Rechts handele. Die Bedeutung des großen Befähigungsnachweises wurde aber nicht nur bei der deutschen Handwerksnovelle 2004 in Deutschland, sondern vorher schon bei der österreichischen Gewerberechtsreform von 1997 relativiert, bei der nicht nur die Zahl der Handwerke erheblich reduziert,

1 So im Zusammenhang mit den freien Berufen der Vorwurf von Henssler AnwBl 2009, 1 (2). 2 Beaucamp DVBl. 2004, 1458. Noch deutlicher schon während des Gesetzgebungsverfahrens Traublinger GewArch 2003, 353 (357): „Dolchstoß ins Mark des Handwerksrechts“; ablehnend auch Dürr GewArch 2003, 415 (416); Schwannecke WiVerw 2003, 353 (357); Stober GewArch 2003, 393 (395 f.). 3 Eine ausführliche Evaluation bei Kormann/Hüpers, Zur Abgrenzung des Vollhandwerks, Band. II, S. 81 ff. 4 Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 125, 458 f.; Kormann/Hüpers GewArch 2004, 353; s. auch BT-Drs. 15/1206, 21 f.; Müller NVwZ 2004, 403. Allerdings ist dieser nur ein teilweiser, da der Gesetzgeber neben der Gefährlichkeit bestimmter Tätigkeiten in der Tradition des bisherigen Handwerksrechts weiterhin auch die Ausbildungsleistung des Handwerks als Grund für die Sonderregelung ansieht. 5 BVerfG 17.7.1961 – 1 BvL 44/55, E 13, 97 (110 ff.); bestätigend BVerfG 4.4.1990 – 1 BvR 185/89, GewArch 1991, 137; BVerfG 31.3.2000 – 1 BvR 608/99, NVwZ 2001, 187 f.; BVerfG 27.9.2000 – 1 BvR 2176/98, NVwZ 2001, 189 f. Das BVerfG ging davon aus, dass der Meisterzwang als subjektive Zulassungsschranke im Interesse der Erhaltung des Leistungsstandes und der Leistungsfähigkeit des Handwerks und der Sicherung des Nachwuchses für die gesamte gewerbliche Wirtschaft als überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern gerechtfertigt sei, sofern nur die Ausnahmetatbestände grundrechtsfreundlich und damit entsprechend großzügig gehandhabt würden. Außerdem BVerwG 29.8.2001 – 6 C 4/01, E 115, 70 (77) mwN; VGH Mannheim 7.11.2003 – 14 S 275/03, GewArch 2004, 21. 6 Kritisch dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 125; Leisner GewArch 2006, 393.

108

Ruthig https://doi.org/10.5771/9783748900238-105 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa

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sondern auch die Bedeutung des großen Befähigungsnachweises jedenfalls stark relativiert wurde.7

I. Die Historische Entwicklung 1. Das (deutsche) Handwerk zwischen Zunftordnung und Gewerbefreiheit: die Entwicklung bis zur HwO 1953 Handwerksrecht in Deutschland lässt sich nur vor dem Hintergrund der historischen Ent- 4 wicklung betrachten. Die Anfänge gehen zurück auf das mittelalterliche Zunftwesen.8 Zünfte verstanden sich in der ständischen Gesellschaft als universelle Lebensgemeinschaften, geleitet von den Grundsätzen der Solidarität und Gleichheit. Vor allem in den Freien Reichsstädten übernahmen sie zunehmend solche Aufgaben, die man heute als öffentlichrechtlich bezeichnen würde,9 gelangten so zu großem gesellschaftlichen Ansehen und waren im städtischen Gemeinwesen schließlich unentbehrlich. Die rechtliche Konsequenz war schließlich im 12. bzw. 13. Jh. die hoheitliche Einführung des Zunftzwangs. Mit den sog Zunftrollen entwickelten die Zünfte ein umfassendes und autonomes Binnenrecht, das die Einkaufs-, Produktions- und Verkaufsbedingungen streng reglementierte. Handwerk war also ein stark aber autonom reglementierter Beruf. Das Zunftwesen als „oligopolistisches Handwerkskartell“10 förderte aber nicht nur die 5 Herausbildung spezialisierter Handwerksberufe und so die Qualität der Handwerksleistungen, sondern entwickelte sich durch die Beschränkung der Gesellenzahl und vor allem der Produktionsmittel zunehmend zu einem Innovationshemmnis. Deutete sich schon im Spätmittelalter nicht zuletzt durch die Zunahme des Handels ein grundlegender Strukturwandel an, der zu starken Diversifizierungen innerhalb des Handwerks führte,11 so geriet das produzierende Gewerbe insgesamt durch die Preissteigerungen für Nahrungsmittel und schließlich den Dreißigjährigen Krieg in eine wirtschaftliche Notlage. Auf diese reagierte man zunächst intern mit einer Verschärfung der Zunftvorschriften, dann auf Reichsebene mit dem Erlass der Reichshandwerksordnung von 1731, die eine Liberalisierung des Handwerksrechts anstrebte, in den Territorialstaaten außerhalb Preußens aber kaum umgesetzt wurde. Auch in der Folge übernahm Preußen eine Vorreiterrolle bei der Liberalisierung: Nachdem 6 1810 im Gefolge der französischen Revolution in Preußen die Gewerbefreiheit auch für das Handwerksrecht eingeführt wurde, wurde schon mit der PreußGewO von 1845 wieder ein fachlicher Befähigungsnachweis für gefahrgeneigte Gewerbe eingeführt,12 gleichzeitig aber der Zunftzwang und die öffentlich-rechtliche Organisation der Kammern abgeschafft. Die GewO von 1869/71 beseitigte endgültig die Sonderregelungen für das Handwerk, so dass eine Genehmigungspflicht sich allenfalls aus § 16 Abs. 1 GewO, der Vorläufervorschrift des späteren BImSchG ergab, wenn von einer Anlage schädliche Umwelteinwirkungen ausgingen.

7 Vgl. dazu Bulla, S. 485 ff.; Potacs, Gewerberecht, in Holoubek/Potacs, Handbuch des öffentlichen Wirtschaftsrechts, 2. Aufl. 2007, S. 7, 42 ff. Zu den Anstößen aus Österreich für die weitere Entwicklung in Deutschland: Gerhardt GewArch 2000, 372 (374). 8 Ausf. zum Folgenden Bulla, S. 29 ff. 9 Dazu gehören Stadtverteidigung, Brandschutz, Steuererhebung und Gewerbepolizei, vgl. John, Handwerk im Spannungsfeld zwischen Zunftordnung und Gewerbefreiheit, S. 68 ff. 10 Seraphim, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 51. 11 Dazu Bulla, S. 35 ff. 12 Vgl. § 26 Nr. 2 iVm § 45 PreußGewO: Befähigungsnachweis der Regierung für Maurer, Zimmerer, Ziegeldecker etc.

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§ 3 Recht des Handwerks

7 Diese Liberalisierung des Handwerksrechts bedeutete aber keinesfalls, dass die politische Bedeutung der Handwerkerschaft schwand, ganz im Gegenteil. Zunehmend wurde der Gegensatz zwischen liberal-bürgerlichen Freiheitsvorstellungen und den alten ständischen Organisationsstrukturen verwischt,13 was zu einer Aufwertung berufsständischer Selbstverwaltung führte. Besonders deutlich zeigte sich dies am Beispiel der Handelskammern, die zunächst von den Franzosen im Rheinland eingeführt wurden. Preußen hat sie in der Rheinprovinz als beratende Organe weiterbestehen lassen14 und zugleich durch die Anordnung der Zwangsmitgliedschaft reglementiert.15 Parallel dazu bestanden etwa in Baden berufsständische Organisationen schon seit dem 17./18. Jh., die sich im 19. Jh. in Handelskammern umbenannten, um ihre Stellung aufzuwerten.16 In Bayern wurde durch königliche Verordnung 1842 die erste Rechtsgrundlage geschaffen.17 1862 formierte sich auch das Handwerk im „Deutschen Handwerkerbund“, um eine gesetzliche Ordnung des Handwerks zu erreichen. Mit der Handwerkernovelle 1897 wurden die Handwerkskammern wieder etabliert. Sie haben als Selbstverwaltungsorgane die Aufgabe, „diejenigen zur Regelung der Verhältnisse des Handwerks erlassenen gesetzlichen Bestimmungen, welche noch einer Ergänzung der Einzelvorschriften bedürfen und fähig sind, für ihren Bezirk weiter auszubauen, die Durchführung der gesetzlichen und der von ihr selbst erlassenen Vorschriften in ihrem Bezirk zu regeln und soweit erforderlich durch besondere Beauftragte zu überwachen, und endlich solche auf die Förderung des Handwerks abzielende Veranstaltungen zu treffen, zu deren Begründung und Unterhaltung die Kräfte der lokalen Organisation nicht ausreichen“.18 Damit sind sie nicht nur „Ausdruck der Funktionenteilung zwischen Staat und Wirtschaft“,19 sondern auch Beleg für die Renaissance berufsständischer Organisationsformen. 8 Während des Kaiserreichs entdeckten konservative Parteien und das katholische Zentrum das Handwerk als Klientel. Die Initiativen zur Wiedereinführung des Meisterzwangs scheiterten jedoch regelmäßig an Liberalen und Sozialdemokraten. Wieder eingeführt wurde der Meisterzwang erst von den Nationalsozialisten durch die Dritte Verordnung zum Aufbau des deutschen Handwerks (3. HwVO).20 Der Preis dafür war die Gleichschaltung des Handwerks als „Glied im nationalsozialistischen Staatsgefüge“,21 bei der die Binnenorganisation der Kammern nach dem Führerprinzip umgestaltet wurde, um dem totalitären Machtanspruch des NS-Staates gerecht zu werden.22 In der Nachkriegszeit wurden die materiellen Regelungen des Handwerksrechts in der britischen und französischen Zone beibehalten. Nur in der amerikanischen Besatzungszone wurde der „Meisterzwang“ abgeschafft und durch die Gewerbefreiheit ersetzt. Die HwO von 1953 stellte dann die Rechtseinheit wieder her und erfüllte vor allem mit der Beibehaltung des großen Befähigungsnachweises („Meisterzwangs“) gleichzeitig die wichtigsten Forderungen des Handwerks als Teil der Mittelstandspolitik der Regierung Adenauer. Eine Definition des Handwerks enthält diese nicht, sie stellt vielmehr auf eine Positivliste ab: Handwerk sind

13 Dazu auch Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 253. 14 So setzte bspw. die Handelskammer Köln ihre Tätigkeit nach dem Abzug der Franzosen 1814 unverändert fort, s. Will, Selbstverwaltung der Wirtschaft, S. 267. 15 Jahn GewArch 2002, 353. 16 Will, Selbstverwaltung der Wirtschaft, S. 292. 17 Will, Selbstverwaltung der Wirtschaft, S. 298. 18 Gesetzesbegründung 1897, vgl. Honig/Knörr § 90 Rn. 1. 19 Stober GewArch 2001, 393 (396). 20 VO v. 18.1.1935, RGBl I, 15. 21 Vgl. § 1 Abs. 2 der 2. HwVO v. 18.1.1935, RGBl. I, 14. 22 Ausf. zum Handwerksrecht im Dritten Reich Bulla, S. 72 ff.

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A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa

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die in den Anlagen zur HwO aufgenommen Berufe, soweit sie als stehendes Gewerbe ausgeübt werden.23 Auf diese traf das sich langsam etablierende Europarecht. 2. Handwerk in anderen Mitgliedstaaten Untersucht man die Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten,24 so ergibt sich ein diffe- 9 renzierteres Bild. Lässt man die Common Law-Tradition, nach der allenfalls das Kunsthandwerk als „Handwerk“ bezeichnet wird (Großbritannien, Irland, Malta und Zypern) außer Betracht, so kennt die deutliche Mehrheit der Mitgliedstaaten spezifische Regelungen für das Handwerk. In einer ganzen Reihe von Staaten finden sich vergleichbare Positivlisten wie in Deutschland, die über die Handwerksfähigkeit entscheiden. Mit 300 bzw. 250 aufgeführten Berufen liegen Italien und Frankreich an der Spitze; Deutschland und Österreich25 eher im Mittelfeld. Portugal hat das Handwerk in Art. 4 des Decreto-Lei n°41/2001 legal definiert.26 Charak- 10 teristika sind persönliche Leistungserbringung, traditionelle Produktions- und Herstellungsweise, Schaffung anerkannter sozialer und kultureller Werte und die maximale Anzahl der Beschäftigten. Dies entspricht dem vor allem im romanischen Rechtskreis verbreiteten Regelungsansatz. In etwa der Hälfte der Mitgliedstaaten und insbesondere im romanischen Rechtskreis finden sich Regelungen, die die Betriebsgröße beschränken, so dass Handwerksbetriebe nur als Klein- und Kleinstunternehmen (mit höchstens 50, häufig aber sogar noch deutlich weniger Mitarbeitern) geführt werden können. In Art. 1 der französischen Verordnung über das Handwerksregister27 findet sich die maximale Beschäftigungszahl von zehn und in Portugal von neun28 Arbeitnehmern. Außerdem wird in einigen Staaten – beispielsweise in Portugal und Frankreich – auch die handwerkliche Produktionsmethode vorgeschrieben.29 Das deutsche Handwerksrecht kennt weder eine solche (zwingende) Orientierung an der Betriebsgröße30 noch in der gleichen Weise eine Beschränkung auf traditionelle Produktionsweisen,31 so dass der Handwerksbegriff im romanischen Rechtskreis typischerweise enger ist. Andererseits ist die „Gleichwertigkeit“ ausländischer Handwerksausbildungen bezogen auf einzelne Länder sehr wohl anerkannt.32 23 Vgl. nur Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht Rn. 461. 24 Dazu insbes. Fiege GewArch 2001, 409; Leisner GewArch 1998, 445; zur Reform der französischen Industrie- und Handelskammern Kluth GewArch 2012, 49. 25 Dort zählt § 94 öGewO 43 Handwerke auf, für die der große Befähigungsnachweis erforderlich ist. 26 Decreto-Lei nº 41/2001 v. 9.2.2001, DR 34 – Série I – A. 27 Décret n°83–487 du 10 juin 1983 relatif au répertoire des métiers, idFv. 3.4.1998. Art. 1 enthält die Legaldefinition des Handwerkbetriebes. 28 Art. 14 lit. b Decreto-Lei n° 41/2001 legal. 29 Selbst die missbräuchliche Nutzung der Bezeichnung „Maître artisan“ (Handwerksmeister) steht in Frankreich sogar unter Strafe. Gem. Art. 21-III iVm Art. 24-I de la loi 96–603 du 5 juillet 1996 kann die Schließung des Betriebes gefordert sowie eine Geldstrafe iHv 7.500 EUR verhängt werden. 30 Honig/Knörr HwO § 1 Rn. 44; s. auch BVerwG GewArch 2003, 79. 31 Zwar verlangt auch § 1 Abs. 2 HwO, dass das Gewerbe „handwerklich betrieben“ wird. Dieses Tatbestandsmerkmal steht aber dem Einsatz von Maschinen gerade nicht entgegen, s. dazu Honig/Knörr HwO § 1 Rn. 42 mwN. S. schon Fröhler GewArch 1969, 241. Auch das BVerwG geht davon aus, es sei ein „dynamischer Handwerksbegriff“ zugrunde zu legen, welcher der Veränderung handwerklicher Abläufe durch Einsatz technischer Mittel Rechnung trägt, BVerwG 16.9.1966 – I C 53.56, BVerwGE 25, 66 (71). 32 Vgl. die Verordnung zur Gleichstellung französischer Meisterprüfungszeugnisse mit Meisterprüfungszeugnissen im Handwerk vom 22.12.1997 (BGBl. I 3324) sowie die Verordnung zur Gleichstellung österreichischer Meisterprüfungszeugnisse mit Meisterprüfungszeugnissen im Handwerk vom 31.1.1997 (BGBl. I 142). Danach werden die ausländischen Zeugnisse über das Bestehen einer Meisterprüfung den deutschen Zeugnissen gleichgestellt, ermöglichen also ohne Weiteres die Eintragung in die Handwerksrolle.

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§ 3 Recht des Handwerks

11 Auch eine Kammerorganisation kennen viele Mitgliedstaaten, selbst wenn häufig keine separaten Einrichtungen für das Handwerk bestehen, sondern diese mit sonstigen Gewerbetreibenden zusammengefasst sind. Häufig sind solche Kammern auch öffentlich-rechtlich organisiert und mit einer Zwangsmitgliedschaft verbunden. Eigene Handwerkskammern mit Zwangsmitgliedschaft gibt es nur in Deutschland, Frankreich und Luxemburg. 12 Der Versuch, diese heterogenen Regelungsmodelle auf einzelne Berufe herunter zu brechen, scheitert völlig. Die Abgrenzung vom nichthandwerklichen produzierenden Gewerbe und dem Dienstleistungssektor ist genauso ein Problem wie die Frage, ob und in welcher Form die Nahrungsmittelproduktion unter den Handwerksbegriff fällt. Ein einheitliches Berufsbild des Handwerkers gibt es daher nicht. Allenfalls lässt sich eine europaweite Tendenz zur Liberalisierung beobachten, die freilich nicht nur mit einem allgemeinen Trend zur Deregulierung, sondern maßgeblich mit dem unionalen Einfluss zusammenhängen dürfte. 13 Im Übrigen ist zu beachten, dass auch die Grenzen zwischen Handwerk und „freien Berufen“, die typischerweise eine universitäre Ausbildung voraussetzen, in Europa keineswegs einheitlich gezogen werden. So erfordern vor allem die „Gesundheitshandwerke“ in einigen Mitgliedstaaten eine akademische Ausbildung.33 Insoweit gehen also die ausländischen Anforderungen an die Berufsqualifikation über die deutschen Standards hinaus. Deutsche Handwerker können aber infolge der Regelungssystematik der Berufsanerkennungsrichtlinie sehr wohl diese Tätigkeiten ausüben (→ Rn. 32).

II. Liberalisierung durch Europarecht: Die Grundfreiheiten 14 Die Verwirklichung des Binnenmarkts verlangt, dass außer den Waren auch die Produktionsfaktoren Arbeit und Dienstleistung frei, dh vor allem ohne Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit, verkehren können. Insoweit greifen die Grundfreiheiten ausnahmsweise auch gegenüber dem Staat, dessen Angehörige die entsprechenden Personen sind, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist, sie etwa nach Ausbildung oder längerer Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat heimkehren möchten34. Aus dem Blickwinkel der Grundfreiheiten erwiesen sich nationale Regelungen im Handwerksrecht als legitimierungsbedürftige und nur in Ausnahmefällen gerechtfertigte „Handelshemmnisse“. Zwangsläufig kollidierte dieser liberale Ansatz mit dem „zünftigen Denken“ des deutschen Handwerksrechts.35 Während das BVerfG schon früh in einer ausführlichen und sorgfältig begründeten Entscheidung davon ausgegangen war, dass das Erfordernis der Meisterprüfung für die selbstständige Handwerksausübung mit dem Grundgesetz vereinbar ist,36 sah der EuGH dies hinsichtlich der Grundfreiheiten anders.37 15 Da die Erbringung von (selbstständigen) Handwerksleistungen als wirtschaftliche, idR entgeltliche Tätigkeit, selbstverständlich in den Anwendungsbereich der Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit fällt, je nachdem, ob es sich um eine dauerhafte Integration in den Aufnahmestaat (Niederlassung) oder eine vorübergehende Erbringung von Dienstleistungen handelt (zur Abgrenzung unten → Rn. 46 f.), stellte sich allein die Frage einer 33 34 35 36 37

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Dazu am Beispiel des Augenoptikers Kluth GewArch 2009, 110 (111). EuGH 7.2.1979 – Rs. 115/78, Slg:1979:31 – Knoors; EuGH 8.7.1999 – C-234/97 – Bobadilla. Vgl. auch Honig NVwZ 2003, 172 mwN. BVerfG 17.7.1961 – 1 BvL 44/55, E 13, 97, NJW 1961, 2011. EuGH 3.10.2000 – C-58/98 – Josef Corsten. S. dazu Ehlers Jura 2001, 266 (269); Michel/Lindenberger VR 2001, 253; Callies/Ruffert/Kluth EUV/AEUV Art. 56, 57 Rn. 82. Zu den Zweifeln an der Europarechtskonformität aber schon Ehlers NVwZ 1990, 810 (814 f.). Eine (aktuelle) Zusammenfassung der EuGH-Judikatur findet sich in verschiedenen Leitfäden der Kommission zur Rspr. des Europäischen Gerichtshofs zu den Art. 49 ff. und 56 ff. AEUV, zB https://ec.europa.eu/docsroom/documents/16743/at tachments/1/translations/de/renditions/pdf.

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A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa

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Rechtfertigung. Der EuGH qualifizierte – am Beispiel der Dienstleistungsfreiheit – die Pflicht zur (konstitutiven) Eintragung in die Handwerksrolle als unterschiedslos wirkende Maßnahme,38 die also zwar keine Diskriminierung darstelle, aber angesichts des mit der Eintragung verbundenen zeitlichen und finanziellen Aufwands geeignet sei, den freien Dienstleistungsverkehr zu behindern bzw. weniger attraktiv zu machen. Aus unionsrechtlicher Sicht war damit die Frage der Rechtfertigung zu prüfen. In der Rechtssache Gebhard hat der EuGH sein Prüfprogramm wie folgt zusammengefasst:39 n Die Maßnahme muss in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, es darf sich also weder um eine offene noch eine versteckte Diskriminierung handeln. n Für eine Maßnahme gleicher Wirkung müssen zwingende Gründe des Allgemeinwohls für die Maßnahme vorliegen, was immer dann zu bejahen ist, wenn die Maßnahme unionsrechtlich anerkannten Belangen zu dienen bestimmt ist (sog Cassis-Formel). n Die Maßnahme muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten. n Die Maßnahme darf nicht über das hinausgehen, was zur Zweckerreichung erforderlich ist. 1. Die Dienstleistungsfreiheit Als Rechtfertigungsgründe kommen nach der Cassis-Rechtsprechung die zwingenden 16 Gründe des Allgemeininteresses in Betracht,40 die der EuGH für die Dienstleistungsfreiheit konkretisiert hat.41 Die entsprechenden Vorschriften müssen dem Allgemeininteresse dienen, für die Erreichung des verfolgten Zweckes geeignet und erforderlich sein, die entsprechenden Interessen dürfen nicht durch Vorschriften des Herkunftslandes geschützt werden und müssen sich im Übrigen als verhältnismäßig erweisen. Im Ergebnis sind damit das Herkunftslandprinzip bzw. das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung grundgelegt, auf denen auch die späteren Richtlinien beruhen. In diesem Zusammenhang eröffnet der EuGH die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung auch in solchen Fällen, in denen das nationale Recht eine Niederlassung verlangt, da solche Niederlassungserfordernisse bzw. Residenzpflichten regelmäßig an der Dienstleistungsfreiheit scheitern. Für das Handwerksrecht bedeutet dies Folgendes: Seine Vorschriften sichern zwar die Qualität von Handwerksleistungen und liegen damit im Allgemeininteresse. Selbst wenn man außerdem die Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahme bejaht, fehlt es aber jedenfalls an der Verhältnismäßigkeit ieS. Von Handwerkern aus dem EU-Ausland kann daher die Ablegung einer Meisterprüfung nicht verlangt werden. Der EuGH hielt auch die bloße Pflicht zur vorherigen Registrierung, die die Erbringung von Dienstleistungen im Aufnahmemitgliedstaat verzögert, erschwert oder (durch Verwaltungskosten und Beiträge für die Handwerkskammer) verteuert, im Ergebnis für unverhältnismäßig. Dies stützte er allerdings maßgeblich auch darauf, dass der Eintragung in die Handwerksrolle ein (richtliniengeprägtes) Ausnahmebewilligungsverfahren vorangehe, neben dem die Eintragung selbst letztlich nur noch administrativen Zwecken diene.42 Damit war die konstitutive Eintra38 EuGH 3.10.2000 – C-58/98 – Josef Corsten; EuGH 11.12.2003 – C-215/01, Rn. 28 – Bruno Schnitzer. 39 EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 37 – Gebhard. 40 Diese ungeschriebene Schranke ist in EuGH 20.2.1979 – C-120/78, Rn. 8, Slg 1979, 649 (662) – Cassis de Dijon – entwickelt worden. Sie findet ihre aktuelle, leicht veränderte Fassung in EuGH 26.6.1995 – C-368/95, Rn. 8, Slg 1997, I-3689, 3713 – Vereinigte Familiapress/Bauer Verlag. Ausführlich zur Cassis-Rspr. und den Reaktionen des Schrifttums Callies/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV Art. 34–36 Rn. 45 ff. 41 EuGH 10.5.1995 – C-384/93, Rn. 1 ff., Slg 1995, I-1141 – Alpine Investment. 42 EuGH 3.10.2000 – C-58/98, Rn. 41 – Josef Corsten; anders noch Stober GewArch 2003, 393 (398): Verbraucher- und Umweltschutz als Rechtfertigungsgründe, die die Regelung trügen.

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§ 3 Recht des Handwerks gung in die Handwerksrolle als Voraussetzung einer grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung, wie sie die HwO bis 2004 vorsah, europarechtswidrig. Eine automatische Eintragung (von Amts wegen) von Dienstleistungserbringern, wurde allerdings ausdrücklich für möglich gehalten.43 Vor allem aber war gerade nicht über die Frage entschieden, inwieweit die Zulassung zur Dienstleistungserbringung von bestimmten persönlichen Anforderungen abhängig gemacht werden darf. 2. Die Niederlassungsfreiheit

17 Die Niederlassung ausländischer Handwerker in Deutschland darf demgegenüber an eine solche Eintragungspflicht geknüpft werden, sofern diese auch für Handwerker mit einer im EU-Ausland erworbenen gleichwertigen Ausbildung offen steht. Schon 1965 wurde in § 9 HwO die entsprechende Möglichkeit in der HwO aufgenommen und damit die vorher bestehende (versteckte) Diskriminierung beseitigt.44 Als unterschiedslos wirkende Maßnahme war sie demgegenüber zu rechtfertigen.45 Aus diesem Grund hatte der EuGH nicht zur Niederlassungsfreiheit auf dem Gebiet des deutschen Handwerksrechts zu entscheiden.

III. Harmonisierung durch Richtlinien: Die Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor 18 Wie bereits bei der Darstellung der Grundfreiheiten deutlich wurde, wäre es allerdings eine starke Verkürzung der europarechtlichen Dimension von „Handwerksrecht“, wollte man dessen Einfluss allein auf die aus nationaler Sicht eher „destruktive“ Prüfung anhand der Grundfreiheiten reduzieren. Zunehmend übernahm hier auch das Sekundärrecht eine prägende Funktion. Schon seit den 1960er-Jahren wurde deutlich, dass angesichts der unterschiedlichen Berufszulassungsregime der Mitgliedstaaten und der überall zu beobachtenden Tendenzen zur Abschottung nationaler Dienstleistungsmärkte eine Harmonisierung auf der Grundlage von Richtlinien unverzichtbar schien. Sie sollte vor allem Rechtssicherheit herstellen, indem sie die ansonsten im Einzelfall anzustellende Gleichwertigkeitsprüfung standardisierten.46 Die historisch gewachsenen Regelungen selbst waren aber mehr als unübersichtlich. 19 Die Grundlage für eine solche Harmonisierung liefert im aktuellen Recht die Rechtssetzungsermächtigung des Art. 53 AEUV.47 Allerdings lassen sich nur solche Richtlinien auf diese Ermächtigungsgrundlage stützen, die auch tatsächlich zur Beseitigung von Hemmnissen für Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit beitragen.48 Der ganz auf natürliche 43 EuGH 11.12.2003 – C-215/01, Rn. 37 – Bruno Schnitzer; ebenso zuvor auch Diefenbach GewArch 2001, 305 unter Hinweis auf die damit verbundene Dokumentations- und Publizitätsfunktion. 44 Zur Qualifikation der Nichtberücksichtigung ausländischer Berufsqualifikationen als (versteckte) Diskriminierung EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 38 – Gebhard; s. auch Stork WiVerw 2004, 229 (233). 45 Vgl. zur Niederlassung eines Rechtsanwalts EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 37 – Gebhard. In einem obiter dictum für das Handwerksrecht EuGH 3.10.2000 – C-58/98, Rn. 45 – Josef Corsten. 46 Vgl. Roth EuR 1986, 340 (360). 47 Die Vorschrift ist im Verhältnis zur Vorgängernorm des Art. 47 EGV gestrafft worden. Da Richtlinien im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ergehen, besteht kein Einstimmigkeitserfordernis mehr; der frühere Art. 47 Abs. 2 S. 2 EGV war vor allem auf deutschen Druck aufgenommen worden und sollte insbes. das deutsche Handwerksrecht schützen, s. dazu Callies/Ruffert/Korte EUV/AEUV AEUV Art. 53 Rn. 2; Everling in GS Knobbe-Keuk, S. 607, 609 f. Der Begriff der Koordinierung in dieser Vorschrift ist identisch mit den allgemeinen Begriffen Harmonisierung oder Rechtsangleichung, vgl. ausf. Callies/ Ruffert/Korte EUV/AEUV AEUV Art. 53 Rn. 11. Der Rechtssetzungsauftrag in Art. 50 Abs. 2 lit. a AEUV zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit durch Liberalisierungsrichtlinien ist demgegenüber obsolet geworden, vgl. Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 2693. 48 EuGH 5.10.2000 – C-376/98, Slg 2000, I-8419, Rn. 84, 95 – Deutschland/Parlament und Rat.

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A. Einführung: Handwerk und Handwerksrecht in Deutschland und Europa

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Personen zugeschnittene Wortlaut des Art. 53 Abs. 1 AEUV darf allerdings nicht über den Regelungsgehalt hinwegtäuschen: Nach Art. 54 AEUV sind die Vorschriften des Niederlassungskapitels einschließlich des Art. 53 Abs. 1 AEUV auf juristische Personen anwendbar. Das Problem ist jedoch, dass es keine sich unmittelbar auf juristische Personen beziehenden Berufszulassungskriterien gibt. An deren Stelle „treten vielmehr Genehmigungsund Zulassungsregeln und damit das mitgliedstaatliche Aufsichtssystem“,49 die sich mittelbar auf Berufsqualifikationen (zB des Betriebsleiters) beziehen. Die Vorschrift des Art. 53 Abs. 1 AEUV erlaubt zwei unterschiedliche Ansatzpunkte, ei- 20 nerseits Regeln zur gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Zeugnissen und anderen Befähigungsnachweisen, andererseits die Koordinierung der Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, die Voraussetzung für die Aufnahme selbstständiger Tätigkeiten in den einzelnen Mitgliedstaaten sind, so dass also die Zulassungsvoraussetzungen selbst geregelt werden können.50 Im Ergebnis können daher alle Richtlinien auf Art. 53 Abs. 1 AEUV gestützt werden, die das Ziel haben, die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten zu erleichtern. Die – weiten – Spielräume des Richtliniengebers hat der EuGH vor allem im Kontext der parallelen Vorschrift des Art. 64 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 57 Abs. 2 EGV) konkretisiert:51 n Angesichts der Komplexität der zu regelnden Materie und der Unterschiede, die zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten fortbestehen, ist eine schrittweise Harmonisierung zulässig. n Es muss nicht das höchste, in einem bestimmten Mitgliedstaat bestehende Schutzniveau festgeschrieben werden; auch bewährte einzelstaatliche Regelungen sind nicht in jedem Fall zu beachten. n Bei wirtschaftlich komplexen Materien kann der Gerichtshof im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung die Beurteilung des Gemeinschaftsgesetzgebers nur dann beanstanden, wenn sich diese als offensichtlich fehlerhaft erweist oder wenn die Nachteile, die sich für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer ergeben, zu den im Übrigen mit der Regelung verbundenen Vorteilen völlig außer Verhältnis stehen. 1. Sektorale Harmonisierungsrichtlinien (vertikaler Ansatz) Schon vor der unmittelbaren Anwendbarkeit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfrei- 21 heit52 verabschiedete der Rat am 18.12.1961 zwei „Allgemeine Programme zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs“.53 Diese strebten neben einer Koordinierung von Berufszulassungsprüfungen Übergangsmaßnahmen an, denen die spezielle Abstimmung der nationalen Regelungen in den einzelnen Berufen folgen sollte. Wegen der strukturellen Unterschiede zwischen einzelnen Berufsgruppen und den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten beschränkte man sich dabei zunächst auf sektoral begrenzte Einzelrichtlinien. Eine der ersten Liberalisierungsrichtlinien, die der Verwirklichung dieser Programme diente, die RL 64/427/EWG,54 betraf das 49 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff Art. 53 Rn. 17. 50 Da beide Aspekte regelmäßig ineinandergreifen, wurden die früher in Art. 47 EGV auf zwei Absätze verteilten Regelungen zusammengefasst. 51 EuGH 13.5.1997 – C-233/94, Slg 1997, I-2405, Rn. 16 f. – Deutschland/Parlament und Rat. 52 Zu dieser EuGH 21.6.1974 – Rs. 2/74, Slg 1974, 631 – Reyners/Belgien. 53 ABl. 1962, 36, 32. Dazu Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 2714 ff.; Stumpf, Rn. 72; Everling BB 1961, 1257; Oppermann BB 1964, 563. 54 Richtlinie des Rates v. 4.6.1974 über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der selbstständigen Tätigkeiten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23–40 (Industrie und Handwerk), ABl. L 307 v. 18.11.1974, 1–4. Dazu Bulla, S. 398 ff.; Klinge WiVerw 1987, 137 ff.; s. auch Anhang A Liste I zur RL 1999/42/EG (ABl. L 201 v. 31.7.1999, 77) und nunmehr Anhang IV der Berufsanerkennungsrichtlinie.

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§ 3 Recht des Handwerks Handwerk. Sie sah im Wesentlichen ein System der gegenseitigen Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Berufserfahrung vor und galt sowohl bei der Niederlassung als auch bei der Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat. Insoweit waren die Behörden des Aufnahmestaats zwar an die Bescheinigungen der zuständigen Stellen des Herkunftsstaats gebunden, konnten aber die Vergleichbarkeit des vorgelegten Befähigungsnachweises mit den inländischen Anforderungen überprüfen.55 Demselben Regelungsmuster folgte die RL 75/369/EWG, die ebenfalls eine Reihe ganz unterschiedlicher selbstständiger Tätigkeiten erfasst, die teilweise in Deutschland zum Handwerksrecht gehören.56 Ihr folgte die RL 82/489/EWG für Friseure.57 Waren diese frühen Richtlinienpakete auch als Übergangsmaßnahmen ergangen, prägten sie doch jahrzehntelang Praxis und Rechtsprechung. 2. Horizontale Harmonisierungsrichtlinien

22 Wegen der Schwierigkeiten einer sektorenspezifischen Rechtsvereinheitlichung verfolgte man einen horizontalen Ansatz, der die Anerkennung bestimmter Abschlüsse vorschrieb, ohne zugleich die Ausbildungswege zu harmonisieren.58 Relevant für den Bereich des Handwerks wurde die RL 1999/42/EG (ABl. L 201 v. 31.7.1999, 77), die die Liberalisierungsrichtlinien aufhob, aber materiell nur begrenzte Änderungen brachte.59 Mit der sog „SLIM-Richtlinie“ wurden nicht nur zahlreiche Detailregelungen modifiziert und vereinheitlicht, sondern vor allem der Begriff der reglementierten Ausbildung aus der RL 92/51/EG im Anwendungsbereich ausgedehnt, allerdings gerade nicht auf Handwerksberufe erstreckt. 3. Berufsanerkennungs- und Dienstleistungsrichtlinie 23 Die einschneidendste Änderung für das Handwerk ergab sich durch die Berufsanerkennungsrichtlinie (BerufsanerkennungsRL), die durch die RL 2013/55/EU weiterentwickelt wurde und für das Handwerk seit 2014 maßgeblich ist.60 Die BerufsanerkennungsRL änderte nicht nur die vorhandenen Regelungen, sondern fasste sie nahezu vollständig in einem eigenen Rechtsakt zusammen, was einen deutlichen regelungstechnischen Fortschritt darstellte und die Übersichtlichkeit des Rechtsrahmens deutlich verbesserte, auch wenn der EuGH gleichwohl auch in seiner weiteren Rechtsprechung auf Vorgängerrichtlinien Bezug nahm. Daneben trat in einem sehr komplexen Zusammenspiel die Dienstleistungsrichtlinie (DRL).61 Diese, im Einzelnen darzustellenden Regelungen ersetzten die früheren Regelungen fast vollständig und ergänzten sie für das Handwerk auch um Vorgaben zur grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung (dazu → Rn. 44 ff.). 55 Vgl. Art. 4 UAbs. 2 und 3 der RL 64/427/EWG; dazu Leisner GewArch 1998, 445 (446); Stumpf DZWIR 2006, 99. 56 Sie umfasste ein ganzes Potpourri von Tätigkeiten, ua den Schiff-, Eisenbahn- und Luftfahrzeugbau sowie unter den persönlichen Diensten neben Hauswirtschaft, Wäscherei, chemischer Reinigung, Färberei, Schönheitssalons und Maniküre auch Fotoateliers und sonstige persönliche Dienste wie Gebäudereinigung, Kammerjägerei etc, überschnitt sich also stark mit dem Anwendungsbereich der HwO. 57 Richtlinie 82/489/EWG des Rates v. 19.7.1982 über Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr für Friseure, ABl. L 218 v. 27.7.1982. 58 Frenz, Grundfreiheiten Rn. 2718; Leibrock EuZW 1993, 634. 59 Insgesamt ersetzte diese Konsolidierungsrichtlinie 35 frühere Richtlinien, vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen v. 7.3.2002, KOM(2002) 119 endg., 4 f. 60 Delegierter Beschluss (EU) 2017/2113 der Kommission vom 11.9.2017 zur Änderung des Anhangs V der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich von Ausbildungsnachweisen und den Titeln von Ausbildungsgängen, ABl. L 317, 119. 61 Dazu vgl. Streinz/Leible in Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Einl., Rn. 31–36.

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Für die erfassten Berufe legt die Richtlinie „die Vorschriften fest, nach denen ein Mitgliedstaat ... die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten (im Folgenden Herkunftsmitgliedstaat genannt) erworbenen Berufsqualifikationen anerkennt, die ihren Inhaber berechtigen, dort denselben Beruf auszuüben“, vgl. Art. 4 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL. Die mit der RL 2013/55/EU eingefügten Art. 4 a–e regeln den Europäischen Berufsausweis.62 Bei der Richtlinie steht nicht die Ausübung der Tätigkeit, sondern die Zulässigkeit subjektiver Berufszulassungsschranken im Vordergrund.63 Die Anerkennung ermöglicht es den begünstigten Personen, in diesem Mitgliedstaat denselben Beruf wie den, für den sie in ihrem Herkunftsmitgliedstaat qualifiziert sind, aufzunehmen und unter denselben Voraussetzungen wie Inländer auszuüben (Art. 4 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL); seit der Novellierung kann gem. Art. 4 Abs. 3 auch unter den in Art. 4 f genannten Bedingungen partieller Zugang zu einem Beruf im Aufnahmemitgliedstaat gewährt werden (dazu →Rn. 33). Art. 21 enthält den Grundsatz der automatischen Anerkennung, der ebenfalls durch die RL 2013/55/EU neu eingefügte Art. 21 a das zugehörige Meldeverfahren. Nicht erfasst wurde von der ursprünglichen BerufsanerkennungsRL die berufliche Ausbildung.64 Nunmehr sieht Art. 22 gemeinsame Bestimmungen zur Ausbildung vor, und die Kommission ist nach Art. 49 a ermächtigt, durch einen delegierten Rechtsakt für einzelne Berufe ein gemeinsames Spektrum von für die Ausübung des betreffenden Berufs erforderlichen Mindestkenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen festzulegen; Art. 49 b ermöglicht die Schaffung gemeinsamer Ausbildungsprüfungen (Art. 49 b).65 Insgesamt gestaltet sich der Rechtsrahmen gerade für das Handwerk auch auf der Grundlage dieser Richtlinien als sehr komplex. In Deutschland wurde die BerufsanerkennungsRL „sektorenspezifisch“ umgesetzt, für das Handwerksrecht in der EU/EWR-HwV.66

IV. Handwerksaufsicht im Mehrebenenverbund Nach Art. 56 Abs. 1 S. 1 BerufsanerkennungsRL unterstützen sich die Aufnahme- und 24 Herkunftsstaaten gegenseitig im Rahmen der Amtshilfe und tauschen sich insbesondere auch über strafrechtliche Sanktionen aus. Auch hier erfolgt Wirtschaftsaufsicht im Verbund. Der Europäische Verwaltungsverbund ist ein Informations-, Entscheidungs- und Kontrollverbund auf der Grundlage unionsrechtlich vereinheitlichter Vorgaben des materiellen und des Verfahrensrechts.67 Die These, dass europäisches Verwaltungsrecht dabei immer in besonderer Weise Informationsverwaltungsrecht ist,68 gilt auch für die Wirt62 Vgl. näher Stork GewArch. 2013, 338 (343 ff.). Er soll jeweils für einzelne Berufe nach dem in Art. 58 Abs. 2 der RL genannten Verfahren eingeführt werden. 63 Bezüglich des Marktverhaltens basiert sie nach Art. 4 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL auf dem Grundsatz der Inländergleichbehandlung, vgl. Frenz, Grundfreiheiten Rn. 2782; Kluth/Rieger EuZW 2005, 486 (488 f.). 64 Frenz, Grundfreiheiten, Rn. 1980, 1982. 65 Dazu näher Stork GewArch. 2013, 338 (342 f.). 66 Verordnung über die für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz geltenden Voraussetzungen für die Ausübung eines zulassungspflichtigen Handwerks (EU/EWR-HwV), BGBl. 2007 I 3075. S. dazu näher Stork GewArch 2008, 177. Die aktuelle Fassung v. 18.3.2016, BGBl. I 509, vollzog die mit der RL 2013/55/EU erforderlichen Anpassungen. 67 Schmidt-Aßmann, Einleitung: Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in ders./Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 2 ff.; ausführlicher Überblick über verschiedene Referenzgebiete bei Siegel, Entscheidungsfindung im Verwaltungsverbund, 2009, S. 224 ff.; Möstl, Wirtschaftsüberwachung von Dienstleistungen im Binnenmarkt, DÖV 2006, 281. 68 S. nur Schmidt-Aßmann in FS Häberle, S. 395; ders. in ders./Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 15 f. Ausführlich zu weiteren Informationssystemen Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007.

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schaftsüberwachung und in besonderer Weise im Kontext der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung. Seit 2008 steht den Mitgliedstaaten das von der Kommission betriebene Binnenmarktinformationssystem (IMI) zur Verfügung. Es soll als Online-Kommunikationsinstrument für den Informationsaustausch im Rahmen der Durchführung der Berufsanerkennungs- und DienstleistungsRL genutzt werden und den zuständigen Behörden eine einfache Kommunikation über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg ermöglichen. In diesem Kontext spielt auch der Datenschutz eine wichtige Rolle. Außerdem besteht seit 2001 mit SOLVIT ein Online-Netzwerk, in dem alle EU-Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um im Wege informeller Streitbeilegung Probleme von Bürgern und Unternehmen zu lösen, die durch die fehlerhafte Anwendung von Binnenmarktvorschriften durch Behörden entstehen.69 25 Letztlich soll durch Information auf mögliche Kontrolldefizite70 im europäischen Verwaltungsverbund reagiert werden. In der Tat ist der Informationsfluss zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden unerlässlich. Ob allerdings allein mit dem Informationsaustausch und der weitgehenden Beschränkung der Kompetenzen auf das Herkunftsland solche Defizite werden ausgeräumt werden können, lässt sich bezweifeln. Deshalb müssen Fragen der Amtshilfe, einschließlich einer Verpflichtung zum Einschreiten auf „Anregung“ des Aufnahmestaats geklärt werden. Es stellt sich aber auch die Frage nach einer (zusätzlichen) Kontrolle durch den Aufnahmestaat (dazu → Rn. 55 ff., 67 ff.).

V. Ausblick 26 Die Regelungen der BerufsanerkennungsRL bleiben umstritten. Die bisher geltenden Rechtsvorschriften galten als weder sprachlich noch regelungstechnisch gelungen.71 Auch das Gesetzgebungsverfahren verlief alles andere als reibungslos, nachdem der 1. Entwurf der Kommission beim Parlament praktisch durchgefallen war.72 Der Vorstoß des Europäischen Parlaments, das im Gesetzgebungsverfahren angeregt hatte, ihren Anwendungsbereich auf Freie Berufe zu beschränken, wurde nicht umgesetzt.73 Nicht anders verhielt es sich bei der Novellierung. Die Kommission hat im Dezember 2011 einen Richtlinienvorschlag präsentiert,74 der in die ÄnderungsRL 2013/55/EU mündete. Vor allem seitens des Parlaments wurde eine Entschlackung des Katalogs der reglementierten Berufe gefordert.75 Weitergehende Ansätze etwa zur Einführung einer europäischen Dienstleistungskarte stießen auf Widerstand und sind in der parlamentarischen Beratung gescheitert.76 Insoweit bestand die Befürchtung, das für das Anerkennungsregime primär maßgebliche Ziellandprinzip zu sehr aufzuweichen. 27 Allerdings werden die Regelungen des Aufnahmestaates künftig einer strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden. Seit Längerem kritisiert die Europäische Kommission die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfungen der Rechts- und Verwal69 Vgl. http://ec.europa.eu/solvit/site/index_de.htm und dazu die Empfehlung der Kommission v. 7.12.2001 über Grundsätze zur Nutzung von „SOLVIT“, dem Problemlösungsnetz für den Binnenmarkt (ABl. EG L 331 v. 15.12.2001) sowie die Kommissionsmitteilung v. 27.11.2001, KOM(2001) 702. Die deutsche SOLVIT-Stelle befindet sich im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. 70 Dazu Luch/Sönke GewArch 2009, 143. 71 Ebenso bereits Bulla, S. 132. 72 S. im Einzelnen zur Genese Kluth/Rieger EuZW 2005, 486. 73 Vgl. den Abänderungsvorschlag v. 22.4.2004 Nr. 37, ABl. EU 2004 C 97E, 230; dazu Bulla, S. 401 f.; Kluth/Rieger GewArch 2006, 1 (4); Mann EuZW 2004, 615 (616). 74 KOM(2011) 883 endg v. 19.12.2011. 75 Stellungnahme v. 15.11.2011, vgl. dazu Frenz GewArch 2011, 377. 76 Vgl. dazu den Verordnungsentwurf KOM(2016) 824 endg v. 10.1.2017; der Vorschlag wurde im Binnenmarktausschuss des Parlaments mit knapper Mehrheit abgelehnt und ist damit gescheitert.

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tungsvorschriften der reglementierten Berufe. Bereits die Neufassung des Art. 59 BerufsanerkennungsRL hat die Mitgliedstaaten zu einem Peer-Review-Verfahren verpflichtet.77 In ihrer Mitteilung vom 28.10.2015 sah die Kommission gleichwohl die Notwendigkeit, den Mitgliedstaaten zusätzlich ein Raster für die Verhältnismäßigkeitsprüfung an die Hand zu geben, das sie bei der Überprüfung bestehender oder dem Erlass neuer Berufsreglementierungen anzuwenden hätten.78 Hierauf hat der EU-Gesetzgeber mit der RL 2018/958/EU reagiert, die am 30.7.2018 in Kraft getreten und von den Mitgliedstaaten bis zum 30.7.2020 in nationales Recht umzusetzen ist.79 Diese sieht detaillierte Prüfungskriterien vor, die zukünftig auf jede Reform und Neueinführung einer Berufsreglementierung im Sinne der RL 2005/36/EG anzuwenden sind. Die Richtlinie verlangt von den Mitgliedstaaten nicht nur eine Ex-ante-Prüfung der Verhältnismäßigkeit jeder einzelnen neuen und zu ändernden und aufrechtzuerhaltenden Vorschrift, sondern die umfassende Begründung des jeweiligen Prüfungsergebnisses nach den in Art. 4 näher ausgestalteten Anforderungen. Sie begründet außerdem weitere Informations- und Transparenzpflichten.80 Sie kommt neben der BerufsanerkennungsRL zur Anwendung (vgl. Erwägungsgrund 8) und erfasst sämtliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die in den Anwendungsbereich der Berufsanerkennungsrichtlinie fallen und den Zugang oder die Ausübung eines Berufs beschränken, einschließlich des Führens einer Berufsbezeichnung und der im Rahmen der Bezeichnung erlaubten beruflichen Tätigkeiten (Art. 2 Abs. 1 VerhältnismäßigkeitsRL). Immerhin erkennt Erwägungsgrund 17 die Gewährleistung der Qualität der handwerklichen Arbeit als zwingenden Grund des Allgemeininteresses an, der Eingriffe in die Berufsfreiheit rechtfertigen kann, andererseits sieht man offensichtlich gerade im Bereich der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung, wenn Art. 7 Abs. 4 lit. a–c die konkreten Anforderungen der Art. 5–9 BerufsanerkennungsRL an die Verhältnismäßigkeit noch einmal ausdrücklich wiederholt. Zugleich werden die zunehmend strengeren Anforderungen des EuGH an die von den Mitgliedstaaten anzuführenden Beweismittel aufgegriffen.81 Damit wird sich eine Entwicklung fortsetzen und wohl beschleunigen, die sich bereits in 28 der Vergangenheit abgezeichnet hatte. Die mit der grenzüberschreitenden Erbringung von Handwerksdienstleistungen zusammenhängenden Schwierigkeiten ließen sich gerade nicht auf die Frage der Anerkennung der Berufsqualifikation reduzieren. Auch deutschen Handwerkern bereiteten im Ausland vor allem solche Berufsausübungsregeln Probleme, die sich in der Praxis als versteckte Diskriminierung darstellen. Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens hat der EuGH die sog Limosa-Meldepflicht für Selbstständige, die auch auf ausländische Anbieter erstreckt wurde, trotz des legitimen Ziels der Bekämpfung von Sozialversicherungsbetrug und Sozialdumping als unverhältnismäßigen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit gewertet.82 Umgekehrt wird beispielsweise die Anwendbarkeit des deutschen Mindestlohngesetzes auf kurzfristige Einsätze in Deutschland für europarechtswidrig gehalten.83 Insgesamt aber betreffen die Weiterentwicklungen des Berufsanerkennungsrechts vor al- 29 lem die freien Berufe und weniger das Handwerksrecht. Durch die großzügigere Anerken77 Dazu Henssler/Schäfer EuZW 2014, 927; Stork GewArch 2015, 236. 78 KOM(2015) 550 endg. v. 28.10.2015. 79 Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.7.2018 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, ABl. L 173, 25. Zum Entwurf vgl. Schäfer EuZW 2018, 789; Stork EuZW 2017, 562. 80 Ausführlich Schäfer EuZW 2018, 789 (790 f.). 81 Zu dieser Rspr. insbesondere (am Bsp. der Warenverkehrsfreiheit) EuGH 19.10.2016 – C-148/15, EuZW 2016, 958 – Deutsche Parkinson Vereinigung/Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs. Zur Richtline vgl. Schäfer EuZW 2018, 789 (791 f.). 82 EuGH 19.12.2012 – C-577/10, EuZW 2013, 234 – Kommission/Belgien. 83 Dazu Sittard NZA 2015, 78.

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§ 3 Recht des Handwerks nung von Beschäftigungszeiten im Herkunftsland hat sich die Bedeutung der Anforderungen an Qualifikation und Ausbildung für die Aufnahme einer Tätigkeit genauso wie auch im nationalen Recht relativiert. Es bleibt daher abzuwarten, inwieweit möglicherweise die Entwicklung gemeinsamer Ausbildungsstandards eine Gegenbewegung einleiten könnte oder ob auch diese „die Gefahr einer Schaffung niedrigschwelliger europäischer Standards“ mit sich bringen, „die eine Dequalifizierungsspirale in Gang“ setzen.84

B. Handwerk als reglementierter Beruf I. Handwerk und Berufsanerkennungsrichtlinie 30 Die BerufsanerkennungsRL „ermöglicht es den begünstigten Personen, in diesem Mitgliedsstaat denselben Beruf wie den, für den sie in ihrem Herkunftsmitgliedsstaat qualifiziert sind, aufzunehmen und unter denselben Voraussetzungen wie Inländer auszuüben“, vgl. Art. 4 Abs. 1. Die Regelungen beruhen auf dem Gedanken der Vergleichbarkeit der Bildungs- und Ausbildungsstandards in den einzelnen Mitgliedstaaten.85 Die BerufsanerkennungsRL erfasst (nur) die sog „reglementierten Berufe“, also nach Art. 3 Abs. 1 lit. a solche beruflichen Betätigungen, bei denen durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften bestimmte Berufsqualifikationen für die Aufnahme oder Ausübung des Berufes vorgeschrieben sind.86 Ausgangspunkt der Prüfung ist also das Recht des Aufnahmestaates bzw. Ziellandes, konkret die Frage, inwieweit es für eine Tätigkeit bestimmte Berufsqualifikationen vorschreibt. Bezugspunkt für die Gleichwertigkeitsprüfung ist aus dessen Sicht der inländische Referenzberuf, mit dem die im Ausland absolvierte Berufsbildung zu vergleichen ist. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Rechtslage in Deutschland.87 1. Zulassungspflichtiges Handwerk als Beruf der dritten Qualifikationsstufe nach Art. 13 BerufsanerkennungsRL 31 Im deutschen Handwerksrecht fällt das zulassungspflichtige Handwerk (Anlage A der HwO) in den Anwendungsbereich der BerufsanerkennungsRL. Bei diesem ist gem. § 1 Abs. 1 HwO die Eintragung in die Handwerksrolle Voraussetzung der Aufnahme der Tätigkeit. Diese wiederum bzw. die Tätigkeit als Betriebsleiter stellen Anforderungen an die berufliche Qualifikation,88 die an der BerufsanerkennungsRL zu messen sind. Im Rahmen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit unterscheidet Art. 11 BerufsanerkennungsRL innerhalb der „reglementierten“ Berufe fünf Qualifikationsniveaus, die von „ungelernten“ Tätigkeiten bis zu einem universitären Masterstudium reichen.89 Die deutschen Meisterausbildungsgänge in den zulassungspflichtigen Handwerken waren in Anhang II der BerufsanerkennungsRL der dritten Qualifikationsstufe zugeordnet worden.90 Dies folgt auch 84 Stork GewArch 2013, 338 (345) sieht diese Gefahr vor allem darin begründet, dass die gemeinsamen Standards ein niedriges Niveau einnehmen könnten, weil auch Vertreter aus solchen Ländern einbezogen werden, in denen eine Regulierung nicht besteht. 85 Frenz, Grundfreiheiten Rn. 2738. 86 Zur Auslegung des Begriffes EuGH 17.12.2009 – Rs. 586/09, Slg 2009, I-12015 – Rubino/Ministerio dell’ Università e della Ricerca. 87 Umfassender Überblick über die reglementierten Berufe in der Datenbank der Kommission, vgl. http://e c.europa.eu/growth/tools-databases/regprof/ (Stand 12/2018). 88 S. den Überblick bei Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht Rn. 460. 89 Ausf. dazu Bulla, S. 409 ff.; Frenz DVBl. 2007, 347 (348 f.). 90 Die Änderung erfolgt in dem in Art. 58 Abs. 2 BerufsanerkennungsRL vorgesehenen Verfahren auf Antrag eines Mitgliedstaates durch Verordnung, hier die VO Nr. 1430/2007 v. 5.12.2007 (ABl. EU L 320). Zu den vorher bestehenden Auslegungsschwierigkeiten und Konsequenzen s. Bulla, S. 411 f.; Frenz DVBl. 2007, 347. Anhang II wurde aufgehoben mWv 17.1.2014 durch die RL 2013/55/EU, Anhang IV, der die Verzeichnisse der Tätigkeiten in Industrie, Handel und Handwerk enthält, wurde aktualisiert.

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nach der Abschaffung des Anhangs II aus Art. 11, da die Anforderungen über eine Schulausbildung hinausgehen, aber keinen Universitäts- oder Hochschulabschluss voraussetzen und damit unter Art. 11 Abs. 1 lit. c BerufsanerkennungsRL fallen. Ein gleichwertiger Abschluss (Art. 13 Abs. 1), aber auch ein entsprechender Tätigkeitszeitraum nach Maßgabe von Art. 13 Abs. 2 BerufsanerkennungsRL ermöglichen ausländischen Handwerkern die Tätigkeit als Betriebsleiter iSv § 7 Abs. 1 HwO; die in der früheren Fassung enthaltene Voraussetzung, dass das Berufsqualifikationsniveau des Inhabers zumindest unmittelbar unter dem Niveau nach Art. 11 liegt, das der Aufnahmemitgliedstaat fordert, ist entfallen. Damit hat auch die Unterscheidung nach den Qualifikationsstufen viel von ihrer Bedeutung verloren. Es stellen sich wohl auch nicht mehr die Probleme bei der Einordnung des Handwerks, 32 die sich nach der bisherigen Rechtslage daraus ergaben, dass § 7 b HwO auch Altgesellen die Eintragung in die Handwerksrolle ermöglicht. Deren Ausbildung gehört nur zum zweiten Ausbildungsniveau, so dass nach dem Regelungsmodell der Richtlinie EU-Ausländer lediglich einen Abschluss der ersten Stufe vorweisen müssten. Außer einem Schulabschluss würde hierfür auch die dreijährige Berufspraxis (ohne Abschluss) genügen.91 In der Tat hätte eine solche Auslegung wohl dem Sinn und Zweck der BerufsanerkennungsRL widersprochen. Die Eintragungsmöglichkeit für Altgesellen wäre aus diesem Blickwinkel lediglich die Reaktion des deutschen Gesetzgebers auf die mit der Regelungssystematik des Art. 13 verbundene Inländerdiskriminierung gewesen, auf die nicht europarechtlich mit einer weiteren Verwässerung der Ausnahmeregelungen reagiert werden könnte, so dass im Rahmen der bisherigen Regelung das deutsche Handwerk uneingeschränkt der dritten Qualifikationsstufe zuzuordnen war. EU-Ausländer mussten daher zumindest einen Nachweis der zweiten Qualifikationsstufe vorweisen können.92 Nach der Neuregelung genügt es, dass das Herkunftsland die Ausübung einer wesentlichen Tätigkeit des Handwerks gestattet; allerdings können zusätzliche Ausgleichsmaßnahmen (vgl. § 5 EU/EWR HwV) gefordert werden. In der Praxis werden sich die Fälle allerdings dadurch lösen, dass eine hinreichend lange Tätigkeit in dem entsprechenden Handwerk vorliegt, so dass auch bei EU-ausländischen Altgesellen regelmäßig keine zusätzlichen Ausgleichsmaßnahmen gefordert werden können. Art. 4 f der novellierten BerufsanerkennungsRL ermöglicht es nunmehr dem Aufnahme- 33 staat, einen partiellen Zugang zu einer Berufstätigkeit zu gewähren. Ein solcher partieller Zugang zu einer Berufstätigkeit soll gewährt werden, wenn n der Antragsteller im Herkunftsmitgliedstaat für die Ausübung der fraglichen beruflichen Betätigung qualifiziert ist, n die Unterschiede zwischen der rechtmäßig im Herkunftsmitgliedstaat ausgeübten Berufstätigkeit und dem reglementierten Beruf im Aufnahmemitgliedstaat so groß sind, dass die Anwendung von Ausgleichsmaßnahmen eigentlich der Anforderung an den Antragsteller gleichkäme, das vollständige Ausbildungsprogramm im Aufnahmemitgliedstaat zu durchlaufen, um Zugang zum ganzen reglementierten Beruf im Aufnahmemitgliedstaat zu erlangen, und n sich die Berufstätigkeit objektiv von anderen im Aufnahmemitgliedstaat unter den reglementierten Beruf fallenden Tätigkeiten trennen lässt. Wird ein partieller Zugang gewährt, so ist die Berufstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat unter der Berufsbezeichnung des Herkunftsmitgliedstaates auszuüben. Zudem sind Dienstleistungsempfänger auf das eingeschränkte Tätigkeitsspektrum hinzuweisen. Der partielle Zugang kann unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus zwingen91 Bulla, S. 409. 92 Ebenso Bulla, S. 412.

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§ 3 Recht des Handwerks den Allgemeinwohlinteressen wie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit verweigert werden, Art. 4 f Abs. 2 BerufsanerkennungsRL. Nach deutschem Recht besteht allgemein die Möglichkeit, eine auf wesentliche Tätigkeiten eines Handwerks beschränkte Ausnahmebewilligung zu erteilen; dies gilt gem. § 9 Abs. 1 iVm § 8 Abs. 2 HwO auch im Zusammenhang mit Diplomen, Prüfungszeugnissen oder sonstigen Befähigungsnachweisen, die in einem anderen EU/EWR-Staat oder der Schweiz erworben wurden. Damit können ausländische Berufsqualifikationen auch dann in Deutschland genutzt werden, wenn sie nur einen wesentlichen Teilbereich eines umfassenderen zulassungspflichtigen Handwerksberufes darstellen, so dass kein Umsetzungsbedarf für die Regelungen über den partiellen Berufszugang bestand. 2. Die Erfassung sämtlicher Handwerksberufe (keine Bereichsausnahme)

34 Keinen Anwendungsbereich findet im Handwerksrecht die Bereichsausnahme für öffentliche Gewalt, die unmittelbar auf Art. 51 AEUV verweist, aber auch für die Berufsanerkennungs- und DienstleistungsRL Geltung beansprucht.93 Danach werden solche Tätigkeiten nicht erfasst, die als Ausübung öffentlicher Gewalt zu qualifizieren sind. Dieser Begriff ist ein unionsrechtlicher und als Ausnahme von den Grundfreiheiten eng auszulegen.94 Allerdings hat der EuGH bisher eine wirkliche Definition nicht geliefert, so dass sich um die Anwendung regelmäßig Kontroversen entzündeten. Bestimmte Tätigkeitsfelder eines Schornsteinfegers ließen sich zwar möglicherweise genauso wie etwa die Kfz-Überwachung95 als öffentliche Gewalt interpretieren, rechtfertigen aber dennoch keine Bereichsausnahme: Zum einen betrifft dies allenfalls die einem sog bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger (vgl. § 8 SchfHwG) oder einem mit den Aufgaben der Kfz-Überwachung beliehenen Unternehmen (vgl. § 29 iVm Anlage VIII StVZO) vorbehaltenen Aufgaben. Sofern aber hoheitliche Aufgaben zusammen mit gewerblicher Tätigkeit ausgeführt werden, unterfällt die Tätigkeit nach Auffassung des EuGH insgesamt den einschlägigen Richtlinien.96 Diese Fragen bedürfen jedoch keiner Vertiefung. Wie in anderen Zusammenhängen kommt es auch hier im Ergebnis nur darauf an, dass das deutsche Recht weder im SchfHwG noch in der HwO einen entsprechenden Vorbehalt aufstellt. Da Art. 51 AEUV als „Einrede“ des Mitgliedstaates formuliert ist, muss er diese auch ausdrücklich erheben.97 Sie ausdrücklich einzuführen, würde am Ergebnis ebenfalls nichts ändern, weil allein die Einschaltung (beliehener) Privater in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben dazu führt, dass eine Überwachung dieser Tätigkeit durch den Staat ausreicht und eine Bereichsausnahme sich als unverhältnismäßige Einschränkung darstellt.98 35 Auch die in der BerufsanerkennungsRL vorgesehene Ausnahme für „gefahrgeneigte“ Gewerbe, die eine Gefahr für die Sicherheit des Dienstleistungsempfängers darstellen (vgl. Art. 7 Abs. 4 BerufsanerkennungsRL), ist im Handwerksrecht nur in wenigen Fällen an-

93 Vgl. ausdrücklich Art. 2 Abs. 2 lit. i DienstleistungsRL. 94 S. EuGH 15.3.1988 – Rs. 147/86, Slg 1988, 1637 Rn. 7 – Kommission/Griechenland; EuGH 22.10.2009 – C-438/08, Slg 2000, I-10219, Rn. 34 – Kommission/Portugal; s. auch zur Tätigkeit des Notars EuGH 25.5.2011 – C-47/08, NJW 2011, 2941 – Kommission/Deutschland. 95 EuGH 5.10.1994 – C-55/93, Slg 1994, I-4837 Rn. 16 – van Schaik; EuGH 15.10.2015 – C-168/14. S. auch zur Versicherungsaufsicht EuGH 13.7.1993 – C-42/92, Slg 1993, I-4047 Rn. 22 – Thijssen. 96 EuGH 23.12.2015 – C-293/14, EuZW 2016, 224 – Hiebler/Schlagbauer – zu den feuerpolizeilichen Aufgaben des österreichischen „Rauchfangkehrers“. 97 Dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 56 f. sowie zum Erfordernis, diesen einer Einrede vergleichbaren Vorbehalt auch geltend zu machen, im vergaberechtlichen Kontext BGH NVwZ 2009, 605 (607); Ruthig DVBl. 2010, 13 (15); s. auch schon Endler NZBau 2002, 125 (128 f.). 98 Vgl. dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 56; ausf. Ruthig DVBl. 2010, 13 (20).

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B. Handwerk als reglementierter Beruf

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wendbar. Es können keinesfalls sämtliche Handwerke unter diesen Tatbestand subsumiert werden.99 3. Sonderregelungen für Gesundheitshandwerke Europarechtliche Besonderheiten gelten außerdem für das Gesundheitsgewerbe. Bei diesen 36 kann nach Art. 7 BerufsanerkennungsRL im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit die Berufsqualifikation ex ante überprüft werden. Im Bereich der Niederlassung ist eine Anerkennung von Berufserfahrung nach Art. 16 ff. der Richtlinie ausgeschlossen. Für sie sind also strengere Anforderungen im Aufnahmestaat zulässig. Im Handwerksrecht gehören hierzu insbesondere die Augenoptiker, Chirurgiemechaniker, Hörgeräteakustiker, Orthopädieschuhmacher und Zahntechniker100 (vgl. auch § 7 Abs. 2 iVm § 9 EU/EWR-HwV). 4. Ausgenommene handwerkliche Tätigkeiten a) Zulassungsfreies Handwerk Nicht zu den reglementierten Berufen gehören die zulassungsfreien Handwerke nach An- 37 lage B1101 und die handwerksähnlichen Gewerbe nach Anlage B2. Beide Tätigkeitsarten sind der zuständigen Handwerkskammer lediglich anzuzeigen, § 18 HwO. Sie werden auch, soweit die weiteren Voraussetzungen vorliegen,102 nicht in die Handwerksrolle, sondern in ein separat zu führendes Verzeichnis (§ 19 HwO) eingetragen. Für diese gelten daher ausschließlich die Grundfreiheiten. b) Reisehandwerk Die wichtigste und in der Diskussion nicht gebührend berücksichtigte Einschränkung des 38 Anwendungsbereichs der BerufsanerkennungsRL ergibt sich allerdings aus der – auch verfassungsrechtlich bedenklichen – Beschränkung der deutschen HwO auf das stehende Gewerbe.103 Auf das Reisehandwerk ist nur die GewO anwendbar, die ihrerseits keine Anforderungen an die berufliche Qualifikation des Gewerbetreibenden stellt. Damit ist das Reisehandwerk kein reglementierter Beruf iSd BerufsanerkennungsRL (zu den weit reichenden Konsequenzen → Rn. 48 f.). Umso bedeutsamer ist die Abgrenzung zwischen Reisegewerbe und der Ausübung des 39 Handwerks als stehendes Gewerbe. Diese Abgrenzung wird anhand der Legaldefinition des § 55 Abs. 1 GewO vorgenommen.104 Danach betreibt (nur) derjenige ein Reisegewerbe, der gewerbsmäßig ohne vorhergehende Bestellung außerhalb seiner gewerblichen Niederlassung oder ohne eine solche zu haben eine der in den Nr. 1 und 2 genannten Tätigkeiten ausübt. Ob es also eine Niederlassung gibt, ist ohne Bedeutung, sofern die entschei99 Bulla, S. 405 f.; anwendbar ist sie allenfalls auf die besonders gefahrgeneigten Gesundheitshandwerke. 100 Vgl. auch Frenz DVBl. 2007, 347 (348 f.). Von der Anlage A der HwO sind erfasst: Chirurgiemechaniker, Hörgeräteakustiker, Orthopädietechniker, Orthopädieschuhmacher, Augenoptiker, Zahntechniker, vom Anhang IV Hauptgruppe 39 der Berufsanerkennungsrichtlinie nur die Herstellung von medizinischen und orthopädischen Erzeugnissen (außer orthopädischem Schuhwerk). 101 Bei der Anlage B1 handelt es sich um frühere Vollhandwerke, s. dazu Kormann/Hüpers GewArch 2004, 404; zur Zulässigkeit der Wiedereinführung des Meisterzwangs Burgi WiVerw 2018, 181; Kamp/Weiß GewArch, 2018, 450. 102 Insbes. muss das Gewerbe in handwerklicher Form ausgeübt werden. Zum Erfordernis der handwerklichen Betriebsform VGH Mannheim GewArch 2008, 249; Mirbach GewArch 2005, 366. 103 Dazu kritisch Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 147; Hüpers GewArch 2004, 230; Laubinger in FS Frotscher, S. 497, 498; die Einschränkung der Anwendbarkeit des Handwerksrechts begrüßend Steib GewArch 2001, 57. 104 Deswegen ließ sich die Rechtsprechung des BVerfG zur wegen Art. 12 GG großzügigen Auslegung des § 55 GewO trotz der in diese Richtung deutenden Formulierung des BVerfG (dazu Hüpers GewArch 2004, 230) auch nicht auf Minderhandwerk beschränken.

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§ 3 Recht des Handwerks denden Handlungen jedenfalls nicht von dieser erbracht werden.105 Sofern diese Voraussetzungen nicht vorliegen, handelt es sich um stehendes Gewerbe.106

II. Der persönliche Anwendungsbereich 1. Handwerker mit ausländischer Ausbildung 40 Die Anwendbarkeit der Regelungen ist unabhängig von der Staatsangehörigkeit. § 9 HwO und die EU/EWR-HwV stellen allein auf die im Ausland erworbene Qualifikation, nicht aber die Staatsangehörigkeit ab.107 Daher können auch „Ausbildungsausländer“ mit deutscher Staatsangehörigkeit sich auf die Vorschriften über die Anerkennung der Berufsqualifikation stützen.108 Voraussetzung ist aber das Vorliegen einer ausländischen Ausbildung. Ein deutscher Staatsangehöriger, der seine Ausbildung in Deutschland absolviert hat und dann seine Tätigkeit ins Ausland verlegt, kann sich daher gerade nicht auf die BerufsanerkennungsRL berufen.109 2. Sonderfall juristische Personen 41 Außerdem knüpft die BerufsanerkennungsRL an die Qualifikation und damit die Person des Handwerkers an. Sofern der Inhaber des Betriebs eine juristische Person ist oder selbst nicht über die entsprechende Qualifikation verfügt, ist auf die Person des Betriebsleiters abzustellen. Betriebsleiter ist derjenige, der in einem Handwerksbetrieb für die fachliche Ausgestaltung zuständig ist und im technischen Ablauf die Verantwortung trägt.110 Der Begriff ist ein solcher des nationalen Rechts. Es handelt sich nicht um denselben Begriff wie in Art. 3 Abs. 1 lit. i der BerufsanerkennungsRL. Die dortige Definition wird in § 2 Abs. 3 EU/EWR-HwV als Betriebsverantwortlicher bezeichnet.111 42 Wenn ein entsprechend qualifizierter Betriebsleiter vorhanden ist, kann jede natürliche oder juristische Person oder Personengesellschaft als Inhaber des Handwerksbetriebes in die Handwerksrolle eingetragen werden. Die Frage der Rechtsfähigkeit der juristischen Person beurteilt sich nach allgemeinen Grundsätzen,112 so dass selbstverständlich auch juristische Personen und Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform in die deutsche 105 BVerfG 27.9.2000 – 1 BvR 2176/98, NVwZ 2001, 189; OVG Münster 6.11.2003 – 4 A 511/02, GewArch 2004, 32. Insoweit missverständlich BVerfG 27.4.2007 – 2 BvR 449/02, GewArch 2007, 294; dazu Dürr GewArch 2011, 8 (9). 106 Die Kategorie des stehenden Gewerbes fungiert allgemein als Auffangkategorie, vgl. Ruthig in Ruthig/ Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 209 f. 107 BVerwG 27.5.1998 – 1 B 51/98, GewArch 1998, 470; Honig/Knörr HwO § 9 Rn. 6; Beaucamp DVBl. 2004, 1458 (1460); Honig NVwZ 2003, 172 (175). Dies entspricht auch der Rechtslage bei den Grundfreiheiten. Auch wenn diese reine Inlandssachverhalte nicht erfassen, können sich Personen, die im Ausland berufliche Qualifikationen erworben haben, sehr wohl gegenüber ihrem Heimatstaat auf die Niederlassungsfreiheit sowie die sie konkretisierenden Richtlinien stützen. 108 BVerwG 27.5.1998 – 1 B 51/98, GewArch 1998, 470; s. auch Beaucamp DVBl. 2004, 1458 (1460); Honig NVwZ 2003, 175. 109 Insoweit dürfte der Anwendungsbereich der Richtlinie also auch dann nicht eröffnet sein, wenn zwischen der deutschen Ausbildung und der Berufsausübung in Deutschland die Tätigkeit für einige Jahre ins Ausland verlegt wurde, vgl. OLG Hamm 5.3.2009 – I-4 U 156/08, 4 U 156/08, WRP 2009, 870; insoweit abweichend BGH 25.3.2010 – I ZR 68/09, EuZW 2011, 197 (199). 110 Der Betriebsleiter muss den gleichen Einfluss haben wie im traditionellen Handwerksrecht der selbstständige Handwerksmeister, also insbes. ein Weisungsrecht gegenüber den Beschäftigten, s. BVerwG 16.4.1991 – 1 C 50/88, NVwZ 1991, 1189; VGH Mannheim 25.6.1993 – 14 S 269/93, GewArch 1993, 483; s. auch Honig/Knörr HwO § 7 Rn. 5. Die Stellung als Betriebsleiter darf nicht verwechselt werden mit der Frage einer Tätigkeit in leitender Stellung iSv § 7 b Abs. 1 Nr. 2 HwO, die Voraussetzung der sog Altgesellenregelung ist, s. dazu OVG Lüneburg 4.7.2011 – 8 LA 288/10. 111 S. auch BR-Drs. 818/07, 16. 112 Dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 265.

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C. Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (Titel II)

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Handwerksrolle eingetragen werden und vor allem ihre Dienstleistungsfreiheit ausüben können, wenn sie einen entsprechend qualifizierten Betriebsleiter beschäftigen. Praktisch bedeutsamer ist es jedoch, dass die im Folgenden darzustellenden Grundsätze auch für inländische juristische Personen gelten, die einen Betriebsleiter beschäftigen (wollen), der seine Ausbildung im Ausland absolviert hat. Es müsste allerdings vor der Eintragung der juristischen Person in die Handwerksrolle in einem Verwaltungsverfahren nach § 6 EU/ EWR-HwV eine (bestandskräftige) Ausnahmebewilligung erteilt werden.113 3. Unselbstständige Tätigkeit Die BerufsanerkennungsRL ist auch auf die unselbstständige Tätigkeit anwendbar (vgl. 43 Art. 2 Abs. 1 und Erwägungsgrund 1). Art. 52 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL regelt das Recht zur Führung einer entsprechenden Berufsbezeichnung und knüpft dies an die Einhaltung der entsprechenden Voraussetzungen der Anerkennung.114 Antragsberechtigt ist nach dem Wortlaut der Vorschrift nur derjenige Handwerker, der eine selbstständige Tätigkeit oder eine Tätigkeit als Betriebsleiter aufnehmen will. Dies folgt aus der Systematik des Handwerksrechts. Da § 9 HwO nur die selbstständige Tätigkeit erfasst und nur auf den Betriebsleiter erstreckt werden kann, kann auch die Bestätigung nach § 1 EU/EWRHwV unselbstständig tätigen Handwerkern nicht erteilt werden. Dem könnte man mit einer unmittelbaren Anwendung der entsprechenden Richtlinienbestimmung Rechnung tragen.115 Da § 1 EU/EWR-HwV die Ausnahmebewilligung ausdrücklich regelt, die auch für einen Betriebsleiter erteilt werden kann, könnte man auch an eine richtlinienkonforme Auslegung dieser Vorschrift denken und dieser als „Minus“ einen Anspruch auf Bestätigung des Vorliegens der Ausnahmevoraussetzungen entnehmen. Immerhin spricht § 1 EU/ EWR-HwV ausdrücklich davon, dass die Ausnahmebewilligung auch einem Handwerker erteilt werden kann, der als Betriebsleiter tätig sein will. Alternativ könnte man auch auf das BQFG116 abstellen. Dieses Anerkennungsgesetz regelt Voraussetzungen und Prüfungsverfahren über eine Gleichwertigkeit von (allen) ausländischen Berufsqualifikationen mit entsprechenden Qualifizierungen nach deutschem Recht (zur Zuständigkeit der Handwerkskammern für das Verfahren vgl. § 50 b HwO). Die Regelungen gelten nach § 2 Abs. 1 BQFG für alle bundesrechtlich geregelte Berufe, sofern die entsprechenden berufsrechtlichen Regelungen nicht etwas anderes bestimmen. Allerdings ist das Verfahren nach der EU/EWR-HwV schneller und deswegen eine richtlinienkonforme Auslegung der EU/ EWR-HwV überzeugender als eine Anwendung der allgemeinen Regelungen des BQFG.

C. Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (Titel II) Wie im Bereich der Grundfreiheiten auch, ist bei der BerufsanerkennungsRL zwischen 44 grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung und der dauerhaften Integration in den Aufnahmestaat zu unterscheiden.117 Sofern sich der Dienstleister in seinem Herkunftsland rechtmäßig für die Ausübung seiner Tätigkeit niedergelassen hat, ist er zur Dienstleistungserbringung dann berechtigt, wenn er in seinem Heimatland eine den dargestellten Anforderungen genügende Ausbildung abgeschlossen hat, die damit indirekt im Aufnah113 Honig/Knörr HwO § 7 Rn. 36 f. 114 Art. 52 Abs. 2 BerufsanerkennungsRL hat demgegenüber – wie sich aus Art. 3 Abs. 2 iVm Anh. I der BerufsanerkennungsRL ergibt – in Deutschland keinen Anwendungsbereich. 115 So VG Mainz 6.2.2009 – 6 K 678/08.MZ, GewArch 2009, 167, das in seiner Entscheidung dann allerdings die tatbestandlichen Voraussetzungen als nicht gegeben ansah und deswegen den Anspruch scheitern ließ. 116 Gesetz über die Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen (Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz – BQFG) v. 6.12.2011 (BGBl. I 2515). 117 Dazu näher Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 73.

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§ 3 Recht des Handwerks mestaat anerkannt wird118 oder – wenn es sich dort nicht um einen reglementierten Beruf handelt – wenn er sie während der letzten zehn Jahre für mindestens ein Jahr ausgeübt hat, Art. 5 Abs. 1 lit. b BerufsanerkennungsRL.

I. Anwendbarkeit von Titel II 45 Anders als es ihre Bezeichnung nahelegen könnte, wird die Dienstleistungsrichtlinie bei den reglementierten Berufen von Titel II der BerufsanerkennungsRL (Art. 5 ff.) verdrängt, vgl. Art. 17 Nr. 6 DienstleistungsRL.119 Soweit die BerufsanerkennungsRL den Sachverhalt nicht regelt, ist allerdings die DienstleistungsRL anwendbar. Nach Erwägungsgrund 4 der BerufsanerkennungsRL sollen die besonderen Vorschriften zur Erleichterung des freien Dienstleistungsverkehrs beitragen, um die Möglichkeiten zur Ausübung beruflicher Tätigkeiten unter der im Herkunftsmitgliedstaat erworbenen Berufsbezeichnung zu erweitern. Die Novellierung der BerufsanerkennungsRL erweiterte die Möglichkeiten zur vorübergehenden und gelegentlichen Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen. In Deutschland regelt der Abschnitt 2 der EU/EWR-HwV die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (§§ 7–9).120 1. Der vorübergehende und gelegentliche Charakter der Dienstleistungserbringung 46 Die Anwendbarkeit der Art. 5 ff. BerufsanerkennungsRL setzt voraus, dass es sich um eine vorübergehende und gelegentliche Ausübung des Berufes handelt. Nach Art. 5 Abs. 2 UAbs. 2 wird „der vorübergehende und gelegentliche Charakter der Erbringung von Dienstleistungen... im Einzelfall beurteilt, insbesondere anhand der Dauer, der Häufigkeit, der regelmäßigen Wiederkehr und der Kontinuität der Dienstleistung“. Auch wenn hier nicht ausdrücklich auf die Grundfreiheiten Bezug genommen wird,121 stammen diese Kriterien erkennbar aus der Rechtsprechung des EuGH zur Dienstleistungsfreiheit, so dass an diese angeknüpft werden kann.122 Es kommt also – genauso wie nach Art. 4 Nr. 5 DienstleistungsRL, der in § 4 Abs. 3 GewO umgesetzt wurde123 – auf das Vorhandensein einer inländischen Niederlassung an. Dabei wird eher im Sinne einer Gesamtbetrachtung auf die „Verwurzelung“ des Gewerbetreibenden im Aufnahmestaat abgestellt.124 Für das Handwerksrecht hat die Entscheidung „Schnitzer“ diese Maßstäbe konkretisiert und klargestellt, dass sehr wohl auch eine mehrjährige Tätigkeit auf einer Großbaustelle mit der entsprechenden Infrastruktur als vorübergehende Tätigkeit angesehen werden kann.125 Abzustellen ist auf den tatsächlichen geschäftlichen Mittelpunkt. Wird die berufliche Tätigkeit insgesamt überwiegend im Inland erbracht, sind die Niederlassungsregeln anzuwenden, selbst wenn der Dienstleister formal im Ausland residiert.126 Die Dienstleistungs-

118 Frenz, Grundfreiheiten Rn. 2742. 119 Die allgemeine „Kollisionsregel“ des Art. 3 Abs. 1 lit. d DienstleistungsRL wird deswegen nur im Bereich der Niederlassungsfreiheit relevant, vgl. Leible in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 3 Rn. 7. 120 § 4 EU/EWR-HwV aF hatte demgegenüber der hinsichtlich der Anerkennungsvoraussetzungen auf die für die Niederlassungsvorgänge geltenden Grundsätze und die Arbeitnehmerfreizügigkeit verwiesen. 121 Daraus leitet Frenz, Grundfreiheiten Rn. 2739 f. den eigenständigen Charakter der Definition ab, ohne jedoch darzulegen, inwieweit sich hieraus Unterschiede ergeben könnten. 122 Stork GewArch 2011, 291. 123 Dazu vgl. BT-Drs. 16/12784, 14; Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 244. 124 Schönleiter GewArch 2009, 384 (386). 125 EuGH 11.12.2003 – C-215/01, Rn. 28 ff. – Bruno Schnitzer – unter Bezugnahme auf EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 37 – Gebhard. 126 EuGH 17.6.1997 – Rs. 70/95, Slg 1997, I-3395 – Sodemare; EuGH 2.12.1974 – Rs. 33/74, Slg 1974, 1299 – van Binsbergen.

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RL hat Fälle der Umgehung ausdrücklich geregelt.127 Die Bedeutung der Umgehungsklausel wird wohl erst durch den EuGH abschließend zu klären sein,128 genauso wie die Behandlung von möglichen Umgehungskonstellationen im Rahmen der BerufsanerkennungsRL. Außer dem klaren Fall, dass ein deutscher Handwerker gerade deswegen ins Ausland „flüchtet“, weil er bereits in Konflikt mit den deutschen Behörden geraten ist, ist angesichts der großzügigen EuGH-Rechtsprechung der Umgehungstatbestand sehr eng auszulegen.129 Verfügt also ein Unternehmen sowohl über inländische wie über ausländische Niederlassungen, ist allein die Abwicklung einer Leistung über die ausländische Niederlassung nicht rechtsmissbräuchlich, selbst wenn dies (nur) zu dem Zweck geschehen sollte, Anforderungen des deutschen Gewerberechts zu vermeiden. Ungeklärt ist die Frage, wie der Fall einzuordnen ist, dass der ausländische Gewerbetrei- 47 bende zwar tatsächlich nur grenzüberschreitende Dienstleistungen erbringt, aber gegenüber seinen Kunden den Eindruck erweckt, über eine deutsche Niederlassung zu verfügen. Jedenfalls im internationalen Prozessrecht kann aber auch eine Scheinniederlassung den Niederlassungsgerichtsstand begründen.130 2. Keine Qualifikation als Reisegewerbe Da es sich beim Reisehandwerk nicht um einen reglementierten Beruf handelt (→ Rn. 38), 48 gelten dann die allgemeinen (gewerberechtlichen) Anforderungen. Nach § 4 GewO bedarf die entsprechende Tätigkeit in Deutschland weder einer Reisegewerbekarte noch einer Gewerbeanzeige nach § 14 GewO.131 Im Ergebnis ist auch die zur Umsetzung der BerufsanerkennungsRL eingefügte Anzeigepflicht des § 13 a GewO nicht einschlägig. Diese gilt zwar für die Angehörigen der reglementierten Berufe iSd BerufsausübungsRL und ließe sich also auf die handwerksrechtliche Konstellation grundsätzlich anwenden, soweit sie nicht von § 9 EU/EWR-HwV als speziellerer Vorschrift verdrängt wird. Allerdings setzt sie tatbestandlich voraus, dass die „Aufnahme oder Ausübung nach deutschem Recht einen Sachkunde- oder Unterrichtungsnachweis“ verlangt, wie es beim Reisegewerbe gerade nicht der Fall ist. Eine Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen ist daher gewerberechtlich nicht erforderlich, auf der Grundlage der §§ 4 ff. BQFG aber sehr wohl möglich. Damit ist die Abgrenzung zwischen Reisehandwerk und stehendem Gewerbe von entschei- 49 dender Bedeutung für das europäische Rechtsregime. Sie hat nach den Maßstäben für den inländischen Referenzberuf zu erfolgen, beurteilt sich also allein nach deutschem Gewerberecht. Da nach der großzügigen Auslegung des § 55 GewO durch das BVerfG auf die Akquise des Auftrags und nicht die spätere Leistungserbringung abzustellen ist, entscheidet in den Fällen, in denen eine Niederlassung existiert, das Tatbestandsmerkmal der vorhergehenden Bestellung.132 An dieser Einordnung ändert sich selbst dann nichts, wenn die 127 Dazu Pielow in Pielow GewO § 4 Rn. 30 ff.; Schönleiter GewArch 2009, 384 (386). 128 Vollzugsprobleme sieht auch Pielow in Pielow GewO § 4 Rn. 35. 129 Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 69, 242 f., 264; Pielow in Pielow GewO § 4 Rn. 31. 130 EuGH 9.12.1987 – C-218/86, Slg 1987, 4905 – Schotte/Parfums Rothschild; s. auch Ruthig, Vollmacht und Rechtsschein im IPR, 1996, S. 187. 131 Näher dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht Rn. 240, 461. Wegen dieser eindeutigen Regelung kann auch dahinstehen, ob die Dienstleistungsrichtlinie ein Anzeigeerfordernis gem. § 14 GewO ausschließen würde; dies bejahend Korte NVwZ 2007, 501 (507); Mann GewArch 2010, 93; aA Schmidt-Kessel in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 16 Rn. 55. Die Bundesregierung stellte nur darauf ab, dass ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht als OWi geahndet werden kann, s. dazu BT-Drs. 16/13190; Pielow in Pielow GewO § 4 Rn. 23. Es hätte daher möglicherweise genügt, lediglich den OWi-Tatbestand anzupassen. 132 Vgl. Hüpers GewArch 2004, 230 (231).

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§ 3 Recht des Handwerks Planung und Koordinierung oder sogar vorbereitende Arbeiten in der Niederlassung durchgeführt werden. Genügt es danach für die Qualifikation als Reisegewerbe, dass jedenfalls der erste Kontakt auf Initiative des Handwerkers zustande kam133 und qualifiziert man ein Zeitungsinserat des Handwerkers als „provozierte“ Bestellung, die gerade keine vorhergehende Bestellung des Kunden iSd § 55 GewO darstellt,134 kann praktisch jedes Handwerk als Reisegewerbe und damit ohne Befähigungsnachweis erbracht werden.135 Gerade bei einer Tätigkeit aus dem Ausland werden diese Anforderungen sehr häufig erfüllt sein. Führt man diesen Ansatz konsequent zu Ende, könnte man wohl sogar in einer Internetanzeige bzw. einer Homepage (jedenfalls wenn sie sich ausdrücklich an den deutschen Markt richtet, etwa durch eine Verfügbarkeit auf Deutsch oder explizite Lieferangebote nach Deutschland),136 eine solche „provozierte Bestellung“ sehen. Es bleiben jedenfalls kaum Fälle, in denen die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung überhaupt in den Anwendungsbereich der HwO fällt. Im Ergebnis jedenfalls sind die BerufsanerkennungsRL und die zu ihrer Umsetzung ergangenen Vorschriften nur auf solche Handwerksleistungen anwendbar, die von einer ausländischen Niederlassung aus auf vorhergehende Bestellung des Kunden erbracht werden und deswegen nicht als Reisegewerbe einzustufen sind. Dies dürften nur die eher seltenen Fälle sein, in denen Stammkunden Kontakt zu ihren üblichen Auftragnehmern aufnehmen, da in den meisten anderen Fällen inzwischen die entsprechende Werbung über einen Internetauftritt genügt.

II. Rechtsfolgen: Keine Beschränkung der Aufnahme der Tätigkeit im Aufnahmestaat 50 Sofern die Art. 5 ff. der BerufsanerkennungsRL Anwendung finden, findet grundsätzlich keine Überprüfung der Berufsqualifikation seitens des Aufnahmestaates vor Aufnahme der Tätigkeit statt. Anderes gilt lediglich im Bereich der Gesundheitsberufe, also auch für die entsprechenden Gesundheitshandwerke sowie das Schornsteinfegergewerbe.137 Die Berufsausübung erfolgt unter der Berufsbezeichnung des Herkunftslandes (Niederlassungsstaates).138

133 Vgl. BVerfG 27.9.2000 – 1 BvR 2176/98, NVwZ 2001, 189 (190); restriktiver zuvor VGH Mannheim 17.7.1995 – 1 B 23/95, GewArch 1995, 475; näher dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht Rn. 344. 134 Dazu mwN Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 344. 135 Zum Zimmererhandwerk OVG Münster 6.11.2003 – 4 A 511/02, GewArch 2004, 32; krit. Honig/ Knörr HwO § 1 Rn. 31; Hüpers GewArch 2004, 230; zum Versuch einer einschränkenden Auslegung Korte GewArch 2010, 265. 136 Kriterien hierfür lassen sich dem Recht des E-Commerce entnehmen, vgl. dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 396 ff. 137 § 7 Abs. 2 iVm § 9 EU/EWR-HwV: „Dienstleistungen in einem Handwerk der Nummern 12 oder 33– 37 der Anlage A zur Handwerksordnung“. Bei Letzterem hat das SchfHwG (Gesetz über das Berufsrecht und die Versorgung im Schornsteinfegerhandwerk v. 11.7.2011, BGBl. I 1341) die Rechtslage erheblich umgestaltet; es war die Reaktion des Gesetzgebers auf ein Beanstandungsschreiben der Kommission, die das bisherige Modell der Bezirksschornsteinfegermeister als unionsrechtswidrig erachtete. Zwar werden auch dessen gesetzlichem Nachfolger, dem sog bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger, bestimmte Aufgaben (Kehrbuchführung und Feuerstättenschau, Bauabnahme und anlassbezogene Überprüfungen) vorbehalten, er wird aber nur noch befristet bestellt und hat vor allem auch nicht mehr das Monopol für die Erbringung von Schornsteinfegerdienstleistungen im Übrigen. Zum Gesetz und seinen Hintergründen vgl. Sydow GewArch 2009, 14. Beseitigt wurde bei der Novelle auch die Herausnahme des Schornsteinfegerhandwerks aus der EU/EWR-HwV. 138 Vgl. Art. 7 Abs. 3 BerufsanerkennungsRL. Lediglich dort, wo bei gefahrgeneigten Handwerken die Berufsqualifikation vorab durch den Aufnahmestaat kontrolliert wird, wird die Berufsbezeichnung des Aufnahmestaates verwendet, Art. 7 Abs. 4 BerufsanerkennungsRL.

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C. Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (Titel II)

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1. Vorherige Anzeige gegenüber der Behörde und Information des Dienstleistungsempfängers Allerdings kann nach Art. 7 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL verlangt werden, dass der be- 51 treffende Dienstleistungserbringer vor der ersten Leistungserbringung dies dem Aufnahmestaat anzeigt und diese Anzeige jährlich erneuert. Für das Handwerksrecht ist dies in § 9 der EU/EWR-HwV umgesetzt. Grundsätzlich darf – außer im Schornsteinfegerhandwerk und in bestimmten Gesundheitshandwerken – auch sofort nach der Anzeige mit der Tätigkeit begonnen werden. Auf die Anzeige hin findet lediglich eine formelle Prüfung statt, bei der neben der Staatsangehörigkeit die Anwendbarkeit der Regelungen zur grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung sowie die Vollständigkeit der in Art. 7 BerufsanerkennungsRL/§ 8 EU/EWR-HwV genannten Nachweise geprüft werden. Über die erfolgte schriftliche Anzeige der beabsichtigten Dienstleistungserbringung im Inland ist von der Behörde eine Eingangsbestätigung auszustellen, § 8 Abs. 3 EU/EWR-HwV. Diese kann zwar als Nachweis der Erfüllung der Anzeigepflicht139 dienen, sie ist aber nicht Voraussetzung für eine zulässige Leistungserbringung. Auch diese Pflicht beschränkt sich allerdings auf die Ausübung des Handwerks im stehenden Gewerbe. Nur für bestimmte gefahrgeneigte Gesundheitshandwerke kann der Aufnahmestaat die vorherige Überprüfung der Berufsqualifikation verlangen, Art. 7 Abs. 4 UAbs. 1 BerufsanerkennungsRL. Ist eine solche vorgeschrieben, ist die Überprüfung grundsätzlich innerhalb eines Monats abzuschließen (Art. 7 Abs. 4 BerufsanerkennungsRL); die Frist kann in bestimmten Fällen um einen Monat verlängert werden. Verstreicht die Frist darf die Dienstleistung erbracht werden. Außerdem legt Art. 9 BerufsanerkennungsRL dem Dienstleister bestimmte Informations- 52 pflichten gegenüber dem Dienstleistungsempfänger auf. So hat dieser auf Verlangen der zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaates zusätzlich zu seinen sonstigen Informationspflichten Auskunft über im Einzelnen näher aufgelistete Umstände, wie die zuständige Aufsichtsbehörde im Niederlassungsstaat, die Umsatzsteueridentifikationsnummer oder den Versicherungsschutz, zu erteilen.140 2. Keine Eintragung in die Handwerksrolle Eine unionsrechtlich nach Art. 6 Abs. 1 lit. a BerufsanerkennungsRL unter bestimmten 53 Voraussetzungen zulässige141 pro forma-Eintragung für grenzüberschreitende Dienstleister ist in Deutschland nicht vorgesehen. 3. Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit (des Dienstleistungsempfängers) Aus Art. 19 DienstleistunsgRL folgt außerdem, dass auch der Empfänger von Dienstleis- 54 tungen nicht diskriminiert werden darf, wenn er eine grenzüberschreitende Dienstleistung in Anspruch nimmt. Dies betrifft beispielsweise die finanzielle Förderung Privater,142 zB beim Einbau umweltfreundlicher Heizungen etc, die nicht davon abhängig gemacht werden darf, dass die Leistung von einem einheimischen Handwerker erbracht wird.

139 Deren Nichteinhaltung ist nach § 118 Abs. 1 Nr. 7 HwO iVm § 10 EU/EWR-HwV bußgeldbewehrt. 140 Zu den Einzelheiten vgl. Art. 9 lit. a–f. 141 Es müsste sich jedoch um eine kostenfreie, automatische und vorübergehende Eintragung handeln; auch eine Kammermitgliedschaft wäre als beitragsfreie Pro-Forma-Mitgliedschaft nicht ausgeschlossen. 142 Herrenthal in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 19 Rn. 49 f.

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§ 3 Recht des Handwerks

III. Kontrolle der Berufsausübung durch den Aufnahmestaat 55 Davon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit der Aufnahmestaat gegen die Ausübung der Tätigkeit seitens des Dienstleistungserbringers einschreiten darf. War dies vor dem Inkrafttreten der DienstleistungsRL ohne Weiteres zu bejahen, so wurde die Rechtslage maßgeblich durch diese Richtlinie umgestaltet. Ihre Vorgaben beanspruchen auch bei reglementierten Berufen Geltung, da die BerufsanerkennungsRL keine diesbezüglichen Vorgaben enthält.143 Es sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden. Nur ausnahmsweise wird die Berufsqualifikation vor Aufnahme der Tätigkeit überprüft (dazu → Rn. 56); die Anwendung des eigenen öffentlichen Rechts ist auf Ausnahmekonstellationen beschränkt (→ Rn. 57), auch die Kontrollbefugnisse hinsichtlich des Rechts des Herkunftslandes sind sehr beschränkt (dazu → Rn. 58). Damit beschränken sich die Kompetenzen des Aufnahmestaats im Wesentlichen auf ein polizeirechtliches Einschreiten im Einzelfall (→ Rn. 59 f.). 1. Ausnahmsweise Kontrolle vor Beginn der Dienstleistungserbringung 56 Bei den Gesundheitshandwerken kann die Behörde die Berufsqualifikation vorab überprüfen. Dementsprechend darf mit der Leistungserbringung erst begonnen werden, wenn die Behörde mitgeteilt hat, dass sie keine Nachprüfung der Berufsqualifikation vornehmen wird oder eine ausreichende Berufsqualifikation festgestellt hat. Auch hier gibt es eine Fiktionsregelung: Lässt die zuständige Behörde indes die Überprüfungsfrist trotz Vorliegens der relevanten Unterlagen verstreichen, so darf die Dienstleistung erbracht werden, § 8 Abs. 2 S. 3 iVm § 9 Abs. 3 EU/EWR-HwV. 2. Durchsetzung des eigenen öffentlichen Rechts durch den Aufnahmestaat 57 Maßstab für die Zulässigkeit der Anwendung des eigenen öffentlichen Rechts des Aufnahmestaats ist Art. 16 Abs. 3 der DienstleistungsRL. Insoweit erreicht Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie einen Gleichlauf zwischen materiellem Recht und behördlicher Zuständigkeit: Soweit nach Art. 16 DLR in zulässiger Weise der Dienstleistungsstaat sein eigenes Recht anwendet, ist er auch zu dessen Kontrolle berufen.144 Dies ist allerdings nur ausnahmsweise der Fall. Die öffentliche Ordnung kann Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit (nur) rechtfertigen, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft dies erfordert.145 Allein die potenzielle Gefährlichkeit bzw. Gefahrgeneigtheit handwerklicher Dienstleistungen lässt sich weder als hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit noch als eine solche der öffentlichen Gesundheit einstufen, die ein Abweichen vom Recht des Herkunftsstaats rechtfertigen würde.146 Damit dürfte diese Möglichkeit im Handwerksrecht kaum einen Anwendungsbereich haben. Zusätzlich sind die Grenzen zu beachten, die sich aus Kapitel V der DLR zB für Berufshaftpflichtversicherungen (Art. 23) und kommerzielle Kommunikation (Art. 24) ergeben.147

143 Sie räumt lediglich den Behörden des Aufnahmestaats Auskunftsansprüche gegen die Behörden des Herkunftslandes ein, vgl. Art. 8 BerufsanerkennungsRL. 144 Dazu Ohler in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 31 Rn. 1. 145 EuGH 14.10.2004 – C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn. 30 – Omega GmbH; Schmidt-Kessel in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 16 Rn. 35. 146 Gegen die Einordnung einer ganzen Branche als Gefährdung der öffentlichen Ordnung (am Bsp. des Sicherheitsgewerbes) auch EuGH 9.3.2000 – C-355/98, Slg 2000, I-1221, Rn. 30 – Kommission/Belgien. 147 EuGH 5.4.2011 – C-119/09, EuZW 2011, 681 zur Auslegung von Art. 24 DLR.

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C. Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung (Titel II)

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3. Kontrollbefugnisse hinsichtlich des Rechts des Herkunftslandes Davon zu unterscheiden ist die Frage der Kontrollbefugnisse hinsichtlich der Anforderun- 58 gen des Herkunftsstaates. Wenn Art. 16 DLR dem Aufnahmestaat die Anwendung des eigenen materiellen Rechts verbietet, entscheidet er damit noch nicht über die Frage einer eventuellen Zuständigkeit. Dies bestätigt Art. 31 DLR, der eine ausdrückliche Zuständigkeit auch des Mitgliedstaates begründet, innerhalb dessen die Dienstleistung erbracht wird. Im Rahmen der Abs. 3 und 4 ergibt sich eine echte Verwaltungskooperation im Kontext der Durchsetzung des Rechts des Herkunftslandes. Nicht nur auf Ersuchen des Niederlassungsstaats, sondern auch nach Abs. 4 „von Amts wegen“ können Kontrollen durchgeführt werden.148 Liest man dies allerdings im Einklang mit Erwägungsgrund 109 so, dass gerade keine gewerberechtlichen Maßnahmen getroffen werden können und der aufnehmende Mitgliedstaat auf Sachverhaltsfeststellungen beschränkt ist,149 ist ein gewerberechtliches Einschreiten in Deutschland ausgeschlossen. 4. Einschreiten im Einzelfall Es bleibt also nur die Möglichkeit eines Einschreitens im Einzelfall nach Art. 18 Abs. 1, 59 für das wiederum nach Art. 31 DLR auch eine Zuständigkeit des Dienstleistungsstaates besteht. Zulässig sind danach Maßnahmen, die sich auf die „Sicherheit“ der Dienstleistung beziehen. Obwohl der Begriff als solcher in der DLR nicht definiert wird, muss man ihn wohl anders als den primärrechtlichen Begriff auslegen. Aus den Erwägungsgründen ergibt sich, dass hier ein Einschreiten im Interesse von Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit, aber auch die finanzielle Lage des Dienstleistungsempfängers gemeint ist.150 Somit dürfte auch ein Schutz von Eigentum und Vermögen zulässig sein. Über die Reichweite des Schutzes entscheidet der Mitgliedstaat selbst. Entscheidend ist aber, dass es sich um Einzelfallmaßnahmen handelt. Deshalb spricht vie- 60 les dafür, hier nur auf die auch nach nationalem Recht ausnahmsweise zulässigen allgemeinen polizei- und ordnungsrechtlichen Befugnisse zu rekurrieren, die jedoch im Einzelfall bis zur (vorläufigen) Untersagung der Tätigkeit reichen können.151 Ein Einschreiten auf gewerbe- oder gar handwerksrechtlicher Grundlage ist demgegenüber ausgeschlossen.

IV. Exkurs: Die Dienstleistungsfreiheit deutscher Handwerker im EU-Ausland Spiegelbildlich gelten vergleichbare Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Tätig- 61 keit deutscher Handwerker im Ausland. Die europarechtlichen Vorgaben bescheren diesen also nicht nur ausländische Konkurrenz auf dem deutschen Markt, sondern eröffnen vor allem ausländische Märkte, auch wenn das dortige Handwerksrecht subjektive Zulassungsvoraussetzungen enthält (s. den kurzen Überblick → Rn. 9 f.). Nicht erfasst werden von der Berufsanerkennungsrichtlinie Beschränkungen der Betriebs- 62 größe und Anforderungen an die „handwerklichen“ Produktionsmethoden, wie sie insbesondere für den romanischen Rechtskreis charakteristisch sind. Insoweit greifen dann zunächst die Vorgaben der Dienstleistungsrichtlinie, vor allem Art. 16 Abs. 2 lit. f., der Anforderungen an Ausrüstungsgegenstände und Materialien verbietet,152 aber auch Art. 19

148 Dazu Ohler in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 31 Rn. 4: „kollisionsrechtlich einmaliger Vorgang“. S. auch Schmidt-Kessel in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 16 Rn. 22 ff.; allgemein Ohler, Die Kollisionsordnung des allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005. 149 Ohler in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 31 Rn. 5. 150 Ohler in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 18 Rn. 2. 151 Im Ergebnis ebenso Ohler in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 18 Rn. 6. 152 Dazu Schmidt-Kessel in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 16 Rn. 60 ff.

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§ 3 Recht des Handwerks DLR, der zwar Beschränkungsverbote zugunsten des Dienstleistungsempfängers betrifft, aber dadurch natürlich auch die Wettbewerbsposition des grenzüberschreitenden Dienstleisters verbessert.153 Ergänzend kann auf die primärrechtliche Dienstleistungsfreiheit rekurriert werden, wenn auch die DLR den Sachverhalt nicht erfasst.154

D. Die grenzüberschreitende Niederlassung (Titel III) 63 Die Regelungen in Titel III der BerufsanerkennungsRL wurden durch die Änderungsrichtlinie 2013/55/EU vereinfacht. Bei Handwerksberufen kommt in erster Linie eine Anerkennung der Berufserfahrung unabhängig von den Anforderungen an die Ausbildung (Art. 16 ff.) und subsidiär die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen (Art. 10 ff.) in Betracht. Nach bisheriger Rechtslage setzte die Anerkennung von Ausbildungs- und Befähigungsnachweisen voraus, dass das im Herkunftsstaat erworbene Qualifikationsniveau mindestens unmittelbar unterhalb des vom Aufnahmemitgliedstaat geforderten Qualifikationsniveaus nach Art. 11 BerufsanerkennungsRL lag. Nach neuem Recht dürfen Anträge nicht mehr auf der Grundlage von Mindestqualifikationsniveaus abgelehnt werden, so dass die in Art. 11 weiterhin definierten Qualifikationsniveaus für die Anerkennungspraxis kaum noch relevant werden und die bisherige Festlegung des für die Anerkennung erforderlichen Mindestniveaus (§ 3 Abs. 2 der EU/EWR HwV v. 20.12.2007) obsolet wurde (s. näher → Rn. 67 f.). 64 Diese Regelung wurde in Deutschland in § 9 HwO iVm der EU/EWR-HwV umgesetzt. Es erfolgt also eine Eintragung in die Handwerksrolle, allerdings auf der Grundlage einer Ausnahmebewilligung nach § 9 HwO, s. auch § 1 S. 1 EU/EWR-HwV. Die Ausnahmebewilligung gem. § 9 HwO steht neben der des § 8 HwO, so dass unter deren Voraussetzungen auch ausländischen Handwerkern eine Ausnahmeerlaubnis erteilt werden kann, § 1 S. 2 EU/EWR-HwV. Allerdings verlangt § 8 HwO eine der persönlichen Sphäre des Betroffenen zuzurechnende und von ihm nicht zu vertretende besondere Lage, die es ihm unzumutbar macht, die (inländische) Meisterprüfung abzulegen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, wenn zwar eine ausländische Ausbildung absolviert wurde, die für eine Anerkennung nach Art. 17 erforderliche Berufserfahrung aber noch nicht vorliegt. In einem solchen Fall kommt allerdings die Anerkennung dieser Ausbildungs- und Befähigungsnachweise nach Art. 10 ff. BerufsanerkennungsRL in Betracht, s. Art. 10 lit. a BerufsanerkennungsRL.

I. Die Anerkennung von Berufserfahrung 65 Die meisten zulassungspflichtigen Handwerke der Anlage A der HwO sind in Verzeichnis I des Anhangs IV der BerufsanerkennungsRL aufgezählt. Für diese gilt deswegen Art. 17 der BerufsanerkennungsRL. Lediglich die Gesundheitshandwerke, dh die in Anlage A Nr. 33–37 der HwO genannten Gewerbe sind nicht in Anhang IV der Anerkennungsrichtlinie aufgeführt (→ Rn. 36); daher kann auch weiterhin die Berufsqualifikation bei diesen Handwerken nur durch Vorlage entsprechender Ausbildungs- und Befähigungsnachweise nach § 3 EU/EWR-HwV erfolgen. Art. 16 BerufsanerkennungsRL sieht vor, dass dann, wenn in einem Mitgliedstaat „die Aufnahme einer der in Anhang IV genannten Tätigkeiten oder ihre Ausübung vom Besitz allgemeiner, kaufmännischer oder fachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten abhängig gemacht“ wird, der betreffende Mitgliedstaat die vorherige Ausübung der betreffenden Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als ausreichenden 153 Herrenthal in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 19 Rn. 3. 154 Vgl. zum Verhältnis von Dienstleistungsrichtlinie und primärrechtlicher Dienstleistungsfreiheit Herrenthal in Schlachter/Ohler, Dienstleistungsrichtlinie, Art. 19 Rn. 16 ff.

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D. Die grenzüberschreitende Niederlassung (Titel III)

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Nachweis für diese Kenntnisse und Fertigkeiten anerkennt. Als Berufserfahrung gilt dabei nur eine tatsächliche und rechtmäßige Ausübung der Tätigkeit (vgl. die Definition der „Berufserfahrung“ in Art. 3 Abs. 1 lit. f BerufsanerkennungsRL). Im Einzelnen werden danach anerkannt (vgl. auch die Umsetzung der Vorschrift in § 2 EU/EWR-HwV): n ununterbrochene sechsjährige Tätigkeit (als Selbstständiger oder Betriebsverantwortlicher) n ununterbrochene dreijährige Tätigkeit nach einer vorherigen mindestens dreijährigen Ausbildung n ununterbrochene vierjährige Tätigkeit nach einer mindestens zweijährigen Ausbildung n ununterbrochene dreijährige Tätigkeit nach einer vorherigen fünfjährigen Tätigkeit als abhängig Beschäftigter n ununterbrochene fünfjährige Tätigkeit in leitender Stellung, nachdem zuvor eine mindestens dreijährige Ausbildung abgeschlossen wurde.155 Nach Art. 17 Abs. 2 darf die Tätigkeit nicht mehr als zehn Jahre zurückliegen. Ununter- 66 brochen ist nach der EuGH-Rechtsprechung nur eine Tätigkeit, die allenfalls wegen (kurzer) Krankheit oder üblicher Urlaubszeiten ausgesetzt worden ist.156 Da die Regelung nicht an die Staatsangehörigkeit, sondern an den Ausbildungs- und Niederlassungsort anknüpft, können sich Deutsche als „Ausbildungsausländer“ unter den gleichen Voraussetzungen auf diese Regelungen berufen,157 Ausländer mit inländischer Ausbildung aber gerade nicht.158 Eine Kombination von ausländischer Ausbildung und inländischer Tätigkeit scheitert schon daran, dass die BerufsanerkennungsRL eine Tätigkeit als Selbstständiger oder Betriebsleiter voraussetzt (vgl. auch § 9 HwO iVm § 2 Abs. 2–3 EU/EWR-HwV), die einem Gesellen nach § 7 HwO gerade nicht offen steht.159 Auch eine Kombination aus inländischer Ausbildung und ausländischer Tätigkeit ist nicht möglich, so dass bei einem „Ausbildungsinländer“ eine Anerkennung der Berufserfahrung nur über die „Altgesellenregelung“ des § 7 b HwO möglich ist.160

II. Die Anerkennung von Ausbildungs- und Befähigungsnachweisen 1. Anerkennung bei Reglementierung des Berufs im Herkunftsland Ist die Aufnahme oder Ausübung des Berufs auch im Herkunftsland reglementiert, hat der 67 Aufnahmestaat die Berufsaufnahme und -ausübung nach den für Inländern geltenden Grundsätzen zu gestatten; das Abstellen auf Mindestniveaus ist nicht mehr vorgesehen, Art. 13 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL (s. bereits → Rn. 63). An den allgemeinen Anforderungen der Gleichwertigkeitsprüfung hat sich durch den modifizierten Anerkennungs-

155 Zu den Anforderungen an die leitende Stellung (mind. 3 Jahre in einer Tätigkeit mit technischen Aufgaben und Verantwortung für mindestens eine Abteilung des Unternehmens) vgl. Art. 17 lit. e BerufsanerkennungsRL/§ 2 Abs. 2 Nr. 5 EU/EWR-HwV. Nach Art. 17 Abs. 3 BerufsanerkennungsRL findet diese Variante keine Anwendung auf das Friseurhandwerk. 156 Vgl. EuGH 27.9.1989 – Rs. 130/88, Slg 1989, 3057 – van de Bijl. 157 BVerwG 27.5.1998 – 1 B 51/98, GewArch 1998, 470; Beaucamp DVBl. 2004, 1458 (1460). 158 OVG Lüneburg 24.11.1998 – 8 L 4609/98, GewArch 1999, 79; Beaucamp DVBl. 2004, 1458 (1460). S. auch zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser Differenzierung BVerwG 31.8.2011 – 8 C 9/10, NVwZ-RR 2012, 23. 159 S. auch BVerwG 31.8.2011 – 8 C 9/10, NVwZ-RR 2012, 23 (27). 160 Zu dieser näher Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 474 f. Noch nicht entschieden wurde allerdings, inwieweit im Rahmen des § 7 b HwO auch eine Tätigkeit (des Handwerkers mit dt. Gesellenbrief) im Ausland anerkannt werden kann. Dies wird man angesichts des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes wohl bejahen müssen, wenn die in § 7 b HwO statuierten Anforderungen an diese Tätigkeit erfüllt sind.

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§ 3 Recht des Handwerks mechanismus nichts geändert. Die BerufsanerkennungsRL unterscheidet drei Fälle, in denen eine Anerkennung erfolgen kann: 1. wenn im Herkunftsstaat eine bestimmte berufliche Qualifikation Voraussetzung für die Ausübung der betreffenden Tätigkeit ist (Art. 13 Abs. 1), 2. wenn der Herkunftsstaat für die Ausübung der betreffenden Tätigkeit keine bestimmte berufliche Qualifikation voraussetzt und es dort auch keine staatlich geregelte Ausbildung für die Tätigkeit gibt (Art. 13 Abs. 2 UAbs. 1 und 2) und 3. wenn nur die Ausbildung im Herkunftsstaat des Antragstellers bzw. der Antragstellerin staatlich geregelt ist (Art. 13 Abs. 2 UAbs. 3). 2. Keine Reglementierung im Herkunftsland

68 Ist der Beruf im Herkunftsland dagegen nicht reglementiert, müssen nicht nur die entsprechenden Ausbildungsnachweise vorgelegt werden, sondern zusätzlich eine einjährige Berufstätigkeit in Vollzeit oder eine entsprechend längere Tätigkeit in Teilzeit nachgewiesen werden.161 Außerdem kann in diesem Fall nach Art. 14 Abs. 2 BerufsanerkennungsRL/§ 5 EU/EWR-HwV von der Behörde die Teilnahme an einem höchstens dreijährigen Anpassungslehrgang oder das Ablegen einer Eignungsprüfung verlangt werden.162 69 Nach der Formulierung der BerufsanerkennungsRL tritt die Anerkennung von Qualifikationen subsidiär hinter der Anerkennung von Tätigkeitszeiten zurück. Nach deutschem Recht besteht ein Wahlrecht, eine automatische Anerkennung nach § 2 oder eine Anerkennung nach § 3 zu beantragen. Auch über § 50 b HwO besteht ein eigenständiger Anspruch auf Anerkennung von Ausbildungs- und Befähigungsnachweisen im Rahmen einer Gleichwertigkeitsfeststellung.

III. Das Anerkennungsverfahren 1. Anforderungen an das Verfahren 70 Das Anerkennungsverfahren selbst ist in Art. 51 BerufsanerkennungsRL nur rudimentär geregelt. Art. 50 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL regelt iVm Anhang VII die vorzulegenden Unterlagen (vgl. auch § 6 Abs. 1 EU/EWR-HwV). Nur bei berechtigten Zweifeln kann der Aufnahmestaat vom Herkunftsstaat den Nachweis der Echtheit der vorgelegten Unterlagen verlangen, Art. 50 Abs. 2 BerufsanerkennungsRL. Gleiches gilt nach dem neu eingefügten Abs. 3 a, wenn berechtigte Zweifel bestehen, dass die Ausübung des Berufs im Herkunftsland nicht untersagt wurde. Innerhalb eines Monats ist der Empfang der Unterlagen zu bescheinigen und sind gegebenenfalls fehlende Unterlagen nachzufordern. Das Anerkennungsverfahren ist spätestens innerhalb von 3 Monaten abzuschließen; diese Frist kann in den hier einschlägigen Konstellationen um einen Monat verlängert werden. Eine Genehmigungsfiktion wie im Gewerberecht enthält die Regelung allerdings nicht. Die Entscheidung ist nach Art. 51 Abs. 2 BerufsanerkennungsRL ordnungsgemäß zu begründen. Allerdings gelten selbstverständlich ergänzend die Vorschriften des jeweiligen nationalen Handwerks- und Verwaltungsverfahrensrechts. Wenn die Voraussetzungen vorliegen, besteht deswegen ein Anspruch auf Anerkennung (s. auch § 4 EU/EWR-HwV); die Möglichkeiten zur Auferlegung von Anpassungsmaßnahmen wurden eingeschränkt (vgl. Art. 14 BerufsanerkennungsRL/§ 3 EU/EWR-HwV). § 5 Abs. 2 EU/EWR-HwV stellt klar, dass Ausgleichsmaßnahmen weder bei der Anerkennung von Berufserfahrung nach § 2

161 Zu den Anforderungen im Einzelnen vgl. Art. 13 Abs. 2 UAbs. 1–2 BerufsanerkennungsRL. 162 Das Wahlrecht zwischen beiden Varianten steht dabei dem Antragsteller zu, Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 BerufsanerkennungsRL.

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D. Die grenzüberschreitende Niederlassung (Titel III)

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EU/EWR-HwV noch bei einer automatischen Anerkennung nach § 4 EU/EWR-HwV verlangt werden können. Mit dem Konzept „gemeinsamer Ausbildungsgrundsätze“ in Kap. III A Berufsanerken- 71 nungsRL werden erstmals Regelungen zu „gemeinsamen Ausbildungsrahmen“ (Art. 49 a) und zu „gemeinsamen Ausbildungsprüfungen“ (Art. 49 b) in das gemeinschaftsrechtliche System der Anerkennung von Berufsqualifikationen aufgenommen. Die Europäische Kommission erlässt gemeinsame Ausbildungsrahmen und gemeinsame Ausbildungsprüfungen für einzelne Berufe als delegierte Rechtsakte nach Art. 57 c. Die danach erworbenen Qualifikationen unterliegen der automatischen Anerkennung. 2. Führen der Berufsbezeichnung Im Rahmen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit wird nach dem Abschluss des Aner- 72 kennungsverfahrens die Berufsbezeichnung in Form des Aufnahmestaats geführt, Art. 52 BerufsanerkennungsRL.

IV. Die Pflichtmitgliedschaft in der Handwerkskammer Nach Art. 4 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL unterliegt die Ausübung der Tätigkeit grund- 73 sätzlich dem Recht des Aufnahmestaates. Damit ist auch dessen Berufsrecht anwendbar. In Deutschland ist mit der Eintragung in die Handwerksrolle auch die Pflicht zur Mitgliedschaft in der Handwerkskammer verbunden, § 90 Abs. 2 HwO. An diese wiederum knüpft sich die Pflicht zur Beitragszahlung. Sieht man in Art. 4 Abs. 1 BerufsanerkennungsRL eine lex specialis zur Niederlassungsfreiheit,163 ist bei reglementierten Berufen die Pflichtmitgliedschaft nach dem Aufnahmestaat zulässig. Allerdings könnte man sehr wohl auch die BerufsanerkennungsRL ihrerseits an der Niederlassungsfreiheit messen.164 Ob die Pflichtmitgliedschaft in einer Kammer eine Beschränkung der Niederlassungsfrei- 74 heit darstellt, ist allerdings umstritten. Teile der deutschen Literatur und Rechtsprechung verneinen dies. Die Mitgliedschaft begründe neben der Beitragspflicht keine besonderen Pflichten, die sich auf die Berufstätigkeit auswirken würden. Die Beitragspflicht als solche sei dagegen zu unspezifisch, um als Beschränkung der beruflichen Betätigung qualifiziert zu werden.165 Hinzu komme, dass die Mitgliedschaft nicht Voraussetzung einer Niederlassung ist, sondern dieser nachfolgt, das Beschränkungsverbot im Rahmen der Niederlassungsfreiheit in Übertragung des Grundgedankens der zur Warenverkehrsfreiheit entwickelten „Keck-Rechtsprechung“ aber auf die Sicherstellung des Marktzutritts zu reduzieren sei. Maßnahmen, die die Ausübung der spezifischen Tätigkeit nach erfolgter Niederlassung betreffen, seien dagegen lediglich am Diskriminierungsverbot zu messen.166 Schließlich belaste die Pflichtmitgliedschaft als solche die Betroffenen nicht, sondern begünstige sie vielmehr durch Zuweisung von Partizipationsrechten in der Selbstverwaltungskörperschaft. Daher liege keine Maßnahme gleicher Wirkung vor.

163 BGH, 25.3.2010 – I ZR 68/09, EuZW 2011, 197 (199). Zweifelhaft ist allenfalls, ob die BerufsanerkennungsRL auch dann anwendbar ist, wenn Ausbildungs- und Tätigkeitsland zusammenfallen, wie es im Fall des BGH war: Ein in Deutschland ausgebildeter Architekt beantragte nach einer zwischenzeitlichen Tätigkeit in Spanien die Eintragung als Architekt in Deutschland. Insoweit abw. OLG Hamm 5.3.2009 – I-4 U 156/08, 4 U 156/08, WRP 2009, 870. 164 So Bulla, S. 415 ff. 165 Kluth NVwZ 2002, 298 (301); Burgi in Kluth, Jahrbuch des Kammerrechts 2002, S. 23, 35. 166 Classen EWS 1995, 97 (103). Für eine Begrenzung auf den Marktzugang auch von Bogdandy/Bast/ Kingreen, S. 705, 732; Eberhartinger EWS 1997, 43 (49).

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§ 3 Recht des Handwerks

Diese Auffassung begegnet aber erheblichen Bedenken.167 Zum einen können nach der Dassonville-Formel auch solche Berufsausübungsregelungen die Niederlassung unattraktiv machen und damit dem Beschränkungsbegriff unterfallen. Zum anderen steht der Umstand, dass mit der Mitgliedschaft auch eine Begünstigung (in Form der Partizipationsrechte) verbunden ist, dem Charakter als Beschränkung nicht entgegen.168 Im Ergebnis ist daher die Begründung der Pflichtmitgliedschaft als Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen. 75 Ein solcher Eingriff ist allerdings gerechtfertigt, wenn er einen mit dem AEUV zu vereinbarenden Zweck verfolgt, auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruht und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Dazu müsste die Pflichtmitgliedschaft geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Zwecks zu gewährleisten und nicht über das dafür erforderliche Maß hinauszugehen.169 Die Pflichtmitgliedschaft verfolgt den Zweck, die der Kammer übertragenen öffentlichen Aufgaben nicht von staatsunmittelbaren Behörden, sondern – im Rahmen einer öffentlich-rechtlich organisierten Selbstverwaltungskörperschaft – von der Gesamtheit der davon betroffenen Personen erledigen zu lassen. Dieser Gedanke der unmittelbaren Partizipation steht im Einklang mit dem EURecht, das ebenfalls möglichst bürgernahe Entscheidungsverfahren fordert.170 Die Pflichtmitgliedschaft ist zur Verfolgung dieses Zweckes geeignet und erforderlich: Eine vollständige demokratische Repräsentanz des Berufsstandes ließe sich bei freiwilliger Mitgliedschaft nicht gewährleisten. Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch die Zwangsmitgliedschaft ist schließlich im engeren Sinne verhältnismäßig, also zumutbar. Sie bedeutet – auch bei Berücksichtigung der Beitragspflicht als Hauptlast der Kammerzugehörigkeit – keine schwerwiegende Belastung, zumal die Mitgliedschaft die Chance zur Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen eröffnet. Dies dürfte grundsätzlich auch der Auffassung des EuGH entsprechen. Bereits in der Entscheidung zur franz. Tierärztekammer hatte der EuGH betont, „dass das Erfordernis der obligatorischen Eintragung oder der Pflichtmitgliedschaft bei Berufsverbänden oder -körperschaften ... als rechtmäßig anzusehen ist, da damit die Zuverlässigkeit und die Beachtung der standesrechtlichen Grundsätze sowie die disziplinarische Kontrolle der Tätigkeit der Tierärzte und damit schutzwürdige Rechtsgüter gewährleistet werden sollen“.171 Auch in der Entscheidung „Corsten“ hat der EuGH die Pflichtmitgliedschaft in einer deutschen Handwerkskammer jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage gestellt.172 In der Entscheidung im Falle „Kattner“ hat der Gerichtshof sich erneut zur Pflichtmitgliedschaft geäußert. Diese betraf zwar die 167 Diesen Ansatz ablehnend Diefenbach GewArch 2006, 217. Der EuGH hat sich bislang noch nicht abschließend geäußert. Allerdings hat er – ohne die dort nicht entscheidungserhebliche Frage zu vertiefen – im Fall Corsten (der die Dienstleistungsfreiheit betraf) lediglich die Rechtfertigung einer Pflicht zur Mitgliedschaft in der Handwerkskammer problematisiert, eine Beschränkung also ohne nähere Erörterung angenommen, vgl. EuGH 3.10.2000 – C-58/98 – Josef Corsten; s. dazu Ruthig in Ruthig/ Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 46. 168 So aber Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 337 f. Hier gilt nichts anderes als im Verfassungsrecht, wo auch das BVerfG in der Pflichtmitgliedschaft zu Recht einen (rechtfertigungsbedürftigen) Eingriff in die Freiheitssphäre gesehen hat, BVerfG 19.12.1962 – 1 BvR 541/57, E 15, 235 (239); BVerfG 7.12.2001 – 1 BvR 1806/98, GewArch 2002, 111. 169 Vgl. zur Zusammenfassung des Prüfprogramms EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 37 – Gebhard; dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 63 f. 170 Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 339. Insofern ist zu berücksichtigen, dass der EuGH bei der Anerkennung der von den Mitgliedstaaten mit einer Regelung verfolgten Zwecke sehr großzügig ist, dann aber hohe Anforderungen an die Kohärenz der getroffenen Regelungen stellt, dazu Ruthig in Ruthig/Storr, Öffentl. Wirtschaftsrecht, Rn. 68 ff. 171 EuGH 22.9.1983 – Rs. 271/82, Slg 1983, 2744, Rn. 18 – Auer. 172 EuGH 3.10.2000 – C-58/98 – Josef Corsten. Zweifelhaft erscheint allerdings die gängige Lesart in Deutschland, dass der EuGH die Zwangsmitgliedschaft in dieser Entscheidung bestätigt habe, so etwa Martens GewArch 2011, 15.

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

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Pflichtmitgliedschaft in einer deutschen Berufsgenossenschaft, könnte sich aber auf die Pflichtmitgliedschaft in der Handwerkskammer übertragen lassen.173 76

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

3.10.2000

C-58/98

Slg 2000, I-7919

Josef Corsten

EuZW 2000, 763 = NVwZ 2001, 182

EuGH

30.11.1995 C-55/94

Slg 1995, I-4165, 4197

Gebhard

NJW 1996, 579

EuGH

11.12.2003 C-215/01

Slg 2003, I-14847

Bruno Schnitzer

NVwZ 2004, 206 = EuZW 2004, 94

173 EuGH 5.3.2009 – Rs. 350/07, Slg 2009, I-1513 – Kattner Stahlbau GmbH/Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft; dazu Kirchberg NJW 2009, 1313.

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C. Infrastrukturrecht

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§ 4 Telekommunikationsrecht Jürgen Kühling A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Telekommunikationsbegriff . . . . . . . . . . . . II. Bedeutung und Besonderheiten der Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entwicklung des europäischen Telekommunikationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kompetenzen für die Liberalisierung und Harmonisierung im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die fünf Entwicklungsphasen des europäischen Telekommunikationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Quellen des europäischen Telekommunikationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Europäische Kodex für die elektronische Kommunikation im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rahmen des EKEK (Teil I EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Institutionelle Struktur und Verwaltung (Art. 5–11 EKEK) bb) Allgemeingenehmigung (Art. 12–19 EKEK) . . . . . . . . . . . . b) Vorschriften mit Bezug zu Netzen (Teil II EKEK) . . . . . . . . . . c) Vorschriften über den Universaldienst und Nutzerrechte (Teil III EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bereichsspezifisches Telekommunikationsdatenschutzrecht und gescheiterte Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung . . . . . . . . . . . 3. Ergänzungen in weiteren Rechtsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Roaming-Verordnungen . . . . . . . . b) GEREK-Verordnung (GEREKVO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Frequenzentscheidung . . . . . . . . . . d) Kostensenkungsrichtlinie . . . . . . . e) Regelungen zur Netzneutralität B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundmechanismen der Marktregulierung im EKEK und in der GEREK-VO 1. Marktdefinition, Marktanalyse und Abhilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . a) Dreischrittiges Verfahren . . . . . . . b) Marktdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Marktabgrenzung . . . . . . . . . . . . . bb) Drei-Kriterien-Test der Regulierungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . cc) Regulierungsbedürftige Märkte nach der Märkteempfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Marktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Instrumentenauswahl („remedies“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Auferlegung von Abhilfemaßnahmen auf Vorleistungsmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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bb) Die Auferlegung von Abhilfemaßnahmen auf Endkundenmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Regelmäßige Überprüfung der Märkte – Dauer der Regulierungsperioden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Institutionelle Flankierung: Schaffung unabhängiger und durchsetzungsstarker nationaler Regulierungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergänzung durch das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Regulierungsverbund von EUKommission, nationalen Regulierungsbehörden und GEREK . . . . . . . a) Berücksichtigungsverfahren . . . . b) Vetoverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahren zur einheitlichen Anwendung von Abhilfemaßnahmen nach Art. 33 EKEK . . . . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Weitergehende Harmonisierung und Vorstrukturierung der Regulierung durch Entscheidungen, Leitlinien und Empfehlungen . . . . . . 6. Geringe Bedeutung des parallel anwendbaren EU-Kartellrechts . . . . II. Zugangs- und Entgeltregulierung im EKEK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlegende Zugangsverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Auferlegung von Zugangsverpflichtungen nach Art. 73 EKEK für SMP-Unternehmen . . aa) Mögliche Zugangsverpflichtungen nach Art. 73 Abs. 1 EKEK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anforderungen an die Auswahl und Auferlegung von Zugangsverpflichtungen (Art. 73 Abs. 2 EKEK) . . . . . . . . . b) Verpflichtungen nach Art. 61 EKEK im Fall der Kontrolle des Endnutzerzuganges . . . . . . . . . . . . . aa) Gewährung von Zugang (Art. 61 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK) bb) Gewährung von Zugang innerhalb von Gebäuden, bis zum ersten Konzentrationsund Verteilerpunkt oder darüber hinaus (Art. 61 Abs. 3 EKEK) . . . . . . . . . cc) Gewährung von Zugang für die Bereitstellung auf Funkfrequenzen gestützter Dienste (Art. 61 Abs. 4 EKEK) . . . . . . . . . dd) Weitere Vorgaben des Art. 61 EKEK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 4 Telekommunikationsrecht c) Gemeinsame Nutzung von Einrichtungen gem. Art. 44 EKEK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zugang zu baulichen Anlagen (Art. 72 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorgaben zur Entgeltregulierung . . a) Regulierung der Entgelte für Zugangsleistungen (Art. 74 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Regulierung der Zustellungsentgelte (Art. 75 EKEK) . . . . . . . . c) Regulierung der Endnutzerentgelte (Art. 83 EKEK) . . . . . . . . . . . d) Entgelte für das Recht zur Installation von Netzbestandteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Flankierende marktmachtabhängige Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . a) Transparenzverpflichtung (Art. 69 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nichtdiskriminierungsverpflichtung (Art. 70 EKEK) . . . . . c) Verpflichtung zur getrennten Buchführung (Art. 71 EKEK) . . d) Pflicht zur funktionellen Trennung (Art. 77 EKEK) . . . . . . . . . . . e) Regulatorische Behandlung von ausschließlich auf der Vorleistungsebene tätigen Unternehmen (Art. 80 EKEK) . . . . . . . . f) Pflicht zur Migration von herkömmlichen Infrastrukturen (Art. 81 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Regulierungsfreistellungen für Investitionen in Netze mit sehr hoher Kapazität (Art. 76 EKEK) . . . 5. Verfahren für Verpflichtungszusagen (Art. 79 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . 6. Konkretisierung der aufzuerlegenden Verpflichtung und Ermessensvorsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Ermessensvorsteuerung durch den nationalen Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorsteuerung und Konkretisierung durch Harmonisierungsempfehlungen und GEREKPositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Exkurs: Beteiligungsrechte und Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Knappe Ressourcen: Frequenzen, Nummern und Wegerechte . . . . . . . . . . . . . 1. Vorschriften über Funkfrequenzen

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a) Allgemeine Vorschriften zur Funkfrequenzpolitik und -verwaltung sowie zum Funkfrequenzhandel (Art. 4, 28, 45 und 51 EKEK) . . aa) Strategische Planung und Koordinierung der Funkfrequenzpolitik (Art. 4 EKEK) . . . bb) Koordination der Funkfrequenznutzung zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 28 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verwaltung der Funkfrequenzen für die elektronischen Kommunikationsdienste (Art. 45 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übertragung oder Vermietung individueller Frequenznutzungsrechte (Art. 51 EKEK) . . . b) Einheitliche Frequenzzuteilung c) Entgelte für Frequenznutzungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Weitere Vorschriften zur Funkfrequenznutzung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergabe von Nummern (Art. 93 EKEK) und Wegerechten (Art. 43 EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Universaldienstregulierung in Teil III (Dienste) des EKEK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steuerungsvorgaben in Teil III des EKEK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Universaldienst . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schranken für weiterreichende Universaldienstmechanismen und hoheitlich gesteuerte Versorgungsmodelle . . . . . . . . . . . . c) Ausgleichs- und Finanzierungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relevanz des flankierenden EUBeihilfenrechts für die Breitbandförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rechte der Endnutzer/Teilnehmer (Teil III, Titel II EKEK) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorgaben zur (Preis-)Transparenz 2. Vorschriften zur Ausgabenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertragslaufzeit und Anbieterwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sonstige Vorschriften im Interesse der Endnutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

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Literatur: Attendorn, Thorsten, Die institutionelle Bedeutung des GEREK in der TK-Regulierung, CR 2011, 721; Berger-Kögler, Ulrike, Regulierung des Auslandsroaming-Marktes, MMR 2007, 294; Briglauer, Wolfgang/Frübing, Stefan, Sektorspezifische Regulierung und Investitionen in neue glasfaserbasierte Kommunikationsinfrastrukturen: eine ökonomische Bestandsaufnahme, N&R 2014, 198; Britz, Gabriele, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund?, EuR 2006, 46; Bulowski, Stefan, Regulierung von Internetkommunikationsdiensten, Baden-Baden, 2019; Cave, Martin/Haucap, Justus/Padilla, Jorge/Renda Andrea/ Williamson, Brian (Hrsg.), Monitoring EU telecoms policy 2009, Madrid 2009; Daiber, Birgit, U-Durchführungsrechtsetzung nach Inkrafttreten der neuen Komitologie-Verordnung, EuR

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§ 4 Telekommunikationsrecht Verordnung (EU) 2017/1128 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. L 119 v. 4.5.2016, 1 ff. (zitiert: DS-GVO). Verordnung (EU) 2018/1971 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Einrichtung des Gremiums europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) und der Agentur zur Unterstützung des GEREK (GEREK-Büro), zur Änderung der Verordnung (EU) 2015/2120 und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1211/2009, ABl. L 321 v. 17.12.2018, 1 ff. (zitiert: GEREK-VO). Richtlinie 2002/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung (Zugangsrichtlinie), ABl. L 108 v. 24.4.2002, 7 ff. (zitiert: ZRL). Richtlinie 2002/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste (Genehmigungsrichtlinie), ABl. L 108 v. 24.4.2002, 21 ff. (zitiert: GRL). Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie), ABl. L 108 v. 24.4.2002, 33 ff. (zitiert: RRL). Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. L 108 v. 24.4.2002, 51 ff. (zitiert: URL). Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation), ABl. L 201 v. 31.7.2002, 37 ff. (zitiert: eDSRL). Richtlinie 2002/77/EG der Kommission vom 16. September 2002 über den Wettbewerb auf den Märkten für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. L 249 v. 17.9.2002, 21 ff. Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG, ABl. L 105 v. 13.4.2006, 54 ff. (zitiert: VDSRL). Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, der Richtlinie 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation und der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz, ABl. L 337 v. 18.12.2009, 11 ff. (zitiert: ÄndRL 2009/136/EG). Richtlinie 2009/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur Änderung der Richtlinie 2002/21/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, der Richtlinie 2002/19/EG über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung und der Richtlinie 2002/20/EG über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. L 337 v. 18.12.2009, 37 ff. (zitiert: ÄndRL 2009/140/EG). Richtlinie 2013/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. August 2013 über Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates, ABl. L 218 v. 14.8.2013, 8 ff. Berichtigung der Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, der Richtlinie 2002/58/EG über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre

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§ 4 Telekommunikationsrecht in der elektronischen Kommunikation und der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz (ABl. L 337 v. 18.12.2009), ABl. L 241 v. 10.09.2013, 9. Berichtigung der Richtlinie 2009/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur Änderung der Richtlinie 2002/21/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, der Richtlinie 2002/19/EG über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung und der Richtlinie 2002/20/EG über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste (ABl. L 337 v. 18.12.2009), ABl. L 241 v. 10.9.2013, 8 f. Richtlinie 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Funkanlagen auf dem Markt zur Aufhebung der Richtlinie 1999/5/EG, ABl. L 153 v. 22.5.2014, 62 ff. Richtlinie 2014/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen für die elektronische Kommunikation (Kostensenkungsrichtlinie), ABl. L 155 v. 23.5.2014, 1 ff. (zitiert: KSRL). Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (Neufassung), ABl. L 321 v. 17.12.2018, 36 ff. (zitiert: EKEK). Sonstige Rechtsakte der Union: Empfehlung 2005/698/EG der Kommission vom 19. September 2005 über die getrennte Buchführung und Kostenrechnungssysteme entsprechend dem Rechtsrahmen für elektronische Kommunikation, ABl. L 266 v. 11.10.2005, 64 ff. Entscheidung Nr. 676/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen Rechtsrahmen für die Funkfrequenzpolitik in der Europäischen Gemeinschaft (Frequenzentscheidung), ABl. L 108 v. 24.4.2002, 1 ff. (zitiert: Frequenzentscheidung). Empfehlung 2007/879/EG der Kommission vom 17. Dezember 2007 über relevante Produktund Dienstmärkte des elektronischen Kommunikationssektors, die aufgrund der Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste für eine Vorabregulierung in Betracht kommen, ABl. L 344 v. 28.12.2007, 65 ff. (zitiert: Märkteempfehlung). Empfehlung 2009/396/EG der Kommission vom 7. Mai 2009 über die Regulierung der Festnetz- und Mobilfunk-Zustellungsentgelte in der EU, ABl. L 124 v. 20.5.2009, 67 ff. Empfehlung 2010/572/EU der Kommission vom 20. September 2010 über den regulierten Zugang zu Zugangsnetzen der nächsten Generation (NGA), ABl. L 251 v. 25.9.2010, 35 ff. (zitiert: NGA-Empfehlung). Empfehlung 2012/798/EU der Kommission vom 12. Dezember 2012 zum Notifizierungsverfahren gem. Artikel 22 Absatz 3 der Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, ABl. L 349 v. 19.12.2012, 72 ff. Empfehlung 2014/710/EU der Kommission vom 9. Oktober 2014 über relevante Produkt- und Dienstmärkte des elektronischen Kommunikationssektors, die aufgrund der Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und –dienste für eine Vorabregulierung in Betracht kommen, ABl. L 295 v. 11.10.2014, 79 ff. Leitlinien 2018/C 159/01 der Kommission zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht nach dem EU-Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. C 159 v. 7.5.2018, 1 ff. (zitiert: Marktanalyseleitlinien). BEREC Guidelines on the Implementation by National Regulators of European Net Neutrality Rules August 2016, BoR (16) 127.

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A. Einleitung

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A. Einleitung Das europäische Telekommunikationsrecht hat sich in den vergangenen gut 30 Jahren 1 „aus dem Nichts“ zu einem ausgereiften und konsolidierten Rechtsgebiet entwickelt. Es überformt das nationale Recht selbst im Vergleich mit anderen Bereichen des europäischen sektoralen Wirtschaftsrechts in ungewöhnlich hohem Ausmaß, so dass die nationalen Telekommunikationsrechtsordnungen im Wesentlichen aus umgesetztem Unionsrecht bestehen. Dazu hat nicht zuletzt eine strenge Rechtsprechung des EuGH beigetragen,1 die den nationalen Gesetzgebern in zentralen Bereichen der Telekommunikations-Richtlinien wenig Umsetzungsspielraum belässt. Damit nimmt das Unionsrecht die nationalen Vollzugsinstanzen in Form der unabhängigen – und auch insoweit unionsrechtlich „geschaffenen“ und vorgesteuerten – Regulierungsbehörden in den Blick, die über weitreichende Kompetenzen und Spielräume verfügen. Das europäische Telekommunikationsrecht hat dabei große Liberalisierungserfolge bewirkt und kann als Paradefall einer weitreichenden Harmonisierung und einer effektiven Umsetzung auf nationaler Ebene gelten. Die mittlerweile in Teilen im Regulierungsverbund von nationalen Regulierungsbehörden 2 und Europäischer Kommission weitreichende exekutive Zentralisierung ist hingegen ökonomisch und auch integrationspolitisch zunehmend unberechtigt. Sollte der zugrunde liegende Ansatz, dass jeder verbliebene Unterschied auf nationaler Ebene eine weitere Harmonisierung rechtfertigt, in anderen wirtschaftlichen (und erst recht nicht-wirtschaftlichen) Materien um sich greifen, gefährdet er langfristig die unbestreitbaren Erfolge der Binnenmarktharmonisierung allgemein, gerade auch im Telekommunikationsbereich und unterminiert damit das Fundament der Europäischen Union in seinem Kernbereich. Es ist allerdings einzuräumen, dass sich die betroffenen Unternehmen regelmäßig eine weitreichende unionale Vollharmonisierung wünschen. Vor diesem Hintergrund hat der folgende Beitrag eine zweifache Perspektive: Er soll zum 3 einen für den am Telekommunikationsrecht selbst Interessierten erläutern, was in telekommunikationsrechtlicher Sicht aus europäischer Perspektive gilt, wo die Schwerpunkte bei der Auseinandersetzung und Anwendung dieses Rechtsgebiets liegen, wie dieses Rechtssystem strukturiert ist und wie es sich entwickelt hat. Zum anderen soll für den am Europarecht insgesamt Interessierten in integrationspolitischer Hinsicht analysiert werden, wie am Beispiel der Telekommunikationsmärkte der Binnenmarkt verwirklicht wurde, auf welche Weise die Harmonisierung erfolgte und ob sich daraus auch für andere Sektoren Folgerungen ziehen lassen.

I. Telekommunikationsbegriff Der Gegenstand des Telekommunikationsrechts ist im Unionsrecht klar definiert. Dabei 4 wird unionsrechtlich allerdings – anders als in der Umgangssprache und auch anders als in zahlreichen nationalen Telekommunikationsordnungen – nicht der Begriff „Telekommunikation“, sondern der der „elektronischen Kommunikation“ verwendet. So spricht der Europäische Kodex für die elektronische Kommunikation (EKEK) vom elektronischen Kommunikationsnetz, den elektronischen Kommunikationsdiensten und den zugehörigen Einrichtungen.

1 In Terhechte, 1. Aufl. 2011, § 24 und Kühling/Schall/Biendl, Telekommunikationsrecht, 2014. Der Verfasser dankt seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Fabian Toros für die wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags. Der Beitrag geht in Teilen zurück auf Kühling. Vgl. EuGH 3.12.2009 – Rs. 424/07, Slg 2009, I-11431 – Kommission/Deutschland.

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§ 4 Telekommunikationsrecht

5 Dabei definiert Art. 2 Nr. 1 EKEK2 elektronische Kommunikationsnetze wie folgt: „Übertragungssysteme, ungeachtet dessen, ob sie auf einer permanenten Infrastruktur oder zentralen Verwaltungskapazität basieren, und gegebenenfalls Vermittlungs- und Leitwegeinrichtungen sowie anderweitige Ressourcen – einschließlich der nicht aktiven Netzbestandteile –, die die Übertragung von Signalen über Kabel, Funk, optische oder andere elektromagnetische Einrichtungen ermöglichen, einschließlich Satellitennetze, feste (leitungs- und paketvermittelt, einschließlich Internet) und mobile Netze, Stromleitungssysteme, soweit sie zur Signalübertragung genutzt werden, Netze für Hör- und Fernsehfunk sowie Kabelfernsehnetze, unabhängig von der Art der übertragenen Informationen“. 6 Als elektronische Kommunikationsdienste werden in Art. 2 Nr. 4 EKEK verstanden: „gewöhnlich gegen Entgelt über elektronische Kommunikationsnetze erbrachte Dienste, die – mit der Ausnahme von Diensten, die Inhalte über elektronische Kommunikationsnetze und -dienste anbieten oder eine redaktionelle Kontrolle über sie ausüben – folgende Dienste umfassen: a) „Internetzugangsdienste“ im Sinne der Begriffsbestimmung des Artikels 2 Absatz 2 Nummer 2 der Verordnung (EU) 2015/2120, b) interpersonelle Kommunikationsdienste und c) Dienste, die ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen bestehen, wie Übertragungsdienste, die für die Maschine-Maschine-Kommunikation und für den Rundfunk genutzt werden. 7 Diese Definition wurde im EKEK gegenüber der Fassung seit dem TK-Review 2009 erheblich verändert. Vor der Reform war es zwingend erforderlich, dass die Dienste das Tatbestandsmerkmal der Signalübertragung erfüllten. Der Hintergrund für diese Veränderung ist, dass es in den Mitgliedstaaten zu einer unterschiedlichen Beurteilung gekommen ist, ob sogenannte Over-the-Top-Dienste (OTT-Dienste) den Begriff der Signalübertragung erfüllen oder nicht.3 Dabei handelt es sich um Dienste, die über das „offene Internet“ erbracht werden,4 also auf bereits vorhandenen physischen Infrastrukturen aufsetzen. Diese Dienste können danach unterschieden werden, ob sie Individual- und Gruppenkommunikation anbieten (zB E-Mail-Dienste wie Gmail oder Instant Messenger und Internettelefoniedienste wie WhatsApp) und dadurch in Konkurrenz zu herkömmlichen elektronischen Kommunikationsdiensten treten oder ob sie primär inhaltsbezogene Angebote (zB soziale Netzwerke wie Facebook) aufweisen.5 Nur die erstgenannten Dienste sind für das Telekommunikationsrecht relevant und sollen im Folgenden als Internetkommunikationsdienste bezeichnet werden.6 In Deutschland hat die BNetzA diese Dienste als vom EU-Te-

2 RL (EU) 2018/1972. 3 Für einen Überblick über das Meinungsbild siehe Kühling/Schall CR 2016, 185 (187) und Kühling, Jürgen, What to do with OTT? – Die Regulierung von Gmail, WhatsApp & Co. de lege ferenda, in Körber, Torsten/Kühling, Jürgen, Regulierung – Wettbewerb – Innovation, Vorträge auf dem Göttinger Symposium der Wissenschaftlichen Vereinigung für das gesamte Regulierungsrecht am 27./28. Oktober 2016, Baden-Baden, 2017, S. 165 ff. 4 Kühling/Schall CR 2015, 641 (641). 5 Kühling/Schall CR 2015, 641 (642 f.), die zwischen OTT-Kommunikations- und OTT-Inhaltsdiensten unterscheiden. Das GEREK klassifizierte sie in OTT-0, OTT-1 und OTT-2-Dienste: Erstgenannte erfüllten den Begriff der Signalübertragung und seien daher bereits in der Rechtslage vor dem EKEK elektronische Kommunikationsdienste, zweitgenannte konkurrierten mit diesen, seien aber nicht hiervon erfasst und letztgenannte seien als Inhaltsdienste ebenfalls nicht in die EU-Telekommunikationsregulierung einbezogen, GEREK, BoR (16) 35, S. 16 f. 6 Umfassend dazu Bulowski, Regulierung von Internetkommunikationsdiensten, S. 78 ff.; umfassend zu Internetinhaltediensteanbietern Kellner, Die Regulierung der Meinungsmacht von Internetintermediären, S. 21 ff.

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A. Einleitung

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lekommunikationsrechtsrahmen erfasst angesehen. Diese sehr umstrittene7 Rechtsauffassung wurde vom VG Köln exemplarisch an Gmail im November 2015 bestätigt.8 Das OVG Nordrhein-Westfalen hat im Februar 2018 ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH eingeleitet.9 Der EuGH hat entschieden, dass der Webmail-Dienst Gmail nicht als „elektronischer Kommunikationsdienst“ im Sinne des Art. 2 lit. c Rahmenrichtlinie (RRL)10 zu klassifizieren sei. Es gäbe keine Anhaltspunkte, welche die „Verantwortlichkeit von Google gegenüber den Inhabern eines Gmail-Kontos bei der Übertragung der für das Funktionieren des Dienstes erforderlichen Signale“11 begründen würden. Hingegen wurde in einem anderen Verfahren SkypeOut als „elektronischer Kommunikationsdienst“ im Sinne der RRL eingestuft.12 Ob die Entscheidungen des EuGH bei der Umsetzung des EKEK Bedeutung erlangen wird, bleibt abzuwarten. Insbesondere klärt die Entscheidung die Rechtsfragen rund um OTT-Dienste nicht abschließend, sondern lässt viele Fragen weiterhin offen.13 Unter dem EKEK werden die Auswirkungen der Frage, inwiefern OTTDienste als „elektronischer Kommunikationsdienst“ zu qualifizieren sind, relativiert, da interpersonelle Kommunikationsdienste künftig vom Rechtsrahmen zusätzlich erfasst werden (→ Rn. 8). Durch den Europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation ist nun klargestellt, 8 dass das Telekommunikationsrecht interpersonelle Kommunikationsdienste erfasst, unabhängig davon, ob diese eine Signalübertragung erbringen oder nicht. Diese Definition ist ersichtlich auf Internetkommunikationsdienste zugeschnitten.14 Hierunter versteht der Richtliniengeber gem. Art. 2 Nr. 5 EKEK einen „gewöhnlich gegen Entgelt erbrachte[n] Dienst, der einen direkten interpersonellen und interaktiven Informationsaustausch über elektronische Kommunikationsnetze zwischen einer endlichen Zahl von Personen ermöglicht, wobei die Empfänger von den Personen bestimmt werden, die die Kommunikation veranlassen oder daran beteiligt sind; dazu zählen keine Dienste, die eine interpersonelle und interaktive Kommunikation lediglich als untrennbar mit einem anderen Dienst verbundene untergeordnete Nebenfunktion ermöglichen“. In Art. 2 Nr. 6 und Art. 2 Nr. 7 EKEK wird zudem zwischen nummerngebundenen und 9 nummernunabhängigen interpersonellen Kommunikationsdiensten differenziert. Die Unterscheidung knüpft also daran an, ob Internetkommunikationsdienste an das öffentliche Fernsprechnetz angebunden sind oder nicht. Nummerngebundene interpersonelle Kommunikationsdienste werden stärker in die Regulierung einbezogen.15 Ein Beispiel für einen nummerngebundenen interpersonellen Kommunikationsdienst ist Skype, der gegen Geldzahlung auch Telefonie in die Fest- und Mobilfunknetze ermöglicht.16 Weitere Hinweise zur Auslegung der Definitionen in Art. 2 Nr. 4–7 EKEK lassen sich den Erwägungsgründen 15–18 EKEK entnehmen.

7 Für die Erfassung von Internetkommunikationsdiensten etwa Kühling/Schall CR 2015, 641; dies. CR 2016, 185; aA Schuster CR 2016, 173 sowie Gersdorf K&R 2016, 91; umfassend zu dieser Frage Bulowski, S. 53 ff. 8 VG Köln 11.11.2015 – 21 K 450/15, CR 2016, 131. 9 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.2.2018 – 13 A 17/16, MMR 2018, 552. 10 RL 2002/21/EG. 11 EuGH 13.6.2019 – C-193/18, NJW 2019, 2597 (2598), Rn. 38. 12 EuGH 5.6.2019 – C-142/18, MMR 2019, 517. 13 So auch Spies, MMR 2019, 514 (516 f.). 14 Kühling/Raab in Kühling/Buchner Art. 95 DS-GVO Rn. 3 a; s. zu dieser Definition und der weiteren Untergliederung dieser Dienste Bulowski, S. 78 ff. 15 Bulowski, S. 83 f., 134 ff. 16 EuGH 5.6.2019 – C-142/18, MMR 2019, 517.

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§ 4 Telekommunikationsrecht

10 Die elektronische Kommunikation stellt demnach die Infrastruktur bereit und wickelt auf dieser den Transportdienst für die darauf jeweils aufsetzenden Inhaltsdienste ab, die im Unionsrecht als Dienste der Informationsgesellschaft bezeichnet werden und in Deutschland unter den Begriffen „Rundfunk(dienst)“ und „Telemediendienst“ firmieren.17 Damit ist eine relativ klare Abgrenzung zwischen der Transport- und der Inhaltsebene erreicht (vgl. hierzu auch Kühling in Wegener (Hrsg.), Europäische Querschnittspolitiken (EnzEuR Bd. 8) → Bd. 8 § 7 Rn. 17). Das verhindert nicht, dass im Einzelfall bei kombinierten Angeboten wie den von Internet-Service-Providern (Internet-Zugang als Transportdienst; Online-Inhaltsangebote als Telemediendienste) ebenso wie beim Sonderfall der telekommunikationsgestützten Dienste oder neueren Kommunikationsformen wie „Voice-overIP“ oder „Webmail“-Diensten Abgrenzungs- und Zuordnungsschwierigkeiten auftauchen können. Einige dieser Probleme sollen durch die neue Kategorie der interpersonellen Kommunikationsdienste gelöst werden. Insgesamt ist dem Grunde nach ein überzeugendes System der vertikalen Differenzierung der Regulierungsregime erreicht. Das ist auch insoweit zweckmäßig, als die Aktivierung der Gesetzgebungskompetenzen auf unionsrechtlicher Ebene im Bereich der Regulierung des Übertragungsdienstes auf weit weniger nationale Vorbehalte stößt als im Bereich der Inhaltsregulierung. Dementsprechend sind die Telekommunikationsordnungen der Mitgliedstaaten auch maßgeblich durch das Telekommunikationsrecht der EU geprägt, während dies im Content-Bereich nur in Ansätzen der Fall ist. Besonders deutlich wird das etwa, wenn man die deutsche Rundfunkordnung betrachtet, die bislang nur eine vergleichsweise begrenzte unionsrechtliche Überformung erfahren hat und dies noch eher durch das Primärrecht der EU (vor allem das EU-Beihilfenrecht) als durch das EU-Sekundärrecht.18 11 Während der Sektor, der vom Telekommunikationsrecht geregelt wird, mit dem Verweis auf elektronische Kommunikationsnetze und -dienste damit recht eindeutig umschrieben ist, bleibt noch die Frage, welche Aspekte der Normierung in diesem Bereich erfasst werden. Im Kern geht es um das sektorspezifische Kartellrecht in diesem Wirtschaftsbereich, also um den Abbau staatlicher Monopole und die damit verknüpfte Gewährung von Zugangsrechten zu den Telekommunikationsvorleistungen marktbeherrschender Unternehmen einschließlich der Regulierung der dafür zu entrichtenden Entgelte. Dies sind die Kernaufgaben einer sektorspezifischen Wettbewerbsregulierung, die allerdings nicht bloß das Ziel verfolgt, den Wettbewerb zu schützen, sondern darüber hinaus diesen erst zu entfalten hat. Hinzu kommen eine Reihe weiterer hoheitlicher, sonstiger ökonomischer und nicht-ökonomischer19 Regulierungs- und Gewährleistungsaufgaben als Privatisierungsfolgerecht20 wie die Sicherung des Universaldienstes, die Vergaben von Frequenzen, Nummern und Wegerechten sowie der Datenschutz und die öffentliche Sicherheit in der Telekommunikation. Auch diese öffentlich-rechtlich geprägten Regelungsbereiche gehören zum Telekommunikationsrecht. In jüngerer Zeit kommt verstärkt der Kundenschutz als eher zivilrechtlich geprägte Materie hinzu.

II. Bedeutung und Besonderheiten der Telekommunikation 12 Der Markt für Telekommunikationsdienstleistungen hat sich seit der Liberalisierung Mitte der 1980er-Jahre durch zahlreiche neue Entwicklungen vom Mobilfunk bis hin zu Breit17 Vgl. die jeweiligen Definitionen in § 1 Abs. 1 TMG und § 2 Abs. 1 RStV. 18 Allerdings greift auch hier zunehmend eine sekundärrechtliche Vorsteuerung, dazu Kühling in Roth, S. 121 ff.; ders. in Dörr/Müller-Graff, S. 35 ff.; Franzius DÖV 2013, 714 (716 f.). 19 Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Wettbewerbsregulierung, sonstiger ökonomischer und nicht-ökonomischer Regulierung Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 11 ff. 20 Zum Begriff Ruffert AöR 1999, 237 (239).

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A. Einleitung

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bandinfrastrukturen zuletzt in Form von Glasfasernetzen dynamisch entwickelt und ist enorm gewachsen. Während europaweit die Umsätze sowohl bei der Festnetz- als auch bei der Mobilfunk-Sprachtelefonie weiter zurückgehen, können die Mobilfunkdatendienste und insbesondere der Breitbandsektor ein starkes Wachstum verzeichnen.21 Es steht zu erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzen wird und daher in Zukunft vor allem (mobile) Breitbanddienste und die fortschreitende Durchdringung mit hochleistungsfähiger Glasfaserinfrastruktur die tragende Rolle spielen und zu weiter steigenden Investitionen und Umsätzen auf diesen Märkten beitragen werden. Dabei sind dynamische, innovative und funktionsfähige Telekommunikationsmärkte als ein wesentlicher Bereich der notwendigen Infrastrukturen eines modernen Industriestaats und einer Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts von großer Bedeutung für die Wirtschaft und die Gesellschaft in der Europäischen Union. So wird bspw. eine hinreichende Breitbandversorgung als wesentlich angesehen, nicht nur für einen flächendeckenden Zugang zu Informationen, sondern bspw. auch für den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen via Internet.22 Im Rahmen des TK-Reviews 2018 wurde in den Europäischen Kodex für elektronische Kommunikation aus diesem Grund in Art. 3 Abs. 2 lit. a EKEK ein „Konnektivitätsziel“ eingeführt.23 Hiermit soll der Zugang und die Nutzung von Netzen mit sehr hohen Kapazitäten gefördert werden, die für die Dienste und Applikationen der Zukunft erforderlich sind.24 Mit Blick auf die ökonomischen Besonderheiten der Telekommunikationsnetze und -dien- 13 ste ist zu betonen, dass sie ganz überwiegend eine für die Regulierung wichtige Eigenschaft aufweisen: Sie sind international nicht handelbar. Vielmehr werden insbesondere die regulierten Telekommunikationsdienste ausschließlich lokal erstellt. Telekommunikationsleistungen können daher – anders als etwa die auf ihnen transportierten audiovisuellen Inhalte – grundsätzlich nicht „exportiert“ werden. So kann ein Telefongespräch von Regensburg nach München nicht in Prag produziert und dann nach Regensburg transportiert werden. Daher gilt für die Erstellung von Telekommunikationsleistungen immer die Regulierung „vor Ort“. Damit hängt eine weitere Eigenart zusammen: Telekommunikationsdienste können regelmäßig auch nicht bloß nur vorübergehend angeboten werden. Das heißt, es ist regelmäßig eine Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat der EU erforderlich, um Telekommunikationsdiensteanbieter zu sein. Insoweit besteht ein erheblicher Unterschied zu vielen sonstigen Dienstleistungen etwa mit Blick auf Inhaltsdienste, die über Telekommunikationsdienste sehr wohl ohne lokale Niederlassung etwa von Deutschland nach Österreich transportiert werden können. Dasselbe gilt bspw. für die Energielieferung. Das führt im Ergebnis dazu, dass nur ein geringer Teil der „klassischen“ Telekommunikationsdienstleistungen wie Satellitentelekommunikationsdienste überhaupt grenzüberschreitend angeboten wird. Anders sieht dies bei den Internetkommunikationsdiensten aus, die auf bereits vorhandene Infrastrukturen zurückgreifen können und daher die Einrichtung einiger zentraler Server eine weltweite Erreichbarkeit ermöglicht.25 Rechtlich betrachtet bedeutet das, dass die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit 14 ganz wesentlich sind, um Telekommunikationsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen. Im Übrigen waren für die Verwirklichung der Grundfreiheiten im 21 Vgl. 15. Implementierungsbericht der Kommission „über den Stand des Europäischen Binnenmarkts der elektronischen Kommunikation 2009“, KOM(2010) 253, 3. Zur Bedeutung, die insbesondere neuen Breitband-Infrastrukturen beigemessen wird, vgl. auch Erwägungsgrund 1 Empfehlung 2010/572/EU. 22 Zu den positiven Externalitäten Kühling/Neumann in Inderst/Kühling/Neumann/Peitz, S. 165 ff. 23 Neumann, N&R 2018, 204 (204 f.). 24 Vgl. hierzu auch Kühling/Toros, Rechtliche Rahmenbedingungen für die Schaffung von Anreizen für einen flächendeckenden Ausbau von Glasfaserinfrastrukturen. 25 Bulowski, S. 148 und S. 37 ff. zu deren technischer Funktionsweise.

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§ 4 Telekommunikationsrecht

Telekommunikationsbereich zwei Dinge entscheidend: Einerseits mussten die nationalen Märkte aufgebrochen werden, um überhaupt ausländischen Anbietern die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit zu verschaffen, und andererseits musste den neuen Marktteilnehmern ein „level playing field“ eröffnet werden. Letzteres setzt negativ den Abbau von Vorteilen für die ehemaligen Monopolisten und positiv die Einräumung von Zugangsrechten der Marktneulinge zu deren Netzen voraus. Demnach ging es in der Folgezeit auch weniger um eine Chancengleichheit zwischen In- und Ausländern, sondern um eine solche zwischen bereits im Markt aktiven Unternehmen und Marktneulingen. Als regulatorischer Instrumentenkasten ergab sich daraus die Notwendigkeit, marktbeherrschende Unternehmen einem sektorspezifischen Kartellrecht zu unterwerfen. Danach sind sie verpflichtet, anderen Unternehmen Zugang zu ihren Netzen zu Bedingungen zu gewähren, die einer Vorabkontrolle oder einer nachträglichen Kontrolle unterliegen (Ex-ante- oder Ex-post-Regulierung).26 15 Auch wenn die rechtlichen Monopole im Zuge der Liberalisierung beseitigt wurden, weisen Telekommunikationsmärkte gleichwohl die Besonderheit auf, dass sie in Teilen durch natürliche Monopole geprägt sind. Sie stellen also Infrastrukturen dar, deren Duplizierung partiell volkswirtschaftlich nicht sinnvoll ist.27 Das gilt insbesondere für die sogenannte „letzte Meile“ im Festnetzbereich, also das letzte Stück der Anschlussleitungen zum Haus. Solange derartige natürliche Monopole fortbestehen, wird insoweit auch eine ökonomische Regulierung erforderlich bleiben. Die Bereiche der nicht-ökonomischen Regulierung sind von entsprechenden Marktentwicklungen unabhängig, so dass jene Regulierungsbereiche auch in Zukunft bestehen bleiben.

III. Entwicklung des europäischen Telekommunikationsrechts 1. Kompetenzen für die Liberalisierung und Harmonisierung im Primärrecht 16 Die Kommission bzw. der europäische Gesetzgeber haben die Liberalisierungsrichtlinien auf Art. 86 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 106 Abs. 3 AEUV) und die Harmonisierungsrichtlinien und -verordnungen auf Art. 95 EGV (jetzt Art. 114 AEUV) als Kompetenzgrundlagen gestützt.28 Von den Handlungsformen her betrachtet, steht das Instrument der Richtlinie im Vordergrund. Dabei weisen die Richtlinien – wie in anderen Bereichen auch – eine zum Teil sehr hohe Detailschärfe auf, deren verbliebene Spielräume auch noch durch eine strenge Rechtsprechung des EuGH restriktiv interpretiert werden. Vereinzelt wurde auf Verordnungen, Entscheidungen und Empfehlungen zurückgegriffen. So wurde zB der Zugangsregulierung anhand der Zugangsrichtlinie (ZRL)29 eine Verordnung für die Schaffung eines Zugangs im zentralen Bereich der Teilnehmeranschlussleitung (TAL, sogenannte „letzte Meile“) vorgeschaltet,30 die nach erfolgreicher Etablierung von Wettbewerb in diesem Segment in das allgemeine Regime der ZRL im Rahmen des Review 2009 überführt werden konnte. Es ist hervorzuheben, dass die überaus erfolgreiche Liberalisierung und Regulierung der Telekommunikationsmärkte letztlich der Entschlossenheit der Kommission zu verdanken sind. Diese Entschlossenheit ist keinesfalls in allen Netzwirtschaften gleichermaßen zu beobachten.

26 Zu den Begriffen Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 23 ff. 27 Zu den Skalen-, Verbund- und Dichtevorteilen, die zum Vorliegen eines natürlichen Monopols im Ortsnetz führen im Überblick Kühling/Schall/Biendl, S. 50 ff. 28 Dazu und zum Folgenden ausführlich Kühling in Terhechte, 1. Aufl. 2011, § 24 Rn. 10 ff. 29 RL 2002/19/EG. 30 VO (EG) Nr. 2887/2000.

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2. Die fünf Entwicklungsphasen des europäischen Telekommunikationsrechts Dabei lassen sich fünf Phasen unterscheiden.31 Anfänglich, nämlich von 1986 bis 1996, 17 dominierte die Liberalisierung, dh die Öffnung der verschiedenen Telekommunikationsmärkte bis hin zum Kernmarkt der Sprachtelefonie im Jahr 1996. Hier wurden zugleich sowohl institutionell – mit der Schaffung nationaler unabhängiger Regulierungsbehörden – als auch materiell – mit der Zugangs- und Entgeltregulierung sowie grundlegenden Vorgaben zum Umgang mit knappen Ressourcen (vor allem Wegerechte, Nummern und Frequenzen) – alle wesentlichen Elemente der europäischen Telekommunikationsregulierung angelegt. Diese wurden dann in den Jahren 1997 bis 1999 vertieft. Die Zwischenphase von 1999 bis 2006 schaffte mit dem Richtlinienpaket von 2002 zwar die entscheidende Stabilisierung und Heranreifung zu einem konsolidierten Rechtsgebiet sowie die notwendige Flexibilisierung mit Blick auf einen Abbau der Regulierung in wettbewerbsfähigen Märkten. Zugleich setzte jedoch die problematische exekutive Vollzugsverflechtung ein, die nach Abschluss des 2006 eingeleiteten Review-Prozesses 2009 in einer vierten Phase mit dem Erlass von zwei Richtlinien zur Änderung des bisherigen unionsrechtlichen Richtlinienpakets und der neuen Verordnung zur Einrichtung des Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) weiter ausgebaut wurde.32 Diese Tendenz ist auch im Rahmen des Review-Prozesses 2018 weiter zu beobachten.33 Hier erfolgte eine Konsolidierung aller Richtlinien und zum Teil auch von Tertiärrecht (zB des „Drei-Kriterien-Test“) (→ Rn. 49) im Europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (EKEK). Damit ist – schon begrifflich, aber auch inhaltlich – in dieser fünften Phase in systematischer Hinsicht ein weiterer kodifikatorischer Schritt erfolgt. Darüber hinaus wurde die GEREK-Verordnung aktualisiert.

IV. Quellen des europäischen Telekommunikationsrechts 1. Der Europäische Kodex für die elektronische Kommunikation im Überblick Herzstück des jetzigen Regulierungsregimes ist damit der Europäische Kodex für die elek- 18 tronische Kommunikation von 2018 (EKEK) (dazu 1.). Vorschriften aus dem Datenschutzbereich finden sich in der ePrivacy-Richtlinie,34 die zukünftig durch die ePrivacyVerordnung (→ Rn. 32 ff.) ersetzt werden soll. Wichtige Regelungen für die Beschleunigung des Infrastrukturausbaus finden sich zudem in der Kostensenkungsrichtlinie (KSRL),35 die durch weit gefasste Mitbenutzungsansprüche gegenüber Betreibern öffentlicher Versorgungsnetze eine Reduktion der Ausbaukosten zu erreichen versucht.36 Es ist bedenklich, dass deren Regelungen nicht in den EKEK integriert wurden. Insofern ist die Kodifizierung aus deutscher Sicht, in der ein enger Zusammenhang zwischen KSRL und

31 Zu einer anderen Einteilung der Entwicklung bis 2000 s. Larouche, S. 1 ff.; vgl. auch Klotz in Säcker Einl. II Rn. 1 ff. Ausführlicher zu der Phaseneinteilung bis zum TK-Review 2012 Kühling in Terhechte, 1. Aufl. 2011, § 24 Rn. 7 ff.; vgl. zu den Phasen der TK-Regulierung und ihren Perspektiven Kopf/Vidal MMR 2018, 22 und Nigge/Horstmann, MMR 2018, 721. 32 Es handelt sich dabei um die ÄndRL 2009/140/EG und 2009/136/EG sowie um die VO (EG) Nr. 1211/2009 (GEREK-VO). 33 Vgl. die umfassende Literatur zu den EKEK-Entwurfsfassungen, insbes. Neumann/Sickmann/Alkas/ Koch; Neumann N&R 2016, 262; Scherer MMR 2016, 713; Scherer/Heinickel MMR 2017, 71; Scherer/Heckmann/Heinickel/Kiparski/Ufer CR 2017, 197. 34 RL 2002/58/EG. 35 RL 2014/61/EU. 36 Zur Umsetzung der KSRL in den §§ 77 a ff. Kühling/Bulowski, Rechtliche Herausforderungen bei der Umsetzung der Kostensenkungsrichtlinie in deutsches Recht, Regensburg 2016.

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Telekommunikationsrecht besteht, unvollständig.37 Darüber hinaus hat im Rahmen des TK-Reviews 2018 auch eine umfassende Novellierung der GEREK-VO stattgefunden, damit diese die materiellrechtlichen Veränderungen durch den EKEK berücksichtigen kann. In Spezialbereichen (zB dem Roaming und der sogenannten Netzneutralität) wird dieser Rechtsrahmen durch weitere Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen ergänzt (dazu → Rn. 33 ff.). 19 Der EKEK strukturiert sich im Wesentlichen in drei Teile. Im ersten Teil wird der allgemeine Rahmen des europäischen Telekommunikationsrechts geregelt (→ Rn. 20 ff.). Hierbei handelt es sich im Kern um Vorschriften aus der ehemaligen Rahmenrichtlinie und der ehemaligen Genehmigungsrichtlinie. Der zweite Teil des EKEK enthält spezifische Vorschriften über die Netze (→ Rn. 26 ff.). Im Wesentlichen sind hier die Vorschriften aus der ehemaligen Zugangsrichtlinie und der ehemaligen Genehmigungsrichtlinie mit dem Fokus auf die Frequenzvergabe integriert. In einem dritten Teil finden sich nähere Vorschriften über Dienste (→ Rn. 31), die im Wesentlichen der ehemaligen Universaldienstrichtlinie entstammen. a) Rahmen des EKEK (Teil I EKEK) aa) Institutionelle Struktur und Verwaltung (Art. 5–11 EKEK) 20 Der erste Teil des EKEK enthält die allgemeinen materiellrechtlichen und prozeduralen Bestimmungen im harmonisierten Bereich. Er kann damit in gewisser Weise als der „allgemeine Teil“ des EKEK und des gesamten europäischen Telekommunikationsrechts bezeichnet werden, während sich die anderen Teile des EKEK jeweils auf besondere Teilaspekte des Telekommunikationsrechts beziehen. Das zeigt die „Kodifikationsreife“ der europäischen Telekommunikationsordnung, die in zwei Jahrzehnten erreicht wurde. 21 Der erste Teil des EKEK schafft angesichts der zunehmenden Verschmelzung von Telekommunikation, Medien und Informationstechnologien einen gemeinsamen Rechtsrahmen für alle elektronischen Kommunikationsnetze und -dienste.38 Im Vordergrund steht dabei ein technologieneutraler Ansatz, dh das klassische Kupfer-Festnetz, das Glasfasernetz, Kabel-, Satelliten- und Mobilfunknetze werden nicht getrennt reguliert, sondern einem einheitlichen Regulierungsrahmen unterworfen. Dazu werden zunächst in Art. 2 Nr. 1 und Nr. 4 EKEK die elektronischen Kommunikationsnetze und –dienste, wie eingangs geschildert (→ Rn. 5 f.), technologieneutral definiert. Darüber hinaus wird durch die Einführung der neuen Dienstekategorie der interpersonellen Kommunikationsdienste klargestellt, dass auch Internetkommunikationsdienste grundsätzlich vom Anwendungsbereich der telekommunikationsrechtlichen Richtlinien erfasst sind (→ Rn. 6). Der EKEK beschreibt zudem in Art. 3 – als verbindliche Vorgabe für die nationalen Regulierungsbehörden – anhand von allgemeinen Zielen die regulierungsökonomische Ausrichtung des TK-Rechtsrahmens. 22 Wie Trute zutreffend herausgearbeitet hat, soll die durch das Richtlinienrecht geschaffene erhebliche Flexibilität auf der dezentralen Vollzugsebene durch entsprechende Kohärenzsicherungsmechanismen kompensiert werden.39 Die Richtlinie legt dementsprechend gem. Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK in einem umfangreichen Katalog die Aufgaben der nationalen Regulierungsbehörden fest. Die damit angesprochene und in Art. 6 ff. EKEK ausgeprägte institutionelle Ausgestaltung der nationalen Regulierungsbehörden steht damit im Vorder-

37 In anderen Mitgliedstaaten soll die KSRL wohl auch zum Aufbau anderer Infrastrukturen genutzt werden und würde in diesem Fall über die Telekommunikationsordnung hinausreichen. 38 Vgl. dazu den Erwägungsgrund 5 EKEK. 39 Trute in FS Selmer, S. 566 ff.; instruktiv auch Britz EuR 2006, 46 (49 ff.).

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grund. Die Kommission ist im Regulierungsverbund40 mit den nationalen Regulierungsbehörden insbesondere im Bereich der Marktdefinition und Marktanalyse und mit Abstrichen auch im Bereich der Auferlegung einzelner Regulierungsmaßnahmen zuständig (dazu ausführlich unter → Rn. 78 ff.). Das Verfahren ist im EKEK von großer Bedeutung. Neben den nationalen Regulierungsbehörden aktiviert die Richtlinie aber auch die Markt- 23 teilnehmer für die Rechtsdurchsetzung und stattet diese mit entsprechenden (Verfahrens-)Rechten und Informationen aus (Art. 20, 22 und 31 EKEK). bb) Allgemeingenehmigung (Art. 12–19 EKEK) Das Ziel der Vorschriften über die Allgemeingenehmigung (Art. 12–19 EKEK) ist es, die 24 Deregulierung im Bereich der Genehmigungsvorschriften und -bedingungen für elektronische Kommunikationsnetze voranzutreiben. Dies wird dadurch erreicht, dass ein Genehmigungserfordernis, das den Marktzutritt von Wettbewerbern einschränkt, nur noch in Ausnahmefällen greift. Dementsprechend darf gem. Art. 12 Abs. 2 EKEK die Bereitstellung elektronischer Kommunikationsnetze oder -dienste grundsätzlich nur von einer Allgemeingenehmigung41 abhängig gemacht werden. Nummernunabhängige interpersonelle Kommunikationsdienste sind hiervon ausgenommen. Eine Allgemeingenehmigung ist eine Genehmigung, die ohne behördlichen Verwaltungsakt erfolgt und die allein von der Erfüllung bestimmter Bedingungen (Art. 13 Abs. 1 EKEK iVm Anhang I) abhängig ist. Mit dem Wegfall des „Erlaubnisvorbehalts“ geht der Übergang auf nachträgliche Kontrollbefugnisse und Überprüfungen (Art. 30 EKEK) einher. Art. 15 EKEK statuiert die Mindestrechte, die mit einer Allgemeingenehmigung verbunden sind. Allerdings können als Ausnahme zum Allgemeingenehmigungs-Regime gem. Art. 46 25 Abs. 1 EKEK insbesondere Frequenznutzungen von der Gewährung individueller Nutzungsrechte abhängig gemacht werden (= Erlaubnisvorbehalt), um so bspw. schon ex-ante funktechnische Störungen zu vermeiden oder eine effiziente Nutzung der Frequenzen sicherzustellen. b) Vorschriften mit Bezug zu Netzen (Teil II EKEK) Der EKEK enthält in Art. 45–54 Vorgaben für den Zugang zu Funkfrequenzen. Insoweit 26 werden die Mitgliedstaaten zu einer transparenten, diskriminierungsfreien und wettbewerbsoffenen Vergabe verpflichtet. Insbesondere im Bereich der Frequenzverwaltung wurden im Zuge des letzten unionsrechtlichen TK-Reviews einige Änderungen an den diesbezüglichen Regelungen des EKEK vorgenommen, die eine effizientere Verwaltung des Funkfrequenzspektrums gewährleisten sollen. Als eines der Kernelemente der Richtlinie behandelt der zweite Teil des EKEK Fragen des 27 Zugangs der Wettbewerber zu Telekommunikationsnetzen und -diensten der marktmächtigen Unternehmen. Dieser Teil des EKEK betrifft die Regulierung von Zugangs- und Zusammenschaltungsvereinbarungen zwischen Diensteanbietern und Netzbetreibern (Art. 59 ff. EKEK). Ferner werden Ziele und Grundsätze für nationale Regulierungsbehörden in Bezug auf den Zugang, die Zusammenschaltung und die Interoperabilität vorgegeben und Verfahren festgelegt, die gewährleisten sollen, dass die von den nationalen Regulierungsbehörden auferlegten Verpflichtungen überprüft und nach Erreichen der angestrebten Ziele gegebenenfalls aufgehoben werden (Art. 61 und Art. 68 EKEK). Der EKEK wird ergänzt durch die Märkteempfehlung und die Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse (näher zu dieser Vorsteuerung unter → Rn. 41 ff.). 40 Vgl. zu diesem Begriff die Nachweise bei Britz EuR 2006, 46 (49 ff.); Weiß EuR 2016, 631 (632 ff.). 41 S. dazu die Definition in Art. 2 Nr. 22 EKEK.

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28 Art. 73 EKEK, die zentrale Norm, regelt die Auferlegung von Verpflichtungen in Bezug auf den Zugang zu Telekommunikationsnetzen (und -diensten). Flankierend tritt ein Maßnahmenkatalog hinzu, der von Transparenzverpflichtungen (Art. 69 EKEK) über eine Nichtdiskriminierungsverpflichtung (Art. 70 EKEK) bis hin zu Verpflichtungen in Bezug auf eine Preiskontrolle und Kostenrechnung (Art. 74 EKEK) reicht. In Art. 77 und 78 EKEK finden sich Regelungen zur Auferlegung der Verpflichtung einer funktionellen Trennung vertikal integrierter Unternehmen. 29 Zu einer Erweiterung der Zugangsregulierung kam es im Rahmen des TK-Reviews 2018. Die Zugangsregulierung erfasst gem. Art. 72 EKEK nunmehr auch bauliche Anlagen. Zudem wird die bisherige Entgeltregulierung um eine Regulierung von Terminierungsentgelten (Art. 75 EKEK) erweitert. Im bisherigen Rechtsrahmen war die Regulierung von Terminierungsentgelten lediglich tertiärrechtlich geregelt (→ Rn. 117 zu Art. 75 EKEK). Die Erweiterung des Zielekanons um ein Konnektivitätsziel (→ Rn. 134) wird in Art. 76 EKEK visibel, indem neue Netzbestandteile von Netzen mit sehr hoher Kapazität unter besonderen Voraussetzungen der Regulierung entzogen werden können. Darüber hinaus finden sich Regelungen zu Verpflichtungszusagen (Art. 79 EKEK) (→ Rn. 137) und zur Migration von Netzbestandteilen (Art. 81 EKEK) (→ Rn. 132 f.). 30 Das Herzstück des Zugangs wurde schon vor Inkrafttreten von EKEK und ZRL in der TAL-VO42 geregelt. Diese – mittlerweile aufgehobene43 – Verordnung traf nähere Bestimmungen für den Zugang zum monopolistischen Bottleneck des Teilnehmeranschlusses, da dieser für die Entfaltung des Wettbewerbs von zentraler Bedeutung war und daher eine effektive und gleichmäßige Umsetzung besonders wichtig war. Dabei ging es vor allem um die Sicherung des entbündelten Zugangs zur TAL (Art. 3 TAL-VO).44 Interessanterweise wurde auch diese materiellrechtliche Regelung schon durch die Einräumung entsprechender Kompetenzen für die nationale Regulierungsbehörde ergänzt (Art. 4 TAL-VO). c) Vorschriften über den Universaldienst und Nutzerrechte (Teil III EKEK) 31 Der dritte Teil des EKEK umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Regulierungsanliegen. Im Vordergrund steht dabei das Daseinsvorsorgeziel einer Universaldienstgewährleistung.45 Jeglichem Nutzer soll ein Anschluss an das öffentliche Telefonnetz an einem festen Standort, angemessener Breitbandinternetzugangsdienst und Zugang zu Sprachkommunikationsdiensten zu einem erschwinglichen Preis bereitgestellt werden, wobei in Bezug auf die Erschwinglichkeit (Art. 84 Abs. 1 EKEK) mitgliedstaatsspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen sind.46 Die Funktionalität eines Internetzugangsdienstes bestimmt sich ebenfalls nach den nationalen Begebenheiten (Art. 84 Abs. 3 EKEK). Eine Konkretisierung eines angemessenen Breitbandinternetzugangsdienstes erfolgt über eine Liste, die nationale Besonderheiten berücksichtigt (Art. 84 Abs. 3 UAbs. 1 iVm Annex V EKEK). Universaldienstverpflichtungen, wie (gedruckte) Teilnehmerverzeichnisse („Telefonbücher“) und öffentliche Münz- und Kartentelefonie, sind künftig nicht mehr verpflichtend vorgesehen. Gleichzeitig weisen die Normen einen weitaus höheren Abstraktionsgrad auf. Im dritten Teil des EKEK finden sich zudem in Art. 93–97 EKEK Regelungen zum Umgang mit Nummern. Darüber hinaus normieren die Art. 99 ff. EKEK Regelungen zu Endnutzerrechten und Sonderverpflichtungen. 42 VO (EG) Nr. 2887/2000. 43 Vgl. Art. 4 ÄndRL 2009/140/EG. 44 Der Zugang zur (entbündelten) Teilnehmeranschlussleitung wird nunmehr durch Art. 73 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a EKEK sichergestellt. 45 Vgl. hierzu umfassend Kühling/Toros, S. 18 ff.; dies., N&R 2019, 258. 46 Vgl. dazu Erwägungsgründe 214 und 219 der EKEK.

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2. Bereichsspezifisches Telekommunikationsdatenschutzrecht und gescheiterte Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung Die ePrivacy-RL47 konkretisiert verschiedene Datenschutzanforderungen für den Bereich 32 der Telekommunikation. Sie verfolgt das Ziel der Anpassung des bis dahin geltenden Rechtsrahmens48 an die Entwicklungen der Märkte und Technologien für elektronische Kommunikationsdienste. Nutzern öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste muss unabhängig von der zugrunde liegenden Technologie der gleiche Grad des Schutzes personenbezogener Daten und der Privatsphäre geboten werden.49 Vor diesem Hintergrund ist auch die Novellierung der ePrivacy-RL durch die ePrivacy-VO zu sehen, die ursprünglich zeitgleich mit der DS-GVO erfolgen sollte, was sich allerdings als zu ambitioniert erwiesen hat.50 Auch im bereichsspezifischen Telekommunikationsdatenschutzrecht soll zur Handlungsform der unmittelbar geltenden Verordnung gewechselt werden. Entsprechend der Neufassung der Definition elektronischer Kommunikationsdienste im EKEK soll auch hier eine – noch weitergehende51 – (klarstellende) Einbeziehung von Internetkommunikationsdiensten in das sektorspezifische Datenschutzrecht erfolgen.52 Die weiteren Einzelheiten dieses Gesetzgebungsverfahrens sind aber überaus umstritten. Am 18. September 2019 hat der finnische Ratspräsident einen erneuten Kompromissvorschlag für die ePrivacy-VO veröffentlicht.53 Dieser wurde jedoch abgelehnt, sodass eine vollständige Neukonzeption des Verordnungsentwurfs aussteht. Datenschutzrechtlich relevante Vorgaben enthielt auch die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung.54 Diese wurde jedoch im Jahr 2014 vom EuGH55 wegen Verstoßes gegen Art. 7 und 8 GRC für unionsrechtswidrig und unwirksam erklärt.56 Der EuGH hat in der Folge seine restriktive Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung fortgeführt und diese in einem Vorabentscheidungsverfahren sehr strengen Grenzen unterworfen.57 Mit den dort aufgestellten Maßgaben ist eine unions(primär)rechtskonforme Vorratsdatenspeicherung kaum denkbar.58

47 RL 2002/58/EG, zuletzt geändert durch Art. 2 der ÄndRL 2009/136/EG. 48 Die Bestimmungen der ePrivacy-RL stellen gem. Art. 1 Abs. 2 eine Konkretisierung und Ergänzung der RL 95/46/EG dar. Letztere bleibt als allgemeine Datenschutzrichtlinie neben der eDSRL anwendbar. 49 Vgl. dazu Erwägungsgrund 4 ePrivacy-Rl. 50 Kühling/Raab in Kühling/Buchner Art. 95 DS-GVO Rn. 3. 51 Insbes. sollen sowohl nach den Vorstellungen der EU-Kommission als auch des Europäischen Parlaments Dienste erfasst werden, die eine interpersonelle Kommunikation als bloße untergeordnete Nebenfunktion ermöglichen, siehe zur gesetzestechnischen Umsetzung Kühling/Raab in Kühling/Buchner Art. 95 DS-GVO Rn. 3 a. 52 S. zur grundsätzlichen Einbeziehung von Internetkommunikationsdiensten und einzelnen Problemen Bulowski, S. 100 ff. 53 Abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CONSIL:ST_12293_2019_I NIT&from=EN (zuletzt abgerufen am 7.1.2020). 54 RL 2006/24/EG. 55 EuGH 8.4.2014 – C-293/12, C-594/12, NJW 2014, 2169. 56 S. hierzu umfassend Kühling/Klar/Sackmann, Rn. 154 ff. 57 EuGH 21.12.2016 – C-203/15, C-698/15, NJW 2017, 717. 58 Kühling/Klar/Sackmann, Rn. 170.

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§ 4 Telekommunikationsrecht 3. Ergänzungen in weiteren Rechtsakten a) Roaming-Verordnungen

33 Da der europäische Gesetzgeber ein spezifisches Vorgehen außerhalb des TK-Rechtsrahmens für notwendig hielt,59 hat er 2007 eine Roaming-VO60 erlassen.61 Diese sah er deshalb als erforderlich an, weil die nationalen Regulierungsbehörden nicht über effektive Möglichkeiten verfügt hätten, den überhöhten Roaming-Preisen zu begegnen, und schon die Definition entsprechender Märkte und die Identifikation marktbeherrschender Stellungen schwierig gewesen sei.62 Dieses Abweichen vom übrigen unionsrechtlichen TKRechtsrahmen ist auf scharfe Kritik gestoßen.63 Die erste Roaming-VO ist im Jahr 2012 aufgehoben und ersetzt worden.64 Neben einer Absenkung der Preisobergrenzen für Roaming-Dienste in Art. 7–10 und 12 Roaming-VO wurde in Art. 13 Roaming-VO eine Begrenzung der Endkundenentgelte für Datenroamingdienste eingeführt. Darüber hinaus enthält die Verordnung weitere rechtliche Vorgaben, um strukturelle Wettbewerbsdefizite nachhaltig aufzulösen. Im Jahr 2015 wurde die endgültige Abschaffung von RoamingAufschlägen auf Endkundenebene beschlossen.65 Die Regelung trat am 15.6.2017 in Kraft. Gem. Art. 6 a Roaming-VO dürfen seitdem grundsätzlich keine Roaming-Aufschläge für Endkunden mehr erhoben werden. Konkretisierungen und Ausnahmen zur Sicherstellung der Verhältnismäßigkeit und zur Prävention von Missbräuchen finden sich in Art. 6 b–f Roaming-VO. b) GEREK-Verordnung (GEREK-VO) 34 Im Zuge des unionsrechtlichen TK-Reviews von 2009 ist mit dem Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) ein aus den nationalen Regulierungsbehörden gebildetes, länderübergreifendes Gremium in den unionsrechtlichen TK-Rechtsrahmen eingebettet worden,66 das zusammen mit der Kommission dafür Sorge tragen soll, dass die unionsrechtlichen Vorgaben von den Mitgliedstaaten und deren Regulierungsbehörden kohärent angewendet werden. Dazu wird das GEREK insbesondere mit in das gemeinschaftsweite Konsolidierungsverfahren bei der Marktdefinition und Marktanalyse nach Art. 32 EKEK eingebunden. Zudem spielt das GEREK eine zentrale Rolle in dem Verfahren zur einheitlichen Anwendung von Abhilfemaßnahmen nach Art. 33 EKEK.67 Im Rahmen der Novellierung des unionalen TK-Rechtsrahmens durch den EKEK wurde auch die GEREK-VO an die dort beschlossenen Änderungen angepasst und durch eine aktualisierte Fassung ersetzt.

59 Mit ihrem Inkrafttreten am 30.6.2007 erfolgte eine weitgehende unionsrechtliche Vorstrukturierung der Entgeltregulierung nicht nur auf dem bisherigen Vorleistungsmarkt Nr. 17 der Empfehlung 2003/11/EG, sondern auch auf dem korrespondierenden Endkundenmarkt. 60 VO (EG) Nr. 717/2007, geändert durch Art. 1 VO (EG) Nr. 544/2009. 61 Vgl. zur Gültigkeit der Roaming-VO EuGH 8.6.2010 – C-58/08, Slg 2010, I-5026, Rn. 32 ff. – The Queen, auf Antrag von Vodafone Ltd ua/Secretary of State for Business, Enterprise and Regulatory Reform. 62 Vgl. die Erwägungsgründe 4 ff. Roaming-VO. 63 So mit Blick auf entsprechende Vorentwürfe Wissmann, S. 219 f.; differenzierend Berger-Kögler MMR 2007, 294, 294 ff. 64 VO (EU) Nr. 531/2012, zuletzt geändert durch die VO 2017/920/EU v. 9.6.2017. 65 Art. 7 VO 2015/2120/EU. 66 VO (EG) Nr. 1211/2009, wird ersetzt durch VO (EU) 2018/1971. 67 Vgl. dazu Art. 4 Abs. 1 lit. c ii) GEREK-VO.

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c) Frequenzentscheidung Mit der auf Basis des Art. 95 EGV (jetzt Art. 114 AEUV) erlassenen Frequenzentschei- 35 dung des Europäischen Parlaments und des Rates68 wurde ein politischer und rechtlicher Rahmen geschaffen, um harmonisierte Bedingungen im Hinblick auf die Verfügbarkeit und effiziente Nutzung des Funkfrequenzspektrums zu gewährleisten (Art. 1 Abs. 1). Darüber hinaus zielt die Entscheidung auf eine Koordinierung der frequenzpolitischen Ansätze der Mitgliedstaaten insbesondere bei Verhandlungen in internationalen Organisationen (zB ITU) ab (Art. 6).69 Im Wesentlichen normiert die Entscheidung in Art. 4 die Befugnis der Kommission, technische Umsetzungsmaßnahmen, mit deren Ausarbeitung regelmäßig der Ausschuss für elektronische Kommunikation (ECC)70 der Europäischen Konferenz der Verwaltungen für Post und Fernmeldewesen (CEPT)71 beauftragt wird (Art. 4 Abs. 2), zu verabschieden, um so eine harmonisierte und effektive Nutzung des Frequenzspektrums in der EU zu gewährleisten. Unterstützt wird sie dabei vor allem von einem Frequenzausschuss (RSC)72 (Art. 3 Abs. 1), der im Wege des Komitologieverfahrens73 am Erlass dieser Harmonisierungsmaßnahmen beteiligt ist. Je nach Regelungsgegenstand fand vor dem Lissabon-Vertrag das Beratungsverfahren iSd Art. 3 Beschluss 1999/468/EG74 oder das Regelungsverfahren iSd Art. 5 Beschluss 1999/468/EG75 Anwendung.76 Durch Art. 13 VO (EU) Nr. 182/2011 greift stattdessen nunmehr das Beratungsverfahren iSd Art. 4 VO (EU) Nr. 182/2011 bzw. das Prüfverfahren iSd Art. 5 VO (EU) Nr. 182/2011. Auf der Basis der Frequenzentscheidung hat die Kommission unter Mitwirkung des Fre- 36 quenzausschusses bereits in zahlreichen Einzelfragen Harmonisierungsentscheidungen getroffen und damit die Frequenzregulierung maßgeblich vorgeprägt. Flankierende Unterstützung und Beratung erhielt die Kommission insoweit auch von der Gruppe für Frequenzpolitik (RSPG),77 die von der Kommission selbst ins Leben gerufen wurde.78 In Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK wird festgelegt, dass die RSPG ein Kooperationsorgan der Europäischen Institutionen ist und zur strategischen Planung und Koordination der Funkfrequenzpolitik beitragen soll. Dies schlägt sich in der umfangreichen Einbindung in die Frequenzvergabe nieder (→ Rn. 167). d) Kostensenkungsrichtlinie Im Jahr 2014 wurde das damals bestehende TK-Richtlinienpaket durch die Kostensen- 37 kungsrichtlinie erweitert, die den Ausbau von Hochgeschwindigkeitsnetzen für die elek68 69 70 71 72 73

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Entscheidung Nr. 2002/676/EG. Vgl. dazu auch Erwägungsgrund 19 Frequenzentscheidung. Abkürzung der englischen Bezeichnung „Electronic Communications Committee“. Abkürzung der französischen Bezeichnung „Conférence Européenne des Administrations des Postes et des Télécommunications“. Abkürzung der englischen Bezeichnung „Radio Spectrum Committee“. Vgl. dazu Beschluss 1999/468/EG, zuletzt geändert durch Art. 1 Beschluss 2006/512/EG. Durch Art. 12 VO (EU) Nr. 182/2011 ist dieser Komitologie-Beschluss zwischenzeitlich – mit Ausnahme des Art. 5 a (Regelverfahren mit Kontrolle) – aufgehoben worden. Über Art. 13 VO (EU) Nr. 182/2011 werden die Basisrechtsakte, die weiterhin auf die Verfahrensarten des Beschlusses 1999/468/EG verweisen, an die nunmehr geltenden Verfahren der Art. 4 ff. VO (EU) Nr. 182/2011 angepasst. So bspw. in Art. 4 Abs. 2 S. 2 iVm Art. 3 Abs. 2 Frequenzentscheidung. So bspw. in Art. 4 Abs. 3 S. 3, Abs. 4, Abs. 6 iVm Art. 3 Abs. 3 Frequenzentscheidung. Im ersten Fall hat die Kommission nur eine Berücksichtigungspflicht gegenüber der Position der mitgliedstaatlichen Vertreter, während im zweiten Fall eine Durchführung der Maßnahme gegen die qualifizierte Ausschussmehrheit ausgeschlossen ist; vgl. dazu Art. 3 und 5 Beschluss 1999/468/EG; zu den ehemaligen Komitologieverfahren im Überblick Haratsch/Koenig/Pechstein Europarecht, 11. Aufl. 2018, Rn. 368 ff. Abkürzung der englischen Bezeichnung „Radio Spectrum Policy Group“. Beschluss 2002/622/EG, geändert durch Art. 1 Beschluss 2009/978/EU.

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§ 4 Telekommunikationsrecht tronische Kommunikation erleichtern und entsprechende Anreize schaffen soll. Dazu soll die gemeinsame Nutzung bestehender physischer Infrastrukturen gefördert und ein effizienterer Ausbau neuer physischer Infrastrukturen ermöglicht werden, damit solche Netze zu geringeren Kosten errichtet werden können, Art. 1 Abs. 1 KSRL.79 Zur Erreichung dieses Ziels werden symmetrische Mitbenutzungs- und damit korrespondierend Informationsansprüche gegenüber Betreibern öffentlicher Versorgungsnetze vorgegeben, von denen auch die Betreiber öffentlicher Kommunikationsnetze erfasst werden (Art. 3 f. KSRL). Ferner sollen Bauarbeiten künftig besser koordiniert werden, um Synergieeffekte zu nutzen (Art. 5 f. KSRL). Die Kostensenkungsrichtlinie gilt gem. Art. 1 Abs. 4 KSRL lediglich subsidiär gegenüber dem bestehenden TK-Richtlinienpaket. Anders als die Einzelrichtlinien wird sie durch den EKEK nicht aufgehoben (vgl. Art. 116 Abs. 1 EKEK), gilt aber weiterhin lediglich subsidiär zu den dort vorgesehenen Regelungen (Art. 1 Abs. 4 KSRL iVm Art. 116 Abs. 3 EKEK). Die Fortgeltung der Kostensenkungsrichtlinie ist eher kritisch zu sehen, da sie dem Kodifikationsansatz des EKEK widerspricht und es unklar erscheint, inwieweit sie künftig vom EKEK verdrängt sein wird. e) Regelungen zur Netzneutralität

38 Gesellschaftspolitisch sehr umstritten waren und sind die Regelungen zur sogenannten Netzneutralität.80 Darunter versteht man, dass sämtliche über das Internet übertragene Datenpakete unabhängig von ihrem Inhalt, ihrem Verwendungszweck, ihrer Herkunft oder ihrem Empfänger gleichbehandelt werden (sogenanntes Best-Effort-Prinzip).81 Unionsrechtliche Vorgaben hierzu sind in der Verordnung 2015/2120/EU („Netzneutralitätsverordnung“) enthalten. Zwar greift die Verordnung den stark politisierten Begriff der Netzneutralität nicht auf, jedoch ist mit den Regelungen zur Gewährleistung des Zugangs zum offenen Internet nichts anderes gemeint. Da die Regelungsmaterie nicht nur rechtlich, sondern auch technisch komplex ist, wurde das GEREK in Art. 5 Abs. 3 Netzneutralitätsverordnung ermächtigt und verpflichtet, Leitlinien zur Umsetzung der Verpflichtungen durch die nationalen Regulierungsbehörden zu erlassen. Dem ist das GEREK auch nachgekommen und hat im August 2016 Netzneutralitätsleitlinien82 veröffentlicht. Nun liegt es gem. Art. 5 Netzneutralitätsverordnung an den nationalen Regulierungsbehörden, die Verordnung zu vollziehen. 39 Insgesamt kann man bei den Regelungen von einer Kompromisslösung sprechen: Als Grundsatz werde in Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Netzneutralitätsverordnung ein Diskriminierungsverbot verankert und als Ausnahmen hiervon Maßnahmen zum Verkehrsmanagement, bestimmte vertragliche Vereinbarungen zwischen Endnutzern und Internetzugangsanbietern sowie sogenannte Spezialdienste vorgesehen.83 Da diese Ausnahmen stark wertungsabhängig sind,84 bleibt abzuwarten, wie die gesetzlichen Regelungen in der behördlichen und gerichtlichen Rechtspraxis ausgelegt werden.85

79 S. zur Umsetzung der KSRL Kühling/Bulowski, Rechtliche Herausforderungen bei der Umsetzung der Kostensenkungsrichtlinie in deutsches Recht, Regensburg 2018. 80 Vgl. hierzu insbes. Werkmeister/Hermstrüwer CR 2015, 570; Klement EuR 2017, 532. 81 Werkmeister/Hermstrüwer CR 2015, 570 (571). 82 BoR (16) 127. 83 Vgl. Werkmeister/Hermstrüwer CR 2015, 570 (572 ff.). 84 Siehe hierzu etwa den Kriterienkatalog in den Netzneutralitätsleitlinien, BoR (16) 127, Nr. 46 ff. 85 Derzeit wird etwa ein Rechtsstreit zwischen der BNetzA und der Deutschen Telekom um die Tarifoption „StreamOn“ geführt, s. hierzu Kühling K&R-Editorial, Heft 11/2017; Gerpott K&R 2017, 677 und Fetzer MMR 2017, 579.

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B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts

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B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts I. Grundmechanismen der Marktregulierung im EKEK und in der GEREK-VO Ausgangspunkt der Marktregulierung ist die Definition der relevanten Märkte, um darauf 40 aufbauend die regulierungsbedürftigen – idR marktbeherrschenden – Unternehmen zu identifizieren und diesen schließlich adäquate Abhilfemaßnahmen aufzuerlegen. Die dabei einschlägigen verfahrens- und materiellrechtlichen Regelungen (dazu → Rn. 41 ff.) werden institutionell flankiert durch europarechtlich vorstrukturierte unabhängige und durchsetzungsstarke nationale Regulierungsbehörden (dazu → Rn. 71 ff.), die gemeinsam mit dem GEREK (dazu → Rn. 74 ff.) und der EU-Kommission einen transnationalen Regulierungsverbund begründen (dazu → Rn. 78 ff.). Materiellrechtlich hat angesichts dieser umfangreichen sekundärrechtlichen Vorstrukturierung das EU-Primärrecht im Telekommunikationssektor eine – etwa verglichen mit der europäischen Medienordnung – vergleichsweise geringe Bedeutung gehabt. So spielen die Grundfreiheiten im TK-Bereich nur eine untergeordnete Rolle und müssen vorliegend nicht näher erläutert werden. Auch die prinzipiell eröffnete parallele Anwendung des EU-Kartellrechts ist von vernachlässigenswerter Relevanz (dazu → Rn. 89 ff.). Vergleichbares gilt für das primärrechtliche Beihilfenrecht, das allerdings neben den Universaldienstvorgaben anwendbar ist und mit der Einführung umfangreicherer Breitbandfördermodelle auf nationaler Ebene eine gewisse Bedeutung erlangt hat (dazu → Rn. 190 ff.). 1. Marktdefinition, Marktanalyse und Abhilfemaßnahmen a) Dreischrittiges Verfahren Das Richtlinienrecht gibt ein flexibles System zur Schaffung und Erhaltung von Wettbe- 41 werb vor. Es basiert auf einer Vielzahl von Prüfkriterien, mit deren Hilfe die zu regulierenden Unternehmen und das situationsadäquate Regulierungsinstrumentarium identifiziert werden sollen. Dieses System ist dabei dreischrittig ausgestaltet: In einem ersten Schritt werden die regulierungsbedürftigen Märkte definiert, im zweiten Schritt die marktbeherrschenden Unternehmen auf diesen Märkten identifiziert und diese im dritten Schritt entsprechenden Abhilfemaßnahmen unterworfen. Entscheidend ist, dass zugleich der Konkretisierungsbedarf und die Flexibilität für die nationalen Regulierungsbehörden erheblich erhöht worden sind. So ist die Rechtsfolgenseite nicht legislativ determiniert, sondern lediglich vorstrukturiert und sie wird von den nationalen Regulierungsbehörden bezogen auf die regulierten Unternehmen im Einzelnen fixiert. Dh nicht der Gesetzgeber bestimmt ab einer bestimmten Marktanteilsschwelle die Rechtsfolgen, sondern die nationalen Regulierungsbehörden stellen im Regulierungsverbund mit der Kommission fest, ob ein Markt regulierungsbedürftig ist, prüfen anhand der kartellrechtlichen Kriterien das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung und wählen sodann aus einer Mehrzahl von Instrumenten die geeigneten und angemessenen Verpflichtungen aus. b) Marktdefinition Die Marktdefinition erfolgt dabei wiederum zweistufig. So ist zunächst eine Marktab- 42 grenzung nach allgemeinen kartellrechtlichen Abgrenzungsmethoden erforderlich (dazu → Rn. 43 ff.), bevor anschließend die eigentliche Prüfung der Regulierungsbedürftigkeit des so abgegrenzten Marktes erfolgen kann (dazu → Rn. 49 ff.). Bei diesen Schritten haben die nationalen Regulierungsbehörden gem. Art. 64 Abs. 3 S. 1 EKEK insbesondere86 86 Daneben enthalten auch die Leitlinien 2018/C 159/01 („Marktanalyseleitlinien“; ABl. C 159/1) in den Ziff. 33 ff. detaillierte Hinweise zur Marktdefinition, die gem. Art. 61 Abs. 2 UAbs. 2 EKEK ebenfalls weitestgehend zu berücksichtigen sind.

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§ 4 Telekommunikationsrecht die Märkteempfehlung,87 in der die (potenziell) regulierungsbedürftigen sachlichen Märkte von der Kommission vorstrukturiert werden (dazu → Rn. 54 f.), weitestgehend zu berücksichtigen. aa) Marktabgrenzung

43 Die Marktabgrenzung ist in sachlicher und räumlicher Hinsicht vorzunehmen. Bei der im Rahmen der sachlichen Marktabgrenzung maßgeblichen Bewertung der Wettbewerbskräfte sind zwei Parameter von entscheidender Bedeutung: die Austauschbarkeit auf der Nachfrageseite88 und die Angebotsumstellungsflexibilität89.90 Ob eine Austauschbarkeit auf der Nachfrageseite oder eine Angebotsumstellungsflexibilität besteht, kann mittels des „hypothetischen Monopolistentests“91 bestimmt werden. Bei diesem Test ist zu prüfen, wie sich das Nachfrage- oder Angebotsverhalten bei einer kleinen, aber signifikanten und anhaltenden Preiserhöhung für ein bestimmtes Produkt ändern würde und die Preise sämtlicher anderer Produkte unverändert blieben.92 Die Reaktion der Verbraucher und Unternehmen macht sodann deutlich, ob ersetzbare Produkte existieren, und bei einer Bejahung, wie der relevante Produktmarkt abgegrenzt werden sollte. Dem sachlich relevanten Markt gehören demnach sämtliche Produkte an, die hinreichend austausch- bzw. substituierbar sind. Produkte, die nur in geringem Maß oder relativ austauschbar sind, gehören dagegen nicht demselben Markt an. Die technische Konvergenz führt dabei dazu, dass ähnliche Leistungsangebote durch verschiedene Übertragungstechniken ver- und übermittelt werden können und insoweit trotz technischer Abweichungen eine Produktaustauschbarkeit besteht. Berücksichtigung finden müssen des Weiteren die im Falle eines Produktwechsels anfallenden Kosten. So kann der zwingend notwendige Neuerwerb eines Endgerätes im Falle eines Produktwechsels dazu führen, dass die Märkte voneinander zu trennen sind. Unterschiedliche Märkte können sich schließlich aus der Differenzierung zwischen Privat- und Geschäftskunden sowie zwischen Endkunden und Vorleistungen ergeben. 44 Der räumlich relevante Markt bezieht sich auf ein Gebiet, in dem die Unternehmen bei den relevanten Produkten an Angebot und Nachfrage beteiligt sind und die Wettbewerbsbedingungen einander ähneln oder hinreichend kongruent sind und von Nachbargebieten abgegrenzt werden können, in denen erheblich andere Wettbewerbsbedingungen bestehen.93 Für die Definition des geografischen Marktes ist es nicht erforderlich, dass die Wettbewerbsbedingungen zwischen Anbietern und Händlern vollkommen homogen sind. Es reicht aus, dass diese Bedingungen einander gleichen oder hinreichend homogen sind.

87 Die erste Empfehlung 2003/311/EG (ABl. EU L 114/45) wurde durch die Empfehlung 2007/879/EG (ABl. EU L 344/65) ersetzt. Diese wiederum wurde durch die Empfehlung 2014/710/EU (ABl. EU L 295/75) ersetzt. Sofern nicht explizit auf die „Märkteempfehlung 2003/311/EG“ oder die „Märkteempfehlung 2007/879/EG“ abgestellt wird, bezieht sich der im Folgenden verwendete Terminus „Märkteempfehlung“ ausschließlich auf die Empfehlung 2014/710/EU; die Märkteempfehlung soll gem. Art. 62 Abs. 1 S. 5 EKEK spätestens bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist erneut überprüft werden. 88 Die Austauschbarkeit auf der Nachfrageseite ist ein Faktor, anhand dessen festgestellt wird, inwieweit die Verbraucher bereit sind, das fragliche Produkt durch andere Produkte zu ersetzen. 89 Die Angebotsumstellungsflexibilität stellt darauf ab, ob andere Anbieter als die des betrachteten Produkts oder Dienstes direkt oder kurzfristig bereit und imstande wären, ihre Produktion umzustellen bzw. die relevanten Produkte anzubieten. 90 Vgl. zu diesen beiden Kriterien Ziff. 38 Marktanalyseleitlinien. 91 Auch SSNIP-Test („small but significant non transitory increase in price“) genannt. 92 Ob eine Preiserhöhung signifikant ist, wird vom Einzelfall abhängen. In der Praxis sollten die nationalen Regulierungsbehörden generell von den Auswirkungen einer Preiserhöhung von 5–10 % ausgehen; vgl. Ziff. 40 Marktanalyseleitlinien. 93 Ziff. 56 Marktanalyseleitlinien.

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B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts Somit können nur Gebiete, in denen die objektiven Wettbewerbsbedingungen „heterogen“ sind, nicht als einheitlicher Markt angesehen werden.94 Von dem mehr oder weniger strengen Verständnis des Merkmals der „hinreichenden Homogenität“ der Wettbewerbsbedingungen hängt letztlich auch die Entscheidung ab, ob ein Markt national, regional oder gar lokal abzugrenzen ist. Je strenger eine nationale Regulierungsbehörde dieses Merkmal interpretiert, desto eher wird sie zu einer regionalen Marktabgrenzung tendieren (vgl. hierzu Art. 64 Abs. 3 EKEK). Umgekehrt wird man bei einem lockeren Verständnis von „hinreichender Homogenität“ eher zu einer (Beibehaltung der) Abgrenzung nationaler Märkte neigen. Das zeigt sich auch in der Praxis. Während in einigen Mitgliedstaaten (zB im Vereinigten Königreich95 und Portugal96) bereits früh eine Regionalisierung der Regulierung zu beobachten war, hat die BNetzA hierzulande bislang noch von einer sub-nationalen Marktabgrenzung abgesehen. Aufgrund des zunehmenden Wettbewerbs durch alternative (Stadt-)Netzbetreiber gerade im Bereich von Breitband-Infrastrukturen, der stärkeren unionsrechtlichen Betonung einer Berücksichtigung der daraus resultierenden unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen im Zuge des TK-Reviews 2018 sowie vor dem Hintergrund des angestrebten Ziels, kompetitive Märkte aus der Regulierung zu entlassen, ist es letztlich nur eine Frage der Zeit, wann auch in Deutschland regionale Teilmärkte abgegrenzt werden. Gem. Art. 65 EKEK besteht die Möglichkeit, länderübergreifende Märkte zu identifizieren. Die Kommission oder zumindest zwei nationale Regulierungsbehörden können beim GEREK begründet einen Antrag auf die Analyse eines potenziellen länderübergreifenden Marktes stellen (Art. 65 Abs. 1 S. 1 EKEK). Die Festlegung eines länderübergreifenden Marktes obliegt sodann der Kommission, wobei die Analyse des GEREK besondere Berücksichtigung finden muss (Art. 65 Abs. 1 S. 2 EKEK). In der Folge wird eine gemeinsame Marktanalyse durch die betroffenen Mitgliedstaaten durchgeführt, die in einer gemeinsamen Maßnahmennotifikation gem. Art. 32 und 33 EKEK mündet. Im Übrigen sind auch ohne die Definition länderübergreifender Märkte Kooperationen zwischen nationalen Regulierungsbehörden denkbar, sofern die Marktbedingungen hinreichend homogen sind (Art. 65 Abs. 2 UAbs. 2 EKEK).97 In Art. 66 EKEK findet sich das Verfahren zur Ermittlung der länderübergreifenden Nachfrage. Die Analyse wird nach den Vorgaben des Art. 66 Abs. 1 und Abs. 2 EKEK durch das GEREK vorgenommen.98 Neben der Kommission und zwei nationalen Regulierungsbehörden, haben auch die Marktteilnehmer die Möglichkeit, mit einer Begründung und Belegen ein Verfahren zur Ermittlung der länderübergreifenden Nachfrage zu initiieren. Es muss auf ein ernstes Nachfrageproblem hingewiesen werden. Interessant ist im Übrigen zu sehen, dass die Kommission bislang noch keine länderübergreifenden Märkte im Rahmen einer entsprechenden Entscheidung identifiziert hat.99 Dies weist schon darauf hin, dass die örtlich basierten Telekommunikationsdienste weiterhin im Wesentlichen auf korrespondierenden national (oder sogar regional) abgegrenzten Märkten erbracht werden und der europäisch induzierte Wettbewerb eher im Wege der

94 Die Abgrenzung des räumlich relevanten Marktes erfolgt in derselben Weise wie die Würdigung der Nachfrage- und Angebotssubstituierbarkeit als Reaktion auf eine relative Preiserhöhung; vgl. dazu Ziff. 57 Marktanalyseleitlinien. 95 Vgl. dazu die Pressemitteilung der Kommission v. 14.2.2008, IP/08/232. 96 Vgl. dazu die Pressemitteilung der Kommission v. 12.1.2009, IP/09/36. 97 Neumann N&R 2018, 204 (205). 98 IdF des Art. 15 Abs. 4 RRL war noch die Europäische Kommission handelnde Behörde. 99 Die Möglichkeit zur Definition länderübergreifender Märkte bestand schon im Rahmen des Art. 15 Abs. 4 RRL.

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§ 4 Telekommunikationsrecht Verwirklichung der Niederlassungs- denn der Dienstleistungsfreiheit realisiert wird (vgl. dazu bereits → Rn. 13 f.). bb) Drei-Kriterien-Test der Regulierungsbedürftigkeit

49 An die Marktabgrenzung schließt sich der Drei-Kriterien-Test an. Diesem zufolge kommen für eine Regulierung (nur) Märkte in Betracht, die (1) durch beträchtliche und anhaltende strukturell, rechtlich oder regulatorisch bedingte Marktzutrittsschranken gekennzeichnet sind, (2) längerfristig nicht zu wirksamem Wettbewerb tendieren und (3) auf denen die Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts allein nicht ausreicht, um dem betreffenden Marktversagen entgegenzuwirken. Diese drei Kriterien müssen dabei kumulativ erfüllt sein, sofern eine Regulierung erfolgen soll.100 Aus dem Tertiärrecht wurde der Drei-Kriterien-Test nunmehr in das Sekundärrecht migriert und ist in Art. 67 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a–c EKEK kodifiziert. 50 Strukturbedingte Zugangshindernisse101 resultieren aus der anfänglichen Kosten- oder Nachfragesituation. Diese können zu einem Ungleichgewicht zwischen den etablierten Betreibern und Einsteigern führen, deren Marktzugang so be- oder verhindert wird.102 Rechtlich bedingte Hindernisse basieren nicht auf den Wirtschaftsbedingungen. Sie ergeben sich vielmehr aus legislativen, administrativen oder sonstigen hoheitlichen Maßnahmen, die sich direkt auf die Zugangsbedingungen bzw. die Stellung von Betreibern auf dem betreffenden Markt auswirken.103 Beispiele hierfür sind Marktzugangshindernisse, die dadurch entstehen, dass nur eine begrenzte Anzahl von Unternehmen Zugang zu Frequenzen für die Bereitstellung von Diensten erhält. Die Kriterien „beträchtlich“ und „anhaltend“ beziehen sich auf den Aufwand für ein in den Markt strebendes Unternehmen. Je größer dieser Aufwand ist, desto beträchtlicher ist das jeweilige Zugangshindernis. Dabei ist besonders die vertikale und horizontale Verflechtung des Marktbeherrschers zu berücksichtigen.104 51 Als zweites ist sodann zu erörtern, ob der Markt so beschaffen ist, dass längerfristig kein wirksamer Wettbewerb zu erwarten ist. Dabei handelt es sich um ein dynamisches Kriterium. Zu berücksichtigen sind insoweit strukturelle und verhaltensorientierte Aspekte, wie zB eine begrenzte Anzahl von Unternehmen mit unterschiedlichen Kostenstrukturen, die sich mit einer preiselastischen Nachfrage konfrontiert sehen sowie Kapazitätsüberschüssen auf einem Markt, die es den konkurrierenden Unternehmen gestatten, ihre Leistung als Reaktion auf eine Preiserhöhung sehr rasch zu steigern.105 Bei der Anwendung dieses Kriteriums ist letztlich der Stand des Wettbewerbs hinter der Zugangsschranke zu prüfen.106 52 Das den Drei-Kriterien-Test abschließende Kriterium der Insuffizienz des Wettbewerbsrechts berücksichtigt ein etwaiges Ausreichen des allgemeinen Kartellrechts zum Abbau von Hindernissen und zur Wiederherstellung von wirksamem Wettbewerb. Eine entspre100 Vgl. Erwägungsgrund 11 sowie Ziff. 2 Märkteempfehlung. 101 Zugangshindernisse können bei innovativen Märkten an Bedeutung verlieren. Hier entsteht ein Wettbewerbsdruck häufig durch bevorstehende Innovationen möglicher Konkurrenten, die derzeit noch nicht auf dem Markt präsent sind. Auf derart innovationsbestimmten Märkten kann ein dynamischer oder längerfristiger Wettbewerb unter Unternehmen erfolgen, die nicht zwangsläufig auf einem vorhandenen „statischen“ Markt konkurrieren; vgl. Erwägungsgrund 14 Märkteempfehlung. 102 Bedeutende strukturbedingte Hindernisse liegen bspw. vor, wenn erhebliche mengen- und größenbedingte Vorteile und hohe Ist-Kosten der Vergangenheit für den Markt charakteristisch sind; vgl. Erwägungsgrund 12 Märkteempfehlung. 103 Vgl. Erwägungsgrund 13 Märkteempfehlung. 104 Vgl. auch Schütz in Geppert/Piepenbrock/Schütz/Schuster § 10 Rn. 16. 105 Vgl. Erwägungsgrund 15 Märkteempfehlung. 106 Vgl. Erwägungsgrund 11 Märkteempfehlung.

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chende Abwägung hat in Abstimmung mit den Wettbewerbsbehörden zu erfolgen, wobei die unterschiedlichen Wirkungsweisen des allgemeinen und sektorspezifischen Kartellrechts in den Blick zu nehmen sind. Die Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts gestattet dabei allein ein punktuelles und nachträgliches Eingreifen in einzelne Verfahren. In vielen Fällen ist das sektorspezifische Kartellrecht notwendig, da dieses wesentlich detailliertere Befugnisse zur Vornahme positiver Regelungen bietet und eine Korrektur der Marktverhältnisse durch die Vielzahl von Eingriffstatbeständen, die teilweise ex ante greifen, genauer gesteuert werden kann. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Beurteilung, ob ein Markt regulierungsbe- 53 dürftig ist oder nicht, der nationalen Regulierungsbehörde und nicht dem nationalen Gesetzgeber übertragen.107 Der EuGH geht sogar noch einen – bedenklichen108 – Schritt weiter, wenn er ausführt, dass auch eine Vorsteuerung109 der regulierungsbehördlichen Entscheidung durch den nationalen Gesetzgeber mit der RRL (heute Teil I des EKEK) unvereinbar ist.110 Diese Rechtsprechung wird vermutlich auch vor dem Hintergrund der Einführung des EKEK Bestand haben. cc) Regulierungsbedürftige Märkte nach der Märkteempfehlung Die Anzahl der von der Kommission als regulierungsbedürftig angesehenen Märkte ist in 54 jüngerer Zeit deutlich zurückgegangen. Während die Kommission in ihrer Märkteempfehlung aus dem Jahre 2003111 noch 18 Märkte als regulierungsbedürftig ansah, ging sie in der Märkteempfehlung aus dem Jahre 2007112 von sieben regulierungsbedürftigen Märkten aus. In der Märkteempfehlung 2014 erfolgte eine Reduktion auf lediglich fünf Märkte. Regulierungsbedürftig sind der Markt der Anrufzustellung auf der Vorleistungsebene in einzelnen öffentlichen Telefonnetzen an festen Standorten (Markt Nr. 1) und der Markt der Anrufzustellung über das Mobilfunknetz (Markt Nr. 2). Der regulierungsbedürftige dritte Markt ist in den Zugang zur TAL (Markt Nr. 3 a) und den Zugang zum Bitstrom (Markt Nr. 3 b) unterteilt. Zudem wird der Zugang zu Teilnehmeranschlüssen von hoher Qualität an festen Standorten auf der Vorleistungsebene (Markt Nr. 4) reguliert. Gem. Art. 64 Abs. 1 UAbs. 3 EKEK soll die Märkteempfehlung spätestens bis zum 21.12.2020 überprüft werden. Dieser Evaluierungsprozess soll dann in einem regelmäßigen Turnus stattfinden. In aller Regel folgen die Mitgliedstaaten der Märkteempfehlung der Kommission bei der 55 Festlegung der regulierungsbedürftigen sachlich relevanten Märkte. Sollte eine nationale Regulierungsbehörde trotz Pflicht zur weitestgehenden Berücksichtigung der Märkteempfehlung einen Markt definieren wollen, der sich von jenen „vordefinierten“ Märkten der Kommission unterscheidet, kann die Kommission dies durch Ausübung ihres Veto-Rechts im Konsolidierungsverfahren (vgl. dazu → Rn. 80 f.) verhindern. Der Märkteempfehlung kommt daher im Rahmen der sachlichen Marktabgrenzung und bei der anschließenden Überprüfung der Regulierungsbedürftigkeit anhand des Drei-Kriterien-Tests (Art. 67 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a–c EKEK) ein besonderes Gewicht zu. Im Rahmen der räumlichen Marktabgrenzung ist der Spielraum der nationalen Regulierungsbehörden deutlich größer,

107 EuGH 3.12.2009 – Rs. 424/07, Slg 2009, I-11431, Rn. 74 – Kommission/Deutschland unter Verweis auf die Rn. 53–61 und insbes. auch auf seine Arcor-Rspr. (Rn. 61). 108 Ebenfalls kritisch Möschel MMR 2010, 450 (451 f. mwN). 109 Im konkreten Fall war vom deutschen Gesetzgeber der Grundsatz der Nichtregulierung „neuer Märkte“ in § 9 a TKG aF vorgegeben. 110 EuGH 3.12.2009 – Rs. 424/07, Slg 2009, I-11431, Rn. 78 f. – Kommission/Deutschland. 111 Empfehlung 2003/311/EG. 112 Empfehlung 2007/879/EG.

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§ 4 Telekommunikationsrecht wenn auch insoweit vor allem die diesbezüglichen Vorgaben der Marktanalyseleitlinien zu beachten sind. c) Marktanalyse

56 Bei der sich an die Marktdefinition anschließenden Marktanalyse wird untersucht, ob auf den festgelegten (potenziell) regulierungsbedürftigen Märkten wirksamer Wettbewerb herrscht (Art. 67 Abs. 1 EKEK). Sofern dies nicht der Fall ist, sind gem. Art. 67 Abs. 4 EKEK die Unternehmen mit „beträchtlicher Marktmacht“ (SMP)113 iSd Art. 63 EKEK zu identifizieren. Die nationalen Regulierungsbehörden haben dabei weitestgehend die Marktanalyseleitlinien der Kommission zu berücksichtigen (Art. 67 Abs. 1 UAbs. 1 S. 3 EKEK). 57 Über Art. 63 Abs. 2 EKEK gilt das aus dem allgemeinen Kartellrecht bekannte Konzept der Marktbeherrschung. Hiermit soll der Gefahr der Überregulierung begegnet werden.114 58 Ein hoher Marktanteil allein bedeutet dabei nicht zwingend, dass das betreffende Unternehmen über beträchtliche Marktmacht verfügt.115 Die Bestimmung des Marktanteils ist jedoch ein gewichtiges Indiz in Bezug auf die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Darüber hinaus ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen.116 In ihrer Fallpraxis hat die Kommission die Schwelle für eine marktbeherrschende Stellung idR erst ab einem Marktanteil von über 40 % angesetzt, obwohl sie in einigen Fällen auch bei einem niedrigeren Marktanteil eine marktbeherrschende Stellung angenommen hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs liefern besonders hohe Marktanteile von über 50 % ohne Weiteres – von außergewöhnlichen Umständen abgesehen – grundsätzlich den Beweis für das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung.117 Gleichwohl kann unter besonderen Voraussetzungen trotz hoher Marktanteile keine marktbeherrschende Stellung vorliegen.118 59 Von besonderer Relevanz auf einem infrastrukturbasierten Markt des Telekommunikationssektors ist im Übrigen als sonstiges Kriterium wiederum das Vorliegen von Marktzutrittsschranken. Dazu zählen auch Knappheiten bei der Vergabe von Funkfrequenzen im Mobilfunkbereich. Zu berücksichtigen ist ferner die Kontrolle des Marktbeherrschers bei den Vorleistungsmärkten und die Zugangsmöglichkeiten und -kosten der Wettbewerber, die Zugang begehren. Neben der Finanzkraft der Unternehmen spielt des Weiteren eine Rolle, inwieweit die Marktgegenseite bei hohen Preisen auf alternative Produkte umsteigen kann.119 Die Kommission nennt als zusätzliche Kriterien in ihren Leitlinien die Gesamtgröße des Unternehmens, Marktzutrittsschranken, direkte und indirekte Netzeffekte, den Abschluss von langfristigen und nachhaltigen Zugangsvereinbarungen, das Eingehen von Vertragsbeziehungen mit anderen Marktteilnehmern, die zur Marktabschottung führen können, die Kontrolle über nicht leicht zu duplizierende Infrastrukturen, technologische und wirtschaftliche Vorteile oder Überlegenheit, das Fehlen von (hinreichend) ausgleichender Nachfragemacht, ein leichter oder privilegierter Zugang zu Kapitalmärkten, 113 Abkürzung für den englischen Terminus „significant market power“ (SMP). 114 Der vorherige Rechtsrahmen sah diesbezüglich einen Eingriffsautomatismus schon ab einer Marktanteilsschwelle von 25 % vor. Ärgerlich ist insoweit, dass nicht zugleich der Terminus der Marktbeherrschung übernommen wurde, sondern an dem nunmehr irreführenden Sonderbegriff der „beträchtlichen Marktmacht“ festgehalten wird. Zum Konzept der beträchtlichen Marktmacht ausführlich Huppertz, passim. 115 Vgl. Ziff. 58 der Marktanalyseleitlinien. 116 Vgl. dazu auch ausführlich Pape in Geppert/Piepenbrock/Schütz/Schuster Vor § 9 Rn. 70 ff. 117 EuGH 3.7.1991 – C-62/86, Slg 1991, I-3359, Rn. 60 – AKZO; EuG 7.10.1999 – T-228/97, Slg 1999, II-2969, Rn. 70 – Irish Sugar/Kommission. 118 Vgl. hierzu insgesamt Windhorst in Scheurle/Mayen § 80 Rn. 14. 119 Sogenannter Substitutionswettbewerb. Dies gilt im Bereich der Telekommunikation zB für die zunehmende Substituierbarkeit von Festnetztelefonie durch den Mobilfunk.

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B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts

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die Diversifizierung von Produkten/Dienstleistungen (zB Bündelung von Produkten und Dienstleistungen), Größenvorteile, Verbundvorteile, vertikale Integration, ein hoch entwickeltes Vertriebs- und Verkaufsnetz, das Fehlen von potenziellem Wettbewerb sowie Expansionshemmnisse.120 Beträchtliche Marktmacht kann sich dabei aus der Kombination dieser Kriterien ergeben und muss nicht notwendig schon bei Vorliegen nur einer dieser Voraussetzungen gegeben sein.121 Im Rahmen der Marktanalyse ist die zu erwartende Entwicklung des Marktes ohne Regu- 60 lierungsverfügungen zu betrachten. Hierbei zu berücksichtigende Kriterien finden sich in Art. 67 Abs. 2 EKEK. Danach sind Marktentwicklungen zu untersuchen, die die Wahrscheinlichkeit einer Neigung zu wirksamem Wettbewerb ohne Regulierungsverfügungen erhöhen (Art. 67 Abs. 2 lit. a EKEK). Zudem müssen alle relevanten Wettbewerbszwänge (Art. 67 Abs. 2 lit. b EKEK), andere Arten der Regulierung oder von Maßnahmen auf dem relevanten Markt, die auferlegt wurden und sich auf den Wettbewerb auswirken (Art. 67 Abs. 2 lit. c EKEK) und auf Art. 67 EKEK gestützte Regulierungsverfügungen anderer Märkte (Art. 67 Abs. 2 lit. d EKEK) in der Analyse Berücksichtigung finden. Das Konzept der Interdependenz der Märkte (Art. 63 Abs. 3 EKEK) hat keine weitere Be- 61 deutung erlangt. Während die Vorschrift im Entwurf der Kommission zum EKEK gestrichen werden sollte, ist sie im Trilog-Verfahren wieder in die finale Richtlinienfassung integriert worden.122 d) Instrumentenauswahl („remedies“) Das Marktregulierungsverfahren endet mit einer Regulierungsverfügung, in der dem er- 62 mittelten marktbeherrschenden Unternehmen diverse Verpflichtungen (= Abhilfemaßnahmen bzw. „remedies“) auferlegt werden. Nachfolgend werden die Auswahl und Auferlegung der unionsrechtlich zur Verfügung stehenden Abhilfemaßnahmen näher beleuchtet. Dabei muss zwischen der Auferlegung von Abhilfemaßnahmen auf Großkunden- bzw. Vorleistungsmärkten (dazu → Rn. 63 ff.) und jener auf Endkundenmärkten (dazu → Rn. 69 ff.) differenziert werden. aa) Die Auferlegung von Abhilfemaßnahmen auf Vorleistungsmärkten Die Auferlegung von Abhilfemaßnahmen auf Vorleistungsmärkten richtet sich primär 63 nach den Vorschriften in Teil II, Titel II, Kapitel II und IV des EKEK. Mit der Vorleistungsregulierung soll gem. Art. 61 Abs. 1 EKEK ein angemessener Zugang – insbesondere zu den Netzen marktbeherrschender Unternehmen – sowie eine geeignete Zusammenschaltung und Interoperabilität der Netze und Dienste garantiert werden, um so nachhaltigen Wettbewerb zu schaffen und effiziente Investitionen, den Aufbau von Netzen mit sehr hoher Kapazität und Innovationen zum größtmöglichen Nutzen der Endnutzer zu fördern. „Remedies“ setzen grundsätzlich voraus, dass das regulierte Unternehmen im Rahmen der 64 Marktanalyse auf einem regulierungsbedürftigen Markt über „beträchtliche Marktmacht“ (SMP) verfügt (Art. 68 Abs. 2 EKEK). Regulierungsverfügungen müssen sich gem. Art. 68 Abs. 2 S. 2 EKEK ausdrücklich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen. Die möglichen „marktmachtabhängigen“ Abhilfemaßnahmen sind in Art. 69–74, 76 und 80 EKEK näher ausdifferenziert (vgl. dazu → Rn. 123 ff.). Die Befugnis der nationalen Regulierungsbehörden zur Auferlegung der Verpflichtungen aus Art. 69–74 und 76–81 120 Vgl. Ziff. 58 Marktanalyseleitlinien. 121 Vgl. Ziff. 79 Marktanalyseleitlinien. 122 Vgl. hierzu Neumann N&R 2018, 204 (205).

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§ 4 Telekommunikationsrecht

EKEK muss von den Mitgliedstaaten gem. Art. 68 Abs. 1 EKEK sichergestellt sein. Andere marktmachtabhängige Abhilfemaßnahmen dürfen dagegen nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände und nur mit Gestattung der Kommission auferlegt werden (Art. 68 Abs. 3 UAbs. 2 EKEK). 65 Der Ansatz der SMP-Regulierung verbietet umgekehrt grundsätzlich eine Regulierung von nicht marktbeherrschenden Unternehmen (Art. 68 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK). Art. 68 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK nennt diesbezüglich Art. 69–74, 76 und 80 EKEK. Dieses Prinzip wird nur an wenigen Stellen123 durchbrochen. So sieht bspw. Art. 61 EKEK auch marktmachtunabhängige Abhilfemaßnahmen vor. Die dort vorgesehenen Verpflichtungen knüpfen nicht an die formale Feststellung beträchtlicher Marktmacht des Regulierungsadressaten im Rahmen einer Marktanalyse an, sondern stellen vielmehr auf das Innehaben eines natürlichen Monopols ab. Eine solche Bottleneck-Stellung haben bspw. auch kleine Anschluss- bzw. Teilnehmernetzbetreiber (zB sogenannte „City-Carrier“), die zwar auf landesweit abgegrenzten Märkten nicht über beträchtliche Marktmacht verfügen, dafür jedoch (trotzdem) den Zugang zu ihren Endnutzern kontrollieren. Denn ohne eine Zusammenschaltung mit anderen Netzbetreibern und einer entsprechenden Zustellung von Anrufen (Terminierung) aus anderen Netzen, sind deren Endnutzer für Teilnehmer anderer Netzbetreiber nicht erreichbar. Zur Gewährleistung eines hinreichenden Ende-zu-Ende-Verbundes der Telekommunikation (zwischen Teilnehmern verschiedener Netzbetreiber) sieht Art. 59 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK deshalb die Möglichkeit vor, gegebenenfalls auch solche (kleineren) Netzbetreiber zu einer Zusammenschaltung ihrer Netze (lit. a) und zur Gewährleistung der Interoperabilität ihrer Dienste (lit. b) zu zwingen. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, in begründeten Fällen Anbieter von nummernunabhängigen interpersonellen Kommunikationsdiensten zur Interoperabilität zu verpflichten (lit. c)124 und über Zugangsverpflichtungen den Zugang des Endnutzers zu vom Mitgliedstaat festgelegten digitalen Hörfunk- und Fernsehdiensten festzulegen (lit. d). 66 Eine regulierungsbedürftige Situation besteht auch bei nur schwer duplizierbaren Infrastrukturen und Netzelementen, wie bspw. Kabelschächten, Verteilerkästen oder „Inhouse“-Verkabelungen. Diese Regelung erlangt vor allem dann Bedeutung, wenn es um den Zugang und die Mitbenutzung von Infrastruktur- und Netzelementen eines nicht marktbeherrschenden Unternehmens geht. Diese Unternehmen bzw. Rechteinhaber können gem. Art. 61 Abs. 2 EKEK unter Umständen trotzdem verpflichtet werden, die Mitbenutzung ihrer Einrichtungen durch einen anderen Anbieter zu dulden. Ferner kann unter den Voraussetzungen des Art. 44 EKEK die Mitnutzung von Netzbestandteilen angeordnet werden, wenn Betreiber ihre Netze aufgrund der Inanspruchnahme von Wegerechten errichtet haben. 67 Bei der Auswahl der konkreten marktmacht(un)abhängigen Abhilfemaßnahmen haben die nationalen Regulierungsbehörden ein Auswahlermessen, das durch das Diskriminierungsverbot und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. hierzu bspw. Art. 61 Abs. 4 S. 1, 68 Abs. 2 S. 2 EKEK) beschränkt wird. Wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird seit einiger Zeit auch eine Regionalisierung der Regulierung im Sinne einer – die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen in verschiedenen Gebieten berücksichtigenden – regional differenzierten Auferlegung von Abhilfemaßnahmen diskutiert.125 Vereinzelt wird die Auferlegung von bestimmten Abhilfemaßnahmen zudem noch von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht. So ist bspw. eine Verpflichtung zur funktionellen Trennung (Art. 77 EKEK) subsidiär zu den Verpflichtungen aus Art. 69–74 EKEK. 123 Vgl. Art. 68 Abs. 3 UAbs. 1 lit. a–c EKEK. 124 S. hierzu Bulowski, S. 157 ff. 125 Vgl. Inderst/Kühling/Neumann/Peitz in dies., S. 293 ff.

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In formeller Hinsicht muss vor der Auferlegung geplanter Regulierungsmaßnahmen 68 grundsätzlich126 zunächst eine nationale Konsultation der interessierten Kreise durchgeführt werden. Dies gilt sowohl bei der Auferlegung marktmachtabhängiger (Art. 68 Abs. 4 lit. d EKEK, Art. 67 Abs. 5 S. 1 iVm Art. 23 EKEK) als auch bei Auferlegung marktmachtunabhängiger „remedies“ (zB Art. 61 Abs. 5 S. 1 EKEK iVm Art. 23 EKEK).Zusätzlich findet bei geplanten Maßnahmen nach Art. 61, 64, 67, 68 oder 83 EKEK (vgl. Art. 32 Abs. 3 S. 1 lit. a EKEK), die Auswirkungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten haben (können), ein unionsweites Konsolidierungsverfahren unter Einbeziehung der Kommission, des GEREK und der anderen nationalen Regulierungsbehörden nach den Art. 32, 33 EKEK statt.127 bb) Die Auferlegung von Abhilfemaßnahmen auf Endkundenmärkten Zu Beginn der Marktregulierung waren sieben Endkundenmärkte regulierungsbedürftig. 69 In der Märkteempfehlung 2014 der Kommission sind keine Endkundenmärkte mehr als regulierungsbedürftig eingestuft.128 Vielmehr handelt es sich lediglich um Märkte auf der Vorleistungsebene. Vor diesem Hintergrund besteht faktisch nur noch ein begrenzter Anwendungsbereich für eine Regulierung von Endkundenmärkten. Zudem sind auch die möglichen bzw. ehemals sogar verbindlich vorgegebenen Abhilfemaßnahmen gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen auf den Endkundenmärkten im Zuge des europäischen TK-Reviews 2009 reduziert worden. So wurden bspw. die vormals zwingend aufzuerlegenden Verpflichtungen zur Bereitstellung eines Mindestangebots an Mietleitungen (Art. 18 URL aF) und zur Betreiber(vor)auswahl („Call-by-call“ und „Preselection“) (Art. 19 URL aF) gestrichen. Logische Schlussfolgerung war, dass im Entwurf der Europäischen Kommission zum EKEK eine Regulierung von Endkundenmärkten nicht mehr vorgesehen war. Dieser Ansatz konnte sich im Trilog-Verfahren jedoch nicht behaupten. Die Auferlegung von Abhilfemaßnahmen für Endnutzermärkte richtet sich daher nunmehr weiterhin nach Art. 83 EKEK. Dessen Abs. 1 lit. b kann entnommen werden, dass die Regulierung der Endkundenmärkte gegenüber der Vorleistungsregulierung subsidiär ist. Sofern die erforderliche Insuffizienz der Vorleistungsregulierung von der nationalen Regulierungsbehörde bejaht wird, besteht auf einem Endkundenmarkt die Möglichkeit zur Regulierung des marktbeherrschenden Anbieters. Eine Regulierungsverpflichtung ist jedoch nicht gegeben.129 Die regulatorischen Verpflichtungen müssen jedoch – ähnlich wie bei der Vorleistungsregulierung – in Anbetracht des festgestellten Problems und im Hinblick auf die Verwirklichung der Regulierungsziele aus Art. 3 EKEK adäquat und verhältnismäßig sein (Art. 83 Abs. 2 S. 1 EKEK). Im Vordergrund stehen dabei vor allem entgeltregulatorische Vorgaben (Art. 83 Abs. 2 S. 2 und 3, Abs. 3 EKEK). Verfahrenstechnisch muss auch vor der Auferlegung von Abhilfemaßnahmen auf einem Endkundenmarkt grundsätzlich das nationale Konsultationsverfahren nach Art. 32 EKEK sowie das unionsweite Konsolidierungsverfahren in der Form des „Verfahrens zur Anwendung einheitlicher Abhilfemaßnahmen“ gem. Art. 33 EKEK durchlaufen werden. 126 Vgl. die Ausnahmen in Art. 23 Abs. 1 EKEK, insbes. Art. 32 Abs. 10 EKEK. 127 Dies ist für marktmachtabhängige Abhilfemaßnahmen, bspw. in Art. 68 Abs. 4 lit. d EKEK, vorgegeben. Für Maßnahmen nach Art. 61 Abs. 1 EKEK ergibt sich die entsprechende Verpflichtung aus Art. 61 Abs. 5 S. 2 EKEK; vgl. zum Erfordernis eines Konsolidierungsverfahrens im Rahmen der Entgeltgenehmigung EuGH 14.1.2016 – C-395/14, MMR 2017, 318, Rn. 38 ff. – Vodafone GmbH/ Bundesrepublik Deutschland, vgl. hierzu ausführlich Neumann N&R 2016, 146; zum Vorlagebeschluss Schütze N&R 2015, 28; sowie im Überblick Scherer/Heinickel NVwZ 2016, 965 (972) und Nacimiento/Küll K&R 2016, 577 (584); zur Frage, ob in dieser Hinsicht auch ein Vertragsverletzungsverfahren Aussicht auf Erfolg gehabt hätte Koenig/Meyer K&R 2013, 236. 128 Empfehlung 2014/710/EU. 129 Neumann N&R 2018, 204 (206).

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§ 4 Telekommunikationsrecht e) Regelmäßige Überprüfung der Märkte – Dauer der Regulierungsperioden

70 Die Ergebnisse und Rechtsfolgen eines Marktregulierungsverfahrens müssen in regelmäßigen Abständen überprüft werden. Art. 67 Abs. 5 S. 2 lit. a EKEK schreibt vor, dass eine solche Überprüfung grundsätzlich innerhalb von fünf Jahren nach der Auferlegung einer Regulierungsverfügung zu erfolgen hat. Diese Frist kann in begründeten Fällen um bis zu ein Jahr verlängert werden, sofern die Kommission keine Einwände erhebt („5+1“-Modell). 2. Institutionelle Flankierung: Schaffung unabhängiger und durchsetzungsstarker nationaler Regulierungsbehörden 71 Zentrale Bedeutung für den effektiven Vollzug des EU-Telekommunikationsrechts haben die in den verschiedenen Richtlinien ausgebauten institutionellen Vorgaben erlangt. Entscheidend ist insoweit die Verpflichtung zur Einrichtung einer unabhängigen nationalen Regulierungsbehörde mit umfassenden Regulierungskompetenzen. Bei der Organisation und Strukturierung der Regulierungsbehörden verfügen die Mitgliedstaaten zwar über eine institutionelle Autonomie. Allerdings sind bei der Ausübung dieser Autonomie die Einhaltung der Richtlinienvorgaben und insbesondere die effektive Absicherung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde gem. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EKEK zu gewährleisten.130 Die Behörde muss die ihr obliegenden und in Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK aufgezählten Aufgaben autonom erfüllen können.131 Die Unabhängigkeit bezieht sich im Kern auf die Position gegenüber den Marktteilnehmern. Eine Unabhängigkeit gegenüber tagespolitischer Einflussnahme in Form einer Ministerialfreiheit war dagegen zunächst allenfalls mittelbar vorgegeben.132 So konnte sich eine derartige Unabhängigkeit gegenüber der Politik daraus ergeben, dass der betreffende Mitgliedstaat weiterhin an dem vormaligen Staatsunternehmen beteiligt ist. Denn die Beteiligungsaufgaben sind von den Regulierungsaufgaben zu trennen (Art. 6 Abs. 1 S. 2 EKEK). Jene Trennungsverpflichtung und die Vorgaben einer unparteiischen Amtsführung der nationalen Regulierungsbehörde in Art. 6 Abs. 2 EKEK sprechen sodann für das Erfordernis einer Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde gegenüber der Politik. Gem. Art. 8 Abs. 1 S. 1 EKEK darf die Regulierungsbehörde weder Weisungen anderer Stellen einholen, noch solche entgegennehmen. Allerdings ist gerade auf Wunsch Deutschlands eine „nationale Reserveklausel“ aufgenommen worden, dass dies einer am nationalen Verfassungsrecht orientierten Aufsicht nicht entgegensteht (Art. 8 Abs. 1 S. 2 EKEK). Über diese Reserveklausel kann die Weisungsbefugnis zur Wahrung einer „geschlossenen demokratischen Legitimationskette“ gegebenenfalls aufrecht erhalten bleiben. Angesichts der lange Zeit bestehenden Mehrheitsbeteiligung des Bundes an der Deutschen Telekom AG (DTAG) und der nach wie vor vom Bund gehaltenen Anteile hatte sich der deutsche Gesetzgeber aber ohnehin schon früh für eine gegenüber tagespolitischen Interventionsmöglichkeiten unabhängige Regulierungsbehörde entschieden, die auch in der Alltagspraxis – trotz der Existenz einer Weisungsbefugnis (vgl. § 117 TKG) – unabhängig vom ministeriellen und politischen Einfluss agiert.133 130 Vgl. EuGH 6.3.2008 – C-82/07, Slg 2008, I-1265, Rn. 24 ff. – Comisión del Mercado de las Telecomunicaciones. 131 So ist es bspw. nicht zulässig, dass der nationale Gesetzgeber ein Funkfrequenzvergabeverfahren, das von der zuständigen nationalen Regulierungsbehörde durchgeführt worden ist, für nichtig erklärt EuGH 26.7.2017 – C-560/15, NVwZ 2017, 1450, Rn. 49 ff. – Europa Way Srl ua/Autorità per le Garanzie nelle Comunicazioni ua. 132 Eine entsprechende explizite Vorgabe konnte im Gesetzgebungsverfahren zum TKG 2012 nicht durchgesetzt werden, vgl. die Hinweise bei Trute in FS Selmer, S. 574 Fn. 28. 133 Dazu ausführlich Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 372 ff. mwN; Eifert in Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle § 19 Rn. 141 mwN.

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Die Auswahl des Leitungspersonals muss den strengen Anforderungen des Art. 7 Abs. 1 EKEK genügen. Zusätzliche Absicherung erfährt die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden durch eine Finanzautonomie im Hinblick auf die Verwendung der zugewiesenen Haushaltsmittel in Art. 9 Abs. 2 EKEK. Neben der Unabhängigkeit ist die Ausstattung der Behörde mit entsprechenden Befugnis- 72 sen erforderlich. Dazu wird in den Richtlinien ein umfangreiches Aufgabenpaket definiert, das voraussetzt, dass die Mitgliedstaaten den nationalen Regulierungsbehörden die dazu notwendigen Befugnisse einräumen (vgl. hierzu die Auflistung in Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK). Teilweise werden aber auch konkrete Befugnisse direkt formuliert, wie etwa in Art. 73 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK mit Blick auf die Möglichkeit der nationalen Regulierungsbehörde, Zugangs- und Zusammenschaltungsverpflichtungen aufzuerlegen. Die Kommission ist dabei – unterstützt durch den EuGH – der Auffassung, dass gerade im Kernbereich der Wettbewerbsregulierung die Mitgliedstaaten auch sehr weitgehend daran gehindert sind, die Auswahl der Regulierungsinstrumente legislativ vorzustrukturieren. Dies soll vielmehr allein Aufgabe der nationalen Regulierungsbehörden sein.134 Zur Effektivität der Rechte der nationalen Regulierungsbehörden gehört ferner, dass die Rechtsbehelfe gegen ihre Entscheidungen grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben (→ Rn. 150). Die Kommission hält im Übrigen starke und unabhängige nationale Regulierungsbehör- 73 den für die effektive und konsistente Durchsetzung des Unionsrechts zu Recht für zentral. Sie hat daher in mehreren Verfahren vor dem EuGH auf eine entsprechende Ausstattung der nationalen Regulierungsbehörden mit effektiven Rechten gepocht und ist insoweit vom EuGH unterstützt worden.135 Dazu gehört auch, dass die nationalen Regulierungsbehörden die für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Informationen erlangen, wie es insbesondere Art. 20 Abs. 1 EKEK verlangt. Im Übrigen gewährleistet Art. 20 EKEK eine Informationsweitergabe in zweifacher Hinsicht: Zum einen müssen die entsprechenden Informationen gegebenenfalls auch der Kommission zur Verfügung gestellt werden (Art. 20 Abs. 2 EKEK),136 die sie dann unter Umständen an die nationalen Regulierungsbehörden und andere zuständige Behörden anderer Mitgliedstaaten weiterleiten kann. Auf diese Weise versucht die Kommission, das Problem der Informationsasymmetrie zu mildern, das dadurch entsteht, dass das entsprechende für die Regulierung relevante Faktenwissen tendenziell dezentral verortet ist. Zum anderen werden die Informationen aber auch im jeweiligen Mitgliedstaat publik gemacht (Art. 20 Abs. 4 EKEK), so dass insbesondere für die Wettbewerber eine entsprechende Markttransparenz entsteht. Zudem sollen nationale Regulierungsbehörden und andere zuständige Behörden desselben Mitgliedstaats oder ver-

134 Vgl. dazu das erfolgreiche Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland wegen der legislativen Vorstrukturierung von „Regulierungsferien“ bei neuen Märkten gem. § 9 a TKG, EuGH 3.12.2009 – Rs. 424/07, Slg 2009, I-11431 – Kommission/Deutschland. Zum – angesichts zwischenzeitlicher Gesetzesänderungen – nicht weiter verfolgten Mahnschreiben der Kommission gegen Deutschland wegen der gesetzlichen Vorstrukturierung der Entgeltregulierung in § 30 TKG aF, vgl. Schütz MMR 2005, Heft 7, XIII. 135 Vgl. insbes. EuGH 19.9.2002 – C-221/01, Slg 2002, I-7835, Rn. 33 – Kommission/Belgien, bei dem es um unzureichende nationale Interventionsbefugnisse in laufenden Zusammenschaltungs-Vertragsverhandlungen nach Art. 9 Abs. 3 Zusammenschaltungsrichtlinie 97/33/EG ging. Die Zusammenschaltungsrichtlinie 97/33/EG ist später durch die ZRL ersetzt worden. S. auch EuGH 12.6.2003 – C-97/01, Slg 2003, I-5797, Rn. 36 – Kommission/Luxemburg, in dem es um die effektive Umsetzung von Wegerechten gem. der zwischenzeitlich gleichermaßen durch das neue Richtlinienrecht abgelösten Richtlinie 90/388/EGW ging (Art. 4 d). Der EuGH betont in dem Fall zu Recht, dass eine effektive Ausübung der Wegerechte die klare Benennung einer insoweit zuständigen Behörde ebenso wie die Schaffung transparenter Verwaltungsverfahren verlangt. 136 Dazu zählen auch vertrauliche Informationen, die sodann gem. Art. 5 Abs. 3 RRL auch von der Kommission als vertraulich zu behandeln waren; dazu EuGH 13.7.2006 – Rs. C-438/04, Slg 2006, I-6675, Rn. 42 – Mobistar.

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§ 4 Telekommunikationsrecht schiedener Mitgliedstaaten, soweit erforderlich, gem. Art. 5 Abs. 2 EKEK zusammenarbeiten. 3. Ergänzung durch das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK)

74 Das GEREK, das die Arbeit der ehemaligen ERG fortführt, setzt sich gem. Art. 6 GEREKVO aus dem Regulierungsrat (lit. a) und Arbeitsgruppen (lit. b) zusammen.137 Der Regulierungsrat besteht gem. Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 GEREK-VO aus einem Vertreter pro Mitgliedstaat, bei dem es sich entweder um den Leiter bzw. einen anderen „nominierten hochrangigen Vertreter“ der jeweiligen nationalen Regulierungsbehörde handelt (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 GEREK-VO). Um die Unabhängigkeit des GEREK bei seiner Aufgabenerfüllung (Art. 8 Abs. 1 GEREK-VO) zu gewährleisten, dürfen die Mitglieder des Regulierungsrats gem. Art. 8 Abs. 2 GEREK-VO von den Staatsregierungen oder sonstigen öffentlichen oder privaten Stellen keine Weisungen einholen oder entgegennehmen. 75 Konkret werden die Regulierungsaufgaben des GEREK in Art. 4 GEREK-VO festgelegt. Der Aufgabenbestand des GEREK wurde im Rahmen der Novellierung der GEREK-VO 2018 beträchtlich erweitert. In Art. 4 Abs. 1 EKEK werden zunächst die regulatorischen Aufgaben des GEREK dargestellt. Das GEREK kann nunmehr Leitlinien für verschiedene Themenbereiche erarbeiten, Berichte über technische Fragestellungen anfertigen, Register und Datenbestände führen sowie Meinungen zu internen Marktfragen und zu nationalen Marktregulierungsentscheidungen veröffentlichen. Hervorzuheben, da von praktisch großer Relevanz, ist vor allem die in Art. 4 Abs. 1 lit. c ii) GEREK-VO normierte Aufgabe, Stellungnahmen zu Maßnahmenentwürfen der nationalen Regulierungsbehörden bezüglich der Marktdefinition, der Bestimmung von Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht und der Auferlegung von Abhilfemaßnahmen gem. Art. 32 und 33 EKEK abzugeben und darüber hinaus insbesondere im Verfahren nach Art. 33 EKEK mit den nationalen Regulierungsbehörden zu kooperieren. Nicht nur die nationalen Regulierungsbehörden, sondern auch die Kommission haben dabei den im Konsolidierungsverfahren abgegebenen Stellungnahmen des GEREK bei ihren Entscheidungen weitestgehend Rechnung zu tragen. Ebenfalls das Marktregulierungsverfahren tangierend, hat das GEREK zum einen die Aufgabe, der Kommission bei künftigen Gesetzgebungsvorschlägen beratend zur Seite zu stehen (Art. 4 Abs. 1 lit. b GEREK-VO), und zum anderen, nationale Regulierungsbehörden, Rat und Kommission bei allen technischen Fragen, die in seine Zuständigkeit fallen und die elektronische Kommunikation betreffen, gem. Art. 4 Abs. 1 lit. a GEREK-VO zu unterstützen. Jene in Art. 4 GEREK-VO definierten Aufgaben werden vom Regulierungsrat wahrgenommen (Art. 9 Abs. 1 lit. a GEREK-VO), dessen Entscheidungen gem. Art. 12 Abs. 1 UAbs. 1 GEREK-VO grundsätzlich mit einfacher Mehrheit seiner Mitglieder ergehen müssen. Die Entscheidungen, die in Art. 12 Abs. 1 UAbs. 2 GEREK-VO aufgelistet sind, müssen mit einer Zweidrittel-Mehrheit erfolgen. Vor allem in administrativer Hinsicht wird das GEREK respektive der Regulierungsrat durch das Büro als EU-Einrichtung mit eigener Rechtspersönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GEREK-VO unterstützt, das aus einem Verwaltungsrat und einem Verwaltungsdirektor besteht (Art. 14 GEREK-VO). 76 An den soeben exemplarisch dargestellten Aufgaben des GEREK zeigt sich deutlich die Vermittler- bzw. Zwischenposition, die das GEREK zwischen der Kommission und den nationalen Regulierungsbehörden einnimmt. Gerade dadurch, dass das GEREK (bereits im Vorfeld) an wichtigen Marktregulierungsschritten auf beiden Seiten beteiligt ist, können Streitigkeiten zwischen Kommission und den nationalen Regulierungsbehörden redu137 Vgl. zur institutionellen Bedeutung des GEREK im Vergleich zum ERG, Attendorn CR 2011, 721 (724).

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ziert werden. Darüber hinaus soll das GEREK dazu beitragen, dass die Regulierungsvorschriften einheitlich angewendet werden (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GEREK-VO). Das GEREK-Büro hat gem. Art. 2 Abs. 5 GEREK-VO seinen Sitz in Riga. 77 4. Regulierungsverbund von EU-Kommission, nationalen Regulierungsbehörden und GEREK Damit ist bereits der Regulierungsverbund von EU-Kommission, nationalen Regulierungs- 78 behörden und GEREK angesprochen, der die europäische Telekommunikationsregulierung prägt.138 Herzstück des Regulierungsverbundes ist das Verfahren nach Art. 32 EKEK. In Bezug auf das institutionelle Design der vertikalen Kooperation zwischen der Kommission und den nationalen Regulierungsbehörden ist dabei zwischen dem Berücksichtigungsverfahren nach Art. 32 Abs. 3 und Abs. 8 EKEK (dazu → Rn. 79) und dem Vetoverfahren nach Art. 32 Abs. 4–6 EKEK (dazu → Rn. 80 f.) zu unterscheiden. Darüber hinaus existiert in Art. 33 EKEK noch ein weiteres Verfahren, mit dem eine einheitliche Anwendung von Abhilfemaßnahmen in den Mitgliedstaaten erreicht werden soll (dazu → Rn. 82 ff.). Diese Verfahren fügen sich in das mehrstufige Verfahren der nationalen Regulierungsbehörden zur Marktregulierung ein, das aus der Marktdefinition und der Marktanalyse besteht und an das sich der Erlass der Regulierungsverfügung anschließt. Während jedoch sämtliche Regulierungsschritte der Konsultation durch interessierte Dritte nach Art. 23 EKEK unterliegen (→ Rn. 148), ist der Anwendungsbereich dieser vertikalen Konsolidierungsmechanismen beschränkt. a) Berücksichtigungsverfahren Das Berücksichtigungsverfahren nach Art. 32 Abs. 3 S. 1 EKEK findet dann Anwendung, 79 wenn die nationale Regulierungsbehörde beabsichtigt, eine Maßnahme zu ergreifen, die in den Bereich der Marktdefinition nach Art. 64 EKEK, der Marktanalyse nach Art. 67 EKEK, der Zugangsregulierung nach Art. 61 EKEK, der Auferlegung von marktmachtabhängigen Regulierungsverfügungen nach Art. 68 EKEK oder der Regulierung von Endkundenmärkten gem. Art. 83 EKEK fällt und Auswirkungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten haben wird. In diesem Fall übermittelt die betroffene nationale Regulierungsbehörde gleichzeitig den übrigen nationalen Regulierungsbehörden, dem GEREK sowie der Kommission den Maßnahmenentwurf mitsamt einer Begründung zur Verfügung und unterrichtet diese davon.139 Die übrigen nationalen Regulierungsbehörden, das GEREK und die Kommission können dann innerhalb eines Monats eine Stellungnahme hierzu abgeben (Art. 32 Abs. 3 S. 2 EKEK). Gem. Art. 32 Abs. 8 EKEK trägt die nationale Regulierungsbehörde diesen Stellungnahmen weitestgehend Rechnung. Der auf diese Art und Weise entstehende Maßnahmenentwurf kann von der nationalen Regulierungsbehörde angenommen werden. Anschließend ist er der Kommission und dem GEREK zu übermitteln (Art. 32 Abs. 9 EKEK). Die nationale Regulierungsbehörde kann ihren Maßnahmenentwurf gem. Art. 32 Abs. 11 EKEK jederzeit zurückziehen. b) Vetoverfahren Das Vetoverfahren kommt dagegen zur Anwendung, wenn es sich bei dem Maßnahmen- 80 entwurf der nationalen Regulierungsbehörde um einen solchen handelt, der die Anforderungen des Art. 32 Abs. 4 S. 1 EKEK erfüllt. Beabsichtigt die nationale Regulierungsbe-

138 Vgl. zur institutionellen Grundkonzeption de Streel/Larouche, S. 45 ff. im Vorfeld der EKEK-Novellierung. 139 Eingehendere Regelungen zu dieser sog. „Notifizierung“ enthält die Empfehlung 2008/850/EG.

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hörde also im Rahmen ihrer Marktdefinition von der Märkteempfehlung der Kommission abzuweichen (Abs. 4 S. 1 lit. a) oder betrifft der Maßnahmenentwurf die Feststellung der beträchtlichen Marktmacht eines Unternehmens auf dem relevanten Markt (Abs. 4 S. 1 lit. b) und hätte dies jeweils Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel, verfügt die Kommission über eine weitere, deutlich eingriffs- und kontrollintensivere Handlungsalternative. Die Kommission kann nun – anstatt einer „einfachen“ Stellungnahme – der betreffenden nationalen Regulierungsbehörde und dem GEREK im Rahmen einer Ernsthafte-Zweifel-Mitteilung („serious doubts letter“) darlegen, dass der Maßnahmenentwurf ihrer Meinung nach ein Hemmnis für den Binnenmarkt schaffen würde oder mit dem geltenden Unionsrecht, insbesondere den in Art. 3 EKEK genannten Zielen, nicht vereinbar sei. Eine solche Ernsthafte-Zweifel-Mitteilung entfaltet nach Art. 32 Abs. 4 S. 1 EKEK eine weitere Sperrfrist von zwei Monaten, die auch nicht verlängert werden kann. 81 In diesen zwei Monaten kann die nationale Regulierungsbehörde den Maßnahmenentwurf nicht als Entscheidung annehmen. Die Kommission bekommt dadurch die Gelegenheit, den Maßnahmenentwurf sowie etwaige nach Art. 23 und Art. 32 Abs. 3 EKEK abgegebene Stellungnahmen der interessierten Kreise, der anderen nationalen Regulierungsbehörden und des GEREK zu prüfen, um hinsichtlich ihrer ernsthaften Zweifel zu einer abschließenden Meinung zu gelangen. Das GEREK hat gem. Art. 32 Abs. 5 EKEK eine Stellungnahme abzugeben. Dieser Stellungnahme kommt ein besonderes Gewicht zu, da sie gem. Art. 32 Abs. 6 UAbs. 2 EKEK von der Kommission bei ihrer endgültigen Entscheidung nach Art. 32 Abs. 6 UAbs. 1 EKEK weitestgehend zu berücksichtigen ist. Bleibt die Kommission dabei, dass der Maßnahmenentwurf ein Hemmnis für den Binnenmarkt darstellen oder gegen das Unionsrecht verstoßen würde, fordert sie gem. Art. 32 Abs. 6 UAbs. 1 lit. a EKEK die betroffene NRB im Wege eines Beschlusses innerhalb der zweimonatigen Sperrfrist dazu auf, den Maßnahmenentwurf zurückzuziehen. Die Kommission muss in einem solchen Fall genau darlegen, weshalb sie der Auffassung ist, dass der Maßnahmenentwurf nicht angenommen werden kann, und der betroffenen nationalen Regulierungsbehörde zugleich konkrete Änderungsvorschläge unterbreiten (Art. 32 Abs. 6 UAbs. 3 EKEK). Dieser Veto-Beschluss ist für die betreffende nationale Regulierungsbehörde bindend. Sie kann den Maßnahmenentwurf also nicht mehr wie geplant zur Entscheidung annehmen. Vielmehr kann sie nur den Maßnahmenentwurf nach Maßgabe der Kommission anpassen, erneut zur nationalen Konsultation stellen und anschließend wieder bei der Kommission notifizieren oder aber vollständig fallen lassen (Art. 32 Abs. 7 EKEK). Sofern die Kommission dagegen ihre Vorbehalte aus der Ernsthafte-Zweifel-Mitteilung nach genauerer Prüfung unter Berücksichtigung der Stellungnahmen, insbesondere des GEREK, nicht aufrechterhält (Art. 32 Abs. 6 UAbs. 1 lit. b EKEK), kann die nationale Regulierungsbehörde ihren Entwurf annehmen. Die nationale Regulierungsbehörde kann ihren Maßnahmenentwurf gem. Art. 32 Abs. 11 EKEK jederzeit zurückziehen. c) Verfahren zur einheitlichen Anwendung von Abhilfemaßnahmen nach Art. 33 EKEK 82 Das Verfahren nach Art. 33 EKEK greift auf der Stufe der Abhilfemaßnahmen und damit auf der Rechtsfolgenseite des Marktregulierungsverfahrens. Vor dem TK-Review 2009 fand gem. Art. 7 Abs. 3 und 5 RRL aF insoweit ausschließlich das Konsolidierungsverfahren in der Gestalt des Berücksichtigungsverfahrens Anwendung. Das Berücksichtigungsverfahren kann bei Abhilfemaßnahmen auch weiterhin zur Anwendung gelangen, sofern die Kommission grundsätzlich mit dem Maßnahmenentwurf einer nationalen Regulierungsbehörde einverstanden ist und im Rahmen ihrer Stellungnahme nach Art. 32 Abs. 3 S. 2 EKEK nur kleinere Anmerkungen macht (vgl. Art. 33 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK). Im Gegensatz zur alten Rechtslage räumt Art. 33 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EKEK der Kommission – ähnlich wie beim Vetoverfahren nach Art. 32 Abs. 4 EKEK – darüber hinausgehend die 174

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Möglichkeit ein, bei der notifizierenden Regulierungsbehörde „erhebliche Zweifel“ an der Vereinbarkeit des Maßnahmenentwurfs mit Unionsrecht anzumelden. Daran schließt ein ausdifferenziertes kooperativ ausgestaltetes Verfahren an, in dem unter Einbeziehung der Kommission, des GEREK und der betroffenen Regulierungsbehörde „die am besten geeignete und wirksamste Maßnahme im Hinblick auf die Ziele des Artikels 3“ ermittelt werden soll (Art. 33 Abs. 2 EKEK). Die Letztentscheidungsbefugnis verbleibt jedoch im Gegensatz zum Vetoverfahren grundsätzlich bei der nationalen Regulierungsbehörde, die sich gegebenenfalls auch der von der Kommission ausgesprochenen Empfehlung, den ursprünglichen Maßnahmenentwurf zurückzuziehen (Art. 33 Abs. 4 lit. a EKEK), widersetzen kann (Art. 33 Abs. 7 EKEK).140 Das Verfahren nimmt somit hinsichtlich der Einflussnahmemöglichkeiten der Kommission 83 eine Zwischenstellung zwischen dem Berücksichtigungsverfahren und dem Vetoverfahren ein. Hieran erkennt man auch, dass das Verfahren nach Art. 33 EKEK Ausfluss eines politischen Kompromisses zwischen der Kommission und dem Rat ist. Die Kommission wollte im Zuge des TK-Reviews 2009 nämlich zunächst das Vetorecht auch auf Abhilfemaßnahmen ausdehnen.141 Auch im Zuge der Schaffung des EKEK wollte die Kommission ein Vetorecht einfügen, wenn das GEREK ihre erheblichen Zweifel teilt (sogenanntes „Double-Lock-Verfahren“). Dieser Vorstoß ist mit Ausnahme zweier Abhilfemaßnahmen weitgehend gescheitert. Sofern ein Maßnahmenentwurf unter Art. 61 Abs. 3 EKEK oder unter Art. 76 Abs. 2 EKEK fällt und die ernsthaften Zweifel von Kommission und GEREK geteilt werden, kann die Europäische Kommission die nationale Regulierungsbehörde zur Rücknahme des Maßnahmenentwurfes auffordern (Art. 35 Abs. 5 lit. c EKEK). In diesem Fall wird auf das Verfahren gem. Art. 32 Abs. 7 EKEK zurückgegriffen. Abschließend sei auf die Besonderheit bei der Auferlegung außerordentlicher, dh nicht von 84 Art. 69–74, 76 und 80 EKEK umfasster Verpflichtungen hingewiesen. Solche Verpflichtungen müssen gem. Art. 68 Abs. 3 UAbs. 2 EKEK bei der Kommission beantragt und von dieser genehmigt werden. Hierbei soll die Kommission die Stellungnahme des GEREK „weitest möglich“ berücksichtigen. Im Ergebnis erlässt die Kommission aber Beschlüsse, die der nationalen Regulierungsbehörde die außerordentliche Verpflichtung gestatten oder untersagen. Auch in diesem Bereich hat die Kommission somit ein Vetorecht.142 Das Verfahren nach Art. 33 EKEK findet insoweit keine Anwendung. d) Bewertung Die Kommission erlangt im Rahmen der dargestellten Verfahren nicht nur ein umfassen- 85 des Informationsinstrument, das durch die zusätzlichen Konsultations- und Transparenzpflichten der nationalen Regulierungsbehörde gegenüber interessierten Parteien nach Art. 23 EKEK noch verbessert wird.143 Vielmehr kommt ihr im kartellrechtlichen Kern des sektorspezifischen Telekommunikationsrechts, nämlich der Marktabgrenzung und der Feststellung von Marktbeherrschungsverhältnissen, ein Vetorecht zu, das zugleich mit der Pflicht verknüpft ist, entsprechende Umgestaltungsvorschläge zu unterbreiten. Es kann insofern als konstruktives Vetorecht bezeichnet werden. Damit ist das System nicht allzu weit von einem Veto- und Umgestaltungsrecht entfernt. Allerdings ist eine Beschränkung

140 Näher zum konkreten Ablauf des Verfahrens Kühling in Terhechte, 1. Aufl. 2011, § 24 Rn. 86. 141 Vgl. dazu den Ausgangsvorschlag der Kommission zur Änderung der Rahmen-, Zugangs- und Genehmigungsrichtlinie, KOM(2007) 697 endg., 32. 142 Vgl. auch Klotz/Brandenberg MMR 2010, 147 (148). 143 Vgl. zu Reformvorschlägen im Vorfeld der Novellierung des europäischen TK-Rechtsrahmens exemplarisch Neumann/Sickmann/Alkas/Koch, S. 285 ff.

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im Hinblick auf die thematische Spannbreite und die tangierten Entscheidungsschritte festzustellen. 86 Anstatt auf das mühevolle und gerade in der schnelllebigen Telekommunikationswirtschaft oft dysfunktionale Vertragsverletzungsverfahren zurückgreifen zu müssen,144 eröffnet der EKEK der Kommission insoweit eine Verfahrensweise, die sie an die Spitze der Regulierungsbehörden setzt. Soweit das Vetoverfahren reicht, kann die Kommission als sektorspezifische „Oberregulierungsbehörde“ agieren. Anstatt einer bloßen Überwachungsfunktion als Hüterin der Verträge und einer letztendlichen Entscheidung durch den EuGH im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens übernimmt sie direkte Regulierungsbefugnisse, ohne allerdings in der Sache selbst „durchzuentscheiden“. Es liegt insoweit eine spezielle Form der hierarchischen Vollzugsverflechtung vor.145 Gerade diese fehlende Entscheidung unmittelbar gegenüber den Regulierungsadressaten führt dazu, dass die Kommission ihre Entscheidungen selbst nicht vor der (Europäischen) Gerichtsbarkeit gegenüber den betroffenen Unternehmen verteidigen muss. Dadurch entsteht das klassische Verflechtungsproblem, bei dem Entscheidungsmacht und (gerichtliche) Verantwortung auseinanderklaffen. Die Auswahl zentraler Regulierungsinstrumente durch die nationalen Regulierungsbehörden kann die Kommission dagegen grundsätzlich nicht durch das weitergehende Vetoverfahren direkt gestalten. Die enge Kooperation im Rahmen des Berücksichtigungsverfahrens verbessert ihre Steuerungsmöglichkeiten gleichwohl nachhaltig. Nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt des gegenüber den nationalen Regulierungsbehörden tendenziell wirksameren Drohpotenzials, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten,146 gewinnt die Kommission hier faktisch die Rolle eines regulatorischen Moderators und es erfolgt eine in Ansätzen wirkungsvolle kooperative Vollzugsverflechtung. Mit dem unionsrechtlichen TKReview 2009 wurde die Position der Kommission bei der Auswahl der konkreten Regulierungsinstrumente (Abhilfemaßnahmen), als drittem Schritt des Marktregulierungsverfahrens, weiter gestärkt. Diese Tendenz wurde im Rahmen des TK-Reviews 2018 weitergeführt. Zwar erhält sie im Ergebnis in diesem Bereich kein umfassendes Vetorecht (→ Rn. 80 f.), sie wirkt jedoch zusammen mit dem GEREK im Rahmen des Verfahrens nach Art. 33 EKEK verstärkt darauf hin, dass es unionsweit zu einer einheitlichen Anwendung der Abhilfemaßnahmen kommt. Noch sind die Veto-Möglichkeiten der Kommission im Rahmen der Auferlegung von Abhilfemaßnahmen rudimentär, aber es ist eine Ausweitung festzustellen. 87 Demnach unterscheiden sich die beiden unter dem Begriff des Konsolidierungsverfahrens zusammengefassten Veto- und Berücksichtigungsverfahren deutlich. Während im ersten Fall die Kommission ihre Kompetenz, eine einzelne Entscheidung zu unterbinden, aktiv nutzt, um das „Ob“ der Regulierung ex ante letztverbindlich zu entscheiden, führt die fehlende Unterfütterung mit einer derartigen Kompetenz bei anderen Entscheidungselementen als der Definition regulierungsbedürftiger Märkte und der Feststellung von beträchtlicher Marktmacht und unter strengen Voraussetzungen bei der Auferlegung von Regulierungsverpflichtungen dazu, dass die Kommission primär die Rolle eines Modera-

144 Ein gutes Beispiel für die Schwäche des Durchsetzungsmechanismus „Vertragsverletzungsverfahren“ ist der letztendliche Verzicht der Kommission, ein solches gegen Deutschland einzuleiten, obwohl Deutschland der Meldepflicht für Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht im Bereich des Mobilfunks nach Art. 18 Abs. 2 der Telekommunikations-Zusammenschaltungsrichtlinie 97/33/EG nicht nachgekommen ist, vgl. den Hinweis bei Braun/Capito in Koenig/Bartosch/Braun, 1. Aufl., S. 337 Fn. 123. 145 Vgl. zu den Verfahren und zu deren Bewertung ausführlich auch Hermeier, S. 99 ff. 146 Es ist allerdings zuzugestehen, dass das Drohpotential des Vertragsverletzungsverfahrens nur für Rechtsverstöße, nicht aber für Zweckmäßigkeitserwägungen greift.

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tors ausübt und die Regulierungsergebnisse durch die Macht des überzeugenderen Arguments und den Austausch von Regulierungserfahrungen zu verbessern versucht.147 Bei der Bewertung der Verfahren ist im Übrigen zu differenzieren. So haben die straffen Fristen des Berücksichtigungsverfahrens in der Praxis kaum zu relevanten zeitlichen Verzögerungen geführt – ganz anders als bei den nationalen Konsultationsverfahren.148 Durch das durch sie bedingte System der Kontrolle ist auch manch wertvolle Anregung erfolgt, die zur Verbesserung der Regulierungsqualität beigetragen hat. Dass dieser Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand steht, dürfte aller- 88 dings zu verneinen sein.149 Auch dürfte es durchaus fraglich sein, ob angesichts der ohnehin schon gewährleisteten Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden ein solches Verfahren sinnvoll ist. Schließlich ist es insgesamt fraglich, ob – selbst angesichts der erhöhten Flexibilisierung – gerade in der Telekommunikationsregulierung das Harmonisierungsbedürfnis so groß ist, dass es eine derartige Vollzugsverflechtung rechtfertigt. Insgesamt ist das Berücksichtigungsverfahren daher skeptisch zu betrachten. Diese skeptische Bewertung gilt erst recht für das Vetoverfahren. Es stellt sich hier noch zusätzlich die Frage, ob es nicht zu einer zu weitgehenden Nivellierung der Regulierungspolitiken führt, die den Wettbewerb der Regulierungssysteme ohne hinreichende Gewinne opfert. Aus ökonomischer Sicht wird daher starke Kritik an der gegenwärtigen Ausgestaltung des Vetoverfahrens geübt.150 Hinzu kommen die klassischen negativen Aspekte der Verflechtungsfalle, die eine Zuweisung der jeweiligen Verantwortlichkeiten erschwert. 5. Weitergehende Harmonisierung und Vorstrukturierung der Regulierung durch Entscheidungen, Leitlinien und Empfehlungen Flankierend zur Möglichkeit, im Wege des Konsolidierungsverfahrens Marktregulierungs- 89 entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden durch Abgabe von Stellungnahmen konkret und einzelfallbezogen mit vorzusteuern, wurden der Kommission an verschiedenen Stellen des Richtlinienpakets neben Durchführungskompetenzen im technischen Bereich151 auch Befugnisse zum Erlass abstrakter Harmonisierungsmaßnahmen152 eingeräumt. Zu den in der Praxis wichtigsten Harmonisierungsmaßnahmen der Kommission gehören zweifellos die Märkteempfehlung(en)153 basierend auf Art. 64 Abs. 1 EKEK und die Marktanalyseleitlinien154 auf Grundlage des Art. 64 Abs. 2 EKEK. Obwohl diese Handlungsformen gem. Art. 288 Abs. 5 AEUV primärrechtlich nicht bindend sind, kommt ihnen gerade wegen des im Bereich der Marktdefinition und Marktanalyse bestehenden Vetorechts der Kommission (Art. 32 Abs. 4 EKEK) sekundärrechtlich ein besonderes Gewicht zu. Auch auf Ebene der Abhilfemaßnahmen versucht die Kommission neben den begrenzten Veto-Möglichkeiten verstärkt, über die allgemeine Harmonisierungskompetenz aus Art. 38 EKEK auf eine vereinheitlichte Regulierungspraxis in den verschiede-

147 Vgl. zum Versuch der Kommission, ein umfassendes „Veto on Remedies“ einzuführen, Neumann/ Sickmann/Alkas/Koch, S. 306 ff. 148 Vgl. dazu Koenig/Neumann CR 2005, 487 (488 ff.). 149 Skeptisch auch Hermeier, S. 129 ff. sowie S. 150 ff. 150 S. dazu Haucap/Kühling Wirtschaftsdienst 2007, 664. 151 Dabei handelt es sich bspw. um die Kompetenzen in Art. 39 Abs. 4–7, Art. 40 Abs. 5, Art. 51 Abs. 3 UAbs. 6 EKEK. Auf der Grundlage dieser Normen werden regelmäßig verbindliche Beschlüsse (Art. 288 Abs. 4 AEUV) gefasst. 152 Zu diesen Harmonisierungskompetenzen gehören bspw. Art. 34 EKEK, Art. 38 EKEK, sowie Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 EKEK. 153 Empfehlung 2003/311/EG, abgelöst durch die Empfehlung 2007/879/EG, abgelöst durch Empfehlung 2014/710/EU. 154 Leitlinien 2018/C 159/01.

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nen Mitgliedstaaten hinzuwirken. Dazu hat sie auf Grundlage des Art. 38 Abs. 1 EKEK155 verschiedene Harmonisierungsempfehlungen erlassen. Beispiele dafür sind die NGA-Empfehlung156 und die Empfehlung 2009/396/EG zur Regulierung von Terminierungsentgelten.157 Auch wenn die nationalen Regulierungsbehörden diesen Empfehlungen bei ihren Regulierungsentscheidungen „weitestgehend Rechnung [zu] tragen“ haben (Art. 38 Abs. 2 S. 1 EKEK), ist ein begründetes Abweichen (Art. 38 Abs. 2 S. 2 EKEK) hiervon – insbesondere aufgrund des rudimentär ausgeprägten Vetorechts der Kommission – leichter möglich. Gleichwohl kommt diesen Empfehlungen eine hohe „faktische“ Verbindlichkeit zu,158 insbesondere weil der EuGH zur Auslegung des europäischen TK-Sekundärrechts regelmäßig auf diese Empfehlungen zurückgreift.159 Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass die Europäische Kommission gem. Art. 117 iVm Art. 116 EKEK die Kompetenz besitzt, mithilfe von delegierten Rechtsakten die Anhänge V, VI, IX, X und XI abzuändern. Von besonderer Relevanz ist bspw. die Kompetenz zur Anpassung des Anhanges V. In diesem werden die Dienste aufgezählt, die für einen adäquaten Internetzugang zumindest verfügbar sein müssen (Art. 84 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EKEK) (→ Rn. 31). 90 Im Zuge des europäischen TK-Reviews 2009 wurde der Rechtsrahmen zudem um die Möglichkeit zum Erlass von Harmonisierungsbeschlüssen160 (nunmehr Art. 38 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 3 und Abs. 4 EKEK) ergänzt. Der Anwendungsbereich für diese gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV verbindliche Handlungsform ist jedoch gem. Art. 38 Abs. 3 EKEK ratione materiae begrenzt.161 91 Beim Erlass von Durchführungs- bzw. Harmonisierungsmaßnahmen findet das Komitologieverfahren Anwendung162 (vgl. dazu bereits → Rn. 35). Dafür wurde gem. Art. 118 Abs. 1 EKEK der sogenannte Kommunikationsausschuss (COCOM)163 eingesetzt, der sich aus Vertretern der nationalen Regulierungsbehörden und zuständigen Ministerien zusammensetzt.164 Trotzdem enthalten manche Kompetenznormen zusätzlich die Verpflichtung der Kommission, vor Erlass der entsprechenden Maßnahmen auch eine etwaige Stellungnahme des GEREK bei ihrem Handeln weitestgehend zu berücksichtigen. Der Kommunikationsausschuss unterstützt die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer exekutiven Durchführungs- und Harmonisierungskompetenzen. Abhängig von der konkret vorgegebenen Verfahrensausgestaltung hat er dabei mehr oder weniger inhaltlichen Einfluss auf das Handeln der Kommission. Für die Durchführungsmaßnahmen im Zusammenhang mit Art. 28 Abs. 4 UAbs. 2 EKEK fungiert der COCOM als Frequenzausschuss (Art. 118 Abs. 2 EKEK). Als Handlungsform steht gem. Art. 118 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK das Beratungsverfahren des Art. 4 der VO (EU) Nr. 182/2011 zur Verfügung. Sofern auf Art. 118 Abs. 4 EKEK verwiesen wird, erfolgt ein Prüfverfahren nach Art. 5 der VO (EU) 155 Die Harmonisierungsempfehlungen wurden auf Basis des Art. 19 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 2 UAbs. 1 RRL erlassen. 156 Empfehlung 2010/572/EU. 157 Dazu kritisch Kühling/Schall CR 2012, 82 (87 f.). 158 S. zu diesen auch als „Soft Law“ bezeichneten Vorschriften Bulowski, S. 224 ff. 159 Besonders deutlich EuGH 24.4.2008 – C-55/06, Slg 2008, I-2931, Rn. 94 – Arcor. 160 Nach der aktuellen Terminologie des AEUV handelt es sich dabei um „Beschlüsse“ iSd Art. 288 Abs. 4 AEUV. 161 Vgl. zum Reformbedarf des Art. 19 Abs. 3 RRL im Vorfeld der Novellierung des TK-Rechtsrahmens exemplarisch Neumann/Sickmann/Alkas/Koch, S. 338 ff. 162 Die Einzelheiten und verschiedenen Erscheinungsformen des Komitologieverfahrens waren zunächst im Beschluss 1999/468/EG, zuletzt geändert durch Art. 1 Beschluss 2006/512/EG, geregelt. Am 1.3.2011 wurde der Komitologie-Beschluss durch die VO (EU) Nr. 182/2011 abgelöst; vgl. zum Komitologieverfahren bspw. Daiber EuR 2012, 240; Fabricius ZEuS 2011, 567 (594 ff.); Edenharter DÖV 2011, 645. 163 Abkürzung der englischen Bezeichnung „Communications Committee“. 164 Die Bundesrepublik Deutschland wird durch Vertreter der BNetzA und des BMWi vertreten.

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Nr. 182/2011 unter Berücksichtigung von Art. 8 der VO (EU) Nr. 182/2011, der sofort geltende Durchführungsrechtsakte zum Gegenstand hat. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, das Verfahren zur Stellungnahme gem. Art. 118 Abs. 4 UAbs. 2 EKEK ohne Ergebnis zu beenden. 6. Geringe Bedeutung des parallel anwendbaren EU-Kartellrechts Zusätzlich zu den im geltenden Richtlinienpaket sekundärrechtlich eingeräumten Kompe- 92 tenzen verfügt die Kommission auch noch über die allgemeinen kartellrechtlichen Kompetenzen auf der Basis des europäischen Primärrechts.165 Neben der Fusionskontrolle und dem Kartellverbot aus Art. 101 AEUV ist vorliegend vor allem das Missbrauchsverbot aus Art. 102 AEUV von Bedeutung, da dieses letztlich im sektorspezifischen Kartellrecht des Richtlinienpakets ausdifferenziert wird. Allerdings hat die Kommission von dieser Kompetenznorm nicht zuletzt angesichts der strittigen Frage ihrer parallelen Anwendbarkeit zum sektorspezifischen Recht nur verhalten Gebrauch gemacht.166 Dies hat sich auch nicht geändert, nachdem EuG und EuGH bestätigt haben, dass die Anwendbarkeit des Art. 102 AEUV als höherrangige Norm durch entsprechende sektorspezifische Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden nicht beschränkt wird. Im konkreten Fall ging es um eine nach Einschätzung von Kommission, EuG und EuGH missbräuchliche Preis-Kosten-Schere der DTAG, die sehr wohl vorliegen könne, auch wenn entsprechende Entgelte von der deutschen nationalen Regulierungsbehörde genehmigt worden sind. Denn den Unternehmen bliebe noch ein hinreichender Spielraum, so dass auch kein Vertrauensschutz entstehe.167

II. Zugangs- und Entgeltregulierung im EKEK 1. Grundlegende Zugangsverpflichtungen Damit sich Wettbewerb auf den Telekommunikationsmärkten überhaupt entfalten kann, 93 ist es wichtig, dass neue Anbieter zu angemessenen Konditionen Zugang zu den Netzen, Einrichtungen und Diensten der marktbeherrschenden Netzbetreiber erhalten. Nur so können Newcomer, die selbst noch keine (hinreichende) Infrastruktur besitzen, unter Rückgriff auf die Infrastruktur und/oder Dienste des marktbeherrschenden Unternehmens, eigene Dienste anbieten und Kundenbeziehungen aufbauen, was sich regelmäßig positiv auf die Verbraucherwohlfahrt auswirken wird. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass die etablierten Netzbetreiber den Konkurrenzdruck fürchten und einen entsprechenden Zugang zu ihrer Infrastruktur und zu ihren Diensten freiwillig entweder gar nicht oder aber nur mit entsprechenden Verzögerungen und/oder zu unangemessenen bzw. diskriminierenden Bedingungen gewähren. Vor diesem Hintergrund und der in Art. 61 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK normierten Verpflichtung der nationalen Regulierungsbehörden (und anderen zuständigen Behörden), einen angemessenen Zugang und eine geeignete Zu165 Vgl. zum Nebeneinander von Wettbewerbs- und Regulierungsrecht im Bereich der Netzindustrien auch Säcker EnWZ 2015, 531 (531). 166 Zu den kartellrechtlichen (sowie fusionskontrollrechtlichen und beihilferechtlichen) Verfahren s. jeweils exemplarisch Ladeur K&R 2010, 308 (315); ders. K&R 2011, 304 (310); ders. K&R 2012, 317 (322). 167 EuG 10.4.2008 – T-271/03, Slg 2008, II-477, Rn. 120 (Kommission nicht an Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden gebunden), Rn. 121 ff.; (verbleibender Handlungsspielraum der Unternehmen), Rn. 263 ff. (parallele Anwendbarkeit; kein Vertrauensschutz) – Deutsche Telekom/Kommission; bestätigt durch EuGH 14.10.2010 – C-280/08, Slg 2010 I-9601 – Deutsche Telekom/Kommission; vgl. hierzu auch die Entscheidungen EuG 29.3.2012 – T-336/07, ABl. C 138/13 – Telefónica und Telefónica de España/Kommission; bestätigt durch EuGH 10.7.2014 – C-295/12 P, EuZW 2014, 799 – Telefónica und Telefónica España/Kommission, welche die Rspr. fortführen.

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§ 4 Telekommunikationsrecht sammenschaltung zu garantieren, sehen insbesondere die Art. 61 und 73 EKEK verschiedene Zugangs- und Zusammenschaltungsverpflichtungen vor, die den marktbeherrschenden Unternehmen (Art. 73 EKEK, dazu a.) oder Netzbetreibern mit einer Bottleneck-Stellung (Art. 61 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK, dazu b.) von der jeweiligen Regulierungsbehörde (zwangsweise) auferlegt werden können. In den Kontext der Zugangs-Verpflichtungsermächtigungen lässt sich schließlich auch noch Art. 44 EKEK einordnen (dazu c.). Darüber hinaus enthält Art. 72 EKEK Regelungen über den Zugang zu baulichen Anlagen (dazu d.). a) Die Auferlegung von Zugangsverpflichtungen nach Art. 73 EKEK für SMPUnternehmen aa) Mögliche Zugangsverpflichtungen nach Art. 73 Abs. 1 EKEK

94 Art. 73 EKEK sieht die Möglichkeit vor, SMP-Unternehmen (Art. 68 Abs. 2 EKEK) regulierungsbehördlich dazu zu verpflichten, den Wettbewerbern (Zugangspetenten) Zugang zu bestimmten Netzkomponenten und zugehörigen Einrichtungen zu gewähren und deren Nutzung zu erlauben (Abs. 1 UAbs. 1). Der Oberbegriff „Zugang“ wird in Art. 2 Nr. 27 EKEK definiert als „die [...] Bereitstellung von Einrichtungen oder Diensten für ein anderes Unternehmen unter bestimmten Bedingungen zur Erbringung von elektronischen Kommunikationsdiensten [...]“. Der Zugang kann dabei grob unterteilt werden in den Zugang zu „Netzkomponenten“ und „zugehörigen Einrichtungen“168 (Art. 73 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK). Diese Zugangsformen werden wiederum in Art. 73 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK – nicht abschließend – näher konkretisiert. Als grundlegende Instrumente sind hier insbesondere die Verpflichtungen zur Zusammenschaltung (lit. j) sowie zur Gewährung von Zugang zu bestimmten Netzkomponenten (zB Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung oder Bitstromzugang) (lit. a) zu nennen. Mittels dieser Verpflichtungen können alternative Anbieter bspw. im Wege der Betreiber(vor)auswahl Verbindungsdienste für Kunden erbringen, die beim SMP-Betreiber angeschlossen sind. Alternativ können sie zB durch Anmietung der Teilnehmeranschlussleitung ihren Kunden auch eigene (Voll-) Anschlüsse zur Verfügung stellen. Art. 71 Abs. 1 UAbs. 2 lit. e EKEK sieht zudem die Verpflichtung vor, bestimmte Dienste zu Großhandelsbedingungen zum Weitervertrieb an Dritte anzubieten. Mit dieser Verpflichtung kann ein schneller Markteintritt erleichtert und zumindest ein gewisser Dienstewettbewerb generiert werden, da etwaige Wiederverkäufer (Reseller) über gar keine eigene Netzinfrastruktur verfügen müssen, um eigene Kundenbeziehungen aufzubauen. 95 Neben diesen grundlegenden Zugangsverpflichtungen enthält Art. 73 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK noch verschiedene Komplementärverpflichtungen, die regelmäßig zusammen mit den vorgenannten Verpflichtungen auferlegt werden. Zu diesen gehören unter anderem die Verpflichtung, offenen Zugang zu technischen Schnittstellen, Protokollen und anderen Schlüsseltechnologien zu gewähren (lit. f) oder die Verpflichtung, eine gemeinsame Unterbringung (Kollokation) und andere Formen der gemeinsamen Nutzung zugehöriger Einrichtungen zu ermöglichen (lit. g).

168 Der Begriff der „zugehörigen Einrichtungen“ ist in Art. 2 Nr. 10 EKEK legal definiert. Von diesem Begriff umfasst sind demnach „die mit einem elektronischen Kommunikationsnetz oder einem elektronischen Kommunikationsdienst verbundenen zugehörigen Dienste, physischen Infrastrukturen oder sonstigen Einrichtungen oder Komponenten, welche die Bereitstellung von Diensten über dieses Netz oder diesen Dienst ermöglichen oder unterstützen bzw. dazu in der Lage sind; hierzu gehören Gebäude oder Gebäudezugänge, Verkabelungen in Gebäuden, Antennen, Türme und andere Trägerstrukturen, Leitungsrohre, Leerrohre, Masten, Einstiegsschächte und Verteilerkästen“.

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bb) Anforderungen an die Auswahl und Auferlegung von Zugangsverpflichtungen (Art. 73 Abs. 2 EKEK) Bei der Frage, ob, und wenn ja, welche Zugangsverpflichtungen einem Unternehmen mit 96 beträchtlicher Marktmacht auferlegt werden sollen, räumt Art. 73 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK den nationalen Regulierungsbehörden sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen ein. Das Auswahlermessen ist jedoch in der Praxis von ungleich größerer Bedeutung. Das Ermessen bei der Entscheidung, ob überhaupt irgendeine Art von Zugangsverpflichtung nach Art. 73 EKEK auferlegt werden sollte, wird nämlich regelmäßig vor dem Hintergrund des Gebots zur Regulierung marktbeherrschender Unternehmen aus Art. 68 Abs. 2 EKEK, der eingangs dargestellten Bedeutung der Zugangsregulierung für den Markteintritt alternativer Anbieter und für die Schaffung von Wettbewerb sowie der Vielzahl möglicher Zugangsverpflichtungen idR zugunsten einer Zugangsregulierung auf null reduziert sein. Bei der Auswahl der konkreten Zugangsverpflichtung haben die nationalen Regulierungsbehörden – ebenso wie bei der Auferlegung anderer Regulierungsverpflichtungen aus den Art. 67–74 und 76 und 80 EKEK – gem. Art. 68 Abs. 2 und Abs. 4 EKEK sowie Art. 73 Abs. 2 EKEK eine Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere mit Blick auf die Regulierungsziele des Art. 3 EKEK vorzunehmen. Die Frage, ob der Zugang zu baulichen Anlagen gem. Art. 72 EKEK vorrangig gegenüber zusätzlichen Zugangsverpflichtungen gem. Art. 73 Abs. 2 UAbs. 2 EKEK ist, wurde als weiterer Prüfauftrag für die nationale Regulierungsbehörde durch den Review in den EKEK aufgenommen. Dieser ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Erwägungen miteinzubeziehen.169 Im Vordergrund stehen hier vor allem die Verbraucher- bzw. Endkundenwohlfahrt (Art. 73 Abs. 1 UAbs. 1 aE EKEK; Art. 3 Abs. 2 lit. d EKEK) sowie das Ziel der Förderung von Wettbewerb sowohl bei den Telekommunikationsdiensten als auch bei den Telekommunikationsnetzen (Art. 3 Abs. 2 lit. b EKEK). Diese Ziele müssen bei jeder geplanten Zugangsverpflichtung in die erforderliche Abwägung zwischen dem Interesse des marktbeherrschenden Netzbetreibers an der exklusiven Nutzung seiner Infrastruktur einerseits und dem Zugangsinteresse anderer Netzbetreiber und Diensteanbieter andererseits eingestellt werden. Hinzu kommt das neue Konnektivitätsziel aus Art. 3 Abs. 2 lit. a EKEK, mit dem der Zugang zu hochbitfähigen Netzwerken sichergestellt werden soll.170 Art. 73 Abs. 2 UAbs. 1 EKEK versucht diese Abwägung vorzusteuern, indem den nationa- 97 len Regulierungsbehörden aufgetragen wird, bei der Angemessenheitsprüfung insbesondere den in den lit. a–h aufgelisteten Faktoren Rechnung zu tragen. So sind gem. Art. 73 Abs. 2 UAbs. 1 lit. e EKEK bei jeder Zugangsverpflichtung die Anfangsinvestitionen des Eigentümers sowie die Investitionsrisiken zu berücksichtigen.171 Speziell unter diesem Gesichtspunkt haben die nationalen Regulierungsbehörden gerade bei neuen Glasfaser-Infrastrukturen zu hinterfragen, ob die (sofortige) Verpflichtung zur Gewährung eines (bestimmten) Zugangs für Wettbewerber angemessen ist. Sie müssen die Privilegierung innovativer Geschäftsmodelle (bspw. Ko-Investitionen) mit in die Erwägung einbeziehen (Art. 73 Abs. 2 UAbs. 1 lit. f EKEK). Ein anderer Anknüpfungspunkt besteht insoweit in der Möglichkeit einer Regulierungsfreistellung für kooperative Investitionen in den Ausbau von Glasfaserinfrastrukturen gem. Art. 76 EKEK (→ 134 ff.). Darüber hinaus muss stets das Konnektivitätsziel aus Art. 3 Abs. 2 lit. a EKEK in etwaige Abwägungen mit einfließen. Zugangsverpflichtungen stellen regelmäßig ein Hindernis für Investitionen in den 169 Vgl. hierzu Neumann N&R 2018, 204 (206). 170 Neumann N&R 2018, 204 (204 f.); vgl. dazu auch Rn. 12. 171 Art. 73 Abs. 2 lit. f EKEK deckt sich insoweit mit dem allgemeinen Regulierungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 4 lit. d EKEK.

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Ausbau von hochbitfähigen Infrastrukturen dar. Das Konnektivitätsziel ist jedoch kein Superregulierungsziel und steht nicht in einem Hierarchieverhältnis zu den anderen Regulierungszielen. Bspw. kann für eine (sofortige) Zugangsregulierung dennoch insbesondere sprechen, dass ohne eine solche die Gefahr einer Perpetuierung der marktbeherrschenden Stellung von der alten auf die neue Infrastruktur fortbesteht. Andererseits kann es aber vor dem Hintergrund der erheblichen Investitionen in ein Glasfaserausbauprojekt und den damit verbundenen Investitions- bzw. Abnahmerisiken gerechtfertigt sein, die Nutzung der neuen Infrastruktur zunächst exklusiv dem Investor zu belassen und ihn von der Zugangsregulierung bzw. zumindest von bestimmten Zugangsverpflichtungen freizustellen.172 98 Überdies ist die Notwendigkeit einer langfristigen Wettbewerbssicherung unter besonderer Berücksichtigung eines wirtschaftlich effizienten Infrastrukturwettbewerbs zu berücksichtigen (Art. 73 Abs. 2 lit. f EKEK). In diesem Zusammenhang kann auch Art. 73 Abs. 2 lit. a EKEK eingeordnet werden. Demnach haben die nationalen Regulierungsbehörden vor der Auferlegung einer Zugangsverpflichtung zu prüfen, ob den Zugangspetenten nicht die Nutzung oder Installation (eigener) konkurrierender Einrichtungen oder die Inanspruchnahme eines anderen, weiter vorgelagerten Zugangsprodukts zugemutet werden kann. So muss eine Regulierungsbehörde zB hinterfragen, ob es technisch und wirtschaftlich tragfähig wäre, einem Wettbewerber anstelle des Zugangs zu einer (unbeschalteten) Glasfaserleitung des marktbeherrschenden Unternehmens nur einen Zugang zu dessen Kabelkanälen zu gewähren, damit dieser seine eigenen Kabel verwendet.173 b) Verpflichtungen nach Art. 61 EKEK im Fall der Kontrolle des Endnutzerzuganges 99 Neben Art. 73 EKEK enthält auch Art. 61 EKEK die Befugnis der nationalen Regulierungsbehörden, bestimmte (Zugangs-)Verpflichtungen aufzuerlegen. Im Gegensatz zu Art. 73 EKEK ist ein Vorgehen auf der Grundlage des Art. 61 EKEK dagegen nicht von einer marktbeherrschenden Stellung des regulierten Unternehmens, sondern allein von der (faktischen) Kontrolle des Zugangs zu den Endnutzern abhängig. Sofern ein Unternehmen auf einem sachlich relevanten Markt den Zugang zu seinen Endnutzern kontrolliert und ihm zugleich nach Durchführung einer Marktanalyse eine marktbeherrschende Stellung attestiert wird, verdrängt die Regulierungsmaßnahme aus Art. 69–74 und 76–81 EKEK als lex specialis jene aus Art. 61 EKEK. aa) Gewährung von Zugang (Art. 61 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK) 100 Art. 61 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a EKEK spricht zunächst abstrakt nur von auferlegbaren „Verpflichtungen“. Darunter können neben Zugangsverpflichtungen auch Verpflichtungen aus dem Bereich der Entgeltregulierung sowie flankierende Verpflichtungen subsumiert werden.

172 Vgl. zu ökonomischen Zusammenhängen zwischen sektorspezifischer Regulierung und Investitionen in neue Glasfaserinfrastrukturen Briglauer/Frübing N&R 2014, 198. 173 Mit der Parallelproblematik in § 21 Abs. 1 S. 2 TKG hatte sich auch das BVerwG 27.1.2010 – 6 C 22.08, NVwZ 2010, 1359 auseinander zu setzen. Die BNetzA hatte in der angegriffenen Regulierungsverfügung (BK 4a-07-002/R) zu Markt Nr. 11 (TAL-Zugang) der Deutschen Telekom AG in Punkt 2.2 des Tenors die Verpflichtung auferlegt, Zugang zur unbeschalteten Glasfaser zwischen Hauptverteiler (HVt) und Kabelverzweiger (KVz) zu gewähren. Obwohl es sich hierbei um eine subsidiäre Zugangsverpflichtung handelte, die nur dann greifen sollte, wenn der Zugang zu den Kabelkanälen zwischen HVt und KVz – zur Verlegung eigener Glasfaserkabel des Zugangspetenten – nicht möglich war, hob das BVerwG diese Verpflichtung auf, weil die BNetzA nicht alle Belange der zugangsverpflichteten DTAG in die Abwägung eingestellt hat, vgl. BVerwG 27.1.2010 – 6 C 22.08, NVwZ 2010, 1359 (1365 f.).

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Im Vordergrund steht jedoch ein zentraler Unterfall des Zugangs, nämlich die Zusammen- 101 schaltung (Art. 62 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a aE EKEK). „Zusammenschaltung“ wird in Art. 2 Nr. 28 EKEK definiert als „die physisch[e] und logisch[e] Verbindung öffentlicher Kommunikationsnetze, die von demselben oder einem anderen Unternehmen genutzt werden, um Nutzern eines Unternehmens die Kommunikation mit Nutzern desselben oder eines anderen Unternehmens oder den Zugang zu den von einem anderen Unternehmen angebotenen Diensten zu ermöglichen [...]“. Die Verpflichtung zur Zusammenschaltung darf aber nur auferlegt werden, wenn dies zur Gewährleistung eines Ende-zu-Ende-Verbundes der Dienste erforderlich ist. Hierbei ist zB zu berücksichtigen, dass kleinere Netzbetreiber, die den Zugang zu Endnutzern kontrollieren, regelmäßig mit dem marktbeherrschenden Netzbetreiber zusammengeschaltet sind. Es besteht damit idR schon eine mittelbare Zusammenschaltung zwischen den kleineren Netzbetreibern, vermittelt durch Transitdienste des SMP-Betreibers. Eine direkte Zusammenschaltung der (kleineren) Netzbetreiber wird daher im Normalfall nicht erforderlich sein. Flankierend zur möglichen Zusammenschaltungsverpflichtung kann den Netzbetreibern auch die Verpflichtung auferlegt werden, ihre Dienste interoperabel zu gestalten (Art. 61 Abs. 2 UAbs. 1 lit. b EKEK). Das betrifft insbesondere die verwendeten Standards, Schnittstellen, etc. Diese Verpflichtung zur interoperablen Ausgestaltung ihrer Dienste trifft unter strengen Voraussetzungen auch die interpersonellen Kommunikationsdienste (Art. 61 Abs. 2 UAbs. 1 lit. c EKEK). Die Verpflichtung kann jedoch nur in Fällen auferlegt werden, in denen die zusätzlichen Kriterien des Art. 61 Abs. 2 UAbs. 2 EKEK erfüllt sind.174 Relevant werden könnte dies für die bislang nicht interoperablen Dienste dieser Art. Denn während E-Mail-Dienste interoperabel sind, ist dies bei Instant-Messaging-Diensten wie WhatsApp nicht der Fall. Gem. Art. 61 Abs. 6 EKEK müssen die Mitgliedstaaten den nationalen Regulierungsbe- 102 hörden die Kompetenz einräumen, in begründeten Fällen auch aus Eigeninitiative tätig zu werden und die Zugangsverpflichtung gem. Art. 61 Abs. 2 EKEK aufzuerlegen, um die Verfolgung der Ziele aus Art. 3 EKEK sicherzustellen. Auch in diesem Fall sind die Verfahren aus Art. 23 und 32 EKEK durchzuführen. bb) Gewährung von Zugang innerhalb von Gebäuden, bis zum ersten Konzentrationsund Verteilerpunkt oder darüber hinaus (Art. 61 Abs. 3 EKEK) In Art. 61 Abs. 3 EKEK sind Zugangsverpflichtungen zu gestuften Punkten der Telekom- 103 munikationsinfrastruktur geregelt. Mithilfe von Art. 61 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK kann Zugang zur Verkabelung in Gebäuden und anderen Netzeinrichtungen oder bis zum ersten Konzentrations- und Verteilerpunkt erlangt werden. Die Verpflichtung kann Betreibern von Telekommunikationsnetzen auferlegt werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Verpflichtung Eigentümern von Infrastrukturen aufzuerlegen, die nicht zugleich Betreiber des Telekommunikationsnetzes sind. Gewährt wird der Zugang auf Antrag, wenn eine Replizierung der Verkabelung wirtschaftlich ineffizient und praktisch unmöglich wäre. Es besteht die Möglichkeit, Regelungen zur Kostenverteilung zu treffen. Darüber hinaus kann über Art. 61 Abs. 3 UAbs. 2 EKEK auch über diese Punkte hinaus 104 Zugang zu Infrastrukturen verlangt werden. Allerdings sind hierfür höhere Schwellen zu überschreiten. So ist es erforderlich, dass marktmachtabhängige Regulierungsverpflichtungen und Verpflichtungen gem. Art. 61 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK nicht ausreichen und weiterhin unüberwindbare wirtschaftliche und rechtliche Hindernisse einem Infrastrukturausbau in weniger dicht besiedelten Gebieten entgegenstehen. Der Zugang an diesem Punkt muss danach unbedingt notwendig sein. Es muss eine ausreichende Zahl von Endnutzeranschlüssen erschlossen werden können. Bei der Bestimmung des Zugangspunktes müssen 174 Zur Bedeutung dieser Norm für Internetkommunikationsdienste siehe Bulowski, S. 157 ff.

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die GEREK-Leitlinien beachtet werden. Sofern technische oder ökonomische Gründe dafür sprechen, können zudem aktive oder virtuelle Zugänge gewährt werden. Die Auferlegung der in UAbs. 3 genannten Verpflichtungen wird durch die beiden Begrenzungen in UAbs. 3 weiter eingeschränkt. Es darf kein tragfähiger und vergleichbarer alternativer Zugangsweg gegeben sein (lit. a) und kleinen, lokalen Projekten darf ihre finanzielle Tragfähigkeit nicht durch die Zugangsverpflichtung entzogen werden (lit. b). Sofern eine Finanzierung des Netzwerkes mithilfe öffentlicher Mittel erfolgt, können Ausnahmen gem. UAbs. 4 zulässig sein. 105 Um eine konsistente und europaweit einheitliche Interpretation der in Art. 79 Abs. 3 EKEK genannten Kriterien zu gewährleisten, fertigt das GEREK bezüglich der technischen Spezifikation Leitlinien an (Art. 61 Abs. 3 UAbs. 5 EKEK). cc) Gewährung von Zugang für die Bereitstellung auf Funkfrequenzen gestützter Dienste (Art. 61 Abs. 4 EKEK) 106 Art. 61 Abs. 4 EKEK fungiert als Ermächtigungsgrundlage zur Auferlegung von Verpflichtungen in Bezug auf die gemeinsame Nutzung passiver Infrastrukturen und den Abschluss von lokalen Roamingzugangsvereinbarungen.175 Hiermit sollen auf lokaler Ebene Dienste zur Verfügung gestellt werden, die auf Funkfrequenzen gestützt sind. Die Auferlegung der genannten Verpflichtungen ist nur in den Grenzen von Art. 61 Abs. 4 UAbs. 1 EKEK zulässig. Bei der Entscheidung sind die in UAbs. 2 genannten Abwägungskriterien zu berücksichtigen, die im Zusammenhang mit dem Ausbau von Netzen stehen. dd) Weitere Vorgaben des Art. 61 EKEK 107 Für die vorgenannten Verpflichtungen gilt gem. Art. 61 Abs. 5 EKEK, dass sie objektiv, transparent, verhältnismäßig und nichtdiskriminierend sein müssen. Für sie gelten die Verfahren aus Art. 23, 32 und 33 EKEK, so dass die Europäische Kommission und das GEREK Einfluss auf die Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden nehmen können. Nach Art. 61 Abs. 5 S. 2 EKEK muss zumindest alle fünf Jahre eine Evaluierung der auferlegten Verpflichtungen nach Art. 61 EKEK erfolgen. So können Erfolg bzw. Misserfolg einer Maßnahme kontinuierlich begutachtet und eine Perpetuierung von nicht erforderlichen Verpflichtungen verhindert werden. 108 Gem. Art. 61 Abs. 7 S. 1 EKEK verabschiedet das GEREK, nach Konsultation von Interessenträgern und in Kooperation mit der Kommission, Leitlinien zur Bestimmung der Netzabschlusspunkte in bestimmten Topologien. Auf diese Weise soll eine einheitliche Festlegung der Standorte von Netzabschlusspunkten gewährleistet werden. Gem. Art. 61 Abs. 7 S. 2 EKEK sind die Leitlinien durch die nationalen Regulierungsbehörden weitestgehend zu berücksichtigen. c) Gemeinsame Nutzung von Einrichtungen gem. Art. 44 EKEK 109 Auch wenn Art. 44 EKEK („Kollokation und gemeinsame Nutzung von Netzbestandteilen und zugehörigen Einrichtungen durch Betreiber elektronischer Kommunikationsnetze“) bei den Wegerechten angesiedelt wurde und an die Gewährung solcher anknüpft, kann er systematisch als weitere Zugangsvorschrift eingestuft werden. Die Vorschrift sieht vor, dass den zuständigen Behörden ein Entschließungsermessen vom nationalen Gesetzgeber einzuräumen ist (vgl. Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 EKEK „dürfen“). Potenzielle Verpflichtungsadressaten sind Netzbetreiber, die ein Recht zur Errichtung von Einrichtungen auf, 175 Vgl. zum aktuellen Stand der gemeinsamen Nutzung von Infrastrukturen BEREC Report on infrastructure sharing, BoR (18) 116.

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über oder unter öffentlichen oder privaten Grundstücken haben (Art. 44 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK). Als Beispiele für solche Einrichtungen werden in Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK unter anderem Verkabelungen in Gebäuden, Masten, Antennen, Leitungsund Leerrohren genannt. Die nationale Regulierungsbehörde kann ihnen gem. Art. 44 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK aus Gründen des Umweltschutzes, der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit oder der Städteplanung und Raumordnung die gemeinsame Nutzung dieser Einrichtungen, dh die Mitbenutzung durch einen anderen Anbieter, vorschreiben. Da es sich bei den in Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK aufgezählten Einrichtungen um „zugehörige Einrichtungen“ iSd Art. 2 Nr. 10 EKEK handelt, kann es – ebenso wie bei Art. 61 EKEK – zu Überschneidungen mit dem Anwendungsbereich des Art. 73 Abs. 1 EKEK kommen. Dies ist dann der Fall, wenn der Netzbetreiber, der das Recht hat, diese („zugehörigen“) „Einrichtungen“ zu installieren (Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK), im Rahmen einer Marktanalyse als marktbeherrschendes Unternehmen ermittelt wurde. Auch in diesem Fall wird Art. 73 EKEK, insbesondere dessen Abs. 2 lit. g, als lex specialis dem Art. 44 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK vorgehen. Vor der Marktanalyse und der Feststellung der beträchtlichen Marktmacht könnte das Unternehmen aber unter den Voraussetzungen des Art. 44 Abs. 1 EKEK reguliert werden. Ansonsten kann Art. 44 EKEK insbesondere bei der „Regulierung“ kleiner FTTB/H-Anbieter relevant werden. Hierbei gilt jedoch gem. Art. 44 Abs. 2 EKEK ein „strenger“ Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Organisation der behördlichen Zuständigkeiten kann, sofern erforderlich, unter Maßgabe des Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK in den Mitgliedstaaten durchgeführt werden. d) Zugang zu baulichen Anlagen (Art. 72 EKEK) Art. 72 EKEK enthält eine Ermächtigungsgrundlage, mit deren Hilfe marktmächtige Un- 110 ternehmen (Art. 68 Abs. 2 EKEK) dazu verpflichtet werden können, Zugang zu baulichen Anlagen zu gewähren und deren Nutzung zu gestatten. Erforderlich hierfür ist, dass die Verweigerung des Zugangs eine Verhinderung der Entwicklung hin zu einem dauerhaft wettbewerbsgeprägten Markt mit sich bringen würde (Art. 72 Abs. 1 EKEK). Nicht erforderlich ist hierfür, dass die Anlagen Teil des relevanten Marktes sind. Vielmehr muss die Verpflichtung zur Erreichung der Ziele aus Art. 3 EKEK notwendig und erforderlich sein (Art. 72 Abs. 2 EKEK). 2. Vorgaben zur Entgeltregulierung Neben der Zugangsregulierung ist in der Praxis vor allem die Entgeltregulierung von gro- 111 ßer Bedeutung. Dabei ist zwischen der Regulierung von Entgelten für Zugangsleistungen (dazu → Rn. 112 ff.), der Regulierung von Terminierungsentgelten (dazu → Rn. 117 ff.) und der Regulierung von Endnutzerentgelten (dazu → Rn. 120 ff.) zu unterscheiden. a) Regulierung der Entgelte für Zugangsleistungen (Art. 74 EKEK) Die Regulierung der Entgelte für Zugangsleistungen kann als spezielle Ausprägung bzw. 112 Fortsetzung der Zugangsregulierung angesehen werden, da durch sie die wohl wichtigste Bedingung für die Inanspruchnahme (auferlegter) Zugangsleistungen geregelt wird – das vom Zugangspetenten zu entrichtende Entgelt. Allein die Anordnung, einen bestimmten Zugang zu gewähren, wäre nämlich regelmäßig nicht zielführend, da sich das zugangsregulierte Unternehmen durch die Forderung entsprechend hoher Zugangsentgelte dieser Verpflichtung faktisch entledigen könnte. Die sekundärrechtlichen Vorgaben zur Regulierung der Zugangs- bzw. Vorleistungsentgel- 113 te sind in Art. 74 EKEK („Verpflichtungen zur Preiskontrolle und Kostenrechnung“) zu verorten. Gem. dessen Abs. 1 UAbs. 1 kann eine nationale Regulierungsbehörde einem

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SMP-Unternehmen (Art. 68 Abs. 2 EKEK) „hinsichtlich bestimmter Arten von Zusammenschaltung oder Zugang Verpflichtungen betreffend die Kostendeckung und die Preiskontrolle einschließlich kostenorientierter Preise auferlegen und ihm bestimmte Auflagen in Bezug auf Kostenrechnungsmethoden erteilen“, wenn – was regelmäßig der Fall sein dürfte – die Marktanalyse darauf hinweist, dass das SMP-Unternehmen mangels hinreichenden Wettbewerbs seine Preise zum Nachteil der Endnutzer auf einem übermäßig hohen Niveau halten oder Preisdiskrepanzen praktizieren könnte. Zusätzlich sind gem. Art. 74 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK die langfristigen Interessen der Nutzer und das Erfordernis zur Schaffung eines nachhaltigen Wettbewerbs im Hinblick auf den Ausbau und die Nutzung von Netzen mit sehr hoher Kapazität zu berücksichtigen. Bei der Auferlegung solcher Verpflichtungen haben die nationalen Regulierungsbehörden stets den Investitionen des regulierten Unternehmens Rechnung zu tragen und eine angemessene risikoadäquate Investitionsrendite zu ermöglichen (Art. 72 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 EKEK). Dies gilt insbesondere mit Blick auf etwaige entgeltregulatorische Vorgaben betreffend den Zugang zu neuen Netzen mit sehr hoher Kapazität (Art. 72 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 EKEK). Von der Auferlegung der Regulierungsverpflichtungen wird gem. Art. 72 Abs. 1 UAbs. 3 EKEK abgesehen, wenn festgestellt wird, dass ein ausreichender Preisdruck auf dem Endkundenmarkt herrscht und dass die Verpflichtungen aus Art. 69–73 EKEK einen effektiven und nichtdiskriminierenden Zugang gewährleisten. Besondere Berücksichtigung soll die Prüfung der wirtschaftlichen Replizierbarkeit gem. Art. 70 EKEK finden. Sofern die Auferlegung von Regulierungsverpflichtungen jedoch als angemessen beurteilt wird, so müssen gem. Art. 74 Abs. 1 UAbs. 4 EKEK auch die Vorteile Berücksichtigung finden, die daraus resultieren, allen Betreibern einen effizienten Marktzutritt zu ermöglichen und ausreichende Anreize für den Ausbau neuer und verbesserter Netze zu bieten. 114 Die Absätze 2–4 strukturieren sodann die möglichen Verpflichtungen aus Art. 74 Abs. 1 S. 1 EKEK (Kostendeckungsmechanismen/Tarifsysteme – Preiskontrolle – Kostenrechnungsmethoden) rudimentär vor. So schreibt Art. 74 Abs. 2 S. 1 EKEK vor, dass die nationalen Regulierungsbehörden sicherstellen müssen, dass die vorgeschriebenen Kostendeckungsmechanismen und Tarifsysteme die wirtschaftliche Effizienz, einen nachhaltigen Wettbewerb und den Auf- und Ausbau neuer und verbesserter Netze fördern und dabei für die Endnutzer dauerhaft möglichst vorteilhaft sind. Art. 74 Abs. 4 EKEK bezieht sich dagegen auf die im Interesse der Preiskontrolle vorgeschriebenen Kostenrechnungsmethoden. Nach dessen S. 1 müssen die nationalen Regulierungsbehörden sicherstellen, dass eine Beschreibung der vorgeschriebenen Kostenrechnungsmethode öffentlich gemacht wird, in der zumindest die wichtigsten Kostenarten und die Regeln der Kostenzuweisung aufgeführt werden. 115 Von großer praktischer Relevanz ist aber vor allem die mögliche Verpflichtung zur Preiskontrolle. Eine solche Preiskontrolle kann gem. Art. 74 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK auch die Verpflichtung des marktmächtigen Unternehmens beinhalten, seine Preise für Zugangsleistungen an den Kosten zu orientieren. Eine Preiskontrolle muss aber andererseits nicht zwangsläufig mit einer Kostenorientierungspflicht verbunden sein. Vielmehr kann auch ein „milderer“ Entgeltmaßstab gewählt werden, der dem Regulierungsadressaten mehr Spielraum bei der Preissetzung lässt und bspw. nur eine missbräuchliche Preissetzung (zB Verdrängungspreise durch Preis-Kosten-Scheren) verbietet. Art. 74 Abs. 3 EKEK bezieht sich dagegen nur auf eine Preiskontrolle mit der Verpflichtung zur Kostenorientierung. Nach Art. 74 Abs. 3 S. 1 EKEK muss das regulierte Unternehmen in diesem Fall nachweisen, dass sich die Preise „aus den Kosten, einschließlich einer angemessenen Investitionsrendite errechnen“. In diesem Zusammenhang können die nationalen Regulierungsbehörden gem. Art. 74 Abs. 3 S. 3 EKEK eine umfassende Rechtfertigung der Preise verlangen. Gemeint ist damit die Vorlage hinreichend detaillierter Kostenunterlagen, aus denen sich

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ermitteln lässt, wie sich die Preise errechnen bzw. zusammensetzen. Alternativ dazu erlaubt Art. 74 Abs. 3 S. 2 EKEK den nationalen Regulierungsbehörden, zur Ermittlung der Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung auch eine vom regulierten Unternehmen unabhängige Kostenrechnung – zB auf der Basis eines analytischen Kostenmodells – anzustellen. Aus dem Begriff „Kosten einer effizienten Leistungsbereitstellung“ (Art. 74 Abs. 3 S. 2 EKEK) sowie der Betonung der „wirtschaftlichen Effizienz“ in Art. 74 Abs. 2 EKEK lässt sich ableiten, dass eine Orientierung an den Kosten eines effizienten Betreibers angestrebt werden soll. Nähere Vorgaben zum anzuwendenden Kostenmaßstab bzw. -standard, den zu berücksichtigenden Kosten(arten) sowie zur „richtigen“ Berechnungsgrundlage der Kosten enthält Art. 74 Abs. 3 EKEK dagegen nicht. Gerade diese Fragen sind jedoch in neuerer Zeit immer wieder Gegenstand rechtlicher Kontroversen. So war in Deutschland seit 1999 umstritten, ob der Kostenorientierungsgrundsatz aus Art. 13 ZRL bzw. Art. 3 Abs. 3 der TAL-VO (heute Art. 74 EKEK) die von der BNetzA bei der Genehmigung von TAL-Entgelten seit jeher praktizierte Berechnung des Investitionswertes ausschließlich anhand von Brutto-Wiederbeschaffungskosten (= aktuellen Kosten) erlaubt.176 Auch die Interpretation des zwischenzeitlich zu dieser Frage ergangenen ArcorUrteils177 des EuGH, der die „tatsächlichen Kosten“ für maßgeblich hält,178 sorgt weiterhin für Kontroversen.179 In einem weiteren Urteil wird eine Abweichung vom reinen „Bulric“180-Kostenmodell in solchen Fällen gestattet, in denen dies aufgrund der Besonderheiten des Marktes des betreffenden Mitgliedstaats für geboten erachtet wird.181 Es stellt sich ebenfalls mit Blick auf die Arcor-Rechtsprechung des EuGH, welche ohne 116 Weiteres auf Art. 74 EKEK übertragbar ist,182 die Frage, ob der von der Kommission empfohlene Verzicht auf eine Berücksichtigung von verkehrsunabhängigen Gemeinkosten bei der Regulierung von Terminierungsentgelten183 mit Art. 74 EKEK vereinbar ist.184

176 Bei diesem Ansatz wird im Rahmen der Entgeltgenehmigung für die Berechnung der kalkulatorischen Zinsen und Abschreibungen immer der Wert der Infrastruktur zu Tagesneuwerten zugrunde gelegt, ohne bereits erfolgte Abschreibungen zu berücksichtigen, vgl. Groebel/Seifert in Säcker § 35 Rn. 27 (Fn. 18). An diesem hypothetischen Ansatz wird kritisiert, dass er dann nicht gerechtfertigt ist, wenn wie bei der Kupfer-TAL aufgrund der Migration hin zu Glasfaser tatsächlich – zumindest in Teilen – keine Wiederbeschaffung des Netzes mehr erfolgt. Vgl. zur Kritik an diesem Ansatz vor dem Hintergrund der Arcor-Rechtsprechung Kühling/Schall CR 2010, 708 (710 f.) (für einen gemischten Ansatz aus historischen und aktuellen Kosten) sowie Kleinlein N&R 2010, 75 (81) (für einen Ansatz der Netto-Wiederbeschaffungskosten, dh Brutto-Wiederbeschaffungskosten abzüglich bereits erfolgter Abschreibungen); grundlegend zur Bedeutung des Verfassungsrechts im Allgemeinen Verwaltungsrecht im Zuge der Europäisierung mit der Arcor-Rechtsprechung als Illustrationsbeispiel, Ludwigs NVwZ 2015, 1327 (1330 f.); vgl zur TAL-VO und dem Verhältnis zum EKEK und zur ehemaligen ZRL breits → Rn. 30. 177 EuGH 24.4.2008 – C-55/06, Slg 2008, I-2931 – Arcor. 178 Vgl. EuGH 24.4.2008 – C-55/06, Slg 2008, I-2931, Rn. 115 und 119 – Arcor. 179 Vgl. dazu umfassend Kühling/Schall CR 2010, 708 (709 ff.). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz, konnte das BVerwG aus dem Arcor-Urteil dagegen nicht ableiten, dass die bisherige Berechnungsmethode der BNetzA anhand von Brutto-Wiederbeschaffungskosten per se unzulässig ist, vgl. BVerwG 23.11.2011 – 6 C 11.10, NVwZ 2012, 1047 (1049 f.). 180 Abkürzung der englischen Bezeichnung Bottom-Up Long-Run Incremental Costs. 181 EuGH 15.9.2016 – C-28/15, NVwZ 2017, 301, Erster Satz des Tenors – Koninklijke KPN NV ua/ Autoriteit Consument en Markt (ACM); vgl. hierzu auch Heinickel/Scherer NVwZ 2018, 1014 (1016). 182 Zur Frage nach der Übertragbarkeit der zur Auslegung des Art. 3 TAL-VO ergangenen Arcor-Rspr. auf Art. 13 ZRL, vgl. Klotz/Brandenberg N&R 2009, Beilage 2/2009, S. 7 f.; Kleinlein N&R 2010, 75 (76); Kühling/Schall CR 2010, 708 (713 f.). 183 Vgl. dazu Nr. 6 S. 3 Empfehlung 2009/396/EG. 184 Vgl. dazu Kühling/Schall CR 2012, 82 (83 Fn. 2); vgl. zur Berechnung von Mobilfunktterminierungsentgelten auch EuGH 15.9.2016 – C-28/15, NVwZ 2017, 301 – Koninklijke KPN NV; Nacimiento/ Küll K&R 2017, 623 (625).

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§ 4 Telekommunikationsrecht b) Regulierung der Zustellungsentgelte (Art. 75 EKEK)

117 Mit der Einführung des EKEK werden auch Zustellungsentgelte explizit der Regulierung unterworfen. Gem. Art. 75 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK erlässt die Europäische Kommission hierzu bis zum 31.12.2020 delegierte Rechtsakte (Art. 117 EKEK), unter Berücksichtigung der Stellungnahme des GEREK. Die Europäische Kommission enthält in diesem Segment also die Kompetenz eines Superregulierers.185 Es werden europaweite maximale Mobilanrufterminierungs- und Festnetzterminierungsentgelte festgelegt, die für alle Marktteilnehmer in allen Mitgliedstaaten gelten.186 Die Höhe bestimmt sich gem. Art. 75 Abs. 1 S. 2 lit. b UAbs. 1 EKEK an den Prinzipien, Kriterien und Parametern aus Anhang III EKEK. Weitere zu berücksichtigende Kostenfaktoren sind in Art. 75 Abs. 1 UAbs. 2 lit. b EKEK festgelegt. Es erfolgt eine Entkopplung vom üblichen Verfahren der Marktanalyse.187 Eine gerechte Festlegung soll über die Berücksichtigung nationalstaatlicher Besonderheiten (lit. c) und von Marktinformationen (lit. d) sowie die Festlegung eines Übergangszeitraumes erreicht werden (lit. e). Ob dies systematisch und ökonomisch überzeugend ist, kann durchaus bezweifelt werden. 118 Der delegierte Rechtsakt wird im Verfahren des Art. 117 Abs. 4 EKEK erlassen. In einem fünfjährigen Turnus wird evaluiert, ob eine Regulierung der Terminierungsentgelte noch erforderlich ist (Art. 75 Abs. 2 EKEK). Die hierfür erforderlichen Verfahrensabläufe ergeben sich aus Art. 75 Abs. 2 EKEK. 119 Die nationalen Regulierungsbehörden überwachen die Einhaltung der maximalen Terminierungsentgelte (Art. 75 Abs. 3 S. 1 EKEK) und können deren Einhaltung verlangen. Es erfolgt ein jährlicher Bericht der nationalen Regulierungsbehörde an GEREK und Kommission (Art. 75 Abs. 3 S. 3 EKEK). c) Regulierung der Endnutzerentgelte (Art. 83 EKEK) 120 Die Regulierung der Endnutzerentgelte gem. Art. 83 EKEK spielt in der Praxis eher eine untergeordnete Rolle. Deswegen war es der Plan der Europäischen Kommission, den vormaligen Art. 17 URL ersatzlos zu streichen. Im Rahmen des Trilog-Verfahrens wurde mit Art. 83 EKEK jedoch eine Vorschrift zur Regulierung der Endnutzerentgelte in den Kodex integriert. Regelmäßig reicht bereits eine effektive Vorleistungsregulierung aus, so dass die Relevanz der Vorschrift überschaubar ist (Art. 83 Abs. 1 lit. b EKEK), um zumindest einen ausreichenden Dienstewettbewerb auf Endkundenebene zu generieren, bei dem sich durch den Konkurrenzdruck von selbst Wettbewerbspreise ergeben. Im Vordergrund steht daher regelmäßig auch nicht – wie bei der Regulierung der Vorleistungsentgelte – der Grundsatz der Kostenorientierung, sondern die Verhinderung missbräuchlicher Preissetzungsstrategien. So sieht Art. 83 Abs. 2 S. 2 EKEK zB vor, dass die nationalen Regulierungsbehörden vom marktbeherrschenden Unternehmen auf einem Endkundenmarkt fordern können, keine Kampf- bzw. Dumpingpreise zur Ausschaltung des Wettbewerbs anzuwenden, bestimmte Endnutzer nicht unangemessen zu bevorzugen oder Dienste nicht ungerechtfertigt zu bündeln. Auch bei der Regulierung der Endnutzerentgelte können gem. Art. 83 Abs. 3 EKEK zur (Überprüfung der) Einhaltung etwaiger Preissetzungsverpflichtungen bestimmte Kostenrechnungssysteme und -methoden vorgegeben werden. Auf Endnutzermärkten und auf geografischen Märkten, auf denen ein wirksamer Wettbewerb festgestellt worden ist, findet keine Regulierung gem. Art. 83 Abs. 1 EKEK statt (vgl. Art. 83 Abs. 4 EKEK).

185 Neumann N&R 2018, 204 (208). 186 Neumann N&R 2018, 204 (208). 187 Neumann N&R 2018, 204 (208).

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d) Entgelte für das Recht zur Installation von Netzbestandteilen Gem. Art. 42 EKEK können unter anderem für das Recht zur Installation von Netzbe- 121 standteilen Entgelte erhoben werden.188 Die Auferlegung der Entgelte muss gerechtfertigt, transparent, nichtdiskriminierend und verhältnismäßig erfolgen (Art. 42 Abs. 1 S. 2 EKEK). Zudem müssen die Ziele der Richtlinie (Art. 3 EKEK) berücksichtigt werden.189 3. Flankierende marktmachtabhängige Verpflichtungen Im Bereich der Vorleistungsregulierung hält der EKEK neben den soeben dargestellten Zu- 122 gangsverpflichtungen aus Art. 73 EKEK und den Verpflichtungen aus dem Bereich der Entgeltregulierung (Art. 74 EKEK) noch weitere flankierende marktmachtabhängige Abhilfemaßnahmen bereit. a) Transparenzverpflichtung (Art. 69 EKEK) Nach Art. 69 EKEK besteht die Möglichkeit, einem marktmächtigen Unternehmen 123 (Art. 68 Abs. 2 EKEK) verschiedene Transparenzverpflichtungen aufzuerlegen. So können die nationalen Regulierungsbehörden gem. Art. 69 Abs. 1 EKEK das marktbeherrschende Unternehmen dazu verpflichten, bestimmte Informationen wie bspw. technische Spezifikationen, Netzmerkmale und insoweit erwartete neue Entwicklungen, Bereitstellungs- und Nutzungsbedingungen zu veröffentlichen. Die Art der zu veröffentlichenden Informationen, deren Detaillierungsgrad sowie die Form der Veröffentlichung kann dabei gem. Art. 69 Abs. 3 EKEK von der Regulierungsbehörde festgelegt werden. Ziel einer solchen Veröffentlichungspflicht ist es, den Verhandlungsprozess zwischen dem marktbeherrschenden Unternehmen und den Zugangspetenten zu beschleunigen und Streitigkeiten sowie Diskriminierungen vorzubeugen.190 Denn auch wenn bestimmte Zugangsverpflichtungen und Preise von den nationalen Regulierungsbehörden abstrakt auf- bzw. festgelegt werden, erfolgt der konkrete Zugang bzw. die konkrete Zusammenschaltung jeweils auf der Basis einer privatrechtlichen Vereinbarung zwischen dem regulierten Unternehmen und dem jeweiligen Zugangspetenten, in der zwar die abstrakten Verpflichtungen der nationalen Regulierungsbehörde konkret umzusetzen sind, im Übrigen aber der Grundsatz der Privatautonomie greift. Eine noch weitergehende Verpflichtung ist in Art. 69 Abs. 2 EKEK enthalten. Dieser er- 124 mächtigt die nationalen Regulierungsbehörden dazu, von den marktbeherrschenden Unternehmen ein sogenanntes Standardangebot zu verlangen. Wie der Name vermuten lässt, handelt es sich dabei um ein standardisiertes Angebot für bestimmte Zugangs- bzw. Zusammenschaltungsleistungen, das von sämtlichen Zugangspetenten – theoretisch ohne weitere Verhandlung – angenommen werden kann. Dadurch kann sichergestellt werden, dass ein Zugang/eine Zusammenschaltung nicht durch langwierige Vertragsverhandlungen mit jedem einzelnen Zugangspetenten verzögert wird. Zudem kann so insbesondere die Einhaltung einer etwaigen Nichtdiskriminierungsverpflichtung nach Art. 70 EKEK abgesichert werden. Die nationalen Regulierungsbehörden sind gem. Art. 69 Abs. 2 S. 2 EKEK insoweit auch befugt, Änderungen an dem Standardangebot vorzuschreiben, bspw. wenn ein SMP-Betreiber die auferlegten Verpflichtungen in dem Angebot nicht (vollständig) umgesetzt hat. Auch der Detaillierungsgrad des Standardangebots kann grundsätzlich von den nationalen Regulierungsbehörden festgelegt werden (Art. 69 Abs. 3 EKEK). Um 188 Vgl. zu der Vorgängerreglung Art. 13 GRL, EuGH 30.01.2018 – C 360/15, C 31/16, NVwZ 2018, 307, Rn. 54 ff.; sowie die hierauf bezogene Entscheidungsanmerkung Kühling/Drechsler NVwZ 2018, 379. 189 Vgl. → Rn. 170 zu Entgelten zur Frequenznutzung gem. Art. 42 Abs. 2 EKEK. 190 Vgl. Erwägungsgrund 182 EKEK.

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§ 4 Telekommunikationsrecht eine einheitliche Anwendung der Transparenzverpflichtung sicherzustellen, erlässt das GEREK nach Konsultation von Interessenträgern und in enger Zusammenarbeit mit der Kommission Leitlinien (Art. 69 Abs. 4 EKEK). b) Nichtdiskriminierungsverpflichtung (Art. 70 EKEK)

125 Ein weiteres flankierendes Instrument aus dem „regulatorischen Werkzeugkasten" der nationalen Regulierungsbehörden ist die Nichtdiskriminierungsverpflichtung aus Art. 70 EKEK. Durch die Auferlegung dieser Verpflichtung sollen Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden.191 Solche Wettbewerbsverzerrungen entstehen immer dann, wenn das marktbeherrschende Unternehmen den Zugangspetenten – einschließlich seiner eigenen Tochterunternehmen – ohne rechtfertigenden Grund Zugang/Zusammenschaltung zu unterschiedlichen Konditionen gewährt. Eine nach Art. 70 Abs. 1 EKEK auferlegte Nichtdiskriminierungsverpflichtung verpflichtet das marktbeherrschende Unternehmen (Art. 68 Abs. 2 EKEK) deshalb zum einen, anderen Unternehmen (Zugangspetenten), die gleichartige Dienste erbringen, unter den gleichen Umständen auch die gleichen Zugangs- und/ oder Zusammenschaltungsbedingungen zu bieten („Gleichbehandlung externer Sachverhalte“ gem. Art. 70 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 EKEK). Zum anderen besteht gem. Art. 70 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 EKEK auch die Verpflichtung, Dienste und Informationen externen Unternehmen zu den gleichen Bedingungen und mit der gleichen Qualität bereitzustellen wie eigene Produkte oder die der Tochter- und Partnerunternehmen auf dem nachgelagerten Markt. Die Verpflichtung zur Gleichbehandlung externer und interner Sachverhalte betrifft insbesondere vertikal integrierte Anbieter. c) Verpflichtung zur getrennten Buchführung (Art. 71 EKEK) 126 Die Verpflichtung zur getrennten Buchführung gem. Art. 71 EKEK ergänzt vor allem die Nichtdiskriminierungsverpflichtung aus Art. 70 EKEK. Mit dieser Verpflichtung kann insbesondere von einem vertikal integrierten Unternehmen verlangt werden, seine Großkundenpreise und internen Kostentransfers transparent zu gestalten (Art. 71 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 EKEK). Damit wird wiederum sichergestellt, dass das Unternehmen einer etwaig auferlegten Verpflichtung zur Gleichbehandlung interner und externer Sachverhalte aus Art. 70 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 EKEK nachkommt. Auch unerlaubte Quersubventionen können so unterbunden bzw. zumindest erschwert werden. Neben der getrennten Buchführung an sich kann dem Unternehmen dabei gem. Art. 71 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EKEK auch konkret das zu verwendende Format und die Buchführungsmethode vorgeschrieben werden. d) Pflicht zur funktionellen Trennung (Art. 77 EKEK) 127 Im engen Zusammenhang mit der Nichtdiskriminierungsverpflichtung aus Art. 70 Abs. 2 Hs. 2 EKEK und der Verpflichtung zur getrennten Rechnungsführung aus Art. 71 EKEK steht das Instrument der funktionellen Trennung nach Art. 77 EKEK. Dabei handelt es sich um die Verpflichtung gegenüber einem vertikal integrierten Unternehmen, die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Bereitstellung der betreffenden Zugangsprodukte auf der Vorleistungsebene in einem unabhängig arbeitenden Geschäftsbereich unterzubringen (Art. 77 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK). Dieser Geschäftsbereich ist dann gem. Art. 77 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK verpflichtet, Zugangsprodukte und -dienste allen Unternehmen, einschließlich der anderen Geschäftsbereiche des eigenen Mutterunternehmens, diskriminierungsfrei zur Verfügung zu stellen.

191 Vgl. Erwägungsgrund 184 EKEK.

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Eine Verpflichtung zur funktionellen Trennung stellt einen äußerst schwerwiegenden Ein- 128 griff in die unternehmerische Freiheit dar und ist deswegen an sehr strenge Tatbestandsvoraussetzungen sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht geknüpft. So stellt der Wortlaut des Art. 77 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK bereits klar, dass es sich hierbei um eine „außerordentliche Maßnahme“ handelt, die nur dann auferlegt werden darf, wenn die nationale Regulierungsbehörde zu dem Schluss gelangt, dass die von ihr auferlegten Verpflichtungen nach Art. 69–74 EKEK nicht zu wirksamem Wettbewerb geführt haben und gewichtige und andauernde Wettbewerbsprobleme auf bestimmten Vorleistungsmärkten bestehen. Diese engen materiellrechtlichen Voraussetzungen werden flankiert durch strenge Verfahrensanforderungen. So gibt Art. 77 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK vor, dass das Verfahren nach Art. 68 Abs. 3 UAbs. 2 EKEK Anwendung findet. Gem. Art. 68 Abs. 3 UAbs. 2 EKEK iVm Art. 77 Abs. 2 und Abs. 3 EKEK muss eine nationale Regulierungsbehörde in diesem Fall der Kommission einen detailliert begründeten Vorschlag/Antrag übermitteln. Die Kommission trifft dann unter weitestgehender Berücksichtigung der Stellungnahmen des GEREK im Verfahren nach Art. 117 Abs. 3 EKEK den Beschluss,192 ob sie der nationalen Regulierungsbehörde die Auferlegung der Verpflichtung zur funktionellen Trennung gestattet oder untersagt (Art. 68 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 und 3 EKEK). Die Kommission hat bei dieser „Ultima-ratio“-Maßnahme somit ein Vetorecht. e) Regulatorische Behandlung von ausschließlich auf der Vorleistungsebene tätigen Unternehmen (Art. 80 EKEK) Der regulatorische Umgang mit ausschließlich auf der Vorleistungsebene tätigen Unter- 129 nehmen, sogenannten Wholesale-Only-Anbietern, ist in Art. 80 EKEK geregelt. Voraussetzung für die Einschlägigkeit der Norm ist, dass ein Unternehmen auf keinem Endkundenmarkt aktiv ist, aber auf zumindest einem Vorleistungsmarkt über beträchtliche Marktmacht (Art. 67 EKEK) verfügt. Darüber hinaus darf das Unternehmen ausschließlich auf dem Vorleistungsmarkt tätig sein (lit. a) und es darf keine Exklusivvereinbarung mit einem auf dem Endkundenmarkt tätigen eigenständigen Unternehmen vorliegen (lit. b). Sofern die Bedingungen des Abs. 1 erfüllt sind, können gem. Art. 80 Abs. 2 EKEK Regu- 130 lierungsverpflichtungen nach Art. 70, 73 EKEK oder vergleichbare Verpflichtungen, die zu einer fairen und nachvollziehbaren Preisgestaltung führen, auferlegt werden. Der Auferlegung der Regulierungsverfügung muss eine Marktanalyse zugrunde liegen, die auch eine Analyse des Verhaltens des marktmächtigen Unternehmens enthält. Das Vorliegen der Bedingungen wird gem. Art. 80 Abs. 3 EKEK in kontinuierlichen Ab- 131 ständen überprüft. Laut Art. 80 Abs. 3 S. 2 EKEK besteht für Unternehmen eine Informationspflicht, sofern sich die Voraussetzungen ändern. Darüber hinaus prüfen die nationalen Regulierungsbehörden auch selbst in kontinuierlichen Abständen, ob sich die Bedingungen geändert haben, unter denen Endkunden Leistungen angeboten werden (Art. 80 Abs, 4 EKEK). Unter Umständen kann hierdurch eine abweichende regulierungsrechtliche Behandlung gerechtfertigt sein. Zudem sind gem. Art. 80 Abs. 5 EKEK stets die Verfahren aus Art. 23, 32 und 33 EKEK durchzuführen. f) Pflicht zur Migration von herkömmlichen Infrastrukturen (Art. 81 EKEK) Mit dem EKEK wurde die Pflicht zur Migration von herkömmlichen Infrastrukturen in 132 den Rechtsrahmen integriert. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass bei Außerbetriebnahme von Infrastrukturen, die von Zugangsverpflichtungen erfasst sind, ausreichende

192 Gem. Art. 118 Abs. 3 EKEK kommt das Beratungsverfahren gem. Art. 4, 10 und 11 VO (EU) Nr. 182/2011 zur Anwendung.

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§ 4 Telekommunikationsrecht

Substitute verfügbar sind.193 Marktmächtige Unternehmen (Art. 67 EKEK) müssen die nationale Regulierungsbehörde gem. Art. 81 Abs. 1 EKEK informieren, wenn sie beabsichtigen, Teile ihres Netzes außer Betrieb zu nehmen oder zu ersetzen. Hierunter fallen auch diejenigen Infrastrukturen, die für den Betrieb des Kupferkabelnetzes erforderlich sind. 133 In Art. 81 Abs. 2 UAbs. 1 EKEK wird ein Verfahren geregelt, mit dessen Hilfe sichergestellt werden soll, dass eine geordnete Außerbetriebnahme der Netzbestandteile erfolgt. Insbesondere wird bspw. die Verfügbarkeit alternativer Produkte überprüft. Diese müssen zumindest gleichwertig sein. Unter den Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 2 UAbs. 2 EKEK kann eine Entlassung aus der Regulierungsverpflichtung erfolgen. Dazu müssen die Voraussetzungen für die Migration geschaffen (lit. a) und das Verfahren des Artikels eingehalten worden sein (lit. b). Auch im Migrationsverfahren sind die Konsultations- und Konsolidierungsverfahren (Art. 23, 32 und 33 EKEK) gem. Art. 81 Abs. 2 UAbs. 3 EKEK einzuhalten.194 Unberührt bleibt gem. Art. 81 Abs. 3 EKEK die Verpflichtung dazu, die „für die aufgerüstete Netzinfrastruktur nach den Verfahren gem. den Artikeln 67 und 68 [EKEK] vorgeschriebene Verfügbarkeit regulierter Produkte“ sicherzustellen. 4. Regulierungsfreistellungen für Investitionen in Netze mit sehr hoher Kapazität (Art. 76 EKEK) 134 Das neu etablierte Konnektivitätsziel (Art. 3 Abs. 2 lit. a EKEK) findet auch in der Auferlegung von Regulierungsverpflichtungen Niederschlag. Als Ansatz zur Beschleunigung des Ausbaus von Netzen mit sehr hohen Übertragungsraten werden marktmächtige Unternehmen unter den Voraussetzungen des Art. 76 EKEK aus der Regulierung entlassen.195 Unter einem „Netz mit sehr hoher Kapazität“ versteht man gem. Art. 2 Nr. 2 EKEK „entweder ein elektronisches Kommunikationsnetz, das komplett aus Glasfaserkomponenten zumindest bis zum Verteilerpunkt am Ort der Nutzung besteht, oder ein elektronisches Kommunikationsnetz, das zu üblichen Spitzenlastzeiten eine ähnliche Netzleistung in Bezug auf die verfügbare Downlink- und Uplink-Bandbreite, Ausfallsicherheit, fehlerbezogene Parameter, Latenz und Latenzschwankung bieten kann; die Netzleistung kann als vergleichbar gelten, unabhängig davon, ob der Endnutzer Schwankungen feststellt, die auf die verschiedenen inhärenten Merkmale des Mediums zurückzuführen sind, über das das Netz letztlich mit dem Netzabschlusspunkt verbunden ist.“ Eine Konkretisierung des Begriffs erfolgt gem. Art. 82 EKEK mithilfe von Leitlinien, die durch das GEREK bis zwei Jahre nach Inkrafttreten des EKEK zu erlassen sind und in denen die Mindestkriterien für „Netze mit sehr hoher Kapazität“ festgelegt werden. 135 In Art. 76 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK wird der Anwendungsbereich für Regulierungserleichterungen definiert.196 Hiervon können Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht (Art. 67 EKEK) profitieren, sofern sie Vereinbarungen zum kooperativen Netzausbau unter den Voraussetzungen des Art. 79 und Art. 76 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a–e EKEK anbieten, um Netze mit sehr hoher Kapazität auszubauen. Hierzu gehört bspw., dass zu den entstehenden Netzen offener Zugang für alle Netzanbieter gewährt wird (lit. a).197 Mithilfe von lit. d werden Anreize für die Beteiligung an Ko-Investitionen geschaffen und die Investiti193 Neumann N&R 2018, 204 (210). 194 Vgl. zum Konnex zu Art. 76 EKEK Neumann N&R 2018, 204 (210). 195 Vgl. zu Art. 76 EKEK ausführlich Neumann/Sickmann K&R 2018, 92 (94 ff.), vgl. auch Nigge/Horstmann MMR 2018, 721 (723 f.). 196 Der Anwendungsbereich ist beschränkt auf Netze aus Glasfaserelementen bis zum Grundstück des Endnutzers (FTTB) oder bis zur Funkbasisstation (FTTC), Neumann N&R 2018, 204 (208); zur ökonomischen Bewertung Briglauer/Cambini, S. 34 und Krämer/Vogelsang Rev Netw Econ 2016, 15 (I): S. 35 ff. 197 Vgl. zu den übrigen Kriterien Neumann N&R 2018, 204 (209).

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onsamortisation für beteiligte Unternehmen erleichtert.198 Die Kriterien werden durch das GEREK in Form von Leitlinien weiter ausdifferenziert (Art. 76 Abs. 4 EKEK). Sofern die Voraussetzungen erfüllt sind und zumindest ein weiteres Unternehmen an der 136 Ko-Investition beteiligt ist, muss die Zusage durch die nationale Regulierungsbehörde für verbindlich erklärt und von der Auferlegung weiterer Regulierungsverpflichtungen mit Bezug auf die Netze mit sehr hoher Kapazität abgesehen werden. Es kommt mithin zu einer obligatorischen Regulierungsfreistellung, für die allerdings weiterhin einige Ausnahmen existieren, so dass auf die konkreten Erfordernisse des spezifischen Marktes reagiert werden kann.199 Kriterien, die nicht von Art. 76 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a–e erfasst sind, können gem. Art. 76 Abs. 2 UAbs. 2 EKEK weiterhin im Rahmen von Regulierungsverpflichtungen berücksichtigt werden. Ausnahmen zur Regulierungsfreistellung aus Art. 76 Abs. 2 UAbs. 1 EKEK sind unter den Voraussetzungen des Art. 76 Abs. 2 UAbs. 3 EKEK möglich. Gem. Art. 76 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK können nationale Regulierungsbehörden die Einhaltung der Bedingungen des Art. 76 Abs. 1 EKEK fortlaufend überwachen und von den Unternehmen die jährliche Vorlage einer Konformitätserklärung fordern. Darüber hinaus können bei Streitigkeiten über Ko-Investitionserklärungen durch die Regulierungsbehörde gem. Art. 76 Abs. 3 UAbs. 2 EKEK Entscheidungen nach Art. 26 Abs. 1 EKEK getroffen werden. 5. Verfahren für Verpflichtungszusagen (Art. 79 EKEK) Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht erhalten über Art. 79 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK 137 die Möglichkeit, nationalen Regulierungsbehörden Verpflichtungen zum Zugang oder zu kooperativen Investitionen in ihre Netze vorzuschlagen.200 Diese können sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen. Möglich sind bspw. Verpflichtungszusagen zu Kooperationsvereinbarungen in Bezug auf die Bewertung geeigneter und angemessener Verpflichtungen gem. Art. 68 EKEK (lit. a). Denkbar sind auch Verpflichtungszusagen, die Kooperationen iSd Art. 76 EKEK zum Gegenstand haben (lit. b) oder im Kontext zu Zugangsverpflichtungen und freiwilliger Trennung iSd Art. 78 EKEK (lit. c) stehen. Es werden hohe Anforderungen an die Inhalte von Verpflichtungszusagen gestellt (Art. 79 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK). Die Bewertung der angebotenen Verpflichtungen erfolgt auf Basis des Verfahrens gem. Art. 79 Abs. 2 EKEK. Im Kern wird geprüft, ob es sich um ein Substitut für die Auferlegung einer Regulierungsverfügung handelt. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, zusätzlich durch die nationale Regulierungsbehörde unter den Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK die Verpflichtungen bindend auszugestalten. In Art. 79 Abs. 4 EKEK befinden sich Verfahrensregelungen zur Überprüfung der Einhaltung bindend ausgestalteter Verpflichtungen.201 6. Konkretisierung der aufzuerlegenden Verpflichtung und Ermessensvorsteuerung Die soeben dargestellten sekundärrechtlichen Verpflichtungsermächtigungen räumen den 138 nationalen Regulierungsbehörden jeweils ein Ermessen ein („können“), ob und, wenn ja, in welcher Form sie die in Art. 61 und 69–74, 76–81 EKEK sowie Art. 83 EKEK vorgesehenen Verpflichtungen auferlegen. Da die Normen – für das Richtlinienrecht charakteristisch – zum Großteil sehr abstrakt und unbestimmt sind, müssen sie aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit ausgefüllt bzw. konkretisiert werden. Die Entscheidung über die Auswahl und die damit einhergehende Konkretisierung der aufzuerlegenden Ver198 199 200 201

Vgl. hierzu auch Neumann N&R 2018, 204 (209). Neumann N&R 2018, 204 (209); vgl. zur Diskussion auch Neumann/Sickmann K&R 2018, 92 (95). Nigge/Horstmann MMR 2018, 721 (723). Neumann N&R 2018, 204 (209 f.).

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§ 4 Telekommunikationsrecht pflichtungen obliegt dabei insbesondere nach Auffassung der Kommission nicht dem nationalen Gesetzgeber, sondern der jeweiligen nationalen Regulierungsbehörde (dazu → Rn. 139 ff.). Eine gewisse Einflussnahme auf die Entscheidungspraxis der nationalen Regulierungsbehörden erfolgt dagegen verstärkt durch die Kommission und das GEREK, die versuchen, mit Harmonisierungsempfehlungen auf der Grundlage des Art. 38 EKEK (Kommission) bzw. gemeinsamen Positionen (GEREK) die Auswahl und Konkretisierung der aufzuerlegenden Abhilfemaßnahmen einheitlich vorzusteuern (dazu → Rn. 143 ff.). a) Keine Ermessensvorsteuerung durch den nationalen Gesetzgeber

139 Auch wenn die Regelungen zu den Abhilfemaßnahmen aus Art. 61 und 69–74, 76–81 EKEK sowie Art. 83 EKEK idR direkt die nationalen Regulierungsbehörden adressieren, sind die Richtlinien an die Mitgliedstaaten gerichtet, die deren verbindliche Ziele in nationales Recht umzusetzen haben (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Dazu gehört insbesondere, wie von Art. 68 Abs. 1 EKEK verlangt, sicherzustellen, dass die nationalen Regulierungsbehörden befugt sind, die in Art. 69–74 und 76–81 EKEK vorgesehenen Verpflichtungen aufzuerlegen. Es müssen daher im nationalen Recht entsprechende Verpflichtungsermächtigungen geschaffen werden. Der deutsche Gesetzgeber beschränkte sich in der Vergangenheit jedoch nicht darauf, die relativ abstrakt gehaltenen Richtlinienvorschriften zu den Abhilfemaßnahmen einfach (inhaltsidentisch) in das TKG zu übernehmen. Er versuchte oftmals, diese zu präzisieren und das unionsrechtlich eingeräumte weite Ermessen der Regulierungsbehörde gewissermaßen typisierend vorzustrukturieren. So wurde bspw. das Ermessen der BNetzA bei der Auferlegung von Zugangsverpflichtungen (Art. 12 Abs. 1 ZRL, heute Art. 73 Abs. 1 EKEK) insoweit vorgesteuert, als die BNetzA gem. § 21 Abs. 3 TKG bestimmte Zugangsverpflichtungen auferlegen „soll“, dh im Regelfall – aufgrund des intendierten Ermessens – auferlegen muss.202 Dieses Problem wird auch im Rahmen der Umsetzung des EKEK kritisch zu prüfen sein. Eine noch deutlichere Vorstrukturierung des unionsrechtlich eingeräumten behördlichen Ermessens erfolgte bislang im Rahmen des § 30 TKG aF. Dieser gab der BNetzA ein gesetzliches Regel-Ausnahme-Verhältnis bei der Frage vor, wann ein Unternehmen einer Ex-ante-Entgeltgenehmigungspflicht unterworfen wird und wann nur einer Ex-post-Entgeltkontrolle. Besonders im Bereich der Entgeltregulierung (§§ 27–39 TKG) erfolgte zudem eine deutliche Konkretisierung bzw. Ausdifferenzierung der wenigen Vorgaben aus Art. 13 ZRL (heute Art. 74 EKEK), welche die Handlungsspielräume der BNetzA damit ebenfalls (mittelbar) eingrenzt. Aus rein verfassungsrechtlicher Perspektive erscheint diese Vorgehensweise des deutschen Gesetzgebers nicht nur legitim, sondern vielmehr sogar erforderlich, verlangt doch der Parlamentsvorbehalt bzw. die vom BVerfG entwickelte Wesentlichkeitslehre, dass grundrechtswesentliche Entscheidungen von der Legislative selbst getroffen werden müssen und nicht der Exekutive überlassen bleiben dürfen.203 Nach dem aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Grundsatz der Normenbestimmtheit204 müssen Gesetze, welche die Exekutive zur Vornahme von Verwaltungsakten ermächtigen, zudem nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt sein.205 Mit Blick auf die hohe Grundrechtsrelevanz, die Verpflichtungen aus dem Bereich der Zugangs- und Entgeltregulierung besitzen, erscheint daher eine Konkretisierung der abstrakten Richtlinienvorgaben aus rein verfassungsrechtlicher Sicht angezeigt. 202 Kühling/Schall/Biendl, Rn. 282 f.; VG Köln 1.3.2007 – 1 K 4148/06, bestätigt durch BVerwGE 131, 41. 203 BVerfG 8.8.1978 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 (126); BVerfG 20.10.1982 – 1 BvR 1470/80, BVerfGE 61, 260 (275); BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (116). 204 BVerfG 17.7.2003 – 2 BvL 1/99, BVerfGE 108, 186 (235). 205 BVerfG 8.1.1981 – 2 BvL 3/77, BVerfGE 56, 1 (12).

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Gerade die soeben beschriebene Vorstrukturierung des behördlichen Ermessens geriet je- 140 doch in die Kritik der Kommission, die darin Richtlinienverstöße erkannte und deshalb verschiedene Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einleitete.206 In seinem durchaus kritisch zu bewertenden Urteil zu § 9 a TKG aF teilte der EuGH in einem ähnlich gelagerten Fall die Auffassung der Kommission und sah sowohl in dem gesetzlich vorgegebenen Grundsatz der Nichtregulierung neuer Märkte als auch in der gesetzlichen Definition „neuer Märkte“ einen Verstoß gegen Richtlinienrecht. Mittlerweile sind Vorschriften zur Nichtregulierung neuer Märkte in Art. 76 EKEK auch richtlinienrechtlich vorstrukturiert, so dass unter heutigen Bedingungen eine dem § 9 a TKG aF vergleichbare Norm ggf. zulässig wäre. Diese Rechtsprechung lässt sich auch auf die soeben aufgezeigten Fälle der Ermessensvorstrukturierung bei der Auferlegung von Abhilfemaßnahmen übertragen. Im Übrigen hielt auch das BVerwG die Ermessenslenkung des Gesetzgebers in § 30 TKG aF für unvereinbar mit dem Richtlinienrecht und hat die Vorschrift deshalb – entgegen seinem Wortlaut – unionsrechtskonform als Ermessensvorschrift uminterpretiert.207 Mittlerweile hat der Gesetzgeber darauf reagiert und der BNetzA im Rahmen einer TKG-Novelle ein umfassendes Ermessen bei der Auswahl einer Ex-ante- oder Ex-post-Entgeltregulierung nach § 31 TKG eingeräumt, ohne sich aber gänzlich von seiner „Regelbeispiel-Systematik“ abzukehren.208 Ein vergleichbares Szenario ergibt sich im Hinblick auf § 21 TKG. Dessen Abs. 3 ist als sogenannte „Soll-Vorschrift“ ausgestaltet, die allerdings als „Kann-Bestimmung“ interpretiert werden muss (vgl. dazu → Rn. 139). Interessanterweise scheint dagegen die direkte Auferlegung der in Teil III (Dienste) des 141 EKEK (Universaldienstverpflichtungen) zum Schutz bzw. im Interesse der Endnutzer vorgesehenen Verpflichtungen (vgl. dazu näher → Rn. 193 ff.) durch den deutschen Gesetzgeber für die Kommission kein Problem darzustellen. Denn obwohl die diesbezüglichen Vorschriften idR „nur“ vorsehen, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollen, dass ihre nationale Regulierungsbehörde die vorgesehenen Verpflichtungen auferlegen kann, greifen die entsprechenden Verpflichtungen in Deutschland – von der Kommission bisher nicht beanstandet – regelmäßig ipso iure.209 Aber auch die (sonstigen) gesetzlichen Konkretisierungen der abstrakten Richtlinienvorga- 142 ben sind vor diesem Hintergrund nicht unproblematisch. Auch sie schränken zumindest mittelbar den Ermessensspielraum der BNetzA ein. Zudem kann eine zu starke gesetzgeberische Konkretisierung der möglichen Abhilfemaßnahmen dazu führen, dass die BNetzA etwaigen Harmonisierungsempfehlungen der Kommission (dazu sogleich → Rn. 143 ff.) nicht wie von Art. 38 Abs. 2 S. 1 EKEK gefordert „weitestgehend Rechnung tragen“ kann.210 b) Vorsteuerung und Konkretisierung durch Harmonisierungsempfehlungen und GEREKPositionen Parallel zu der in Deutschland bisher zu einem Großteil vom Gesetzgeber vorgenomme- 143 nen Vorstrukturierung und Konkretisierung der Abhilfemaßnahmen erfolgt zunehmend 206 Besonders prominent insoweit das Vertragsverletzungsverfahren betreffend § 9 a TKG aF (C-424/07). Das Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2004/2221 wegen der Ermessensvorstrukturierung in § 30 TKG wurde dagegen wegen zwischenzeitlicher Änderungen am § 30 TKG nicht weiterverfolgt. Der EuGH hat in der Entscheidung EuGH 3.12.2009 – C-424/07, Slg 2009, I-11431 – Kommission/Deutschland – jedoch festgestellt, dass zumindest ein Verstoß gegen Richtlinienrecht vorliegt. 207 BVerwG 28.1.2009 – 6 C 39.07, MMR 2009, 786 (789). 208 Kühling in Geppert/Schütz, 4. Aufl. München, 2013, § 30 Rn. 26 ff. 209 Vgl. dazu bspw. die gesetzlichen Verpflichtungen der Anbieter in §§ 45 d Abs. 2 und 45 e TKG. 210 Vgl. zu dieser Problematik mit Blick auf die Regulierung der Mobilfunk-Terminierungsentgelte und die diesbezügliche Empfehlung 2009/396/EG, Kühling/Schall CR 2012, 82 (83).

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eine harmonisierte Vorsteuerung und Ausdifferenzierung der diesbezüglichen Richtlinienvorgaben auf EU-Ebene. 144 Dies geschieht einerseits durch die nationalen Regulierungsbehörden selbst, die im GEREK-Verbund Stellungnahmen, Empfehlungen, Leitlinien und Ratschläge zu bestimmten Themen entwickeln, andererseits aber auch weniger kooperativ durch den Erlass entsprechender Harmonisierungsempfehlungen durch die Kommission. So hat das GEREK neben einer Vielzahl von Positionen und Standpunkten211 zu speziellen Themen unter anderem auch eine umfassende gemeinsame Position zu angemessenen regulatorischen Abhilfemaßnahmen entwickelt212 und den nationalen Regulierungsbehörden damit einen Leitfaden für die Auswahl und Konkretisierung angemessener Abhilfemaßnahmen an die Hand gegeben. Zu den relevanten Harmonisierungsempfehlungen im Bereich der Abhilfemaßnahmen gehören unter anderem die NGA-Empfehlung,213 in der die Kommission umfassende Empfehlungen ausspricht, wie neue hochleistungsfähige (Glasfaser-)Infrastrukturen künftig reguliert werden sollten, sowie speziell im Bereich der Entgeltregulierung und flankierenden Abhilfemaßnahmen die Empfehlungen 2009/396/EG über die Regulierung der Festnetz- und Mobilfunk-Terminierungsentgelte214 und 2005/698/EG über die getrennte Buchführung und Kostenrechnungssysteme. 145 Die entsprechenden Positionen und Empfehlungen müssen dann von den nationalen Regulierungsbehörden bei der Auswahl und Auferlegung konkreter Regulierungsmaßnahmen berücksichtigt werden. Für Harmonisierungsempfehlungen der Kommission ergibt sich dies unmittelbar aus Art. 38 Abs. 2 S. 1 EKEK. Aber auch den gemeinsamen Positionen des GEREK sollten die nationalen Regulierungsbehörden möglichst Rechnung tragen, da das GEREK mit in das Konsolidierungsverfahren nach Art. 32, 33 EKEK eingebunden ist und insoweit konkrete Stellungnahmen zu den Marktregulierungsentscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden abgeben kann, die dann von diesen weitestgehend zu berücksichtigen sind (Art. 32 Abs. 8 EKEK).215 Diese konkreten Stellungnahmen des GEREK werden dabei wiederum regelmäßig an vorhandene gemeinsame Positionen und Standpunkte ausgerichtet sein. 146 Gegen die weiche Vorstrukturierung der Abhilfemaßnahmen durch GEREK-Positionen bestehen grundsätzlich keine Bedenken. Etwaige Entscheidungen werden grundsätzlich mit einer einfachen Mehrheit und in bestimmten Sonderkonstellationen mit einer Zweidrittel-Mehrheit beschlossen (Art. 12 Abs. 1 GEREK-VO). Das GEREK dient dabei als Forum der nationalen Regulierungsbehörden zum Erfahrungsaustausch und kann insoweit einen (lernenden) Wettbewerb der Regulierungsansätze in den verschiedenen Mitgliedstaaten beflügeln. Die zunehmende und immer detailliertere Vorsteuerung auf der „remedies“-Ebene durch Harmonisierungsempfehlungen der Kommission ist dagegen kritisch zu bewerten. Diese Empfehlungen, deren „Einhaltung“ die Kommission mit Argusaugen überwacht, untergraben die sekundärrechtlich gewährte Letztentscheidungsbefugnis der nationalen Regulierungsbehörden in diesem Bereich (vgl. Art. 33 Abs. 7 EKEK). Irritierend ist vor allem die extensive Interpretation der Tatbestandsvoraussetzung des Art. 38 Abs. 1 EKEK. Dies zeigt sich bspw. an der Empfehlung 2009/396/EG über die Regulierung der Terminie211 Die Dokumente des GEREK sind abrufbar im WWW unter URL: https://berec.europa.eu/eng/docume nt_register/subject_matter/berec/ (letzter Abruf: 7.1.2020). 212 Draft review of the BEREC Common Position on geographical aspects of market analysis (definition and remedies) v. 5.12.2013, BoR (13), 186. 213 Empfehlung 2010/572/EU. 214 Kritisch dazu, insbes. mit Blick auf die Rechtslage nach dem TKG 2012, Kühling/Schall CR 2012, 82 (85 ff.); vgl. auch Kleinlein/Schubert N&R 2017, 270. 215 Vgl. hierzu auch Art. 4 Abs. 4 GEREK-VO.

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rungsentgelte. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei Terminierungsmärkten um national, im Festnetzbereich regelmäßig sogar um lokal abgegrenzte Märkte handelt, ist es nur schwer nachvollziehbar, weshalb die Kommission – wie von Art. 38 Abs. 1 EKEK vorausgesetzt – der Ansicht ist, dass durch die unterschiedliche Regulierung der Terminierungsentgelte und die daraus resultierende unterschiedliche Entgelthöhe in den Mitgliedstaaten ein Hindernis für den Binnenmarkt entstehen könne.216 Auch im Übrigen lässt sich die Sinnhaftigkeit des von der Kommission zunehmend verfolgten und aufoktroyierten „Onesize-fits-all“-Ansatzes bezweifeln. Unterschiedliche Regulierungsansätze in den Mitgliedstaaten sind nicht per se ein Hindernis für den Binnenmarkt, sondern können im Gegenteil zu einem wünschenswerten lernenden Wettbewerb der Regulierungsbehörden untereinander beitragen, bei dem sich regelmäßig von selbst der adäquateste Regulierungsansatz herauskristallisiert. 7. Exkurs: Beteiligungsrechte und Rechtsschutz Zwar sind die Beteiligungsrechte und der Rechtsschutz in allen entscheidungsrelevanten Kontexten von Bedeutung. Die Zugangs- und Entgeltregulierung sind jedoch das Herzstück des telekommunikationsrechtlichen Regulierungsregimes. Die entsprechenden Entscheidungen der Regulierungsbehörden sind besonders eingriffsintensiv, so dass das Thema des Rechtschutzes und der Beteiligungsrechte besonders virulent ist. Das europäische Telekommunikationsrecht trifft nicht nur umfassende Vorgaben hinsichtlich des behördlichen Designs zum effektiven exekutiven Vollzug der telekommunikationsrechtlichen Bestimmungen, sondern normiert auch Beteiligungsrechte und Vorgaben für einen effektiven Rechtsschutz. Dabei sind die Beteiligungsrechte sehr weit gefasst. Sie sind keineswegs nur auf einen effektiven Rechtsschutz ausgerichtet, sondern sollen auch der Verbesserung der Entscheidungsqualität dienen. Das wird an der weiten Fassung der diesbezüglichen Zentralnorm des Art. 23 EKEK deutlich, die für sämtliche Maßnahmen der nationalen Regulierungsbehörden, die auf der Basis des EU-Telekommunikationsrechts ergehen, immer dann eine umfassende Konsultation entsprechender Entwürfe durch sämtliche interessierte Parteien verlangt, wenn die Maßnahme „beträchtliche Auswirkungen auf den betreffenden Markt“ haben wird. Ferner sind Anhörungsverfahren einschließlich ihrer Ergebnisse zu veröffentlichen und eine Liste der laufenden Anhörungsverfahren publik zu machen. Diese umfassenden Konsultationsprozesse liefern gegebenenfalls der Kommission zugleich wertvolle Informationen, um ihre Aufgaben im Verwaltungsverbund zu erfüllen. Das europäische Telekommunikationsrecht hat insoweit jedenfalls wichtige Impulse für transparente und partizipationsoffene Entscheidungsprozesse gegeben. In Art. 26 EKEK finden sich im Übrigen Vorschriften zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Unternehmen. Diese werden in Art. 27 EKEK durch Vorschriften für grenzüberschreitende Streitigkeiten ergänzt. Art. 31 EKEK definiert schließlich Mindeststandards für einen effektiven Rechtsschutz gegen jenes Handeln der nationalen Regulierungsbehörde. Dabei verlangen Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1–3 EKEK die Unabhängigkeit und einen angemessenen Sachverstand in Bezug auf jene Beschwerdestelle sowie im Ergebnis wirksame Beschwerdemechanismen. Besonders hervorzuheben ist zudem Art. 31 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK, der sektorspezifisch das nationale Verwaltungsprozessrecht beeinflusst. So soll nach dieser Bestimmung der Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden der Regelfall sein. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung 216 Eingehend zur diesbezüglichen Kritik Haucap in Cave/Haucap/Padilla/Renda/Williamson, S. 29 ff. Dem folgend Kühling/Schall CR 2012, 82 (87).

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bedarf daher einer expliziten Entscheidung der Beschwerdeinstanz. Diese Regel-Ausnahme-Verteilung hat sich als besonders wichtig für die rasche Schaffung funktionsfähigen Wettbewerbs herausgestellt.217 151 Im Übrigen hat der EuGH die Anforderungen an die Effektivität des Rechtsbehelfs ausdifferenziert. Zunächst hat er festgestellt, dass eine entsprechende Entscheidung eine umfassende Information der Beschwerdestelle voraussetzt. Dazu gehören auch vertrauliche Informationen, die von der nationalen Regulierungsbehörde der Beschwerdestelle unter Wahrung der Vertraulichkeit zu übermitteln sind.218 Ferner hat sich der EuGH dafür ausgesprochen, dass eine Effektivität im Zweifel voraussetzt, dass auch Dritte gegen entsprechende Regulierungsverfügungen vorgehen können. Denn auch Unternehmen, die zwar nicht Adressat der Regulierungsentscheidung, aber als Wettbewerber der Verfügungsadressaten von dieser beeinträchtigt sind,219 gelten als „betroffen“ iSd Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EKEK.220 Insoweit genügt also, dass das Unternehmen in seinen Rechten von einer solchen Entscheidung potenziell betroffen ist.221 In der Folge hat der EuGH eine Klagebefugnis der Wettbewerber im Fall einer Entscheidung über die Aufhebung von Regulierungsverpflichtungen im Anschluss an die Feststellung einer fehlenden Marktbeherrschung im Rahmen des Marktanalyseverfahrens abgeleitet.222 Zugleich betont der EuGH allerdings, dass dies nicht notwendig eine Parteistellung im vorausgehenden nicht streitigen Marktanalyseverfahren erfordere, solange eine fehlende Parteistellung nicht einen späteren effektiven Rechtsschutz verhindere bzw. den Grundsatz der Äquivalenz verletze.223 152 Die Vollzugsverflechtung stellt den effektiven Rechtsschutz vor große, aber bewältigbare Herausforderungen. Im Ergebnis entstehen nach der gegenwärtigen Konstruktion der Verbundverwaltung aber keine unionsrechtlich induzierten Rechtsschutzdefizite.224 Dabei unterscheiden sich die Einwirkungen des Vetoverfahrens und des Berücksichtigungsverfahrens auf das nationale Recht mit Blick auf einen effektiven Rechtsschutz nicht grundlegend. Folgt die nationale Regulierungsbehörde – den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 32 Abs. 6 lit. a EKEK entsprechend – einem Veto-Beschluss der Kommission (etwa hinsichtlich eines von der nationalen Regulierungsbehörde ursprünglich als nicht regulierungsbedürftig angesehen Marktes) und führt dies zu einer entsprechenden Verwaltungsentscheidung (etwa zur Auferlegung von Regulierungsinstrumenten gegenüber einem bestimmten Unternehmen), so ist die Frage der Rechtmäßigkeit des Kommissionsbeschlusses gegebenenfalls als streitentscheidende Vorfrage im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH zu beurteilen. Dasselbe gilt im Ergebnis für das Berücksichtigungsverfahren. Hier kann auf nationaler Ebene geprüft werden, ob den Stellungnahmen der Kommission (und denjenigen der übrigen nationalen Regulierungsbehörden, die in der Praxis aber kaum erfolgen)225 entsprechend der Vorgabe des Art. 32 Abs. 8 EKEK weitest217 218 219 220 221 222 223 224 225

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Dazu Kühling, Sektorspezifische Regulierung, S. 374. EuGH 13.7.2006 – C-438/04, Slg 2006, I-6675, Rn. 43 – Mobistar. EuGH 21.2.2008 – C-426/05, Slg 2008, I-685, Rn. 43 – Tele2 Telecommunication. Diese Rspr. setzt der EuGH 22.1.2015 – C-282/13, MMR 2015, 197, Rn. 37 – T-Mobile Austria GmbH – fort. EuGH 21.2.2008 – C-426/05, Slg 2008, I-685, Rn. 43 – Tele2 Telecommunication. EuGH 21.2.2008 – C-426/05, Slg 2008, I-685, Rn. 40 – Tele2 Telecommunication; ähnlich auch der EuGH mit Blick auf Art. 5 a Abs. 3 der RL 90/387/EWG (iVm Art. 4 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 2887/2000), EuGH 24.4.2008 – C-55/06, Slg 2008, I-2931, Rn. 171 ff. – Arcor. EuGH 21.2.2008 – C-426/05, Slg 2008, I-685, Rn. 49 ff. – Tele2 Telecommunication. Etwas skeptischer insoweit die Bewertung bei Ladeur/Möllers DVBl. 2005, 525 (530 f.), die allerdings zu vergleichbaren Ergebnissen wie vorliegend kommen. Im Ergebnis hält auch Trute in FS Selmer, S. 582 ff., Rechtsschutzprobleme für lösbar. Dazu Groebel, S. 77.

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gehend Rechnung getragen worden ist, und dies kann ebenso wie die Frage des rechtmäßigen Inhalts entsprechender Stellungnahmen der Kommission gegebenenfalls auch Gegenstand eines Vorlageverfahrens sein. Eine Rechtsschutzlücke entsteht insoweit nicht. Praktisch erschwert die Vollzugsverflechtung die Rechtsverfolgung gleichwohl, da die jeweiligen „Teilautoren“ der Beschlüsse und die einschlägigen Rechtsbehelfe schwieriger zu identifizieren sind und damit eine entsprechende Unsicherheit entsteht. Das Rechtsschutzsystem kann daher nicht als „eingeschwungen“ bezeichnet werden, da sich schon wegen der erheblichen Verfahrensverzögerungen die nationalen Gerichte nur zögerlich zu entsprechenden Vorlagen entscheiden. Die schon administrativ problematische „Vollzugsverflechtung“ setzt sich insoweit als problematisch im Rahmen des Rechtsschutzes fort. Eine andere Frage ist sodann die der Kontrolldichte. So ist davon auszugehen, dass ange- 153 sichts des weiten Einschätzungsspielraums, den der EuGH der Kommission in wirtschaftlich relevanten Sachverhalten einräumt, nur eine begrenzte richterliche Kontrolle der entsprechenden Kommissionsentscheidungen und -stellungnahmen erfolgen wird. Dies ist zwar dem regulatorischen System tendenziell immanent, das angesichts seiner Komplexität und der notwendigen Flexibilität eine starke Rolle der Exekutive impliziert, aber gleichwohl angesichts der erheblichen Grundrechtssensibilität der regulatorischen Entscheidungen nicht unproblematisch. Im Übrigen hängt der Umfang der Überprüfung des „europäischen Anteils“ an der Verbundverwaltung davon ab, inwieweit das jeweilige nationale Recht überhaupt eine Kontrolle der influenzierten nationalen Entscheidung eröffnet. Sieht das nationale Recht insoweit einen Beurteilungsspielraum der nationalen Regulierungsbehörde vor (wie etwa in § 10 Abs. 2 S. 2 TKG für die Marktdefinition), so wird der unionsrechtliche Anteil einer solchen Entscheidung insoweit der Überprüfung im Rahmen des Vorlageverfahrens entzogen, als der Beurteilungsspielraum reicht. Das führt zu dem in einer Verbundverwaltung zu akzeptierenden Umstand, dass auch eine unionsrechtliche Entscheidung durch ein nationales Gesetz partiell einer umfassenden Kontrolle durch die Gerichte entzogen wird. Befriedigend ist diese Vorgehensweise jedoch nicht, so dass eine allzu ausufernde Anerkennung von Beurteilungsspielräumen auf nationaler Ebene problematisch ist. Wichtig ist jedenfalls zu betonen, dass das Unionsrecht selbst eine solche Abschirmung nicht verlangt, auch wenn sie dem europäischen Ansatz durchaus entspricht. So hat der EuGH in einem Urteil zur TAL-VO klargestellt, dass sich aus den einschlägigen Normen keinesfalls zwingend Beurteilungsspielräume für die nationalen Regulierungsbehörden mit der Folge einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle ableiten ließen.226 Der Umfang der gerichtlichen Kontrolle richtet sich also ausschließlich nach nationalem Recht. Wenn die Beurteilungsspielräume im TKG demnach als zu weitgehend einzustufen sind, 154 ist dies kein Problem des Unionsrechts, sondern ein solches des deutschen Rechts. Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung des BVerwG zunehmend problematisch, Beurteilungs- und Ermessensspielräume auch in Bereichen anzunehmen, in denen diese nicht explizit ausgewiesen sind.227 Das führt dazu, dass nicht nur die ministeriale Kontrolle zu226 EuGH 24.4.2008 – C-55/06, Slg 2008, I-2931, Rn. 163 ff. – Arcor. Das Urteil bezieht sich jedoch explizit auf den alten Rechtsrahmen und insbes. auf die TAL-Verordnung. 227 So etwa das BVerwG 2.4.2008 – 6 C 15.07, BVerwGE 131, 41 (44 ff.), das einen umfassenden Beurteilungsspielraum im Bereich der Marktdefinition und Marktanalyse wegen des unionsrechtlich vorgegebenen grenzüberschreitenden Konsolidierungsverfahrens und der damit einhergehenden Interventionsmöglichkeiten der Kommission für unionsrechtlich geboten hält. In der Entscheidung BVerwG 17.8.2016 – 6 C 50/15, BVerwGE 156, 75 (80 ff.) geht das Gericht davon aus, dass ein Beurteilungsspielraum für die Bestimmung der angemessenen Verzinsung im Rahmen der Ermittlung der Kosten für eine effiziente Leistungsbereitstellung bestehe. Dahingegen bestehe gem. BVerwG 25.11.2015 – 6 C 39.14, BVerwGE 153, 265 (267 ff.) kein Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Ermittlung konkreter Stundensätze, vgl. hierzu auch Heinickel NVwZ 2016, 387 (393).

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§ 4 Telekommunikationsrecht rückgedrängt und die legislative Vorstrukturierung reduziert wird, wie es das europäische Telekommunikationsrecht vorgibt, sondern auch die Judikative sich zurückzieht und die BNetzA zunehmend in einem problematischen Kontrollvakuum agiert, obwohl dies regelmäßig nicht vom nationalen Gesetzgeber explizit so normiert wurde.

III. Knappe Ressourcen: Frequenzen, Nummern und Wegerechte 155 Neben den Vorgaben aus dem Bereich der ökonomischen Regulierung enthält der EKEK auch Vorschriften über den Zugang zu knappen bzw. (faktisch) begrenzten Ressourcen, die für den Aufbau einer Telekommunikationsinfrastruktur und die Erbringung von Telekommunikationsdiensten essenziell sind. Konkret handelt es sich dabei um Vorschriften über Funkfrequenzen (dazu → Rn. 156 ff.) sowie Nummern und Wegerechte (dazu → Rn. 177 ff.). 1. Vorschriften über Funkfrequenzen 156 Mit dem stetigen Wachstum im Bereich der mobilen Kommunikation, insbesondere der mobilen Breitbanddienste, steigt auch der Bedarf an Funkfrequenzen kontinuierlich. Funkfrequenzen sind jedoch begrenzt, zumal nicht nur Telekommunikationsanbieter, sondern auch Rundfunkanbieter diese Ressourcen zur Erbringung ihrer Dienste benötigen. Mit den Vorschriften in Teil II, Titel I, Kapitel II des EKEK wurde ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der eine in seinen Grundlagen harmonisierte und effiziente Frequenzpolitik und -nutzung in den Mitgliedstaaten sicherstellen soll. Während die Art. 4, 28, 45 und 51 EKEK dabei eher allgemeinere Vorgaben in Bezug auf eine koordinierte Funkfrequenzpolitik, die Verwaltung von Funkfrequenzen für elektronische Kommunikationsdienste sowie den Handel mit Funkfrequenzen enthalten (dazu → Rn. 157 ff.), widmen sich die einschlägigen Vorschriften des EKEK dem Kernbereich der Frequenzverwaltung, nämlich der Frage, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen Telekommunikationsanbieter entsprechende Funkfrequenzen nutzen dürfen (dazu → Rn. 167 ff.). Ergänzend treten Vorschriften zur Erhebung von Entgelten hinzu (dazu → Rn. 170) sowie weitere Vorschriften zur Funkfrequenznutzung (dazu → Rn. 171). a) Allgemeine Vorschriften zur Funkfrequenzpolitik und -verwaltung sowie zum Funkfrequenzhandel (Art. 4, 28, 45 und 51 EKEK) aa) Strategische Planung und Koordinierung der Funkfrequenzpolitik (Art. 4 EKEK) 157 Art. 4 Abs. 1 EKEK sieht vor, dass die Mitgliedstaaten, die für die Frequenzverwaltung in ihrem Hoheitsgebiet verantwortlich sind, untereinander und mit der Kommission bei der strategischen Planung, Koordinierung und Harmonisierung der Funkfrequenznutzung „im Einklang mit den Strategien der Union für die Einrichtung und Funktionsweise des Binnenmarkts im Bereich der elektronischen Kommunikation“ zusammenarbeiten, mit dem Ziel, die Nutzung der Frequenzen zu optimieren und funktechnische Störungen (auch über die Grenzen hinaus) zu vermeiden. Vor dem Hintergrund, dass nationale Grenzen für eine optimale Nutzung von Funkfrequenzen zunehmend an Bedeutung verlieren und bei einer uneinheitlichen Funkfrequenzverwaltung die Gefahr besteht, dass Investitionen und Innovationen beschränkt, Größenvorteile von Funknetzbetreibern und Geräteherstellern unterbunden werden und die Entwicklung des Binnenmarktes insoweit behindert wird, haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 4 Abs. 2 EKEK gemeinsame Konzepte im Bereich der Frequenzpolitik sowie gegebenenfalls harmonisierte Bedingungen hinsichtlich der Verfüg-

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barkeit und der effizienten Nutzung von Frequenzen zu fördern.228 Der diesbezügliche politische und rechtliche Rahmen, insbesondere zur Harmonisierung der Verfügbarkeit und Nutzung von Frequenzen, wurde mit der Frequenzentscheidung geschaffen.229 Flankierend dazu können das Europäische Parlament und der Rat mehrjährige Program- 158 me im Bereich der Funkfrequenzpolitik aufstellen, die politische Orientierungen und Ziele für die strategische Planung und die Harmonisierung der Frequenznutzung enthalten (Art. 4 Abs. 3 und 4 EKEK). Die Programme und die darin angelegte Koordinierung und Harmonisierung der Frequenznutzung sollen dazu beitragen, dass die Frequenznutzer umfassend vom Binnenmarkt profitieren und dass die Interessen der Europäischen Union weltweit, bspw. innerhalb internationaler Organisationen wie der ITU, wirksam geschützt werden. bb) Koordination der Funkfrequenznutzung zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 28 EKEK) Durch den EKEK wurden die Koordinationsmechanismen der Zusammenarbeit der Mit- 159 gliedstaaten im Rahmen der Frequenznutzung ausgebaut. So muss die Nutzung von Funkfrequenzen gem. Art. 28 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK so organisiert sein, dass die Nutzung harmonisierter Funkfrequenzen in anderen Mitgliedstaaten nicht unterbunden wird. Die Mitgliedstaaten sollen direkt oder über die RSPG miteinander im Rahmen der grenzüberschreitenden Frequenznutzung kooperieren (Art. 28 Abs. 2 EKEK). Hiermit soll eine Befolgung der Regeln des Art. 28 Abs. 2 EKEK (lit.a) ebenso wie eine Beilegung von Problemen und Streitigkeiten bei einer schädigenden Beeinträchtigung der grenzüberschreitenden Nutzung harmonisierter Funkfrequenzen (lit. b) sichergestellt werden. Dies wird über die in Art. 28 Abs. 3 und Abs. 4 EKEK festgeschriebenen Verfahren flankiert. Zusätzlich wird die Europäische Union gem. Art. 28 Abs. 5 EKEK bei Bedarf unterstützend tätig und stellt die effektive Durchsetzung des Unionsrechts sicher. cc) Verwaltung der Funkfrequenzen für die elektronischen Kommunikationsdienste (Art. 45 EKEK) Art. 45 EKEK stellt allgemeine Anforderungen an die Funkfrequenzverwaltung in den 160 Mitgliedstaaten. Unter Betonung des hohen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Wertes der Funkfrequenzen gibt Art. 45 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EKEK den Mitgliedstaaten auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Funkfrequenzen im Einklang mit den Regulierungszielen aus Art. 3 EKEK und den Vorgaben aus Art. 4 EKEK effizient verwaltet werden. Konkretisiert wird dieses Erfordernis in Art. 45 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 lit. a–h EKEK, der besonders relevante Konzepte zusammenfasst. Insbesondere muss gewährleistet werden, dass die Zuweisung von Funkfrequenzen für elektronische Kommunikationsdienste durch die zuständigen Behörden sowie die Erteilung von Allgemeingenehmigungen oder individuellen Nutzungsrechten für solche Funkfrequenzen auf objektiven, transparenten, wettbewerbsfördernden, nicht diskriminierenden und angemessenen Kriterien beruhen (Art. 45 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EKEK). Die Abs. 4 und 5 statuieren jeweils in UAbs. 1 die Grundsätze der Technologie- und 161 Diensteneutralität. Demnach haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass in Frequenzbändern, die in den nationalen Frequenzvergabeplänen für elektronische Kommunikati228 Die Förderung der Harmonisierung der Funkfrequenznutzung und die dadurch erhofften Vorteile für Verbraucher und Frequenznutzer werden in Art. 45 Abs. 2 EKEK noch einmal hervorgehoben. 229 Vgl. dazu Erwägungsgrund 111 EKEK sowie Art. 1 Abs. 1 Frequenzentscheidung; zur Frequenzentscheidung und der Vielzahl der bereits darauf gestützten Harmonisierungsentscheidungen der Kommission bereits Rn. 35 f.

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onsdienste ausgewiesen wurden, grundsätzlich alle Arten von elektronischen Kommunikationsdiensten bereitgestellt (Art. 45 Abs. 5 UAbs. 1 S. 1 EKEK) und die dazu eingesetzten bzw. einsetzbaren Technologien verwendet (Art. 45 Abs. 4 UAbs. 1 EKEK) werden dürfen. Der EU-Gesetzgeber möchte damit die Flexibilität der Frequenzverwaltung erhöhen, um es den Frequenznutzern zu ermöglichen, die besten Dienste und Technologien auszuwählen.230 Ausnahmen bzw. Beschränkungen dieser Grundsätze können nach Maßgabe von Art. 45 Abs. 4 UAbs. 2 sowie Art. 45 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2, UAbs. 2–3 EKEK gerechtfertigt sein. So kann eine Beschränkung für die Nutzung von bestimmten Technologien für drahtlosen Netzzugang gem. Art. 45 Abs. 4 UAbs. 2 EKEK unter anderem zur Vermeidung funktechnischer Störungen (lit. a), dem Schutz der Bevölkerung vor Gesundheitsschäden durch elektromagnetische Felder (lit. b) oder zur Gewährleistung der technischen Dienstequalität erforderlich sein (lit. c). Vorgaben bzw. Beschränkungen betreffend die Art der in einem Frequenzband bereitstellbaren Kommunikationsdienste können bspw. zur Sicherstellung der Anforderungen der ITU-Vollzugsordnung für den Funkdienst erforderlich sein (Art. 45 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 EKEK). Die Zuweisung elektronischer Kommunikationsdienste zu bestimmten, für elektronische Kommunikationsdienste zur Verfügung stehenden Frequenzbändern kann zudem unter den Aspekten des Art. 45 Abs. 5 UAbs. 2 lit. a–d EKEK gerechtfertigt sein. Noch höhere Anforderungen stellt Art. 45 Abs. 5 UAbs. 3 EKEK an eine Maßnahme, die Kommunikationsdienste nicht nur einem bestimmten Frequenzband zuweist, sondern zugleich auch die Bereitstellung aller anderen elektronischen Kommunikationsdienste in diesem Frequenzband untersagt. Zudem sind etwaige Beschränkungen gem. Art. 45 Abs. 6 EKEK einer regelmäßigen Überprüfung zu unterziehen. 162 Sofern die Nachfrage nach der Nutzung eines harmonisierten Frequenzbandes nicht ausreicht, kann unter Rücksichtnahme auf Abs. 4 und Abs. 5 eine alternative Nutzung des Frequenzbandes genehmigt werden (Art. 45 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK). Die spezifischen Voraussetzungen sind in Art. 45 Abs. 3 UAbs. 1 lit. a–c EKEK festgelegt. Durch Art. 45 Abs. 3 UAbs. 2 EKEK wird festgestellt, dass es sich bei der alternativen Nutzung um eine Ausnahme handelt. Es findet eine turnusmäßige Überprüfung der Voraussetzungen statt. Den Mitgliedstaaten steht es frei, auch außerhalb dieser Zeiträume eine Harmonisierungsmaßnahme zu beantragen. Von Entscheidungen oder den Ergebnissen der turnusmäßigen Übertragungen sind die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten in Kenntnis zu setzen. 163 Etwaige Beschränkungen, die vor dem 25.5.2011 festgelegt worden sind, müssen gem. Art. 45 Abs. 7 EKEK mit den Regelungen aus Abs. 4 und Abs. 5 kompatibel sein. Die vorher existente Übergangsvorschrift (Art. 9 Abs. 6 RRL) ist ersatzlos gestrichen worden. dd) Übertragung oder Vermietung individueller Frequenznutzungsrechte (Art. 51 EKEK) 164 Neben den Grundsätzen der Technologie- und Diensteneutralität soll vor allem eine erleichterte Frequenzübertragung für mehr Flexibilität in der Funkfrequenzverwaltung sorgen. Die Mitgliedstaaten haben gem. Art. 51 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK sicherzustellen, dass Unternehmen zumindest ihre individuellen Frequenznutzungsrechte übertragen und vermieten können. Es besteht die Möglichkeit, kostenlos erworbene Funkfrequenzrechte oder Frequenzrechte, die zur Übertragung von Rundfunkdiensten genutzt werden, hiervon auszunehmen (Art. 51 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK). Bei der Übertragung muss grundsätzlich eine Vereinbarkeit mit der harmonisierten Frequenznutzung sichergestellt werden. Der Frequenzhandel hat den Zweck, eine aktuelle Bewertung der Frequenzen durch den Markt zu ermöglichen und bspw. das „Brachliegen“ der im Zuge des technischen Fortschritts nicht 230 Erwägungsgrund 113 EKEK.

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mehr benötigten Frequenzen zu verhindern und zugleich den Markteintritt neuer Unternehmen, die Frequenzen benötigen, zu erleichtern. Andererseits besteht insoweit die Gefahr, dass insbesondere etablierte Unternehmen Frequenzen „horten“ und mit ihnen spekulieren. Gem. Art. 51 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EKEK sollten die nationalen Regulierungsbehörden deshalb Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass der Frequenzhandel nicht zu einer Wettbewerbsverfälschung führt, bei der insbesondere die Frequenzen ungenutzt bleiben. Art. 51 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK sieht in diesem Zusammenhang deshalb vor, dass die an individuelle Frequenznutzungsrechte gekoppelten Bedingungen grundsätzlich auf den Erwerber oder Mieter übergehen. Art. 51 Abs. 3 UAbs. 3 EKEK erlaubt den Mitgliedstaaten, an die Nichterfüllung dieser Bedingungen entsprechende Sanktionen zu koppeln, die dann auch den Erwerber treffen können. Verfahrensrechtlich bestimmt Art. 51 Abs. 2 S. 1 EKEK, dass nicht nur die tatsächliche Übertragung, sondern auch bereits die Absicht der Übertragung von Frequenznutzungsrechten der zuständigen Behörde mitgeteilt werden muss, und dass diese Mitteilung sodann öffentlich bekannt zu machen ist. Durch diese Mitteilungs- und Veröffentlichungspflicht werden die Überwachung des Frequenzhandels und insbesondere die Einhaltung der mit dem Nutzungsrecht verbundenen Bedingungen durch die zuständige nationale Behörde sichergestellt. Mithilfe der Regelung aus Art. 51 Abs. 3 UAbs. 4 EKEK soll eine Erleichterung des Prozesses durch die Beschleunigung der Bürokratieabläufe sichergestellt werden. Hierzu soll auch Art. 51 Abs. 3 UAbs. 5 EKEK beitragen, der vorsieht, dass die relevanten Informationen durch die zuständige Behörde zu publizieren sind. Details können von der Europäischen Kommission in Durchführungsmaßnahmen gem. Art. 118 Abs. 4 EKEK festgelegt werden (Art. 51 Abs. 3 UAbs. 6 und 7 EKEK). Sofern es zu einer (Neu-)Vergabe von Frequenznutzungsrechten kommt, soll gem. Art. 52 165 EKEK ein Wettbewerb um die Rechte stattfinden. Maßnahmen zur Sicherstellung dieses Zieles werden in Art. 52 Abs. 2 EKEK aufgeführt. Eine Koordinierung der Nutzung harmonisierter Funkfrequenzen kann in zeitlicher Hin- 166 sicht mithilfe einer Durchführungsmaßnahme durch die Europäische Kommission erfolgen (Art. 53 EKEK). Eine Spezialvorschrift für 5G-Frequenzen findet sich in Art. 54 EKEK. b) Einheitliche Frequenzzuteilung Die einheitliche Frequenzzuteilung ist ein Anknüpfungspunkt zur Schaffung eines europä- 167 ischen Telekommunikationsbinnenmarktes (Teil I, Titel IV, Kapitel II). Im Zentrum steht das in Art. 35 EKEK geregelte Peer-Review-Verfahren. Sofern eine nationale Regulierungsbehörde oder eine andere zuständige Behörde ein Verfahren zur zahlenmäßigen Beschränkung von Frequenznutzungsrechten (Art. 55 Abs. 2 EKEK) durchführen möchte und es sich um harmonisierte Funkfrequenzen handelt, mit deren Hilfe ein funkbasiertes Breitbandnetz ermöglicht werden soll, wird das RSPG gem. Art. 35 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK über den Maßnahmenentwurf informiert und unter Umständen die Initiierung eines Peer-Review-Forums gefordert. Das Peer-Review-Forum ist auf einen Expertisen- und Erfahrungsaustausch ausgerichtet (UAbs. 2) und soll vom RSPG geleitet werden (UAbs. 3). Darüber hinaus kann das RSPG spätestens während der Konsultation (Art. 23 EKEK) selbstständig ein Peer-Review-Forum initiieren, sofern es die Gefahr sieht, dass durch die geplanten Maßnahmen die Ziele und Prinzipien der Art. 3, 45, 46 und 47 EKEK gefährdet werden können (Art. 35 Abs. 2 EKEK). Gem. Art. 35 Abs. 4 EKEK haben die zuständigen Behörden im Peer-Review-Forum eine Begründungsverpflichtung. Es muss erläutert werden, inwiefern der Maßnahmenentwurf die Binnenmarktentwicklung, die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung sowie Wettbewerb und Vorteile für die Endnutzer fördert

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(lit. a), eine effektive und effiziente Frequenzzuteilung gewährleistet wird (lit. b) und die Investitionssicherheit durch den Maßnahmenentwurf gefördert wird (lit. c). Am Peer-Review-Forum können gem. Art. 35 Abs. 5 EKEK freiwillig Experten anderer zuständiger Behörden und des GEREK teilnehmen. Auf Anfrage der initiierenden Behörde kann vom RSPG ein Bericht angefertigt werden. Darüber hinaus kann auch auf Anfrage der initiierenden Behörde vom RSPG eine Stellungnahme verlangt werden (Art. 35 Abs. 7 EKEK). 168 Eine harmonisierte Frequenzzuteilung erfolgt, sofern die Bedingungen des Auswahlverfahrens erfüllt wurden, gem. Art. 36 EKEK ohne die Auflage weiterer Bedingungen und wird damit erheblich vereinfacht. Über Art. 37 EKEK erhalten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, gemeinsame Genehmigungsverfahren zur Erteilung individueller Frequenznutzungsrechte durchzuführen. 169 In Art. 38 und 39 EKEK werden zusätzlich Harmonisierungs- und Standardisierungsmaßnahmen geregelt. Ziel ist es, den europäischen Telekommunikationsbinnenmarkt zu fördern und ein grenzüberschreitendes Angebot von Dienstleistungen zu erleichtern. c) Entgelte für Frequenznutzungsrechte 170 Gem. Art. 42 EKEK können unter anderem für das Recht zur Nutzung von Frequenzen Entgelte erhoben werden.231 Die Auferlegung der Entgelte muss gerechtfertigt, transparent, nichtdiskriminierend und verhältnismäßig erfolgen (Art. 42 Abs. 1 S. 2 EKEK). Zudem müssen die Ziele der Richtlinie (Art. 3 EKEK) berücksichtigt werden. Weitere Spezifikationen zur Preisgestaltung sind in Abs. 2 niedergelegt und sollen dazu beitragen, dass eine effiziente Frequenzzuordnung und -nutzung sichergestellt wird.232 d) Weitere Vorschriften zur Funkfrequenznutzung 171 Die Nutzung von Funkfrequenzen unterliegt nach dem Willen des EU-Gesetzgebers ebenso wie die Erbringung von leitungsgebundenen Telekommunikationsdiensten grundsätzlich der Allgemeingenehmigung (Art. 13 Abs. 1 S. 1 EKEK). Nichtsdestotrotz kann es erforderlich sein, von diesem Grundsatz abzuweichen und individuelle Frequenznutzungsrechte zu erteilen. Die Gründe dafür sind in Art. 46 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK normiert. Demnach kann eine solche Einzellizensierung vor allem aufgrund der spezifischen Merkmale der betreffenden Funkfrequenzen (lit. a), zum Schutz vor funktechnischen Störungen (lit. b),233 zur Schaffung verlässlicher Bedingungen für die gemeinsame Nutzung von Frequenzen (lit. c), aufgrund der Notwendigkeit zur Gewährleistung der technischen Qualität der Dienste (lit. d), zur Verwirklichung von Zielen, welche die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Unionsrecht festgelegt haben (lit. e) oder zur Sicherstellung der effizienten Nutzung von Funkfrequenzen erforderlich sein (lit. f). Gem. Art. 46 Abs. 1 UAbs. 3 EKEK ist die Möglichkeit zu schaffen, Allgemeingenehmigung und individuelle Nutzungsrechte zu kombinieren. Hierbei sollen die Effekte auf Wettbewerb, Innovationskraft und Markteintritt verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. Beschränkun-

231 Vgl. zu der Vorgängerreglung Art. 13 GRL EuGH 30.1.2018 – C 360/15, C 31/16, NVwZ 2018, 307, Rn. 54 ff.; sowie die hierauf bezogene Entscheidungsanmerkung Kühling/Drechsler NVwZ 2018, 379, vgl. zu den Entgelten für das Recht zur Installation von Netzbestandteilen bereits → Rn. 121. 232 Vgl. hierzu auch EuGH 20.12.2017 – C-277/16, NVwZ 2018, 1039, Rn. 35 – Polkomtel/Prezes Urzedu Komunkacji Elektronicznej – zur Vorgängerreglung Art. 13 GRL. 233 Der Begriff der „funktechnischen Störung“ wird in Art. 2 Nr. 20 EKEK definiert als „ein Störeffekt, der für das Funktionieren eines Funknavigationsdienstes oder anderer sicherheitsbezogener Dienste eine Gefahr darstellt oder einen Funkdienst, der im Einklang mit den geltenden internationalen, Unions- oder nationalen Vorschriften betrieben wird, anderweitig schwerwiegend beeinträchtigt, behindert oder wiederholt unterbricht“.

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B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts gen sollen gem. Art. 46 Abs. 1 UAbs. 4 EKEK möglichst reduziert werden. Hierbei sollen Lösungen zur Vermeidung technischer Störungen Berücksichtigung finden. Sofern eine Entscheidung gem. Art. 46 Abs. 1 EKEK zur gemeinsamen Frequenznutzung durch die zuständigen Behörden getroffen wird, muss gem. Art. 46 Abs. 2 S. 1 EKEK sichergestellt werden, dass klare Bedingungen für die gemeinsame Funkfrequenznutzung festgelegt und konkret spezifiziert werden. Diese müssen laut Art. 46 Abs. 2 S. 2 EKEK die effiziente Frequenznutzung, den Wettbewerb und Innovation fördern. Sofern aus diesen Gründen individuelle Frequenznutzungsrechte gewährt werden müssen, sind die weiteren Vorgaben des Art. 48 EKEK zu beachten. So sieht Art. 48 Abs. 1 EKEK vor, dass grundsätzlich auch die individuellen Nutzungsrechte auf Antrag jedem Unternehmen unter den Bedingungen der Allgemeingenehmigung zu gewähren sind. Der Vergabe muss ein objektives, transparentes, verhältnismäßiges und nicht diskriminierendes Verfahren zugrunde liegen (Art. 48 Abs. 4 EKEK). Bei der Gewährung von individuellen Nutzungsrechten muss zudem angegeben werden, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die Rechte übertragen werden können. Insoweit sind insbesondere die Vorgaben des Art. 45 und des Art. 51 EKEK zum Frequenzhandel zu beachten (Art. 48 Abs. 5 S. 2 EKEK). In administrativer Hinsicht enthält Art. 48 Abs. 6 S. 1 EKEK Vorgaben zur zulässigen Höchstdauer des Verfahrens zur Erteilung individueller Frequenznutzungsrechte. Bedingungen sind nur im Rahmen des Art. 47 EKEK zulässig. Sofern individuelle Frequenznutzungsrechte vergeben werden, erfolgt dies für einen begrenzten Zeitraum (Art. 49 EKEK). Zudem kann eine Vergabe von individuellen Frequenznutzungsrechten nur unter den Voraussetzungen des Art. 50 EKEK erneuert werden. Im Interesse einer effizienten und störungsfreien Frequenznutzung kann es erforderlich sein, die Anzahl der zu gewährenden Nutzungsrechte für Funkfrequenzen zu beschränken.234 Welche (verfahrensrechtlichen) Anforderungen an eine solche zahlenmäßige Beschränkung von Frequenznutzungsrechten zu stellen sind, regelt Art. 55 EKEK. Erwägt ein Mitgliedstaat demnach, die Nutzung von Funkfrequenzen zahlenmäßig zu beschränken, muss gem. Art. 55 Abs. 1 lit. b EKEK zu der geplanten Beschränkung ein Konsultationsverfahren nach Art. 23 EKEK durchgeführt werden. Sofern auch nach der Konsultation an der Beschränkung der Frequenznutzungsrechte festgehalten wird, muss ein bestimmtes Auswahlverfahren für die Vergabe der Frequenzen festgelegt werden (Art. 55 Abs. 2 EKEK). Die Auswahlkriterien müssen den Anforderungen des Art. 55 Abs. 2 EKEK genügen. Unter Umständen ist ein Peer-Review-Verfahren gem. Art. 35 EKEK (→ Rn. 167) durchzuführen. Im Rahmen des Auswahlverfahrens werden sodann – zumindest in der Theorie – die am besten geeigneten Lizenzbewerber ermittelt, welche die Frequenzen am effizientesten nutzen. Diesen Unternehmen werden dann abschließend die limitierten Frequenznutzungsrechte eingeräumt. Die Einhaltung der mit der Allgemeingenehmigung oder Gewährung individueller Nutzungsrechte verbundenen (besonderen) Verpflichtungen ist von den nationalen Regulierungsbehörden nach Maßgabe des Art. 30 EKEK zu überwachen. Art. 30 Abs. 1 UAbs. 2 EKEK statuiert zu diesem Zweck eine entsprechende Informationspflicht der Frequenznutzer gegenüber den zuständigen Behörden. Die Abs. 2–6 befassen sich sodann mit der Nichterfüllung der Verpflichtungen durch die Frequenznutzer. Die vorgesehenen Sanktionsmittel der zuständigen Behörden reichen dabei vom einfachen Abstellungsverlangen (Art. 30 Abs. 3 UAbs. 1 EKEK) über die Auferlegung abschreckender Geldstrafen (Art. 30 Abs. 3 UAbs. 2 lit. a EKEK) bis hin zur Entziehung der Nutzungsrechte im Falle schwerer oder wiederholter Nichterfüllung der an die Nutzungsrechte für Funkfrequenzen und Nummerierungsressourcen geknüpften Bedingungen (Art. 30 Abs. 5 S. 1 EKEK). Diese 234 Kühling/Schall/Biendl, S. 312.

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Vorschriften wurden bspw. in einem Revisionsverfahren vor dem BVerwG relevant.235 In dem Verfahren verklagte das Mobilfunkunternehmen Quam die Bundesrepublik Deutschland auf Rückzahlung der von Quam im Rahmen der UMTS-Versteigerung aus dem Jahr 2000 entrichteten 8,4 Mrd. EUR, nachdem die BNetzA Quam – wegen der Nichterfüllung der in den Versteigerungs- bzw. Lizenzbedingungen enthalten Versorgungsauflagen – im Jahr 2004 die ersteigerten Lizenzen entzogen hatte. Als Vorfrage dieses – vom BVerwG letztlich abgelehnten – Rückzahlungsanspruchs musste sich das Gericht mit der Frage befassen, ob der Widerruf der Lizenz mit den Vorgaben der insoweit weitgehend identischen Vorgängerregelungen aus Art. 10 Abs. 2–5 GRL aF vereinbar war, wenn – wie im konkreten Fall – seitens der BNetzA keine wiederholte Aufforderung zur Erfüllung der Versorgungsauflagen erfolgte.236 Das BVerwG entschied zu Recht,237 dass sich das Unternehmen im konkreten Fall nicht auf die Einhaltung der gestuften Vorgehensweise aus Art. 10 GRL aF berufen konnte, weil die milderen Maßnahmen aus Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 GRL aF aufgrund des Verhaltens der Klägerin238 offensichtlich zwecklos gewesen wären.239 176 Auch lokale Funknetze werden zum Aufbau von Drahtlosnetzen genutzt, um das Angebot zu erweitern. Allgemeine Vorschriften zum Zugang zu lokalen Funknetzen finden sich in Art. 56 EKEK. Es ist festzuhalten, dass die Möglichkeiten zur Zugangsbeschränkung gering sind und grundsätzlich Zugang zu harmonisierten Funkfrequenzen unter den Voraussetzungen einer Allgemeingenehmigung zu gewähren ist (Art. 56 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK). Auch die Einrichtung und der Betrieb drahtloser Zugangspunkte kann grundsätzlich unter den Voraussetzungen einer Allgemeingenehmigung vorgenommen werden (Art. 56 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK). 2. Vergabe von Nummern (Art. 93 EKEK) und Wegerechten (Art. 43 EKEK) 177 Ähnlich wie im Bereich der Frequenzen, enthält der EKEK in Art. 93 Abs. 8 UAbs. 1 S. 1 EKEK eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Förderung der Harmonisierung bestimmter Nummern und Nummernbereiche in der EU. Damit soll unter anderem die Entwicklung europaweiter Dienste gefördert werden. Um eine solche Harmonisierung anzustoßen, wird die Kommission auch hier gem. Art. 93 Abs. 8 UAbs. 1 S. 2 EKEK ermächtigt, geeignete technische Durchführungsrechtsakte zu erlassen. Dies erfolgt mithilfe des Prüfverfahrens aus Art. 118 Abs. 4 EKEK (Art. 93 Abs. 8 UAbs. 2 EKEK). Die Verwaltung der nationalen Nummernpläne sowie die Erteilung von Nutzungsrechten für alle nationalen Nummerierungsressourcen ist gem. Art. 93 Abs. 1 S. 1 EKEK den nationalen Regulierungsbehörden oder anderen zuständigen Behörden des jeweiligen Mitgliedstaates überantwortet. Auch im Übrigen ist die Regelungssystematik mit jener aus dem Bereich der Frequenzverwaltung vergleichbar. So gibt auch Art. 93 Abs. 1 S. 2 EKEK nur allgemein vor, dass die nationalen Regulierungsbehörden für die Erteilung von Nutzungsrechten an Nummern objektive, transparente und nichtdiskriminierende Verfahren festlegen müssen. Die Details zu den (individuellen) Nutzungsrechten an Nummern, den diesbezüglichen

235 BVerwG 17.8.2011 – 6 C 9.10, NVwZ 2012, 168; vgl. hierzu auch BVerfG 25.6.2015 – 1 BvR 2553/11, MMR 2015, 686, in dem die Verfassungsmäßigkeit der Entscheidung festgestellt wird. 236 Vgl. BVerwG 17.8.2011 – 6 C 9.10, NVwZ 2012, 168 (170 f.). 237 Vgl. dazu im Detail Kühling/Klar JZ 2012, 414 (416 f.). 238 Quam beendete im Jahr 2002 eine mit einem anderen Netzbetreiber vereinbarte Kooperation über den Aufbau einer gemeinsamen UMTS-Infrastruktur, gab zudem ihre Tätigkeit als Diensteanbieterin auf und entließ den größten Teil ihrer Belegschaft, vgl. BVerwG 17.8.2011 – 6 C 9.10, NVwZ 2012, 168 (171). Die Klage war vor dem BVerfG ebenfalls erfolglos, BVerfG 25.6.2015 – 1 BvR 2553/11, NVwZ 2015, 1757. 239 Vgl. BVerwG 17.8.2011 – 6 C 9.10, NVwZ 2012, 168 (171).

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Vergabe- und Auswahlverfahren, der Überwachung von Verpflichtungen und der Sanktionierung etwaiger Verstöße finden sich sowohl in den Art. 93 ff. EKEK als auch in den einschlägigen Vorschriften zur Frequenzvergabe und im allgemeinen Teil des EKEK (bspw. zur Sanktionierung von Verstößen in Art. 29 EKEK). Art. 43 EKEK enthält unter der Überschrift „Wegerechte“ Anforderungen an das Verfah- 178 ren zur Prüfung von Anträgen der Netzbetreiber auf Erteilung von Rechten zur Installation von Einrichtungen auf, über oder unter öffentlichem oder privatem Grundbesitz.240 Die Vorschrift wird dann relevant, wenn ein Unternehmen ohne Rückgriff auf Einrichtungen anderer Betreiber241 (→ Rn. 109) eigene TK-Infrastrukturen verlegen möchte. Art. 43 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a EKEK gibt insoweit vor, dass die benötigten Rechte auf der Grundlage einfacher, effizienter, transparenter und öffentlich zugänglicher Verfahren erteilt werden. Die Erteilung solcher Wegerechte kann dabei gem. Art. 43 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b EKEK unter Beachtung der Grundsätze der Transparenz und Nichtdiskriminierung an Bedingungen geknüpft werden.

IV. Universaldienstregulierung in Teil III (Dienste) des EKEK Positive und negative Vorgaben des Teils III (Dienste) des EKEK in Bezug auf die staatlich 179 mindestens gebotenen und höchstens zulässigen Universaldienstförderungen haben im Zuge des Breitbandausbaus in einigen Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – erst zuletzt eine gestiegene Bedeutung erlangt, während es zuvor vor allem darum gegangen war, in Einzelfällen diskriminierende Quersubventionierungen auf der Basis von Universaldienstmechanismen zugunsten des marktmächtigen Unternehmens zu verhindern. Dabei greifen neben den Steuerungsvorgaben des Teils III (Dienste) des EKEK (dazu → Rn. 180 ff.) auch die horizontalen Anforderungen aus dem primärrechtlichen EU-Beihilfenrecht (dazu → Rn. 190 ff.). 1. Steuerungsvorgaben in Teil III des EKEK a) Universaldienst Teil III des EKEK beinhaltet die näheren Vorgaben der Universaldienstversorgung. Da- 180 nach müssen die Mitgliedstaaten gem. Art. 84 Abs. 1 EKEK dafür sorgen, dass ein bestimmtes Mindestmaß an Telekommunikationsleistungen als Universaldienst flächendeckend zu einem erschwinglichen Preis bereitgestellt wird.242 Art. 86 Abs. 2 EKEK gibt insoweit vor, dass der effizienteste Mechanismus der Universaldienstversorgung zu wählen ist und dabei insbesondere Wettbewerbsverfälschungen zu verhindern sind.243 Im Rahmen des TK-Reviews 2018 wurden die Regelungen zum Universaldienst umfas- 181 send novelliert. Während die URL zuvor ein Sammelbecken von verschiedenen detaillierten Vorschriften war, ist der Abstraktionsgrad des EKEK deutlich höher. Darüber hinaus wurde der EKEK an die Bedürfnisse der heutigen Zeit angepasst. Während die Regelungen zu den öffentlichen Münz- und Kartentelefonen ersatzlos aus dem EKEK gestrichen wurden, wird über Art. 84 Abs. 1 EKEK gewährleistet, dass Endnutzer für einen erschwinglichen Preis an einem festen Standort zumindest über Zugang zu einem verfügbaren angemessenen Breitbandinternetzugangsdienst und zu Sprachkommunikationsdiens-

240 241 242 243

Vgl. zur Grundkonzeption des Art. 43 EKEK Kühling/Toros, S. 114 In diesem Fall ist ggf. Art. 44 EKEK einschlägig. Vgl. hierzu umfassend Kühling/Toros, S. 18 ff. Vgl. zur Konzeption des Universaldienstes als Sicherheitsnetz und zu diesbezüglichen Verbesserungsvorschlägen im Vorfeld der EKEK-Novellierung de Streel/Larouche, S. 30 ff.

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§ 4 Telekommunikationsrecht ten verfügen können.244 Über Art. 84 Abs. 2 EKEK können die Mitgliedstaaten den Universaldienst auch auf mobile Dienste erweitern. Die Definition eines adäquaten Internetzugangs obliegt gem. Art. 84 Abs. 3 EKEK den Mitgliedstaaten. Hierbei müssen allerdings zumindest die Dienste aus Anhang V abgesichert werden.245 Darüber hinaus fungiert ein GEREK-Bericht als Orientierungshilfe.246 Gem. Art. 85 Abs. 1 EKEK erhalten die nationalen Regulierungsbehörden und andere zuständige Behörden die Aufgabe, die Endkundenpreise zu überwachen. Falls diese nicht mehr erschwinglich sind, sind Maßnahmen gem. Art. 85 Abs. 2 EKEK zu ergreifen. Für besonders hilfsbedürftige Nutzergruppen werden in Art. 85 Abs. 2–4 EKEK besondere Beobachtungsaufträge definiert. Bei allen Maßnahmen ist gem. Art. 85 Abs. 5 EKEK sicherzustellen, dass Marktverfälschungen nach Möglichkeit zu minimieren sind. Es besteht die Möglichkeit, den Anwendungsbereich von Art. 85 auf besonders schutzbedürftige Unternehmen zu erweitern (Art. 85 Abs. 6 EKEK). Universaldienstverpflichtungen dürfen gem. Art. 86 Abs. 1 EKEK lediglich subsidiär auferlegt werden, sofern eine Leistungserbringung unter normalen wirtschaftlichen Gegebenheiten oder mithilfe anderer politischer Instrumente nicht denkbar ist.247 Der effizienteste und am besten geeignete Ansatz wird durch die Mitgliedstaaten bestimmt (Art. 86 Abs. 2 EKEK). Dabei sind sie an die Grundsätze der Objektivität, Transparenz, Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit gebunden. Zudem soll sichergestellt werden, dass die Wettbewerbsverfälschungen möglichst minimiert werden und das öffentliche Interesse gewahrt bleibt. Insbesondere zur Sicherstellung der in Art. 84 Abs. 3 EKEK bezeichneten Dienste kann ein Unternehmen gem. Art. 86 Abs. 3 EKEK benannt werden. Das Benennungsverfahren muss effizient, objektiv und nichtdiskriminierend ausgestaltet sein (Art. 86 Abs. 4 EKEK). In Art. 86 Abs. 5 EKEK finden sich Sonderregelungen für den Fall, dass ein Unternehmen mit Universaldienstverpflichtung veräußert werden soll. Sofern das Bedürfnis nachgewiesen wird, können bestehende Universaldienstverpflichtungen fortgeführt werden, die nicht zur Absicherung des Art. 84 Abs. 3 EKEK erforderlich sind (Art. 87 UAbs. 1 EKEK).248 Für die Benennung gelten die Regelungen aus Art. 86 EKEK und für die Finanzierung die Regeln aus Art. 90 EKEK. Es findet eine turnusmäßige Kontrolle des Bedürfnisses zur Fortführung der Universaldienstverpflichtung statt (Art. 87 UAbs. 2 EKEK). Art. 92 EKEK eröffnet die Möglichkeit, zusätzliche Pflichtdienste zu benennen, die über den Umfang der Art. 84–87 EKEK hinausgehen. In diesem Fall ist die Finanzierung über einen brancheninternen Umlagemechanismus jedoch ausgeschlossen. b) Schranken für weiterreichende Universaldienstmechanismen und hoheitlich gesteuerte Versorgungsmodelle

186 Diese moderate Definition des Universaldienstkonzeptes schließt nicht per se aus, dass Breitbandinfrastrukturen mit höheren Bandbreiten durch den Universaldienstmechanismus gefördert werden.249 Dies ergibt sich aus Art. 84 Abs. 1 S. 1 EKEK, nach dem nur ein Mindestangebot an Diensten definiert wird. Damit überlässt es der EKEK den einzelnen Mitgliedstaaten, die Übertragungsraten ihres Universaldienstes gegebenenfalls auch höher zu definieren. Eine explizite Obergrenze besteht nicht. Eine Einschränkung der maximal 244 245 246 247 248 249

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Kühling/Toros S. 19; dies. N&R 2019, 358 (262). Vgl. hierzu den Umsetzungsvorschlag von Kühling/Toros S. 21, 55 ff.; dies. N&R 2019, 258 (259 f.). Neumann/Sickmann N&R 2018, Beilage 1/2018, 7. Kühling/Toros, S. 39; dies. N&R 2019, 258 (262). Vgl. hierzu im Einzelnen Kühling/Toros, S. 27 ff.; dies. N&R 2019, 258 (260 f.). Neumann/Sickmann N&R 2018 Beilage 1/2018, 7.

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B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts

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förderbaren Übertragungsgeschwindigkeiten ergibt sich aber aus Art. 88 Abs. 1 EKEK. Nach dieser Vorschrift haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass, soweit die Bereitstellung der Dienste über das Mindestangebot hinausgeht, die Bedingungen so festzulegen sind, dass der Endnutzer nicht für Einrichtungen oder Dienste zu zahlen hat, die nicht notwendig oder für den beantragten Dienst nicht erforderlich sind. Sollten also Infrastrukturen mit höheren als den für einen funktionalen Internetzugang notwendigen Bandbreiten über den Universaldienstmechanismus gefördert werden, müssen die über diese Infrastruktur angebotenen Dienste derart skaliert werden, dass Nutzer – soweit sie nur einen dem Mindestangebot eines funktionalen Internetzugangs entsprechenden Anschluss wünschen – auch nur für diesen funktionalen Internetzugang bezahlen. Dies setzt eine relevante Grenze für eine zwingende weitreichende Querfinanzierung von BreitbandHochleistungsinfrastrukturen durch die Endkunden.250 c) Ausgleichs- und Finanzierungsmechanismus Hinsichtlich der Berechnung der Kosten, die dem Unternehmen, das durch die Erbringung 187 der Universaldienstleistung unzumutbar belastet wird, erstattet werden, schreibt Art. 89 EKEK eine Orientierung an den Nettokosten unter Berücksichtigung des entstehenden Marktvorteils vor. Das bedeutet, dass entsprechende sogenannte „benannte“ Universaldienstunternehmen nicht nur in „einem effizienten, objektiven, transparenten und nichtdiskriminierenden Benennungsverfahren“ zu identifizieren sind (vgl. dazu Art. 86 Abs. 4 EKEK), sondern auch die Leistungen anschließend gesichert (vgl. Art. 88 Abs. 2 EKEK) unter Vermeidung von Überkompensationen (Art. 89 EKEK) bereit zu stellen sind. In Bezug auf die Deckung der durch die Universaldienstverpflichtung entstandenen Kosten 188 sieht Art. 90 EKEK zwei verschiedene Möglichkeiten vor. In Betracht kommt zum einen die Entschädigung des verpflichteten Unternehmens aus öffentlichen Mitteln (Art. 90 Abs. 1 lit. a EKEK). Alternativ sieht der EKEK die Möglichkeit vor, die Nettokosten unter den Betreibern von elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten aufzuteilen (Art. 90 Abs. 1 lit. b EKEK; vgl. dazu § 83 TKG). Dies hat in einem Aufteilungsverfahren zu erfolgen, das unter größtmöglicher Transparenz (vgl. auch Art. 90 Abs. 2 EKEK), geringstmöglicher Marktverfälschung, Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit durchzuführen ist. Die erhobenen Entgelte müssen ungebündelt sein und für jedes Unternehmen gesondert erfasst werden. Abgabepflichtig sind nur Unternehmen, die in dem entsprechenden Hoheitsgebiet Dienste erbringen. Sofern zusätzliche Pflichtdienste benannt werden, ist eine Finanzierung über den bran- 189 cheninternen Ausgleichsmechanismus gem. Art. 92 EKEK nicht mehr zulässig.251 2. Relevanz des flankierenden EU-Beihilfenrechts für die Breitbandförderung Zur Ermittlung des derzeitigen Status des Netzausbaus sind Informationen und Daten 190 notwendig. Diese werden im Rahmen einer geografischen Erhebung zum Netzausbau gem. Art. 22 EKEK erhoben.252 Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse sind auch im Rahmen der Bestimmung der EU-beihilfenrechtlichen Zulässigkeit für die Breitbandförderung von Relevanz. Das EU-Beihilfenrecht hat in der Anfangsphase neben den EU-sekundärrechtlichen Vorga- 191 ben keine relevante Rolle gespielt. Erst in der späteren Phase der mitgliedstaatlichen Förderung der Breitbandversorgung im ländlichen Raum sind auch beihilfenrechtliche Fragen

250 Vgl. dazu umfassend Kühling/Neumann in Inderst/Kühling/Neumann/Peitz, S. 214 ff. 251 Kühling/Toros, S. 50. 252 Vgl. hierzu umfassend Kühling/Toros, S. 121 ff.

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§ 4 Telekommunikationsrecht

aufgetaucht.253 Dabei stellt die Europäische Kommission insbesondere auf den Genehmigungstatbestand des Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV ab, um entsprechende nationale Förderprogramme unter bestimmten Voraussetzungen zu genehmigen. Im Rahmen der Prüfungspraxis differenziert die Kommission zwischen Breitbandnetzen (bis 24 Mbit/s.) und (Glasfaseranschluss-)Netzen der nächsten Generation (NGA-Netzen), die höhere Bandbreiten vorsehen. Im Übrigen setzt die Genehmigungsfähigkeit jeweils voraus, dass es sich um ein förderungswürdiges Gebiet handelt, in dem eine Unterversorgung vorliegt. Das ist bei sogenannten „weißen (Breitband-)Flecken“, also Gebieten ohne Breitbandinfrastruktur, unproblematisch der Fall. In sogenannten „grauen (Breitband-)Flecken“, in denen bereits eine Breitbandinfrastruktur existiert, ist die Genehmigungsfähigkeit schwieriger herbeizuführen, da durch eine Zugangsregulierung regelmäßig eine hinreichende Angebotsvielfalt bestehen wird. In sogenannten „schwarzen (Breitband-)Flecken“, die durch konkurrierende Breitbandinfrastrukturen geprägt sind, ist eine Förderung grundsätzlich nicht genehmigungsfähig. Ähnliches gilt für NGA-Netze, wobei hier in „weißen NGA-Flecken“ noch zusätzlich auf die Auswirkungen hinsichtlich etwaiger bestehender Breitbandinfrastrukturen geachtet werden muss. Im Übrigen müssen sämtliche Fördermodelle zu möglichst geringen Wettbewerbsbeeinträchtigungen führen und dazu wettbewerbs- und technologieneutral sein sowie auf Ausschreibungen und Benchmarks setzen. Im Fall von NGA-Netzen müssen zusätzlich Zugang und Entbündelung ermöglicht werden.254 192 Insgesamt geben das EU-Sekundärrecht und EU-Beihilfenrecht damit sinnvolle Leitplanken für eine Breitbandförderung vor,255 die eine wettbewerbsverzerrende nationale Förderung zu vermeiden helfen.256 Vor dem Hintergrund der Einführung eines geplanten, rechtlich abgesicherten Anspruches auf „schnelles Internet“ in Deutschland erlangen die Fragen der Anwendung des Universaldienstmechanismus als Vehikel für den Breitbandausbau erneut Relevanz.257

V. Rechte der Endnutzer/Teilnehmer (Teil III, Titel II EKEK) 193 Neben den Vorschriften zum Universaldienst (Titel I) und zum Umgang mit Nummerierungsressourcen (Titel II) enthält Teil III des EKEK in Titel III verschiedene Endnutzerrechte sowie sonstige Vorgaben im Interesse der Endnutzer. Der insoweit zentrale Begriff der „Endnutzer“ wird in Art. 2 Nr. 14 EKEK legaldefiniert. Endnutzer ist demnach „ein Nutzer,258 der keine öffentlichen Kommunikationsnetze oder öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste bereitstellt“. Nach dieser negativen Definition können Endnutzer damit sowohl Verbraucher (Art. 2 Nr. 15 EKEK) als auch natürliche und juristische Personen sein, die Telekommunikationsdienste zu beruflichen oder gewerblichen Zwecken in Anspruch nehmen oder beantragen, dabei aber selbst keine öffentlichen Telekommunikationsnetze betreiben bzw. öffentlich zugängliche Telekommunikationsdienste 253 Vgl. exemplarisch zum beihilfenrechtlichen Verfahren Kühling/Toros, S. 79 ff.; Ladeur K&R 2010, 308 (315); ders. K&R 2011, 304 (310); ders. K&R 2012, 317 (322). 254 S. zur Position der Kommission die 2013 veröffentlichten Leitlinien der EU für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau, 2013/C 25/01; vgl. zum Rechtsrahmen für staatliche Breitbandförderung Holznagel/Beine MMR 2015, 567. 255 Vgl. zu den Vorteilen für die Breitbandförderung, die durch die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung entstehen Freund/Bary MMR 2015, 230 (231). 256 Vgl. zu den Folgen auch bei der Anwendung der Universaldienstmechanismen durch die BNetzA umfassend Kühling/Biendl DÖV 2012, 409. 257 Vgl. zur aktuellen Diskussion ausführlich Kühling/Toros K&R 2019, 692; dies., S. 65 ff.; Neumann/ Sickmann N&R 2018, Beilage 1/2018 und zur alten Rechtslage unter der URL bspw. Fetzer MMR 2011, 707 (708 f.); Schumacher MMR 2011, 711 (713 ff.). 258 „Nutzer“ ist „eine natürliche oder juristische Person, die einen öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienst in Anspruch nimmt oder beantragt“ (Art. 2 Nr. 13 EKEK).

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B. Grundstrukturen des europäischen Telekommunikationsrechts

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anbieten. Gem. Art. 101 Abs. 1 EKEK handelt es sich um eine Vollharmonisierung. Abweichende, strengere Regelungen dürfen lediglich für einen in Art. 101 Abs. 2 UAbs. 1 EKEK bestimmten Übergangszeitraum von drei Jahren in Kraft bleiben. Der Schutz wird durch den EKEK völlig auf Verbraucher zentriert. Die vormalige Erweiterung des Schutzbereiches auf „Teilnehmer“ ist nicht mehr existent. Kleinstunternehmer, die lediglich nummernunabhängige interpersonelle Kommunikationsdienste erbringen, sind mit Ausnahme von Art. 99 und 100 EKEK von den Regelungen der Art. 99 ff. EKEK ausgenommen. Dies gilt jedoch nicht, sofern sie auch elektronische Kommunikationsdienste erbringen (vgl. Art. 98 UAbs. 1 EKEK). Über diese Ausnahmen müssen die jeweiligen Endnutzer durch den Mitgliedstaat vor Vertragsabschluss informiert werden (Art. 98 UAbs. 2 EKEK). Die Vorschriften im Interesse und zum Schutz der Endnutzer in den Art. 98–116 194 EKEK sind – im Vergleich zu anderen Richtlinienvorgaben – relativ unsystematisch aneinandergereiht, was wohl daran liegen dürfte, dass sie sich nur schwer kategorisieren lassen. Nachfolgend werden die wichtigsten Vorgaben kurz dargestellt. 1. Vorgaben zur (Preis-)Transparenz Ein Großteil der Vorgaben aus den Art. 98 ff. EKEK dient der (Preis-)Transparenz im In- 195 teresse der Endnutzer. Die Mitgliedstaaten haben gem. Art. 103 Abs. 1 S. 1 EKEK sicherzustellen, dass die zuständigen Behörden, sofern erforderlich abgestimmt mit den nationalen Regulierungsbehörden, Telekommunikationsnetzbetreiber oder -anbieter dazu verpflichten können, die in Anhang IX EKEK genannten Angaben, insbesondere transparente, vergleichbare und aktuelle Informationen über geltende Preise und Tarife, zu veröffentlichen. Gem. Anhang IX haben die nationalen Regulierungsbehörden dann zu entscheiden, ob und gegebenenfalls welche dieser Informationen konkret von den Unternehmen zu veröffentlichen sind. Zudem können sie diesbezügliche Informationen auch selbst veröffentlichen. Art. 102 Abs. 1 EKEK enthält ähnliche Transparenzverpflichtungen. Nach dessen UAbs. 1 196 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Verbraucher, die dies verlangen, bei der Anmeldung zu einem elektronischen Kommunikationsdienst als nummernunabhängiger interpersoneller Kommunikationsdienst einen Anspruch darauf haben, dass ihnen in klarer, umfassender und leicht zugänglicher Form ein Vertrag mit den in Art. 102 Abs. 3 lit. a–f EKEK näher aufgeführten Mindestangaben zur Verfügung gestellt wird. Zu diesen Angaben gehören unter anderem Einzelheiten zu den Preisen (lit. c) oder Informationen zur Vertragslaufzeit und zu den Bedingungen für eine Verlängerung und Beendigung des Dienstes (lit. d). Bei der Beteiligung von Verbrauchern treten diese Transparenzverpflichtungen ergänzend neben die regelmäßig ebenfalls einschlägigen Bestimmungen über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (RL 93/13/EG) und über die Rechte der Verbraucher (RL 2011/83/EU).259 Darüber hinaus sind die Informationen aus Anhang VII EKEK zu beachten, soweit sie einen Dienst betreffen, der vom Anbieter erbracht wird (Art. 102 Abs. 1 UAbs. 1 EKEK). 2. Vorschriften zur Ausgabenkontrolle Ein weiteres eng mit der (Preis-)Transparenz verzahntes Anliegen des EKEK ist die Ausga- 197 benkontrolle durch die Endnutzer. Dies manifestiert sich an den Vorgaben des Anhangs VI Teil A EKEK, der über Art. 115 Abs. 1 EKEK zur Anwendung kommt. Dieser verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, sicherzustellen, dass die nationalen Regulierungsbehörden die Betreiber von Internetzugangsdiensten und/oder interpersonellen Kommunikationsdiens259 Erwägungsgrund 258 EKEK.

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§ 4 Telekommunikationsrecht ten dazu verpflichten können, alle oder einen Teil der in Anhang VI Teil A EKEK aufgeführten Dienste zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören unter anderem die Erstellung eines kostenlosen Einzelverbindungsnachweises (EVN)260 (lit. a), die unentgeltliche Sperre für abgehende Verbindungen zu bestimmten Rufnummern(arten), insbesondere für Premium-Dienste (lit. b), das Angebot von Prepaid-Produkten (lit. c) sowie die Einrichtung sonstiger Kontrollmechanismen, wie bspw. Warnhinweise im Falle eines anormalen oder übermäßigen Verbraucherverhaltens (lit. g). In diesem Zusammenhang ist auch die mögliche Verpflichtung zur Preisansage bzw. -anzeige vor Inanspruchnahme von Diensten mit besonderer Preisgestaltung zu erwähnen, die ebenfalls warnenden Charakter besitzt. Während mit dem Angebot von Prepaid-Produkten, der Sperrung von bestimmten hochpreisigen Rufnummern, den Warnhinweisen sowie etwaigen Preisansage- bzw. Preisanzeigeverpflichtungen bei hochpreisigen Diensten ein (präventiver) Selbstschutz der Teilnehmer vor zu hohen Rechnungen ermöglicht wird, gewährleistet die Verpflichtung zum Angebot eines EVN die nachträgliche Kontrolle der vom jeweiligen Anbieter abgerechneten Verbindungen durch den Teilnehmer. Darüber hinaus besteht nunmehr die Möglichkeit, die Abrechnung von Leistungen durch Drittanbieter über die eigene Rechnung zu deaktivieren (lit. h). 3. Vertragslaufzeit und Anbieterwechsel

198 Auch die Laufzeit von Telekommunikationsverträgen zwischen Verbrauchern und Telekommunikationsanbietern sowie der Anbieterwechsel einschließlich der Rufnummernportierung sind größtenteils unionsrechtlich determiniert. Die zentralen Regelungen hierfür sind in den Art. 105 und 106 EKEK enthalten. Nach Art. 105 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EKEK haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Telekommunikationsverträge, an denen Verbraucher beteiligt sind, eine anfängliche Mindestlaufzeit von 24 Monaten nicht überschreiten. Ein Kündigungsrecht ohne weitere Kosten entsteht, sofern es sich um Vertragsbedingungen eines öffentlich bereitgestellten elektronischen Kommunikationsdiensteanbieters handelt. Ausgenommen hiervon sind die Anbieter interpersoneller Kommunikationsdienste und Anbieter für die Bereitstellung von Diensten der Maschine-MaschineKommunikation (Art. 105 Abs. 3 S. 1 EKEK).261 Durch die Kündigungsregelung wird der Anbieterwechsel in zeitlicher Hinsicht erleichtert. Der Anbieterwechsel wird zudem durch die Möglichkeit der Rufnummernmitnahme zum neuen Anbieter erleichtert, die gem. Art. 106 Abs. 2 EKEK nach Maßgabe des Anhangs VI Teil C EKEK von den Mitgliedstaaten zu gewährleisten ist. Ferner wird über Art. 106 Abs. 1 S. 1 EKEK die Dienstekontinuität sichergestellt. Damit soll verhindert werden, dass Kunden trotz lukrativerer Konkurrenzprodukte einen möglichen Anbieterwechsel wegen der Unannehmlichkeiten, die mit der Zuteilung einer neuen Rufnummer oder der temporären Nichtverfügbarkeit eines Dienstes gerade bei Geschäftskunden verbunden sind,262 scheuen. Da es in der Praxis oftmals zu Verzögerungen bei der Portierung von Rufnummern kam, wurden in Art. 106 Abs. 5 EKEK verschiedene Regelungen aufgenommen, um diesem Problem entgegenzuwirken. Nach Art. 106 Abs. 5 S. 1 EKEK hat die Aktivierung der Rufnummer beim neuen Anbieter an dem vereinbarten Tag zu erfolgen, wenn – was regelmäßig der Fall sein wird 260 Die Möglichkeit zu einer solchen Verpflichtung wird dabei lediglich für den Festnetzbereich vorgegeben. 261 EuGH 26.11.2015 – C-326/14, K&R 2016, 40, Rn. 29 – Verein für Konsumenteninformation/A1 Telekom Austria – mit dem Ergebnis, dass eine Änderung der Entgelte für die Dienstebereitstellung gem. einer Entgeltanpassungsklausel keine „Änderung der Vertragsbedingungen“ iSd Vorgängerregelung Art. 20 Abs. 2 URL darstellt. 262 So kann eine neue Rufnummer bspw. die Änderung von Geschäftsbriefen und Visitenkarten erforderlich machen.

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C. Ausblick

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– der Endnutzer mit dem neuen Anbieter eine Vereinbarung über die Rufnummernübertragung geschlossen hat. Flankierend dazu gibt Art. 106 Abs. 5 S. 5 EKEK vor, dass der Dienst des Teilnehmers während der Portierung nicht länger als einen Arbeitstag unterbrochen werden darf. Der Art. 106 Abs. 4 EKEK enthält schließlich Vorschriften über die Entgelte, die für die Rufnummernportierung erhoben werden können, da auch sie ggf. ein faktisches Hindernis für den Anbieterwechsel darstellen können. Das Recht auf Rufnummernübertragung bleibt bis einen Monat nach der Kündigung gem. Art. 106 Abs. 3 EKEK erhalten. 4. Sonstige Vorschriften im Interesse der Endnutzer Der EKEK enthält darüber hinaus noch eine Vielzahl weiterer Vorschriften im Interesse 199 der Endnutzer/Teilnehmer, auf die im Detail vorliegend nicht eingegangen werden kann. Zu nennen sind insoweit unter anderem das Sonderkündigungsrecht bei anbieterseitigen Vertragsänderungen (Art. 105 Abs. 4 EKEK), das Recht der Teilnehmer auf Eintrag in ein öffentlich verfügbares Teilnehmerverzeichnis und des Zugangs zu diesem gem. Art. 112 Abs. 1 EKEK, die Regelungen zur Gewährleistung der Gleichwertigkeit hinsichtlich des Zugangs und der Wahlmöglichkeiten für Endnutzer mit Behinderungen (Art. 111 EKEK) sowie die Vorschriften zur einheitlichen europäischen Notrufnummer „112“ und zu einheitlichen Rufnummern für harmonisierte Dienste von sozialem Wert „116“ (Art. 96, 109 EKEK).

C. Ausblick Die europäische Telekommunikationsregulierung ist eine Erfolgsgeschichte – sowohl aus 200 juristischer als auch aus ökonomischer Sicht. Innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne von etwa 30 Jahren wurde ein Markt aus der hoheitlichen Monopolverwaltung in ein komplexes Regulierungssystem überführt. Dabei wurde durch den Ordnungsrahmen das Kernziel eines funktionsfähigen Wettbewerbs mit erheblichen Vorteilen für die Verbraucher (gestiegene Angebotsvielfalt, sinkende Preise, etc.) in wesentlichen Bereichen erreicht. So kann die Telekommunikationsordnung als das Paradigma einer gelungenen Privatisierung und eines reibungslosen Übergangs von der staatlichen Leistungs- zur Gewährleistungsverantwortung bezeichnet werden. Auch mit Blick auf die weiteren Ziele, die vom Privatisierungsfolgerecht zu erreichen sind, wie die Universaldienstsicherung und der Daten- und Verbraucherschutz, sind auf der unionsrechtlichen Ebene sinnvolle Vorsteuerungen erfolgt, die eine gelungene Normierung auf nationaler Ebene ermöglicht, forciert bzw. erzwungen haben. Zugleich ist die Telekommunikationsordnung mit ihren Finalstrukturen, der hohen Flexi- 201 bilität, die einer Konkretisierung der Vollzugsprogramme durch eine unabhängige, kompetente und interdisziplinär besetzte nationale Regulierungsbehörde bedarf, sowie der umfassenden Beteiligungsrechte der Marktteilnehmer in materiellrechtlicher, institutioneller und prozeduraler Hinsicht ein Paradebeispiel eines innovativen und modernen Verwaltungsrechts.263 Die Telekommunikationsordnung ist dabei zwar ein in höchstem Maße ausdifferenziertes Rechtsgebiet mit einer Vielzahl von Besonderheiten. Gleichwohl haben die angesprochenen innovativen Elemente durchaus Vorbildwirkung für andere Verwaltungsrechtsbereiche – etwa in der Energieordnung. Jedenfalls ist das Telekommunikationsrecht ein interessantes Referenzgebiet für das Aufzeigen entsprechender Entwicklungstrends.

263 Dazu Kühling in Terhechte, 1. Aufl. 2011, § 24 Rn. 72 ff.

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§ 4 Telekommunikationsrecht

202 Ein zentrales Charakteristikum ist im Übrigen der in der europäischen Telekommunikationsordnung besonders weit vorangetriebene Verwaltungsverbund, der insbesondere durch das Konsolidierungsverfahren des Art. 32 EKEK zwischen der Kommission und den nationalen Regulierungsbehörden geprägt wird. Jene institutionelle Innovation vermag die unionsweite Einheitlichkeit des Verwaltungsvollzugs trotz eines legislativ flexibilisierten Verwaltungsrechts im Wege einer entsprechenden Vollzugsverflechtung effektiv zu gewährleisten. Es ist jedoch sehr zweifelhaft, ob gerade der Telekommunikationsbereich einer – im Vergleich etwa zum Umweltrecht – derartig erhöhten Vollzugskonsistenz bedarf. Die Flexibilität bei der Rechtsanwendung genügt insoweit zur Rechtfertigung nicht. Angesichts der nur in Teilbereichen bestehenden grenzüberschreitenden Handelbarkeit von Telekommunikationsdienstleistungen spricht vielmehr vieles dafür, eine derartige Vollzugsverflechtung auf Bereiche zu beschränken, die einen hinreichenden grenzüberschreitenden Bezug aufweisen und bei deren dezentraler Regulierung nachhaltige grenzüberschreitende negative externe Effekte264 auftreten. Ein wichtiger Fall wäre insoweit der Roaming-Markt-Telekommunikation in Flugzeugen ist ein weiteres, gleichwohl weniger bedeutendes Beispiel. Das Roaming-Problem hat der europäische Gesetzgeber jedoch nicht exekutiv, sondern legislativ in Form einer – zwischenzeitlich inhaltlich ausgedehnten – preisregulierenden Verordnung gelöst. Auch dieses latent unsystematische Abweichen von einem exekutiven Mechanismus mit Marktdefinition, Marktanalyse und Auswahl entsprechender Instrumente ist durchaus fraglich. Gleichwohl kann das Konsolidierungsverfahren als Beispiel einer Vollzugsverflechtung auch in der Variante des Vetoverfahrens durchaus Vorbildwirkung haben für andere Rechtgebiete, in denen eine dadurch bewirkte Zentralisierung viel eher gerechtfertigt ist (etwa in der Energieordnung). Hier zeigt sich im Übrigen, dass die Vollzugsphilosophie schon in den verschiedenen Netzwirtschaften nicht allein durch Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern ebenso stark durch die politische Machbarkeit geprägt ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass trotz intensiver legislativer Harmonisierung und exekutiver Verbundsteuerung vergleichsweise geringe Fortschritte bei der Entwicklung grenzüberschreitender Dienste erreicht wurden, etwa in Form eines grenzüberschreitenden einheitlichen Tarifs für Mobilfunkgespräche in Grenzregionen. Dieses Problem wurde inzwischen jedoch durch das Absenken der Roaming-Entgelte auf Null behoben. 203 Gegenwärtig besteht jedenfalls die Gefahr, dass die europäische Telekommunikationsregulierung Opfer ihres eigenen Erfolges wird. Angesichts der erreichten Ziele und der wichtigen Impulse für die nationalen Rechtsordnungen scheint gerade bei der Kommission eine Eigendynamik entstanden zu sein, die verbleibende Unterschiede auf nationaler Ebene in legislativer und exekutiver Hinsicht eher als problematische Inkonsistenzen denn als bereichernde Vielfalt im Wettbewerb der Regulierungssysteme versteht. Auf der Basis eines solchen Verständnisses besteht sodann die Neigung zu einer zu starken Harmonisierung auf legislativer Ebene und zu einer zu starken Zentralisierung bei der exekutiven Umsetzung des harmonisierten Rechts. Hier ist in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei Telekommunikationsdienstleistungen eben im Wesentlichen nicht um international handelbare Güter handelt, sondern um solche, die örtlich produziert und verkauft werden. Vollzugsun264 Negative externe Effekte liegen immer dann vor, wenn Entscheidungen eines Mitgliedstaates A Auswirkungen auf das Wohlergehen der Bürger eines anderen Mitgliedstaates B haben, ohne dass dies bei der entscheidenden Instanz in Mitgliedstaat A Berücksichtigung findet. Ein plastisches Beispiel ist die Klimapolitik: Der CO2-Ausstoß bzw. dessen Reduktion in einem Land A betrifft im Rahmen der globalen Klimaveränderung nicht nur die Bürger in Land A, sondern auch die in anderen Staaten. Ähnliche Effekte sind beim International Roaming aufgetreten: Die Regulierung der entsprechenden Entgelte in einem Mitgliedstaat A wurde durch die dortige Regulierungsbehörde vorgenommen, die gegebenenfalls anfallenden Kosten entstehen aber bei den in diesem Staat sich aufhaltenden Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten, die auf die Entscheidung keinen Einfluss nehmen können.

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

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terschiede sollten in der Telekommunikationsordnung dabei in einem gewissen Maße akzeptiert werden, um einen lernenden Wettbewerb zu ermöglichen. Das ist gerade deshalb erforderlich, weil das Telekommunikationsrecht in ganz besonderem Maße eine komplexe Materie mit hoher Handlungsunsicherheit und erhöhter Fehleranfälligkeit für exekutives Handeln darstellt. Außerdem läuft die zunehmende Vollzugsverflechtung auch auf eine Verantwortungsdiffusion hinaus, die nicht nur eine wirkungsvolle gerichtliche Kontrolle erschwert, sondern auch die politische Verantwortlichkeit unklar werden lässt. Vor diesem Hintergrund ist es auch kritisch zu sehen, wenn die gerichtliche Kontrolle in Deutschland vom BVerwG zurückgenommen wird, da bereits der Gesetzgeber in seinen Vorstrukturierungskompetenzen vom EuGH scharf eingeschränkt wurde und auch eine Rückkopplung an den politischen Prozess im Sinne einer geschlossenen demokratischen Legitimationskette angesichts der unionsrechtlich vorgegebenen weitreichenden Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden „gekappt“ wird.265 Daher sollten die weitere Entwicklung der normativen Vorgaben und die Vollzugsverflechtung im bereits bestehenden Regulierungsverbund kritisch überprüft, neujustiert und partiell auch zurückgefahren werden, soll das EU-Telekommunikationsrecht auch weiterhin als überzeugendes Rechtsgebiet bezeichnet werden können. Im jüngsten Review 2018 ist dies allerdings nicht der Fall gewesen. Hier ist vielmehr erneut eine Steigerung der normativen Regulierungskomplexität erfolgt. 204

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

13.6.2019

C-193/18

ECLI:EU:C: 2019:498

Google LLC/ Bundesrepublik Deutschland

NJW 2019, 2597 = NvWZ 2019, 1118 = MMR 2019, 514

EuGH

5.6.2019

C-142/18

ECLI:EU:C: 2019:460

Skype Communications

MMR 2019, 517

EuGH

30.1.2018

C-360/15, C-31/16

ECLI:EU:C: 218:44

College van BurNVwZ 2018, 307 = gemeester en MMR 2018, 196 Wethouders van de gemeente Amerfsfoort/X BV und Visser Vastgoed Beleggingen BV/Raad van de gemeente Appingedam

EuGH

20.12.2017 C-277/16

ECLI:EU:C: 2017:989

Polkomtel/Prezes Urzedu Komunkacji Elektronicznej

EuGH

26.7.2017

ECLI:EU:C: 2017:593

Europa Way Srl NVwZ 2017, 1450 ua/Autorità per le Garanzie nelle Comunicazioni ua

C-560/15

NVwZ 2018, 1039 = MMR 2017,808

265 Vgl. hierzu auch Gonsior, Die Verfassungsmäßigkeit administrativer Letztentscheidungsbefugnisse, Tübingen, 2018.

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215

4

§ 4 Telekommunikationsrecht Gericht

Datum

EuGH

Sammlung

Benennung

21.12.2016 C-203/15, C-698/15

ECLI:EU:C: 2017:970

Tele 2 Sverige AB/ NJW 2017, 717 = Post- och telesty- NVwZ 2017, 1025 relsen und Secretary of State for the Home Departement/Watson ua.

EuGH

15.9.2016

C-28/15

ECLI:EU:C: 2016:692

Koninklijke KPN NV ua/Autoriteit Consument en Markt (ACM)

EuGH

14.1.2016

C-395/14

ECLI:EU:C: 2016:9

Vodafone GmbH/ MMR 2017, 318 Bundesrepublik Deutschland

EuGH

26.11.2015 C-326/14

ECLI:EU:C: 2015:782

Verein für Konsu- K&R 2016, 40 menteninformation/A1 Telekom Austria

EuGH

22.1.2015

C-282/13

ECLI:EU:C: 2015:24

T-Mobile Austria GmbH

MMR 2015, 197

EuGH

10.7.2014

C-295/12 P

ECLI:EU:C: 2014:2062

Telefónica und Telefónica España/Kommission

EuZW 2014, 799

EuGH

8.4.2014

C-293/12, C-594/12

ECLI:EU:C: 2014:238

Digital Rights Ire- NJW 2014, 2169 = land Ldt/Minister NVwZ 2014, 709 = for Communicati- MMR 2014, 412 ons, Marine and Naturale Recourses ua

EuGH

14.10.2010 C-280/08

E-CLI:EU:C: 2010:603

Deutsche Telekom/Kommission

EuGH

8.6.2010

C-58/08

ECLI:EU:C: 2010:321

The Queen, auf MMR 2010, 561 = Antrag von Voda- DÖV 2010, 738 fone Ltd ua/ Secretary of State for Business, Enterprise and Regulatory Reform

EuGH

3.12.2009

C-424/07

ECLI:EU:C: 2009:749

Kommission/ Deutschland

NJW 2010, 1268 = MMR 2010, 119 = NVwZ 2010, 370

EuGH

24.4.2008

C-55/06

ECLI:EU:C: 2008:244

Arcor

NJW 2008, 2324 = MMR 2008, 523

EuGH

6.3.2008

C-82/07

ECLI:EU:C: 2008:143

Comisión del Mercado de las Telecomunicaciones

EuGH

21.2.2008

C-426/05

ECLI:EU:C: 2008:103

Tele2 Telecommu- MMR 2008, 588 nication

216

Az.

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Fundstellen

NVwZ 2017, 301 = MMR 2017, 315

K & R 2011, 104

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

13.7.2006

C-438/04

ECLI:EU:C: 2006:463

Mobistar

MMR 2006, 803

EuGH

12.6.2003

C-97/01

ECLI:EU:C: 2003:336

Kommission/ Luxemburg

EuGH

19.9.2002

C-221/01

ECLI:EU:C: 2002:518

Kommission/ Belgien

EuGH

3.7.1991

C-62/86

ECLI:EU:C: 1991:286

AKZO

NJW 1992, 677

EuG

10.4.2008,

T-271/03

ECLI:EU:C: 2008:101

Deutsche Telekom/Kommission

MMR 2008, 385

EuG

7.10.1999

T-228/97

ECLI:EU:C: 1999:246

Irish Sugar/ Kommission

BVerfG

17.7.2003

2 BvL 1/99

BVerfGE 108, 186

NJW 2003, 3468 = DVBl 2003, 1388 = NVwZ 2003, 1241

BVerfG

2.3.1993

1 BvR 1213/85

BVerfGE 88, 103

NJW 1993, 1379 = NVwZ 1993, 67 = DVBl 1993, 545

BVerfG

20.10.1982 1 BvR 1470/80

BVerfGE 61, 260

BVerfG

8.1.1981

2 BvL 3/77

BVerfGE 56, 1

NJW 1981, 1311

BVerfG

8.8.1978

2 BvL 8/77

BVerfGE 49, 89

NJW 1979, 359 = DVBl 1979, 45

BVerwG

23.11.2011 6 C 11.10; 6 C BVerwGE 12.10; 6 C 13.10 141, 223

NVwZ 2012, 1047 = DÖV 2012, 325 = MMR 2012, 771

BVerwG

17.8.2011

6 C 9.10

NVwZ 2012, 168 = DÖV 2011, 982 = MMR 2012, 340 = DVBl 2011, 1482

BVerwG

27.1.2010

6 C 22.08

NVwZ 2010, 1359 = DVBl 2010, 732 = DÖV 2010, 569

BVerwG

28.1.2009

6 C 39.07

DVBl 2009, 730 = MMR 2009, 786 = DÖV 2009, 10

BVerwG

2.4.2008

6 C 15.07

BVerwGE 140, 221

BVerwGE 131, 41

NVwZ 2008, 1359 = MMR 2009, 68

Kühling https://doi.org/10.5771/9783748900238-141 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

217

4

https://doi.org/10.5771/9783748900238-141 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5 Energierecht Markus Ludwigs A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entwicklungslinien der europäischen Energiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die drei Säulen der EU-Energiepolitik 1. Verwirklichung des Energiebinnenmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Administrativer Liberalisierungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erstes Binnenmarktpaket 1996/98 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zweites Binnenmarktpaket 2003/2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Drittes Binnenmarktpaket 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Winterpaket „Saubere Energie für alle Europäer“: Viertes Elektrizitätsbinnenmarktpaket 2. Klima- und Umweltschutz . . . . . . . . . a) Von der „20-20-20“- zur „40-32,5-32“-Initiative der EU b) Emissionshandel . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erneuerbare Energien . . . . . . . . . . d) Energieeffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Energieversorgungssicherheit . . . . . . B. Gegenstandsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Primärrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . 1. Vertragliche Verankerung der zentralen Politikziele . . . . . . . . . . . . . . . a) Binnenmarkt, Umwelt- und Klimaschutz, Versorgungssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rangverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zielharmonien und Konfliktfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuständigkeiten der EU im Energiesektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Energie-Kompetenztitel des Art. 194 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Energiepolitische Ziele . . . . . . . . (1) Ziele im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . (2) Energiepolitischer Rahmen . . . . bb) Handlungsermächtigung . . . . . . cc) Einstimmigkeitserfordernis . . . . dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Horizontale Kompetenzabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kompetenzausübungsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mitgliedstaatliche Eigentumsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Energieaußenpolitik . . . . . . . . . . . . 3. Handlungsinstrumente der EU im Energiesektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsakte nach Art. 288 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ungekennzeichnete Rechtsakte 4. Primärrechtliche Rahmensetzungen im Energiesektor . . . . . . . . . . . a) EU-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 3 4 5 6 8 10 15 16 17 18 28 33 39 48 49 50 50 54 56 59 61 62 63 70 74 77 78 82 89 90 95 97 98 99 103 106 107

b) Europäische Grundfreiheiten . . c) EU-Beihilfenrecht . . . . . . . . . . . . . . . d) EU-Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Überblick zum Recht der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sekundärrechtliche Perspektive . . . . . . . . 1. Verwirklichung des Energiebinnenmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Institutionelles Machtgefüge . . . aa) Energieagentur ACER . . . . . . . . . (1) Organisationsstruktur . . . . . . . . . (2) Aufgaben und Befugnisse . . . . . . (3) Meroni-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . bb) ENTSO Strom bzw. Gas sowie EU-VNBO und RCCs . . . . . . . . . cc) Rolle der EU-Kommission . . . . (1) Normierungsbefugnisse . . . . . . . . (2) Vetorechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Originäre Entscheidungs-/ Beschlusskompetenzen . . . . . . . . . (4) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Rolle der nationalen Regulierungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Netzzugangs- und Netzentgeltregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsatz der Kostenorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Effizienzkostenmaßstab . . . . . . . c) Entflechtungsregime . . . . . . . . . . . . aa) Überkommene Grundformen der Entflechtung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber . . . . . . . . . . . . . (1) Ownership Unbundling . . . . . . . . (2) Independent System Operator (3) Independent Transmission Operator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Kompetenz- und grundrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Ausblick: Erstreckung des Entflechtungsregimes auf Gasfernleitungen aus bzw. nach Drittstaaten . . . . . . . . . . . . . . cc) Verteilernetzbetreiber . . . . . . . . . . d) Zertifizierung von Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einfaches Zertifizierungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Spezifisches Zertifizierungsverfahren (Drittstaatenklausel) . . . e) Stärkung der Verbraucherrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Ausbau der transeuropäischen Netze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Klima- und Umweltschutz . . . . . . . . . a) Emissionshandel vor Beginn der vierten Handelsperiode . . . . aa) EU-einheitliche Obergrenze . . .

Ludwigs https://doi.org/10.5771/9783748900238-219 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

111 117 126 127 131 132 133 136 137 142 145 150 158 160 165 168 170 171 178 182 184 188 189 194 195 200 202 207

209 210 212 213 215 220 221 222 223 224

219

5

§ 5 Energierecht bb) Grundprinzip der Versteigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Versteigerungsverfahren . . . . . . . cc) Kostenlose Zuteilung nach harmonisierten und unionsweiten Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Marktstabilitätsreserve . . . . . . . . ee) Primärrechtliche Rahmensetzungen für den Emissionshandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) EU-Beihilfenrecht . . . . . . . . . . . . . . (2) EU-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . b) Erneuerbare Energien . . . . . . . . . . aa) Erneuerbare-Energien-Richtlinien 2009 und 2018 . . . . . . . . . . . bb) Primärrechtskonformität gebietsbeschränkter Fördermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Energieeffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sektorübergreifende Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Energielabel-Verordnung . . . . . . (2) Ökodesign-Richtlinie . . . . . . . . . . (3) Energieeffizienzrichtlinie . . . . . . .

225 226 228 230 232 233 234 237 238 238 244 248 249 250 253 256

bb) Sektorenbezogene Regelungen (1) Gebäude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Energie- und Industrieanlagen (3) Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Übergreifende Strukturmerkmale des „EU-Energieeffizienzrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Energieversorgungssicherheit . . . . . . a) Richtlinie 2009/119 über Mindestvorräte an Erdöl/Erdölerzeugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gassicherungsverordnung 2017/1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Risikovorsorge-Verordnung 2019/941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vorgaben der Binnenmarktrichtlinien und -verordnungen e) Energieaußenpolitik . . . . . . . . . . . . 4. Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz 5. Überblick zum Recht der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

258 259 261 266 269 270 271 272 275 276 277 278 285 286 288

Literatur: Ahner, Nicole/de Hauteclocque, Adrien/Glachant, Jean-Michel, Differentiated Integration Revisited: EU Energy Policy as Experimental Ground for a Schengen Successor?, LIEI 39 (2012), 249; Allwardt, Cederick, Europäisiertes Energierecht in Deutschland, Berlin 2006; Appel, Markus, Genehmigungsrechtliche Fragen der Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur, ER 2017, 98; Arndt, Felix, Vollzugssteuerung im Regulierungsverbund, Die Verwaltung 39 (2006), 100; Bacon, Kelyn, European Union Law of State Aid, 3. Aufl. Oxford 2017; Baldwin, Robert/Cave, Martin/Lodge, Martin, Understanding Regulation, 2. Aufl. Oxford ua 2012; Bartosch, Andreas, EU-Beihilfenrecht, 2. Aufl. München 2016; Baur, Jürgen F./ Pritzsche, Kai Uwe/Klauer, Stefan, Ownership Unbundling, Baden-Baden 2006; Baur, Jürgen F./ Pritzsche, Kai Uwe/Pooschke, Sebastian/Fischer, Florian, Eigentumsentflechtung in der Energiewirtschaft durch Europarecht, Baden-Baden 2008; Baur, Jürgen F./Salje, Peter/Schmidt-Preuß, Matthias (Hrsg.), Regulierung in der Energiewirtschaft. Ein Praxishandbuch, 2. Aufl. Köln 2016; Baur, Jürgen F./Pritzsche, Kai Uwe/Simon, Stefan (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft, Köln ua 2006; Becker, Peter, Die Nord Stream 2: Rechtliche und politische Problemlagen, ZNER 2019, 181; Behlau, Volker/Lutz, Jana/Schütt, Manuel, Klimaschutz durch Beihilfen, Baden-Baden 2012; Berg, Philipp, Der Anfang vom Ende der zivilgerichtlichen Billigkeitskontrolle energiewirtschaftsrechtlicher Netzentgelte?, RdE 2018, 184; Bernreuther, Jörn ua, Festschrift für Ulrich Spellenberg, München 2010; Bettzüge, Marc/Growitsch, Christian/ Panke, Timo, Erste Elemente eines Jahrhundertprojekts – ökonomische Betrachtungen zur Entwicklung der Europäischen Energiepolitik, ZfW 60 (2011), 50; Bickenbach, Christian, Das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 EUV und seine Kontrolle, EuR 2013, 523; Bien, Florian/ Ludwigs, Markus (Hrsg.), Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, Baden-Baden 2017; Bigot, Anna Sophie/Kirst, Philipp, Neue Vorgaben für Umweltschutz- und Energiebeihilfen, ZUR 2015, 73; Biondi, Andrea/Eeckhout, Piet/Ripley, Stefanie (eds.), EU Law after Lisbon, Oxford ua 2012; Boers, Stefanie, Konsequenzen des dritten Energiebinnenmarktpakets für die Verteilernetzbetreiber, N&R 2011, 16; Böhringer, Ayṣe-Martina, Das neue Pariser Klimaübereinkommen, ZaöRV 76 (2016), 753; Breuer, Daniel R., Zur Einpreisung von Opportunitätskosten unentgeltlich zugeteilter CO2–Emissionszertifikate in die Strompreise, Baden-Baden 2012; Brigola, Alexander, Artikel 35 AEUV von Groenveld bis New Valmar – Abschied eines Fremdkörpers im Gebäude des freien Warenverkehrs, EuZW 2017, 5; Brinktrine, Ralf/Ludwigs, Markus/Seidel, Wolfgang (Hrsg.), Energieumweltrecht in Zeiten von Europäisierung und Energiewende, Berlin 2014; Britz, Gabriele, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund? – Europäische Verwaltungsentwicklung am Beispiel

220

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§ 5 Energierecht ABl. 2009 L Nr. 211/94; zuletzt geändert durch Richtlinie (EU) 2019/692 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.4.2019, ABl. 2019 L 117/1. Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG, ABl. 2009 L 211/55; aufgehoben durch Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/125. Verordnung (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005, ABl. 2009 L 211/36; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2018/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/1 Verordnung (EG) Nr. 714/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1228/2003, ABl. 2009 L 211/15; aufgehoben durch Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/54. Verordnung (EG) Nr. 713/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, ABl. 2009 L 211/1; aufgehoben durch Verordnung (EU) 2019/942 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/22. Richtlinie 2009/119/EG des Rates v. 14.9.2009 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen zu halten, ABl. 2009 L 265/9; geändert durch Durchführungsrichtlinie (EU) 2018/1581 der Kommission v. 19.10.2018, ABl. 2018 L 263/57. Richtlinie 2009/125/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.10.2009 zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung energieverbrauchsrelevanter Produkte, ABl. 2009 L 285/10; geändert durch Richtlinie 2012/27/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2012, ABl. 2012 L 315/1. Richtlinie 2010/31/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.5.2010 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, ABl. 2010 L 153/13; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2018/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/1. Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. 2010 L 334/17. Richtlinie 2011/70/Euratom des Rates v. 19.7.2011 über einen Gemeinschaftsrahmen für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle, ABl. 2011 L 199/48. Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts, ABl. 2011 L 326/1. Richtlinie 2012/27/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2012 zur Energieeffizienz, zur Änderung der Richtlinien 2009/125/EG und 2010/30/EU und zur Aufhebung der Richtlinien 2004/8/EG und 2006/32/EG, ABl. 2012 L 315/1; zuletzt geändert durch Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/125. Verordnung (EU) Nr. 347/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.4.2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 713/2009, (EG) Nr. 714/2009 und (EG) Nr. 715/2009, ABl. 2013 L 115/39; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/943 des EP und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/54. Verordnung (EU) Nr. 525/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.5.2013 über ein System für die Überwachung von Treibhausgasemissionen sowie für die Berichterstattung über diese Emissionen und über andere klimaschutzrelevante Informationen auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Union und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 280/2004/EG, ABl. 2013 L 165/13; aufgehoben (zum 1.1.2021) durch Verordnung (EU) 2018/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/1.

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§ 5 Energierecht Richtlinie 2013/59/Euratom des Rates v. 5.12.2013 zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung und zur Aufhebung der Richtlinien 89/618/Euratom, 90/641/Euratom, 96/29/Euratom, 97/43/ Euratom und 2003/122/Euratom, ABl. 2013 L 13/1. Verordnung (EU) Nr. 1316/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2013 zur Schaffung der Fazilität „Connecting Europe“, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 913/2010 und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 680/2007 und (EG) Nr. 67/2010, ABl. 2013 L 348/129; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/495 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.3.2019, ABl. 2019 L 85I/16. Verordnung (EU) Nr. 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.4.2015 über die Überwachung von Kohlendioxidemissionen aus dem Seeverkehr, die Berichterstattung darüber und die Prüfung dieser Emissionen und zur Änderung der Richtlinie 2009/16/EG, ABl. 2015 L 123/55; geändert durch Delegierte Verordnung (EU) 2016/2071 der Kommission v. 22.9.2016, ABl. 2016 L 320/1. Beschluss (EU) 2015/1814 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.2015 über die Einrichtung und Anwendung einer Marktstabilitätsreserve für das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Union und zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG, ABl. 2015 L 264/1; geändert durch Richtlinie (EU) 2018/410 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.3.2018, ABl. 2018 L 76/3. Beschluss (EU) 2017/684 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.4.2017 zur Einrichtung eines Mechanismus für den Informationsaustausch über zwischenstaatliche Abkommen und nicht verbindliche Instrumente zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern im Energiebereich, und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 994/2012/EU, ABl. 2017 L 99/1. Verordnung (EU) 2017/1369 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.7.2017 zur Festlegung eines Rahmens für die Energieverbrauchskennzeichnung und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/30/EU, ABl. 2017 L 1908/1. Verordnung (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010, ABl. 2017 L 280/1. Verordnung (EU) 2018/841 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.2018 über die Einbeziehung der Emissionen und des Abbaus von Treibhausgasen aus Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft in den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 und zur Änderung der VO (EU) Nr. 525/2013 und des Beschlusses Nr. 529/2013/EU, ABl. 2018 L 156/1. Verordnung (EU) 2018/842 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.2018 zur Festlegung verbindlicher nationaler Jahresziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2021 bis 2030 als Beitrag zu Klimaschutzmaßnahmen zwecks Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen von Paris sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 525/2013, ABl. 2018 L 156/26. Verordnung (Euratom) 2018/1563 des Rates v. 15.10.2018 über das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschung und Ausbildung (2019-2020) in Ergänzung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation Horizont 2020 und zur Aufhebung der Verordnung (Euratom) Nr. 1314/2013, ABl. 2018 L 262/1. Verordnung (EU) 2018/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2018 über das Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 663/2009 und (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinie 94/22/EG, 98/70/EG, 2009/31/EG, 2009/73/EG, 2010/31/EU, 2012/27/EU und 2013/30/EU des EP und des Rates, der Richtlinien 2009/119/EG und (EU) 2015/652 des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 525/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2018 L 328/1; geändert durch Beschluss (EU) 2019/504 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.3.2019, ABl. 2019 L 85I/66. Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Neufassung), ABl. 2018 L 328/82.

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§ 5 Energierecht Empfehlung (EU) 2019/553 der Kommission vom 3.4.2019 zur Cybersicherheit im Energiesektor, ABl. 2019 L 96/50. Empfehlung (EU) 2019/786 der Kommission v. 8.5.2019 zur Renovierung von Gebäuden, ABl. 2019 L 127/34. Empfehlung (EU) 2019/1019 der Kommission v. 7.6.2019 zur Modernisierung von Gebäuden, ABl. 2019 L 165/70. Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU, ABl. 2019 L 158/125. Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019 über den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. 2019 L 158/54. Verordnung (EU) 2019/942 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019 zur Gründung einer Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, ABl. 2019 L 158/22. Verordnung (EU) 2019/941 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.6.2019 über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/89/EG, ABl. 2019 L 158/1. Sonstige Maßnahmen der Union (Auswahl): Mitteilung der Kommission „Aktionsplan zur Verbesserung der Energieeffizienz in der Europäischen Gemeinschaft“ v. 26.4.2000, KOM(2000) 247 endg. Grünbuch der Kommission „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“ v. 29.11.2000, KOM(2000) 769 endg. Grünbuch der Kommission „Energieeffizienz oder Weniger kann Mehr sein“ v. 9.11.2005, KOM(2005) 265 endg./2. Grünbuch der Kommission, „Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie“ v. 8.3.2006, KOM(2006) 105 endg. Mitteilung der Kommission „Energiepolitische Außenbeziehungen – Grundsätze – Maßnahmen“ v. 12.10.2006, KOM(2006) 590 endg. Mitteilung der Kommission „Aktionsplan für Energieeffizienz: Das Potenzial ausschöpfen“ v. 19.10.2006, KOM(2006) 545 endg. Mitteilung der Kommission „Fahrplan für erneuerbare Energien — Erneuerbare Energien im 21. Jahrhundert: größere Nachhaltigkeit in der Zukunft“ v. 10.1.2007, KOM(2006) 848 endg. Mitteilung der Kommission „Eine Energiepolitik für Europa“ v. 10.1.2007, KOM(2007), 1 endg. Mitteilung der Kommission „Untersuchung der europäischen Gas- und Elektrizitätssektoren gem. Art. 17 VO (EG) Nr. 1/2003 (Abschlußbericht)“ v. 10.1.2007, KOM(2006) 851 endg. Mitteilung der Kommission „Energieeffizienz: Erreichung des 20 %-Ziels“ v. 13.11.2008, KOM(2008) 772 endg. Mitteilung der Kommission „EU-Aktionsplan für Energieversorgungssicherheit und -solidarität“ v. 13.11.2008, KOM(2008) 781 endg./2. Mitteilung der Kommission „Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ v. 3.3.2010, KOM(2010) 2020 endg. Bericht der Kommission „Fortschritte bei den Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen“ v. 25.6.2010, KOM(2010) 330 endg. Mitteilung der Kommission „Energie 2020 – Eine Strategie für wettbewerbsfähige, nachhaltige und sichere Energie“ v. 10.11.2010, KOM(2010) 639 endg./2. Mitteilung der Kommission „Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach – ein Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz“ v. 17.11.2010, KOM(2010) 677 endg.

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§ 5 Energierecht Mitteilung der Kommission „Ressourcenschonendes Europa – eine Leitinitiative innerhalb der Strategie Europa 2020“ v. 26.1.2011, KOM(2011) 21 endg. Mitteilung der Kommission „Energieeffizienzplan 2011“ v. 8.3.2011, KOM(2011) 109 endg. Weißbuch der Kommission „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“ v. 28.3.2011, KOM(2011) 144 endg. Mitteilung der Kommission zur Energieversorgungssicherheit und internationalen Zusammenarbeit „Die EU-Energiepolitik: Entwicklung der Beziehungen zu Partnern außerhalb der EU“ v. 7.9.2011, KOM(2011) 539 endg. Mitteilung der Kommission „Energiefahrplan 2050“ v. 15.12.2011, KOM(2011) 885 endg. Mitteilung der Kommission „Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten nach 2012“ v. 5.6.2012, ABl. 2012, Nr. C 158/4. Mitteilung der Kommission „Erneuerbare Energien: ein wichtiger Faktor auf dem europäischen Energiemarkt“ v. 6.6.2012, COM(2012) 271 final. Bericht der Kommission „Umsetzung der Mitteilung zur Energieversorgungssicherheit und internationalen Zusammenarbeit sowie der Schlussfolgerungen des Rates „Energie“ vom November 2011“ v. 13.9.2013, COM(2013) 638 final. Mitteilung der Kommission „Langfristige Vision für die Infrastruktur in Europa und darüber hinaus“ v. 14.10.2013, COM(2013) 711 final. Mitteilung der Kommission „Ein Rahmen für die Klima- und Energiepolitik im Zeitraum 2020–2030“ v. 22.1.2014, COM(2014) 15 final. Mitteilung der Kommission „Strategie für eine sichere europäische Energieversorgung“ v. 28.5.2014, COM(2014) 330 final. Mitteilung der Kommission „Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014–2020“ v. 28.6.2014, ABl. 2014, Nr. C 200/1. Mitteilung der Kommission „Energieeffizienz und ihr Beitrag zur Energieversorgungssicherheit und zum Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030“ v. 23.7.2014, COM(2014) 520 final. Mitteilung der Kommission über die kurzfristige Krisenfestigkeit des europäischen Gassystems. Vorkehrungen für den Fall einer Unterbrechung der Gaslieferungen aus dem Osten im Herbst und Winter 2014/2015 v. 16.10.2014, COM(2014) 654 final. Mitteilung der Kommission „Rahmenstrategie für eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie“ v. 25.2.2015, COM(2015) 80. Mitteilung der Kommission, „Das Paris-Protokoll – Ein Blueprint zur Bekämpfung des globalen Klimawandels nach 2020“ v. 25.2.2015, COM(2015) 81 final. Mitteilung der Kommission „Erreichung des Stromverbundziels von 10 % – Vorbereitung des europäischen Stromnetzes auf 2020“ v. 25.2.2015, COM(2015) 82 final. Bericht der Kommission über die Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen v. 15.7.2015, COM(2015) 345 final. Mitteilung der Kommission „Bericht zur Lage der Energieunion 2015“ v. 18.11.2015, COM(2015) 572 final. Mitteilung der Kommission „Ökodesign-Arbeitsprogramm 2016–2019“ v. 30.11.2016, COM(2016) 773 final. Bericht der Kommission „Energiepreise und -kosten in Europa“ v. 30.11.2016, COM(2016) 769 final. Bericht der Kommission „Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung über Kapazitätsmechanismen“ v. 30.11.2016, COM(2016), 752 final. Mitteilung der Kommission „Saubere Energie für alle Europäer“ v. 30.11.2016, COM(2016) 860 final.

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§ 5 Energierecht Mitteilung der Kommission „Zweiter Bericht über die Lage der Energieunion“ v. 1.2.2017, COM(2017) 53 final. Bericht der Kommission über das Funktionieren des CO2-Marktes in der EU v. 1.2.2017, COM(2017) 48 final. Mitteilung der Kommission „Dritter Bericht zur Lage der Energieunion“ v. 23.11.2017, COM(2017) 688 final. Mitteilung der Kommission „Mitteilung über die Stärkung der europäischen Energienetze“ v. 23.11.2017, COM(2017) 718 final. Bericht der Kommission über die Halbzeitbewertung der Fazilität „Connecting Europe“ (CEF), v. 13.2.2018, COM(2018) 66 final. Mitteilung der Kommission „Ein sauberer Planet für alle – Eine Europäische strategische, langfristige Vision für eine wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klimaneutrale Wirtschaft v. 28.11.2018, COM(2018) 773 final. Bericht der Kommission „Energiepreise und Energiekosten in Europa“ v. 9.1.2019, COM(2019) 1 final. Bericht der Kommission, Vierter Bericht zur Lage der Energieunion v. 9.4.2019, COM(2019) 175 final. Bericht der Kommission, Fortschrittsbericht „Erneuerbare Energiequellen“, COM(2019) 225 final. Mitteilung der Kommission „Eine effizientere und demokratischere Beschlussfassung in der Energie- und Klimapolitik der EU“ v. 9.4.2019, COM(2019) 177 final. Mitteilung der Kommission „Vereint für Energieunion und Klimaschutz – die Grundlage für eine erfolgreiche Energiewende schaffen“ v. 18.6.2019, COM(2019) 285 final.

A. Einleitung I. Entwicklungslinien der europäischen Energiepolitik 1 Die Entwicklung einer gemeinsamen Energiepolitik stellte von Beginn an einen zentralen Eckpfeiler des europäischen Einigungsprozesses dar.1 Mit dem im Jahr 2002 ausgelaufenen Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl2 und dem – fortgeltenden – Euratom-Vertrag nahmen gleich zwei Gründungsverträge den Energiesektor in den Fokus. Im Kontrast hierzu war im E(W)G-Vertrag keine ausdrückliche Energiekompetenz vorgesehen. Mit dem Maastrichter Unionsvertrag von 1992 wurde der „Bereich Energie“ dann zwar durch Art. 3 lit. t EG-Vertrag explizit adressiert. Hierbei handelte es sich aber nur um eine Aufgabennorm, die selbst keine Zuständigkeiten der Gemeinschaft begründen konnte.3 Die im Vorfeld des Maastrichter Vertrags von der Kommission vorgeschlagene Etablierung eines eigenen Titels „Energiepolitik“4 ließ sich gerade nicht realisieren. Auch weitere Anläufe im Kontext der Reformverträge von Am1 Für eine ausführliche historische Betrachtung vgl. aus juristischer Perspektive: Grunwald, S. 37 ff.; aus politikwissenschaftlicher Sicht: Pollak/Schubert/Slominski, S. 63 ff., 108 ff., 115 ff.; s. auch die kompakte Darstellung bei Kühling in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4) → Bd. 4 § 22 Rn. 35 ff. 2 S. den Überblick bei Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 198 f., die auch zutreffend darauf hinweisen, dass Kohle und Stahl seit Auslaufen des EGKSV mit Ablauf des 23.7.2002 den allgemeinen Vertragsregeln unterliegen; zum früheren Vorrang des EGKSV vor dem nur subsidiär anwendbaren EG-Vertrag: EuGH 22.4.2008 – C-408/04P, Slg 2008, I-2767 Rn. 85 ff. – Kommission/Salzgitter AG. 3 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 35; J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 6; Schwarze/Hirsbrunner EU-Kommentar AEUV Art. 194 Rn. 2. 4 Hierzu Grunwald, S. 54 f., mit Abdruck des Textentwurfs; für einen Überblick zu den unterschiedlichen Ansätzen der Einführung einer originären Energiekompetenz: Baur in ders./Pritzsche/Simon Kap. 1 Rn. 44 f.; Pollak/Schubert/Slominski, S. 111 f.

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A. Einleitung

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sterdam und Nizza scheiterten.5 Gleiches galt – nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden – für den in Art. III-256 vorgesehenen originären Energie-Titel des EU-Verfassungsvertrags. Eine signifikante Aufwertung hat die Europäische Energiepolitik auf der Ebene des Pri- 2 märrechts erst durch den am 1.12.2009 in Kraft getretenen Lissabonner Vertrag erfahren. Hierdurch wurde ein Titel XXI „Energie“ im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert. Die Einfügung der neuen Energiekompetenz des Art. 194 AEUV macht deutlich, dass die Energiepolitik einen eigenständigen Politikbereich und nicht nur einen Unterfall der vielfältigen unspezifischen Energiekompetenzen der EU darstellt. Damit wird auf Primärrechtsebene nachvollzogen, was der Blick auf das dichte Geflecht sekundärrechtlicher Regelungen schon zuvor offenbarte.

II. Die drei Säulen der EU-Energiepolitik Bei einer Gesamtbetrachtung der Primär- und Sekundärrechtsebene kristallisieren sich drei 3 Säulen heraus, auf denen die Energiepolitik der EU ruht. Sie zeichnen sich durch unterschiedliche – freilich zum Teil miteinander verbundene – Entwicklungspfade aus. Im Einzelnen handelt es sich um die Verwirklichung des Energiebinnenmarktes, den Umweltund Klimaschutz sowie die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit. Diese drei Bausteine der europäischen Energiepolitik stehen, ausdifferenziert in fünf eng miteinander verknüpfte und sich gegenseitig verstärkende Dimensionen,6 auch im Fokus des 2015 ausgerufenen Prozesses zur Schaffung einer Energieunion.7 1. Verwirklichung des Energiebinnenmarktes Die Realisierung des Energiebinnenmarktes hat mehrere Stadien durchlaufen. Sie reichen 4 von einem in der Anfangszeit betriebenen administrativen Liberalisierungsansatz bis zur Verabschiedung mehrerer Legislativpakete, mit dem Dritten Energiebinnenmarktpaket von 2009 als Herzstück.8 Den vorläufigen Schlusspunkt der Entwicklung bildet das als Teil des Projekts einer Energieunion in den Jahren 2018 und 2019 angenommene Winterpaket „Saubere Energie für alle Europäer“.9 a) Administrativer Liberalisierungsansatz In einer ersten Phase unternahm die Kommission den Versuch, die Öffnung der Energie- 5 märkte durch Einzelentscheidungen nach ex-Art. 81, 82 EG (Art. 101, 102 AEUV) und 5 Maichel in FS für Götz, S. 55 (63). 6 Im Einzelnen werden im Rahmen der Energieunion angestrebt: (1) Sicherheit der Energieversorgung, Solidarität und Vertrauen (2) ein vollständig integrierter europäischer Energiemarkt (3) Energieeffizienz als Beitrag zur Senkung der Nachfrage (4) Verringerung der CO2-Emissionen der Wirtschaft (5) Forschung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Grundlegend zu diesen fünf Dimensionen vgl. die Mitteilung der Kommission „Rahmenstrategie für eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie“ v. 25.2.2015, COM(2015) 80 final, 4 ff. 7 Von zentraler Bedeutung sind neben der in Fn. 6 zitierten Rahmenstrategie noch zwei weitere Dokumente der Kommission v. 25.2.2015. Hierbei handelt es sich um die Mitteilungen „Das Paris-Protokoll – Ein Blueprint zur Bekämpfung des globalen Klimawandels nach 2020“, COM(2015) 81 final sowie „Erreichung des Stromverbundziels von 10 % – Vorbereitung des europäischen Stromnetzes auf 2020“, COM(2015) 82 final; eingehend: Germelmann EuR 2016, 3 mwN; Röben, S. 3 ff., 22 ff.; vgl. auch die inzwischen von der Kommission vorgelegten vier Berichte zur „Lage der Energieunion“ in COM(2015) 572 final, COM(2017) 53 final, COM(2017) 688 final und COM(2019) 177 final. 8 Näher zur Entwicklung des sekundärrechtlichen Regelungsrahmens vor Erlass des sog Winterpakets: Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiRKap. M Rn. 50 ff. Danner/Theobald/Gundel Europ. EnergieR Rn. 1–13; Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 3 ff. 9 Grundlegend COM(2016) 860 final; s. noch die Nachweise in Fn. 45.

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§ 5 Energierecht die Durchführung von Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstößen gegen ex-Art. 30, 34 und 37 EG (Art. 34, 35, 37 AEUV) zu forcieren. Insoweit lässt sich auch von einer „administrativen Liberalisierungsstrategie“10 sprechen. Dieser Ansatz führte jedoch nicht zu den gewünschten Resultaten. Ein Grund hierfür war, dass sich die vom EuGH11 formulierten Ermittlungsanforderungen hinsichtlich der Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes aus ex-Art. 86 Abs. 2 EG (Art. 106 Abs. 2 AEUV) als für die Kommission nur schwer erfüllbar erwiesen.12 b) Erstes Binnenmarktpaket 1996/98

6 Aufgrund der Schwächen des administrativen Ansatzes erfolgte Mitte der 1990er-Jahre ein Paradigmenwechsel hin zu einer legislativen Strategie.13 Erste wichtige Impulse gingen von den 1996 bzw. 1998 erlassenen Binnenmarktrichtlinien Strom (Strom-RL)14 und Gas (Gas-RL)15 aus.16 Beide Rechtsakte zielten auf die schrittweise Verwirklichung eines Energiebinnenmarktes.17 Im Zentrum stand die Überwindung der Netzmonopole. Zu diesem Zweck forderten Art. 16 ff. Strom-RL und Art. 14 ff. Gas-RL die Einräumung eines Anspruchs auf Netzzugang an Dritte (sog Third Party Access). Den Mitgliedstaaten verblieb dabei allerdings im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung noch die Wahl zwischen den Modellen des verhandelten und des regulierten Netzzugangs.18 7 Die Binnenmarktrichtlinien Strom und Gas umfassten darüber hinaus auch erste Ansätze für eine Entflechtung integrierter Energieversorgungsunternehmen (sog Unbundling). Hierzu wurden die Mitgliedstaaten in Art. 14 Abs. 3 Strom-RL und Art. 13 Abs. 3 GasRL zum Erlass von Vorschriften über eine getrennte interne Buchführung (sog buchhalterisches Unbundling) verpflichtet. Zudem forderte Art. 7 Abs. 6 Strom-RL für den Elektrizitätssektor die organisatorische Unabhängigkeit der Betreiber von Übertragungsnetzen von den Bereichen Erzeugung und Vertrieb sowie von sonstigen – nicht mit dem Übertragungssystem zusammenhängenden – unternehmerischen Tätigkeiten (sog operationelles Unbundling). Die Art. 9, 12 Strom-RL und Art. 8, 11 Gas-RL begründeten schließlich die

10 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 3; s. auch ders. in Storr, S. 1: „Strategie administrativer Einzelanordnung“. 11 EuGH 23.10.1997 – C-157/94, Slg 1997, I-5699 Rn. 26 ff., 58 f. – Kommission/Niederlande; EuGH 23.10.1997 – C-158/94, Slg 1997, I-5789 Rn. 35 ff., 54 f. – Kommission/Italien; EuGH 23.10.1997 – C-159/94, Slg 1997, I-5815 Rn. 43 ff., 101 f. – Kommission/Frankreich; ferner EuGH 27.4.1994 – C-393/92, Slg 1994, I-1477 Rn. 33 ff. – Almelo; s. aber auch EuGH 7.6.2005 – C-17/03, Slg 2005, I-4983 Rn. 76 – Vereiniging voor Energie, Milieu en Water ua, wonach der Gerichtshof mit seinem Urteil in der Rs. C-157/94 „keine Garantie für einen Status Quo auf Gemeinschaftsebene gegeben [hat]“. 12 Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 10 Rn. 1. 13 Eingehend zum Folgenden bereits Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 6 Rn. 5 f., 14 ff., 19 ff.; zu den partikulären Rechtsetzungsaktivitäten der EG im Vorfeld des Ersten Binnenmarktpakets vgl. Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 50 ff.; s. auch J.P. Schneider in ders./ Theobald § 2 Rn. 35 ff. 14 RL 96/92/EG des EP und des Rates v. 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. 1996 L 27/20; aufgehoben durch RL 2003/54/EG des EP und des Rates v. 26.6.2003, ABl. 2003 L 176/57. 15 RL 98/30/EG des EP und des Rates v. 22.6.1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, ABl. 1998 L 204/1; aufgehoben durch RL 2003/55/EG des EP und des Rates v. 26.6.2003, ABl. 2003 L 176/37. 16 Ausführliche Darstellung bei Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 59 ff.; s. auch Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Hermes EuR Kap. 35 Rn. 6 f.; speziell zur Strom-RL: von Danwitz Energy Law Journal 27 (2006), 423 (435 ff.). 17 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 5 Strom-RL 96/92 und Erwägungsgrund Nr. 7 Gas-RL 98/30. 18 Zur im Stromsektor anerkannten (s. Art. 18 Strom-RL) Netzzugangsalternative des Alleinabnehmersystems vgl. Schneider, S. 428 ff., 475 f.

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A. Einleitung

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Pflicht der Netzbetreiber zur vertraulichen Behandlung wirtschaftlich sensibler Informationen (sog informationelles Unbundling).19 c) Zweites Binnenmarktpaket 2003/2005 Die mit dem ersten Legislativpaket von 1996/98 eingeleitete Umstrukturierung der natio- 8 nalen Energiemärkte leistete zwar einen wichtigen Beitrag zur Schaffung des Energiebinnenmarktes. Ungeachtet dessen wurden weiterhin „(...) schwerwiegende Mängel und weit reichende Möglichkeiten zur Verbesserung der Funktionsweise der Märkte“ diagnostiziert.20 Als neuralgische Punkte erkannte der Gemeinschaftsgesetzgeber den Netzzugang, die Tarifierung sowie die unterschiedliche Marktöffnung in den einzelnen Mitgliedstaaten.21 Diese Defizite sollten mit den am 26.6.2003 erlassenen sog Beschleunigungsrichtlinien Strom und Gas (BRL Strom/Gas) behoben werden.22 Flankierend traten in den Jahren 2003 bzw. 2005 die – auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkte – Stromhandelsverordnung 1228/200323 und die – auf überregionale Gasfernleitungsnetzbetreiber bezogene – Erdgaszugangsverordnung 1775/2005 hinzu.24 Die im Zentrum stehenden Beschleunigungsrichtlinien Strom und Gas setzten drei inhalt- 9 liche Schwerpunkte.25 Erstens wurden die Mitgliedstaaten in den Art. 10, 15 ff. BRL Strom bzw. Art. 9 f., 13 ff. BRL Gas zur Etablierung eines komplexen Entflechtungsregimes verpflichtet. Hiervon umfasst war zum einen – als echtes Novum – ein (gesellschafts-)rechtliches Unbundling. Zum anderen erfolgte eine Verschärfung der bereits bekannten Formen der buchhalterischen, informatorischen und organisatorischen Entflechtung. Zweitens wurden die Option eines verhandelten Netzzugangs beseitigt und die Mitgliedstaaten in Art. 23 Abs. 2 BRL Strom bzw. Art. 25 Abs. 2 BRL Gas auf das Modell des regulierten Netzzugangs festgelegt.26 Die Gewährung eines Umsetzungsspielraums erfolgte „nur“ noch insoweit, als für die Netzzugangsentgelte sowohl eine Methoden- als auch eine Einzelentgeltregulierung etabliert werden konnte. Drittens trafen die Beschleunigungsrichtlinien erstmals weitgehende Vorgaben im Hinblick auf die institutionelle (Regulierungs-)Architektur. So wurden die Mitgliedstaaten in Art. 23 Abs. 1 BRL Strom und Art. 25 Abs. 1 BRL Gas zur Einrichtung einer Regulierungsbehörde verpflichtet, der die Aufgabe zufallen sollte, „Nichtdiskriminierung, echten Wettbewerb und ein effizientes Funktionieren des Marktes sicherzustellen (…)“.

19 Für den Fall des Alleinabnehmersystems (s. Fn. 18) statuierte Art. 15 Strom-RL zudem spezifische Entflechtungsvorgaben. 20 Vgl. jeweils den Erwägungsgrund Nr. 2 der RL 2003/54/EG des EP und des Rates v. 26.6.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 96/92/EG, ABl. 2003 L 176/37 (BRL Strom) bzw. der RL 2003/55/EG des EP des Rates v. 26.6.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 98/30/EG, ABl. 2003 L 176/57 (BRL Gas). 21 Erwägungsgrund Nr. 5 BRL Strom. Für den Gassektor wurden in Erwägungsgrund Nr. 6 BRL Gas zudem der Zugang zu Speicheranlagen und die Interoperabilität zwischen Systemen genannt. 22 Nachweis in Fn. 20. 23 VO (EG) Nr. 1228/2003 des EP und des Rates v. 26.6.2003 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel, ABl. 2003 L 176/1; aufgehoben durch VO (EG) Nr. 714/2009 des EP und des Rates v. 13.7.2009, ABl. 2009 L 211/15. 24 VO (EG) Nr. 1775/2005 des EP und des Rates v. 28.9.2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen, ABl. 2005 L 289/1; aufgehoben durch VO (EG) Nr. 715/2009 des EP und des Rates v. 13.7.2009, ABl. 2009 L 211/36. 25 Für eine detaillierte Darstellung s. Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 72 ff., 96 ff., s. dort (aaO, Rn. 65 ff. und Rn. 118 ff.) auch den Überblick zur Stromhandels-VO 1228/2003 und zur Gasnetzzugangs-VO 1775/2005; ferner Cameron E.L.Rev. 30 (2005), 631 (634 ff.); von Danwitz Energy Law Journal 27 (2006), 423 (438 ff.). 26 Näher von Danwitz Energy Law Journal 27 (2006), 423 (440 ff.).

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§ 5 Energierecht d) Drittes Binnenmarktpaket 2009

10 Noch vor dem vollständigen Ablauf der Umsetzungsfrist der Beschleunigungsrichtlinien wurde von der EU-Kommission ein erneuter Reformbedarf behauptet. So diagnostizierte sie in ihrem am 10.1.2007 vorgelegten Abschlussbericht über die wettbewerbsbezogene sektorspezifische Untersuchung „eine Reihe schwerwiegender Störungen (…), die verhindern, dass die europäischen Energienutzer und Verbraucher in vollem Umfang von der Liberalisierung profitieren“.27 In der am gleichen Tag vorgelegten Mitteilung „Eine Energiepolitik für Europa“ forderte sie daher ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen, um binnen drei Jahren „ein europäisches Gas- und Stromnetz sowie einen wirklich wettbewerbsorientierten europaweiten Energiemarkt zu schaffen“.28 Am 19.9.2007 legte die Kommission dann ihre Vorschläge für ein drittes Legislativpaket vor.29 Dieses wurde nach schwierigen Verhandlungen, insbesondere um die Fortentwicklung des Entflechtungsregimes, am 13.7.2009 in einer erheblich veränderten Fassung vom Gemeinschaftsgesetzgeber angenommen. 11 Das Dritte Binnenmarktpaket setzt(e) sich aus insgesamt fünf Rechtsakten zusammen.30 Im Zentrum standen die Strom-Richtlinie 2009/7231 und die Gas-Richtlinie 2009/73.32 Inhaltlich lagen die Akzente auf einer erneuten Verschärfung des Entflechtungsregimes, Regeln für die Zertifizierung von Netzbetreibern sowie einer Stärkung der Rolle der nationalen Regulierungsbehörden. Weitergehend umfasst(e) das Dritte Liberalisierungs-Paket auch die neue Stromhandels-Verordnung 714/200933 und die neue ErdgaszugangsVerordnung 715/2009.34 Hierdurch wurde ua die Gründung eines europäischen Netzes der Übertragungs- bzw. Gasfernleitungsnetzbetreiber (ENTSO-Strom bzw. ENTSO-Gas) vorgegeben. Die fünfte Maßnahme bildete die ACER-Verordnung 713/2009. Sie hatte die Errichtung der neuen Agentur für die Zusammenarbeit der Energie-Regulierungsbehörden (ACER) zum Gegenstand.35 12 Die fünf Rechtsakte des Dritten Legislativpakets sind am 3.9.2009 in Kraft getreten. Die Umsetzung der beiden Richtlinien ins nationale Recht musste im Wesentlichen bis zum 3.3.2011 erfolgen. In Deutschland erfolgte die (verspätete) Umsetzung durch das am 4.8.2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vor-

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KOM(2006) 851 endg., Tz. 73. KOM(2007) 1 endg. (unter 3.1.). Näher hierzu Neveling ZNER 2007, 378 ff. Instruktiv hierzu Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 ff.; Hancher/Salerno in Biondi/Eeckhout/ Ripley, S. 367 (374 ff.); Ludwigs ZG 2010, 222 (231 ff.). RL 2009/72/EG des EP und des Rates v. 13.7.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/54/EG, ABl. 2009 L 211/55; aufgehoben (zum 1.1.2021) durch RL (EU) 2019/944 des EP und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/125. RL 2009/73/EG des EP und des Rates v. 13.7.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/55/EG, ABl. 2009 L Nr. 211/94; zuletzt geändert durch RL (EU) 2019/692 des EP und des Rates v. 17.4.2019, ABl. 2019 L 117/1. VO (EG) Nr. 714/2009 des EP und des Rates v. 13.7.2009 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 1228/2003, ABl. 2009 L 211/15; aufgehoben (zum 1.1.2020) durch VO (EU) 2019/943 des EP und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/54; näher Pritzsche/Reimers in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 17. VO (EG) Nr. 715/2009 des EP und des Rates v. 13.7.2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 1775/2005, ABl. 2009 L 211/36; zuletzt geändert durch VO (EU) 2018/1999 des EP und des Rates v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/1; näher Barbknecht in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 18 Rn. 3 ff. VO (EG) Nr. 713/2009 des EP und des Rates v. 13.7.2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, ABl. 2009 L 211/1; aufgehoben durch VO (EU) 2019/942 des EP und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/22.

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A. Einleitung

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schriften vom 26.7.2011.36 Zur Verwirklichung eines zeitlichen Gleichklangs galten schließlich auch die Verordnungen seit dem 3.3.2011 in jedem Mitgliedstaat. Besonders umstritten war insbesondere die Gestaltung des Unbundling-Regimes. Hier for- 13 derten Art. 47 Abs. 3–5 Strom-RL 2009/72 und Art. 52 Abs. 3–5 Gas-RL 2009/73 für das ITO-Modell, als dem von Kommission und Parlament abgelehnten „schwarzen Schaf“ des Dritten Energiebinnenmarktpakets,37 sogar ausdrücklich eine detaillierte Überprüfung bis zum 3.3.2013. In ihren Vorschlägen zum Winterpaket von Ende 2016/ Anfang 2017 hat die Kommission dann freilich keinen Änderungsbedarf bei den „robusten Entflechtungsvorschriften“ mehr erkannt.38 Speziell für den Bereich Energiehandel wurde am 25.10.2011 die sog REMIT39-Verord- 14 nung 1227/2011 erlassen.40 Darin werden Insiderhandel (Art. 3 REMIT-VO) und Marktmanipulationen (Art. 5 REMIT-VO) ausdrücklich verboten. Vom Anwendungsbereich erfasst werden alle Energiegroßhandelstransaktionen in der EU.41 Zuständig für die Ausführung der REMIT-VO ist die Energieagentur ACER im Zusammenspiel mit den nationalen Regulierungsbehörden.42 Die drei Grundsäulen der REMIT-Verordnung bestehen in einer Vereinheitlichung und Verbesserung des Rechtsrahmens, der Errichtung einer unionsweiten Aufsichtsarchitektur (unter Einbeziehung der nationalen Regulierungsbehörden) sowie der Sanktionierung marktmissbräuchlichen Verhaltens.43 In der am 7.1.2015 in Kraft getretenen Durchführungs-VO 1348/201444 hat die EU-Kommission nunmehr auch die konkreten Inhalte, Formate und Übermittlungswege für die nach der REMIT-Verordnung an ACER zu meldenden Großhandelsdaten verbindlich festgelegt. e) Winterpaket „Saubere Energie für alle Europäer“: Viertes Elektrizitätsbinnenmarktpaket Das Winterpaket „Saubere Energie für alle Europäer“ („Clean energy for All Europeans“) 15 soll den Rahmen für die Energiepolitik in der EU bis 2030 prägen und umfasst insgesamt vier Richtlinien und vier Verordnungen.45 Binnenmarktrelevanz haben vor allem die Vorschläge zum Strommarkt-Design. Die Rede ist insoweit auch von einem Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpaket.46 Konkret handelt es sich um Neufassungen der Richtlinie über gemeinsame Regeln für den Elektrizitätsbinnenmarkt (Recast der RL 2009/72)47 und der

36 BGBl. I 1554. 37 Prägnant Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf. Rn. 45 (67. EL 2010). 38 Vgl. exemplarisch die Begründung zum Vorschlag der Kommission v. 30.11.2016 bzw. 23.2.2017 für eine RL des EP und des Rates mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, COM 2016(864) final, 3. 39 REMIT=Regulation on Wholesale Energy Market Integrity and Transparency. 40 VO (EU) Nr. 1227/2011 des EP und des Rates v. 25.10.2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts, ABl. 2011 L 326/1. 41 Näher Weyer N&R 2012, 72. 42 Vgl. Klotz N&R 2012, 2 (3). 43 Näher Lüdemann/Kröger HumFoR 2013, 49 (50 ff.). 44 Durchführungs-VO (EU) Nr. 1348/2014 der Kommission v. 17.12.2014 über die Datenmeldung gem. Art. 8 Abs. 2 und 6 der VO (EU) Nr. 1227/2011 des EP und des Rates über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts, ABl. 2014 L 363/121; hierzu etwa von Hoff EnWZ 2015, 18. 45 Grundlegend COM(2016) 860 final; zu den konkreten Vorschlägen der Kommission vgl. instruktiv Scholtka/Martin ER 2017, 183 (240); s. auch Groebel in Ludwigs, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, S. 33 ff.; dies. in FS Schmidt-Preuß, S. 605 (623 ff.). 46 Vgl. Scholtka/Martin ER 2017, 183 (240); s. zu den weiteren Rechtsakten des EU-Winterpakets Pause/ Kahles ER 2019, 9; sowie Rn. 238 ff., 248 ff., 277 ff. 47 RL (EU) 2019/944 des EP und des Rates v. 5.6.2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU, ABl. 2019 L 158/125.

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§ 5 Energierecht Verordnung über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Recast der Verordnung 714/2009)48 sowie der ACER-Verordnung (Recast der Verordnung [EG] 713/2009).49 Hinzu tritt eine neue Verordnung über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor,50 die im Kern freilich der Säule „Versorgungssicherheit“ zuzuordnen ist.51 Eine politische Einigung zu diesen vier Rechtsakten wurde am 18.12.2018 im Trilogverfahren zwischen Europäischem Parlament, Rat und Kommission erzielt.52 Nach der Veröffentlichung im Amtsblatt am 14.6.2019 sind die drei Verordnungen am 4.7.2019 in Kraft getreten. Die Strombinnenmarktverordnung (EU) gilt ausweislich ihres Art. 71 Abs. 2 UAbs. 1 (mit den in UAbs. 2 aufgelisteten Ausnahmen) freilich erst ab dem 1.1.2020. Die Strombinnenmarktrichtlinie (EU) 2019/944 ist im Kern bis zum 31.12.2020 in nationales Recht umzusetzen (Art. 71 Abs. 1 RL). Zentrales Ziel ist die Schaffung eines flexibleren und stärker marktorientierten Designs für den EU-Strommarkt, das besser in der Lage ist, einen größeren Anteil an erneuerbaren Energien zu integrieren. Kernelemente ua bilden die Einführung eines neuen Grenzwerts (550 g CO2/kWh) für die durch Kapazitätsmechanismen geförderten Kraftwerke, eine erhöhte Inbezugnahme der Verbraucher beim Übergang zu einem modernen Strommarktdesign, die Förderung von grenzüberschreitendem Handel und Wettbewerb (einschl. notwendiger Investionen), die Stärkung der Energieagentur ACER sowie die Etablierung von Mechanismen im Falle von Stromkrisen auf nationaler und regionaler Ebene. Noch ausgeklammert bleibt im Clean Energy Package das künftige europäische Gasmarktdesign. Die Kommission hat allerdings bereits angedeutet, dass dem Winterpaket zum Stromsektor ein Winterpaket Gas folgen dürfte.53 2. Klima- und Umweltschutz

16 Die zweite Säule der europäischen Energiepolitik wird durch das Regelungsziel des Umwelt- und Klimaschutzes geprägt. Die hierauf bezogenen Maßnahmen der Union haben zur Herausbildung eines sog Energieumweltrechts54 als abgrenzbarem Teilgebiet des Energierechts beigetragen. Es umfasst die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, „die unmittelbar die den Umweltschutz berührenden Merkmale der Energiegewinnung, der Energieversorgung und des Energieverbrauchs in den Sektoren Strom, Wärme und Kraftstoff regeln“.55 Im Fokus stehen der Emissionshandel, die Förderung erneuerbarer Energien sowie die Steigerung der Energieeffizienz.56 Aus stärker umweltrechtlicher Perspektive werden diese

48 VO (EU) 2019/943 des EP und des Rates v. 5.6.2019 über den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. 2019 L 158/54. 49 VO (EU) 2019/942 des EP und des Rates v. 5.6.2019 zur Gründung einer Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, ABl. 2019 L 158/22. 50 VO (EU) 2019/941 des EP und des Rates v. 5.6.2019 über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor und zur Aufhebung der RL 2005/89/EG, ABl. 2019 L 158/1. 51 Anders Scholtka/Martin ER 2017, 240 (241), wo die Risikovorsorge-VO den Neuregelungen zum Elektrizitätsbinnenmarkt zugeordnet wird. 52 Pressemitteilung v. 18.12.2018: „Kommission begrüßt politische Einigung über den Abschluss des Pakets ‚Saubere Energie für alle Europäer‘“, IP/18/6870. 53 Vgl. in diesem Kontext auch die Studie „Quo vadis EU gas market regulatory framework“ aus dem Februar 2018; abrufbar unter: https://ec.europa.eu/energy/en/studies/study-quo-vadis-gas-market-regulato ry-framework (zuletzt abgerufen am 30.6.2019). 54 Eingehend hierzu jüngst: Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 1 ff., 17 ff.; s. auch Ehricke/Hackländer ZEuS 2008, 579 (581); Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 12 ff., 52 ff.; Hermes in FS für Rehbinder, S. 569 ff.; Rodi EurUP 2005, 165 ff.; Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 14; Weyer in Säcker Handbuch, S. 658 (670 ff.). 55 Kahl JuS 2010, 599 (599); ähnlich Calliess, EU nach Lissabon, S. 474 f. 56 Calliess, EU nach Lissabon, S. 479: „Maßnahmetrias“; s. auch Schmidt/Kahl/Gärditz § 6 Rn. 6: „Kernelemente“.

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drei Materien auch häufig dem sog Umweltenergierecht57 zugeordnet. Dabei handelt es sich indes nur um eine Frage der Bezeichnung, ohne dass inhaltliche Auswirkungen hiermit verbunden wären.58 Bisweilen wird der spezifische Bereich des „Energieeffizienzrechts“ sogar als eigenständiges „Rechtsgebiet im Werden“ klassifiziert,59 was angesichts der Disparität der Regelungen allerdings nicht überzeugen kann.60 Durch einen weitaus engeren Anwendungsbereich als das Energieumweltrecht ist schließlich das regelmäßig allein auf die Transformation des deutschen Energiesystems bezogene Energiewende-Recht gekennzeichnet.61 a) Von der „20-20-20“- zur „40-32,5-32“-Initiative der EU Das Energieumweltrecht wird heute ebenenübergreifend durch die Formulierung quantifi- 17 zierter Klimaschutzziele geprägt.62 Auf völkerrechtlicher Ebene wird in dem von 197 Vertragsparteien (darunter die EU und sämtliche EU-Mitgliedstaaten) geschlossenen und bereits am 4.11.2016 in Kraft getretenen Pariser Abkommen (PA) das völkerrechtlich verbindliche Ziel formuliert, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf „deutlich unter“ 2° C zu halten.63 Weitergehend sollen Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg bei 1,5° C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen (Art. 2 Abs. 1 lit. a PA). Auf europäischer Ebene wurden die drei Kernmaterien des Energieumweltrechts zunächst durch die „20-20-20“-Initiative der EU adressiert. Diese wurzelt in der am 8./9.3.2007 vom Europäischen Rat angenommenen Energiestrategie und dem hierauf aufbauenden Aktionsplan „Eine Energiepolitik für Europa“.64 Dort hat die Union erstmals eine kohärente und umfassende Programmatik für eine integrierte Klima- und Energiepolitik entwickelt.65 Im Mittelpunkt stehen die drei abstrakt gefassten Leitziele der EU im Energiebereich: Nachhaltigkeit/Umweltverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit. Zur Verwirklichung jener – in Art. 194 Abs. 1 AEUV reflektierten – Trias verpflichtete sich die EU auf die Initiative „20-20-20“: Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 20 % gegenüber 1990 gesenkt, der Anteil erneuerbarer Energieträger am Energieverbrauch auf 20 % erhöht und die Energieeffizienz um 57 Vgl. etwa Müller/Schulze-Fielitz in dies., S. 9 (13); grundlegend Kloepfer Umweltrecht § 18; s. auch die Systematisierung des „Umweltenergierechts“ bei Sailer NVwZ 2011, 718 (721 ff.), der zugleich auf die Überschneidungsbereiche zum „Klimaschutzrecht“ (hierzu instruktiv Gärditz JuS 2008, 324 ff.; Schmidt/Kahl/Gärditz, § 6 Rn. 5; vgl. auch bereits Winkler, S. 39 ff., 126 ff., 245 ff.) hinweist. 58 Für inhaltliche Bedeutungsgleichheit auch Kahl JuS 2010, 599 (599 mit Fn. 7); Kloepfer, Umweltschutzrecht, § 11 Rn. 4; anders Müller/Schulze-Fielitz in dies., S. 9 (13 mit Fn. 26), die das Energieumweltrecht als Teilgebiet des Umweltenergierechts einordnen. 59 Britz/Eifert/Reimer in dies., Energieeffizienzrecht, S. 63 (107); ähnlich Härtel NuR 2011, 825 (832): „entstehendes Rechtsgebiet in nuce“. 60 Ludwigs in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 175 ff., dort auch allgemein zu den Voraussetzungen der Entstehung eines neuen Rechtsgebiets; grundlegend insoweit Schulze-Fielitz in Willoweit, Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur, S. 989 (990 ff.). 61 Kahl/Bews JURA 2014, 1104 (1106); Schmidt/Kahl/Gärditz, § 6 Rn. 7. 62 Näher zum Folgenden: Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 6; s. auch Saurer NVwZ 2017, 1574; aktueller Überblick (auch zum Stand der Zielerreichung) in: Mitteilung der Kommission „Vereint für Energieunion und Klimaschutz – die Grundlage für eine erfolgreiche Energiewende schaffen“ v. 18.6.2019, COM(2019) 285 final. 63 Der Text des Abkommens ist abgedruckt im ABl. 2016 L 282/4; instruktiv Böhringer ZaöRV 76 (2016), 753; König in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 2 Rn. 22; Kreuter-Kirchhof DVBl. 2017, 97; Nückel ZUR 2017, 525; zu den das „Herzstück“ des Abkommens darstellenden, alle fünf Jahre zu verschärfenden, Selbstverpflichtungen der Staaten vgl. auch Kreuter-Kirchhof ZUR 2019, 396 (397). 64 Vgl. Rat der EU: Europäischer Rat (Brüssel), 8./9.3.2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok. 7224/1/07 REV 1, Tz. 27 ff. und Anlage I. 65 Kahl EuR 2009, 601 (601); Ludwigs ZG 2010, 222 (230); s. auch Kerth in FS für Scheuing, S. 340 (347 f.).

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§ 5 Energierecht 20 % verbessert werden. Der evolutive Charakter dieser Zielvorgaben wurde beim Europäischen Rat vom 23./24.10.2014 bestätigt. Hier einigten sich die Staats- und Regierungschefs darauf, bis 2030 die Treibhausgasemissionen um mindestens 40 % (gegenüber 1990) zu verringern, den Anteil erneuerbarer Energien auf mindestens 27 % zu steigern und die Energieeffizienz um mindestens 27 % (am Maßstab der Prognosen für 2030) zu erhöhen.66 Im Kontext der Diskussionen um das jüngst verabschiedete Winterpaket „Saubere Energie für alle Europäer“ erfolgte dann sogar die Verständigung auf ein (freilich nur indikatives) Energieeffizienzziel von 32,5 % und ein (verbindliches) EU-Ziel für einen Anteil erneuerbarer Energien von 32 % (jeweils mit Review 2023).67 Als viertes, stärker binnenmarktbezogenes Hauptziel auf Unionsebene hat der Europäische Rat vom 23./24.10.2014 schließlich ein durch die Kommission wiederholt aufgegriffenes68 Stromverbundziel von 10 % der vorhandenen Stromerzeugungskapazität bis 2020 bzw. 15 % bis 2030 formuliert.69 b) Emissionshandel

18 Der mit der Richtlinie 2003/87 (EH-RL)70 zum 1.1.2005 eingeführte Emissionshandel für Energie- und emissionsintensive Industrieanlagen stellt einen ökonomisch fundierten Mechanismus dar, an dem aktuell (Stand: 2017) europaweit etwa 11.000 Kraftwerke und Industrieanlagen sowie über 520 Fluggesellschaften teilnehmen. Rund 45 % der europäischen Treibhausgasemissionen werden in dem System erfasst.71 Er wurde in Umsetzung der Klimaschutzverpflichtungen von Union und Mitgliedstaaten aus dem Kyoto-Protokoll etabliert.72 Dabei wird ein Gemeinschaftssystem etabliert, „um auf kosteneffiziente und wirtschaftlich effiziente Weise auf eine Verringerung von Treibhausgasemissionen hinzuwirken“ (Art. 1 S. 1 EH-RL). In ökonomischer Diktion geht es um die Beseitigung von Marktversagen durch die kosteneffiziente Internalisierung der mit dem Ausstoß von Treibhausgasen verbundenen negativen externen Effekte.73 19 Die Grundidee des Emissionshandels besteht in einer marktkonformen Mengensteuerung:74 Zunächst wird die (sukzessive reduzierte) Gesamtemissionsmenge für einen be-

66 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates (Tagung v. 23./24.10.2014), EUCO 169/14, Tz. 2 f. 67 Instruktiv zum Diskussionsprozess Wehle RdE 2018, 407 (409 ff.). 68 Vgl. die Mitteilungen der Kommission „Erreichung des Stromverbundziels von 10 % – Vorbereitung des europäischen Stromnetzes auf 2020“ v. 25.2.2015, COM(2015) 82 final sowie „Mitteilung über die Stärkung der europäischen Energienetze“ v. 23.11.2017, COM(2017) 718 final; zu existierenden Lücken in der grenzüberschreitenden Infrastruktur vgl. Cameron in ders./Heffron, 1.25. 69 EUCO 169/14, Tz. 2 f. 70 RL 2003/87/EG des EP und des Rates v. 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der RL 96/61/EG des Rates, ABl. 2003 L 275/32; zuletzt geändert durch RL (EU) 2018/410 des EP und des Rates v. 14.3.2018, ABl. 2018, Nr. 76/3; näher zu den europarechtlichen Grundlagen des Emissionshandels aus jüngerer Zeit: Helbig, S. 47 ff.; König in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 2 Rn. 40 ff.; s. auch Breuer, S. 48 ff. 71 COM (2017) 48 final, S. 6. 72 Vgl. insoweit die Entscheidung 2002/358/EG des Rates v. 25.4.2002 über die Genehmigung des Protokolls von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen im Namen der EG sowie die gemeinsame Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtungen, ABl. 2002 L 130/1 (mit Abdruck des Protokolls in Anh. I). Die Kyoto-Verpflichtungen wurden zwischen den EUMitgliedstaaten im sog Burden-Sharing-Agreement verteilt (vgl. Art. 2 iVm Anh. II der Entscheidung 2002/358/EG). 73 Näher Baldwin/Cave/Lodge, S. 198 ff.; aus dem juristischen Schrifttum: Breuer, S. 45 ff.; Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 71 f., 117 f., 414 ff., 436 ff. 74 Grundlegend Dales, S. 77 ff. (für den Bereich der Wasserverschmutzung); vgl. zu den ökonomischen Grundlagen des Zertifikatehandels statt vieler: Höffler in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. B Rn. 111 ff.; Seeliger, S. 131 ff., 153 ff.; Sturm/Vogt, S. 90 ff., 97 ff.

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stimmten Schadstoff (insbes. CO2) festgelegt und – in Form von Emissionsberechtigungen – auf die beteiligten Emittenten verteilt. In der Folge soll ein Markt entstehen, der die optimale Allokation der Zertifikate herbeiführt. Die Anlagenbetreiber haben die Wahl, entweder ihren Emissionsausstoß zu reduzieren oder zusätzliche Zertifikate am Markt zu erwerben. Eine Emissionshandelspflichtigkeit besteht für die in Art. 2 Abs. 1 iVm Anhang I EH- 20 RL abschließend aufgeführten Tätigkeiten75 und beschränkt sich bislang weitgehend auf das zentral bedeutsame Treibhausgas CO2.76 Neben den unionsweit für ca. 50 % der CO2-Emissionen verantwortlichen Energie- und Industrieanlagen wird hier seit dem 1.1.2012 auch der Luftverkehr erfasst.77 Die kontrovers diskutierte Völkerrechtskonformität der Einbeziehung des Luftverkehrs in das Emissionshandelssystem78 hat der EuGH nach eingehender Prüfung am Maßstab des Völkervertragsrechts (Chicago-Abkommen, Kyoto-Protokoll, „Open-Skies“-Abkommen) und des Völkergewohnheitsrechts bejaht.79 Von systemprägender Bedeutung ist im Weiteren die in Art. 12 Abs. 3 EH-RL geregelte 21 Pflicht der Anlagenbetreiber, bis zum 30. April jeden Jahres eine Anzahl von Emissionszertifikaten an die zuständige Behörde80 abzugeben, die den Gesamtemissionen im abgelaufenen Kalenderjahr entspricht. Ein Zertifikat gibt nach Art. 3 lit. a EH-RL die Berechtigung „zur Emission von einer Tonne Kohlendioxidäquivalent in einem bestimmten Zeitraum (…)“. Die notwendigen Emissionsberechtigungen können die verantwortlichen Unternehmen auf dreierlei Wegen erlangen:81 Durch behördliche Erstzuteilung, im Wege der rechtsgeschäftlichen Übertragung oder (jedenfalls bis Ende 2020) durch den Erwerb von im Ausland erzeugten und in Berechtigungen umtauschbaren Emissionsgutschriften nach Maßgabe der sog Linking Directive 2004/101.82 Im Blickfeld steht vor allem die Primärallokation der Emissionsberechtigungen. Sie voll- 22 zog bzw. vollzieht sich in den drei bisherigen Perioden durch höchst unterschiedliche Zuteilungsmethoden. In den beiden ersten Handelsperioden von 2005–2007 bzw. von 2008– 2012 erfolgt(e) die behördliche Erstzuteilung nach Maßgabe eines nationalen Zuteilungsplans (s. Art. 9 Abs. 1 EH-RL aF), der einer (beschränkten) Kontrolle durch die Europäi75 Zur gleichheitsrechtlichen Rechtfertigung der Nichteinbeziehung des Chemiesektors und des Nichteisenmetallsektors in der ersten Anwendungsphase: EuGH 16.12.2008 – C-127/07, Slg 2008, I-9895 Rn. 57 ff. – Arcelor. 76 S. Art. 2 Abs. 1 iVm Anh. II EH-RL. 77 Vgl. insoweit die RL 2008/101/EG des EP und des Rates v. 19.11.2008 zur Änderung der RL 2003/87/EG zwecks Einbeziehung des Luftverkehrs in das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft, ABl. 2009 L 8/3; hierzu aus der Lit. zB Pegatzky/Nixdorf NVwZ 2009, 1395 (1396 ff.) Zum bislang nicht einbezogenen Seeverkehr vgl. die VO (EU) Nr. 2015/757 des EP und des Rates v. 29.4.2015 über die Überwachung von Kohlendioxidemissionen aus dem Seeverkehr, die Berichterstattung darüber und die Prüfung dieser Emissionen und zur Änderung der RL 2009/16/EG, ABl. 2015 L 123/55; geändert durch Delegierte VO (EU) 2016/2071 der Kommission v. 22.9.2016, ABl. 2016 L 320/1; darin vorgesehen ist ua die jährliche Vorlage eines Emissionsberichts ab 2019 (Art. 11 Abs. 1 VO). 78 Dezidiert kritisch Bartlik EuR 2011, 196 (205 ff.). 79 EuGH 21.12.2011 – C-366/10, Slg 2011, I-13755 Rn. 46 ff., 157 – Air Transport Association of America; zustimmend Athen EuZW 2012, 337 (340 f.). 80 In Deutschland ist dies gem. § 19 Abs. 1 Nr. 3 TEHG das Umweltbundesamt (UBA) bzw. dort die Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt). 81 Vgl. Helbig, S. 63. 82 Mit der RL 2004/101/EG des EP und des Rates v. 27.10.2004 (ABl. 2004 L 338/18) wurde die Möglichkeit eröffnet, Emissionsgutschriften, die aus sog CDM (Clean-Development Mechanism)-Projekten oder aus JI (Joint Implementation)-Projekten iSd (zwischenzeitlich bis Ende 2020 verlängerten) KyotoProtokolls resultieren, in den EU-Emissionshandel einzubringen; vgl. für Einzelheiten: Ehrmann ZUR 2006, 410 (411 ff.); zur komplexen Einbindung projektbezogener Mechanismen im Rahmen der dritten Handelsperiode: Ehrmann in Gundel/Lange, Klimaschutz nach Kopenhagen, S. 17 (31 f.); zur Rechtslage ab 2021: ders. in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, TEHG § 1 Rn. 21.

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§ 5 Energierecht

sche Kommission unterlag.83 Dabei waren die Mitgliedstaaten nach Art. 10 EH-RL aF in der ersten Handelsperiode (2005–2007) verpflichtet, mindestens 95 % und in der zweiten Handelsperiode (2008–2012) zumindest 90 % der Zertifikate kostenlos zuzuteilen. 23 Mit der am 1.1.2013 beginnenden dritten Handelsperiode hat sich ein durch die Änderungs-Richtlinie 2009/2984 angestoßener Paradigmenwechsel vollzogen. Er zeichnet sich, neben der Ausweitung des Emissionshandelssystems auf weitere Tätigkeiten und Treibhausgase,85 durch drei Kernelemente aus: Die Etablierung einer EU-einheitlichen Obergrenze, die Verankerung des Grundprinzips der Versteigerung und die – soweit noch möglich – kostenlose Zuteilung nach unionsweiten und vollständig harmonisierten Regeln. 24 Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise geriet das EU-Emissionshandelssystem unter erheblichen Druck. Als Folge der schwachen Industrieproduktion kam es zu einem deutlichen Rückgang der Zertifikatenachfrage.86 Der hieraus resultierende Verfall der Zertifikatepreise minimierte zugleich die Anreize für Emissionsminderungen.87 Zur Problemlösung beschlossen Parlament und Rat, im Zeitraum von 2014–2016 insgesamt 900 Millionen Zertifikate zunächst nicht zu versteigern, sondern zurückzustellen (sog Backloading).88 Die zurückgehaltenen Zertifikate wurden (ebenso wie weitere, nicht zugeteilte Zertifikate) in die zum 1.1.2019 eingeführte und jüngst vom EuGH89 bestätigte Marktstabilitätsreserve (MSR)90 überführt. Die MSR soll als Langfristmaßnahme dazu dienen, Konjunkturschwankungen und andere externe Effekte abzufedern. 25 Zur Vorbereitung der vierten Handelsperiode von 2021–2030 wurden sodann in der Änderungsrichtlinie 2018/41091 neue Regelungen geschaffen und die existierenden Bestimmungen des Emissionshandels an die aktuellen Entwicklungen angepasst. Kernelemente bilden eine forcierte jährliche Absenkung der Gesamtzahl an Zertifikaten (2,2 %, statt bisher 1,74 %) sowie die Verschärfung der Marktstabilitätsreserve (Steigerung der Entnahmerate von 12 % auf 24 % bzw. Löschung von überschüssigen Berechtigungen). Im Übrigen wurden die wesentlichen Strukturelemente des Emissionshandels-Systems beibehalten.92

83 S. Art. 9 Abs. 3 EH-RL aF. 84 RL 2009/29/EG des EP und des Rates v. 23.4.2009 zur Änderung der RL 2003/87/EG zwecks Verbesserung und Ausweitung des Gemeinschaftssystems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten, ABl. 2009 L 140/63; dazu zB Epiney ZUR 2010, 236 (238); Hutsch NordÖR 2011, 8 (9 ff.). 85 S. Anhang I der EH-RL 2003/87 (vgl. aber auch die den Mitgliedstaaten in Art. 27 EH-RL eingeräumte Opt-out-Option für Kleinemittenten). 86 Näher König in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 2 Rn. 32. 87 Ide, S. 180; Kreuter-Kirchhof EuZW 2017, 412 (414 f.), mit Hinweis auf das Absinken der Preise für Emissionsberechtigungen von 25–30 EUR zu Beginn der zweiten Handelsperiode auf unter 3 EUR im April 2013. 88 Beschluss Nr. 1359/2013/EU des EP und des Rates v. 17.12.2013 zur Änderung der RL 2003/87/EG zur Klarstellung der Bestimmungen über den zeitlichen Ablauf von Versteigerungen von Treibhausgasemissionszertifikaten, ABl. 2013 L 343/1; hierzu Neuser in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 95 (107 f.). 89 EuGH 21.6.2018 – C-5/16, ECLI:EU:C:2018:483 – Republik Polen/Parlament und Rat. 90 Beschluss (EU) 2015/1814 des EP und des Rates v. 6.10.2015 über die Einrichtung und Anwendung einer Marktstabilitätsreserve für das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Union und zur Änderung der RL 2003/87/EG, ABl. 2015 L 264/1; geändert durch RL (EU) 2018/410 des EP und des Rates v. 14.3.2018, ABl. 2018 L 76/3. 91 RL (EU) 2018/410 des EP und des Rates v. 14.3.2018 zur Änderung der RL 2003/87/EG zwecks Unterstützung kosteneffizienter Emissionsreduktionen und zur Förderung von Investitionen mit geringem CO2-Ausstoß und des Beschlusses (EU) 2015/1814, ABl. 2018 L 76/3. 92 Ehrmann in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, TEHG § 1 Rn. 9.

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Die nicht dem europäischen Emissionshandel unterfallenden Sektoren werden von der 26 Lastenteilungsverordnung 2018/842 adressiert.93 Darin enthalten sind verbindliche Zielvorgaben zur Reduzierung des Emissionsausstoßes der Mitgliedstaaten im Zeitraum von 2021–2030.94 Die Verordnung knüpft an die noch bis 2020 maßgebliche Regulierung des Effort-Sharing durch die Lastenteilungsentscheidung 406/200995 an. Mit der neuen Verordnung soll die Erreichung des EU-Ziels einer Reduzierung der Treibhausgasemissionen in den Lastenteilungssektoren um 30 % bis 2030 (gegenüber 2005) sichergestellt werden (Art. 1 VO). Deutschland ist verpflichtet, insgesamt 38 % seiner Treibhausgasemissionen einzusparen (Art. 4 Abs. 1 iVm Anhang I VO). Die CCS-Richtlinie 2009/3196 zielt darauf ab, einen Rechtsrahmen für die umweltverträg- 27 liche unterirdische Speicherung von CO2 zu schaffen. Damit sollen ein Beitrag zur Reduzierung des atmosphärischen CO2-Gehalts geleistet und unionsweit einheitliche Kriterien für die Abscheidung von CO2, den Transport und die dauerhafte und sichere Speicherung formuliert werden. Für derartige Emissionen besteht dann auch keine Verpflichtung zur Abgabe von Zertifikaten (s. Art. 12 Abs. 3 a EH-RL). Eine Rechtspflicht der Mitgliedstaaten zur Einführung der CCS (Carbon Dioxide Capture and Geological Storage)-Technologie wird freilich nicht statuiert.97 c) Erneuerbare Energien Nach ersten Ansätzen in den 1970er-Jahren98 wurde die Politik der (heutigen) EU zur För- 28 derung erneuerbarer Energiequellen mit der Vorlage eines Grün-99 und eines Weißbuchs 100

93 Vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst werden Gebäude, Landwirtschaft (Nicht-CO2-Emissionen), Abfallwirtschaft und Verkehr (mit Ausnahme des Luftverkehrs und des internationalen Seeverkehrs); s. auch Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 111. 94 VO (EU) 2018/842 des EP und des Rates v. 30.5.2018 zur Festlegung verbindlicher nationaler Jahresziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2021–2030 als Beitrag zu Klimaschutzmaßnahmen zwecks Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen von Paris sowie zur Änderung der VO (EU) Nr. 525/2013, ABl. 2018 L 156/26; s. daneben noch die VO (EU) 2018/841 des EP und des Rates v. 30.5.2018 über die Einbeziehung der Emissionen und des Abbaus von Treibhausgasen aus Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft in den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 und zur Änderung der VO (EU) Nr. 525/2013 und des Beschlusses Nr. 529/2013/EU, ABl. 2018 L 156/1. 95 Entscheidung Nr. 406/2009/EG des EP und des Rates v. 23.4.2009 über die Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen mit Blick auf die Erfüllung der Verpflichtungen der Gemeinschaft zur Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2020, ABl. 2009 L 140/136; s. dazu Czybulka EurUP 2009, 26 (30 f.); Kerth in FS für Scheuing, S. 340 (352 f.); Ludwigs ZG 2010, 222 (236). 96 RL 2009/31/EG des EP und des Rates v. 23.4.2009 über die geologische Speicherung von Kohlendioxid und zur Änderung der RL 85/337/EWG des Rates sowie der RL 2000/60/EG, 2001/80/EG, 2004/35/EG, 2006/12/EG und 2008/1/EG des EP und des Rates sowie der VO (EG) Nr. 1013/2006, ABl. 2009 L 140/114; zuletzt geändert durch VO (EU) 2018/1999 des EP und des Rates v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/1; für einen Überblick hierzu vgl. Vogt, S. 29 ff.; Wickel ZUR 2011, 115; Wißmann ZJS 2009, 297. 97 Zur zögerlichen, auf die Erprobung und Demonstration beschränkten Umsetzung durch das Kohlendioxid-Speicherungsgesetz (KSpG) v. 18.8.2012 (BGBl. I 1726) knapp Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 90. 98 Vgl. etwa die VO (EWG) Nr. 1302/78 des Rates v. 12.6.1978 über die Gewährung einer finanziellen Unterstützung für Vorhaben zur Nutzung alternativer Energiequellen, ABl. 1978 L 158/3. 99 Mitteilung der Kommission „Energie für die Zukunft: Erneuerbare Energiequellen – Grünbuch für eine Gemeinschaftsstrategie“ v. 20.11.1996, KOM(1996) 576 endg. 100 Mitteilung der Kommission „Energie für die Zukunft: Erneuerbare Energieträger – Weißbuch für eine Gemeinschaftsstrategie und Aktionsplan“ v. 26.11.1997, KOM(1997) 599 endg.; s. ferner die sich hieran anschließende Mitteilung der Kommission „Umsetzung der Gemeinschaftsstrategie und des Aktionsplans zu erneuerbaren Energiequellen (1998–2000)“ v. 16.2.2001, KOM(2001) 69 endg.

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in den Jahren 1996 bzw. 1997 maßgeblich vorangetrieben.101 In der Folge kam es zum Erlass der Erneuerbare-Energien-Richtlinie 2001/77102 einerseits und der BiokraftstoffRichtlinie 2003/30103 andererseits. 29 Die Richtlinie 2001/77 war darauf ausgerichtet, den Anteil der aus erneuerbaren Energien erzeugten Elektrizität (EE-Anteil) von 13,9 % (Deutschland: 4,5 %) im Jahr 1997 auf 22 % (Deutschland: 12,5 %) in 2010 zu steigern. Hierzu wurden im Anhang der Richtlinie „Referenzwerte für die nationalen Richtziele“ formuliert. Diese waren von den Mitgliedstaaten aber nur „zu berücksichtigen“. Zudem mangelte es an bindenden Vorgaben zu den Mechanismen der Zielverwirklichung. Den Hintergrund bildete die Vielfalt der unterschiedlichen – preis- bzw. mengengesteuerten – nationalen Fördersysteme.104 Die Mitgliedstaaten trafen lediglich bestimmte, in Art. 3 Abs. 2 und 3 RL geregelte, Berichterstattungspflichten. Dieser weitgehende Verzicht auf verbindliche Vorgaben erwies sich indes nicht als zielführend. So gelangte die Kommission bereits im Jahr 2004 zu dem Befund, dass der anvisierte EE-Anteil an der Stromerzeugung von 22 % bis 2010 „mit den derzeitigen Politiken und Maßnahmen nicht erreicht werden kann“.105 30 Die Richtlinie 2003/30 zielte darauf ab, die Verwendung von Biokraftstoffen oder anderen erneuerbaren Kraftstoffen als Ersatz für Otto- und Dieselkraftstoffe im Verkehrssektor zu fördern. Erneut verzichtete der Gemeinschaftsgesetzgeber auf bindende Zielvorgaben. Vielmehr „sollten“ die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 RL lediglich sicherstellen, dass ein Mindestanteil von Biokraftstoffen und anderen erneuerbaren Kraftstoffen auf ihren Märkten in Verkehr gebracht wird und hierfür nationale Richtwerte festlegen. Zu diesem Zweck wurden nicht-rechtsverbindliche Bezugswerte in Höhe von 2 % (bis zum 31.12.2005) bzw. 5,5 % (bis zum 31.12.2010) formuliert. Auch hier musste die Kommission aber frühzeitig eine deutliche Zielverfehlung diagnostizieren.106 31 Wichtige Impulse entfaltete sodann die Mitteilung der Kommission vom 10.1.2007 „Fahrplan für erneuerbare Energien — Erneuerbare Energien im 21. Jahrhundert: größere Nachhaltigkeit in der Zukunft“.107 Darin wurden als verbindliche Ziele 20 % für den Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch und 10 % für Energie aus erneuerbaren Quellen im Verkehrssektor bis 2020 anvisiert.108 Der Umsetzung dieser Prämissen diente die Richtlinie 2009/28 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77 und 2003/30.109 Im Zentrum stand hier die Festlegung rechtsverbindlicher nationaler Mindestanteile in Art. 3 Abs. 1 S. 1 (iVm Anhang I Teil A) RL. Im jüngsten Fortschrittsbericht „Erneuerbare Ener101 Ausführlich zu den unterschiedlichen „Entwicklungsstadien der erneuerbaren Energien in der EG“: Pomana, S. 48 ff.; s. auch Calliess/Hey in Müller, S. 223 (237 ff.); Hazrat, S. 70 ff.; Kröger, S. 100 ff. 102 RL 2001/77/EG des EP und des Rates v. 27.9.2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. 2001 283/33; aufgehoben durch RL 2009/28/EG des EP und des Rates v. 23.4.2009, ABl. 2009 L 140/16. 103 RL 2003/30/EG des EP und des Rates v. 8.5.2003 zur Förderung der Verwendung von Biokraftstoffen oder anderen erneuerbaren Kraftstoffen im Verkehrssektor, ABl. 2003 L 123/42; aufgehoben durch RL 2009/28/EG des EP und des Rates v. 23.4.2009, ABl. 2009 L 140/16. 104 Für einen Überblick zu den unterschiedlichen Fördermodellen in den Mitgliedstaaten der EU vgl. Pomana, S. 174 ff. mwN; s. auch die Mitteilung der Kommission zur „Förderung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen“ v. 7.12.2005, KOM(2005) 627 endg., 4 ff. 105 Mitteilung der Kommission „Der Anteil erneuerbarer Energien in der EU“ v. 26.5.2004, KOM(2004) 366 endg., 5, 14. 106 Mitteilung der Kommission „Fortschrittsbericht Biokraftstoffe“ v. 10.1.2007, KOM(2006) 845 endg., 6. 107 KOM(2006) 848 endg. 108 KOM(2006) 848 endg., 11. 109 ABl. 2009 L 140/16.

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giequellen“ vom 9.4.2019 stellt die Kommission fest, dass erneuerbare Energien im Jahr 2017 in der EU 17,52% des Bruttoendenergieverbrauchs ausmachten, womit der bei 16 % für den Zeitraum 2017-2018 liegende indikative Zielpfad zur Erreichung des 20 %Ziel bis 2020 sogar leicht übertroffen wurde.110 Den (vorerst) letzten Entwicklungsschritt bildet die im Kontext des Winterpakets „Saube- 32 re Energie für alle Europäer“ erfolgte Neufassung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie vom 11.12.2018, die bis zum 30.6.2021 in nationales Recht umzusetzen ist.111 Darin statuiert der Unionsgesetzgeber einen neuen gemeinsamen Förderrahmen für regenerative Energien. Dieser ist durch eine Hinwendung zu offenen, transparenten, wettbewerbsfördernden, nichtdiskriminierenden und kosteneffizienten Fördermechanismen gekennzeichnet (Art. 4 Abs. 4 RL). Eine explizite Festlegung auf das Ausschreibungsverfahren erfolgt allerdings nicht, so dass den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer ErmittIung der Förderhöhe in alternativen Verfahren verbleibt.112 In direkten Preisstützungssystemen (wie dem deutschen) hat die Förderung mittels Marktprämie zu erfolgen (Art. 4 Abs. 2 RL). Eine Rückkehr zu festen Einspeisetarifen wäre damit ausgeschlossen. Die Mitgliedstaaten haben gemeinsam sicherzustellen, dass sich der Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch der EU bis zum Jahr 2030 auf mindestens 32 % erhöht (Art. 3 Abs. 1 S. 1 RL). Bindungswirkung entfaltet der Zielwert allerdings nur noch auf Unionsebene, während keine neuen, verbindlichen nationalen Zielwerte mehr formuliert werden. Umso größere Bedeutung kommt dem mit der Governance-Verordnung 2018/1999 eingeführten Planungs- und Monitoringsystem für die Umsetzung der Ziele der Energieunion zu (→ Rn. 278 ff.). d) Energieeffizienz Die europäische Energieeffizienzpolitik hat bislang fünf Stadien durchlaufen.113 Ihre Wur- 33 zeln liegen in den 1970er-Jahren. Zentraler Auslöser waren die beiden Ölkrisen der Jahre 1973 und 1979/80. Sie führten den Industriestaaten ihre Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und die Dringlichkeit von Maßnahmen zur Energieeinsparung vor Augen. Als Reaktion wurden zunächst auf nationaler Ebene im Gebäudesektor114 und wenig später durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den Bereichen Gebäude115 und Pro-

110 COM(2019) 225 final, 4. 111 RL (EU) 2018/2001 des EP und des Rates v. 11.12.2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Neufassung), ABl. 2018 L 328/82; s. hierzu Pause/Kahles ER 2019, 9 (13 ff.); noch zu den zugrundeliegenden Vorschlägen: Kreuter-Kirchhof EuZW 2017, 829 (830 ff.); Scholtka/ Martin ER 2017, 183 (186 f.); Schulz/Losch EnWZ 2017, 107 (108 ff.); Wehle RdE 2018, 407 (410 f., 413 f.). 112 Darauf hinweisend Ludwigs, NVwZ 2019, 909 (913 f.); Nysten et al., Würzburger Berichte zum Umweltenergierecht, Nr. 41 (2019), S. 7. 113 Zum Folgenden schon: Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 422 ff.; ders. in Brinktrine/Seidel/Ludwigs, S. 176 ff.; zuletzt Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 15 Rn. 3 ff.; eingehend Jesse, S. 80 ff.; Knauff in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 3 Rn. 8 ff. 114 Vgl. insbes. das Gesetz zur Einsparung von Energie in Gebäuden (Energieeinsparungsgesetz) v. 22.7.1976, BGBl. I 1873. 115 RL 78/170/EWG des Rates v. 13.2.1978 betreffend die Leistung von Wärmeerzeugern zur Raumheizung und Warmwasserbereitung in neuen oder bestehenden nichtindustriellen Gebäuden sowie die Isolierung des Verteilungsnetzes für Wärme und Warmwasser in nichtindustriellen Neubauten, ABl. 1978 L 52/32; aufgehoben durch RL 2005/32/EG des EP und des Rates v. 6.7.2005, ABl. 2005 L 191/29.

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duktkennzeichnung116 erste Rechtsakte zur Erhöhung der heute sog Energieeffizienz verabschiedet.117 34 In den 1990er-Jahren kam es dann zu einer verstärkten Internationalisierung und Europäisierung des Regelungsrahmens.118 Die E(W)G nahm hier eine Vorreiterrolle ein. Inhaltliche Schwerpunkte wurden auf den Gebieten der Produktkennzeichnung119 und -gestaltung,120 der Energieeffizienz von Gebäuden121 und Anlagen122 sowie im Verkehrssektor123 gesetzt. 35 Das dritte Stadium der europäischen Energieeffizienzpolitik lässt sich auf das „Umbruchjahr“124 2000 datieren. Seither ist eine stärker programmatische Ausrichtung zu verzeichnen. Prägend hierfür war der am 26.4.2000 von der Kommission unterbreitete Aktionsplan zur Verbesserung der Energieeffizienz.125 Dort wurde ein Steigerungspotenzial von über 18 % identifiziert.126 In der Folge kam es zu einer Ausweitung des Regelungsrahmens. Im Einzelnen sind hier fünf – zum Teil fortgeltende – Rechtsakte hervorzuheben:127 Erstens wurde mit der Ökodesign-Richtlinie 2005/32128 ein ordnungsrechtlicher Rahmen zum Erlass von Mindesteffizienz- und Höchstverbrauchsstandards für energiebetriebene Produkte geschaffen. Zweitens sollten mit der Energiedienstleistungs-Richtlinie 2006/32 (ED-RL)129 Grundlagen für die Entwicklung und Förderung eines Marktes für Energie-

116 RL 79/530/EWG des Rates v. 14.5.1979 zur Unterrichtung über den Energieverbrauch von Haushaltsgeräten durch Etikettierung, ABl. 1979 L 145/1; aufgehoben durch RL 92/75/EWG des Rates v. 22.9.1992, ABl. 1992, Nr. 297/16. 117 Ausf. zu dieser „Frühphase des Energieeffizienzrechts“: Jesse in Britz/Eifert/Reimer, S. 15 (17 ff. mwN). 118 Näher Jesse in Britz/Eifert/Reimer, S. 15 (23 ff. mwN). 119 RL 92/75/EWG des Rates v. 22.9.1992 über die Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch Haushaltsgeräte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen, ABl. Nr. L 297/16; aufgehoben durch RL 2010/30/EU des EP und des Rates v. 19.5.2010, ABl. 2010 L 153/1. 120 Vgl. zB die RL 96/57/EG des EP und des Rates v. 3.9.1996 über Anforderungen im Hinblick auf die Energieeffizienz von elektrischen Haushaltskühl- und -gefriergeräten und entsprechenden Kombinationen, ABl. 1996 L 236/36; aufgehoben durch VO (EG) 643/2009 der Kommission v. 22.9.2009, ABl. 2009 L 191/53. 121 S. insbes. die RL 93/76/EWG des Rates v. 13.9.1993 zur Begrenzung der Kohlendioxidemissionen durch eine effizientere Energienutzung (SAVE), ABl. 1993 L 237/28; aufgehoben durch RL 2006/32/EG, ABl. 2006 L 114/64. 122 RL 96/61/EG des Rates v. 24.9.1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, ABl. 1996 L 257/26; aufgehoben durch RL 2008/1/EG des EP und des Rates v. 15.1.2008, ABl. 2008 L 24/8. 123 RL 1999/94/EG des EP und des Rates v. 13.12.1999 über die Bereitstellung von Verbraucherinformationen über den Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen beim Marketing für neue Personenkraftwagen, ABl. 1999 L 12/16; zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1137/2008 des EP und des Rates v. 22.10.2008, ABl. 2008 L 311/1. 124 Reimer in Schulze-Fielitz/Müller, S. 147 (151). 125 Mitteilung der Kommission „Aktionsplan zur Verbesserung der Energieeffizienz in der Europäischen Gemeinschaft“ v. 26.4.2000, KOM(2000) 247 endg. 126 KOM(2000) 247 endg., 2, 4. 127 Vgl. bereits Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 416 f., 424 f., 436 ff., wo auch noch die – hier gesondert behandelte – Emissionshandels-RL 2003/87/EG einbezogen wird. 128 RL 2005/32/EG des EP und des Rates v. 6.7.2005 zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung energiebetriebener Produkte und zur Änderung der RL 92/42/EWG des Rates sowie der RL 96/57/EG und 2000/55/EG des EP und des Rates, ABl. 2005 L 191/29; aufgehoben durch RL 2009/125/EG des EP und des Rates v. 21.10.2009, ABl. 2009 L 285/10. 129 RL 2006/32/EG des EP und des Rates v. 5.4.2006 über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen und zur Aufhebung der RL 93/76/EWG des Rates, ABl. 2006 L 114/64; aufgehoben durch RL 2012/27/EU des EP und des Rates v. 25.10.2012, ABl. 2012 L 315/1.

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dienstleistungen gelegt werden. Drittens implementierte die Richtlinie 2002/91130 verschiedene Instrumente zur Erhöhung der Energieeffizienz von Gebäuden. Viertens verlangt die Energiesteuer-Richtlinie 2003/96131 eine EU-weit verbindliche Mindestbesteuerung von elektrischem Strom und Energieerzeugnissen.132 Fünftens war die KWK-Richtlinie 2004/8133 auf eine Erhöhung der Energieeffizienz durch Förderung und Entwicklung der Kraft-Wärme-Kopplung ausgerichtet. Das vierte Entwicklungsstadium basiert konzeptionell auf der am 8./9.3.2007 vom 36 Europäischen Rat angenommenen Energiestrategie und dem hieran anknüpfenden Aktionsplan „Eine Energiepolitik für Europa“.134 Hiermit sollte die Energieeffizienzpolitik der EU in eine kohärente und umfassende Programmatik für eine integrierte Klima- und Energiepolitik (→ Rn. 17) eingepasst werden. Nachfolgend kam es zur Annahme mehrerer Rechtsetzungspakete durch die EU: Mit Blick auf die Steigerung der Energieeffizienz ist vor allem das von der Kommission unterbreitete „Energieeffizienzpaket 2008“ vom 13.11.2008 hervorzuheben.135 Es beinhaltete die Neufassung der Richtlinien über die Energieeffizienz von Gebäuden und über die Produktetikettierung, die Einführung eines Kennzeichnungssystems für Reifen sowie die intensivierte Umsetzung der Richtlinien über Kraft-Wärme-Kopplung und Ökodesign.136 Die entsprechenden Rechtsakte wurden im Anschluss auch erlassen und prägen zT bis heute das Energieumweltrecht. Ungeachtet der dynamischen Fortentwicklung des Energieeffizienzrechts musste die Euro- 37 päische Kommission in ihrer Mitteilung vom 8.3.2011 über den „Energieeffizienzplan 2011“ feststellen, dass die EU „derzeit voraussichtlich nur die Hälfte des 20 %-Ziels erreichen wird“.137 Vor diesem Hintergrund legte sie erneut einen Aktionsplan mit einer Fülle von Maßnahmen vor. Diese richteten sich sowohl an den öffentlichen Sektor als auch an den privaten Gebäudesektor sowie an die Energieunternehmen und die Industrie.138 Ein bedeutender Schritt zur Umsetzung wurde mit der auf Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützten Energieeffizienz-Richtlinie 2012/27 gemacht.139 Darin werden die Regelungsinhalte der EDL-RL 2006/32 und der KWK-RL 2004/8 zusammengeführt und ein gemein130 RL 2002/91/EG des EP und des Rates v. 16.12.2002 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, ABl. 2002 L 1/65; aufgehoben durch RL 2010/31/EG des EP und des Rates v. 19.5.2010, ABl. 2010 L 153. 131 RL 2003/96/EG des Rates v. 27.10.2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom, ABl. 2003 L 283/51; zuletzt geändert durch Durchführungsbeschluss (EU) 2018/552 der Kommission v. 6.4.2018, ABl. 2018 L 91/27. 132 Näher zu den Maßnahmen der EU im Bereich der Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom: Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 269 ff. 133 RL 2004/8/EG des EP und des Rates v. 11.2.2004 über die Förderung einer am Nutzwärmebedarf orientierten Kraft-Wärme-Kopplung im Energiebinnenmarkt und zur Änderung der RL 92/42/EWG, ABl. 2004 L 52/50; aufgehoben durch RL 2012/27/EU des EP und des Rates v. 25.10.2012, ABl. 2012 L 315/1. 134 Rat der EU: Europäischer Rat (Brüssel), 8./9.3.2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok. 7224/1/07 REV 1, CONCL 1, Tz. 27 ff. und Anl. I; s. auch schon das von der Kommission am 22.6.2005 vorgelegte „Grünbuch über Energieeffizienz oder Weniger kann Mehr sein“ (KOM[2005] 265 endg., 2), mit dem die Debatte darüber angestoßen wurde, wie die EU es zustande bringen könnte, „auf kosteneffektive Art den Energieverbrauch (…) verglichen mit der Vorausschätzung für 2020, um 20 % zu senken“ (S. 52). 135 Mitteilung der Kommission „Energieeffizienz: Erreichung des 20 %-Ziels“ v. 13.11.2008, KOM(2008) 772 endg. 136 KOM(2008) 772 endg., 9 ff. 137 KOM(2011) 109 endg., 2. 138 Ausgeklammert blieb der Verkehrssektor, für den von der Kommission am 28.3.2011 ein gesondertes Weißbuch (KOM[2011], 144 endg., 3) vorgelegt wurde. 139 RL 2012/27/EU des EP und des Rates v. 25.10.2012 zur Energieeffizienz, zur Änderung der RL 2009/125/EG und 2010/30/EU und zur Aufhebung der RL 2004/8/EG und 2006/32/EG,

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§ 5 Energierecht

samer Regelungsrahmen für Energieeinsparungen in der EU entwickelt.140 Im Zentrum stehen die beiden Einzelziele, die Energienachfrage der Verbraucher um 1,5 % p.a. zu senken und jährlich 3 % der Gesamtnutzfläche von Gebäuden der Zentralregierung zu renovieren. Mit Blick auf die Instrumente ist zum einen die Verpflichtung der Mitgliedstaaten hervorzuheben, auf Unternehmensebene ein Energieeffizienzverpflichtungssystem zu schaffen (Art. 7 RL).141 Zum anderen wird hinsichtlich der Renovierung von im Eigentum einer Zentralregierung befindlichen (und von ihr genutzten) Gebäude eine verbindliche Quote vorgeschrieben (Art. 5 RL). Des Weiteren gelten hohe Energieeffizienzstandards bei der Beschaffung von Gebäuden, Produkten und Dienstleistungen durch die Zentralregierungen (Art. 6 RL). Die Mitgliedstaaten haben ferner eine umfassende Bewertung des Potenzials für den Einsatz der hocheffizienten KWK sowie der effizienten Fernwärme- und Fernkälteversorgung durchzuführen und ihre Einschätzung der Kommission zu übermitteln (Art. 14 RL). 38 Den Beginn des aktuellen fünften Entwicklungsstadiums läutete die EU-Kommission am 23.7.2014 mit ihrer Mitteilung „Energieeffizienz und ihr Beitrag zu Energieversorgungssicherheit und zum Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030“ ein.142 Dort erörterte sie den Beitrag, den die Energieeffizienz bis 2030 zur Senkung der Treibhausgasemissionen und zur Verbesserung der Energieversorgungssicherheit der EU leisten könnte. Dabei plädierte die Kommission für ein verbindliches Energieeffizienzziel von 30 %.143 Im Anschluss hieran fixierte der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 23./24.10.2014 den Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030 und formulierte für die Steigerung der Energieeffizienz ein – freilich nur „indikatives“ – Ziel von mindestens 27 % (gemessen an den Prognosen für 2030). 144 Die Kommission beharrte demgegenüber in ihrer Mitteilung zum Winterpaket „Saubere Energie für alle Europäer“ vom 30.11.2016 auf einem verbindlichen Zielwert von 30 %.145 Als Teil des Winterpaket einigten sich Parlament, Rat und Kommission schließlich im Rahmen der Novellierung der Energieeffizienz-Richtlinie 2012/27/EU146 einerseits auf ein ambitionierteres Energieeffizienzziel der EU von 32,5 % bis 2030 (Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 RL). Andererseits handelt es sich beim Energieeffizienzziel um ein bloßes, nicht streng verbindliches, übergeordnetes Leitziel (headline target) dar. Im Übrigen sind die Mitgliedstaaten weiterhin frei darin, über ihren bloß indikativen Beitrag zu entscheiden (Art. 3 Abs. 5 RL). Eine besondere Hervorhebung und Explizierung fand in Art. 1 Abs. 1 UAbs. 3 RL zudem das Prinzip „Energieeffizienz an erster Stelle“ (energy efficiency first).147 Konsequent erfolgte auch eine Verlängerung und Stärkung des Energieeffizienzverpflichtungssystem über das Jahr 2020 hinaus. Mechanismen zur Gewährleistung der Einhaltung des Energieeffizienzziels für

140 141 142 143 144 145 146 147

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ABl. 2012 L 315/1; zuletzt geändert durch RL (EU) 2019/944 des EP und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/125; ausführlich Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 15 Rn. 6 ff.; s. auch Knauff in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 3 Rn. 50 ff.; Nebel in Brinktrine/ Seidel/Ludwigs S. 145 (150 ff.). S. auch die Bewertung der Kommission in ihrer Mitteilung „Ein Rahmen für die Klima- und Energiepolitik im Zeitraum 2020-2030“ v. 22.1.2014, COM(2014) 15 final, 9. Näher zur Umsetzung in nationales Recht Schomerus ER 2013, 184; umfassend zu den Instrumenten der Endenergieeffizienzförderung Walker, S. 65 ff. COM(2014) 520 final. COM(2014) 520 final, 17, 19. EUCO 169/14, Tz. 2 f. COM(2016) 860 final, 5. RL des EP und des Rates zur Änderung der RL 2012/27/EU zur Energieeffizienz v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/210. Vgl. insoweit Scholtka/Martin ER 2017, 183 (185 f.).

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A. Einleitung

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2030 enthält wiederum die neue Verordnung zur Governance der Energieunion (→ Rn. 32 und → Rn. 278 ff.).148 3. Energieversorgungssicherheit Die dritte Säule der europäischen Energiepolitik wird durch die Gewährleistung der (Energie-)Versorgungssicherheit repräsentiert. Sie steht ganz im Zeichen einer wachsenden Importabhängigkeit der Europäischen Union. Derzeit importiert die EU 53 % der von ihr verbrauchten Energie. Die Einfuhrabhängigkeit betrifft insbesondere Rohöl (fast 90 %), Erdgas (66 %) sowie feste Brennstoffe (42 %) und nukleare Brennstoffe (40 %).149 Die Kosten der Energieimporte belaufen sich auf über 1 Mrd. EUR pro Tag und machen mehr als ein Fünftel der gesamten Einfuhren in die EU aus.150 Erste Ansätze für eine europäische Versorgungssicherheitspolitik sind bereits seit dem Ende der 1960er-Jahre zu verzeichnen. Im Zentrum stand hier vor allem die Richtlinie 68/414 über Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen.151 Darin wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, „ständig Vorräte in einer Höhe zu halten, die (…) mindestens dem nach dem Tagesdurchschnitt errechneten Inlandsverbrauch an 65 Tagen [später: 90 Tagen] des vorhergehenden Kalenderjahres entspricht“. Eine stärker programmatische Ausrichtung der Unionspolitik erfolgte im Jahr 2000 mit der Vorlage des Grünbuchs über die Energieversorgungssicherheit durch die Kommission.152 Dort wurden die strukturellen Schwächen der Energieversorgung in der EU aufgezeigt und Umrisse einer langfristigen energiepolitischen EU-Strategie zur Versorgungssicherheit entwickelt.153 Im Anschluss erfolgte auf Gemeinschaftsebene der Erlass von drei Rechtsakten, die darauf ausgerichtet waren, die Versorgung mit Elektrizität, Erdgas und Erdöl zu gewährleisten.154 Im Einzelnen handelt es sich um die Richtlinie 2005/89 über Elektrizitätsversorgungssicherheit,155 die Richtlinie 2004/67 zur Erdgasversorgungssicherheit156 und die neue Richt-

148 VO (EU) 2018/1999 des EP und des Rates v. 11.12.2018 über das Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz, zur Änderung der VO (EG) Nr. 663/2009 und (EG) Nr. 715/2009 des EP und des Rates, der RL 94/22/EG, 98/70/EG, 2009/31/EG, 2009/73,/EG, 2010/31/EU, 2012/27/EU und 2013/30/EU des EP und des Rates, der RL 2009/119/EG und (EU) 2015/652 des Rates und zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 525/2013 des EP und des Rates, ABl. 2018 L 328/1. 149 Mitteilung der Kommission „Strategie für eine sichere europäische Energieversorgung“ v. 28.5.2014, COM(2014) 330 final, 2; vgl. zuvor bereits die Mitteilung der Kommission zur Energieversorgungssicherheit und internationalen Zusammenarbeit „Die EU-Energiepolitik: Entwicklung der Beziehungen zu Partnern außerhalb der EU“ v. 7.9.2011, KOM(2011) 539 endg., 2, wonach mehr als 60 % des Gasbedarfs und über 80 % des Erdölbedarfs durch Drittstaatseinfuhren gedeckt werden; s. hierzu auch den Umsetzungsbericht der Kommission v. 13.9.2013, COM(2013) 638 final, 3 ff. 150 COM(2014) 330 final, 3. 151 RL 68/414/EWG des Rates v. 20.12.1968 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten der EWG, Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen zu halten, ABl. 1968 L 308/14; aufgehoben durch RL 2006/67/EG des Rates v. 24.7.2006, ABl. 2006 L 217/8. 152 Grünbuch der Kommission „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“ v. 29.11.2000, KOM(2000) 769 endg. 153 A.M. Schneider, S. 69. 154 Näher zu den „sektoriellen Richtlinien“ zur Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit: A.M. Schneider, S. 69 ff., 72 ff., 75 ff. 155 RL 2005/89/EG des EP und des Rates v. 18.1.2006 über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen, ABl. 2006 L 33/22; aufgehoben durch VO (EU) 2019/941 des EP und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/1; hierzu Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 14 Rn. 5 ff. 156 RL 2004/67/EG des Rates v. 26.4.2004 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung, ABl. 2004 L 127/92; aufgehoben durch VO (EU) Nr. 994/2010 des EP und des Rates v. 20.10.2010, ABl. 2010 295/1; dazu näher: Nordmann, S. 325 ff.; s. auch Schiller, S. 52.

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§ 5 Energierecht

linie 2006/67 über Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen.157 In Fortführung des Grünbuchs Versorgungssicherheit von 2000 formulierte die Kommission zudem in einem weiteren Grünbuch vom 8.3.2006158 ihre Vorstellungen zu den künftigen Prioritäten einer europäischen Energiepolitik. Die Zielsetzung der Versorgungssicherheit bildete dabei einen deutlichen Schwerpunkt. 43 Am 13.11.2008 legte die Kommission dann einen „EU-Aktionsplan für Energieversorgungssicherheit und -solidarität“ vor.159 Dessen Kernelemente bildeten die Förderung der für die Erfordernisse der EU wesentlichen Infrastrukturen, eine stärkere Gewichtung von Energie in den Außenbeziehungen der Union, die Verbesserung der Öl-/Gasvorratshaltung und die Schaffung wirksamerer Krisenreaktionsmechanismen, die Setzung neuer Impulse für die Energieeffizienz sowie eine bessere Nutzung eigener Energiereserven der EU. Um den festgestellten Defiziten des bestehenden Regelungsrahmens abzuhelfen, kam es in der Folge ua zur Aufhebung der Richtlinie 2004/67 und der Richtlinie 2006/67. An ihre Stelle traten die neue Verordnung 994/2010 zur Erdgasversorgungssicherheit160 und die neue Richtlinie 2009/119 über Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen.161 44 In ihrer Mitteilung zur Energieversorgungssicherheit und internationalen Zusammenarbeit vom 7.9.2011 unterstrich die Europäische Kommission nachdrücklich, dass eine „[s]ichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energie für Industrie und Bürger der EU von grundlegender Bedeutung und ein Kernziel der EU-Politik [ist]“.162 In operativer Hinsicht rückt dabei der Konnex der Energieversorgungssicherheit mit der Energieaußenpolitik der EU in den Fokus. Nachdem die Stärkung der externen Dimension bereits in der „Energiestrategie 2020“ als eine der „Schlüsselprioritäten“ der nächsten Jahre erkannt wurde,163 schlug die Kommission nunmehr eine Konzentration auf vier Bereiche vor.164 Im Einzelnen handelte es sich (1) um den Ausbau der externen Dimension des EU-Binnenmarktes, (2) die Stärkung der Partnerschaften für sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energie, (3) die Verbesserung des Zugangs von Entwicklungsländern zu nachhaltiger Energie sowie (4) die Verbesserung der Förderung der EU-Politiken über die Unionsgrenzen hinaus. 45 Am 28.5.2014 legte die Kommission schließlich ihre „Strategie für eine sichere europäische Energieversorgung“ vor.165 Dort werden acht zentrale Säulen identifiziert, „die zusammen eine für alle Mitgliedstaaten vorteilhafte, engere Zusammenarbeit unter Berücksichtigung nationaler energiepolitischer Entscheidungen fördern und denen der Grundsatz der Solidarität zugrunde liegt“.166 Als „übergeordnetes vorrangiges Ziel“ erkennt die Kommission eine Verbesserung der Widerstandsfähigkeit gegenüber plötzlichen Energie157 RL 2006/67/EG des Rates v. 24.7.2006 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen zu halten, ABl. 2006 L 217/8; aufgehoben durch RL 2009/119/EG des Rates v. 14.9.2009, ABl. 2009 265/9. 158 Grünbuch der Kommission „Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie“ v. 8.3.2006, KOM(2006) 105 endg.; hierzu zB Nordmann, S. 292 ff.; Schiller, S. 43 f. 159 KOM(2008) 781 endg., 2. 160 VO (EU) Nr. 994/2010 des EP und des Rates v. 20.10.2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung und zur Aufhebung der RL 2004/67/EG des Rates, ABl. 2010 L 295/1; aufgehoben durch VO (EU) 2017/1938 des EP und des Rates v. 25.10.2017, ABl. 2017 L 280/1; näher hierzu aus der Lit.: Hohaus in Baur/Salje/Schmidt-Preuß Kap. 16 Rn. 23 ff.; Nordmann, S. 346 ff. 161 RL 2009/119/EG des Rates v. 14.9.2009 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen zu halten, ABl. 2009 L 265/9; zuletzt geändert durch VO (EU) 2018/1999 des EP und des Rates v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/1. 162 KOM(2011) 539 endg., 2. 163 KOM(2010) 639 endg., 2. 164 KOM(2011) 539 endg., 4 ff. 165 COM(2014) 330 final. 166 COM(2014) 330 final, 4.

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B. Gegenstandsbereich

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versorgungsstörungen, den Schutz strategischer Infrastrukturen sowie die kollektive Unterstützung der am stärksten gefährdeten Mitgliedstaaten.167 Darüber hinaus wurden auch Sofortmaßnahmen zur Bewältigung von Versorgungsstörungen im Winter 2014/2015 diskutiert. Hieran anknüpfend untersuchte die Kommission im Rahmen eines sog Stresstests die Auswirkungen einer teilweisen oder vollständigen Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland. Die Analyse in der einschlägigen Mitteilung vom 16.10.2014 gelangte zu dem Befund, dass rein nationale Ansätze bei schweren Versorgungsstörungen aufgrund ihres zwangsläufig begrenzten Rahmens wenig effektiv sind und erkennt daher einen erhöhten Koordinations- und Kooperationsbedarf.168 In Reaktion auf die Mitteilung der Kommission vom 16.10.2014 und im Lichte des Cha- 46 rakters der Energieversorgungssicherheit als eine von fünf Dimensionen der Energieunion169 erließen Parlament und Rat am 25.10.2017 die neue Verordnung 2017/1938 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung.170 Diese sog SoS-Verordnung zielt auf eine Stärkung des Erdgasbinnenmarktes und soll Vorsorge für den Fall einer Versorgungskrise treffen. Vorgesehen ist neben einem umfassenden Maßnahmenkatalog auch die nationale Implementierung eines dreistufigen Systems für Krisenbewältigung und Informationsaustausch (Frühwarnung, Alarm und Notfall, s. insbes. Art. 11 VO). Überdies werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, im Rahmen von Präventions- und Notfallplänen das vorgesehene Krisenmanagement nebst präventiven Maßnahmen vorab festzulegen (Art. 8–10 VO). Des Weiteren sieht die Verordnung die Ausrufung eines regionalen bzw. unionsweiten Notfalls durch die EU-Kommission (Art. 12 VO) sowie als „letzte[s] Mittel“ einen unionweiten Mechanismus mit wechselseitigen Solidaritätsverpflichtungen (Art. 13 VO) vor. Als Teil des Winterpakets „Saubere Energie für alle Europäer“ kam es schließlich am 47 5.6.2019 zum Erlass einer Verordnung über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor.171 Hiermit wird ein neuer Regelungsrahmen zum Umgang mit Krisensituationen in der Stromversorgung auf nationaler und regionaler Ebene geschaffen. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, aufgrund einer vom europäischen Verband der Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E entwickelten Methode, Risikovorsorgepläne zu erstellen, die nicht nur die nationale Versorgungssicherheit betreffen. Dabei sind zumindest folgende Risiken zu berücksichtigen: Naturkatastrophen, unvorhergesehene Gefahren, bei denen das „N-1“Kriterium172 überschritten wird und außergewöhnliche Notfälle sowie Folgerisiken wie zB böswillige Angriffe oder Brennstoffknappheit (Art. 5 Abs. 2 VO).

B. Gegenstandsbereich Der Gegenstandsbereich des EU-Energierechts lässt sich nur unter Zugrundelegung eines 48 umfassenden, sowohl die primär- als auch die sekundärrechtliche Ebene einbeziehenden Ansatzes erfassen. Im Rahmen einer systematisierenden Darstellung bietet sich eine Anknüpfung an die drei in ihrer Entwicklung bereits skizzierten und durch vielfältige Ver167 168 169 170

COM(2014) 330 final, 5. COM(2014) 654 final. Vgl. insbes. COM(2015) 80 (Fn. 6). VO (EU) 2017/1938 des EP und des Rates v. 25.10.2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 994/2010, ABl. 2017 L 280/1. 171 VO (EU) Nr. 2019/941 des EP und des Rates v. 5.6.2019 über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor und zur Aufhebung der RL 2005/89/EG, ABl. 2019 L 158/1. 172 Unter dem „N-1“-Kriterium versteht die Kommission die „Regel, wonach die nach dem Auftreten eines Ausfalls weiter in Betrieb befindlichen Betriebsmittel innerhalb der Regelzone eines [Übertragungsnetzbetreibers] in der Lage sind, sich an die neue Betriebssituation anzupassen, ohne betriebliche Sicherheitsgrenzwerte zu überschreiten“; vgl. COM(2016) 862 final, 11 mit Fn. 18.

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§ 5 Energierecht schränkungen gekennzeichneten Säulen der Verwirklichung des Energiebinnenmarktes, des Klima- und Umweltschutzes sowie der Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit an.

I. Primärrechtliche Perspektive 49 Aus primärrechtlicher Perspektive ist ein Fünffaches in den Blick zu nehmen: Erstens stellt sich die Frage nach der vertraglichen Verankerung und dem Rangverhältnis zwischen den drei zentralen energiepolitischen Zielen sowie nach möglichen Zielharmonien und Konfliktfeldern. Zweitens ist die Reichweite der EU-Zuständigkeit im Energiesektor unter Einbeziehung der drei Kompetenzausübungsschranken Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und mitgliedstaatliche Eigentumsordnung zu beleuchten. Drittens sind die energiepolitischen Handlungsinstrumente der EU zu analysieren, wobei auch ungekennzeichneten Rechtsakten, wie Leitlinien und sog Interpretative Notes der Kommission hohe (praktische) Bedeutung zukommt. Viertens sind die primärrechtlichen Rahmensetzungen einzubeziehen, die neben den europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten auch durch das EU-Beihilfenrecht und das EU-Kartellrecht geprägt werden. Zum Fünften ist ein kurzer Überblick zum Recht der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) zu geben. 1. Vertragliche Verankerung der zentralen Politikziele a) Binnenmarkt, Umwelt- und Klimaschutz, Versorgungssicherheit 50 In der Einleitung wurde aufgezeigt, dass das Handeln der Europäischen Union im Energiesektor maßgeblich durch die drei zentralen Politikziele (Energie-)Binnenmarkt, Umwelt- und Klimaschutz sowie (Energie-)Versorgungssicherheit geprägt wird. Diese finden auch allesamt eine Verankerung im EU-Primärrecht. 51 So wurzelt das mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) implementierte Binnenmarktziel heute vor allem in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV und Art. 26 AEUV. Kernelemente bilden die europäischen Grundfreiheiten und der – nur noch durch das Protokoll Nr. 27 zum EUV/AEUV explizit in Bezug genommene – „unverfälschte Wettbewerb“.173 52 Der Klimaschutz wird erst seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages am 1.12.2009 in Art. 191 Abs. 1 Spiegelstr. 4 AEUV ausdrücklich als Teilgebiet des Umweltschutzes ausgewiesen. Der Regelung kommt indes nur klarstellende Funktion zu. Die Bekämpfung des Klimawandels bildete schon auf Basis des EG-Vertrags ein umweltpolitisches Ziel der Gemeinschaft.174 53 Was schließlich die Energieversorgungssicherheit angeht, so ist festzuhalten, dass diese in den Verträgen bislang nicht spezifisch adressiert wurde.175 Mit dem Vertrag von Lissabon ist die „Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit“ nunmehr aber in Art. 194 Abs. 1 lit. b AEUV ausdrücklich als Politikziel der EU anerkannt worden. Hierin liegt ein bedeutender Fortschritt des neuen Energietitels.176 b) Rangverhältnis 54 Nicht abschließend geklärt ist, ob und inwieweit zwischen den drei vorstehend genannten Politikzielen ein Rangverhältnis besteht. Auf Grundlage des EG-Vertrags ist vielfach ein

173 Zu den verschiedenen Dimensionen des Binnenmarktes: Nowak in Schwarze/Hatje, S. 129 (137 ff., 141 f.). 174 So auch Kahl NVwZ 2009, 265 (269) mit Fn. 80; aA wohl Terhechte EuR 2008, 143 (173 f.). 175 Hackländer, S. 159. 176 Hackländer, S. 159.

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B. Gegenstandsbereich

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Vorrang der marktintegrativen Ziele behauptet worden.177 Spätestens durch den Lissabonner Vertrag hat diese These aber ihre primärrechtliche Argumentationsbasis verloren. Zwar bildet der unverfälschte Wettbewerb als Element des in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV verankerten Binnenmarktes weiterhin ein elementares Ziel der EU.178 Seine systematische „Verbannung“ in das Protokoll Nr. 27 schließt es aber aus, ihm eine vorrangige Bedeutung im Verhältnis zu den anderen Zielen beizumessen. Ebenso wenig kann es allerdings überzeugen, wenn dem Umwelt- und Klimaschutz ein relativer Vorrang gegenüber den übrigen Zielen der Union zugeschrieben wird.179 Für eine „lediglich“ gleichgewichtige Rolle gegenüber Binnenmarkt und Versorgungssicherheit spricht neben Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV vor allem die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV (s. auch Art. 37 GRC). Darin wird allein die „Einbeziehung“ der Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen gefordert. Eine Vorrangstellung lässt sich aus dieser bloßen Berücksichtigungspflicht nicht ableiten. In systematischer Hinsicht lässt sich hierfür im Übrigen auch der Umstand anführen, dass der „Grundsätze“-Teil des AEUV inzwischen eine Vielzahl weiterer Querschnittsklauseln (ua zum sozialen Schutz und zum Verbraucherschutz) enthält. Zusammenfassend bleibt damit festzuhalten, dass es sich bei der Trias aus Binnenmarkt- 55 verwirklichung, Klima- und Umweltschutz sowie Versorgungssicherheit um gleichrangige Ziele der EU-Energiepolitik handelt. c) Zielharmonien und Konfliktfelder Die Energiestrategie der EU beruht auf dem Gedanken einer integrierten Klima- und Ener- 56 giepolitik.180 Zu diesem Zweck hat der Europäische Rat die Zieletrias aus Umweltverträglichkeit/Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit formuliert.181 Diese drei Kernziele der europäischen Energiepolitik stehen, ausdifferenziert in fünf miteinander verflochtene Dimensionen, auch im Fokus des 2015 ausgerufenen Prozesses zur Schaffung einer Energieunion (vgl. bereits → Rn. 3). Dabei besteht zwar eine weitgehende Zielharmonie, was im Einzelfall auftretende Zielkonflikte indes nicht ausschließt. Aufgrund der Gleichrangigkeit der Ziele hat hier ein schonender Ausgleich zu erfolgen.182 Die These von der Zielharmonie wird durch eine signifikante Ziel- und Maßnahmenver- 57 flechtung der europäischen Klima- und Energiepolitik unterlegt:183 So kann etwa ein effektives Emissionshandelssystem dauerhaft nur bei einem funktionierenden Markt implementiert werden. Gleiches gilt für den Aufbau einer Industrie für erneuerbare Energien.184 Von einem wettbewerblich geprägten Energiebinnenmarkt gehen Investitionsanreize für die Wirtschaftsteilnehmer aus, was wiederum eine Steigerung der Versorgungssicherheit

177 Grundlegend Basedow in FS für Everling, S. 49 (67 f.); vgl. auch von Bogdandy/Bast/Hatje, S. 801 (836 ff.); Luczak, S. 214 ff. 178 Ebenso von Bogdandy/Bast/Drexl, S. 905 (908 ff. mwN). 179 Vgl. bereits Ludwigs ZG 2010, 222 (240 f.); anders zB Dauses/Ludwigs/Scherer/Heselhaus HdbEUWiR Kap. O Rn. 32: „relativer Vorrang des Umweltschutzes im Sinne einer Argumentationslastregel“; wie hier Frenz in Schwarze/Hatje, S. 232 (246 ff.). 180 Hierzu und zum Folgenden schon Ludwigs ZG 2010, 222 (240 f.). 181 Vgl. Tz. 28 der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates v. 8./9.3.2007 (Fn. 64); näher zur Zieletrias: Calliess, EU nach Lissabon, S. 479. 182 Ebenso Ehricke in Schulze-Fielitz/Müller, S. 97 (113 f.). 183 Dazu Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (27 f.); Ludwigs ZG 2010, 222 (240 f.); s. auch schon KOM(2006) 105 endg. (Fn. 158), 6 ff. 184 Vgl. etwa die Begründung der Kommission zu den Richtlinienvorschlägen im Rahmen des Dritten Energiebinnenmarktpakets: KOM(2007) 528 endg., 2 und KOM(2007) 529 endg., 2.

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§ 5 Energierecht

bedingt.185 Die Förderung von Energieeffizienz dient sowohl dem Klima- und Umweltschutz als auch der Versorgungssicherheit in der EU.186 Allgemein gesprochen kann schließlich ein EU-Energieumweltrecht binnenmarktbehindernde Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Klima- und Umweltschutz obsolet machen und so einen Beitrag zur Verwirklichung des Energiebinnenmarktes leisten. Umgekehrt kann eine energieumweltrechtlich flankierte Liberalisierung zum Ausgleich nationaler Wettbewerbsnachteile führen, die einem hohen nationalen Umweltschutzniveau im Binnenmarkt entgegengehalten werden könnten.187 58 Ungeachtet dieser konstruktiven „Ziel- und Maßnahmenverschränktheit“188 sind aber auch Zielkonflikte denkbar. Das potenzielle Spannungsverhältnis zwischen Binnenmarkt und Versorgungssicherheit ist bereits in der Campus Oil-Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 1984 deutlich zu Tage getreten.189 Dort entschied der Gerichtshof, dass nationale Maßnahmen, die der Sicherstellung einer kontinuierlichen Mindestversorgung mit Erdölerzeugnissen dienen, unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit (iSd Art. 36 AEUV) fallen und daher gerechtfertigt sein können.190 Weitergehend sei exemplarisch auf zwei – noch näher zu erörternde (→ Rn. 233 ff., und → Rn. 244 ff.) – konkrete Problemkreise verwiesen, die ein Spannungsverhältnis von Binnenmarkt und Klimaschutz offenbaren.191 Zum einen wirft die nationale Förderung Erneuerbarer Energien nicht nur beihilfenrechtliche Fragen auf, sondern steht aufgrund der Privilegierung inländischer Produzenten auch in einem Spannungsverhältnis zur Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV bzw. Art. 30 und 110 AEUV). Zum anderen wird mit Blick auf das Emissionshandelssystem diskutiert, ob die Art der Zuteilung von Emissionsberechtigungen mit dem Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV bzw. den EU-Grundrechten kollidiert. 2. Zuständigkeiten der EU im Energiesektor 59 Fragt man nach den Unionskompetenzen zur Verwirklichung der Zieletrias aus Binnenmarkt, Umwelt-/Klimaschutz und Versorgungssicherheit, so ist im Ausgangspunkt daran zu erinnern, dass sich die europäische Energiepolitik bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf eine Vielzahl unspezifischer Zuständigkeiten gestützt hat:192 Am Binnenmarktziel war neben der zentral bedeutsamen allgemeinen Rechtsangleichungskompetenz des Art. 95 EG193 auch die Befugnis zur Interoperabilität transeuropäischer Netze nach

185 KOM(2007) 528 endg., 2 und KOM(2007) 529 endg., 2; s. auch Padrós/Cocciolo Energy Law Journal 31 (2010), 31 (35). 186 Britz ZUR 2010, 124 ff.; zum ambivalenten Verhältnis von Versorgungssicherheit und Förderung erneuerbarer Energien vgl. mit Recht Pechstein/Nowak/Häde/Gundel, EUV/GRC/AEUV, AEUV Art. 194 Rn. 11, der zwar betont, dass der Ausbau die Importabhängigkeit lockern kann, zugleich aber auf die Volatilität der dargebotsabhängigen Sonnen- und Windenergie rekurriert. 187 Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (27 f.); ders. in FS für Säcker, S. 589 (591). 188 Calliess, EU nach Lissabon, S. 480 f.; ders. in FS für Säcker, S. 589 (591). 189 EuGH 10.7.1984 – Rs. 72/83, Slg 1984, S. 2727 – Campus Oil. 190 EuGH 10.7.1984 – Rs. 72/83, Slg 1984, S. 2727 Rn. 35 – Campus Oil; vgl. auch EuGH 25.10.2001 – C-398/98, Slg 2001, I-7915 Rn. 29 ff. – Kommission/Griechenland; EuGH 11.11.2010 – C-543/08, Slg 2011, I-11241 Rn. 8 – Kommission/Portugal. 191 Ludwigs ZG 2010, 222 (240 f.); näher zu den faktischen Effekten des Binnenmarkts auf das Klima bzw. die Klimapolitik: Britz in Schulze-Fielitz/Müller, S. 71 (74 ff.). 192 Für eine ausführliche Analyse der energiepolitischen Kompetenzen der früheren EG vgl. Calliess, EU nach Lissabon, S. 482 ff.; Kahl in Schulze-Fielitz/Müller, S. 21 (29 ff.); Schmidt-Preuß in Hendler ua, UTR 61 (2002), S. 31 ff.; A.M. Schneider, S. 96 ff., 239 ff. 193 Vgl. exemplarisch die – zT additiv auf ex-Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EG (Art. 53 Abs. 1 und Art. 62 AEUV) gestützten – Rechtsakte des Dritten Energiebinnenmarktpakets (Nachweise in Fn. 31–35).

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Art. 156 EG194 ausgerichtet. Umwelt- und klimaschutzbezogene Rechtsakte wurden auf Art. 175 EG gestützt.195 Maßnahmen mit dem Ziel der Versorgungssicherheit fanden ihre Grundlage sowohl in Art. 95 EG196 als auch in Art. 100 EG.197 Eine (subsidiäre) Abrundungsfunktion erfüllte Art. 308 EG. Für den Bereich der Kernenergie fanden schließlich die speziellen Regelungen des EAG-Vertrages Anwendung. Der Vertrag von Lissabon hat nunmehr – im Anschluss an die Vorgängervorschrift aus 60 Art. III-256 des gescheiterten Verfassungsvertrags198 – in Art. 194 AEUV einen originären Kompetenztitel „Energie“ etabliert. Hiermit wird eine Konsolidierung des kompetenzrechtlichen „Flickenteppichs“199 im Energiesektor bewirkt.200 Bei der Energiekompetenz handelt es sich gem. Art. 4 Abs. 2 lit. i AEUV um eine geteilte Zuständigkeit der Union.201 Hieraus folgt zum einen, dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit nur noch wahrnehmen können, „sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat“ (Art. 4 Abs. 2 AEUV). Die Rechtsetzung des Unionsgesetzgebers entfaltet mithin eine Sperrwirkung, soweit sie einen Tatbestand abschließend regelt bzw. bewusst auf eine Regelung verzichtet (Art. 2 Abs. 2 AEUV).202 Zum anderen gelangen die auf nicht-ausschließliche Zuständigkeiten begrenzte Kompetenzausübungsschranke des Subsidiaritätsprinzips aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 EUV (→ Rn. 90 ff.) sowie die Regelungen zur verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV, Art. 326 ff. AEUV) zur Anwendung.203 a) Der Energie-Kompetenztitel des Art. 194 AEUV In Art. 194 Abs. 1 AEUV wird die EU-Energiepolitik unter die drei Leitprinzipien der Soli- 61 darität, des Binnenmarktes und des Umweltschutzes gestellt.204 Hiermit wird der Rahmen gesetzt, innerhalb dessen die energiepolitischen Ziele in Art. 194 Abs. 1 lit. a–d AEUV realisiert werden sollen. Die Verwirklichung eines dieser vier Ziele begründet gem. Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 die Zuständigkeit der EU. Bedeutsame inhaltliche Einschränkungen der zielorientierten Energiekompetenz resultieren zum einen aus dem mitgliedstaatlichen Souveranitätsvorbehalt in Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. Zum anderen verlangt Art. 194 Abs. 3 AEUV für den Bereich der Energiesteuern die einstimmige Beschlussfassung im Rat.

194 S. die Entscheidung Nr. 1364/2006/EG des EP und des Rates v. 6.9.2006 zur Festlegung von Leitlinien für die transeuropäischen Energienetze und zur Aufhebung der Entscheidung 96/391/EG und der Entscheidung Nr. 1229/2003/EG, ABl. 2006 L 262/1; aufgehoben durch VO (EU) Nr. 347/2013 des EP und des Rates v. 17.4.2013, ABl. 2013 L 115/39. 195 Vgl. etwa die Emissionshandels-RL 2003/87 (Fn. 70). 196 RL 2005/89/EG über Elektrizitätsversorgungssicherheit (Nachweis in Fn. 155). 197 RL 2009/119/EG über Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen (Nachweis in Fn. 161). 198 ABl. 2004 C 310; ausführlich zur Diskussion der Energiekompetenz im Verfassungskonvent Grabitz/ Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 5 mwN. 199 Calliess, EU nach Lissabon, S. 478; s. auch Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 22: „zerklüftete Kompetenzlage“. 200 Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 5. 201 AA Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 24, wonach die Art. 194 Abs. 1 lit. c und d AEUV „eher“ den ergänzenden Zuständigkeiten iSd Art. 6 AEUV zuzuordnen seien; hiergegen Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 3, unter überzeugendem Rekurs auf den Wortlaut von Art. 4 AEUV und die Zielbeschreibung des Art. 194 AEUV. 202 Frenz, Rn. 4677. 203 Näher Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 3; mit Verweis auf Ahner/de Hauteclocque/Glachant LIEI 39 (2012), 249. 204 Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 3.

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§ 5 Energierecht aa) Energiepolitische Ziele

62 Im Vergleich zum unvollendeten Vorläufer in Art. III-256 Abs. 1 EVV enthält die Zielnorm des Art. 194 Abs. 1 AEUV zwei bedeutsame Innovationen: Erstens wird der – mit Blick auf das allgemeine europäische Solidaritätsprinzip205 freilich nur deklaratorische206 – Hinweis eingefügt, dass die EU-Energiepolitik „im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten verfolgt wird“. Zweitens wird die Förderung der „Interkonnektion der Energienetze“ als weiteres gleichrangiges Ziel207 neben der Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts (lit. a), der Gewährleistung der Versorgungssicherheit in der Union (lit. b) und der Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie der Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen (lit. c) in Art. 194 Abs. 1 lit. d AEUV integriert. Im Falle eines Zielkonflikts hat der Unionsgesetzgeber einen schonenden Ausgleich zu gewährleisten. Dabei ist ihm ein weiter Einschätzungsspielraum einzuräumen.208 (1) Ziele im Einzelnen 63 Das Ziel der „Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts“ in Art. 194 Abs. 1 lit. a AEUV wirft die Frage auf, ob durch die Verwendung des allgemeinen Begriffs des „Energiemarkts“ die aus der spezifischen Ausrichtung auf das Binnenmarktziel resultierenden Beschränkungen des ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) überwunden werden sollen.209 Hiergegen spricht indes, dass der EU auf diese Weise eine pauschale Ermächtigung zur Regelung des Energiemarkts eröffnet würde.210 Dies stünde in Kontrast zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift211 und würde mit dem in Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung kollidieren. Vor diesem Hintergrund ist der Begriff des „Energiemarkts“ parallel zum „Energiebinnenmarkt“ aufzufassen.212 Die Abstützung einer Maßnahme auf Art. 194 Abs. 2 iVm Abs. 1 lit. a AEUV setzt daher – wie bei Art. 114 AEUV – das alternative Vorliegen von Handelshemmnissen oder spürbaren Wettbewerbsverzerrungen voraus.213 Auf Rechtsfolgenseite ist zudem gefordert, dass die erlassene Maßnahme auch tatsächlich zur Beseitigung von Hemmnissen 205 Dazu grundlegend Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, insbes. S. 185 ff. 206 S. auch Kahl EuR 2009, 601 (607 f.), unter Hinweis ua auf Erwägungsgrund Nr. 6 der Präambel, Art. 2, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 und Abs. 5 EUV sowie Art. 122 Abs. 1 und Art. 222 Abs. 1 AEUV; ausf. zur energiepolitischen Solidaritätsklausel: Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (45 ff.); ders. in FS für Säcker, S. 589 (600 f.). 207 Für eine Gleichrangigkeit der Ziele des Art. 194 Abs. 1 lit. a–d AEUV auch: Streinz/Bings EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 31; Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 6; Frenz, Rn. 4679. 208 Ebenso Schwarze/Hirsbrunner EU-Kommentar AEUV Art. 194 Rn. 9 aE. 209 Dafür explizit Schulenberg, S. 379; ähnlich Ehricke/Hackländer ZEuS 2008, 579 (587); Schwarze/ Hirsbrunner EU-Kommentar AEUV Art. 194 Rn. 18; Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (18). 210 Ludwigs ZG 2010, 222 (226 f.); anders Schulenberg, S. 380, 425, wonach Anknüpfungspunkt für Rechtsakte nach Art. 194 Abs. 1 lit. a AEUV ein „(allokatives) Marktversagen“ sein muss; in diese Richtung auch Vedder/Heintschel v. Heinegg/Rodi Unionsrecht AEUV Art. 194 Rn. 6; hiergegen spricht indes, dass sich auch bei einem Abstellen auf die ökonomische Theorie des Marktversagens eine kaum abgrenzbare Bandbreite von Fällen ergeben würde (näher zu den vielfältigen Ursachen von Marktversagen aus ökonomischer Sicht: Fritsch, S. 83 ff.). 211 Vgl. die Kommentierung des Europäischen Konvents zu Art. III-157 VVE: „Der vorgeschlagene Textentwurf für die Rechtsgrundlage `Energie` deckt in dem weit gefassten Abs. 1 die Art von Maßnahmen ab, die bislang angenommen wurden (…)“ (CONV 727/03, Anlage VII, S. 110). 212 Dafür Kahl EuR 2009, 601 (617 f.); Ludwigs ZG 2010, 222 (226 f.); A.M. Schneider, S. 280 f.; in diese Richtung auch Streinz/Bings EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 19 ff.; aA Grabitz/Hilf/Nettesheim/ ders. AEUV Art. 194 Rn. 15: „umfassende[r] Zugriff auf die Regulierung und Steuerung der Energiemärkte“; differenzierend Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 9. 213 Für Art. 95 EG bzw. Art. 114 AEUV explizit: EuGH 12.12.2006 – C-380/03, Slg 2006, I-11573 Rn. 67 – Tabakwerbeverbot II; EuGH 10.12.2002 – C-491/01, Slg 2002, I-11453 Rn. 60 – BAT;

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für den freien Warenverkehr und/oder zur Beseitigung spürbarer Wettbewerbsverzerrungen beiträgt.214 Das Ziel der Energieversorgungssicherheit aus Art. 194 Abs. 1 lit. b AEUV ist auf die aus- 64 reichende und zuverlässige Befriedigung der Energienachfrage ausgerichtet.215 Hiervon umfasst werden zum einen Vorgaben über die Sicherheit der Transportinfrastruktur (Strom- und Gastnetze), deren Funktionsfähigkeit und ggf. Ausbau gewährleistet werden muss.216 In die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen demgegenüber – anders als bei kerntechnischen Anlagen unter dem Regime des EAGV – rein anlagentechnische Sicherheitsaspekte.217 Zum anderen betrifft Art. 194 Abs. 1 Nr. 1 lit. b AEUV auch die Versorgung mit Primärenergieträgern. Zentrale Herausforderungen bilden insoweit die Gestaltung der Außenbeziehungen sowie – in der Binnenperspektive – die Absicherung gegen Versorgungsengpässe.218 Maßnahmen zur „Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen“ nach 65 Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV zielen auf die Versorgungssicherheit sowie die Umweltverträglichkeit des Energiemarktes.219 Der Begriff „Energieeffizienz“ wird dabei sowohl im juristischen als auch im (umwelt-)ökonomischen Schrifttum im Sinne einer Aufwand-NutzenRelation begriffen. Hiermit ist das Verhältnis der Menge bzw. des Wertes der produzierten Güter oder Dienstleistungen zur eingesetzten Energie angesprochen.220 Mathematisch formuliert bildet Energieeffizienz den Quotienten aus näher definiertem Nutzen (Output) und näher definiertem Energieeinsatz (Input).221 Unter „Energieeinsparung“ ist dagegen die absolute Verringerung des Energieeinsatzes, losgelöst vom hiermit erzielten Energienutzen, zu verstehen.222 Diese lässt sich – außer durch Maßnahmen der Energieeffizienz – auch im Wege des Verzichts („Suffizienz“) auf den Einsatz von Energie verwirklichen.223 Kontrovers diskutiert wird, ob Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV neben der „Förderung“ im en- 66 geren Sinne auch klassisch ordnungsrechtliche Maßnahmen abdeckt. Zu denken ist hier vor allem an die Festlegung von produktbezogenen Mindesteffizienz- und Höchstverbrauchsstandards. Für ein solches extensives Verständnis spricht, dass der Begriff „Förderung“ in lit. c nicht lediglich „instrumentell“,224 sondern „zielbezogen“ mit Blick auf die Steigerung von Energieeffizienz und Energieeinsparungen zu begreifen ist.225 Diese Sichtweise liegt auch der Rechtsetzungspraxis seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu-

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215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225

EuGH 3.9.2015 – C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 26 – Inuit Tapiriit Kanatami; aus der Lit. ausführlich: Ludwigs, Rechtsangleichung, S. 192 ff., 197 ff. mwN. St. Rspr. des EuGH; vgl. zB EuGH 5.10.2000 – C-376/98, Slg 2000, I-8419 Rn. 83, 106 ff. – Tabakwerbeverbot I; EuGH 12.12.2006 – C-380/03, Slg 2006, I-11573 Rn. 69 ff. – Tabakwerbeverbot II; EuGH 4.5.2016 – C-547/14, ECLI:EU:C:2016:325 Rn. 59 – Philip Morris Brands; für einen instruktiven Überblick zur EuGH-Judikatur: Weatherill German Law Journal 12 (2011), 827 (834 ff. mwN). Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 13; ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 16. Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 10. Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 13. Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 10. Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 14; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Hamer Unionsrecht AEUV Art. 194 Rn. 16. Aus der juristischen Literatur: Britz/Eifert/Reimer in dies., Energieeffizienzrecht, S. 63 (65); Walker, S. 59; Wüstemann, S. 25; aus dem ökonomischen Schrifttum: Sturm/Mennel ZfW 58 (2009), 3 (4); ferner Herring Energy 31 (2006), 10 (11). Britz/Eifert/Reimer in dies., S. 63 (65); Jesse, S. 10 f. Vgl. Linares/Labandeira Journal of Economic Surveys 24 (2010), 573; s. auch Schulte in FS für Rengeling, S. 417 (418 f.); Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 37; Meßerschmidt § 16 Rn. 133. Sailer NVwZ 2011, 718 (722); Schulte in FS für Rengeling, S. 417 (418 f.). In diese Richtung aber Frenz, Rn. 4694; ders./Kane NuR 2010, 464 (470). Zustimmend Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 14 mit Fn. 56.

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grunde. Beleg hierfür liefert etwa die auf Art. 194 AEUV gestützte Gebäudeeffizienzrichtlinie,226 die auch ordnungsrechtliche Vorgaben (wie etwa Mindestanforderungen an die Gesamtenergieeffizienz) beinhaltet. Weitere Beispiele bilden die gleichfalls ordnungsrechtlich geprägte Energieeffizienz-Richtlinie 2012/27227 sowie die neue Produktkennzeichnungs-Verordnung 2017/369.228 67 Die ebenfalls in Art. 194 Abs. 1 lit. c adressierten neuen und erneuerbaren Energien umfassen zum einen solche „neuen“ Energien, die – wie die Brennstoffzelle als Energiewandler – bislang allenfalls begrenzt genutzt wurden.229 Zum anderen werden auch bestehende („alte“), aber hinsichtlich ihrer Nutzung verbesserungsfähige „erneuerbare“ Energien wie Solarenergie, Wind- und Wasserkraft oder Erdwärme erfasst. Dafür, dass „neue“ und „erneuerbare“ Energien alternativ das Förderungsziel des Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV auslösen, sprechen vor allem Sinn und Zweck der Zielvorgabe.230 Die Praxis des EU-Gesetzgebers bestätigt diesen Befund zB in Gestalt der auf Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützten Neufassung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie.231 68 Umstritten ist, ob von Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV nur die technologische „Entwicklung“232 oder auch die wirtschaftliche „Förderung“233 neuer und erneuerbarer Energien erfasst wird. Für ein enges Verständnis scheint der Vertragswortlaut zu sprechen. Die in Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV adressierte „Förderung“ bezieht sich sprachlich allein auf die Energieeffizienz und Energieeinsparungen, nicht aber auf die neuen und erneuerbaren Energien. Dieser prima facie einleuchtende Befund wird indes durch den Blick auf die anderen Sprachfassungen des Vertrages widerlegt. So ist im Schrifttum mit Recht darauf hingewiesen worden, dass zB die englische, französische und spanische Fassung des Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV nicht mit dem Substantiv „Förderung“, sondern mit dem Verb „promote“, „promouvoir“ bzw. „fomentar“ beginnen.234 Dies zugrunde gelegt spricht bei einer Wortlautauslegung von lit. c alles dafür, dass das Verb zu Beginn der Zielbestimmung auch den zweiten Ziele-Teil über neue und erneuerbare Energiequellen umfasst. Der Vergleich zu den drei anderen Zielbestimmungen in lit. a, b und d, bei denen sich auch in der deutschen Fassung das Substantiv zu Beginn des Satzes auf das gesamte Ziel bezieht, weist in die gleiche Richtung.235 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass es sich bei Art. 194 Abs. 2 UAbs. 1 iVm Abs. 1 lit. c AEUV um eine breitflächige, die „Förderung“ 226 RL 2010/31/EU des EP und des Rates v. 19.5.2010 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, ABl. 2010 L 153/13; zuletzt geändert durch RL (EU) 2018/844 des EP und des Rates v. 30.5.2018, ABl. 2018 L 156/75. 227 Nachweis in Fn. 139. 228 VO (EU) 2017/1369 des EP und des Rates v. 4.7.2017 zur Festlegung eines Rahmens für die Energieverbrauchskennzeichnung und zur Aufhebung der RL 2010/30/EU, ABl. 2017 L 1908/1; dazu Föhlisch/Löwer CR 2018, 307. 229 Frenz, Rn. 4669; Hobe in Schwarze/Hatje, S. 219 (227). 230 Frenz/Müggenborg/Cosack/Schomerus/Hennig/Frenz, EEE Rn. 179; ebenso im Ergebnis Gundel EWS 2011, 25 (29); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (26). 231 Nachweis in Fn. 111. 232 Kahl EuR 2009, 601, 618; Granas EuR 2013, 619 (626 ff.); Calliess in FS Säcker, S. 589 (597); Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 15; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Rodi Unionsrecht AEUV Art. 194 Rn. 8; anders Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 15; ders. EWS 2011, 25, 29, wonach sich „Entwicklung“ nicht notwendig allein auf die technologische Entwicklung bezieht, sondern auch die flächendeckende Einführung umfasst; vermittelnd Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (28), der annimmt, dass „Entwicklung“ über das Technologische hinaus „auch ökonomische und ökologische Aspekte einschließen [kann]“. 233 Dafür Frenz/Müggenborg/Cosack/Schomerus/Hennig/Frenz, Europarecht der erneuerbaren Energien (EEE), Rn. 179; vgl. auch Streinz/Bings EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 28; Lenz/Borchardt/Breier EU-Verträge AEUV Art. 194 Rn. 11; J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 10. 234 Frenz/Müggenborg/Ehricke, EEG, 3. Aufl. 2013, S. 149 Rn. 11. 235 Frenz/Müggenborg/Ehricke, EEG, 3. Aufl. 2013, S. 149 Rn. 11.

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der Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen mit umfassende Ermächtigungsgrundlage handelt.236 In diese Richtung weist auch die Rechtsetzungspraxis, wie erneut die auf Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützte Neufassung der Erneuerbaren-Energien-Richtlinie deutlich macht.237 Die „Förderung der Interkonnektion der Energienetze“ hat flankierenden Charakter. Sie 69 ist elementar für das Funktionieren des Energie-Binnenmarktes, dient zugleich der Versorgungssicherheit und erleichtert zudem die Aufnahme der dargebotsabhängigen (volatilen) erneuerbaren Energien in die Netze.238 Der Begriff „Interkonnektion“ erfasst dabei neben der technischen Seite des „Verbunds und der Interoperabilität der einzelstaatlichen Energienetze“ (s. Art. 170 Abs. 2 AEUV) auch die ökonomische Komponente des tatsächlichen Verbundenseins im Sinne einer Nutzung der physisch verbundenen und kompatiblen Netze durch die Marktteilnehmer und Netznutzer.239 (2) Energiepolitischer Rahmen Der energiepolitische Rahmen für die Verfolgung der Zielvorgaben aus Art. 194 Abs. 1 70 lit. a–d AEUV wird durch die Leitprinzipien Solidarität, Binnenmarkt und Umweltschutz gesetzt.240 Die energiepolitische Solidaritätsklausel241 steht paradigmatisch für die allgemeine Stär- 71 kung des unionalen Solidaritätsprinzips durch den Vertrag von Lissabon.242 Adressiert wird vor allem die Sicherstellung der Energieversorgungssicherheit.243 Die Aufnahme der Klausel in den Vertrag geht auf eine Initiative Polens zurück, das sich in seiner Versorgungssicherheit durch etwaige Lieferunterbrechungen gefährdet sah.244 Der justitiable Gehalt der Solidaritätsklausel wird allerdings mit Recht als gering eingeschätzt.245 Insbesondere kann unter Berufung hierauf nicht positiv ein konkretes Handeln des Unionsgesetzgebers „erzwungen“ werden.246 Der in Art. 194 Abs. 1 AEUV adressierte Begriff des Binnenmarktes erfährt in Art. 26 72 Abs. 2 AEUV eine Legaldefinition. Im vorliegenden Kontext umfasst er einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem die Ware „Energie“ (Strom und Gas) frei zirkulieren kann.247 Ungeklärt ist allerdings, ob die in Art. 194 Abs. 1 AEUV erfolgte Bezeichnung des Binnen-

236 Frenz/Müggenborg/Ehricke, EEG, 3. Aufl. 2013, S. 149 Rn. 11; ferner Gundel EWS 2011, 23 (29); Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 10 Rn. 13. 237 Nachweis in Fn. 111. 238 Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 19. 239 Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 16. 240 Ausführlich hierzu Hackländer, S. 125 ff., 133 ff., 138 ff. 241 Kritisch zur Bezeichnung als „Solidaritätsklausel“: Schwarze/Hirsbrunner EU-Kommentar AEUV Art. 194 Rn. 13. 242 Für eine nur „deklaratorische Bedeutung“ daher Geiger/Khan/Kotzur/ders. EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 2; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Rodi Unionsrecht AEUV Art. 194 Rn. 1, 5; anders Calliess, EU nach Lissabon, S. 498, der aus dem lex specialis-Charakter der energiepolitischen Solidaritätsklausel ableiten will, dass die Erklärung Nr. 37 zum Vertrag von Lissabon betreffend die allgemeine Solidaritätsklausel in Art. 222 AEUV unanwendbar ist. Siehe noch Calliess/Ruffert/Calliess EUV/ AEUV AEUV Art. 194 Rn. 27, wonach es sich um ein „Korrektiv des Subsidiaritätsprinzips“ handele; hiergegen aber Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 3 mit Fn. 16. 243 Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 6; Gundel EWS 2011, 25 (26); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (22). 244 Frenz/Müggenborg/Ehricke, EEG, 3. Aufl. 2013, S. 149 Rn. 14; s. auch Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (22). 245 Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 24; ferner Streinz/Bings EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 34. 246 Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 24 aE. 247 Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (17).

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§ 5 Energierecht

markts als „Rahmen“ der Energiepolitik im Sinne einer gegenständliche Begrenzung der neuen Energiekompetenz zu begreifen ist.248 In systematischer Hinsicht steht dem entgegen, dass sich zumindest die in Art. 194 Abs. 1 lit. b–d AEUV formulierten konkreten Ziele vom Binnenmarktziel emanzipieren.249 Darüber hinaus liegt nicht allen Sprachfassungen die starre Vorstellung des „Rahmens“ zugrunde. Dies gilt zB für den englischen Text des AEUV-Vertrages, in dem es heißt: „in the context of the establishment and functioning of the internal market (…)“.250 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass es sich bei der Verwirklichung und dem Funktionieren des Binnenmarktes „lediglich“ um ein Leitprinzip der europäischen Energiepolitik handelt. Es tritt neben die gleichfalls in Art. 194 Abs. 1 AEUV verankerten, gleichrangigen Prinzipien der Energiesolidarität und des Umweltschutzes.251 Gefordert wird damit allein, dass sich die Energiepolitik der EU harmonisch in das Konzept eines europäischen Binnenmarktes einfügt.252 Im Konfliktfall sind die drei Leitprinzipien einem schonenden Ausgleich zuzuführen,253 wobei dem Unionsgesetzgeber hier ein weiter Einschätzungsspielraum zuzugestehen ist.254 73 Was schließlich die Vorgabe der „Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt“ angeht, so korrespondiert dieses Leitprinzip zum einen mit der Umwelt-Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV; zum anderen wird hierdurch die hohe Bedeutung des Umweltschutzes gerade im Energiesektor unterstrichen.255 Folgerichtig hat der EuGH in der Rechtssache Azienda Agro-Zootecnica deutlich gemacht, dass bei der in Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV vorgegebenen Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen auch entgegenstehende Umweltbelange gleichwertig zu berücksichtigen sind.256 bb) Handlungsermächtigung 74 Die eigentliche Handlungsermächtigung zur Verwirklichung der energiepolitischen Ziele aus Abs. 1 findet sich in Art. 194 Abs. 2 AEUV. Sie umfasst die Annahme sämtlicher Vorschriften, die unmittelbar einem (oder mehreren) der vier Ziele aus Art. 194 Abs. 1 lit. a–d AEUV dienen.257 Als Handlungsinstrumente sieht Art. 194 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV allgemein den Erlass von „Maßnahmen“ vor. Hiervon wird neben Verordnungen und Richtlinien zB auch das Handlungsinstrument der Beschlüsse gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV abgedeckt. 75 In prozeduraler Hinsicht bestimmt Art. 194 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV, dass für energiepolitische Maßnahmen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 Abs. 1 iVm Art. 294 AEUV zur Anwendung kommt. Die Folge ist, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (Art. 16 Abs. 3 EUV) und das Parlament über echte Mitentscheidungsbefugnisse (Art. 294 AEUV) verfügt.258 Weitergehend hat nach Abs. 2 UAbs. 1 S. 2

248 Dafür Papenkort/Wellershoff RdE 2010, 77 (78 f.). 249 Schulenberg, S. 399; Schwarze/Hirsbrunner EU-Kommentar AEUV Art. 194 Rn. 15. 250 Überzeugend Ehricke/Hackländer ZEuS 2008, 579 (592); ebenso Schwarze/Hirsbrunner EU-Kommentar AEUV Art. 194 Rn. 15. 251 Ehricke/Hackländer ZEuS 2008, 579 (592 f.); Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 6; Schulenberg, S. 399 f. 252 Schulenberg, S. 400; ähnlich Hackländer, S. 125, 132 f. 253 So auch Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 4. 254 Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 26. 255 Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 8; vgl. auch Schulenberg, S. 394 ff., 397. 256 EuGH 21.7.2011 – C-2/10, Slg 2011, I-6561 Rn. 55 f. – Azienda Agro-Zootecnica (zur Rechtfertigung eines Verbots der Errichtung von Windenergieanlagen in Naturschutzgebieten); näher Röben, S. 218 f. 257 Frenz, Rn. 4679 f. 258 Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (29).

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B. Gegenstandsbereich

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eine Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen zu erfolgen. Eine bedeutsame Einschränkung der in Art. 194 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV normierten Hand- 76 lungsermächtigung folgt aus dem sog energiepolitischen Souveränitätsvorbehalt in UAbs. 2.259 Dort wird, „unbeschadet des Artikels 192 Absatz 2 Buchstabe c“, das Recht des Mitgliedstaats anerkannt, „die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur der Energieversorgung zu bestimmen“.260 Anders als in Art. 192 Abs. 2 lit. c AEUV wird keine explizite Erheblichkeitsschwelle aufgestellt. Dies kann zwar nicht bedeuten, dass Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV gänzlich losgelöst von der Intensität der Maßnahme eingreift.261 Den Mitgliedstaaten eröffnet sich aber ein größerer Raum für nationale Vorbehalte.262 Die dogmatische Einordnung der Unbeschadetheitsklausel ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Denkbar erscheint zunächst die Qualifizierung als Rechtsfolgenverweis auf das Einstimmigkeitserfordernis des Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. c AEUV.263 Hiergegen spricht indes schon in systematischer Hinsicht die explizite Anordnung der Einstimmigkeit in Art. 194 Abs. 3 AEUV.264 Darüber hinaus wird im Schrifttum auch auf die Genese des Souveränitätsvorbehalts im Verfassungskonvent verwiesen.265 Vorzugswürdig erscheint es daher, Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV als „echte“ materiellrechtliche Kompetenzgrenze im Rahmen des Energietitels zu begreifen.266 Die Folge ist, dass ein Handeln der Union auf Basis von Art. 194 AEUV ausscheidet, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 UAbs. 2 vorliegen. Demgegenüber lässt sich dem sog Souveränitätsvorbehalt keine Kompetenzsperre für Rechtsakte entnehmen, die auf anderer Rechtsgrundlage erlassen werden. 267 Folgerichtig stellt die Unbeschadetheitsklausel des Art. 194 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV explizit klar, dass Maßnahmen auf umweltrechtlicher Grundlage nach Maßgabe des Einstimmigkeitsvorbehalts in Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. c AEUV möglich bleiben.268 In diesem Sinne lässt sich auch von einer „Rechtsgrundverweisung“269 sprechen. 259 Kritisch zur Begriffswahl Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 28, mit dem Hinweis, dass man bei einem „‚echten‘ Souveränitätsvorbehalt“ eine umfassende Ausschlusswirkung erwarten würde, die sich nicht nur auf Art. 194 AEUV bezieht, sondern die Verbandskompetenz der EU insgesamt exkludiert. 260 Ansätzen im Schrifttum, wonach alle drei Aspekte kumulativ berührt sein müssen (vgl. Gross in Ehricke, S. 33 [35]), stehen Wortlaut und Telos (Wahrung der nationalen „Energiesouveränität“) von Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV entgegen. Gleiches gilt für die vereinzelte Deutung als nationale Optout-Möglichkeit (s. Proelß in Ehlers/Herrmann/Wolffgang/Schröder ua, S. 161 [178]); zum Ganzen überzeugend Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV Art. 194 AEUV Rn 29. 261 Ebenso Calliess, EU nach Lissabon, S. 491; aA Ehricke/Hackländer ZEuS 2008, 579 (599). 262 In diese Richtung auch Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (31); ferner Calliess, EU nach Lissabon, S. 491. 263 Dafür Gundel EWS 2011, 25 (28) mwN; s. auch bereits Maichel in FS für Götz, S. 55 (67); zu Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. c AEUV vgl. im Hinblick auf die Etablierung der Marktstabilitätsreserve (MSR) jüngst EuGH 21.6.2018 – C-5/16, ECLI:EU:C:2018:483 – Republik Polen/Parlament und Rat, wonach die Ausnahmevorschrift nicht einschlägig sei, weil es sich bei der MSR nur um einen punktuellen Eingriff zur Korrektur einer Strukturschwäche handele. 264 Ehricke/Hackländer ZEuS 2008, 579, 599; zustimmend Calliess/Hey in Müller, S. 223 (236). 265 Calliess, EU nach Lissabon, S. 491 f. 266 Ebenso Calliess in FS für Säcker, S. 589 (597 f.); Frenz, Rn. 4667; s. auch Streinz/Bings EUV/AEUV Art. 194 Rn. 40; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 3; Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (31). 267 EuG 7.3.2013 – T-370/11, ECLI:EU:T:2013:113 Rn. 11 ff. – Polen/Kommission; Pechstein/Nowak/ Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 33. 268 Darauf explizit hinweisend auch Frenz, Rn. 4687; Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 25; restriktiv Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 41, wonach „keine EU-Verbandskompetenz“ bestehen soll, wenn es um die in Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV bezeichneten Themata geht. 269 Schmidt-Preuß in Storr, S. 1 (14).

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§ 5 Energierecht cc) Einstimmigkeitserfordernis

77 Abweichend von Abs. 2 UAbs. 1 setzt Art. 194 Abs. 3 AEUV (iVm Art. 289 Abs. 2 AEUV) für Maßnahmen „überwiegend steuerlicher Art“ einstimmige Beschlussfassung im Rat (bei bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments) voraus. Damit wird dem „Prinzip der Einstimmigkeit in allen Steuerfragen“270 entsprochen. Hierdurch sollen die Budgethoheit der Mitgliedstaaten gewahrt und die im Steuersystem angelegten Lenkungsoptionen erhalten bleiben.271 Parallel zu Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a AEUV erfasst Abs. 3 allerdings nur die Steuern im engeren Sinne, nicht hingegen sonstige Abgaben (wie Gebühren oder Beiträge).272 Ein solches enges Verständnis wird sowohl durch den Vertragswortlaut als auch durch den Ausnahmecharakter der Regelung gestützt. Einschlägig ist das Einstimmigkeitserfordernis im Übrigen auch nur dann, wenn die steuerlichen Regelungen den Schwerpunkt („überwiegend“) der Maßnahme bilden.273 dd) Bewertung 78 Die neue Energiekompetenz des Art. 194 AEUV wird im Schrifttum kontrovers diskutiert. Positiv werden vor allem die „kompetentielle Bündelungsfunktion“ und der hieraus resultierende Zugewinn an Rechtssicherheit und -klarheit vermerkt (s. auch Ruffert → § 1 Rn. 42).274 Kritik wird vor allem an den zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen geäußert, die eine „Spirale der Kompetenzansprüche“ zwischen der EU und den Mitgliedstaaten in Gang setzen könnten.275 79 Der mit Art. 194 AEUV verbundene „Kompetenzgewinn“ der EU lässt sich konkret an fünf Punkten festmachen:276 Erstens ist bei Art. 194 AEUV die Zulässigkeit einer – im Rahmen der Harmonisierungskompetenz des Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) streitigen – „präventiven Rechtsangleichung“ anerkannt.277 Gleiches gilt zweitens auch für die Etablierung von originären Einzelfallentscheidungskompetenzen oder Genehmigungsvorbehalten der EU-Kommission278 sowie für die Gründung vertragsfremder Einrichtungen

270 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Rodi Unionsrecht AEUV Art. 194 Rn. 15, unter Rekurs auf Art. 113 AEUV, Art. 114 Abs. 2 AEUV und Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a AEUV; ferner Schwarze/Hirsbrunner EU-Kommentar AEUV Art. 194 Rn. 36. 271 Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 38. Zur Diskussion um eine Anpassung des Beschlussfassungsverfahrens im Bereich der Energiebesteuerung (gerade auch vor dem Hintergrund einer möglichen CO2-Steuer) vgl. die Mitteilung der Kommission „Eine effizientere und demokratischere Beschlussfassung in der Energie- und Klimapolitik der EU“ v. 9.4.2019, COM(2019) 177 final. 272 Calliess in FS für Säcker, S. 589 (593); ders., EU nach Lissabon, S. 484; Schwarze/Hirsbrunner EUKommentar AEUV Art. 194 Rn. 36; Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (30); anders Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 44, der für einen Gleichklang mit Art. 113 und Art. 114 Abs. 2 AEUV plädiert. 273 Lenz/Borchardt/Breier EU-Verträge AEUV Art. 194 Rn. 18; Calliess in FS für Säcker, S. 589 (593). 274 Kahl NVwZ 2009, 265 (269 f.); Vedder/Heintschel v. Heinegg/Rodi Unionsrecht AEUV Art. 194 Rn. 2; ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 8; Schulenberg, S. 424. 275 Schmidt-Preuß et 2003, 776 (zu Art. III-157 VVE), dort auch das Zitat im Text; ferner A.M. Schneider, S. 288. 276 Vgl. bereits Ludwigs ZG 2010, 222 (225 f.). 277 Frenz, Rn. 4680; Kahl in Schulze-Fielitz/Müller, S. 21 (51); Schulenberg, S. 380, 425; anders Papenkort/Wellershoff RdE 2010, 77 (79); zum Meinungsstand bei Art. 95 EG (Art. 114 AEUV): Ludwigs, Rechtsangleichung, S. 94 ff. 278 Im Kontext von ex-Art. 95 EG bereits bejahend: EuGH 9.8.1994 – C-359/92, Slg 1994, I-3681 Rn. 37 – Deutschland/Rat; zu Art. 114 AEUV bestätigend EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 106 – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat; ausführlich zur Diskussion im Rahmen der Binnenmarktkompetenz: Ludwigs, Rechtsangleichung, S. 236 ff.

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B. Gegenstandsbereich

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oder Agenturen (s. auch noch → Rn. 149).279 Drittens bleiben Maßnahmen zur Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit nicht mehr, wie beim speziellen Art. 122 AEUV (ex-Art. 100 EG) auf ad-hoc-Maßnahmen in akuten Notlage beschränkt.280 Im Übrigen sind auch die im Rahmen der Binnenmarktkompetenz aus ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) geäußerten Bedenken281 gegen die Verfolgung der Versorgungssicherheit als eigenständigem Ziel nunmehr obsolet.282 Viertens steht es dem Unionsgesetzgeber – anders als noch in ex-Art. 156 EG – offen, die Förderung der Interkonnektion der einzelstaatlichen Energienetze mit dem von ihm als optimal bewerteten Instrumentarium (insbes. auch mittels Richtlinien und Verordnungen) zu verfolgen.283 Dabei existiert auch keine Beschränkung auf eine koordinierende Rahmenregelung. Vielmehr wird die EU ermächtigt, konkrete eigene Projekte zur Interkonnektion der Energienetze zu verfolgen.284 Fünftens sieht Art. 194 AEUV keine Möglichkeit zur nationalen Schutzverstärkung vor.285 Einer analogen Anwendung von Art. 193 AEUV286 oder Art. 114 Abs. 4–9 AEUV287 steht (wie auch einer Gesamtanalogie) entgegen, dass es am Vorliegen einer verdeckten Regelungslücke als Voraussetzung für eine entsprechende Rechtsfortbildung fehlt. Konsequenterweise erscheint es dann aber zugleich fragwürdig, wenn im Schrifttum dafür plädiert wird, Art. 193 AEUV insgesamt zur Anwendung zu bringen, falls ein (unteilbarer) Rechtsakt auf Art. 192 und Art. 194 AEUV gestützt wird.288 Richtigerweise dürfte eine nationale Schutzverstärkung hier nur dann zulässig sein, wenn diese im einschlägigen Sekundärrechtsakt selbst ermöglicht wird.289 Insgesamt erscheint eine differenzierte Bewertung angezeigt. Einerseits sind mit der neuen 80 Energiekompetenz des Art. 194 AEUV durchaus Zuständigkeitsverschiebungen und -erweiterungen verbunden. Andererseits kann von einer „nahezu flächendeckende[n] Zuständigkeit“290 oder einem „substantielle[n] kompetenzielle[n] Landgewinn“291 der Union im Energiesektor nicht die Rede sein.292 Bestätigt wird diese zurückhaltende Bewertung auch durch die Fortschreibung des Souveränitätsvorbehalts aus ex-Art. 175 Abs. 2 279 Nettesheim JZ 2010, 19 (21); s. auch Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 8; zur umstrittenen Heranziehung von ex-Art. 95 EG bzw. Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage für die Errichtung von Unionsagenturen: EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771 Rn. 42 ff. – ENISA – bzw. EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 97 ff. – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat; hierzu statt vieler Ludwigs EuZW 2006, 417 bzw. Saurer DÖV 2014, 549. 280 Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 12 f.; ähnlich Schulenberg, S. 383, 425; ferner Fischer Integration 2009, 50 (57); zu Art. 122 AEUV (ex-Art. 100 EG): SchmidtPreuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 43. 281 Vgl. insoweit zB Hackländer, S. 174 f.; A.M. Schneider, S. 131, 179 ff. 282 Gundel EWS 2011, 25 (26). 283 Näher Schulenberg, S. 387 ff., 425. 284 Calliess, EU nach Lissabon, S. 494 f. 285 So die ganz hM im Schrifttum; statt vieler: Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (51); Kahl EuR 2009, 601 (619); ders. in FS für Scheuing, S. 92 (94); Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 39; ferner Gundel EWS 2011, 25 (27). 286 Dafür Britz in Schulze-Fielitz/Müller, S. 71 (86). 287 So Papenkort/Wellershoff RdE 2010, 77 (79). 288 Wie hier Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 26, unter Verweis ua auf Art. 1 Abs. 2 der EnEff-RL 2012/27/EU; aA aber Vedder/Heintschel von Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 193 Rn. 4; Frenz/Kane NuR 2010, 464 (468 f.); Kahl in FS für Scheuing, S. 92 (104 f.); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (26). 289 Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 26 mwN. 290 Noch zu Art. III-157 VVE: Jasper ZNER 2003, 210 (211). 291 Dafür Nettesheim JZ 2010, 19 (24 f.); Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 41 (s. aber auch Rn. 8 f.). 292 Ähnlich Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 10 Rn. 18 mit Fn. 28, der sogar annimmt, dass mit Art. 194 AEUV überhaupt kein Kompetenzzuwachs verbunden ist; ebenso bereits ders. et

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§ 5 Energierecht

UAbs. 1 lit. c EG in Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV und das Einstimmigkeitserfordernis des Art. 194 Abs. 3 AEUV.293 Hinzuweisen ist in diesem Kontext schließlich auf die Erklärung Nr. 35 zu Art. 194 AEUV,294 wonach Art. 194 AEUV „das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lässt, Bestimmungen zu erlassen, die für die Gewährleistung der Energieversorgung unter den Bedingungen des Artikels 347 [AEUV] erforderlich sind“. Hiermit sind die – äußerst seltenen – Fälle angesprochen, in denen eine Notstandslage (wie zB eine schwerwiegende innerstaatliche Störung der öffentlichen Ordnung) besteht. 81 Resümierend ist festzuhalten, dass die Energiekompetenz des Art. 194 AEUV im Wesentlichen auf eine zu begrüßende Klarstellungs- und Bündelungsfunktion mit punktuellen (aber durchaus bedeutsamen) Zuständigkeitserweiterungen zugunsten der EU beschränkt bleibt. Eine substanzielle Kompetenzverschiebung zwischen Union und Mitgliedstaaten erfolgt dagegen nicht. b) Horizontale Kompetenzabgrenzung 82 Auch nach Aufnahme der spezifischen Zuständigkeit in Art. 194 AEUV bleiben die zuvor bereits existierenden (indirekten) Energiekompetenzen der EU zur Verwirklichung von Binnenmarkt, Umwelt-/Klimaschutz und Versorgungssicherheit bestehen. Von Bedeutung sind hier vor allem die Zuständigkeiten für die Rechtsangleichung im Binnenmarkt (Art. 114 AEUV), den Umweltschutz (Art. 192 AEUV), die transeuropäischen Netze (Art. 172 AEUV) und die Maßnahmen bei Versorgungsproblemen (Art. 122 Abs. 1 AEUV).295 Sie wurden im Wesentlichen unverändert in den AEUV übernommen.296 Damit stellt sich die Frage nach der horizontalen Kompetenzabgrenzung zwischen Art. 194 AEUV und diesen überkommenen (indirekten) Energiekompetenzen.297 Die fortbestehende Relevanz macht auch der Wortlaut des Art. 194 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV („Unbeschadet der Anwendung anderer Bestimmungen der Verträge […]“) deutlich.298 Zwar lässt sich hieraus nicht auf eine formelle Subsidiarität von Art. 194 AEUV schließen. Es wird aber immerhin deutlich, dass eine Maßnahme der EU nicht schon deshalb auf Art. 194 AEUV zu stützen ist, weil energiepolitische Ziele verfolgt werden.299 83 Konkret ergibt sich für die Abgrenzung zur allgemeinen Binnenmarktkompetenz, dass Art. 194 AEUV als lex specialis gerade die Maßnahmen im Energiebereich abdecken soll,

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2003, 776 (zu Art. III-157 VVE); von einer nur begrenzten Kompetenzerweiterung gehen aus: Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (42 f.); Frenz, Rn. 4727; Hobe in Schwarze/Hatje, S. 219 (228 f.); Kahl EuR 2009, 601 (609 f.); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (34); aA (neben den in Fn. 291 Genannten) Götz in Schwarze, S. 43 (46); Classen GYIL 46 (2003), 323 (351). Hierzu Kahl in Schulze-Fielitz/Müller, S. 21 (52 f.). ABl. 2010 C 83/349; zur eingeschränkten (Auslegungs-) Relevanz von Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz s. Calliess/Ruffert/Schmalenbach EUV/AEUV EUV Art. 51 Rn. 6. Vgl. noch zu weiteren Rechtsgrundlagen (und hierauf gestützten Maßnahmen der EU): Terhechte/ Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 22, unter Verweis auf die Art. 179 ff. AEUV (Förderung von Forschung und technologischer Entwicklung), Art. 337 AEUV (Begründung von Mitteilungspflichten an die Kommission), Art. 338 AEUV (Erhebung statistischer Daten), Art. 207 AEUV (Gemeinsame Handelspolitik) und Art. 106 Abs. 3 AEUV (Wettbewerbsregeln für Unternehmen). Zum Vorrang von Art. 194 AEUV gegenüber Art. 337 AEUV im Falle der Verwirklichung der speziellen Ziele der EUEnergiepolitik EuGH 6.9.2012 – C-490/10, ECLI:EU:C:2012:525 Rn. 68 – Parlament/Rat. Mit dem Lissabonner Vertrag erfolgte in Art. 122 Abs. 1 AEUV sowohl der deklaratorische Einschub „im Geiste der Solidarität“ als auch ein expliziter Verweis auf den Energiesektor (s. Gundel EWS 2011, 25 [30]). Eingehend zur horizontalen Kompetenzabgrenzung zuletzt: Kahl in FS für Scheuing, S. 92 ff.; Schwartz, S. 75 ff., 183 ff. In diese Richtung auch EuGH 6.9.2012 – C-490/10, ECLI:EU:C:2012:525 Rn. 67 – Parlament/Rat. Ebenso Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 1, 19; Nettesheim JZ 2010, 19 (24); Schulenberg, S. 414 f.; s. auch Streinz/Bings EUV/AEUV Art. 194 Rn. 38; noch zu Art. III-256 VVE: Papenkort, S. 127; Lenz/Borchardt/Breier EU-Verträge AEUV Art. 194 Rn. 14.

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die bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages auf ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) gestützt wurden. Hierfür kann der Wortlaut des Art. 194 Abs. 1 AEUV angeführt werden; genauer die Maßgabe „im Rahmen der Verwirklichung oder des Funktionierens des Binnenmarkts“ sowie die Zielsetzung der „Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts“ (lit. a). Vor diesem Hintergrund wird Art. 114 AEUV für den Bereich des Energiebinnenmarktes vollständig durch Art. 194 AEUV verdrängt.300 Ein Beispiel aus der Rechtsetzungspraxis bildet die für den Bereich des Energiehandels erlassene und folgerichtig auf Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützte sog REMIT301-Verordnung 1227/2011.302 Was im Weiteren das Verhältnis zu Art. 172 AEUV betrifft, der den technischen Verbund 84 und die Interoperabilität der Netze abdeckt, so deutet zwar der Wortlaut von Art. 194 AEUV auf einen Vorrang des Energiekompetenztitels mit Blick auf die „Förderung der Interkonnektion der Energienetze“ (Abs. 1 lit. d) hin.303 Daneben bliebe dann aber für Art. 172 AEUV im Energiesektor nur ein beschränkter Anwendungsbereich. Zu denken wäre insoweit vor allem an den Erlass grundsätzlicher Regelungen in allgemeinen, sektorübergreifenden Leitlinien.304 Der EuGH plädiert demgegenüber umgekehrt (und ohne nähere Begründung) für eine Einordnung der Art. 170 ff. AEUV als leges speciales.305 In der Sache lässt sich hierfür immerhin anführen, dass die bei konkreten räumlichen Planungen gem. Art. 172 Abs. 2 AEUV erforderliche Billigung des jeweils betroffenen Mitgliedstaats nicht durch eine Abstützung des Rechtsakts auf Art. 194 AEUV umgangen werden darf.306 Auf dieser Linie liegt auch die Rechtsetzungspraxis, wie die auf Art. 172 AEUV gestützte sog TEN-E-Verordnung vom 17.4.2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur verdeutlicht.307 Umgekehrt bildet die Zuständigkeit des Art. 122 Abs. 1 AEUV308 eine lex specialis zu 85 Art. 194 AEUV für Reaktionen auf gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit Energieerzeugnissen.309 Der Wortlaut der Bestimmung deutet darauf hin, dass nur ad-hocMaßnahmen in akuten Notlagen erfasst werden,310 während präventive Maßnahmen in

300 So auch Streinz/Bings EUV/AEUV Art. 194 Rn. 39; Calliess in FS für Säcker, S. 589 (599); Pechstein/ Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 7; Hobe in Schwarze/Hatje, S. 209 (225); Kahl EuR 2009, 601 (618); Ludwigs ZG 2010, 222 (228); AEUV Art. 194 Rn. 11; Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 10 Rn. 13, 17; aA Frenz, Rn. 4682, 4699; Knauff ThürVBl. 2010, 217 (223); wohl auch Nettesheim JZ 2010, 19 (23 f.); ferner Grabitz/Hilf/Nettesheim/ders. AEUV Art. 194 Rn. 35, wo auf eine Abgrenzung nach Maßgabe der Schwerpunkttheorie verwiesen wird. 301 REMIT = Regulation on Wholesale Energy Market Integrity and Transparency. 302 VO (EU) Nr. 1227/2011 des EP und des Rates v. 25.10.2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts, ABl. 2011 L 326/1. 303 So noch Rn. 84 der Vorauflage; differenzierend Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 16 f.; Gundel EWS 2011, 25 (30); Grabitz/Hilf/Nettesheim/Gundel AEUV Art. 170 Rn. 29. 304 Calliess, EU nach Lissabon, S. 494, der daneben auch für den Zusammenschluss mit Netzen in Drittstaaten auf Art. 172 AEUV verweist. 305 EuGH 6.9.2012 – C-490/10, ECLI:EU:C:2012:525 Rn. 67 – Parlament/Rat. 306 Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 20. 307 VO (EU) Nr. 347/2013 des EP und des Rates v. 17.4.2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG und zur Änderung der VO (EG) Nr. 713/2009, (EG) Nr. 714/2009 und (EG) Nr. 715/2009 , ABl. 2013 L 115/39; zuletzt geändert durch VO (EU) 2019/943 des EP und des Rates v. 5.6.2019, ABl. 2019 L 158/54. 308 Verfahrensmäßig ist bei Art. 122 AEUV zu beachten, dass der Rat hier mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 3 EUV) und ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments entscheidet. 309 EuGH 6.9.2012 – C-490/10, ECLI:EU:C:2012:525 Rn. 67 – Parlament/Rat; aus der Lit.: Calliess/ Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 13. 310 Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 12; für einen Notfallbezug auch Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (41); Hackländer, S. 167 ff.; Schulenberg, S. 182 ff.; Thimig, S. 99 f.

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§ 5 Energierecht

der neuen Energiekompetenz ihre Grundlage finden.311 Vor diesem Hintergrund erscheint die alleinige Abstützung der Verordnung 2017/1938312 auf Art. 194 Abs. 2 AEUV vertretbar.313 Zwar sind darin neben Präventionsmaßnahmen auch Regelungen über die Ausrufung eines regionalen bzw. unionsweiten Notfalls durch die EU-Kommission (Art. 12 VO) sowie ein EU-weiter Mechanismus mit wechselseitigen Solidaritätsverpflichtungen (Art. 13 VO) vorgesehen. Bei der Verordnung handelt es sich aber nicht um eine konkrete ad hoc-Maßnahme zur Reaktion auf einen akuten Notfall, sondern um die abstrahierende Etablierung eines Regelungssystems zur Gewährleistung einer wirksamen Krisenvorsorge und eines Krisenmanagements im Falle des Auftretens eines solchen Notfalls. 86 Besondere Schwierigkeiten bereitet schließlich das Verhältnis von Art. 194 AEUV zur Umweltkompetenz aus Art. 192 AEUV.314 Das Ausmaß der zwischen beiden Normen bestehenden Überschneidungsbereiche verdeutlicht ein Blick auf Art. 191 Abs. 1 Spiegelstr. 3 AEUV („umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen“) einerseits und Art. 194 Abs. 1 lit. c AEUV („Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen“) andererseits. Die Annahme eines lex-specialis-Vorrangs von Art. 194 AEUV kann vor diesem Hintergrund nicht überzeugen.315 Vielmehr ist im Einzelfall auf die ständige Rechtsprechung des EuGH zur horizontalen Kompetenzabgrenzung abzustellen.316 Danach muss die Wahl der Rechtsgrundlage auf objektiven, gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen, wozu insbesondere das Ziel und der Inhalt der Maßnahme zählen.317 Die Rede ist insoweit auch von einer gemischt subjektiv-objektiven Methode. Kommt es zwischen mehreren, nicht in einem methodischen Rangverhältnis zueinanderstehenden Kompetenznormen zu Überschneidungen, ist also maßgeblich auf das (objektive) Hauptziel des Rechtsaktes abzustellen.318 Ist der Umwelt-/Klimaschutz von einem primär den Zielen des Art. 194 Abs. 1 lit. a–d AEUV dienenden EU-Rechtsakt daher nur implizit betroffen, ohne ihm das maßgebliche Gepräge zu geben, so findet Art. 194 Abs. 2 AEUV und nicht Art. 192 AEUV Anwendung, et vice versa. Ein Beispiel bilden die auch in der Praxis weiter auf Art. 192 Abs. 1 AEUV gestützten, klimaschutzbezogenen Maßnahmen zum Emissionsrechtehandel, der neben dem Energiesektor gerade auch weitere bedeutsame Anwendungsfelder umfasst.319 Lässt sich die einschlägige Kompetenzgrundlage indes nicht eindeutig bestimmen, spricht viel dafür, auf die Wahl der Rechtsgrundlage als maßgebliches (objektiv erkennba311 Frenz, Rn. 4683; ferner Gundel EWS 2011, 25 (30), der zugleich darauf hinweist, dass die vor Implementierung des Art. 194 AEUV erfolgte Abstützung von Vorsorgemaßnahmen auf ex-Art. 100 EG (Art. 122 AEUV) zweifelhaft erscheinen musste, weil sich der Wortlaut der Vorschrift allein auf kurzfristige Maßnahmen in akuten Notlagen bezieht. 312 Nachweis in Fn. 170. 313 Anders noch Rn. 80 der Vorauflage für die VO 994/2010. 314 Hierzu schon Ludwigs ZG 2010, 222 (228 f.); eingehend Frenz, Rn. 4685 ff. 315 Dafür aber Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 22; in diese Richtung für „spezifisch energieumweltrechtliche Rechtsakte“ auch noch Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 16 ff. 316 Schulenberg, S. 418 ff.; s. auch Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (24); Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 10 Rn. 13; s. auch Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (36 f.), der betont, dass die Unbeschadetheitsklausel des Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV nur Sinn macht, wenn Art. 192 AEUV grundsätzlich neben Art. 194 AEUV Anwendung findet. 317 Vgl. EuGH 26.3.1987 – Rs. 45/86, Slg 1987, 1493 Rn. 11 – Kommission/Rat; EuGH 11.6.1991 – C-300/89, Slg 1991, I-2867 Rn. 10 – Titandioxid; EuGH 6.12.2001 – Gutachten 2/00, Slg 2001, I-9713, Rn. 22 – Protokoll von Cartagena; EuGH 26.1.2006 – C-533/03, Slg 2006, I-1025 Rn. 43 – Kommission/Rat; EuGH 6.9.2012 – C-490/10, ECLI:EU:C:2012:525, Rn. 44 – Parlament/Rat; zuletzt EuGH 4.9.2018 – C-244/17, ECLI:EU:C:2018:662 Rn. 36 – Kommission/Rat. 318 EuGH 9.10.2001 – C-377/98, Slg 2001, I-7079 Rn. 27 – Biotechnologische Erfindungen. 319 Vgl. zuletzt die Änderungs-RL (EU) 2018/410 des EP und des Rates v. 14.3.2018, ABl. 2018 L 76/3; aus der Lit.: Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 16 ff.

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res) Indiz zur Bestimmung des Hauptziels des Rechtsaktes abzustellen.320 Das gilt umso mehr, als auch der Inhalt der Maßnahme, zB in Bezug auf die nur bei Art. 192 AEUV bestehende Schutzverstärkungsmöglichkeit,321 (indirekt) durch die gewählte Rechtsgrundlage beeinflusst wird. Eine kumulative Abstützung auf Art. 192 AEUV und Art. 194 AEUV erscheint – gerade wegen der in Art. 194 AEUV fehlenden Schutzverstärkungsmöglichkeit – nur bei exakter, artikelweiser Zuordnung des Rechtsakts möglich.322 Mit Blick auf die Kompetenzabrundungsklausel des Art. 352 AEUV ist schließlich festzu- 87 halten, dass durch den neuen Art. 194 AEUV und die daneben fortbestehenden unspezifischen Energiekompetenzen praktisch alle energiepolitisch relevanten Regelungsfelder abgedeckt werden. Der subsidiären Ermächtigung aus Art. 352 AEUV kommt daneben keine substanzielle Bedeutung zu.323 Was schließlich die Sonderregelungen des Euratom-Vertrags (→ Rn. 127 ff.)324 für den Be- 88 reich der Nuklearenergie betrifft, so ist festzuhalten, dass diese neben Art. 194 AEUV fortgelten und diesem vorgehen (s. hierzu Art. 106 a Abs. 3 EAGV).325 Im Schrifttum ist insoweit pointiert vom „speziell[en], eigenständig[en] und [insoweit fragwürdig – Anm. d. Verf.] abschließend[en]“ Charakter des Euratom-Vertrages die Rede.326 Im Übrigen nimmt auch der EuGH in ständiger Rechtsprechung an, dass die zentralen Art. 31 und 32 EAGV weit auszulegen sind und eine umfassende Regelung der Sicherheit kerntechnischer Anlagen abdecken.327 Raum für Art. 194 AEUV dürfte daneben nur im Falle allgemein-vertikal geltender Regelungen für den Energiesektor verbleiben.328 c) Kompetenzausübungsschranken Die vertikale Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten wird durch den 89 in Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 EUV niedergelegten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung geprägt. Danach wird die EU nur im Rahmen der Zuständigkeiten tätig, die ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen sind. Die vielfältigen spezifischen und unspezifischen Unionszuständigkeiten im Energiesektor sind vorstehend näher erörtert worden. Hierauf ist die Kompetenzprüfung freilich nicht begrenzt. Es bedarf vielmehr gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV der additiven Einhaltung zweier sog Kompetenzausübungsschranken. In den Fokus rücken hier das Subsidiaritätsprinzip einerseits (aa.) und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

320 So bereits Jarass EuZW 1991, 530 (532); Ludwigs, Rechtsangleichung, S. 308; s. auch ders. ZG 2010, 222 (229). 321 Wie hier Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 25; aA Britz in Schulze-Fielitz/ Müller, S. 71 (86); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (25 f.). 322 Ludwigs ZG 2010, 222 (229). 323 Ebenso Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 51; s. auch Schulenberg, S. 417: „kein Anwendungsfall“. 324 Für einen Überblick zum EAG-Vertrag als „Magna-Charta“ für die friedliche Nutzung der Kernenergie auf der Ebene des Europarechts vgl. Schmidt-Preuß in Säcker Handbuch, S. 764 (789 ff.); ausführlich Papenkort, S. 21 ff.; s. auch Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 175 ff. 325 Wie hier Frenz, Rn. 4699; Nettesheim JZ 2010, 19 (20); Schmidt-Preuß et 2003, 776; s. auch EuGH 12.2.2015 – C-48/14, ECLI:EU:C:2015:91 Rn. 38 – Parlament/Rat; aA Kahl EuR 2009, 601 (619 f.). 326 Schmidt-Preuß in Säcker Handbuch, S. 764 (789); vgl. auch Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 171: „Grundsatz der ausschließlichen Spezialität“; ferner Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 1 mit Fn. 5 mwN zum Meinungsstand. 327 Deutlich zuletzt EuGH 12.2.2015 – C-48/14, ECLI:EU:C:2015:91 Rn. 26 – Parlament/Rat; Pechstein/ Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 23 mwN. 328 Überzeugend Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 23; s. für die Regelung zur Mitteilung von Investitionsvorhaben für Energieinfrastruktur in der EU: EuGH 6.9.2012 – C-490/10, ECLI:EU:C:2012:525 Rn. 80 ff. – Parlament/Rat.

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§ 5 Energierecht andererseits (bb.). Als eine dritte Kompetenzausübungsschranke tritt schließlich die Regelung über die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten aus Art. 345 AEUV (cc.) hinzu. aa) Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit

90 Nach dem Subsidiaritätsprinzip aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 EUV kann eine bestehende – nicht ausschließliche – Unionszuständigkeit (wie zB Art. 194 oder auch Art. 114 und Art. 192 AEUV) nur ausgeübt werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen dürfen die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. Zum anderen müssen die Ziele wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sein. 91 Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips soll in verfahrensmäßiger Hinsicht durch die mit dem Vertrag von Lissabon implementierten Instrumente der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage aus dem Protokoll Nr. 2 zu den Unionsverträgen gewährleistet werden.329 Bei der Subsidiaritätsrüge nach Art. 6 und 7 des – im Primärrechtsrang stehenden (s. Art. 51 EUV) – Protokolls Nr. 2 zum EUV/AEUV handelt es sich funktionell betrachtet um eine Art Frühwarnmechanismus. Den nationalen Parlamenten (bzw. ihren Kammern) wird die Möglichkeit gegeben, Entwürfe von Gesetzgebungsakten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip zu prüfen und Verstöße zu rügen. Hiermit korrespondieren gestufte Berücksichtigungs- und Überprüfungspflichten der EU-Rechtsetzungsorgane.330 Bei einer Verabschiedung des Rechtsakts sind die nationalen Parlamente nach Art. 8 des Protokolls Nr. 2 zur Erhebung einer Subsidiaritätsklage beim EuGH befugt.331 Im Lichte einer richtig verstandenen (aber umstrittenen) effet-utile Auslegung kann hiermit zugleich das Fehlen einer Unionszuständigkeit gerügt werden.332 92 Neben dieser verfahrensmäßigen Intensivierung der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips ist das Protokoll Nr. 2 freilich zugleich durch eine materielle Abschwächung gegenüber der früheren Rechtslage gekennzeichnet. Hatte das Amsterdamer Protokoll Nr. 30333 noch vorgesehen, dass ein Handeln auf europäischer Ebene „deutliche Vorteile“ mit sich bringen muss (Ziff. 5), zeichnet sich das „neue“ Subsidiaritätsprotokoll durch die Abstinenz von jeglichen inhaltlichen Vorgaben aus.334 Die EU-Kommission hat dieses Defizit immerhin erkannt und die Absicht bekundet, künftig ein von der „Taskforce Subsidiarität und

329 ABl. 2016 C 202/206; näher zur Subsidiaritätsrüge und -klage nach dem Protokoll Nr. 2: Bickenbach EuR 2013, 523 (528 ff.); Calliess ZG 2010, 1 (6 ff.); Wyatt/Dashwood, EULaw, S. 119 ff.; Streinz/ ders. EUV/AEUV EUV Art. 5 Rn. 33 ff. 330 Für Einzelheiten vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt EUV Art. 12 Rn. 34 ff.; Pechstein/Nowak/ Häde/Pache EUV/GRC/AEUV EUV Art. 5 Rn. 111 ff.; zur eingeschränkten praktischen Relevanz vgl. den am 10.7.2018 vorgelegten Report of the Task Force on Subsidiarity, Proportionality and „Doing Less More Efficiently“ v. 10.7.2018, S. 12 (abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/priorities/ democratic-change/better-regulation_en; zuletzt abgerufen am 30.6.2019), wonach bislang lediglich drei „Gelbe-Karte-Verfahren“ (Art. 7 Abs. 2 SubProt) und noch überhaupt kein „Orange-Karte-Verfahren“ (Art. 7 Abs. 3 SubProt) durchgeführt wurde. 331 Zur prozessualen Eingliederung in das System der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt EUV Art. 12 Rn. 58 mwN. 332 Ausführlich Ludwigs EuZW 2012, 608 (612); ebenso Buschmann/Daiber DÖV 2011, 504 (505 ff.); Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV EUV Art. 12 Rn. 32 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Hölscheidt EUV Art. 12 Rn. 43 f., 59; Streinz/ders. EUV/AEUV EUV Art. 5 Rn. 42; verneinend Everling in Schwarze/ Hatje, S. 71 (76); Pechstein/Nowak/Häde/Pache EUV/GRC/AEUV EUV Art. 5 Rn. 122, 125 ff.; s. auch noch Ludwigs ZEuS 2004, 211 (222). 333 ABl. 1997 C 340/105. 334 Mit Recht kritisch hierzu: Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV EUV Art. 5 Rn. 25, 32: „Entmaterialisierung“; hieran anknüpfend auch Pechstein/Nowak/Häde/Pache EUV/GRC/AEUV EUV Art. 5 Rn. 106.

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B. Gegenstandsbereich

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Verhältnismäßigkeit und `Weniger, aber effizienteres Handeln`“ entwickeltes335 – an den Kriterien des Amsterdamer Protokolls orientiertes – Bewertungsraster zu verwenden.336 Inwieweit hiermit tatsächlich eine Schärfung des Subsidiaritätsprinzips einhergehen wird, bleibt freilich abzuwarten. Mit Blick auf die Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips ist im Übrigen festzuhalten, dass 93 Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV durch seinen primär politischen Charakter geprägt wird und daher letztlich „zahnlos“ ist. Eindrucksvollen Beleg hierfür liefert die bisherige Judikatur des EuGH.337 Sie lässt eine effektive Kontrolle der Kriterien des Art. 5 Abs. 3 EUV vermissen. In diesem Lichte ist auch kein EU-Rechtsakt im Energiesektor erkennbar, dem wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip die Nichtigerklärung durch den EuGH drohen würde.338 Während sich das Subsidiaritätsprinzip auf das „Ob“ einer Maßnahme bezieht, zielt der 94 kompetenzrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 5 Abs. 4 EUV auf das „Wie“ des Unionshandelns. Rechtsakte der EU dürfen danach inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Vertragsziele erforderliche Maß hinausgehen. Wie beim Subsidiaritätsprinzip handelt es sich um eine Kompetenzausübungsschranke, die von den EUOrganen nach Maßgabe des Protokolls Nr. 2 anzuwenden ist. In verfahrensmäßiger Hinsicht ist umstritten, ob die Subsidiaritätsrüge bzw. -klage auch zur Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erhoben werden kann.339 Die praktische Relevanz der Frage wird allerdings dadurch relativiert, dass der EuGH den Rechtsetzungsorganen auch bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erhebliche Ermessensspielräume zugesteht.340 Mangels eines evidenten Defizits ist – wie schon beim Subsidiaritätsprinzip – nicht davon auszugehen, dass der Gerichtshof einen der bislang im Energiesektor erlassenen Sekundärrechtsakte am kompetenzrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit scheitern lassen würde.341 bb) Mitgliedstaatliche Eigentumsordnung Eine dritte Kompetenzausübungsschranke von Bedeutung für den Energiesektor resultiert 95 aus Art. 345 AEUV. Danach lassen die Verträge „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“. Ihre historischen Wurzeln hat die Regelung in der Frühzeit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Seinerzeit wurde die Sozialisierung von Produktionsmitteln in einzelnen Mitgliedstaaten als probates Mittel der Wirtschaftspolitik betrachtet.342 335 Report of the Task Force on Subsidiarity, Proportionality and „Doing Less More Efficiently“ v. 10.7.2018, Annex V, S. 32 ff. (Common Assessment of conformity with des subsidiarity and proportionality principles). 336 Mitteilung der Kommission „Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit: Stärkung ihrer Rolle bei der Politikgestaltung der EU“ v. 23.10.2018, COM(2018) 703 final. 337 EuGH 12.5.2011 – C-176/09, Rn. 76 ff. – Luxemburg/Parlament und Rat; EuGH 8.6.2010 – C-58/08, Slg 2010, I-4999 Rn. 72 ff. – Vodafone; EuGH 10.12.2002 – C-491/01, Slg 2002, I-11453 Rn. 177 ff. – BAT; EuGH 12.11.1996 – C-84/94, Slg 1996, I-5755 Rn. 46 f., 55 – Vereinigtes Königreich/Rat; instruktiv Craig/de Búrca, S. 100. 338 Ähnliche Bewertung bei Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 53 f.; s. auch Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 45. 339 Bejahend Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV EUV Art. 12 Rn. 37 mwN; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Hölscheidt EUV Art. 12 Rn. 43 f., 59; verneinend Craig/de Búrca, S. 98; Pechstein/Nowak/Häde/Pache EUV/GRC/AEUV EUV Art. 5 Rn. 122, 125 ff. 340 Vgl. zuletzt EuGH 8.6.2010 – C-58/08, Slg 2010, I-4999 Rn. 51 ff. – Vodafone; EuGH 12.5.2011 – C-176/09, Rn. 61 ff. – Luxemburg/Parlament und Rat. 341 Ebenso Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 56. 342 Schorkopf in Löwer, Strommarkt, S. 117 (120 f.); näher Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV EUV Art. 345 Rn. 2 mwN.

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96 In der Praxis hat sich Art. 345 AEUV (ex-Art. 295 EG) freilich nicht als wirkmächtiger Schutzwall gegenüber den Kompetenzansprüchen der Union erwiesen.343 Der Grund hierfür ist, dass der EuGH in seiner Judikatur ein enges Verständnis der Vorschrift zugrunde legt. Danach hat Art. 345 AEUV nicht zur Folge, „dass die in den Mitgliedstaaten bestehende Eigentumsordnung den Grundprinzipien des Vertrages entzogen ist“.344 Die Mitgliedstaaten sind zwar für ihre jeweilige Eigentumsordnung zuständig, müssen aber die materiellen Vorgaben des Unionsrechts einhalten.345 Im Lichte dieser Judikatur wird der Anwendungsbereich des Art. 345 AEUV von der überwiegenden Meinung im Schrifttum auf die wirtschaftspolitisch motivierte Zuordnung des Eigentums zur privaten oder öffentlichen Hand beschränkt.346 Unzulässig sind danach nur solche Maßnahmen der EU, die die Mitgliedstaaten im Hinblick auf Unternehmen zu einem Wechsel von privater zu öffentlicher Trägerschaft oder umgekehrt verpflichten.347 Dies zugrunde gelegt, könnte die Kompetenzausübungsschranke selbst einer eigentumsrechtlichen Entflechtung der Energienetze („Ownership Unbundling“) nicht entgegengehalten werden.348 Hiermit ist weder eine Verstaatlichung des Netzeigentums noch der gezielte Eigentumstransfer zugunsten bestimmter privater Rechtssubjekte verbunden.349 Erst recht unbedenklich erscheint vor diesem Hintergrund die mit dem Dritten Binnenmarktpaket getroffene (und im Winterpaket unangetastet gebliebene) Regelung, wonach die eigentumsrechtliche Entflechtung nur noch eine von mehreren Entflechtungsoptionen darstellt (→ Rn. 207 f.).350 d) Energieaußenpolitik 97 Das Bedürfnis nach einer Energieaußenpolitik der EU erwächst vor allem aus der zunehmenden Angewiesenheit auf Drittstaatsimporte (Versorgungssicherheit) und der globalen Herausforderung des Klimawandels (→ Rn. 39; Hahn/Dudenhöfer in v. Arnauld (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen (EnzEuR Bd. 12, 1. Aufl.) § 3 Rn. 182 ff.).351 Die Schaffung stabiler rechtlicher Rahmenbedingungen im Verhältnis zu Drittstaaten stellt sich dabei als zentrale Herausforderung dar.352 In einem gewissem Kontrast hierzu steht freilich die Kompetenzausstattung der Union. Anders als die Europäische Atomgemeinschaft (s. Art. 101 EAGV)353 verfügt die EU bis heute über keine explizite Außenkompetenz im En343 Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 24. 344 St. Rspr.; vgl. aus jüngerer Zeit etwa EuGH 21.12.2011 – C-271/09, Slg 2011, I-13631 Rn. 44 – Kommission/Polen; EuGH 22.10.2013 – verb. Rs. C-105/12, C-106/12 und C-107/12, ECLI:EU:C:2013:677 Rn. 28 ff. – Essent; EuGH 6.3.2018 – verb. Rs. C-52/16 und C-113/16, ECLI:EU:C:2018:157 Rn. 51 – SEGRO. 345 Calliess in FS für Säcker, S. 589 (600); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (23). 346 Schorkopf in Löwer, Strommarkt, S. 117 (121 mwN); s. auch Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV EUV Art. 345 Rn. 10; Streinz/Kühling EUV/AEUV AEUV Art. 345 Rn. 13 ff.; weitergehend SchmidtPreuß EuR 2006, 463 (475): „Art. 295 EG [Art. 345 AEUV] verbietet den gemeinschaftsrechtlich veranlassten Entzug von mitgliedstaatlich konstituiertem Eigentum“; ihm folgend Storr EuZW 2007, 232 (236). 347 Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV EUV Art. 345 Rn. 11. 348 Statt vieler: Calliess, Entflechtung, S. 59 ff.; Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV EUV Art. 345 Rn. 11; Müller-Terpitz/Weigl EuR 2009, 348 (359 f.); Schorkopf in Löwer, Strommarkt, S. 117 (121); dagegen aber Schmidt-Preuß EuR 2006, 463 (475); ders. in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 57, 82; s. auch Baur/Pritzsche/Klauer, S. 48 f.; Storr EuZW 2007, 232 (236); Streinz/Kühling EUV/AEUV AEUV Art. 345 Rn. 18. 349 Schorkopf in Löwer, Strommarkt, S. 117 (121). 350 Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV EUV Art. 345 Rn. 11. 351 Näher zur Energie-Außenpolitik aus der Lit.: Gundel in FS für Säcker, S. 697 ff.; Schmidt-Preuß in FS für Scholz, S. 903 (905 ff.); monographisch Haghighi und Woltering. 352 Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 61; eingehend: Schmidt-Preuß RdE 2007, 281 ff. 353 Grundlegend EuGH 10.12.2002 – C-29/99, Slg 2002, I-11221 – Kommission/Rat; aus der Lit.: Woltering, S. 233 f.

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ergiesektor. Immerhin wird die Entfaltung einer eigenständigen und konsistenten Energieaußenpolitik seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon durch den neuen Titel XXI „Energie“ (Art. 194 AEUV) erleichtert.354 Der Abschluss völkerrechtlicher Verträge ist hier nach Maßgabe der seither in Art. 216 AEUV positivierten AETR-Doktrin des EuGH355 – die eine Parallelität von Innen- und Außenkompetenzen begründet – in weiterem Umfang möglich als bisher.356 Ein Beispiel aus der Rechtsetzungspraxis bildet der auf Art. 194 Abs. 2 und Art. 218 Abs. 6 lit. a AEUV gestützte Beschluss 2010/385 des Rates vom 24.6.2010 über den Abschluss der Satzung der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien (IRENA) durch die EU.357 Weitergehend bildet die Energiekompetenz auch eine taugliche Grundlage für autonom-einseitige Maßnahmen der EU, die das Verhältnis zu Drittstaaten betreffen.358 Hervorhebung verdient insoweit der auf Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützte Beschluss 2017/684 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Meldepflicht der Mitgliedstaaten über zwischenstaatliche Abkommen und nicht verbindliche Instrumente zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern im Energiebereich.359 Hieraus erhellt im Übrigen zugleich der den Mitgliedstaaten auf dem Feld der Energie-Außenpolitik weiterhin verbleibende, erhebliche Gestaltungsspielraum.360 3. Handlungsinstrumente der EU im Energiesektor Das Unionsrecht kennt eine Fülle von Handlungsinstrumenten, die im Energiesektor auch 98 bereits in vielfältiger Weise zum Einsatz gekommen sind. Sie umfassen neben den förmlichen Rechtsakten nach Art. 288 AEUV auch sog ungekennzeichnete Rechtsakte. a) Rechtsakte nach Art. 288 AEUV An erster Stelle ist hier der Katalog des Art. 288 AEUV zu nennen. Die dort in Abs. 2 ge- 99 regelte Verordnung stellt den Rechtsakt mit der höchsten Wirkungsintensität dar: Sie kann direkt auf die Rechte und Pflichten der Regelungsadressaten einwirken.361 Beispiele aus dem Energiesektor bilden die die neue Strombinnenmarkt-Verordnung (EU) 2019/943 und die Gasnetzzugangsverordnung 715/2009.362 354 Zu den bis dahin aktivierten Grundlagen der EU-Energieaußenbeziehungen instruktiv Pechstein/ Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 35 ff., der hier auch zutreffend betont, dass eine Anwendbarkeit der GASP–Vorschriften (namentlich von Art. 24 EUV) nur bei einem dominierenden sicherheitspolitischen Motiv in Betracht kommt. 355 St. Rspr. seit EuGH 31.3.1971 – Rs. 22/70, Slg 1971, 263 Rn. 15/16 – AETR; näher Pechstein/ Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 38 ff.; Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 40; s. noch zur EE-RL 2001/77/EG: EuGH 26.11.2014 – C-66/13, ECLI:EU:C:2014:2399 Rn. 34 ff. – Green Network, wo der Gerichtshof von einer ausschließlichen EU-Zuständigkeit für den Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten zur Förderung erneuerbarer Energien ausgeht. 356 Calliess in FS für Säcker, S. 589 (600); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (23); s. ferner Gundel in FS für Säcker, S. 697 (700), der als weiteren Ansatzpunkt auf Art. 207 AEUV (Gemeinsame Handelspolitik) verweist; vgl. zudem Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 39, der unter Rekurs auf EuGH 23.3.2004 – C-233/02, Slg 2004, I-2759 – Frankreich/ Kommission – betont, dass für die Unterzeichnung von nicht verbindlichen Memoranden durch die Kommission keine Befugnisnorm erforderlich ist. 357 ABl. 2010 L 178/17; s. daneben noch den auf Art. 194 und 207 iVm Art. 218 Abs. 6 lit. a AEUV gestützten Beschluss des Rates 2013/107/EU v. 13.11.2012 über die Unterzeichnung und den Abschluss des Abkommens zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika und der EU über die Koordinierung von Kennzeichnungsprogrammen für Strom sparende Bürogeräte, ABl. 2013 L 63/5. 358 Näher Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 40. 359 ABl. 2017 L 99/1. 360 Näher Pechstein/Nowak/Häde/Gundel EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 194 Rn. 42. 361 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 65. 362 Nachweise in Fn. 48 und 34.

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100 Ein weiteres bedeutendes Handlungsinstrument bildet im Energiesektor die Richtlinie gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV. Sie bedarf einer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Idealiter sollte den innerstaatlichen Stellen dabei – ungeachtet der Zielverbindlichkeit der Richtlinie – ein Spielraum im Hinblick auf die Wahl der Form und der Mittel verbleiben. Exemplarisch zu nennen sind etwa die Binnenmarkt-Richtlinien Strom und Gas oder die Emissionshandelsrichtlinie.363 Im Hinblick auf die Richtlinienwirkungen gelten die allgemeinen Grundsätze.364 Nur schlagwortartig sei insoweit auf die Rechtsfiguren der richtlinienkonformen Auslegung365 und Rechtsfortbildung,366 sowie die – im Horizontalverhältnis allerdings wegen des Belastungsverbots zwischen Privaten ausgeschlossene367 – unmittelbare Wirkung nicht ordnungsgemäß umgesetzter Richtlinien368 hingewiesen. Hinzu tritt der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch wegen nicht ordnungsgemäßer Richtlinienumsetzung.369 101 Weniger stilbildend waren im Energiesektor bislang die – in allen ihren Teilen verbindlichen – Beschlüsse (früher: Entscheidungen) gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV. Der Grund hierfür ist, dass die Verwaltungskompetenz nach Art. 291 Abs. 1 AEUV im Grundsatz den Mitgliedstaaten zugewiesen ist.370 Dessen ungeachtet sehen etwa die Rechtsakte des Dritten Energiebinnenmarktpakets ebenso wie jene des Winterpakets „Clean Energy for All Europeans“ auch echte (Einzelfall-)Entscheidungsbefugnisse der Kommission vor (→ Rn. 168 f.). 102 Komplettiert wird das Handlungsinstrumentarium des Art. 288 AEUV schließlich durch die in Abs. 5 geregelten – rechtlich unverbindlichen – Empfehlungen und Stellungnahmen der Unionsorgane. b) Ungekennzeichnete Rechtsakte 103 Neben den förmlichen Rechtsakten iSd Art. 288 AEUV kommen im Energiesektor schließlich auch sog ungekennzeichnete Rechtsakte371 zum Einsatz. Im Fokus stehen hier der Erlass von Leitlinien einerseits und die Veröffentlichung von „Interpretative Notes“ andererseits. Zu den in einem selbstregulativ geprägten Verfahren ausgearbeiteten Netzkodizes → Rn. 153 f. 104 Die Handlungsform der Leitlinie findet erstens in Art. 171 Abs. 1 Spiegelstr. 1 AEUV eine explizite primärrechtliche Grundlage für den Bereich der transeuropäischen Netze. Insoweit handelt es sich um bindende Rahmenvorgaben, deren Umsetzung die Mitgliedstaaten

363 Nachweise in Fn. 47, 32 und 70. 364 Näher Kroll-Ludwigs/Ludwigs ZJS 2009, 7 ff., 123 ff. mwN; s. auch Calliess/Ruffert/ders. EUV/ AEUV AEUV Art. 288 Rn. 47 ff., 77 ff. 365 Grundlegend EuGH 10.4.1984 – Rs. 14/83, Slg 1984, 1891 Rn. 26 – von Colson und Kamann; EuGH 10.4.1984 – Rs. 79/83, Slg 1984, 1921 Rn. 26 – Harz. 366 Vgl. aus der Judikatur im Energiesektor vgl. BGH 24.8.2010 – EnVR 17/09, NVwZ-RR 2011, 55 Rn. 24, 25 ff. (zu § 110 EnWG aF), im Anschluss an: EuGH 22.5.2008 – C-439/06, Slg 2008, I-3913 Rn. 37 ff. – citiworks (zu Art. 20 Abs. 1 BRL Strom). 367 Vgl. nachdrücklich EuGH 14.7.1994 – C-91/92, Slg 1994, I-3325 Rn. 19 ff. – Faccini Dori; zuvor bereits EuGH 26.2.1986 – Rs. 152/84, Slg 1986, 723 Rn. 48 – Marshall. 368 St. Rspr. seit EuGH 4.12.1974 – Rs. 41/74, Slg 1974, 1337 Rn. 12 – van Duyn. 369 EuGH 19.11.1991 – verb. Rs. C-6 und 9/90, Slg 1991, I-5357 Rn. 28 ff. – Francovich. 370 Eingehend zur sog Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten zuletzt Ludwigs NVwZ 2018, 1417; monographisch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der EU, 2013; vgl. aus der Judikatur im Energiesektor EuGH 19.3.2015 – C-510/13, ECLI:EU:C:2015:189 Rn. 50 – E.ON Földgaz Trade, wonach es grundsätzlich Sache des nationalen Rechts ist, die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen zu bestimmen. 371 Allgemein hierzu Calliess/Ruffert/ders. EUV/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 98 ff.

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B. Gegenstandsbereich voranzutreiben haben.372 Maßgeblich ist aktuell die Verordnung 347/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.4.2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur.373 Diese sog TEN-E-Verordnung zielt ua darauf ab, die nationalen Genehmigungsverfahren für ausgewählte Vorhaben von gemeinsamem Interesse (VGI bzw. PCI) zu vereinheitlichen und eine Verkürzung der Verfahrensdauer herbeizuführen.374 Um dies zu erreichen, werden verschiedene Mechanismen etabliert, wie Vorgaben für die Organisation des Genehmigungsverfahrens, die Beteiligung der Öffentlichkeit oder regulierungsrechtliche Instrumente mit dem Ziel einer Steigerung der Interkonnektionskapazitäten. Eine signifikante Aufwertung hat der Rechtsakt „Leitlinie“ zweitens im Rahmen des Dritten Energiebinnenmarktpakets sowie jüngst erneut durch das Winterpaket erfahren. Der Sekundärrechtsrahmen ermächtigt die Kommission mittlerweile in zahlreichen Bereichen zur normierenden Steuerung durch Leitlinien, deren Einhaltung im Wege eines besonderen Verfahrens (mit Vetorechten der Kommission gegenüber kollidierenden Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden) abgesichert wird (→ Rn. 167)375 Die Bindungswirkung jener Leitlinien wird seit der Neufassung der Strombinnenmarktverordnung als Teil des Winterpakets auch explizit vom Unionsgesetzgeber hervorgehoben (Art. 61 Abs. 1 Strom-VO 2019/943). Klargestellt wird dort zudem, dass die Leitlinien künftig in Abhängigkeit von der jeweiligen Befugnis als delegierte Rechtsakte iSd Art. 290 AEUV oder als Durchführungsrechtsakte iSd Art. 291 AEUV von der Kommission erlassen werden (Art. 61 Abs. 2 Strom-VO 2019/943). Aus der Fülle der für die Regulierungspraxis bedeutsamen Maßnahmen sei nur exemplarisch auf die Verordnung 2017/1485 der Kommission vom 2.8.2017 zur Festlegung einer Leitlinie für den Übertragungsnetzbetrieb verwiesen.376 Drittens kommt „Leitlinien“ der EU-Kommission im Rahmen der Beihilfenkontrolle eine zentrale Rolle zu. Für den Energiesektor sind insoweit vor allem die zur abstrakt-generellen Vorstrukturierung des Genehmigungsermessens nach Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV angenommenen Umwelt- und Energiebeihilfeleitlinien 2014–2020 (UEBLL) hervorzuheben.377 Die UEBLL haben den Charakter von ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften mit Selbstbindungswirkung.378 Im hohen Detaillierungsgrad der Leitlinien findet der Steuerungsanspruch der Kommission gegenüber dem nationalen Energiegesetzgeber seinen Ausdruck. Ungeachtet der formalen Unverbindlichkeit kommt den UEBLL daher die – demokratietheoretisch nicht unbedenkliche379 – Funktion einer Art

372 Calliess, EU nach Lissabon, S. 488; näher zur Rechtsnatur der Leitlinien im Rahmen von Art. 171 AEUV : Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 171 Rn. 3 mwN, wo zur Herleitung der Bindungswirkung ua überzeugend auf die Anwendbarkeit des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art. 294 AEUV) im Rahmen von Art. 172 AEUV verwiesen wird. 373 Nachweis in Fn. 307. 374 Statt vieler Appel ER 2017, 98 ff.; von Landwüst in Korte/Ludwigs/Thiele/Wedemeyer, S. 59 ff.; Leidinger DVBl. 2015, 400 ff.; Strobel DVBl. 2016, 543. 375 Näher Haller, S.f 161 ff.; Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 5 ff. 376 ABl. 2017 L 220/1. 377 Mitteilung der Kommission „Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014– 2020“ v. 28.6.2014, ABl. 2014 C 200/1; dazu Bacon, Rn. 10.34 ff.; Bartosch Art. 107 Abs. 3 AEUV Rn. 209 ff.; Bigot/Kirst ZUR 2015, 73; Frenz/Müggenborg/Cosack/Schomerus/Hennig/Frenz, Europarecht der erneuerbaren Energien (EEE) Rn. 75 ff.; MüKoBeihilfenR/Haslinger Art. 36–49 AGVO Rn. 127 ff.; Pause in Müller/Kahl, S. 219 ff.; Dauses/Ludwigs/Thiele HdbEUWiR Kap. H.III. Rn. 241 ff. 378 Vgl. insoweit bereits Büdenbender/Gärditz/Löwer/Ludwigs/Paschke/Stoll/Wolfrum, S. 18. 379 Hierzu Ludwigs EuZW 2017, 41; ders. REE 2018, 1 (10 ff.); dagegen Laitenberger/Lieflaender EuZW 2017, 281; s. auch Frenz in Ludwigs, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, S. 46 (56 ff.).

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„Quasi-Gesetzgebung“ zu. Zur Bedeutungssteigerung trägt nicht zuletzt auch die reduzierte Kontrolldichte des Gerichtshofs im Rahmen von Art. 107 Abs. 3 AEUV bei.380 105 Ein spezifisches Handlungsinstrument der EU im Energiesektor bilden ferner sog Guidance Documents (wie „Interpretative Notes“ oder „Implementation Notes“) der EUKommission. Diese sollen den Umsetzungsprozess in den Mitgliedstaaten steuern. Hierzu hat die Kommission zB im Kontext des Dritten Binnenmarktpakets eine ganze Reihe von Dokumenten, ua zum Unbundling-Regime und zu den Regulierungsbehörden, vorgelegt.381 Den Guidance Documents kommt allerdings – schon dem eigenen Selbstverständnis nach382 – kein rechtsverbindlicher Charakter zu. Es handelt sich vielmehr um rechtlich unverbindliche Interpretationshilfen, deren praktische Bedeutung indes nicht zu unterschätzen ist.383 4. Primärrechtliche Rahmensetzungen im Energiesektor 106 Die primärrechtlichen Rahmensetzungen im Energiesektor sind vielgestaltig. Sie reichen von den europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten, über die beihilfenrechtlichen Vorschriften bis hin zum EU-Kartellrecht. a) EU-Grundrechte 107 Die Rolle der EU-Grundrechte im Energiesektor hängt entscheidend von ihrem Adressatenkreis ab. Unstreitig ist die Grundrechtsbindung zunächst für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (s. auch Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh). Ein Diskussionsfeld bildete hier etwa das mit der Richtlinie 2009/29384 eingeführte Grundprinzip der Versteigerung der CO2-Zertifikate im Emissionshandelsrecht (→ Rn. 225 ff.).385 108 Klärungsbedürftig ist insbesondere, inwieweit auch die Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte gebunden sind.386 In Anknüpfung an die überkommene Judikatur des EuGH387 sieht Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC388 insoweit eine Begrenzung auf die Fälle der „Durchführung des Rechts der Union“ vor.389 Adressiert wird hiermit neben dem administrativen Vollzug von Verordnungen auch die normative Umsetzung von Richtlinien.

380 EuGH 5.10.2000 – C-288/96, ECLI:EU:C:2000:537 Rn. 26 – Deutschland/Kommission; EuGH 8.3.2014 – C-431/14 P, ECLI:EU:C:2014:2418 Rn. 36, 39 – Griechenland/Kommission; Schroeder/ Sild EuZW 2014, 12 (17). 381 Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/energy/en/topics/markets-and-consumers/market-legislation (zuletzt abgerufen am 30.6.2019). 382 Vgl. exemplarisch die Interpretative Note zum Unbundling-Regime (Nachweis in Fn. 381), wo es auf S. 4 heißt: „The note aims to enhance legal certainty but does not create any new legislative rules. In any event, giving binding interpretation of European Union law is ultimately the role of the European Court of Justice. The present note is not legally binding“. 383 Ähnlich Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 10 Rn. 28; Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 27. 384 Nachweis in Fn. 84. 385 Vgl. zur Problematik: Burgi in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 183 (208 f.); Greb, S. 94 ff. 386 Ausführlich zur Problematik des anwendbaren Grundrechtsmaßstabs im regulierungsrechtlichen Kontext: Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 20 ff.; allgemein Calliess JZ 2009, 113 (115 ff., 119 ff.); Funke, Umsetzungsrecht, S. 168 ff.; Ludwigs EuGRZ 2014, 273 (281 f.). 387 S. insbes. EuGH 24.3.1994 – C-2/92, Slg 1994, I-955 Rn. 16 – Bostock. 388 Zur Einbeziehung der Charta der Grundrechte in die Verträge durch Art. 6 Abs. 1 EUV: Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 686. 389 Zur Beschränkung der Grundfreiheiten als zweiter vom Gerichtshof (grundlegend EuGH 18.6.1991 – C-260/89, Slg 1991, I-2925 Rn. 43 – ERT; aus jüngerer Zeit: EuGH 30.4.2014 – C-390/12, ECLI:EU:C:2014:281 Rn. 35 f. – Pfleger) anerkannter Fallgruppe einer Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte vgl. Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV GRC Art. 51 Rn. 16 ff.

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Nicht abschließend geklärt ist zwischen BVerfG und EuGH, inwieweit die Mitgliedstaaten 109 auch im Rahmen der Ausfüllung eines unionsrechtlich eröffneten (Umsetzungs-)Spielraums an die EU-Grundrechte gebunden sind. Derartige Spielräume entstehen zB dann, wenn eine Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber bei ihrer Umsetzung echte Gestaltungsoptionen belässt.390 Die Karlsruher Richter näherten sich der Problematik bislang auf Grundlage einer sog Trennungsthese. Danach sollen im Bereich der zwingenden Richtlinienvorgaben – vorbehaltlich einer Aktivierung der Solange-Judikatur391 – allein die EUGrundrechte einschlägig sein, während „im Spielraum“ nur die nationalen Grundrechte gelten.392 Für diesen Ansatz lässt sich ua die Zuständigkeitsverteilung im Mehrebenensystem anführen.393 Den Bezugspunkt der vom EuGH zugrunde gelegten „unionalen Perspektive“ bildet demgegenüber ein weites Verständnis von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC. Als Leitentscheidung ist das Urteil in der Rechtssache Åkerberg Fransson zu nennen. Dort betont der Gerichtshof, dass „keine Fallgestaltungen denkbar [sind], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass [die Charta-]Grundrechte anwendbar wären“.394 Die Folge ist – zumindest in bipolaren Verhältnissen – eine parallele Anwendung von europäischen und nationalen Grundrechten „im Spielraum“.395 Zuvor hatte der Gerichtshof bereits entschieden, dass auch die Ausübung eines verordnungsrechtlich eingeräumten Ermessens durch einen Mitgliedstaat als „Durchführung des Rechts der Union“ iSd Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC zu verstehen sei.396 Als Argument zugunsten einer (parallelen) Anwendbarkeit der EU-Grundrechte lässt sich in diesen Fällen die Veranlassungsfunktion des Unionsrechts anführen.397 Nachdem das BVerfG die Åkerberg-Formel in seiner Entscheidung zum Antiterrordateigesetz als (zu) weitgehend kritisiert hatte,398 konkretisierte sie der EuGH zwar dahin gehend, dass für die „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 GRC ein „hinreichender Zusammenhang von einem gewissen Grad“ erforderlich ist.399 Ungeachtet dieser gewissen Präzisierung bleibt die fortbestehende Divergenz zwischen Karlsruhe und Luxemburg aber unverkennbar. Was die thematisch einschlägigen Unionsgrundrechte angeht, so stehen im Energiesektor 110 vor allem die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRC (als lex specialis zur Berufsfreiheit in Art. 15 GRC) und das Eigentumsrecht aus Art. 17 GRC im Fokus. Hinzu treten die Vereinigungsfreiheit gem. Art. 12 GRC und der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 20 GRC.400 Hervorhebung verdient auch die Regelung zum Umweltschutz in Art. 37 GRC. Wegen des Charakters als „Grundsatz“ iSd Art. 52 Abs. 5 GRC ist hieraus allerdings kein

390 Zum Folgenden bereits Ludwigs/Sikora JuS 2017, 385 (389 ff.). 391 BVerfG 29.5.1974 – BvL 52/71, E 37, 271 (285) – Solange I; BVerfG 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, E 73, 339 (387) – Solange II; BVerfG 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, E 89, 155 (175) – Maastricht; BVerfG 7.6.2000 – 2 BvL 1/97, E 102, 147 (164) – Bananenmarktordnung. 392 BVerfG 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, E 118, 79 (95 f.); BVerfGE 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 ua, E 125, 260, 306 f. – Vorratsdatenspeicherung; BVerfG 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, E 129, 78 (103) – Cassina. 393 Ausführlich Ludwigs EuGRZ 2014, 273 (280 f.), s. auch Rn. 104 der Vorauflage. 394 EuGH 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:280 Rn. 21 ff. – Åkerberg Fransson. 395 Näher Ludwigs/Sikora JuS 2017, 385 (391), wonach in bipolaren Verhältnissen die Günstigkeitsklausel des Art. 53 GRC gilt, während es in multipolaren Konstellationen zu einem Konflikt der Grundrechtsstandards kommen kann, der dann im Sinne eines Vorrangs der EU-Grundrechte aufzulösen ist. 396 EuGH 21.12.2011 – verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10, ECLI:EU:C:2011:865 Rn. 64 ff. – N.S. 397 Vgl. bereits von Bogdandy/Bast/Kühling, S. 682. 398 BVerfG 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, E 133, 277 (316) – Antiterrordateigesetz. 399 EuGH 6.3.2014 – C-206/13, ECLI:EU:C:2014:126 Rn. 24 – Siragusa; EuGH 10.7.2014 – C-198/13, ECLI:EU:C:2014:2055 Rn. 34 – Julian Hernández. 400 Ausführlich zur Rolle der Unionsgrundrechte im Bereich der Energieregulierung: Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 71 ff., am Bsp. des Dritten Energiebinnenmarktpakets.

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§ 5 Energierecht unmittelbar einklagbares Umweltgrundrecht abzuleiten.401 Im Einzelnen ist freilich noch vieles ungeklärt: Dies gilt etwa für die gerade im Energiesektor virulente – und im deutschen Verfassungsrecht vertieft diskutierte402 – Problematik der Grundrechtsberechtigung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen und Eigengesellschaften.403 Kritikwürdig ist zudem die teilweise inkonsistente Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH. Eine Prüfung der zentralen „dritten Stufe“ der Angemessenheit wird hier, anders als in der Rspr. von BVerfG und EGMR, nicht immer (explizit) durchgeführt.404 b) Europäische Grundfreiheiten

111 Die europäischen Grundfreiheiten sichern einen umfassenden Schutz der Wirtschaftstätigkeit im Binnenmarkt. Gewährleistet wird der freie Verkehr von Waren (Art. 28 ff. AEUV), Personen (Art. 45 ff. bzw. Art. 49 ff. AEUV), Dienstleistungen (Art. 56 ff. AEUV) und Kapital (Art. 63 ff. AEUV) in einem Raum ohne Binnengrenzen (Art. 26 Abs. 2 AEUV). 112 Der EuGH bringt die Grundfreiheiten auch im Energiesektor zur Anwendung.405 Eine Bereichsausnahme besteht insoweit nicht.406 Was die konkrete Anwendung betrifft, so war zunächst für das Produkt „Elektrizität“ fraglich, ob es sich hierbei um eine Ware oder – aufgrund der Unkörperlichkeit – um eine Dienstleistung handelt.407 Der Gerichtshof hält in ständiger Rechtsprechung die Warenverkehrsfreiheit für einschlägig.408 Im Schrifttum wird freilich zu Recht darauf hingewiesen, dass damit der Rückgriff auf die Dienstleistungsfreiheit nur in den auf die Energielieferung bezogenen Bereichen ausgeschlossen ist. Im Gegensatz hierzu steht etwa beim Netzbetrieb der Dienstleistungscharakter im Zentrum, so dass die Art. 56 ff. AEUV einschlägig sind.409 Die Abgrenzungsfrage verliert freilich an Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die Zuordnung zur Warenverkehrs- oder Dienstleistungsfreiheit wegen der festzustellenden Konvergenz der Grundfreiheiten regelmäßig keine Ergebnisrelevanz haben wird.410 Paralleles gilt im Übrigen auch, soweit – etwa in Bezug auf Beschränkungen der Nutzung von Energieanlagen – die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 ff. AEUV einschlägig sein sollte (→ Rn. 128, am Beispiel des Ausstiegs aus der Kernenergie). 113 In der Fallpraxis des EuGH steht die Warenverkehrsfreiheit im Zentrum.411 Einschlägig sind hier – neben den Regelungen über die Umformung staatlicher Handelsmonopole in 401 Erläuterungen zu Art. 37 GRC, ABl. 2007 C 303/27; aus der Lit. statt vieler Ludwigs in Säcker/ Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 45; zu Art. 11 AEUV: Kahl, S. 48; zu Art. 26 GRC: EuGH 22.5.2014 – C-356/12, ECLI:EU:C:2014:350 Rn. 78 – Glatzel. 402 Vgl. aus jüngerer Zeit etwa die Beiträge von Gundel und P.M. Huber in FS für Schmidt-Preuß, S. 33 ff. und S. 87 ff. sowie Ludwigs/Friedmann NVwZ 2018, 22 und Schmidt-Preuß in FS für Büdenbender, S. 187 ff. 403 In Richtung einer Anerkennung der Grundrechtsberechtigung zumindest von gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen weist: EuGH 16.10.2003 – C-363/01, Slg 2003, I-11893 Rn. 53 ff. – Flughafen Hannover-Langenhagen; hierzu Schmidt-Preuß EuR 2006, 463 (466 f.) mit Fn. 21; s. auch EuG 5.2.2013 – T-494/10, ECLI:EU:T:2013:59 Rn. 39 – Bank Saderat/Rat, wonach das Unionsrecht „keine Regelung enthält, die juristische Personen, die der verlängerte Arm eines Drittstaats sind, daran hindert, sich auf den Schutz und die Garantien aus den Grundrechten zu berufen.“ 404 Eingehend Schmidt-Preuß EuR 2006, 463 (469 ff.) mwN zur Judikatur des EuGH; s. auch ders. in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 80. 405 Näher Krüger, S. 45 ff.; Talus, S. 87 ff. 406 Vgl. Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 12. 407 Ausführliche Diskussion bei Allwardt, S. 156 ff. mwN; s. auch Jarass, S. 117. 408 St. Rspr.; grundlegend: EuGH 27.4.1994 – C-393/92, Slg 1994, I-1477 Rn. 28 – Almelo. 409 Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 14 ff.; J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 13. 410 J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 13. 411 Ebenso J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 13, der (in Fn. 41) auch auf die – vielfach Energieversorger betreffende – Goldene-Aktien-Rspr. des EuGH verweist (vgl. etwa EuGH 11.11.2010 –

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Art. 37 AEUV412 sowie zu zollgleichen bzw. diskriminierenden Abgaben in Art. 30 bzw. Art. 110 AEUV413 (→ Rn. 246) – vor allem die Art. 34 und 35 AEUV. Darin werden mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung verboten. Im Bereich der Einfuhrbeschränkungen (Art. 34 AEUV) fällt hierunter nach der grundlegenden Dassonville-Formel „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (…)“.414 Art. 34 AEUV statuiert mithin ein – durch die Keck-Formel415 für bestimmte Verkaufsmodalitäten relativiertes – allgemeines Beschränkungsverbot. Für die Ausfuhrbeschränkungen gem. Art. 35 AEUV hat der Gerichtshof dagegen in seiner Groenveld-Judikatur416 lediglich ein spezifisches Diskriminierungsverbot angenommen. Hieran hält der EuGH, ungeachtet der im Schrifttum erhobenen Forderung nach einer kohärenteren Behandlung von Ein- und Ausfuhregelungen, auch in seiner jüngeren Rechtsprechung im Kern fest.417 Mitgliedstaatliche Eingriffe in den freien Warenverkehr (Art. 34, 35 AEUV) können zu- 114 nächst durch die geschriebenen Schranken des Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden. Dies gilt sowohl für (offen oder versteckt) diskriminierende als auch für rein beschränkende Maßnahmen. Die Leitentscheidung im Energiesektor bildet insoweit die Rechtssache Campus Oil aus dem Jahr 1984 (→ Rn. 58).418 Zu beachten ist aber, dass eine Rechtfertigung nach Art. 36 AEUV ausscheidet, wenn das geltend gemachte Schutzanliegen bereits abschließend durch EU-Sekundärrecht geregelt ist.419 Darüber hinaus setzt die Rechtfertigung nach Art. 36 AEUV voraus, dass die nationale Maßnahme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.420 Neben Art. 36 AEUV treten die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe im Sinne der Cas- 115 sis-de-Dijon-Judikatur des EuGH. Danach sind Handelshemmnisse legitimiert, wenn sie

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C-543/08, Slg 2010, I-11241 Rn. 39 ff. – Kommission/Portugal; EuGH 4.6.2002 – C-483/99, Slg 2002, I-4781 Rn. 35 ff. – Elf-Aquitaine); dort stehen Sonderaktien („golden shares“) des Staates an privatisierten Staatsunternehmen (mit Sonderrechten des Aktieninhabers) auf dem Prüfstand der Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 Abs. 1 AEUV (s. auch Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 16). Vgl. insoweit die Judikatur des Gerichtshofs aus der administrativ geprägten „Frühphase“ der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte: EuGH 23.10.1997 – C-157/94, Slg 1997, I-5699 Rn. 13 ff. – Kommission/Niederlande; EuGH 23.10.1997 – C-158/94, Slg 1997, I-5789 Rn. 21 ff. – Kommission/ Italien; EuGH 23.10.1997 – C-159/94, Slg 1997, I-5815 Rn. 31 ff. – Kommission/Frankreich; grundlegend EuGH 15.7.1964 – Rs. 6/64, Slg 1964, 1251, 1274 ff. – Costa/ENEL. Zur Abgrenzung zwischen Art. 30 und Art. 110 AEUV jüngst EuGH 6.12.2018 – C-305/17, ECLI:EU:C:2018:986 Rn. 30 ff. – FENS (zur finanziellen Belastung bei Ausfuhr von im Inland erzeugtem Strom). EuGH 11.7.1974 – Rs. 8/74, Slg 1974, I – 837 Rn. 5 – Dassonville. EuGH 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und 268/91, Slg 1993, I – 6097 Rn. 16 – Keck; zur (inhaltlich unveränderten) Eingliederung in einen sog Drei-Stufen-Test iRd Rs. ANETT (EuGH 26.4.2012 – C-456/10, ECLI:EU:C:2012:241 Rn. 32–35 – ANETT) vgl. Ludwigs/Weidermann in Ludwigs/ Schmidt-Preuß, S. 377 (389 f.). EuGH 8.11.1979 – Rs. 15/79, Slg 1979, 3409 Rn. 7 – Groenveld. Ebenso die Deutung bei Streinz/W. Schroeder EUV/AEUV AEUV Art. 35 Rn. 4, in Auseinandersetzung mit EuGH 16.12.2008 – C-205/07, Slg 2008, I-9947 Rn. 40 ff. – Gysbrechts und Santurel Inter – und EuGH 21.6.2016 – C-15/15, ECLI:EU:C:2016:464 Rn. 36 – New Valmar; anders Brigola EuZW 2017, 5, der vom „Abschied eines Fremdkörpers im Gebäude des freien Warenverkehrs“ spricht. EuGH 10.7.1984 – Rs. 72/83, Slg 1984, S. 2727 – Campus Oil; hierzu näher Schmidt-Preuß in Isensee/Kirchhof HStR IV § 93 Rn. 1. St. Rspr., zB EuGH 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rn. 57 – Ålands Vindkraft. Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV Art. 34–36 AEUV Rn. 193.

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§ 5 Energierecht sich als notwendig erweisen, um „zwingenden Erfordernissen“ gerecht zu werden.421 Der Katalog dieser Rechtfertigungsgründe ist (anders als bei Art. 36 AEUV) nicht-abschließend,422 zur Vermeidung von Protektionismus aber auf nicht-wirtschaftliche Gründe beschränkt.423 Im Energiesektor hat der EuGH als zwingendes Erfordernis vor allem den Umwelt- und Klimaschutz anerkannt.424 Denkbar erscheint auch – soweit nicht bereits unter die eng auszulegende „öffentliche Sicherheit“ nach Art. 36 AEUV fallend – eine Berufung auf die Gewährleistung der Netzsicherheit.425 Dies gilt vor allem für Regelungen zur „Vermeidung oder Beseitigung von Gefährdungs-, Stör- und Notfällen“. Noch immer nicht abschließend geklärt ist freilich, welchen Anwendungsbereich die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe haben. Der Gerichtshof sah zunächst nur dann Raum für die „zwingenden Erfordernisse“, wenn es sich um unterschiedslos geltende bzw. anwendbare Regelungen der Mitgliedstaaten handelte.426 Für den Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes hat er dann aber in der Rechtssache PreussenElektra auch eine Rechtfertigung offen diskriminierender Maßnahmen zugelassen,427 und diese Linie in der Rechtssache Ålands Vindkraft fortgeführt.428 Die genaue Einordnung dieser Judikatur zur gebietsbeschränkten Förderung erneuerbarer Energien (→ Rn. 245) wird kontrovers diskutiert.429 Für eine umfassende Reichweite der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe spricht in der Sache, dass nicht einsichtig ist, weshalb das hochrangige Ziel des Klima- und Umweltschutzes (s. auch Art. 11 AEUV) einen engeren Anwendungsbereich im Rahmen der Rechtfertigung haben soll als die – unstrittig auch offene Diskriminierungen erfassenden – geschriebenen Gründe des Art. 36 AEUV. Weitere Einschränkungen der Cassis-Gründe resultieren im Übrigen, wiederum parallel zu den geschriebenen Rechtfertigungsgründen, aus dem Vorbehalt abschließender sekundärrechtlicher Regelungen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Letzterer dürfte auch die richtige Stellschraube zur differenzierten Würdigung der unterschiedlichen Eingriffsintensität von offenen und verstecken Diskriminierungen sowie reinen Beschränkungen sein.

421 Grundlegend EuGH 20.2.1979 – Rs. 120/78, Slg 1979, S. 649 Rn. 8 – Cassis de Dijon; zur vorzugswürdigen Einordnung als Rechtfertigungsgrund (und nicht als immanente Schranke) vgl. Dauses/ Ludwigs/ders. HdbEUWiR Kap. E.I. Rn. 104. 422 Statt vieler: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 921. 423 St. Rspr.; vgl. nur EuGH 11.12.2003 – C-322/01, Slg 2003, I-14887 Rn. 122 – Doc Morris; EuGH 28.4.1998 – C-120/95, Slg 1998, I-1831 Rn. 39 – Decker; s. auch EuGH 25.10.2001 – C-398/98, Slg 2001, I-7915 Rn. 30 – Kommission/Griechenland. 424 EuGH 13.3.2001 – C-379/98, Slg 2001, I-2099 Rn. 73 f. – PreussenElektra; EuGH 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rn. 77 – Ålands Vindkraft; EuGH 11.9.2014 – verb. Rs. C-204-208/12, ECLI:EU:C:2014:2192 Rn. 90 ff. – Essent Belgium; EuGH 29.9.2016 – C-492/14, ECLI:EU:C:2016:732 Rn. 101 – Essent Belgium; EuGH 22.6.2017 – C-549/15, ECLI:EU:C:2017:490 Rn. 85 – E.ON Biofor Sverige; EuGH 20.9.2017 – verb. Rs. C-215/16 ua, ECLI:EU:C:2017:705 Rn. 38 – Elecdey Carcelen. 425 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 109, dort auch das nachfolgende Zitat. 426 EuGH 10.11.1982 – Rs. 261/81, Slg 1982, S. 3961 Rn. 12 – Rau; EuGH 11.5.1989 – Rs. 25/88, Slg 1989, S. 1105 Rn. 10 – Wurmser. 427 EuGH 13.3.2001 – C-379/98, Slg 2001, I-2099 Rn. 73 f. – PreussenElektra; s. zuvor bereits EuGH 9.7.1992 – C-2/90, Slg 1992, I-4431 Rn. 29 ff. – Kommission/Belgien. 428 EuGH 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rn. 76 ff. – Ålands Vindkraft. 429 Für einen Überblick zum Meinungsstand: Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV Art. 34–36 AEUV Rn. 82 ff. mwN; zur Paralleldiskussion im Hinblick auf die territoriale Begrenzung nationaler Kapazitätsmechanismen Gerig, S. 149 ff.; Ludwigs RdE 2015, 325 (334 ff.); Pompl, S. 211 ff.; Riewe, S. 625 ff.

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Eine für den Energiesektor430 bedeutsame Rechtfertigungsvorschrift bildet schließlich 116 auch Art. 106 Abs. 2 AEUV (Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag).431 Hierbei handelt es sich um eine Schutzklausel zugunsten der Sicherstellung von Dienstleistungen mit allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.432 Dabei ist ein Ausgleich vorzunehmen zwischen dem Vertrauen in die Regelungskraft des Marktes einerseits und der – auch durch Art. 14 AEUV unterlegten – Vorstellung, dass die Garantie von service-public-Leistungen durch staatliche Marktinterventionen zu gewährleisten ist (Ruffert → § 1 Rn. 14).433 c) EU-Beihilfenrecht Einen weiteren, energiepolitisch höchst bedeutsamen Bereich stellt die europäische Beihil- 117 fenkontrolle nach Art. 107–109 AEUV dar (→ Rn. 104, 130).434 Sie dient der Verwirklichung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt (vgl. insoweit Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV bzw. das Protokoll Nr. 27). In materieller Hinsicht ist hier zunächst das Beihilfenverbot aus Art. 107 Abs. 1 AEUV zu nennen. Es erfasst „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art“. Neben der derart in Bezug genommenen staatlichen Herkunft der Mittel umfasst das Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV als weitere Tatbestandsvoraussetzungen das Vorliegen einer Vorteilsgewährung ohne marktangemessene Gegenleistung,435 die Selektivität dieser Begünstigung436 sowie eine Wettbewerbsverfälschung und eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels. Das Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV gilt im Übrigen nicht absolut, sondern 118 wird von Ausnahmen durchbrochen. Dabei kann zwischen den Legalausnahmen gem. Art. 107 Abs. 2 AEUV und den Ermessensausnahmen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV unterschieden werden. Bei „außergewöhnlichen Umständen“ eröffnet Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV zudem die Möglichkeit einer Befreiung vom Beihilfenverbot durch einstimmige 430 Vgl. die Nachweise aus der EuGH-Judikatur in Fn. 11. 431 J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 17; zur umstrittenen Rechtsnatur von Art. 106 Abs. 2 AEUV als Rechtfertigungsgrund oder Bereichsausnahme: Dauses/Ludwigs/ders. HdbEUWiR Kap. E.I. Rn. 226 mwN. 432 Für Einzelheiten s. J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 26 ff.; Weiß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 11 Rn. 28 ff. 433 Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 18; EuGH 20.4.2010 – C-265/08, Slg 2010, I-3377 Rn. 25 ff., 33 ff. – Federutility, wonach die ex-ante-Regulierung der Endkundenentgelte für Gasverbraucher nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist (s. hierzu auch Klotz N&R 2012, 2); ferner EuGH 21.12.2011 – C-242/10, Slg 2011, I-13665 Rn. 38 ff. – Enel Produzione Spa; EuGH 10.9.2015 – C-48/12, ECLI:EU:C:2015:570 Rn. 42 ff. – Kommission/Polen; zuletzt (zur grundsätzlichen Unzulässigkeit von Preisfestsetzungen für Erdgaslieferungen) EuGH 7.9.2016 – C-121/15, ECLI:EU:C:2016:637 Rn. 25 ff., 34 ff. – ANODE; hierzu Röben, S. 206; s. ferner die Nachweise in Fn. 11. 434 Zum Verhältnis mit der Warenverkehrsfreiheit vgl. grundlegend EuGH 22.3.1977 – Rs. 74/6, Slg 1977, 557 Rn. 9/10 – Iannelli & Volpe SpA, wonach Beihilfen iSd Art. 107 und 108 AEUV „als solche“ nicht dem Anwendungsbereich des in Art. 34 AEUV aufgestellten Verbots von Einfuhrbeschränkungen unterfallen; s. auch EuGH 2.5.2019 – C‑598/17, ECLI:EU:C:2019:352 Rn. 47 f. – AFonds; näher hierzu aus der Lit.: MüKoBeihilfenR/Ludwigs AEUV Art. 107 Rn. 53 f.; Steffens in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 1 Rn. 113; zur prinzipiellen Anwendbarkeit des EU-Beihilfenrechts im Euratom-Bereich vgl. Bacon, Rn. 10.71; Bartosch, Einl. Rn. 37; aus der Judikatur zuletzt EuG 12.7.2018 – T-356/15, ECLI:EU:T:2018:439, Rn. 72 ff., 78 – Östereich/Kommission. Zum Verhältnis von Beihilfe- und Vergaberecht am Beispiel der Bereiche Erneuerbare Energien und Energieeffizienz vgl. Knauff EurUP 2018, 438. 435 Zur Spezialproblematik staatlicher Ausgleichsleistungen, die als Kompensation für die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen gewährt werden vgl. EuGH 24.7.2003 – C-280/00, Slg 2003, I-7747 Rn. 67 ff. – Altmark-Trans; aus der energierechtlichen Literatur: J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 22; Weiß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 11 Rn. 36 ff.; ausführlich Behlau/Lutz/ Schütt, S. 277 ff.; Riewe, S. 555 ff. 436 Hierzu etwa EuGH 8.9.2011 – C-279/08P, Slg 2011, I-7671 Rn. 50 ff. – Kommission/Niederlande.

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Ratsentscheidung auf Antrag eines Mitgliedstaats. Zu denken ist schließlich an eine Rechtfertigung nach Art. 106 Abs. 2 AEUV, der gemeinwohlorientierteAbweichungen von den unternehmens- und staatsbezogenen Wettbewerbsvorschriften (Art. 101 ff. AEUV) erlaubt und auch das Beihilfenverbot aus Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst (→ Rn. 116).437 119 In verfahrensmäßiger Hinsicht ist zwischen den primär- und sekundärrechtlichen Vorgaben zu unterscheiden. Zentrale Bedeutung kommt vor allem der Notifizierungspflicht und dem unmittelbar anwendbaren Durchführungsverbot aus Art. 108 Abs. 3 S. 1 und 3 AEUV zu. 438 Ein Verstoß hiergegen hat die formelle Rechtswidrigkeit der Beihilfengewährung zur Folge und berechtigt die Kommission zu einer (einstweiligen) Rückforderungsanordnung gegenüber dem Mitgliedstaat.439 Die Einzelheiten des Beihilfenverfahrens sind in der Beihilfenverfahrens-Verordnung (EG) Nr. 2015/1589440 und der zugehörigen Durchführungsverordnung (EG) Nr. 794/2004441 geregelt. 120 Auf sekundärrechtlicher Ebene ist vor allem die 2014 neu gefasste Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) von hoher praktischer Bedeutung.442 Dort werden in Kapitel III Abschnitt 7 spezifische Regelungen über Umweltschutzbeihilfen getroffen.443 Hiervon umfasst sind zum einen Investitionsbeihilfen für Energieeffizienzmaßnahmen (Art. 38 AGVO), gebäudebezogene Energieeffizienzprojekte (Art. 39 AGVO), hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplung (Art. 40 AGVO), zur Förderung erneuerbarer Energien (Art. 41 AGVO), für energieeffiziente Fernwärme und Fernkälte (Art. 46 AGVO) sowie für Energieinfrastrukturen (Art. 48 AGVO). Zum anderen werden auch Betriebsbeihilfen zur Förderung von Strom aus erneuerbaren Energien (Art. 42 AGVO) und zur Förderung der Erzeugung erneuerbarer Energien in kleinen Anlagen (Art. 43 AGVO) einbezogen. Hinzu kommt eine Regelung über Umweltaudits (einschließlich Energieaudits) in Art. 49 AGVO. Beihilfen, die die Voraussetzungen der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung erfüllen, sind iSd Art. 107 Abs. 3 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar und von der Anmeldepflicht nach Art. 108 Abs. 3 AEUV freigestellt. 121 Eine Ergänzung erfährt das primär- und sekundärrechtliche Regelungsgeflecht durch sog soft law. Ganz im Zentrum stehen hier die im Jahr 2014 von der EU-Kommission zur Vorstrukturierung ihres Ausnahmeermessens in Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV angenommenen und jüngst um zwei Jahre verlängerten Umwelt- und Energiebeihilfeleitlinien 2014–

437 Näher Riewe, S. 575 ff., der hier auch auf die Abgrenzung zur (tatbestandsausschließenden) Altmark Trans-Judikatur eingeht. 438 Zur umstrittenen Reichweite der Bindungswirkung von beihilfrechtlichen Eröffnungsbeschlüssen der Kommission für die nationalen Gerichte vgl. EuGH 21.12.2013 – C-284/12, ECLI:EU:C:2013:755 Rn. 42 f. – Deutsche Lufthansa; vgl. hierzu differenzierend Ludwigs Die Verwaltung 49 (2016), 261 (270 f.). 439 Näher Calliess/Ruffert/Cremer EUV/AEUV AEUV Art. 108 Rn. 12 ff. mwN. 440 VO (EU) 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. 2015 L 248/9; eingehend hierzu Dauses/Ludwigs/Ludwigs H.III. Rn. 332 ff. 441 VO (EG) Nr. 794/2004 der Kommission v. 21.4.2004 zur Durchführung der VO (EU) 2015/1589 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. 2004 L 140/1; zuletzt geändert durch VO (EU) 2016/2105 der Kommission v. 1.12.2016, ABl. 2016 L 327/19. 442 VO (EU) Nr. 651/2014 der Kommission v. 17.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. 2014 L 187/1; geändert durch VO (EU) 2017/1084 der Kommission v. 14.6.2017, ABl. 2017 L 156/1; eingehend hierzu die Beiträge in MüKoBeihilfenR/Säcker, Teil 4; s. auch schon Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 53. 443 Zum Folgenden bereits Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 53 f.; s. auch Dauses/Ludwigs/Thiele H.III. Rn. 241 ff.; zuletzt Frenz ER 2019, 64 (66 ff.).

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2020 (UEBLL).444 Diese erweisen sich trotz fehlender unmittelbarer Außenwirkung aufgrund ihres Detaillierungsgrades und der reduzierten Kontrolldichte des EuGH im Rahmen von Art. 107 Abs. 3 AEUV445 als eine Art „Quasi-Gesetzgebung“.446 Die UEBLL enthalten neben allgemeinen Vereinbarkeitskriterien in Abschnitt 3.2. auch besondere Ausgestaltungen zu einzelnen Fördertatbeständen. Exemplarische Hervorhebung verdienen insoweit zum einen die für den Umwelt-/Klimaschutz zentralen Abschnitte über Beihilfen zur Förderung erneuerbarer Energien (3.3.), über Energieeffizienzmaßnahmen einschließlich Kraft-Wärme-Kopplung, Fernwärme und Fernkälte (3.4.), über Beihilfen in Form von Ermäßigungen des Beitrags zur Finanzierung erneuerbarer Energien (3.7.2) sowie über Beihilfen in Verbindung mit handelbaren Umweltzertifikaten (3.10.).447 Zum anderen ist auf die auch und gerade den Aspekt der Energieversorgungssicherheit betreffenden Regelungen über Beihilfen für Energieinfrastrukturen (3.8.) sowie über Beihilfen zur Förderung einer angemessenen Stromerzeugung (3.9.) hinzuweisen. Die konsequente Anwendung der Leitlinienvorgaben durch die EU-Kommission hat in 122 Deutschland zu einer grundlegenden Umgestaltung sowohl des Fördermechanismus für erneuerbare Energien und Kraft-Wärme-Kopplung als auch der Regelungen über Befreiungen für stromkostenintensive Unternehmen und Eigenversorger geführt.448 Daneben erfolgten auch substanzielle Modifikationen im Hinblick auf die verschiedenen Instrumente und Reserven zur Gewährleistung der Versorgungungssicherheit.449 Zwar sind gegenüber dem hierin zum Ausdruck kommenden ausgeprägten Steuerungsanspruch der Kommission und den daraus resultierenden Aushandlungsprozessen mit der Bundesregierung auch Einwände erhoben worden.450 Solange der Gerichtshof der EU seine Kontrolldichte der Ausnahmeentscheidungen nicht erhöhte (oder den Beihilfecharakter der einschlägigen Maßnahme verneint), war eine Änderung des demokratietheoretisch durchaus bedenklichen Zustands451 aber nicht zu erwarten. Als erster Schritt in Richtung einer verstärkten gerichtlichen Kontrolldichte iRd Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV kann immerhin die EuG-Entscheidung zum Kapazitätsmarkt im Vereinigten Königreich gedeutet werden. Das Gericht hat den Beschluss der Kommission, keine Einwände gegen die Beihilferegelung zu erheben, in seinem Urteil vom 15.11.2018 für nichtig erklärt und eine vertieftere Prüfung im

444 Nachweis in Fn. 377; zum weiterhin möglichen direkten Rückgriff auf Art. 107 Abs. 3 AEUV vgl. Bacon, Rn. 10.34.; Gundel EuZW 2016, 606 (608 f.); Ludwigs REE 2018, 1 (10); aus der Kommissionspraxis zB C(2016) 6714 final (SA.42393), Rn. 261 (KWKG 2016). 445 EuGH 5.10.2000 – C-288/96, ECLI:EU:C:2000:537 Rn. 26 – Deutschland/Kommission; EuGH 8.3.2014 – C-431/14 P, ECLI:EU:C:2014:2418 Rn. 36, 39 – Griechenland/Kommission; Schroeder/ Sild EuZW 2014, 12 (17). 446 Ludwigs REE 2018, 1 (8 f.). 447 Hierzu näher Bartosch AEUV Art. 107 Rn. 246 ff., der zudem darauf hinweist, dass für Beihilfen, die im Zusammenhang mit der Anwendung der Emissionshandels-RL 2003/87 (Fn. 70) noch auftreten können, die eigenständigen Leitlinien der Kommission für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten nach 2012 (ABl. 2012. C 158/4) gelten. 448 Eingehend Ludwigs REE 2017, 109; ders. REE 2018, 1 (8 f.); vgl. aus der Kommissionspraxis etwa die Genehmigungen zum EEG 2017 und zum WindSeeG (insbes. SA.45461, C[2016] 8789 final, SA.46526 sowie SA.) sowie zum KWKG (insbes. SA.42393, C[2016] 6714 final). 449 Ludwigs REE 2017, 109; ders. REE 2018, 1 (8 f.); vgl. aus der Kommissionspraxis zB die Genehmigungen der Netzreserve in § 13 d EnWG (SA.42955, C[2016] 8742 final) und der Kapazitätsreserve aus § 13 e EnWG (SA.45852, C[2018] 612 final). 450 Vgl. etwa Kröger NuR 2016, 85 (89); Stumpf EurUP 2016, 221 (233 ff.); s. auch EuG 23.11.2015 – T-694/14, ECLI:EU:T:2015:915 – EREF, mit Abweisung einer gegen Abschnitt 3.3.2 UEBLL erhobenen Nichtigkeitsklage wegen fehlender unmittelbarer Betroffenheit des Klägers. 451 Hierzu Ludwigs EuZW 2017, 41; ders. REE 2018, 1 (10 ff.); dagegen Laitenberger/Lieflaender EuZW 2017, 281; s. auch Frenz in Ludwigs, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit, S. 56 ff.

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Rahmen eines förmlichen Prüfverfahrens angemahnt.452 Jüngst hat der EuGH in seinem Urteil vom 28.3.2019 zum EEG 2012 (→ Rn. 124 f.)453 zudem das verbeitete weite Verständnis vom Behilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV zurechtgestutzt und damit für eine gewisse Rückverlagerung des Steuerungsmandats auf den Gesetzgeber gesorgt.454 123 Neben den UEBLL bleibt ein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV im Energiesektor weiterhin möglich.455 Hierfür spricht schon die EuGH-Judikatur, wonach die Kommission bei der Beurteilung eines konkreten Falls nicht gänzlich auf ihr Ermessen aus Art. 107 Abs. 3 AEUV verzichten kann.456 Bei Vorliegen sachlicher Gründe sind damit auch Beihilfen genehmigungsfähig, die die Bedingungen der einschlägigen Leitlinien nicht erfüllen. Praktisch relevant wurde dies etwa bei den Genehmigungen der sog Sicherheitsbereitschaft aus § 13 g EnWG und des Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung in Deutschland.457 124 Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass dem EU-Beihilfenrecht im Bereich der Energiewirtschaft eine hohe Bedeutung zukommt.458 Die hiermit verbundene Steuerungsfunktion der Kommission über das ihr eingeräumte Ausnahmermessen hängt maßgeblich vom Vorliegen des Beihilfetatbestands in Art. 107 Abs. 1 AEUV ab. Dieser unterliegt im Gegensatz zu Art. 107 Abs. 3 AEUV auch grundsätzlich einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle.459 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb die Beihilfequalität nationaler Fördermaßnahmen häufig besondes umstritten ist. Paradigmatisch hierfür steht die zum EEG 2012 geführte Debatte um den Beihilfecharakter der Förderung erneuerbarer Energien sowie der Befreiungen von der EEG-Umlage für stromkostenintensive Unternehmen im Rahmen der Besonderen Ausgleichsregelung. Die EU-Kommission sah den Beihilfetatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV als erfüllt an und ordnete (partielle) Rückforderungen an.460 Die hiergegen erhobene Nichtigkeitsklage zum EuG stützte die Bundesrepublik Deutschland vor allem auf den Einwand, dass es am Einsatz staatlicher Mittel fehle.461 Demgegenüber betonte das Gericht in seinem klageabweisenden Urteil vom 10.5.2016 den beherrschenden Einfluss der öffentlichen Hand auf die mit der EEG-Umlage erwirtschafteten und von den Übertragungsnetzbetreibern verwalteten Gelder.462 Dieser staatlichen Einfärbung des EEG 2012 stellte das EuG zugleich das noch im PreussenElektra-Urteil463 maßgebliche Stromeinspeisungsgesetz (StrEG) gegenüber. Die Gelder seien dort niemals unter staatlicher Kontrolle gewesen, es habe keine EEG-Umlage und folgerichtig auch kein der Besonderen Ausgleichsregelung vergleichbares (Begrenzungs-)System existiert.464

452 EuG 15.11.2018 – T-793/14, ECLI:EU:T:2018:790 – Tempus Energy and Tempus Energy Technology/ Kommission (Rechtsmittel anhängig beim EuGH unter Rs. C-57/19 P). 453 EuGH 28.3.2019 – C-405/16 P, ECLI:EU:C:2019:268 – Deutschland/Kommission. 454 Ludwigs NVwZ 2019, 909 (913 f.). 455 Bacon, Rn. 10.34.; eingehend Gundel EuZW 2016, 606 (608 f.). 456 EuGH 8.3.2016 – C-431/14 P, ECLI:EU:C:2016:145, Rn. 71 – Griechenland/Kommission. 457 SA.42536, C(2016) 3124 final, Tz. 52 ff. bzw. SA.45296, C(2017) 4249 final, Tz. 42 ff. 458 Eingehend zur Beihilfekontrolle im Energiesektor jüngst MüKoBeihilfenR/Arhold Teil 8 D Rn. 221 ff. 459 EuGH 16.5.2000 – C-83/98P, Slg 2000, I-3271 Rn. 25 – Ladbroke Racing; EuGH 22.12.2008 – C-487/06 P, Slg 2008, I-10515 Rn. 111 – British Aggregates Association; EuGH 4.9.2014 – verb. Rs. C-533/12 P und C-536/12 P, ECLI:EU:C:2014:2142 Rn. 15 – SNCM; aus der Lit. Schroeder/Sild EuZW 2014, 12 (14 f.). 460 Beschluss (EU) 2015/1585, ABl. 2015 L 250/122 (SA.33995). 461 Für eine nähere Analyse vgl. statt vieler Ludwigs EurUP 2016, 238; zum Folgenden auch schon ders. in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 55 ff. 462 EuG 10.5.2016 – T-47/15, ECLI:EU:T:2016:281 Rn. 91 ff. – Deutschland/Kommission. 463 EuGH 13.3.2001 – C-379/98, Slg 2001, I-2099 – PreussenElektra. 464 EuG 10.5.2016 – T-47/15, ECLI:EU:T:2016:281 Rn. 98 ff. – Deutschland/Kommission.

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Die Entscheidung des EuG zum EEG 2012 vermochte, ungeachtet der von Teilen des 125 Schrifttums geäußerten Kritik,465 vollumfänglich zu überzeugen.466 Insbesondere erkannte das Gericht zutreffend, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen der Förderung erneuerbarer Energien in Deutschland seit der PreussenElektra-Entscheidung grundlegend gewandelt haben.467 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wurde zudem betont, dass weder die Übertragung staatlicher Mittel noch der öffentlich-rechtliche Charakter der mittelverwaltenden Stelle für den Beihilfecharakter konstitutiv ist.468 Umso mehr musste es überraschen, dass der EuGH die Entscheidung des EuG mit Urteil vom 28.3.2019 aufgehoben und den Beschluss der Kommission zum EEG 2012 unter Verweis auf den fehlenden Beihilfecharakter sowohl des Fördermechanismus für erneuerbare Energien als auch der Umlagebefreiungen für stromintensive Unternehmen für nichtig erkärt hat. Die mangelnde Staatlichkeit der Mittel stützt der Gerichtshof auf zwei Argumentationslinien.469 Zum einen enthalte das EEG 2012 keine Verpflichtung der Versorger, die aufgrund der EEG-Umlage gezahlten Beträge auf die Letztverbraucher abzuwälzen. Die erwirtschafteten Gelder seien daher – anders als in der Rechtssache Essent Netwerk Noord470 – nicht mit einer Abgabe gleichzusetzen. Zum anderen habe das EuG nicht einmal eine staatliche Kontrolle über die mit der Verwaltung der Gelder betrauten Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) dargetan. Bei einer kritischen Würdigung dieser Argumente471 erscheint es zwar formal zutreffend, dass die Stromversorger nach dem EEG 2012 nur berechtigt, mangels gesetzlicher Regelung aber nicht verpflichtet waren, die Umlagekosten über die Strompreise an die Letztverbraucher weiterzugeben. Der Rekurs hierauf lässt aber die faktische Zwangsläufigkeit der Abwälzung unberücksichtigt. Dass es dazu kommen würde, setzte auch das EEG 2012 selbst (etwa in § 40) voraus. Das EuG hatte vor diesem Hintergrund überzeugend dargelegt, dass die mit der EEG-Umlage verbundene Belastung materiell betrachtet („hinsichtlich ihrer Wirkungen“) einer Abgabe auf den Stromverbrauch in Deutschland gleichgestellt werden könne.472 Weitergehend ist mit Blick auf die vermeintlich fehlende staatliche Kontrolle über die ÜNB anzumerken, dass die einschlägigen Fachgesetze (EEG 2012, AusglMechV, AusglMechAV) den gesamten Kreislauf von der Berechnung und Erhebung über die Verwaltung der Umlage bis hin zur Mittelverwendung en detail vorstrukturierten. Im Rahmen dieses Systems fungierten die ÜNB lediglich als normativ instrumentalisierte Schaltstellen mit reiner Umsetzungsfunktion.473 Ungeachtet dieser 465 466 467 468

469

470 471 472 473

Vgl. exemplarisch Kröger ZUR 2016, 417 (419); Schmidt-Preuß EurUP 2016, 251 (255 f.). Wie hier etwa Michl EurUP 2016, 259 (261); Müller-Terpitz/Ouertani EnWZ 2016, 536 (541 f.). Näher Klein, S. 28 ff.; Ouertani, S. 92 ff. EuGH 17.7.2008 – C-206/06, ECLI:EU:C:2008:413 Rn. 64 ff. – Essent Netwerk Noord BV; EuGH 19.12.2013 – C-262/12, ECLI:EU:C:2013:851 Rn. 20 ff. – Vent de Colère; aus jüngerer Zeit auch EuGH 13.9.2017 – C-329/15, ECLI:EU:C:2017:671 Rn. 25 – ENEA; EuGH 9.11.2017 – C-656/15P, ECLI:EU:C:2017:836 Rn. 46 – Kommission/TV2 Danmark. EuGH 28.3.2019 – C-405/16 P, NVwZ 2019, 626 Rn. 66 ff., 70 f. sowie Rn. 72 ff., 80 – Deutschland/ Kommission; vgl. auch noch (aaO) Rn. 81 ff., wo der Gerichtshof bestehende Unterschiede zur Rs. Vent de Colère (EuGH 19.12.2013 – C-262/12, ECLI:EU:C:2013:851 Rn. 20 ff.) herausarbeitet; zum Ganzen näher Ludwigs NVwZ 2019, 909 (910). EuGH 17.7.2008 – C-206/06, ECLI:EU:C:2008:413 Rn. 64 ff. – Essent Netwerk Noord BV. Ausführlich zum Folgenden Ludwigs NVwZ 2019, 909 (910 f.). EuG 10.5.2016 – T-47/15, ECLI:EU:T:2016:281 Rn. 95 – Deutschland/Kommission. v. Kielmansegg WiVerw 2014, 103 (107, 109); Ludwigs REE 2014, 65 (73 f.). Bemerkenswert erscheint, dass der EuGH dem Handlungsspielraum der mittelverwaltenden Stelle bzw. der Netzbetreiber nur wenige Wochen nach dem EEG-Urteil – anhand einer Bewertung des litauischen Umlagesystems zur Finanzierung sog. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im Elektrizitätssektor – wieder zentrale Bedeutung beigemessen hat (vgl. EuGH 15.5.2019 – C-706/17, ECLI:EU:C:2019:407 Rn. 63 f. – Achmea; dazu Idot Europe 7/2019, 27; Maiworm IR 2019, 205). Das Verhältnis zum EEG-Urteil bleibt dabei umso rätselhafter, als in den Urteilsgründen keinerlei Auseinandersetzung erfolgt.

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§ 5 Energierecht kritischen Würdigung des EuGH-Urteils werden seine Folgen aktuell intensiv und kontrovers diskutiert.474 Auf den Prüfstand zu stellen sind neben der fragwürdigen Übertragbarkeit auf das EEG 2017475 auch die Konsequenzen für weitere umlagefinanzierte Steuerungsinstrumente.476 Letzteres betrifft neben der KWKG-Umlage477 insbesondere den aktuell mit mehreren (Individual-)Nichtigkeitsklagen angegriffenen Kommissionsbeschluss zu den Netzentgeltbefreiungen nach § 19 Abs. 2 StromNEV a.F.478 Dort wurden die Befreiung bestimmter energieintensiver Unternehmen von den Netzentgelten in den Jahren 2012 und 2013 als unvereinbare Beihilfe qualifiziert und Rückforderungen angeordnet. Das EuGH-Urteil zum EEG 2012 dürfte an der beihilferechtlichen Bewertung der Kommission indes nichts ändern. Zu bedenken ist insoweit, dass die Netzbetreiber durch einen Beschluss der BNetzA vom 14.12.2011 gerade verpflichtet wurden, die „§ 19 StromNEVUmlage“ von den Letztverbrauchern zu erheben.479 Dies zugrunde gelegt spricht insoweit viel für die Abgabengleichheit der Umlage und damit die Staatlichkeit der Mittel.480 d) EU-Kartellrecht

126 Wichtige Rahmensetzungen für den Energiesektor folgen im Weiteren aus dem gleichfalls am Ziel eines unverfälschten Wettbewerbs ausgerichteten EU-Kartellrecht.481 Hier kann zwischen den drei Säulen des Kartellverbots aus Art. 101 AEUV, des Missbrauchsverbots gem. Art. 102 AEUV und der Zusammenschlusskontrolle nach der Fusionskontrollverordnung Nr. 139/2004 (FKVO)482 unterschieden werden. Als Folge der Liberalisierung des Energiesektors ist es vor allem zu einer deutlichen Belebung der Marktes für Unternehmenszusammenschlüsse gekommen.483 Die FKVO stellt dabei in Art. 2 Abs. 2 und 3 auf das Vorliegen einer erheblichen Wettbewerbsbehinderung als materielles (Untersagungs-)Kriterium ab (sog Significant Impediment to Effective Competition – SIEC-

474 Vgl. Frenz EWS 2/2019, I; Kahle LTO v. 29.3.2019; ders. jurisPR-UmwR 5/2019 Anm. 2; Kahles/ Nysten EnWZ 2019, 147; Ludwigs NVwZ 2019, 909; Scholtka EuZW 2019, 425; Stöbener de Mora NVwZ 2019, 633. 475 Hierzu Ludwigs NVwZ 2019, 909 (912), mit Verweis auf die nunmehr bestehenden Abwälzungsverpflichtungen nach § 60 a bzw. §§ 61 Abs. 1 und 61 j EEG 2017. 476 Im Lichte des EuGH-Urteils wird auch die von der EU-Kommission bejahte Beihilfequalität von Netzund Kapazitätsreserve (§§ 13 d und e EnWG), Sicherheitsbereitschaft (§ 13 g EnWG), Offshore-Netzumlage (§ 17 f EnWG) und AblaV-Umlage (§ 18 AblaV) zu hinterfragen sein. 477 In Richtung einer Übertragbarkeit des EEG-Urteils vgl. Ludwigs, NVwZ 2019, 909 (913); Scholtka, EuZW 2019, 425 (426); ders./Trottmann, ER 2019, 91 (94); dezidiert Deutscher Bundestag, Unterabteilung Europa/Fachbereich Europa, Ausarbeitung v. 5.6.2019, PE 6 – 3000 – 042/19, S. 20 ff.; die Frage offenlassend Maiworm, IR 2019, 155 (156); s. auch Meitz, ZUR 2019, 353 (355 f.). 478 Beschluss (EU) 2019/56 v. 28.5.2018, ABl. 2019, Nr. L 14/1 (SA. 34045); zu den anhängigen Klagen: http://ec.europa.eu/competition/elojade/isef/case_details.cfm?proc_code=3_SA_34045 (zuletzt abgerufen am 30.6.2019). 479 BNetzA, Beschl. v. 14.12.2011 – BK8-11-024. 480 Ludwigs NVwZ 2019, 909 (913); im Ergebnis auch Kahle jurisPR-UmwR 5/2019 Anm. 2; a.A. Scholtka, EuZW 2019, 425 (426); ders./Trottmann, ER 2019, 91 (94). 481 Instruktiv J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 18 ff.; Weiß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 11 Rn. 5 ff., beide mwN; s. auch Schmidt-Preuß in FS für Scholz, S. 903 (916 ff.). 482 VO (EG) Nr. 139/2004 des Rates v. 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004 L 24/1; zum Verhältnis der FKVO zu den Strom-/Gas-Richtlinien des Dritten Legislativpakets: Gussone/Theobald in Schneider/Theobald § 6 Rn. 91 ff. 483 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Einl. B Rn. 62; zur Entscheidungspraxis der EU-Kommission: Gussone/Theobald in Schneider/Theobald § 6 Rn. 95 ff. mwN; aus der Judikatur des Gerichtshofs der EU: EuGH 6.3.2008 – C-196/07, Slg 2008, I-41 – Kommission/Spanien; EuGH 17.7.2008 – C-207/07, Slg 2008, I-111 – Kommission/Spanien; EuG 12.10.2011 – T-224/10 – Association belge des consommateurs test-achats ASBL; EuG 21.9.2005 – T-87/05, Slg 2005, II-3745 – EDP; vgl. daneben zur Kartellrechtskonformität langfristiger Energieverträge statt vieler Fischer, S. 17 ff.

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Test).484 Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU-Kommission (im Wege des direkten Vollzugs) und den nationalen Wettbewerbsbehörden bestimmt sich maßgeblich nach der – anhand der Schwellenwerte des Art. 1 Abs. 2 und 3 FKVO zu bestimmenden – unionsweiten Bedeutung des Zusammenschlusses.485 Eine hohe Publizität haben zuletzt insbesondere die Übernahme von E.ON-Vermögenswerten der Stromerzeugung durch RWE einerseits sowie die geplante Übernahme der Geschäftsbereiche Vertrieb und Kundenlösungen sowie bestimmter Vermögenswerte von Innogy aus dem Stromerzeugungsbereich durch E.ON andererseits erlangt. 5. Überblick zum Recht der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) Der im Jahr 1957 gemeinsam mit dem EWGV in Rom unterzeichnete EAG-Vertrag bildet 127 die „Magna-Charta der friedlichen Nutzung der Kernenergie in der Gemeinschaft“ (eingehend zum Euratom-Vertrag Grunwald in Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (EnzEuR Bd. 1) → Bd. 1 § 24).486 Die Aufgabe von Euratom besteht darin „durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen“ (Art. 1 Abs. 2 EAGV). Zu diesem Zwecke werden in Art. 2 EAGV Tätigkeitsschwerpunkte benannt, die in den weiteren Vertragsbestimmungen eine Konkretisierung erfahren. Im Einzelnen handelt es sich um487 n die Entwicklung der Forschung und die Verbreitung technischer Kenntnisse (Art. 2 lit. a. iVm Art. 4–29 EAGV), n die Aufstellung und Durchsetzung einheitlicher Sicherheitsnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte (Art. 2 lit. b iVm Art. 30–39 EAGV), n die Erleichterung von Investitionen und die Förderung gemeinsamer Unternehmen (Art. 2 lit. c iVm Art. 40–51 EAGV), n die Gewährleistung einer regelmäßigen und gerechten Versorgung mit Erzen und Kernbrennstoffen (Art. 2 lit. d iVm Art. 52–76 EAGV) n die Überwachung der nuklearen Sicherheit (Art. 2 lit. e iVm Art. 77–85 EAGV) n die Ausübung des Eigentumsrechts an besonderen spaltbaren Stoffen (Art. 2 lit. f iVm Art. 86–91 EAGV), n die Sicherstellung ausgedehnter Absatzmärkte und des Zugangs zu den besten technischen Mitteln durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes für die besonderen auf dem Kerngebiet verwendeten Stoffe und Ausrüstungen, durch den freien Kapitalverkehr für Investitionen auf dem Kerngebiet und durch die Freiheit der Beschäftigung für die Fachkräfte innerhalb der Gemeinschaft (Art. 2 lit. g iVm Art. 92–100 EAGV) sowie n die Herstellung von Außenbeziehungen zu anderen Staaten und zwischenstaatlichen Institutionen, die geeignet sind, den Fortschritt bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu fördern (Art. 2 lit. h iVm Art. 101–106 EAGV). Von grundlegender Bedeutung für das Verständnis von Euratom ist, dass die Entscheidung 128 über die friedliche Nutzung der Kernenergie allein bei den Mitgliedstaaten liegt. Es be-

484 Näher zum SIEC-Test: Gussone/Theobald in Schneider/Theobald § 6 Rn. 68 ff., 72 ff., s. dort (aaO, Rn. 54 ff.) auch zur Bestimmung des relevanten Marktes. 485 Gussone/Theobald in Schneider/Theobald § 6 Rn. 34 ff. 486 Schmidt-Preuß in Säcker Handbuch, S. 764 (789). 487 S. auch die Aufzählung bei J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 4; eingehend Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 177 ff.

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§ 5 Energierecht

steht mithin keine europarechtliche Pflicht zu einer aktiven Förderungspolitik.488 Folgerichtig setzt der Euratom-Vertrag dem Kernenergieausstieg eines Mitgliedstaats keine Grenzen.489 Der EAG-Vertrag lässt sich insoweit auch prägnant als „fakultativer Fördervertrag“ und „obligatorischer Disziplinierungsrahmen“ charakterisieren.490 Die Entscheidung hinsichtlich des „Ob“ der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist allein Sache der Mitgliedstaaten, während das „Wie“ durch den Euratom-Vertrag reguliert wird. Folgerichtig spielten im Rahmen der Debatte um den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland auch weniger der Euratom-Vertrag, als vielmehr die Eigentumsgarantie des Art. 17 GRC und insbesondere die Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 iVm Art. 54 AEUV eine Rolle.491 Letztere bildete sogar einen Baustein der Ausführungen des BVerfG zur Begründung der Grundrechtsfähigkeit und Beschwerdeberechtigung der zu 100 % vom schwedischen Staat beherrschten Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH.492 129 Ungeachtet der Einordnung des Euratom-Vertrags als „fakultativer Fördervertrag“ wird die Möglichkeit eines isolierten Austritts aus der Europäischen Atomgemeinschaft bei fortbestehender EU-Mitgliedschaft kontrovers diskutiert. Für eine solche Handlungsoption könnte der Verweis in Art. 106 a Abs. 1 EAGV auf das Austrittsrecht nach Art. 50 EUV sprechen. Dagegen ist aber mit Recht eingewandt worden, dass es sich beim EAGV einerseits und beim EUV/AEUV andererseits um ein „untrennbares einheitliches Ganzes“493 handelt. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass Art. 106 a Abs. 1 EAG nur einen parallelen Austritt aus Euratom und EU ermöglicht. 130 Darüber hinaus lassen sich eine Reihe weiterer Diskussionsfelder ausmachen, in denen der EAG-Vertrag eine Rolle spielt(e). Exemplarisch zu nennen ist hier erstens die laufende Debatte um die rechtliche Zulässigkeit einer Beendigung der Urananreicherung und Brennelementeproduktion bzw. einer Ausfuhrbegrenzung von Kernbrennstoffen.494 Im Zentrum steht hier ua ein kontrovers diskutierter Verstoß etwaiger nationaler Verbote gegen die Warenverkehrsfreiheit aus Art. 93 EAG.495 Zweitens ist das auf Vorlage des FG Hamburg ergangene EuGH-Urteil vom 4.6.2015 zur Unionsrechtskonformität einer Kernbrennstoffsteuer hervorzuheben. Der Gerichtshof verneinte den Charakter als verbotene Abgabe zollgleicher Wirkung iSd Art. 93 Abs. 1 EAG (mangels Anknüpfung an den Grenzübertritt) und konnte auch weder einen Verstoß gegen Art. 191 EAG iVm Art. 3 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 (mangels Vorliegens einer direkten Besteuerung) noch eine Gefährdung

488 Schmidt-Preuß in Säcker Handbuch, S. 764 (790 Rn. 94); s. auch Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 175; J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 4. 489 Näher Ludwigs in Gundel/Lange, Neuausrichtung der deutschen Energieversorgung, S. 37 (43 f.) mwN. 490 Grunwald EuZW 2000, 481; Schärf, S. 243. 491 Ausführlich Ludwigs in Gundel/Lange, Neuausrichtung der deutschen Energieversorgung, S. 37 (44 f., 45 ff.). 492 BVerfG 6.12.2016 – 1 BvR 2821/11 ua, E 143, 246 Ls. 2 und Rn. 184 ff. – Kernenergieausstieg; ferner Rn. 203 ff.; dazu statt vieler Ludwigs NVwZ-Beilage 2017, 3 (4, 6). 493 Eingehend Schmidt-Preuß, Schriftliche Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages am 11.6.2012, Ausschuss-Drs. 17(9)845, 5 f.; anders Wegener, Die Kündigung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Gutachten v. 28.2.2007), S. 22 ff., der – schon vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – für eine (isolierte) Kündbarkeit des Euratom-Vertrages plädierte. 494 Vgl. den Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Entwurf eines Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes, BT-Drs. 19/964 sowie den Antrag der Fraktion DIE LINKE, Stilllegung der Uranfabriken Gronau und Lingen – Exportverbot für Kernbrennstoffe, BT-Drs. 19/2520. 495 Vgl. einerseits Posser, BT-Ausschuss-Drs. 19(16)96-C, 8 f.; andererseits Wollenteit, BT-Ausschuss-Drs. 19(16)96-F, 5 f.

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der Ziele des Euratom-Vertrags gem. Art. 192 Abs. 2 EAG erkennen.496 Erst rund zwei Jahre später gelangte das BVerfG aus verfassungsrechtlichen Gründen (fehlende Gesetzgebungskompetenz) zur Verfassungswidrigkeit und rückwirkenden Nichtigkeit des deutschen Kernbrennstoffsteuergesetzes.497 Schließlich betont der Gerichtshof in seiner beihilfenrechtlichen Judikatur zwar, dass Art. 107 AEUV auch auf Maßnahmen anwendbar ist, die den Bereich der Kernenergie betreffen (→ Rn. 88, 117). Das EuG hat aber jüngst in seiner Bestätigung der Genehmigung von Beihilfen zugunsten des Kernkraftwerks Hinkley Point C an der Südwestküste von England deutlich gemacht, dass hierbei die Vorschriften und Ziele des Euratom-Vertrags „zu beachten [sind]“.498 Als für den deutschen Energiesektor bedeutsam erwies sich in jüngerer Zeit insbesondere die am 16.6.2017 erteilte beihilferechtliche Genehmigung des Artikelgesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung vom 27.1.2017.499

II. Sekundärrechtliche Perspektive Auf Ebene des Sekundärrechts spiegeln sich die primärrechtlichen Prämissen für eine eu- 131 ropäische Energiepolitik wider. Vor diesem Hintergrund ist im Folgenden – ungeachtet der festgestellten „Ziel- und Maßnahmenverschränktheit“500 – eine Dreiteilung zwischen den energiepolitischen Maßnahmen der EU zur Verwirklichung des Energiebinnenmarktes (1.), des Klima- und Umweltschutzes (2.) sowie der Energieversorgungssicherheit (3.) vorzunehmen. Als Teil des Winterpakets wurde daneben von Parlament und Rat am 11.12.2018 ein neuer zentraler Governance-Meachanismus erlassen, der alle fünf Dimensionen der Energieunion (→ Rn. 3) umfasst (4.). Abschließend ist (unter 5.) wiederum ein Überblick zum Recht der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) zu geben. 1. Verwirklichung des Energiebinnenmarktes Die Errichtung eines wirksamen, voll funktionsfähigen und vernetzten Energiebinnen- 132 marktes bildet ein Kernelement sowohl des aus fünf Rechtsakten bestehenden Dritten Energiebinnenmarktpakets vom 13.7.2009 als auch des dieses zT ablösenden und als Teil des Winterpakets „Saubere Energie für alle Europäer“ (Clean Energy Package) verabschiedeten Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets vom 5.6.2019 (→ Rn. 10 ff., 15) Zentrale Bausteine bilden die Regelungen über das institutionelle Machtgefüge, das Netzzugangs- und Netzentgeltregime, die Vorgaben zur Entflechtung (sog Unbundling), die Bestimmungen über die Zertifizierung der (Strom-)Übertragungs- und (Gas-)Fernleitungsnetzbetreiber, die Stärkung der Verbraucherrechte, sowie der Rechtsrahmen für einen beschleunigten Ausbau der Transeuropäischen Energienetze (TEN-E).

496 EuGH 4.6.2015 – C-5/14, ECLI:EU:C:2015:354 – Kernkraftwerke Lippe-Ems; aus der Lit. hierzu Kahl/Bews NVwZ 2015, 1081 (1083 f.); Werrnsmann in Ludwigs, Der Atomausstieg und seine Folgen, S. 83 (89 f.). 497 BVerfG 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, E 145, 173 – Kernbrennstoffsteuer; hierzu statt vieler Ludwigs NVwZ 2017, 1509. 498 EuG 12.7.2018 – T-356/15, ECLI:EU:T:2018:439 Rn. 78 – Österreich/Kommission (Rechtsmittel anhängig unter C-594/18 P); dezidiert kritisch Kühling EnWZ 2018, 337. 499 C (2017) 4249 final v. 16.6.2017, SA.45296; zur beihilferechtlichen Debatte vgl. Frenz ZNER 2015, 407 (412; s. auch S. 408), mit der (fragwürdigen) These, dass eine „dauerhafte Durchgriffshaftung der Muttergesllschaft [sic] (…) beihilfenrechtlich geboten [ist]“. 500 Calliess, EU nach Lissabon, S. 480 f.; ders. in FS für Säcker, S. 589 (591).

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§ 5 Energierecht a) Institutionelles Machtgefüge

133 Die mit dem Dritten Legislativpaket bewirkten und im Rahmen des Winterpakets vertieften Änderungen am institutionellen Machtgefüge weisen in Richtung einer Zentralisierung der Regulierungsverwaltung.501 134 Vor Inkrafttreten des Dritten Legislativpakets lag der Schwerpunkt des Vollzugshandelns im Energiesektor noch auf dezentraler Ebene bei den Mitgliedstaaten.502 Der EU-Kommission waren nur begrenzte Steuerungsmittel in Form singulärer Entscheidungs-, Veto- und Leitlinienbefugnisse übertragen.503 Darüber hinaus existiert(e) auf europäischer Ebene eine Vielzahl von Netzwerken und Gremien.504 Angesprochen sind hiermit zum einen die informelle Zusammenarbeit in den Florenz-, Madrid-, London- und Kopenhagen-Foren505 sowie der seit März 2000 als Plattform der nationalen Regulierungsbehörden etablierte Council of European Energy Regulators (CEER).506 Zum anderen hatte die Kommission mit dem – zwischenzeitlich aufgehobenen – Beschluss 2003/796 vom 11.11.2003507 die European Regulators‘ Group for Electricity and Gas (ERGEG) als offizielles Beratungsund Koordinierungsgremium ins Leben gerufen.508 Für alle diese Institutionen und Zusammenschlüsse war bzw. ist ihr weithin informeller und rein beratender Charakter kennzeichnend. 135 Mit dem Dritten Legislativpaket hat sich das Ausmaß von „Vollzugsteilung“ und „Vollzugsverflechtung“509 zu einem europäischen Energieregulierungsverbund verdichtet (zur Rechtslage im Telekommunikationssektor Kühling → § 4 Rn. 78 ff.).510 Prägend für diesen Paradigmenwechsel, der durch das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket von 2019 weiter forciert wird, ist ein Dreifaches:511 Erstens ist in den drei Binnenmarktverordnungen die Etablierung von neuen Regulierungsinstanzen vorgesehen: Hiermit sind zunächst die „Agency for the Cooperation of Energy Regulators“ (ACER) sowie die Europäischen Verbünde der Stromübertragungs- und Gasfernleitungsnetzbetreiber („ENTSO Strom bzw. Gas“) angesprochen. Hinzu treten künftig die neu zu schaffende Europäische Organisation der Verteilernetzbetreiber (EU-VNBO) sowie die Regional Coordination Centres (RCCs). Zweitens erfährt die Stellung der EU-Kommission im institutionellen Machtgefüge eine signifikante Aufwertung. Zum Dritten wird auch den nationalen Regulierungsbehörden eine modifizierte Rolle zugewiesen.

501 Vgl. zum Folgenden bereits mit Blick auf das Dritte Legislativpaket Ludwigs DVBl. 2011, 61 ff. 502 Ausführlich zur alten Rechtslage: Britz in J.P. Schneider/Caballero, S. 74 ff.; dies. EuR 2006, 46 (58 ff.); Weiß, S. 115 ff. 503 Vgl. Britz in J.P. Schneider/Caballero, S. 71 (77 f.); Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 5 ff., 15 ff., 31 ff.; Ruffert DÖV 2007, 761 (765). 504 Zu den unterschiedlichen Formen der Verflechtung Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (810 f.); Arndt Die Verwaltung 39 (2006), 100 (105 ff., 109 ff.). 505 Während sich das Florenz-Forum mit der Entwicklung des Elektrizitätsmarktes und das Madrid-Forum mit der Entwicklung des Gasmarktes befasst, widmet sich das London-Forum speziell Verbraucherfragen; näher Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (811). Das Kopenhagen-Forum schließlich wurde 2015 als Teil der Energieunion eingerichtet, um zentrale Fragen der Infrastruktur zu erörtern. 506 Hierzu Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (807); s. auch Herzmann ZNER 2005, 216 f.; Weiß, S. 138 f. 507 Beschluss 2003/796/EG der Kommission v. 11.11.2003 zur Einsetzung der Gruppe der europäischen Regulierungsbehörden für Elektrizität und Erdgas, ABl. 2003 L 296/34; aufgehoben durch: Beschluss 2011/280/EU der Kommission v. 16.5.2011, ABl. 2011 L 129/14. 508 Zur ERGEG s. Arndt Die Verwaltung 39 (2006), 100 (113 ff.); Cameron E.L.Rev. 30 (2005), 631 (645 f.); Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (810 f.); Weiß, S. 139 f. 509 Vgl. bereits zum Zweiten Binnenmarktpaket von 2003/2005 prägnant Britz EuR 2006, 46 (48). 510 Eingehend insbes. Haller, S. 43 ff.; zur Einordnung des Regulierungsverbunds als „eigenständige[m] Sonderfall“ des Verwaltungsverbunds: Kahl Der Staat 50 (2011), 353 (362 f.). 511 Ludwigs DVBl. 2011, 61 (62).

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B. Gegenstandsbereich

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aa) Energieagentur ACER Die mit der Verordnung Nr. 713/2009512 errichtete und über eine eigene Rechtspersönlich- 136 keit verfügende Energieagentur ACER ist am 3.3.2011 an die Stelle der European Regulators' Group for Electricity and Gas (ERGEG) getreten. Ihr Sitz befindet sich in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana.513 Im Rahmen des Winterpakets wurde die zwischenzeitlich wesentlich geänderte ACER-VO aus Gründen der Klarstellung in der am 4.7.2019 in Kraft getretenen Verordnung 2019/942 neu gefasst.514 (1) Organisationsstruktur Was die Organisationsstruktur von ACER angeht,515 so besteht diese aus einem Verwaltungsrat, einem Direktor und einem Regulierungsrat. Hinzu tritt der Beschwerdeausschuss als Rechtsschutzinstanz (Art. 17 ACER-VO 2019/942). Der Verwaltungsrat (Art. 18 und 19 ACER-VO 2019/942) setzt sich aus neun Mitgliedern (mit je einem Stellvertreter) zusammen, von denen fünf vom Rat sowie jeweils zwei von Kommission und Parlament ernannt werden. Neben Haushaltszuständigkeiten kommen dem Verwaltungsrat vor allem Ernennungsbefugnisse zu. Dies betrifft die Mitglieder des Regulierungsrates und des Beschwerdeausschusses ebenso wie die Ernennung des Direktors von ACER. Die Beschlüsse des Verwaltungsrats werden grundsätzlich mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder gefasst, wobei jedes Mitglied über eine Stimme verfügt (Art. 18 Abs. 5 ACER-VO 2019/942).516 Der Regulierungsrat (Art. 21 und 22 ACER-VO 2019/942) als – gegenüber dem Muster klassischer Agenturen – innovatives Element von ACER setzt sich aus je einem ranghohen Vertreter der nationalen Regulierungsbehörden (sowie einem Stellvertreter pro Mitgliedstaat) und einem (nicht stimmberechtigten) Vertreter der Kommission zusammen. Der (weisungs-)unabhängige Regulierungsrat stellt das zentrale Entscheidungsorgan von ACER in regulatorischen Fragen dar. Seine Beschlüsse werden grundsätzlich mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder gefasst, wobei jedes Mitglied über eine Stimme verfügt (Art. 22 Abs. 1 ACER-VO 2019/942).517 Dem Direktor von ACER (Art. 23 und 24 ACER-VO 2019/942) – zur Zeit der Italiener Alberto Pototschnig – obliegen die Leitung der Agentur und ihre Außenvertretung. Zu diesen Zwecken nimmt er Stellungnahmen, Empfehlungen und Beschlüsse an, zu denen der Regulierungsrat eine befürwortende Stellungnahme abgegeben hat. Die Ernennung des Direktors erfolgt durch den Verwaltungsrat nach einer befürwortenden Stellungnahme des Regulierungsrates und aus einer Liste von zumindest drei Bewerbern, die von der Kommission im Anschluss an ein offenes und transparentes Auswahlverfahren vorgeschlagen werden.

512 Nachweis in Fn. 35. 513 Näher zur neuen Energieagentur ACER: Kurth/Groebel in FS für Säcker, 803 (819 ff.); Urbantschitsch ÖJZ 2009, 849 (850 ff.); Weiß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 32, Rn. 25 ff.; s. auch Däuper N&R 2009, 214 (218); Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 45; Schaller in FS für Scheuing, S. 415 (417 f.); J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 74; Schreiber N&R 2009, 154 (157). 514 Nachweis in Fn. 49. 515 Hierzu Holznagel/Schumacher in FS für Säcker, S. 737 (745); Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (820); Urbantschitsch ÖJZ 2009, 849 (850 f.). 516 Die Kommission konnte sich im Rahmen des Winterpakets mit ihrem Vorschlag einer Herabsetzung des Mehrheitserfordernisses auf die einfache Mehrheit (vgl. COM[2016] 863 final/2), den auch der Deutsche Bundestag im Rahmen einer Subsidiaritätsrüge v. 30.3.2017 moniert hatte (vgl. BT-Drs. 18/11777 [neu] und BT-Plenarprotokoll 18/228, 23008), nicht duchsetzen. 517 Vgl. den parallel auch für den Regulierungsrat geltenden Hinweis in Fn. 516.

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141 Der Beschwerdeausschuss (Art. 25–27 ACER-VO 2019/942) fungiert als Rechtsschutzinstanz gegen Entscheidungen der Energieagentur. Er setzt sich aus sechs Mitgliedern (und sechs Stellvertretern) zusammen. Die förmliche Ernennung erfolgt auf Vorschlag der Kommission im Anschluss an einen öffentlichen Aufruf zur Interessenbekundung und nach Konsultation des Regulierungsrates durch den Verwaltungsrat. Gegen eine Entscheidung des Beschwerdeausschusses kann im Anschluss Nichtigkeitsklage beim Gerichtshof der EU erhoben werden (Art. 263 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 AEUV). (2) Aufgaben und Befugnisse 142 Das Aufgabenspektrum der Energieagentur umfasst drei Schwerpunkte:518 Angesprochen sind hiermit die Koordinierung des Handelns der nationalen Regulierungsbehörden, die Unterstützung und Beratung der EU-Kommission sowie die Aufsicht über die Europäischen Verbünde der Stromübertragungs- und Gasfernleitungsnetzbetreiber (ENTSO Strom bzw. Gas) sowie künftig auch über die Europäische Organisation der Verteilernetzbetreiber (EU-VNBO) und die regionalen Koordinierungszentren (RCCs). 143 Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben bleibt ACER grundsätzlich auf die Abgabe unverbindlicher Stellungnahmen und Empfehlungen beschränkt. Hinzu tritt die Ausarbeitung von – gleichfalls rechtlich unverbindlichen – Rahmenleitlinien bei der Entwicklung von Netzkodizes. 144 Weitergehend werden ACER aber in zunehmendem Maße auch eigene Einzelentscheidungsbefugnisse übertragen. Eine Auflistung einschlägiger Regelungen findet sich in Art. 2 lit. d ACER-VO 2019/942.519 Hervorzuheben sind insgesamt zehn Konstellationen, was zugleich die Bandbreite der Kompetenzen der Agentur verdeutlicht. Erstens trifft sie Einzelfallentscheidungen betreffend die Bereitstellung von Informationen nach Art. 3 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2 lit. b und Art. 8 lit. c ACER-VO. Zweitens obliegt ACER die Überarbeitung und Genehmigung der Bedingungen oder Methoden zur Durchführung solcher Netzkodizes und Leitlinien (→ Rn. 153 ff., 160 ff.), die der Zustimmung aller Regulierungsbehörden bedürfen (Art. 5 Abs. 2 ACER-VO 2019/942).520 Drittens folgt aus Art. 5 Abs. 7 ACER-VO iVm Art. 14 Abs. 5 Strom-VO 2019/943 eine Befugnis der Agentur, über die im Verfahren zur Überprüfung der Gebotszonen (→ Rn. 169) verwendeten Methoden und Annahmen sowie die in Betracht gezogenen alternativen Gebotszonenkonfigurationen zu entscheiden. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sich die zuständigen nationalen Regulierungsbehörden innerhalb von drei Monaten nicht einigen konnten. Viertens trifft die Agentur auch Einzelfallentscheidungen in technischen Fragen (Art. 6 Abs. 1 ACER-VO). Fünftens sieht Art. 6 Abs. 10 ACER-VO 2019/942521 die Befugnis von ACER zum Erlass von Einzelentscheidungen zu Regulierungsfragen vor, die Auswirkungen auf den grenzüberschreitenden Handel oder die grenzüberschreitende Systemsicherheit haben und eine gemeinsame Entscheidung von mindestens zwei nationalen Regulierungsbehörden erfordern. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die zuständigen nationalen Regulierungsbehörden ein gemeinsames Ersuchen an ACER richten oder nicht in der Lage sind, binnen sechs Monaten (bzw. in bestimmten Fällen vier Monaten) eine Eini518 Zum Dritten Legislativpaket näher Ludwigs DVBl. 2011, 61 (62); näher Weiß, S. 145 ff.; Haller, S. 118 ff. 519 Noch zu Art. 4 lit. d ACER-VO 713/2009 vgl. Däuper N&R 2009, 214 (218); Kühling/Pisal RdE 2010, 161 (168 f.); Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (811); Ludwigs DVBl. 2011, 61 (62); Urbantschitsch ÖJZ 2009, 849 (852); Weiß, S. 145 f. 520 Siehe daneben noch die weiteren Konstellationen in Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 ACER-VO 2019/942; vgl. zudem Art. 4 Abs. 4 ACER-VO, wonach ACER auch die Methode zur Verwendung der Einnahmen aus Engpasserlösen gem. Artikel 19 Abs. 3 Strom-VO 2019/943 genehmigt. 521 Vgl. auch bereits die Vorläuferregelung in Art. 8 Abs. 1 ACER-VO 713/2009.

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gung zu erzielen. Sechstens legt die Agentur gem. Art. 7 Abs. 2 lit. a ACER-VO 2019/942 (iVm Art. 36 Abs. 3 und 4 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 37 Abs. 2 Strom-VO 2019/943) die von den regionalen Koordinierungszentren (RCCs, hierzu → Rn. 157) zu betreuenden sog Netzbetriebsregionen fest und genehmigt die Zuweisung neuer Beratungsaufgaben an die RCCs. Siebtens genehmigt und ändert ACER gegebenenfalls die von ENTSO-E unterbreiteten Vorschläge für Methoden und Berechnungen im Zusammenhang mit der Bewertung der Angemessenheit der Ressourcen auf europäischer Ebene gem. Art. 23 Abs. 3, 4, 6 und 7 Strom-VO 2019/943 sowie die ENTSO-E-Vorschläge zu technischen Spezifikationen für die grenzüberschreitende Teilnahme an Kapazitätsmechanismen gem. Art. 26 Abs. 11 Strom-VO 2019/943 (Art. 9 Abs. 1 ACER-VO 2019/942). Gleiches gilt künftig auch im Hinblick auf die Methoden zur Bestimmung von Szenarien für Stromversorgungskrisen auf regionaler Ebene bzw. für kurzfristige und saisonale Abschätzungen der Leistungsbilanz gem. Art. 5 bzw. Art. 8 der neuen Risikovorsorge-Verordnung (EU) 2019/941 (Art. 9 Abs. 3 ACER-VO 2019/942). Achtens entscheidet die Energieagentur gem. Art. 10 ACER-VO 2019/942522 auch über die Erteilung von Ausnahmen von der Regulierung für neue Stromverbindungsleitungen und Erdgasinfrastrukturen.523 Voraussetzung ist hier erneut, dass sich die nationalen Regulierungsbehörden nicht innerhalb von sechs Monaten einigen können oder ein gemeinsames Ersuchen an ACER richten. Zum Neunten und Zehnten trifft ACER schließlich auch Einzelentscheidungen über Infrastrukturaufgaben gemäß der sog TEN-E-Verordnung 347/2013 (Art. 11 ACER-VO 2019/942) und über Aufgaben im Zusammenhang mit der Marktüberwachung gemäß der REMITVerordnung 1227/2011524 (Art. 12 ACER-VO 2019/942). Hervorzuheben ist insoweit zum einen Art. 12 Abs. 6 TEN-E-VO 347/2013,525 wonach ACER über die Aufteilung von Investitionskosten bei grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen im Elektrizitätsbereich entscheidet, wenn die betroffenen nationalen Regulierungsbehörden innerhalb von sechs Monaten keine Einigung erzielt oder die Agentur hierzu gemeinsam aufgefordert haben.526 Zum anderen ist auf Art. 16 Abs. 4 REMIT-VO 1227/2011 hinzuweisen, der die Befugnis von ACER umfasst, die nationalen Regulierungsbehörden „aufzufordern“, mutmaßliche Verstöße zu untersuchen und geeignete Abhilfemaßnahmen zu treffen. Für die Beschlüsse hinsichtlich angemessener Maßnahmen zur Abhilfe aufgedeckter Verstöße sind dann freilich wiederum die nationalen Regulierungsbehörden zuständig. (3) Meroni-Doktrin Zwar kann die Energieagentur angesichts der noch immer begrenzten Entscheidungskom- 145 petenzen nicht als echter europäischer (Super-)Regulierer qualifiziert werden; dessen ungeachtet lässt sich aber doch von einer substanziellen, mit dem Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpaket weiter vorangetriebenen Fortentwicklung gegenüber der früheren ERGEG sprechen.527 Bereits zur ersten ACER-Verordnung aus dem Jahr 2009 sind Zweifel hinsichtlich der Primärrechtskonformität vorgebracht worden. Moniert wurden die „diskretionären Koordinations- und außenverbindlichen Entscheidungskompetenzen“. Hierin liege eine unzulässige Delegation von Entscheidungsmacht.528 Durch die Erweiterung der Entscheidungsbefugnisse von ACER im Rahmen der neugefassten ACER-VO 2019/942

522 523 524 525 526 527 528

S. zuvor schon Art. 9 ACER-VO 713/2009. Vgl. Art. 63 Abs. 5 Strom-VO 2009/943 bzw. Art. 36 Abs. 4 Gas-RL 2009/73. Nachweis in Fn. 40. Nachweis in Fn. 307. Instruktiv Strobel DVBl. 2016, 543 (546 ff.). Ludwigs DVBl. 2011, 61 (62); ähnlich Weiß, S. 147. Gärditz AöR 135 (2010), 269 ff. (272), dort auch das wörtliche Zitat im Satz zuvor.

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(zB im Hinblick auf die Durchführung von Netzkodizes und Leitlinien) hat sich die Problematik jüngst nochmals verschärft. 146 Die Kritik an den Entscheidungsbefugnissen von ACER führt zu der allgemeinen Streitfrage nach den rechtlichen Grenzen der Errichtung von Unionsagenturen.529 Als Ausgangspunkt dient hier regelmäßig die noch zum EGKSV entwickelte Meroni-Doktrin des EuGH von 1958. Darin werden strenge Kriterien im Hinblick auf die Art und den Umfang der auf Agenturen übertragbaren Kompetenzen aufgestellt.530 Insbesondere sollen Ausführungsbefugnisse nur dann delegiert werden können, wenn sie „genau umgrenzt“ sind und unter der Aufsicht des jeweiligen EU-Organs stehen. A priori ausgeschlossen ist die Übertragung „weiter Ermessensspielräume“ mit politischem Charakter. Durch die hiermit verbundene tatsächliche Verlagerung der Verantwortung würde „das für den organisatorischen Aufbau der Gemeinschaft kennzeichnende Gleichgewicht der Gewalten“ verletzt. 147 Kontrovers diskutiert wird freilich, inwieweit der EuGH an dieser restriktiven Judikatur auch heute noch festhalten würde (s. auch Ohler → § 10 Rn. 102 f.; ferner Looschelders/ Michael → § 11 Rn. 45).531 In Richtung einer Lockerung der Anforderungen könnte zunächst die ENISA-Entscheidung aus dem Jahr 2006 weisen (hierzu auch Ohler → § 10 Rn. 103).532 Dort hat der Gerichtshof die Gründung der Europäischen Agentur für Netzund Informationssicherheit (ENISA)533 gebilligt. Die Aussagekraft des Urteils ist aber schon deshalb begrenzt, weil ENISA – anders als ACER – nur Beratungs-, nicht aber echte Entscheidungsbefugnisse übertragen wurden. Für ein Festhalten an den strengen MeroniKriterien lässt sich immerhin vorbringen, dass auch durch die jüngste Reform des EU-Primärrechts im Lissabon-Vertrag keine explizite Anerkennung eines eigenständigen europäischen Verwaltungsunterbaus erfolgt ist.534 Überdies hat der Gerichtshof zuletzt in der ESMA-Entscheidung aus dem Jahr 2014 zum Verbot von Leerverkäufen durch die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) an den Erfordernissen der Meroni-Rechtsprechung explizit festgehalten.535 148 Misst man ACER an den Meroni-Kriterien, kommt es entscheidend auf die Reichweite der übertragenen Befugnisse an.536 Eine nähere Betrachtung der in Art. 2 lit. d ACER-VO 2019/942 aufgelisteten Befugnisse macht insoweit deutlich, dass ACER weiterhin nur über begrenzte Entscheidungskompetenzen verfügt.537 Vielfach agiert ACER hier weniger als autonomer Regulierer denn als Streitschlichtungsorgan zwischen uneinigen nationalen

529 Näher zum Folgenden bereits Ludwigs DVBl. 2011, 61 (65 f. mwN). 530 EuGH 13.6.1958 – Rs. 9/56, Slg 1958, 9, 36 ff. – Meroni I; EuGH 13.6.1958 – Rs. 10/56, Slg 1958, 51, 75 ff. – Meroni II; zur Übertragbarkeit der – im Rahmen der EGKS entwickelten – Meroni-Doktrin auf die EG/EU s. EuGH 26.5.2005 – C-301/02P, Slg 2005, I-4071 Rn. 41, 44 – Tralli/EZB. 531 Für eine Lockerung des „Meroni-Korsetts“ zB Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV EUV Art. 13 Rn. 57 f.; ferner Britz in J.P. Schneider/Caballero, S. 71 (98); Griller/Orator E.L.Rev. 35 (2010), 3 (27 ff.); Kühling EuZW 2008, 129; Ruffert in FS für Scheuing, S. 399 (403 f.). 532 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771 – ENISA. 533 VO (EG) Nr. 460/2004 des EP und des Rates v. 10.3.2004 zur Errichtung der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit, ABl. 2004 L 77/1; ersetzt durch: VO (EU) Nr. 526/2013 des EP und des Rates v. 21.5.2013, ABl. 2013 L 165/41. 534 Nähere Begründung bei Ludwigs DVBl. 2011, 61 (65 f. mwN). 535 EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 41 ff. – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat; kritisch zB Kohtamäki EuR 2014, 321 (327 f.), unter Hinweis auf eine im Rahmen der Subsumtion zum Ausdruck kommende Relativierung der Meroni-Kriterien. 536 Zu den weiteren – von ACER erfüllten – Voraussetzungen vgl. Schulenberg, S. 144 f. 537 Die EU-Kommission konnte sich mit ihren weitergehenden (ua eine Letztentscheidungskompetenz von ACER für alle Regulierungsfragen mit „grenzüberschreitender Bedeutung“ umfassenden) Vorstellungen im Vorschlag v. 23.2.2017 (COM[2016] 863 final, 2), die auch vom Deutschen Bundestag im Rahmen einer Subsidiaritätsrüge v. 30.3.2017 kritisiert wurden (vgl. BT-Drs. 18/11777 [neu] und BTPlenarprotokoll 18/228, 23008), nicht duchsetzen.

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Regulierungsbehörden.538 Dies gilt bei der Überprüfung der Gebotszonen ebenso wie bei Regulierungsentscheidungen, die sich auf grenzüberschreitenden Handel oder Sicherheit beziehen sowie bei Ausnahmen von der Regulierung für neue Infrastruktur und für Entscheidungen über Investitionsanträge im Rahmen der TEN-E-VO (→ Rn. 144). Hinzu kommt, dass Entscheidungen von ACER auch im Übrigen nur unter klar definierten Umständen und zu Fragen getroffen werden, die sich ausschließlich auf jene Zwecke beziehen, für die die Agentur etabliert wurde.539 Insbesondere sind ACER keine „weiten Ermessensspielräume“ mit politischem Charakter übertragen. Bei einer Gesamtwürdigung steht daher kaum zu erwarten, dass der Gerichtshof bei einer Subsumtion anhand der Meroni-Kriterien zur Überschreitung der primärrechtlichen Grenzen für die Errichtung von Unionsagenturen gelangen würde.540 Zweifel wurden im Schrifttum zunächst auch im Hinblick auf die im Jahr 2009 als Kom- 149 petenzgrundlage für die Etablierung von ACER herangezogene Rechtsangleichungszuständigkeit aus ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) angemeldet. Konkret war umstritten, ob die Binnenmarktkompetenz überhaupt eine taugliche Basis für die Schaffung supranationaler Agenturen bilden konnte (s. auch Ruffert → § 1 Rn. 63; ferner Looschelders/ Michael → § 11 Rn. 33 ff.).541 Zum einen galt es aber schon hinsichtlich der ACER-VO 713/2009 zu bedenken, dass es sich um einen Anwendungsfall der implied powers-Lehre handeln konnte.542 Im Übrigen kommt das weite Verständnis des EuGH von Art. 114 AEUV auch in der ESMA-Entscheidung zum Ausdruck. Dort erachtete der Gerichtshof die Errichtung einer Wertpapieraufsichtsagentur mit Einzelfallbefugnissen als kompetenzgemäß.543 Zum anderen hat der Vertrag von Lissabon den neuen Energiekompetenztitel des Art. 194 AEUV eingeführt, der unstreitig die Schaffung von Agenturen abdeckt und auf den nunmehr auch die Neufassung in der ACER-VO 2019/942 gestützt wurde.544 bb) ENTSO Strom bzw. Gas sowie EU-VNBO und RCCs Als weitere neue Regulierungsinstanzen sind die für den grenzüberschreitenden Netzbe- 150 trieb zuständigen Europäischen Verbünde der Stromübertragungs- und der Gasfernleitungsnetzbetreiber („ENTSO Strom bzw. Gas“)545 sowie – seit dem Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpaket – eine neu zu gründende Europäische Organisation der Verteilernetzbetreiber („EU-VNBO“) hinzugetreten. Alle drei Akteure finden ihre Grundlage in der neuen Strombinnenmarkt-Verordnung (EU) 2019/943 (bzw. bis zum 1.1.2020 in der Strom-VO 714/2009) sowie in der Gasnetzzugangs-Verordnung Nr. 715/2009.546 Die bis zum Dritten Legislativpaket freiwillig praktizierte Zusammenarbeit der Netzbetreiber –

538 Zu dieser Rolle bereits Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (821 mit Fn. 52). 539 Vgl. insoweit auch explizit Erwägungsgrund Nr. 16 und 29 der ACER-VO 2019/942. 540 Noch zum Dritten Legislativpaket ebenso Holznagel/Schumacher in FS für Säcker, S. 737 (751 f.); Kahl Der Staat 50 (2011), 353 (382); Kurth/Groebel in FS für Säcker, S. 803 (814 f., 822); Ludwigs DVBl. 2011, 61 (66). 541 Bejahend Schulenberg, S. 144 ff.; s. auch Holznagel/Schumacher in FS für Säcker, S. 737 (751); verneinend Gärditz AöR 135 (2010), 251 (272 ff., 275); vgl. zur Problematik bereits Ludwigs DVBl. 2011, 61 (66). 542 Zur Heranziehung der Lehre von den implied-powers im Rahmen von ex-Art. 95 EG: Ludwigs, Rechtsangleichung, S. 239 ff., 255 mwN. 543 EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 99 ff. – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat. 544 Ludwigs ZG 2010, 222 (225); Nettesheim JZ 2010, 19 (21). 545 Aus der Lit.: Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 56 ff.; Däuper N&R 2009, 214 (217 f.); Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 48 ff.; Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Einl. B Rn. 68. 546 Nachweise in Fn. 48 und Fn. 34.

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zB im Rahmen der Verbände UCTE547 (Strom) und GTE548(Gas) – ist hiermit verbindlich gemacht worden.549 151 Die Gründung der Netzbetreiberverbünde ENTSO-E (Strom) und ENTSOG (Gas) bestimmt sich nach Art. 29 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 5 Gas-VO 715/2009.550 Dort ist vorgesehen, dass die Stromübertragungsnetz- bzw. die Gasfernleitungsnetzbetreiber der Kommission und der Energieagentur den Entwurf der Satzung, eine Liste der Mitglieder und den Entwurf der Geschäftsordnung des zu gründenden ENTSO Strom/Gas vorlegen (Abs. 1). Hierzu übermittelt die Energieagentur binnen zwei Monaten eine Stellungnahme an die Kommission (Abs. 2). Diese gibt ihrerseits innerhalb von drei Monaten eine Stellungnahme ab, wobei sie den Standpunkt von ACER berücksichtigt (Abs. 3). Binnen weiterer drei Monate nach Eingang der Kommissions-Stellungnahme gründen die Übertragungsnetz-/Fernleitungsnetzbetreiber den ENTSO Strom/Gas und verabschieden und veröffentlichen dessen Satzung und Geschäftsordnung (Abs. 4). Die Gründung des ENTSO-E erfolgte am 19.12.2008, dh bereits vor Erlass des Dritten Energiebinnenmarktpakets. Gegenwärtig gehören ihm 43 Übertragungsnetzbetreiber aus 36 Ländern an. Der am 1.12.2009 etablierte ENTSOG besteht zurzeit aus 44 Fernleitungsnetzbetreibern aus 24 Ländern.551 152 Mittels der nach Art. 52–57 Strom-VO 2019/943 neu zu etablierenden Europäischen Organisation der Verteilernetzbetreiber (EU-VNBO) soll die Effizienz der Stromverteilernetze in der Union gesteigert und eine enge Zusammenarbeit mit den Übertragungsnetzbetreibern und dem ENTSO-E (Strom) sichergestellt werden.552 Ausweislich von Art. 53 Strom-VO 2019/943 legen die Verteilernetzbetreiber (VNB) der Kommission und der Agentur ACER bis zum 5.7.2020 den Entwurf der Satzung, die Liste der eingetragenen Mitglieder und den Entwurf der Geschäftsordnung der zu gründenden EU-VNBO vor (Abs. 2). Die Agentur unterbreitet der EU-Kommission dann binnen zwei Monaten und nach förmlicher Anhörung der alle Akteure vertretenden Organisationen eine Stellungnahme zu allen drei Aspekten (Abs. 3). Innerhalb weiterer drei Monate gibt die Kommission ihrerseits eine entsprechende Stellungnahme ab (Abs. 4). Schließlich gründen die Verteilernetzbetreiber binnen drei Monaten nach Eingang der positiven Stellungnahme der Kommission die EU-VNBO und verabschieden bzw. veröffentlichen deren Satzung und Geschäftsordnung (Abs. 5). In organisatorischer Hinsicht sieht Art. 53 Abs. 1 Strom-VO 2019/943 vor, dass die neue Einheit mindestens aus einer Generalversammlung, einem Verwaltungsrat, einer Strategieberatungsgruppe, Sachverständigengruppen und einem Generalsekretär besteht. Die wichtigsten Regeln und Verfahren sind in Art. 54 Strom-VO 2019/943 niedergelegt. Die EU-VNBO soll nach Erwägungsgrund Nr. 60 (S. 3) bei der Ausarbeitung und Umsetzung der Netzkodizes erforderlichenfalls eng mit dem ENTSO-E (Strom) zusammenarbeiten und Leitlinien unter anderem zur Integration der dezentralen Erzeugung und Energiespeicherung in die Verteilernetze oder zu anderen mit dem Management der Verteilernetze zusammenhängenden Bereichen erarbeiten. Die konkreten Aufgaben der Einheit werden sodann durch Art. 55 Strom-VO 2019/943 in zwei katalogartigen Absätzen erfasst. Des Weiteren macht Art. 56 Strom-VO 2019/943 Vorgaben hinsichtlich der im Entwicklungsverfahren für Netzkodizes von der EU-VNBO durchzufüh547 548 549 550 551

Union for the Co-ordination of Transmission of Electricity. Gas Transmission Europe. Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf., Rn. 53 (67. EL 2010). Vgl. Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 37. Für weitere Informationen vgl. die Internetseiten der beiden Netzbetreiberverbünde, abrufbar unter https://www.entsoe.eu/ bzw. http://www.entsog.eu/ (zuletzt abgerufen am 30.6.2019). 552 Noch zum Vorschlag der Kommission (COM(2016) 861 final) vgl. Scholtka/Martin ER 2017, 240 (243).

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renden Konsultationen. Art. 57 Strom-VO 2019/943 sieht schließlich eine Zusammenarbeit von Verteilernetz- und Übertragungsnetzbetreibern bei der Planung und dem Betrieb ihrer Netze vor. Zu den Hauptaufgaben von ENTSO-E und ENTSOG zählen die Aufstellung eines nicht- 153 bindenden gemeinschaftsweiten Zehn-Jahres-Netzentwicklungsplans553 und die Ausarbeitung von Netzkodizes.554 Letztere enthalten Vorgaben ua für Netzsicherheit und -zuverlässigkeit, Netzanschluss und -zugang sowie Kapazitätsvergabe und Engpassmanagement.555 Im Stromsektor wurde ihr Anwendungsbereich durch die im Rahmen des Winterpakets neu gefasste Strom-VO 2019/943 (vgl. dort Art. 59 Abs. 1 und Abs. 2) nochmals erheblich erweitert (zB um Regeln für die Erbringung nicht frequenzbezogener Systemdienstleistungen). In steuerungswissenschaftlicher Perspektive wird die Ausarbeitung der Netzkodizes durch ENTSO-E und ENTSOG als private Akteure vielfach auch als Prozess der regulierten Selbstregulierung charakterisiert.556 Kritiker verweisen demgegenüber auf die de facto durchgängig erfolgende Inkorporierung der erarbeiteten Entwürfe in hoheitliche Rechtsetzung.557 Die derart adressierte Verrechtlichung erlangten die Netzkodizes bislang im Wege der Verabschiedung durch die EU-Kommission im Komitologieverfahren (Regelungsverfahren mit Kontrolle) als Abschluss des mehrstufigen Verfahrens zur Festlegung der Kodizes.558 Die als Teil des Winterpakets verabschiedete neue Strom-VO 2019/943 enthält nunmehr in Art. 59 für den Elektrizitätssektor eine explizite Ermächtigung der Kommission zum Erlass von Durchführungsrechtsakten iSd Art. 291 AEUV (Abs. 1) und delegierten Rechtsakten iSd Art. 290 AEUV (Abs. 2).559 Hinzu kommt, dass im gestrafften Verfahren zur Erstellung von Stromnetzkodizes künftig auch die neu zu etablierende Europäische Organisation der Verteilernetzbetreiber („EU-VNBO“, s. → Rn. 152) eingebunden wird (Art. 59 Abs. 3 Strom-VO 2019/943). Der ENTSO-E (bzw. die EU-VNBO) erfährt bei der Entwicklung der Netzkodizes zudem Unterstützung von einem gemischt zusammengesetzten Redaktionsausschuss (Art. 59 Abs. 10 Strom-VO 2019/943). Art. 59 Abs. 11 StromVO 2019/943 stellt überdies klar, dass der von den Netzbetreiberverbünden vorgeschlagene Netzkodex von ACER überarbeitet wird. Vorgaben zur Änderung von nach Art. 59 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 6 Gas-VO 154 715/2009 angenommenen Netzkodizes treffen Art. 60 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 7 Gas-VO 715/2009. Im Gassektor entscheidet die Kommission auch hier gem. Art. 7 Abs. 3 Gas-VO 715/2009 weiter im Komitologieverfahren (Regelungsverfahren mit Kontrolle), während im Stromsektor künftig das jeweilige Verfahren nach Art. 59 Strom-VO 2019/943 zum Erlass eines delegierten Rechtsakts oder eines Durchführungsrechtsakts der Kommission führt.

553 Vgl. Art. 30 Abs. 1 lit. b Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 8 Abs. 3 lit. b Gas-VO 715/2009; hierzu Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 51, mit zutreffendem Hinweis darauf, dass das Sekundärrecht hierfür „weder materielle Kriterien noch Verfahrensvorgaben vor[sieht]“. 554 S. insbes. Art. 30 Abs. 1 lit. a Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 8 Abs. 1, 2, 6 und 7 Gas-VO 715/2009. 555 Noch zum Dritten Binnenmarktpaket eingehend Weyer in Bien/Ludwigs S. 123 ff. 556 Vgl. etwa Günther/Brucker RdE 2016, 216 (217); Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (766 f.); Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 39; grundlegend zum Steuerungsmodus der regulierten (gesteuerten) Selbstregulierung Schmidt-Preuß VVDStRL 56 (1997), 160 (162 ff.). 557 Vgl. Weyer in Bien/Ludwigs, S. 123 (149); kritisch auch Meister, S. 297 ff. 558 S. Art. 6 Abs. 11 UAbs. 1 Alt. 2 und UAbs. 2 S. 2 Strom-VO 714/2009 (Fn. 33) bzw. Gas-VO 715/2009 (Fn. 34); eingehend zum komplexen Verfahren: Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 38 ff. 559 Die Kommission konnte sich mit ihrem Vorschlag einer Fokussierung auf delegierte Rechtsakte iSd Art. 290 AEUV (vgl. COM[2016] 861 final/2), die auch vom Deutschen Bundestag im Rahmen seiner Subsidiaritätsrüge v. 30.3.2017 moniert wurde (Fn. 537), nicht duchsetzen.

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155 Die praktische Bedeutung der Netzkodizes hängt entscheidend von ihrer Bindungswirkung ab.560 Nach einer anfangs in der Literatur vertretenen Ansicht sollte es sich lediglich um sog soft law handeln.561 Zu überzeugen vermochte diese Einordnung indes nicht. Für eine strikte Verbindlichkeit der nach Art. 59 Abs. 1 und Abs. 2 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 6 Abs. 11 Gas-VO 715/2009 durch die Kommission angenommenen Netzkodizes spricht vielmehr, dass diese im formalen Komitologieverfahren (Gas) bzw. als Rechtsakte iSd Art. 290, 291 AEUV (Strom) „erlassen“ werden.562 156 Im Stromsektor erfährt die Durchsetzung der durch die Kommission angenommenen (und daher bindenden) Netzkodizes im Rahmen der neugefassten Strom-RL 2019/944 eine erhebliche Effektuierung. Ausweislich ihres Art. 63 ist das mit dem Dritten Legislativpaket etablierte Verfahren zur Leitlinieneinhaltung nunmehr auch auf die Netzkodizes anwendbar. In der Folge ergibt sich eine Art Vetorecht der Kommission (respektive die Befugnis, den Widerruf zu verlangen) gegenüber „kodexwidrigen“ Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden (näher zum Verfahren → Rn. 167). 157 Zu den umstrittensten Fragen im Gesetzgebungsverfahren des Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets zählte schließlich die Einrichtung sog Regional Operational Centres (ROCs).563 Nach dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag sollten die nationalen Übertragungsnetzbetreiber im Rahmen dieser regionalen Betriebszentren über Fragen entscheiden, bei denen sich uneinheitliche und unkoordinierte nationale Maßnahmen negativ auf den Markt und die Verbraucher auswirken könnten (zB in den Bereichen Netzbetrieb, Kapazitätsberechnung für Verbindungsleitungen, Versorgungssicherheit und Risikovorsorge).564 Mit den ROCs strebte die Kommission eine Aufwertung der bisherigen Regional Security Coordinators (RSCs)565 an. Während Letztere nur Koordinationsfunktionen wahrnehmen, sollten die ROCs auch eigenständige Entscheidungsbefugnisse in versorgungssicherheitrelevanten Bereichen erhalten. Der Kommissionsvorschlag stieß allerdings auf erheblichen Widerstand. Exemplarisch hierfür steht das Vorbringen des Deutschen Bundestags im Rahmen seiner Subsidiaritätsrüge vom 30.3.2017.566 Dort wurde ua geltend gemacht, dass die EU-Kommission nicht ausreichend dargelegt habe, warum die Übertragung echter Entscheidungsbefugnisse erforderlich sei und weshalb das verfolgte Ziel nicht schon durch die bestehende regionale Kooperation der Übertragungsnetzbetreiber erreicht werden könne. Vor diesem Hintergrund kam es im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu erheblichen Modifizierungen des Kommissionsvorschlags. In der neu gefassten Strom-VO 2019/943 ist jetzt (in den Art. 34 ff.) nur noch die Etablierung sog Regional Coordination Centres (RCCs) vorgesehen, um die Zusammenarbeit der Übertragungsnetzbetreiber zu unterstützen. Die regionalen Koordinierungszentren ersetzen die bestehenden RSCs und ergänzen die Rolle der Übertragungsnetzbetreiber, indem sie die nach Art. 37 Strom-VO 2019/943 zugewiesenen Aufgaben von regionaler Bedeutung erfüllen. Im Übrigen bleibt es aber bei einer freiwilligen regionalen Zusammenarbeit der Netzbetreiber. Zwar sieht Art. 42 Abs. 2 Strom-VO 2019/943 noch weitergehend vor, dass die RCCs in den Bereichen der Kapazitätsberechnung und Sicherheitsanalyse koordinierte Maßnahmen vorlegen, die an die Übertragungsnetzbetreiber gerichtet und von diesen durchzuführen sind. Zugleich ermöglicht es Art. 42 Abs. 2 S. 2 aE Strom-VO 2019/943 Ausführliche Diskussion bei Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 46. Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (766 mit Fn. 49). Vgl. auch Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 49 mit Fn. 235. Näher hierzu auch Meyer/Sène RdE 2019, 278 (283). COM(2016) 861 final (s. dort Art. 32 Strom-VO-E). Vgl. insoweit die VO (EU) 2017/1485 der Kommission v. 2.8.2017 zur Festlegung einer Leitlinie für den Übertragungsnetzbetrieb, ABl. 2017 L 220/1. 566 Nachweis in Fn. 537.

560 561 562 563 564 565

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den Übertragungsnetzbetreiber aber, von einer Implementierung abzusehen, wenn dies zu einer Verletzung der „Betriebssicherheitsgrenzwerte“ gemäß der Leitlinie für den Übertragungsnetzbetrieb (System Operation Guideline)567 führen würde. Die Beurteilungskompetenz liegt dabei allein bei den Übertragungsnetzbetreibern („die jeder Übertragungsnetzbetreiber […] festlegt“), die nicht von den RCCs überstimmt werden können. Damit lässt sich im Hinblick auf die Maßnahmen der RCCs nur noch von „soft law“ sprechen, so dass auch die kompetenzrechtlichen Bedenken erledigt sein dürften. cc) Rolle der EU-Kommission Kennzeichnend für den europäischen Energie-Regulierungsverbund ist im Weiteren die 158 seit dem Dritten Legislativpaket signifikant aufgewertete und durch das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket weiter gestärkte Rolle der EU-Kommission.568 Bei einer systematisierenden Betrachtung ihrer regulativen Teilkompetenzen kann zwischen Normierungsbefugnissen, Vetorechten und originären Entscheidungskompetenzen unterschieden werden.569 Hinzu treten die bereits skizzierten institutionellen Befugnisse im Hinblick auf die neuen Regulierungsinstanzen ACER, ENTSO Strom/Gas sowie der EU-VNBO (→ Rn. 136 ff., 150 ff.). Die sachgerechte Wahrnehmung dieser regulativen Kompetenzen setzt einen entsprechen- 159 den Informationsstand auf Seiten der Kommission voraus.570 Zu diesem Zweck existiert eine Vielzahl informationeller Verschränkungen sowohl mit der nationalen Ebene als auch mit den anderen Regulierungsakteuren auf Unionsebene.571 Die Rechtsakte des Dritten Energiebinnenmarktpakets und des Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets begründen insbesondere eine Vielzahl von Mitteilungs-, Berichts- und Beratungspflichten im Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Kommission.572 Parallele Verpflichtungen treffen auch die Energieagentur ACER,573 die selbst wiederum ua durch den ENTSO Strom/Gas, die EU-VNBO und die nationalen Regulierungsbehörden informatorisch unterstützt wird.574 Zudem holt die Kommission auch von sich aus Stellungnahmen, Empfehlungen etc der anderen Regulierungsakteure ein bzw. ist hierzu ermächtigt.575 Im Einzelfall kann sie die erforderlichen Informationen sogar unmittelbar bei den Wirtschaftsteilnehmern anfordern.576 (1) Normierungsbefugnisse Mit Blick auf die konkreten Regulierungsbefugnisse der Kommission ist der Fokus zu- 160 nächst auf die Zuständigkeit zum Erlass abstrakt-genereller Leitlinien zu richten.577 Hierbei handelt es sich um Durchführungs(rechts-)akte bzw. delegierte Rechtsakte, die der Er567 Nachweis in Fn. 569. 568 S. auch Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (767); Lecheler RdE 2008, 167 (172); Ludwigs DVBl. 2011, 61 (63 f.); Neveling ZNER 2007, 378 (380). 569 Umfassend zum Folgenden schon Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 3 ff. 570 Vgl. insoweit auch Arndt Die Verwaltung 39 (2006), 100 (111); Britz EuR 2006, 46 (52). 571 Zu weiteren Funktionen der informationellen Verflechtung im europäischen Regulierungsverbund bereits Schneider ZWeR 2003, 381 (405). 572 Nachweise zum Dritten Legislativpaket bei Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 4 mit Fn. 21 und 22. 573 Vgl. insoweit vor allem die in Art. 4 ff. der ACER-VO 2019/942 normierten Mitteilungs-, Berichtsund Beratungspflichten der Energieagentur. 574 S. insbesondere Art. 30 Abs. 5 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 8 Abs. 9 Gas-VO 715/2009 sowie Art. 61 Abs. 1 S. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 42 Abs. 1 S. 1 Gas-RL 2009. 575 Exemplarisch Art. 63 Abs. 1 Strom-RL 2019/944 und Art. 43 Abs. 1 Gas-RL 2009/73. 576 Vgl. insbesondere Art. 65 Abs. 2–5 iVm Art. 66 Abs. 2 Strom-VO 2019/943. 577 Eingehend Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 5 ff.; s. auch Haller, S. 62 ff.

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gänzung des sekundärrechtlichen Regelungsrahmens dienen.578 Die Kommission wird ermächtigt, im Wege normativer Steuerung sowohl die Vollzugstätigkeit der nationalen Regulierungsbehörden als auch das Handeln der anderen EU-Regulierungsakteure zu beeinflussen.579 161 Das Dritte Energiebinnenmarktpaket aus dem Jahr 2009 hat zu einer signifikanten Ausdehnung der Leitlinienbefugnisse der Kommission geführt. Für den Stromsektor wurde diese Entwicklung durch das als Teil des Winterpakets angenommene Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket dann nochmals forciert. Potenzielle Regelungsgegenstände bildeten bereits nach dem Dritten Legislativpaket ua die Zertifizierung der Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreiber,580 das Entflechtungsregime,581 die Zusammenarbeit der nationalen Regulierer untereinander und mit ACER,582 die Gewährung von Ausnahmeentscheidungen zugunsten großer neuer Erdgasinfrastrukturen bzw. neuer Stromverbindungsleitungen583 sowie alle wesentlichen in der Strom-/Gas-VO 2009 behandelten Fragen des Strom- und Gashandels584.585 Die neu gefasste Strombinnenmarkt-Verordnung (EU) 2019/943 erweitert den inhaltlichen Anwendungsbereich für den Elektrizitätssektor um Themen wie Tarifstrukturen für Verteilernetze, die Erbringung von nicht frequenzbezogenen Systemdienstleistungen, Regeln für die Laststeuerung, Energiespeicherung und Lasteinschränkung oder die Cybersicherheit586 sowie Redispatching und Countertrading (Art. 61 StromVO 2019/943). 162 Bei der Ausarbeitung und Änderung von Leitlinien ist seit Inkrafttreten des Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets zu differenzieren: Im Gassektor wird die Kommission durch einen Komitologieausschuss unterstützt. Dabei findet noch immer durchgängig das sog Regelungsverfahren mit Kontrolle gem. Art. 5 a Abs. 1–4 des „alten“ Komitologiebeschlusses587 Anwendung.588 Die Kommission ist hier stets zur Befassung von Rat und Parlament verpflichtet. Dies gilt auch dann, wenn der mit Vertretern der Mitgliedstaaten besetzte Regelungskontrollausschuss dem Leitlinienentwurf zugestimmt hat. Rat und Parlament können im weiteren Verlauf des Verfahrens den Erlass bzw. die Änderung der Leitlinien blockieren. Die Neuordnung der delegierten Rechtsetzung und Durchführungsrechtsetzung in Art. 290 und Art. 291 AEUV einerseits sowie der Komitologie-VO 182/2011 v. 16.2.2011589 (als Nachfolgeregelung des Komitologiebeschlusses) andererseits, hatte auf das vor ihrem Inkrafttreten erlassene Dritte Energiebinnenmarktpaket keine Auswirkun578 Näher zur erst mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Unterscheidung zwischen delegierter Rechtsetzung (Art. 290 AEUV) und Durchführungsrechtsetzung (Art. 291 AEUV) vgl. Weiß in Baur/ Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 6. 579 Britz EuR 2006, 46 (61, 65); Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 5. 580 Art. 11 Abs. 10 Strom-/Gas-RL 2009 sowie Art. 3 Abs. 5 Strom-Gas-VO 2009. 581 Art. 14 Abs. 3 Strom-RL 2009/72 bzw. Art. 15 Abs. 3 Gas-RL 2009/73. 582 Art. 38 Abs. 5 Strom-RL 2009/72 bzw. Art. 42 Abs. 5 Gas-RL 2009/73. 583 Art. 36 Abs. 10 Gas-RL 2009/73 bzw. Art. 17 Abs. 9 Strom-VO 2009/72. 584 Art. 18 Abs. 5 Strom-VO 2009/72 bzw. Art. 23 Abs. 2 Gas-VO 2009/73. 585 S. auch die detaillierte Auflistung bei Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 11. 586 Vgl. insoweit auch die Empfehlung (EU) 2019/553 der Kommission vom 3.4.2019 zur Cybersicherheit im Energiesektor, ABl. 2019 L 96/50. 587 Beschluss des Rates 1999/468/EG v. 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl. 1999 L 184/23; aufgehoben durch VO (EU) Nr. 182/2011 des EP und des Rates v. 16.2.2011, ABl. 2011 L 55/13; ausführlich zur Komitologie im Energierecht: Weiß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 12, s. dort auch in Rn. 8, 15, 17, 18 zum Regelungsverfahren mit Kontrolle. 588 Art. 51 Abs. 3 Gas-RL 2009/73; Art. 28 Abs. 2 Gas-VO 715/2009. 589 VO (EU) Nr. 182/2011 des EP und des Rates v. 16.2.2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, ABl. 2011 L 55/13.

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gen.590 Zwar wurden in Art. 13 VO 182/2011 Übergangsbestimmungen zur Anpassung bestehender Basisrechtsakte getroffen. Bezugnahmen in bestehenden Vorschriften auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle nach Art. 5 a des „alten“ Komitologiebeschlusses blieben hiervon aber gerade ausgenommen.591 Im Stromsektor wurden die Regelungen zur Ausarbeitung und Änderung von Leitlinien 163 im Rahmen des Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets grundlegend verändert. Das Kapitel VII (Art. 58–62) der neu gefassten Strombinnenmarkt-Verordnung 2019/943 enthält neben einer Erweiterung des inhaltlichen Anwendungsbereichs (→ Rn. 161) auch Klarstellungen im Hinblick auf Rechtsnatur und Verfahren. Zum einen hebt Art. 61 Abs. 1 Strom-VO 2019/943 nunmehr explizit den bereits zuvor (auch im Gassektor) anerkannten bindenden Charakter der Leitlinien hervor.592 Zum anderen regelt Art. 61 Abs. 2 StromVO 2019/943, dass die Leitlinien in den zentralen, auch zur Festlegung von Netzkodizes geeigneten Bereichen nach Art. 59 Abs. 1 und Abs. 2 Strom-VO 2019/943 künftig in Abhängigkeit von der jeweiligen Befugnis als Durchführungsrechtsakte iSd Art. 291 AEUV oder als delegierte Rechtsakte iSd Art. 290 AEUV erlassen werden (→ Rn. 104).593 Die Annahme entsprechender Durchführungsrechtsakte erfolgt nach dem in Art. 67 normierten Ausschussverfahren. Einschlägig ist gem. Art. 61 Abs. 2 iVm Art. 59 Abs. 1 S. 2 StromVO 2019/943 iVm Art. 67 Abs. 2 Strom-VO 2019/943 das Prüfverfahren nach Art. 5 der VO 182/2011.594 Kennzeichnend hierfür sind substanzielle Einflussnahmerechte des aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzten Ausschusses.595 Bei einer ablehnenden Stellungnahme des Ausschusses erlässt die Kommission den Durchführungsrechtsakt grundsätzlich nicht (zu Ausnahmefällen s. Art. 7 VO). Sie kann dem Ausschuss aber binnen zwei Monaten einen geänderten Entwurf unterbreiten oder den abgelehnten Entwurf innerhalb eines Monats einem sog Berufungsausschuss zur weiteren Beratung vorlegen (Art. 5 Abs. 3 VO). Der Berufungsausschuss kann den Erlass des Rechtsakts durch eine ablehnende Stellungnahme endgültig verhindern. Die Annahme delegierter Rechtsakte richtet sich gem. Art. 61 Abs. 2 iVm Art. 59 Abs. 2 Strom-VO 2019/943 nach der Regelung über die Ausübung der übertragenen Befugnis in Art. 68 Strom-VO 2019/943. Nach dessen Absatz 3 kann die Befugnisübertragung vom Europäischen Parlament oder vom Rat jederzeit widerrufen werden (s. auch Art. 290 Abs. 2 S. 1 lit. a AEUV). Des Weiteren wird Parlament und Rat in Absatz 6 ein befristetes Einspruchsrecht eingeräumt (vgl. auch Art. 290 Abs. 2 S. 1 lit b AEUV). In Teilen des Schrifttums ist die Leitlinienbefugnis der Kommission schon nach Maßgabe 164 des Dritten Legislativpakets auf scharfe Ablehnung gestoßen.596 Die Kritik zielt vor allem auf die „nachgerade inflationäre“ Ausweitung der Leitlinien-Ermächtigungen.597 Die 590 Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 46 mit Fn. 217. 591 Vgl. Art. 12 S. 2 der VO 182/2011, wo es heißt, dass „Artikel 5 a des Beschlusses 1999/468/EG (…) bei bestehenden Basisrechtsakten, in denen darauf verwiesen wird, weiterhin seine Wirkung [behält]“; aus der Lit.: Daiber EuR 2012, 240 (241); spezifisch zum Energiesektor Wellerdt, S. 187 ff. 592 Näher zur Bindungswirkung der Leitlinien vor Erlass des Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets noch Rn. 155 der Voraufl.; s. auch Haller, S. 167 ff.; Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 9 ff.; J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 71; Schreiber N&R 2009, 154 (158); Wellerdt, S. 191 ff. 593 Daneben finden sich in Art. 61 Abs. 3 bis 5 Strom-VO 2019/943 auch noch ergänzende Ermächtigungen in weiteren, spezifisch umrissenen Bereichen. 594 Näher hierzu Weiß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 12 Rn. 16. 595 Zur Zusammensetzung vgl. Art. 3 Abs. 2 S. 1 bzw. (für den Berufungsausschuss) Abs. 7 UAbs. 5 S. 1 VO 182/2011. Die Kommission führt den Vorsitz (Art. 3 Abs. 2 S. 2; s. auch Abs. 7 UAbs. 4 für den Berufungsausschuss), nimmt bei den Abstimmungen jedoch nicht teil (Art. 3 Abs. 2 S. 3; für den Berufungsausschuss fehlt indes eine entsprechende Regelung in Abs. 7). 596 Näher Kaiser, S. 153 ff. mwN; s. auch Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 12 ff. 597 Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (768); s. auch Kahl Der Staat 50 (2011), 353 (374, 381).

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§ 5 Energierecht Kommission werde hierdurch zum praktisch entscheidenden Rechtsetzungsorgan. Hieraus resultiere eine rechtsstaatwidrige – das institutionelle Gleichgewicht empfindlich beeinträchtigende – Verteilung der Rechtsetzungsverantwortung.598 Aufgeworfen wird damit die allgemeine Frage nach den Grenzen der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission.599 Hierzu hat der EuGH schon im Jahr 1970 in der Rs. Köster festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber verpflichtet ist, die „wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie“ selbst zu bestimmen.600 Eine Konkretisierung und Verschärfung hat diese europarechtliche „Wesentlichkeitstheorie“601 in der Raucharomen-Entscheidung des Jahres 2005 erfahren.602 Hier forderte der Gerichtshof explizit, dass die wesentlichen Elemente im Basisrechtsakt selbst festgelegt und die Entscheidungsbefugnisse der Kommission genau bestimmt und eingegrenzt werden.603 Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bestimmt Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV nunmehr für die delegierten Rechtsakte auch explizit, dass „[d]ie „wesentlichen Aspekte eines Bereichs“ dem Basisrechtsakt vorbehalten bleiben und „Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich [festgelegt werden]“.604 Der EuGH hat diese Anforderungen jüngst in der Rechtssache Dyson/Kommission zur Kennzeichnungs-Richtlinie 2010/30605 dahin gehend konkretisiert, dass wesentliche Aspekte einer Grundregelung diejenigen sind, „deren Erlass politische Entscheidungen erfordert, die in die eigene Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers fallen“.606 Ergänzend betont der Gerichtshof, dass sich die Bestimmung der Aspekte einer Materie, die als wesentlich einzustufen sind, „nach objektiven Gesichtspunkten richten [muss], die Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein können“, wobei die Merkmale und Besonderheiten des einschlägigen Sachgebiets zu berücksichtigen seien.607 Beurteilt man die Leitlinienbefugnisse der Kommission anhand dieser noch immer wenig trennscharfen Kriterien, so sprechen vor allem zwei Erwägungen dafür, dass die Grenzen der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen bzw. der Übertragung von Durchführungsbefugnissen gewahrt sind.608 Zum einen wird dem Unionsgesetzgeber in Bereichen, die wie die Energieregulierung durch komplexe technische Besonderheiten gekennzeichnet sind, vom Gerichtshof ein Ermessensspielraum hinsichtlich der am besten geeigneten Angleichungstechnik zugestanden.609 Zum anderen haben das Dritte Legislativpaket und das 598 Grundlegend Lecheler DVBl. 2008, 873 (878 ff.); ders. RdE 2008, 167 (169); s. auch Gärditz AöR 135 (2010), 251 (275 ff., 285); Hofmann, S. 152 f.; Kahl in FS für Spellenberg, S. 697 (711 f.). 599 Hierzu bereits Ludwigs DVBl. 2011, 61 (66 f.). 600 EuGH 17.12.1970 – Rs. 25/70, Slg 1970, 1161 Rn. 6 – Köster. 601 Zur Rückführung auf das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip etwa Streinz/Gellermann EUV/AEUV AEUV Art. 290 Rn. 7. 602 Vgl. aus jüngerer Zeit auch EuGH 5.9.2012 – C-355/10, ECLI:EU:C:2012:516 Rn. 77 – Parlament/ Rat. 603 EuGH 6.12.2005 – C-66/04, Slg 2005, I-10553 Rn. 48 f. – Raucharomen; hierzu: Ohler JZ 2006, 359 ff.; s. ferner EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04, Slg 2005, I-6451 Rn. 90 – Alliance for Natural Health. 604 Zu Art. 291 AEUV vgl. von der Groeben/Schwarze/Hatje/F. Schmidt Unionsrecht AEUV Art. 291 Rn. 14, mit dem zutreffenden Hinweis, dass Vollzugsakte naturgemäß die wesentlichen Elemente des Basisrechtsakts nicht beeinflussen können. 605 RL 2010/30/EU des EP und des Rates v. 19.5.2010 über die Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen, ABl. 2010 L 153/1; aufgehoben durch VO (EU) 2017/1369 des EP und des Rates v. 4.7.2017, ABl. 2017 L 1908/1. 606 EuGH 11.5.2017 – C-44/16 P, ECLI:EU:C:2017:357 Rn. 61 – Dyson/Kommission; nachfolgend EuG 8.11.2018 – T-544/13 RENV, ECLI:EU:T:2018:761 – Dyson/Kommission. 607 EuGH 11.5.2017 – C-44/16 P, ECLI:EU:C:2017:357 Rn. 62 – Dyson/Kommission. 608 Ausführlich Ludwigs DVBl. 2011, 61 (67). 609 EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 102 f. – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat; EuGH 6.12.2005 – C-66/04, Slg 2005, I-10553 Rn. 45 f., 52 – Raucharomen; EuGH 15.7.2004 – verb. Rs. C-37/02 und C-38/02, Slg 2004, I-6911 Rn. 55 – Di Lenardo.

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B. Gegenstandsbereich

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Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket zwar zu einer signifikanten Erweiterung der Leitlinienbefugnisse der Kommission geführt.610 Dabei werden aber jeweils sowohl Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung als auch die zentralen Grundsätze und Kriterien konkret umschrieben. Insbesondere haben Parlament und Rat im Gesetzgebungsverfahren zur Neufassung der Strombinnenmarkt-Verordnung 2019/943 die Leitlinienbefugnisse der EU-Kommission nach Art. 61 Abs. 2 iVm Art. 59 Abs. 1 und Abs. 2 Strom-VO 2019/943 gegenüber dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag611 nochmals deutlich stärker konturiert. Spezifisch für die delegierten Rechtakte nach Art. 59 Abs. 2 wird in Art. 68 Abs. 2 Strom-VO 2019/943 auch die Dauer der Befugnisübertragung (31.12.2028) fixiert. (2) Vetorechte Eine zweite Form der Einwirkung auf die Vollzugstätigkeit der nationalen Regulierungs- 165 behörden (sowie im Einzelfall auch der Energieagentur ACER) bilden die Veto- bzw. Zustimmungsrechte der EU-Kommission in Bezug auf bestimmte Einzelmaßnahmen.612 Hiermit wird zum einen verhindert, dass nationale Ausnahmeentscheidungen oder Schutzmaßnahmen zum „Einfallstor“ für Einschränkungen des Energiebinnenmarktes avancieren. Zum anderen zielen die Vetorechte auf eine effektuierte Durchsetzung der von der Kommission erlassenen Leitlinien sowie seit dem Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpaket auch der durch die Kommission im Stromsektor angenommenen Netzkodizes.613 Im Näheren handelt es sich dabei ua um die Regelungen über:614 166 n Ausnahmen von der Pflicht zur Gewährung des Netzzugangs Dritter bei ernsthaften wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten aufgrund von Gaslieferverträgen mit unbedingter Zahlungsverpflichtung,615 n Ausnahmen vom Netzzugangs-, Netzentgelt- und Entflechtungsregime zugunsten großer neuer (bzw. erweiterter) Erdgasinfrastrukturen,616 Ausnahmen von der Zweckbindung der Einnahmen aus dem Engpassmanagement son wie vom Netzzugangs-, Netzentgelt- und Entflechtungsregime für neue Gleichstromverbindungsleitungen,617 n die Benennung eines unabhängigen Netzbetreibers (ISO),618 sowie n die Einhaltung der auf Grundlage der Binnenmarktrichtlinien und -verordnungen erlassenen (Kommissions-)Leitlinien.619 Eine besonders filigrane Regelung hat vor allem das letztgenannte, in Art. 63 Strom- 167 RL 2019/944 bzw. Art. 43 Gas-RL 2009/73 geregelte Verfahren zur Einhaltung der auf Basis der Binnenmarktrichtlinien und -verordnungen erlassenen (Kommissions-)Leitlinien erfahren.620 Mit dem Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpaket wurde es für den Stromsektor nunmehr auch auf die Einhaltung der Netzkodizes erstreckt. Der Kommission wird hier610 Vgl. zu Letzterem auch die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahren erhobene Subsidiaritätsrüge des Deutschen Bundestags v. 30.3.2017 (Fn. 537). 611 COM(2016) 861 final/2. 612 Schneider ZWeR 2003, 381 (407). 613 Vgl. auch die wertende Einordnung bei Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 31 f. 614 Für eine ausführliche Darstellung (zum Dritten Legislativpaket) vgl. Ludwigs in Baur/Salje/SchmidtPreuß, Kap. 31 Rn. 15 ff., 21 ff. 615 Art. 48 Abs. 2 Gas-RL 2009/73. 616 Art. 36 Abs. 9 Gas-RL 2009/73. 617 Art. 59 Abs. 1 Strom-VO 2019/943. 618 Art. 44 Abs. 1 S. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 1 S. 2 Gas-RL 2009/73. 619 Art. 63 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 43 Gas-RL 2009/73. 620 Vgl. bereits Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 25 f.; s. auch Stöger ZÖR 2010 247 (263 f.); Kühling/Hermeier IR 2008, 98 (99 f.).

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§ 5 Energierecht mit eine Art Vetorecht gegenüber „leitlinienwidrigen“ bzw. – im Stromsektor – mit den Netzkodizes kollidierenden Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden eingeräumt. Dabei gliedert sich das Verfahren in eine Vorprüfungsphase (Abs. 1–5) und die weitere Prüfung im Rahmen des eigentlichen Kontrollverfahrens (Abs. 6–8). Die Vorprüfungsphase kennt drei Verlaufswege.621 Im sog Autoinitiativverfahren kann die Kommission aus eigener Initiative binnen drei Monaten nach Erlass der nationalen Regulierungsentscheidung ein Kontrollverfahren einleiten. Das sog Anrufungsverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass eine andere nationale Regulierungsbehörde innerhalb von zwei Monaten seit der fraglichen regulierungsbehördlichen Entscheidung die Kommission anruft. Diese hat dann binnen weiterer zwei Monate über die Einleitung eines Kontrollverfahrens zu befinden. Im sog Agenturverfahren kann ACER von der Kommission oder einer anderen nationalen Regulierungsbehörde um eine Stellungnahme ersucht werden, die dann innerhalb von drei Monaten vorzulegen ist. Im Anschluss hieran hat die für die fragliche Entscheidung verantwortliche Regulierungsbehörde vier Monate Zeit, um der Stellungnahme von ACER nachzukommen. Anderenfalls prüft die Kommission binnen zweier weiterer Monate nach Inkenntnissetzung durch die Energieagentur, ob sie das Kontrollverfahren einleitet. Hat die Kommission auf einem der drei Verlaufswege infolge „erhebliche[r] Zweifel“ (Abs. 5 S. 1) beschlossen, den Fall weiter zu prüfen, erlässt sie innerhalb von vier weiteren Monaten eine endgültige Entscheidung (Abs. 6). Sofern der betreffende nationale Regulierer darin zum Widerruf seiner Entscheidung aufgefordert wird, muss dieser dem Verlangen binnen zwei Monaten nachkommen und die Kommission davon in Kenntnis setzen (Abs. 8). (3) Originäre Entscheidungs-/Beschlusskompetenzen

168 Das Instrumentarium des europäischen Energie-Regulierungsverbunds umfasst schließlich auch punktuell originäre Entscheidungs-/Beschlusskompetenzen im Einzelfall.622 So entscheidet die Kommission nach Art. 66 Abs. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 49 Abs. 5 Gas-RL 2009623 auf Antrag der Mitgliedstaaten über die Gewährung von Ausnahmen von den Marktöffnungsvorschriften für kleine isolierte Netze (Strom) bzw. entstehende und isolierte Märkte (Gas).624 Über die sonstigen Arten von Ausnahmen (zB zugunsten neuer Infrastrukturen), entscheidet dagegen der Mitgliedstaat bzw. die nationale Regulierungsbehörde grundsätzlich selbst. Auch hier wird die Kommission freilich – über die bereits dargelegten Vetorechte – in den Entscheidungsprozess involviert. 169 Zu den besonders kontrovers diskutierten Fragen des Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets zählte die neue Regelung über die Abgrenzung bzw. Überprüfung von Gebotszonen.625 Bei einer Strompreiszone handelt es sich auf europäischer Ebene um einen gemeinsamen Markt, auf dem ein einheitlicher Großhandelspreis für ein Stromprodukt gilt.626 Der ursprüngliche Vorschlag für eine Neufassung der Strombinnenmarkt-Verordnung sah noch die Etablierung einer Ermächtigungsgrundlage vor, die es allein der EU-Kommission erlaubt hätte, einen Beschluss über die Änderung oder Beibehaltung der Gebotszonenkonfiguration zu fassen.627 Hiergegen wurde aufgrund der Kompetenzverlagerung gegenüber der bisherigen Regelung in der sog CACM‑Verordnung (die eine Einigung der beteiligten

621 622 623 624 625 626 627

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Näher Kühling/Hermeier IR 2008, 98 (99 f.). S. schon (zum Dritten Legislativpaket) Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 31 ff. S. hierzu auch Art. 30 S. 1 lit. a und S. 2 Gas-VO 715/2009. Britz EuR 2006, 46 (61 f.). Näher Meyer/Sène RdE 2019, 278 (281); Pause ZUR 2019, 387 (394). Scholtka/Martin ER 2017, 240 (244). COM(2016) 861 final (vgl. dort Art. 13 Abs. 4, 5 S. 2, Abs. 6 Strom-VO-E).

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Mitgliedstaaten bzw. ihrer Regulierungsbehörden vorsah),628 scharfe Kritik geäußert.629 So monierte etwa der Deutsche Bundestag im Rahmen seiner Subsidiaritätsrüge vom 30.3.2017,630 dass es beim Gebotszonenzuschnitt letztlich darum gehe, ob innerhalb eines Mitgliedstaats einheitliche Stromgroßhandelspreise bestehen sollen. Hierbei handele es sich um eine Frage der wirtschaftlichen und sozialen Einheit, über die der betroffene Mitgliedstaat selbst zu befinden habe. Letztlich einigten sich Parlament, Rat und Kommission dann im Trilogverfahren auf ein erheblich modifiziertes und auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiariät (Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 EUV) entschärftes Verfahren der Gebotszonenkonfiguration. Danach ist ein Entscheidungsrecht der Kommission als „letztes Mittel“ nur dann vorgesehen, wenn die betreffenden Mitgliedstaaten nicht zu einem einstimmigen Beschluss gelangen konnten (vgl. Art. 14 Abs. 8 S. 5 bzw. Art. 15 Abs. 5 UAbs. 2 S. 2 Strom-VO 2019/943).631 (4) Bewertung Resümierend bleibt festzuhalten, dass es der Kommission durch das Zusammenspiel qua- 170 si-legislativer und exekutiver Steuerungselemente in weitem Umfang ermöglicht wird, ihre Vorstellungen von einem Energiebinnenmarkt umzusetzen.632 Insbesondere verfügt sie über vielfältige, jüngst im Stromsektor durch das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket weiter forcierte Einwirkungsmöglichkeiten auf die Vollzugstätigkeit der nationalen Regulierungsbehörden. Inwieweit sich die Kommission sogar auf dem Weg zu einer Art „Superregulierungsbehörde“ befindet, lässt sich noch nicht abschließend beantworten. Rechtliche Grenzen ergeben sich hier freilich aus den schon heute stark strapazierten primärrechtlichen Grundsätzen des institutionellen Gleichgewichts und der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie.633 dd) Rolle der nationalen Regulierungsbehörden Das dritte Charakteristikum der europäischen Verbundverwaltung im Energiesektor bil- 171 det die durch das Dritte Energiebinnenmarktpaket modifizierte Rolle der nationalen Regulierungsbehörden.634 Dabei schließt es die Ambivalenz der Regelungen aus, von einer Stärkung oder Schwächung zu sprechen. Einerseits bedeutet das (partielle) Einrücken der Kommission in eine Aufsichtsstellung gegenüber den nationalen Regulierungsbehörden zugleich eine Schwächung der dezentralen Ebene. In die gleiche Richtung weist auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, grundsätzlich nur noch eine einzige Regulierungsbe-

628 Vgl. Art. 32 Abs. 4 CACM‑VO 2015/1222 der Kommission v. 24.7.2015 zur Festlegung einer Leitlinie für die Kapazitätsvergabe und das Engpassmanagement, ABl. 2015 L 197/24. Zur aktuellen Diskussion um die zum 1.10.2018 erfolgte Trennung des deutsch-österreichischen Marktgebiets und die hiergegen aus Österreich angekündigten Klagen vgl. Schalko, Klage gegen die Trennung der deutsch-österreichischen Strompreiszone, abrufbar unter http://www.elektro.at/10.1.2019-Klage-gegen-die-Trennu ng-der-deutsch-undoumlsterreichischen-Strompreiszone.html (zuletzt abgerufen am 30.6.2019); näher zur Neuordnung von Strompeiszonen Mussaeus/Sänger/Linden RdE 2017, 172. Zur Diskussion um die Unionsrechtskonformität des zum 23.12.2017 auf nationaler Ebene eingeführten § 3 a StromNZV, wonach es im Stromhandel eine einheitliche Gebotszone für das gesamte Bundesgebiet geben soll, vgl. König/Baumgart EuZW 2018, 491. 629 Vgl. aus der Lit. insbes. Groebel in Ludwigs, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit, S. 33 (37 f., 43). 630 Nachweis in Fn. 537; näher hierzu Groebel in FS für Schmidt-Preuß, S. 605 (629 f.), dort auch zu Subsidiaritätsrügen von Parlamenten anderer Mitgliedstaaten. 631 Näher Kahles/Pause ER 2019, 47 (52). 632 Weiß, S. 149; s. auch Lecheler RdE 2008, 167 (171). 633 Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 42 f. 634 Näher bereits Ludwigs DVBl. 2011, 61 (64).

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hörde zu benennen.635 Zwar werden explizit Ausnahmen zugunsten der regionalen Ebene ermöglicht, womit zB in Deutschland die Existenz der Landesregulierungsbehörden (s. § 54 EnWG) gesichert bleibt. Voraussetzung ist aber, dass für die Vertretung und als Ansprechpartner auf Unionsebene ein einziger ranghoher Vertreter benannt wird.636 Hierdurch kommt es zu einer stärkeren Einbindung der nationalen Regulierer in die europäische Verbundverwaltung. 172 Andererseits ist aber auch eine sukzessive Stärkung der nationalen Regulierungsbehörden unverkennbar. Hierfür bestehen zwei Anknüpfungspunkte.637 Erstens werden den Regulierern immer neue Aufgaben und Befugnisse zugewiesen.638 Vor allem aber ist seit dem Dritten Legislativpaket auch die Auskopplung der Regulierungsbehörden aus der Verwaltungshierarchie der Mitgliedstaaten garantiert639 (für den Telekommunikationssektor vgl. zurückhaltender Kühling → § 4 Rn. 71). Die Binnenmarktrichtlinien fordern explizit, dass die nationale Regulierungsbehörde „unabhängig von allen politischen Stellen selbstständige Entscheidungen treffen kann (…)“.640 Ihr Personal und Management darf bei der Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben „keine direkten Weisungen von Regierungsstellen oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen einhol[en] oder entgegen[nehmen].“641 Einen weiteren Beleg für das – im einzelnen umstrittene – Verbot sowohl einer Rechts- als auch einer Fachaufsicht liefert die in Erwägungsgrund Nr. 80 StromRL 2019/944 (zuvor bereits Erwägungsgrund Nr. 34 Strom-RL 2009/72) adressierte völlige Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörde von anderen öffentlichen oder privaten Stellen.642 173 Im Schrifttum ist gerade die in den Binnenmarktrichtlinien verankerte politische Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden auf zum Teil scharfe Ablehnung gestoßen. Die Kritik mag auch der – unausgesprochene – Grund dafür sein, weshalb der Bundesgesetzgeber bislang auf eine explizite Verankerung der (Weisungs-)Unabhängigkeit verzichtet hat. Stattdessen setzt § 61 EnWG weiterhin ein mit den Richtlinienvorgaben nicht in Einklang zu bringendes,643 ministerielles Weisungsrecht voraus. Hierin liegt ein Umset-

635 Vgl. Art. 57 Abs. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 39 Abs. 1 Gas-RL; näher Heffron in Cameron/ Heffron, 3.11 ff. Zur hieraus resultierenden Unionsrechtswidrigkeit einer neben die regulierungsbehördliche Aufsicht tretenden zivilgerichtlichen Billigkeitskontrolle der Netzentgelte gem. § 315 BGB zuletzt Ludwigs in FS für Büdenbender, S. 533 (542 ff.), unter Rekurs auf die Übertragbarkeit der EuGH-Judikatur zum Eisenbahnregulierungsrecht (EuGH 9.11.2017 – C-489/15, ECLI:EU:C:2017:834 – CTL Logistics); in diese Richtung iErg auch Berg RdE 2018, 184; Fricke N&R 2018, 66. 636 S. Art. 57 Abs. 1 und 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 39 Abs. 1 und 2 Gas-RL 2009/73. 637 Ludwigs DVBl. 2011, 61 (64). 638 S. Art. 59 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 41 Gas-RL 2009/73. 639 Ebenso Ruffert in FS für Scheuing, S. 399 (407 f.); s. auch Classen, ibid., S. 293 (297 f.); Gärditz AöR 135 (2010), 251, 275; Hancher/Salerno in Biondi/Eeckhout/Ripley, S. 367 (377 f.); Stöger ZÖR 2010, 247 (259); anders wohl noch ders./Germelmann EuZW 2009,763 (768); s. auch J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 70. 640 Vgl. Art. 57 Abs. 5 UAbs. 1 lit. a Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 39 Abs. 5 UAbs. 1 lit. a GasRL 2009/73. 641 S. Art. 57 Abs. 4 S. 2 lit. b ii) Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 39 Abs. 4 S. 2 lit. b ii) Gas-RL 2009/73; zu den Parallelen in den Netzsektoren Telekommunikation und Eisenbahnen vgl. Ludwigs in FS SchmidtPreuß, S. 689 (691 ff.): „Unionsprinzip der Weisungsunabhängigkeit“. 642 So schon Ludwigs in: Säcker/Schmidt-Preuß, S. 251 (254 f.); zwischen einer weiter zulässigen Rechtsaufsicht und einer unionsrechtswidrigen Fachaufsicht differenzierend Ruffert International Journal of Constitutional Law 11 (2013), 925 (935); vermittelnd Gundel EWS 2017, 301 (306 f.), der annimmt, dass der Regulierungsbehörde bei rechtsaufsichtlichen Weisungen eine gerichtliche Überprüfung nach dem Muster von § 4 Abs. 3 a des Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes (BEVVG) ermöglicht werden müsse. 643 Ebenso Dechent NVwZ 2015, 767 (770); Lee, S. 217.

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zungsdefizit644, das im Lichte einer rein objektiven unmittelbaren Wirkung der hinreichend genauen und unbedingten Richtlinienbestimmungen zu korrigieren ist.645 Im Fokus der Diskussion steht das Spannungsverhältnis zum nationalen Demokratieprinzip.646 Dieses knüpft die Ausübung von Hoheitsgewalt im Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung an eine personelle und eine sachlich-inhaltliche Legitimation:647 Zum einen muss sich die Bestellung der Amtsträger auf das Staatsvolk zurückführen lassen. Zum anderen müssen die Amtsträger im Auftrag und nach Weisung der Regierung handeln, um dieser die Wahrnehmung ihrer Sachverantwortung gegenüber Volk und Parlament zu ermöglichen. Letzteres wird durch die europarechtlich geforderte Weisungsfreiheit der nationalen Regulierungsbehörden ausgeschlossen. Die Folge ist ein Defizit an sachlich-inhaltlicher Legitimation.648 Nach zum Teil vertretener Auffassung liegt hierin sowohl ein Verstoß gegen das – integrationsfeste (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 3 iVm Art. 79 Abs. 3 GG)649 – nationale Demokratieprinzip als auch eine gleichsam „akzessorische“ Verletzung des unionsrechtlichen Gebots der Achtung der nationalen Identität (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV nF/Art. 6 Abs. 3 EUV aF).650 Gegen diese doppelte Unvereinbarkeitsthese lässt sich aber einwenden, dass das festge- 174 stellte demokratische Defizit legitimiert werden kann.651 Zwar muss eine externe Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse652 ua im Hinblick darauf ausscheiden, dass sich die theoretische Weisungsgebundenheit der BNetzA (früher: RegTP) in den über zehn Jahren ihres Bestehen nicht als Hindernis für die Effektivität und tatsächliche Unabhängigkeit der Regulierung erwiesen hat.653 Denkbar ist aber eine interne Legitimation aus dem Demokratieprinzip selbst.654 Maßstabsbildend hierfür ist die Judikatur des BVerfG, wonach nicht die Art der demokratischen Legitimation entscheidend ist, sondern deren Effektivi-

644 In Kontrast hierzu steht die korrekte Umsetzung auf Länderebene für die im Energiesektor eingerichteten Landesregulierungsbehörden (vgl. § 54 Abs. 1 EnWG); vgl. zur Regulierungskammer des Freistaats Bayern: Art. 1 b Abs. 2 Nr. 1 ZustWiG (BayGVBl. 2012, 653); umfassende Nachweise bei Gundel EWS 2017, 301 (305 mit Fn. 66); s. auch bereits Ludwigs in Säcker/Schmidt-Preuß, S. 251 (259 f.). 645 Zu dieser Figur Streinz/Schroeder EUV/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 108 f. mwN; aus der Rspr. EuGH 11.8.1995 – C-431/92, Slg 1995, I-2189 Rn. 24 ff. – Großkrotzenburg. 646 Kritisch insbesondere Kahl in FS für Spellenberg, S. 697 (711 f.); ders. Der Staat 50 (2011), 353, (381 mit Fn. 197); ausführlich Gärditz AöR 135 (2010), 251 (275 ff., 285); ders. in Löwer, Energiebinnenmarkt, S. 23 (47 ff.); s. auch Durner VVDStRL 70 (2011), 398 (436 ff.). 647 BVerfG 24.5.1995 – 2BvF 1/92, E 93, 37 (67 f.) – Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein; BVerfG 5.12.2002 – 2 BvL 5/98, E 107, 59 (87 f.) – Lippeverband; zum maßgeblichen Input-Ansatz in Abgrenzung zum Konzept der Output-Legitimation: Züll, 86 f., 116 ff. 648 Ludwigs Die Verwaltung 44 (2011), 41 (46 f.); ders. DVBl. 2011, 61 (67 f.). 649 Vgl. aus der Rspr.: BVerfG 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, E 89, 155, 182 – Maastricht; BVerfG 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09, E 123, 267 (343) – Lissabon; aus der Lit. statt vieler: Gärditz in Löwer, Energiebinnenmarkt, S. 23 (50), Kahl in FS für Spellenberg, S. 697 (711); vgl. aber auch Ruffert in FS für Scheuing, S. 399 (413 f.), wonach sich das ministerielle Weisungsrecht den abgeschirmten Sachbereichen des Art. 79 Abs. 3 GG „kaum zuordnen [lässt]“. 650 Gärditz in Löwer, Energiebinnenmarkt, S. 23 (52 ff.); Kahl in FS für Spellenberg, S. 697 (711 f.). 651 Eingehend zum Folgenden Ludwigs Die Verwaltung 44 (2011), 41 (42 ff., 46 ff.); ders. DVBl. 2011, 61 (68 f.); die Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes bejahend auch: Ruffert in FS für Scheuing, S. 399 (410 ff.); ferner Classen, ibid., S. 293 (297 f., 300 ff.); Holznagel/Schumacher Jura 2012, 501 (502 ff.). 652 Zu diesem Rechtfertigungsmaßstab: Böckenförde in Isensee/Kirchhof HStR II § 24 Rn. 24; kritisch Classen, S. 8, 9 ff. 653 Ludwigs DVBl. 2011, 61 (67 f.). 654 Ausführlich zum Folgenden Ludwigs Die Verwaltung 44 (2011), 41 (49 ff.); ähnlich Kersten DVBl. 2011, 585 (590 f.); kritisch Züll, 2014, S. 82 ff.

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tät. Gefordert wird allein die Verwirklichung eines „bestimmten Legitimationsniveaus“.655 Dies zugrunde gelegt ist zunächst an eine Kompensation des Mangels an sachlich-inhaltlicher Legitimation durch eine gesteigerte personelle Legitimation zu denken. Mit Blick auf die BNetzA ist insoweit hervorzuheben, dass ihr Präsident und die zwei Vizepräsidenten unmittelbar von der Bundesregierung als Kollegialorgan benannt und vom Bundespräsidenten ernannt werden (§ 3 Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 BNetzAG).656 Durch dieses Zusammenwirken zweier oberster Staatsorgane erfährt die (verkürzte) Legitimationskette eine besondere Tragfähigkeit.657 175 Diese gesteigerte personelle Legitimation dürfte als solche aber noch nicht genügen, um das signifikante Defizit an sachlich-inhaltlicher Legitimation vollständig zu kompensieren. Zu fordern ist vielmehr die Schaffung eines zusätzlichen sachlich-inhaltlichen Legitimationsstrangs. Der Anknüpfungspunkt hierfür könnte in einer verstärkten parlamentarischen Kontrolle liegen. Diese ließe sich konkret dadurch verwirklichen, dass einem Bundestagsausschuss die begleitende Kontrolle der BNetzA übertragen wird.658 176 Ein solches Vorgehen stünde auch im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben. So wird die Zulässigkeit einer parlamentarischen Kontrolle in den Strom- und Gasrichtlinien explizit unterstrichen.659 Zudem hat der EuGH in seiner Entscheidung zur Datenschutzaufsicht parlamentarische Einflussnahmen gegenüber politisch unabhängigen öffentlichen Stellen im Grundsatz gebilligt.660 Schließlich betonte auch die Kommission in einer „Interpretative Note“ (→ Rn. 105), dass die parlamentarische Kontrolle eine gesteigerte Verantwortlichkeit der nationalen Regulierungsbehörden gewährleisten könnte.661 177 Aus verfassungsrechtlicher Perspektive gilt es freilich zu beachten, dass den Einwirkungsrechten des Parlaments im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung Grenzen gesetzt sind. Ausgeschlossen ist vor allem die Etablierung eines legislativen Vetos gegenüber regulierungsbehördlichen Einzelentscheidungen. Hiermit wäre ein unzulässiger Eingriff in den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung verbunden.662 Ungeachtet dieser relativen Schwäche einer parlamentarischen Kontrolle würde der Mangel an sachlich-inhaltlicher Legitimation durch sie aber immerhin teilweise kompensiert. Im Zusammenspiel mit der erhöhten personellen Legitimation erscheint das vom BVerfG geforderte „bestimmte Legitimationsniveau“ insgesamt erreichbar.663

655 St. Rspr.; vgl. zB BVerfG 31.10.1990 – 2 BvF 3/89, E 83, 60 (72) – Ausländerwahlrecht II; BVerfG 5.12.2002 – 2 BvL 5/98, E 107, 59 (87) – Lippeverband; BVerfG 18.1.2012 – 2 BvR 133/10, E 130, 76 (124) – Vitos Haina. 656 Gesetz über die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen v. 7.7.2005, BGBl. 1970 I 2009; zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 17.7.2017, BGBl. I 2503. 657 Oertel, S. 322 ff., 328 f.; s. aber auch Schmidt-Aßmann AöR 116 (1991), 329 (360). 658 Näher Ludwigs Die Verwaltung 44 (2011), 41 (52 ff.); in diese Richtung auch Ruffert in FS für Scheuing, S. 399 (412). 659 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 80 S. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Erwägungsgrund Nr. 30 S. 2 GasRL 2009/73. 660 EuGH 9.3.2010 – C-518/07, Slg 2010, I-1885 Rn. 38 ff. – Kommission/Deutschland; vgl. hierzu auch Classen in FS für Scheuing, S. 293 (301 f.); Ruffert, ibid., S. 399 (408). 661 European Commission, Commission Staff Working Paper, Notes for the implementation of the Electricity Directive 2009/72/EC and the Gas Directive 2009/73/EC, The Regulatory Authorities, 22.1.2010, S. 20. 662 Ludwigs Die Verwaltung 44 (2011), 41 (54 mwN); ders. DVBl. 2011, 61 (69). 663 Ludwigs Die Verwaltung 44 (2011), 41 (54 f.); ders. DVBl. 2011, 61 (69).

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b) Netzzugangs- und Netzentgeltregime Das materielle Herzstück der Regulierung im Energiesektor bildet das Netzzugangs- und 178 Netzentgeltregime664 (für den Telekommunikationssektor vgl. Kühling → § 4 Rn. 93 ff.). In konzeptioneller Hinsicht ist dabei auf das Stufenverhältnis hinzuweisen, in dem die Entgeltregulierung zur logisch vorgelagerten Zugangsregulierung steht. Ein regulatorischer Eingriff, der den Zugang Dritter zum Netz sicherstellt, ist zur Etablierung wirksamen Wettbewerbs auf dem nachgelagerten (Endkunden-)Markt notwendig, aber nicht hinreichend. Um zu gewährleisten, dass den Strom- und Gaslieferanten ein diskriminierungsfreier Netzzugang zu Wettbewerbspreisen gewährt wird, bedarf es vielmehr auch einer gezielten Regulierung der Netznutzungsentgelte. Anderenfalls könnte der Zugangsanspruch durch prohibitiv hohe Zugangsentgelte in Frage gestellt werden. Das vorstehend beschriebene Stufenverhältnis wird auch im EU-Sekundärrecht abgebildet. 179 Dort werden die Mitgliedstaaten zum einen in Art. 6 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 32 Gas-RL 2009/73 zur Einführung eines Systems für den Zugang Dritter zu den Übertragungs-/Fernleitungs- und Verteilernetzen sowie (im Gassektor auch) zu den LNG-Anlagen verpflichtet. Zum anderen wird ein hierauf aufbauendes System der Entgeltregulierung etabliert. Im Einzelnen bestimmen Art. 59 Abs. 7 lit. a Strom-RL 2019/944 und Art. 41 Abs. 6 lit. a Gas-RL 2009/73 insoweit, dass es den nationalen Regulierungsbehörden obliegt,665 „zumindest“ die Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu den nationalen Netzen „vor deren Inkrafttreten“ festzulegen oder zu genehmigen.666 Hiervon erfasst werden ausdrücklich auch „(…) die Tarife für die Übertragung [im Gassektor: „Fernleitung“] und die Verteilung oder [ihre] Methoden“. Bereits zur Vorgängerregelung in Art. 23 Abs. 2 lit. a BRL-Strom hat der Gerichtshof insoweit gefordert, „dass konkrete Tarife oder Elemente einer Methode zur Berechnung der Tarife aufgestellt werden, die so genau sind, dass die Wirtschaftsteilnehmer ihre Kosten für den Zugang zu den Übertragungs- und Verteilernetzen abschätzen können“.667 Insbesondere dürfen sich die Mitgliedstaaten nicht auf die Etablierung eines Systems der ex-post-Kontrolle beschränken, sondern müssen einen „Mechanismus der Vorabkontrolle“ etablieren.668 In grundlegender Perspektive wird aktuell kontrovers diskutiert, wem die weitere Konkre- 180 tisierung des unionsrechtlich noch sehr unscharf konturierten Systems der Entgeltregulierung obliegt. Nach Auffasung der Europäischen Kommission fordert bereits das dritte Legislativpaket von 2009 auch im Energiebereich eine stärkere Hinwendung zum Konzept der administrativen Regulierung. Folgerichtig hat sie zur Durchsetzung der einschlägigen Vorgaben der Strom-RL 2009/72 sowie der Gas-RL 2009/73 eine Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EuGH erhoben.669 Konkret rügt die Kommission ua, dass die sekundärrechtlichen Vorgaben über die Befugnisse 664 Vgl. auch EuGH 22.5.2008 – C-439/06, Slg 2008, I-3913 Rn. 44 – citiworks, wonach „der freie Zugang Dritter zu den Übertragungs- und Verteilernetzen eine der Hauptmaßnahmen ist, die die Mitgliedstaaten durchzuführen haben, um zur Vollendung des Elektrizitätsbinnenmarkts zu gelangen“; ausführlich zum Folgenden Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 144 ff., 193 ff. 665 Etwas anderes gilt gem. Art. 59 Abs. 7 Strom-RL 2019/944 in Fällen, in denen ACER aufgrund ihrer Koordinierungsaufgaben nach Artikel 5 Abs. 2 ACER-VO 2019/942 für die Festlegung und Genehmigung der Bedingungen oder Methoden für die Durchführung von Netzkodizes und Leitlinien gemäß Kapitel VII der neu gefassten Strom-VO 2019/943 zuständig ist. 666 Vgl. auch Art. 6 Abs. 1 S. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 32 Abs. 1 S. 2 Gas-RL 2009/73. 667 EuGH 29.10.2009 – C-274/08, Slg 2009, I-10647 Rn. 40 – Kommission/Schweden. 668 EuGH 29.10.2009 – C-274/08, Slg 2009, I-10647 Rn. 34 – Kommission/Schweden. 669 Änhangig unter C-718/18; Vertragsverletzungs-Nr. 20142285; s. auch Kommission, Pressemitteilung IP/18/4487 v. 19.7.2018; vgl. hingegen OLG Düsseldorf N&R 2018, 181 (182). Zur Paralleldiskussion im TK-Sektor vgl. Ludwigs in Schmidt/Wollenschläger, § 12 Rn. 15 ff., unter Rekurs auf EuGH 3.12.2009 – C-424/07, Slg. 2009, I-11431 – Kommission/Deutschland.

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und Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde in Art. 37 Abs. 1 lit. a und Abs. 6 lit. a und b Strom-RL 2009/72 (Art. 59 Abs. 1 lit. a und Abs. 7 lit. a und b Strom-RL 2019/944) bzw. Art. 41 Abs. 1 lit. a und Abs. 6 lit. a und b Gas-RL 2009/73 unzureichend umgesetzt seien. Die Bundesnetzagentur (BNetzA) verfüge nicht über eine uneingeschränkte Ermessensfreiheit bei der Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu Netzen und Regelenergiedienstleistungen. Vielmehr seien zahlreiche Aspekte dieser Tarife und Bedingungen en detail in Rechtsverordnungen der Bundesregierung normiert. Bei einer kritischen Würdigung670 ist einerseits festzuhalten, dass es im Energiesektor gerade Sache der Mitgliedstaaten als solche ist, die „Einführung eines Systems für den Zugang Dritter zu den Übertragungs- [bzw. Fernleitungs-] und Verteilernetzen auf der Grundlage veröffentlichter Tarife“ zu gewährleisten (Art. 32 Abs. 1 Strom-/Gas-RL 2009 bzw. Art. 6 Abs. 1 StromRL 2019/944). In Kombination mit der primärrechtlich verankerten nationalen Verfahrensautonomie (Art. 291 Abs. 1 AEUV) dürften auf diese Weise gewisse Spielräume zur normativen Vorstrukturierung verbleiben. Andererseits ist der Kommission zuzugestehen, dass bei Festlegung der konkreten Bedingungen für den Netzzugang gezielt die „Regulierungsbehörden“ adressiert werden. Sollte es zur Verurteilung nach Art. 260 Abs. 1 AEUV kommen, wäre eine (mehr oder weniger weitreichende) Neuausrichtung des nationalen Regulierungsrahmens im Energiesektor unumgänglich.671 In Richtung einer differenzierten Beurteilung weist im Übrigen pro futuro auch Erwägungsgrund Nr. 87 der neuen StromRL 2019/944. Darin heißt es zwar einerseits, dass „den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit genommen [wird], ihre nationale Energiepolitik festzulegen und auszugestalten“. Andererseits wird aber auch betont, dass „mit den vom Mitgliedstaat herausgegebenen energiepolitischen Leitlinien nicht in die Unabhängigkeit oder Autonomie der Regulierungsbehörden eingegriffen werden [soll]“. 181 Was den zentral bedeutsamen Entgeltmaßstab angeht, so kann im Energiesektor ein Grundsatz der Kostenorientierung identifiziert werden (aa.), wobei auf die effizienten (also nicht nur auf die rein tatsächlichen) Kosten abzustellen ist (bb.). aa) Grundsatz der Kostenorientierung 182 Der unionsrechtliche Grundsatz der Kostenorientierung der Netzzugangsentgelte findet im Energiesektor eine mehrfache Abstützung:672 Erstens wurzelt er in Erwägungsgrund Nr. 81 der Strom-RL 2019/944 und Erwägungsgrund Nr. 32 der Gas-RL 2009/73.673 Dort heißt es, dass die nationalen Regulierungsbehörden sicherstellen sollten, „dass die Tarife für die Übertragung [im Gassektor: „Fernleitung“] und Verteilung diskriminierungsfrei [im Gassektor: „nichtdiskriminierend“] und kostenorientiert sind (...)“. Zweitens findet das Gebot der Kostenorientierung – speziell mit Blick auf den grenzüberschreitenden Stromhandel bzw. den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen – auch in Art. 14 Abs. 1 S. 1 der Strom-VO 714/2009 bzw. Art. 13 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 Gas-VO 715/2009674 seine Verankerung. Drittens wird die Kostenorientierung der Netzzugangsentgelte nunmehr in Art. 18 Abs. 1 S. 1 der neu gefassten und ausweislich ihres Art. 1 lit. a und lit b nicht mehr

670 Zum Folgenden bereits Ludwigs EnWZ 2019, 160 (161), auch in Auseinandersetzung mit EuGH 29.10.2009 – C-474/08, ECLI:EU:C:2009:681, Rn. 27 ff. – Kommission/Belgien. 671 Näher zu den diskutierten Ansätzen für eine Beseitigung der Vertragsverletzung (Hochzonung bisheriger Verordnungsinhalte auf die Ebene des Parlamentsgesetzes, Rahmen-Festlegungen der BNetzA, vorweggenommene Subdelegation nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 und S. 4 GG) vgl. Ludwigs, EnWZ 2019, 160; knapp bereits ders., N&R 2018, 262 (263 f.). 672 Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 193 ff.; s. auch schon ders. NVwZ 2008, 954 (956). 673 Nachweise in den Fn. 31 und 32. 674 Nachweise in Fn. 33 und 34.

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allein auf den grenzüberschreitenden Stromhandel fokussierten Strom-VO 2019/943 explizit adressiert. Zweifelsfragen wirft der unionsrechtliche Grundsatz der Kostenorientierung vor allem bei 183 der – in Deutschland zum 1.1.2009 erfolgten – Einführung eines Systems der Anreizregulierung zur Bestimmung der Netzzugangsentgelte auf.675 Der Anreizregulierungs-Mechanismus zeichnet sich gerade durch die (partielle) Entkopplung von Preisen bzw. Erlösen einerseits und Kosten andererseits aus. Auf den ersten Blick erscheint es daher klärungsbedürftig, ob hier gleichwohl von einer „kostenorientierten“ Entgeltregulierung gesprochen werden kann. In der Sache spricht hierfür aber der Umstand, dass im Falle einer PriceCap- bzw. Revenue-Cap-Regulierung (als Standardformen der Anreizregulierung) jeweils zum Beginn und Ende der Regulierungsperiode eine kostenorientierte Kalkulation als Grundlage für die Bestimmung des Ausgangsniveaus der Entgelte bzw. Erlöse sowie für den Effizienzvergleich stattfindet.676 bb) Effizienzkostenmaßstab Ein Effizienz(kosten-)maßstab war im Energiesektor zunächst nur in der Stromhandels- 184 Verordnung 1228/2003 und der Gasnetzzugangs-Verordnung 1775/2005 vorgesehen.677 Dort wurde explizit verlangt, dass die Netzzugangsentgelte „(…) die tatsächlichen Kosten insofern widerspiegeln, als sie denen eines effizienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers entsprechen (…)“.678 Durch die Neufassung der beiden Verordnungen im Rahmen des Dritten Legislativpakets haben sich insoweit keine Änderungen ergeben. Zu betonen ist allerdings, dass der Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 S. 1 Strom-VO 914/2009 wie auch der des Art. 13 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 Gas-VO 715/2009 sehr allgemein gefasst ist. Immerhin folgt aus dem Verweis auf einen „strukturell vergleichbaren Netzbetreiber“, dass strukturelle Unterschiede zB im Hinblick auf das Alter des Netzes zu berücksichtigen sind. Zugleich liegt hierin eine Absage gegenüber der Ausrichtung an einem rein fiktiven Idealunternehmen. Weitergehend bestimmt Art. 13 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 Gas-VO 715/2009 explizit, dass die Tarife für den Netzzugang „eine angemessene Kapitalrendite umfassen“. Zwar fehlt eine parallele Regelung in der Strom-VO 714/2019. Da auch im Elektrizitätssektor eine angemessene Kapitalrendite zulässig sein muss, um die Netze rentabel zu machen und Anreize für den Netzaufbau zu setzen, muss Gleiches aber auch hier gelten.679 Der Anwendungsbereich der beiden vorstehend skizzierten Binnenmarktverordnungen 185 bleibt freilich auf den grenzüberschreitenden Handel bzw. den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen konzentriert. Den „allgemeinen“ Beschleunigungs-Richtlinien Strom und Gas des Jahres 2003680 konnten dagegen noch keine vergleichbaren Effizienzanforderungen entnommen werden. Vielmehr enthielten die Richtlinien nur Anhaltspunkte dafür, dass die Netzzugangsentgelte angemessen, diskriminierungsfrei und transparent sein müssen.681 Ungeachtet dessen wurde in der Literatur auch hier für einen an den Effizienzkos675 Ausführlich zur Problematik: Hardach, S. 89 ff. mwN 676 Näher Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 196 f.; dort auch zur Zulässigkeit einer vollständigen Entkopplung der Preise/Erlöse von den unternehmensindividuellen (nicht aber von den branchenbezogenen!) Kosten im Modell der Yardstick-Competition; ferner Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 98. 677 Eingehend Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 205 ff. 678 Vgl. Art. 4 Abs. 1 S. 1 Strom-VO 1228/2003; ähnlich Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 Gas-VO 1775/2005; näher: Kaiser, S. 100 ff., 124 ff.; differenzierende Auslegung bei: Schellberg, S. 18 f. 679 Ebenso Pritzsche/Federle in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2014, § 56 EnWG Anh. A Rn. 38. 680 Nachweise in Fn. 20. 681 Vgl. insbes. Art. 23 Abs. 4 BRL-Strom bzw. Art. 25 Abs. 4 BRL-Gas (Nachweise in Fn. 20) sowie die Erwägungsgründe Nr. 6 und 13 BRL-Strom bzw. Nr. 7 und 22 BRL-Gas.

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ten ausgerichteten Entgeltmaßstab plädiert.682 Dabei blieb allerdings offen, weshalb der Gemeinschaftsgesetzgeber in den Beschleunigungs-Richtlinien auf die zweifelsfreie Verankerung eines Effizienzkostenmaßstabs, wie er am gleichen Tag in der Stromhandels-Verordnung 1228/2003 etabliert wurde, verzichtet hatte.683 186 Die im Rahmen des Dritten Legislativpakets neu gefassten Binnenmarktrichtlinien Strom und Gas haben in der „Effizienzfrage“ dann größere Klarheit geschaffen. In Art. 37 Abs. 8 Strom-RL 2009/72 und in Art. 41 Abs. 8 Gas-RL 2009/73 lautet(e) es nunmehr explizit, dass die Regulierungsbehörden bei der Festsetzung oder Genehmigung der Netzzugangstarife oder Methoden sicherstellen, dass „angemessene Anreize geschaffen werden, sowohl kurzfristig als auch langfristig die Effizienz zu steigern (…)“.684 Hiermit korrespondierend betont die als Teil des Winterpakets neu erlassene Strom-VO (EU) 2019/943 nunmehr in Art. 18 Abs. 2, dass die Tarifmethoden „sowohl kurzfristig als auch langfristig angemessene Anreize (…) [setzen], um die Effizienz (…) zu steigern“. 187 Eine nähere Ausdifferenzierung der Effizienzanforderungen wird von den Binnenmarktrichtlinien nicht vorgegeben. Die Mitgliedstaaten und (insbesondere) ihre Regulierungsbehörden verfügen insoweit über einen substanziellen Umsetzungs- und Gestaltungsspielraum.685 Diesem wird durch Art. 59 Abs. 7 lit. a Strom-RL 2019/944 und Art. 41 Abs. 6 lit. a Gas-RL 2009/73 nur eine äußerste Grenze gesetzt. Dort wird gefordert, dass die „Lebensfähigkeit der Netze“ gewährleistet sein muss. Durch das darin zum Ausdruck kommende unionsrechtliche Substanzerhaltungsgebot686 sollen die notwendigen Investitionen in die Netze gewährleistet werden. Hieraus resultiert zugleich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Netzbetreibern einen Anspruch auf angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals zuzugestehen.687 Die Festlegung der genauen Kriterien zur Bestimmung der angemessenen Verzinsung fällt dann wiederum in den Umsetzungs- und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten und ihrer Regulierungsbehörden. c) Entflechtungsregime 188 Das Entflechungsregime ist darauf ausgerichtet, Diskriminierungen, Quersubventionierungen und Wettbewerbsverzerrungen entgegenzuwirken sowie das Recht auf Netzzugang gegenüber vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen zu effektuieren. Durch die Separierung des Netzbetriebs soll verhindert werden, dass ein vertikal integriertes Unternehmen688 seine Monopolstellung beim Übertragungs- oder Verteilernetz zugunsten seiner Wettbewerbsposition in den liberalisierten Bereichen Erzeugung/Gewinnung und/oder Versorgung ausnutzt.689 Zu beachten ist freilich, dass selbst eine vollständige eigentumsrechtliche Trennung von Netz und Diensteebene im Wesentlichen „nur“ die Diskriminierungsanreize reduziert. Das Ziel des „Common Carrier“, seinen Gewinn über monopolis-

682 So insbes. Säcker ZNER 2004, 98 (104 ff.); zweifelnd Ludwigs NVwZ 2008, 954 (957); ausführliche Diskussion bei J. Herrmann, S. 166 ff. mwN. 683 J. Herrmann, S. 175 ff. 684 S. daneben noch Art. 36 lit. f. Strom-RL 2009/72 bzw. Art. 40 lit. f. Gas-RL 2009/73. 685 Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 207 f.; s. auch Grün, S. 107 f. 686 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 96 f.; ders. EuR 2006, 463 (476); s. auch Mengering, S. 103 f. 687 Schellberg, S. 20 f.; Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 95 f. 688 Vgl. die Legaldefinition in Art. 2 Nr. 53 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 2 Nr. 20 Gas-RL 2009/73; s. auch noch die Hinweise in Fn. 708 und Fn. 709. Die EU-Kommission rügt aktuell im Rahmen der Aufsichtsklage gegen Deutschland (Fn. 669) auch eine nur eingeschränkte Umsetzung der unionsrechtlichen Definition durch § 3 Nr. 38 EnWG und verweist insoweit auf die mangelnde Erfassung von Tätigkeiten außerhalb der EU. 689 J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 48.

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tische Zugangstarife zu maximieren, bleibt hiervon unberührt.690 Hieraus erhellt, dass die Entflechtung – das sog Unbundling – allein flankierenden Charakter hat und nicht als Alternative zum regulierten Netzzugang begriffen werden kann. Auch ein vollständig eigentumsrechtlich entflochtener „reiner“ Netzbetreiber bedürfte weiterhin der (präventiven und repressiven) Kontrolle im Rahmen eines effektiven Netzzugangs- und Netzentgeltregimes.691 aa) Überkommene Grundformen der Entflechtung Bis zum Inkrafttreten des Dritten Energiebinnenmarktpakets waren auf Unionsebene vier Formen der Entflechtung etabliert. Im Einzelnen handelt es sich um die Entflechtung der Rechnungslegung („Unbundling of Accounts“), die informatorische Entflechtung („Informational Unbundling“), die operationelle Entflechtung („Management Unbundling“) sowie die rechtliche Entflechtung („Legal Unbundling“).692 Die bereits im Energiebinnenmarktpaket von 1996/98 enthaltene buchhalterische Entflechtung693 stellt die Entflechtungsform mit der geringsten Eingriffsintensität dar.694 Verlangt wird eine getrennte Rechnungslegung innerhalb vertikal integrierter Unternehmen, um Quersubventionierungen zwischen dem Netzbetrieb einerseits und den vor- und nachgelagerten Wettbewerbsbereichen Erzeugung/Gewinnung und Versorgung andererseits durch Herstellung von Kostentransparenz zu vermeiden. Die informatorische Entflechtung bildete ebenfalls bereits einen Teil der ersten Liberalisierungsrichtlinien und wurde in der Folge intensiviert. Sie schützt zum einen die Vertraulichkeit der von den Netznutzern erhaltenen sensiblen Informationen und verlangt zum anderen die diskriminierungsfreie Weitergabe bzw. Veröffentlichung wirtschaftlich relevanter Informationen über den Netzbetrieb.695 Die operationelle Entflechtung ist – nach ersten Ansätzen für die Stromübertragungsnetzbetreiber in der Strom-RL 96/92 – durch die Beschleunigungsrichtlinien Strom und Gas von 2003 forciert und im Anwendungsbereich auf den Gasfernleitungsbetrieb sowie den Verteilernetzbetrieb Strom bzw. Gas erstreckt worden. Für die Verteilernetzbetreiber wurde den Mitgliedstaaten allerdings die Möglichkeit eingeräumt, eine De-minimis-Ausnahme für Unternehmen mit weniger als angeschlossenen 100.000 Kunden (bzw. im Stromsektor auch für solche, die kleine isolierte Netze beliefern) zu gewähren. Von hervorgehobener Bedeutung waren die Vorgaben zur Absicherung unabhängiger Entscheidungen der Netzbetreiber über Netzbetrieb und Netzausbau.696 Diese durften vom vertikal integrierten Mutterunternehmen nur durch abstrakte Finanzvorgaben beeinflusst werden.697 Darüber hinaus haben die Beschleunigungsrichtlinien das Anforderungsprofil durch konkrete Regeln für das Personalwesen sowie die Verpflichtungen im Hinblick auf die Aufstellung von Gleichbehandlungsprogrammen und die Benennung von Gleichbehandlungsbeauf690 S. insoweit aus dem ökonomischen Schrifttum: Leschke in Fehling/Ruffert § 6 Rn. 104; ferner Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 129. 691 Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 17 aE; Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 129 f. 692 Instruktiv J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 48 ff.; ausführlich: Rasbach, S. 63 ff., 82 ff., 116 ff. mwN; zur Grundrechtskonformität: Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 82 ff. 693 Vgl. Art. 56 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 31 Gas-RL 2009/73. 694 J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 49. 695 Art. 37, 41 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 16, 27 Gas-RL 2009/73; s. auch J.P. Schneider in ders./ Theobald § 2 Rn. 50. 696 Vgl. Art. 10 Abs. 2 lit. c und Art. 15 Abs. 2 lit. c BRL-Strom bzw. Art. 9 Abs. 2 lit. c und Art. 13 Abs. 2 S. 2 lit. c BRL-Gas. 697 J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 51.

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tragten verschärft.698 Für die Verteilernetzbetreiber bleibt es auch nach dem Dritten Legislativpaket und dem Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpaket im Wesentlichen bei diesen Vorgaben zur operationellen Entflechtung (Art. 35 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 26 GasRL 2009/73) (→ Rn. 210 f.), die gem. Art. 15 Gas-RL 2009/73 (s. daneben jetzt Art. 36 Strom-RL 2019/944) auch für Speicheranlagenbetreiber gelten. 193 Was schließlich die mit dem Zweiten Binnenmarktpaket (Beschleunigungsrichtlinien) etablierte rechtliche Entflechtung angeht, so wurde hiermit die Ausgliederung des Netzbetriebs – nicht notwendig des Netzeigentums – auf eine selbstständige Rechtsperson gefordert.699 Dies galt sowohl für die Stromübertragungs- und Gasfernleitungsnetzbetreiber als auch für die Verteilernetzbetreiber. Für Letztere wurde den Mitgliedstaaten aber wiederum die Option eröffnet, eine De-minimis-Ausnahme für integrierte Unternehmen einzuräumen, die weniger als 100.000 angeschlossene Kunden (bzw. im Stromsektor auch kleine isolierte Netze) beliefern.700 Das Dritte Legislativpaket und das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket haben diese Regeln für die Verteilernetzbetreiber im Wesentlichen beibehalten (Art. 35 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 26 Gas-RL 2009/73) (→ Rn. 210 f.) und auf Speicheranlagenbetreiber erstreckt (Art. 15 Gas-RL 2009, s. daneben jetzt Art. 36 StromRL 2019).701 bb) Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber 194 Während das Dritte Legislativpaket (ebenso wie das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket) für den Verteilnetzbereich kaum neue Entflechtungsregelungen trifft (→ Rn. 210 f.), hielt es für die Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber gravierende Änderungen bereit.702 Im Näheren eröffneten die am 13.7.2009 verabschiedeten Richtlinien Strom und Gas den Mitgliedstaaten drei gleichberechtigte Varianten, um eine wirksame Trennung des Transportnetzbetriebs von der Erzeugung/Gewinnung und Versorgung („wirksame Enflechtung“)703 zu gewährleisten: die eigentumsrechtliche Entflechtung (sog Ownership Unbundling), die Zulassung und Benennung eines unabhängigen Netzbetreibers (sog Independent System Operator) sowie den dritten Ansatz der Einrichtung eines unabhängigen Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibers (sog Independent Transmission Operator). Diese drei Modelle für Übertragungsnetzbetreiber blieben durch das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket unverändert.

698 J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 51, unter Verweis auf die Art. 10 Abs. 2 lit. a, b, d und Art. 15 Abs. 2 lit. a, b, d BRL-Strom bzw. Art. 9 Abs. 2 lit. a, b, d und Art. 13 Abs. 2 S. 2 lit. a, b, d BRL-Gas sowie (für Kombinationsnetzbetreiber) Art. 17 BRL-Strom bzw. Art. 19 BRL-Gas. 699 J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 52. 700 Zu Art. 26 Abs. 4 Strom-RL 2009/72 (Art. 35 Abs. 4 Strom-RL 2019/944) beschreibend EuGH 28.11.2018 – verb. Rs. C-262/17, C-263/17 und C-273/17, ECLI:EU:C:2018:961 Rn. 45 – Solvay Chimica Italia ua, unter Rekurs auf die hinter der „De-minimis“-Regelung stehenden Verhältnismäßigkeitsüberlegungen. 701 Näher hierzu Büdenbender/Rosin RdE 2010, 197 (202); Danner/Theobald/Gundel EnEuR Rn. 49 ff. 702 Instruktiv Dralle, S. 26 ff.; kompakt Stanič in Cameron/Heffron, 2.22 ff. 703 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 9 Strom-RL 2009/72 bzw. Erwägungsgrund Nr. 6 Gas-RL 2009/73.

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(1) Ownership Unbundling Die eigentumsrechtliche Entflechtung (sog Ownership Unbundling)704 stellte das von 195 Kommission705 und Parlament706 präferierte Modell dar und findet seine Grundlage in Art. 43 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Gas-RL 2009. Es zielt auf die zwangsweise Herauslösung des Übertragungs-/Fernleitungsnetzes aus dem Konzernverbund des vertikal integierten Unternehmens.707 Im Kern ist dabei ein Zweifaches hervorzuheben. Erstens müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 43 Abs. 1 lit. b Strom-RL 2019/944 bzw. 196 Art. 9 Abs. 1 lit. b Gas-RL 2009/73 sicherstellen, dass niemand, der direkt oder indirekt die Kontrolle über ein Unternehmen aus den Bereichen Erzeugung/Gewinnung oder Versorgung ausübt, zugleich n die direkte oder indirekte Kontrolle über einen Übertragungs-/Fernleitungsnetzbereiber oder ein Übertragungs-/Fernleitungsnetz bzw. n Rechte an einem Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreiber oder einem Übertragungs-/ Fernleitungsnetz708 ausüben kann (et vice versa).709 Unzulässig ist es damit jedenfalls, wenn ein vertikal integriertes Unternehmen eine Mehrheitsbeteiligung an einem Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreiber hält. Dies wird durch Art. 43 Abs. 2 lit. c Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 2 lit. c Gas-RL 2009/73 auch nochmals unterstrichen.710 Kontrovers diskutiert wird dagegen, inwieweit die Muttergesellschaft eine Minderheitsbeteiligung ohne bestimmenden Einfluss behalten bzw. erwerben darf. Die Befürworter711 stützen sich darauf, dass der Begriff der „Kontrolle“ in Art. 43 Abs. 1 lit. b Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 1 lit. b Strom-/Gas-RL 2009 nach Maßgabe der Fusionskontrollverordnung 139/2004 (FKVO)712 zu ermitteln sei. Hierauf nimmt auch Erwägungsgrund Nr. 10 der Gas-RL 2009/73 explizit Bezug. Von dem in Art. 3 Abs. 2 FKVO verwendeten – durch Art. 2 Nr. 56 StromRL 2019/944 bzw. Art. 2 Nr. 36 Gas-RL 2009/73 reproduzierten – Begriff der „Kontrol-

704 Hierzu aus der Lit.: Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 9 ff.; Büdenbender/Rosin RdE 2010, 197 (198); Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 f.; Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 2 ff.; noch zu den Richtlinienvorschlägen der Kommission: Möllinger, S. 165 ff. 705 Mitteilung der Kommission „Untersuchung der europäischen Gas- und Elektrizitätssektoren gem. Art. 17 VO (EG) Nr. 1/2003 (Abschlußbericht)“ v. 10.1.2007, KOM(2006) 851 endg., 55. 706 Entschließung des EP v. 10.7.2007 zu den Aussichten für den Erdgas- und den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. 2007 C 175E/206, Ziff. 2. 707 Schmidt-Preuß et 9/2009, 82; s. auch Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 9; Kühling/Pisal RdE 2010, 161 (163). 708 Zur hieraus resultierenden Erweiterung der Reichweite des Ownership Unbundling über die in Art. 2 Nr. 53 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 2 Nr. 20 Gas-RL 2009/73 definierten – eine „Kontrolle“ voraussetzenden – Fälle einer vertikalen Integration hinaus vgl. Kühling/Pisal RdE 2010, 162 (163 f.), die im Übrigen für eine entsprechende teleologische Extension des Begriffs des vertikal intergierten Unternehmen im Rahmen der Abweichungsmöglichkeit zugunsten des ISO-/ITO-Modells nach Art. 43 Abs. 7 S. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 8 S. 1 Gas-RL 2009/73 plädieren. 709 Ausführlich Schmidt-Preuß et 9/2009, 82, der hier auch auf das Verbot von spartenübergreifenden Überkreuzbeteiligungen von Strom und Gas in Art. 43 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 3 Gas-RL 2009/73 eingeht (zur hieraus folgenden Ausdehnung der Reichweite des Ownership Unbundling über die in Art. 2 Nr. 53 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 2 Nr. 20 Gas-RL 2009/73 definierten Fälle einer spartenimmanenten vertikalen Intergration hinaus vgl. Kühling/Pisal RdE 2010, 162 [164 f.], die sich auch insoweit [s. bereits Fn. 708], für eine entsprechende teleologische Erweiterung des Begriffs des vertikal intergierten Unternehmens im Rahmen der Ausnahmevorschrift des Art. 43 Abs. 7 S. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 8 S. 1 Gas-RL 2009/73 für das ISO-/ITO-Modell aussprechen; kritisch hierzu aber: Michaelis/Kemper RdE 2012, 10 [11]). 710 Gärditz/Rubel N&R 2010, 194 (195); Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (83). 711 Büdenbender/Rosin RdE 2010, 197 (198 f.); Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (83); ders. in Storr, S. 1 (16). 712 Nachweis in Fn. 482.

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le“ wird insbesondere das Halten einer Mehrheit der Stimmrechte erfasst.713 Zu beachten ist aber, dass Art. 43 Abs. 1 lit. b Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 1 lit. b GasRL 2009/73 nicht nur die „Kontrolle“, sondern weitergehend auch die Ausübung von „Rechten“ an einem Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreiber oder einem Übertragungs-/ Fernleitungsnetz untersagt. Dies spricht für die Annahme, dass nur noch stimmrechtslose Minderheitsbeteiligungen zulässig sind.714 In diese Richtung deutet auch Art. 43 Abs. 2 lit. a Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 2 lit. a Gas-RL 2009, der ganz allgemein die „Befugnis zur Ausübung von Stimmrechten“ ausschließt. Zweifelsfrei ist ein solches Verständnis dennoch nicht, sehen die Erwägungsgründe Nr. 68 Strom-RL 2019/944 bzw. Nr. 8 Gas-RL 2009/73 doch explizit die Möglichkeit vor, dass ein Erzeugungs-/Gewinnungs- oder Versorgungsunternehmen einen „Minderheitsanteil“ an einem Übertragungs-/ Fernleitungsnetzbetreiber bzw. einem Übertragungs-/Fernleitungsnetz hält.715 Der deutsche Umsetzungsgesetzgeber hat sich im Rahmen der EnWG-Novelle 2011716 in § 8 Abs. 2 S. 6 Nr. 1 EnWG für einen Mittelweg entschieden und die Befugnis zur Ausübung von Stimmrechten nur ausgeschlossen, soweit dadurch „wesentliche Minderheitsrechte“ vermittelt werden.717 Derartige wesentliche Rechte sind nach der Vorstellung des Gesetzgebers insbesondere Sperrminoritäten für Satzungsänderungen, Entscheidungen über Kapitalerhöhungen der Gesellschaft gegen Einlagen, Beschlüsse über eine bedingte Kapitalerhöhung sowie Vetorechte ab einem Anteil von 25 %.718 197 Neben die Inkompatibilität von Netz und Erzeugung/Gewinnung bzw. Versorgung tritt zweitens das in Art. 43 Abs. 1 lit. c und d Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 1 lit. c und d Gas-RL 2009/73 geregelte Verbot von Doppelmandaten.719 Danach dürfen die Mitglieder des Aufsichtsrats, des Verwaltungsrats bzw. des Vertretungsorgans eines Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibers nicht durch Personen bestellt werden, die ein Stromerzeugungs-/Gasgewinnungsunternehmen oder ein Versorgungsunternehmen kontrollieren oder Rechte an einem solchen Unternehmen ausüben (lit. c). Hiermit korrespondierend müssen die Mitgliedstaaten auch verhindern, dass Personen sowohl Mitglied des Aufsichtsrats, des Verwaltungsrats oder des Vertretungsorgans eines Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibers als auch eines Unternehmens aus den Bereichen Erzeugung/Gewinnung oder Versorgung sind (lit. d). 198 Das Ownership Unbundling hat eine doppelte Konsequenz:720 Zum einen erfüllt es die Funktion eines Erwerbsverbot, sofern noch keine (unzulässigen) Beteiligungen vorhanden sind. Zum anderen bedeutet es die Einführung eines Veräußerungsgebots, wenn bereits „verbotene Beteiligungen“ bestehen. Insoweit sollen die Mitgliedstaaten zwischen einer eigentumsrechtlichen Entflechtung durch direkte Veräußerung (zB über bilaterale Verträge) und einem sog Aktiensplit (in Anteile des Netzunternehmens einerseits und des verblei713 Vgl. aus dem Schrifttum zur FKVO zB Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/MeyerLindemann/Riesenkampff/Steinbarth/Kersting FKVO Art. 3 Rn. 29 ff. 714 Dafür Kühling/Pisal et 1-2/2012, 127, 129 mit Fn. 13; Säcker/Mohr in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, § 8 Rn. 111 ff.; s. auch European Commission, Commission Staff Working Paper, Notes for the implementation of the Electricity Directive 2009/72/EC and the Gas Directive 2009/73/EC, The Unbundling Regime, 22.1.2010, S. 9 (Nachweis in Fn. 381). 715 Hierauf rekurrierend Büdenbender/Rosin RdE 2010, 197 (199); Schmidt-Preuß in Storr, S. 1 (16). 716 BGBl. 2011 I 1554. 717 Kritisch hierzu Kühling/Pisal et 1-2/2012, 127 (129 mit Fn. 13); Säcker/Mohr in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, § 8 Rn. 111 ff.; Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 9; darstellend Hampel/Sack in Elspaß/Graßmann/Rasbach EnWG § 8 Rn. 13. 718 BR-Drs. 343/11, 145 (Gesetzentwurf der Bundesregierung). 719 Hierzu Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (83). 720 Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (83); ebenso Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 15 ff.; Storr, ibid., Kap. 94 Rn. 2.

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benden Versorgungs- und Erzeugungs-/Gewinnungsunternehmens andererseits) wählen können.721 Besonderheiten ergeben sich nach Art. 43 Abs. 5 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 6 199 Gas-RL 2009/73 für integrierte Staatsunternehmen und andere öffentlich-rechtliche Unternehmen.722 Sie unterliegen nicht dem Zwangsverkauf. Vielmehr gelten die Anforderungen des Ownership Unbundling bereits dann als erfüllt, wenn zwei voneinander getrennte öffentlich-rechtliche Stellen (zB zwei unterschiedliche Ministerien oder öffentliche Unternehmen)723 die Kontrolle über den Netzbetreiber bzw. das Netz einerseits und das Erzeugungs-/Gewinnungs- oder Versorgungsunternehmen andererseits wahrnehmen. (2) Independent System Operator Neben der verpflichtend anzubietenden724 eigentumsrechtlichen Entflechtung besteht eine 200 zweite, in Art. 43 Abs. 7 UAbs. 2 lit. a iVm Art. 44 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 8 iVm Art. 14 Gas-RL 2009/73 verankerte Umsetzungsoption der Mitgliedstaaten in der Benennung eines unabhängigen Netzbetreibers („Independent System Operator“, ISO).725 Diese Alternative besteht in all den Fällen, in denen das Übertragungs-/Fernleitungsnetz am Stichtag des Inkrafttretens der Richtlinie (3.9.2009) einem vertikal integrierten Unternehmen gehörte. Die Zulassung und Benennung des ISO erfolgt durch die Mitgliedstaaten (mit Zustimmung der Kommission) und ist an eine Vielzahl von Voraussetzungen geknüpft, die in Art. 44 Abs. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 2 Gas-RL 2009/73 normiert sind. Charakteristisch für das ISO-Modell ist die strikte Trennung von Netzeigentum und Netz- 201 betrieb:726 Zwar verbleibt das Netzeigentum – (gesellschafts-)rechtlich und operationell entflochten727 – beim vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen. Der Netzbetrieb ist aber von einer Art Treuhänder,728 dem ISO, wahrzunehmen. Dieser muss ausweislich von Art. 44 Abs. 2 lit. a Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 2 lit. a GasRL 2009/73 den bereits skizzierten Anforderungen des Art. 43 Abs. 1 lit. b, c und d Strom-RL 2019/944 bzw. des Art. 9 Abs. 1 lit. b, c und d Gas-RL 2009/73 genügen. Die Zurverfügungstellung des Netzes kann auf Basis eines Pachtvertrags erfolgen.729 Dem ISO wird in Art. 44 Abs. 4 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 4 Gas-RL 2009/73 sowohl die Verantwortung für die Gewährung und Regelung des Netzzugangs Dritter (einschließlich der Erhebung von Netzzugangsentgelten) als auch für Betrieb, Wartung und Ausbau des Übertragungsnetzes sowie die langfristige Investitionsplanung übertragen. Der Netzeigentümer ist verpflichtet, die vom ISO beschlossenen und von der nationalen Regulierungsbehörde genehmigten Investitionen zu finanzieren bzw. wahlweise seine Zustimmung zur Finanzierung durch eine andere interessierte Partei (einschließlich des ISO 721 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 74 Strom-RL 2019/944 bzw. Erwägungsgrund Nr. 15 Gas-RL 2009/73; aus der Lit. hierzu: Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 17; zur gesellschaftsrechtlichen Einordnung vgl. Pisal, S. 173. 722 Von einer „lex Frankreich“ spricht insoweit Schmidt-Preuß in Storr, S. 1 (17). 723 Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf. Rn. 40 (67. EL 2010); s. auch Baur in ders./Salje/ Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 18. 724 S. Art. 43 Abs. 10 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 11 Gas-RL 2009/73. 725 Vgl. hierzu aus der Lit.: Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 20 ff.; Pisal, S. 190 ff.; Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (83); Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 13 ff.; noch zu den Richtlinienvorschlägen der Kommission: Möllinger, S. 184 ff. 726 Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf. Rn. 42 (67. EL 2010). 727 Vgl. Art. 45 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 15 Gas-RL 2009/73. 728 Vgl. insoweit Säcker et 8/2007, 86 (88); s. auch Däuper N&R 2009, 214 (215). 729 Säcker/Mohr in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, § 9 Rn. 2; Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 14.

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§ 5 Energierecht selbst) zu erteilen (s. Art. 44 Abs. 5 lit. b und d Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 5 lit. b und d Gas-RL 2009/73). Dabei ist ihm eine Einflussnahme auf die Investitionsplanung selbst dann untersagt, wenn eine die Rentabilität gefährdende Krise des ISO droht.730 Hinzu treten Verpflichtungen des Netzeigentümers zur Absicherung von Haftungsrisiken und Garantien zur Erleichterung der Finanzierung eines etwaigen Netzausbaus (Art. 44 Abs. 5 lit. c und d Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 5 lit. c und d GasRL 2009/73). Insgesamt ist für das ISO-Modell kennzeichnend, dass der Netzeigentümer seine Verfügungsgewalt über das Netz – von der Veräußerungsbefugnis abgesehen – vollständig verliert und ihm nur noch die wirtschaftliche Nutznießung in Gestalt der vom ISO zu zahlenden Erträge verbleibt.731 (3) Independent Transmission Operator

202 Eine gleichberechtigte dritte Option bildet schließlich das in Art. 43 Abs. 7 lit. b iVm Art. 46 bis 51 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 8 lit. b iVm Art. 17 bis 23 GasRL 2009/73 verankerte Konzept des unabhängigen Übertragungs- bzw. Fernleitungsnetzbetreibers (sog Independent Transmission Operator, ITO).732 Wie beim ISO ist hierfür Voraussetzung, dass das Übertragungs-/Fernleitungsnetz am Stichtag des Inkrafttretens der Richtlinie (3.9.2009) einem vertikal integrierten Unternehmen gehörte. Der ITO wurde auf Initiative einer Gruppe von acht Mitgliedstaaten, unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands und Frankreichs, eingeführt. Den Hintergrund bildeten die sowohl gegen das OU- als auch das ISO-Modell geltend gemachten wettbewerbspolitischen und rechtlichen Bedenken.733 Charakteristisch für das ITO-Modell ist, dass es weder die vertikal integrierten Unternehmen zur Veräußerung ihrer Übertragungs-/Fernleitungsnetze verpflichtet (wie das OU-Modell),734 noch die Benennung eines unabhängigen Netzbetreibers als „Treuhänder“ fordert (wie das ISO-Modell). Stattdessen werden Vorkehrungen getroffen, um die Unabhängigkeit des ITO von den Konzernbereichen Erzeugung/Gewinnung und Versorgung sicherzustellen. Hiermit verbunden ist eine Verschärfung der zuvor geltenden Vorgaben zur operationellen und rechtlichen Entflechtung.735 Dessen ungeachtet behält der Eigentümer aber substanzielle Einwirkungs- und Kontrollrechte.736

730 Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (83 f.), unter Rekurs auf Art. 13 Abs. 4 S. 4 Strom-RL 2009/72 (Art. 44 Abs. 4 S. 2 Strom-RL 2019/944) bzw. Art. 14 Abs. 4 S. 4 Gas-RL 2009/73; s. auch ders. in Storr, S. 1 (18). 731 Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (765); ähnlich Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 13 Rn. 21, 23; Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (83); Scholtka/Helmes NJW 2011, 3185 (3189). 732 Hierzu aus der Lit.: Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 12 Rn. 34 ff.; Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf. Rn. 44 ff. (67. EL 2010); Gärditz/Rubel N&R 2010, 194 (195 f.); Gundel/ Germelmann EuZW 2009, 763 (765 f.); Michaelis/Kemper RdE 2012, 10 (11 ff.); Pisal, S. 223 ff.; Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 84 ff.; ders. et 9/2009, 82 (84 ff.); Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 22 ff.; s. auch J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 55 f., der noch auf die in Art. 9 Abs. 9 und 10 Strom-/Gas-RL 2009 (s. jetzt auch Art. 43 Abs. 8 und 9 Strom-RL 2019/944) verankerte Möglichkeit der Mitgliedstaaten verweist, vom ITO-Modell abweichende Regeln anzuwenden, wenn diese eine wirksamere Unabhängigkeit des Übertragungs-/ Fernleitungsnetzbetreibers gewährleisten. 733 Ausführlich zur Genese: Möllinger, S. 61 ff. 734 Anteilseigner des ITO dürfen nach Art. 47 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 18 Abs. 3 GasRL 2009/73 allerdings nur Unternehmen des vertikal integrierten Unternehmens sein, die – wie zB eine Holding – außerhalb der Funktionen Erzeugung/Gewinnung und Versorgung tätig sind. Umgekehrt darf auch der ITO keine Anteile an Tochterunternehmen des vertikal integirerten Unternehmens halten, die die Funktionen Erzeugung/Gewinnung oder Versorgung wahrnehmen. 735 So auch die Bewertung bei Büdenbender/Rosin RdE 2010, 197 (200); Gärditz/Rubel N&R 2010, 194 (195); Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 84. 736 Baur in ders./Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 12 Rn. 36.

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Im Einzelnen führt Art. 46 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Gas-RL 2009/73 zunächst zu 203 einer von M. Schmidt-Preuß diagnostizierten „Vollausstattung“ des ISO in mehrfacher Hinsicht:737 Erstens muss das Eigentum am Übertragungs-/Fernleitungsnetz nach Art. 46 Abs. 1 lit. a Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 1 lit. a Gas-RL 2009/73 beim ITO liegen (sog Asset-bezogene Vollausstattung). Für die verbreitet praktizierten Pachtmodelle ist mithin kein Raum mehr. Zweitens verlangt Abs. 1 lit. b, dass das für die Geschäftstätigkeit der Stromübertragung bzw. Gasfernleitung erforderliche Personal beim Netzbetreiber selbst „angestellt“ ist (sog personelle Vollausstattung). Personalleasing wird wie die konzerninterne Erbringung von Dienstleistungen explizit untersagt (Abs. 1 lit. c). Die lange Zeit verbreiteten Shared Services sind in diesem Zusammenhang also nicht mehr zulässig.738 Drittens darf es nach Art. 46 Abs. 5 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 5 GasRL 2009/73 nicht zu einer gemeinsamen Nutzung von IT-Systemen oder IT-Ausrüstung und Zugangskontrollsystemen durch den ITO und das vertikal integrierte Unternehmen kommen (sog IT-bezogene Vollausstattung).739 Ausdrücklich untersagt wird in Bezug hierauf sogar die Zusammenarbeit mit denselben Beratern740 und externen Auftragnehmern. Viertens wird dem ITO zur Erfüllung seiner Aufgaben eine eigene Finanzierungsquelle zugewiesen (sog finanzielle Vollausstattung). Nach Art. 46 Abs. 2 lit. d Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 2 lit. d Gas-RL 2009/73 erhebt er alle übertragungs- bzw. fernleitungsnetzbezogenen Gebühren, wozu insbesondere die Netzzugangsentgelte zählen.741 Darüber hinaus folgt aus Art. 46 Abs. 1 lit. d Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 1 lit. d GasRL 2009/73 eine Finanzierungspflicht der Muttergesellschaft. Fünftens werden dem ITO in Art. 46 Abs. 2 lit. e Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 2 lit. e Gas-RL 2009/73 die 737 Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (84 f.), dort auch die nachfolgenden Bezeichnungen der unterschiedlichen Formen der Vollausstattung; s. ferner Art. 46 Abs. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 1 Gas-RL 2009/73 der allgemein bestimmt, dass die ITOs „über alle personellen, technischen, materiellen und finanziellen Ressourcen verfügen [müssen], die zur Erfüllung ihrer Pflichten im Rahmen dieser Richtlinie für die Geschäftstätigkeit der Elektrizitätsübertragung [bzw. Gasfernleitung] erforderlich sind“. 738 Statt vieler Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (84); aA Büdenbender/Rosin RdE 2010, 197 (201), die hier (wie bei Art. 17 Abs. 1 lit. b Strom-/Gas-RL 2009) allgemein für eine Beschränkung auf „diskriminierungsrelevante Tätigkeiten“ plädieren; hiergegen spricht aber ein Umkehrschluss aus der eng begrenzten Zulassung der Dienstleistungserbringung (allein) durch den ITO an die anderen Teile des vertikal integrierten Unternehmens in Art. 17 Abs. 1 lit. c S. 2 Strom-/Gas-RL 2009 (s. auch Art. 46 Abs. 1 lit. c S. 2 Strom-RL 2019/944). Zur umstrittenen Frage einer Zulässigkeit der Dienstleistungserbringung durch den Verteilernetzbetreiber für den ITO vgl. einerseits bejahend Kühling/Pisal RdE 2010, 162 (165), unter Rekurs auf den durch Art. 39 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 29 Gas-RL 2009/73 ermöglichten Kombinationsnetzbetrieb; andererseits verneinend: European Commission, Commission Staff Working Paper v. 22.1.2010 (Fn. 661), S. 16: „categorically prohibited“, wofür der Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 lit. c S. 1 Strom-/Gas-RL 2009 (s. auch Art. 46 Abs. 1 lit. c S. 1 Strom-RL 2019/944) spricht. 739 Gleiches gilt für die gemeinsame Nutzung von „Liegenschaften“, wobei der Liegenschaftsbegriff im Schrifttum – unter Rekurs auf den mehrdeutigen Wortlaut der englischen Sprachfassung („physical premises“; s. auch französisch: „local“ bzw. italienisch: „locali“) und eine teleologische Betrachtung – eng als „Gebäude einschließlich der entsprechenden Flurstücke“ und nicht als „Grundstück“ bzw. Gelände“ verstanden wird (näher Kühling/Pisal RdE 2010, 162 [165 f.]; dies. et 1-2/2012, 127 [133]). Hieran anknüpfend hat der deutsche Gesetzgeber in § 10 a Abs. 6 EnWG aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bewusst die einschränkende Formulierung „Büro- und Geschäftsräume“ gewählt (BT-Drs. 343/11, 152 [Gesetzentwurf der Bundesregierung]); anders European Commission, Commission Staff Working Paper v. 22.1.2010 (Fn. 738), S. 16. 740 Für ein enges Verständnis vgl. BT-Drs. 17/6072, 61 (Begründung zu § 10 a Abs. 5 S. 3 EnWG-E 2011), wonach „[s]owohl der Berater- als auch der Auftragnehmerbegriff (…) auf die jeweiligen natürlichen Personen und nicht auf die jeweiligen Beratungsgesellschaften (…) beschränkt [ist]“; kritisch Europäische Kommission, Stellungnahme v. 6.9.2012, C(2012) 6354 final, 5 (Zertifizierung der Amprion GmbH); näher Säcker/Mohr in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, § 10 a Rn. 31. 741 S. daneben noch Art. 47 Abs. 1 lit. b Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 18 Abs. 1 lit. b Gas-RL 2009/73, wonach der ITO die Befugnis haben muss, Geld auf dem Kapitalmarkt durch Aufnahme von Darlehen oder Kapitalerhöhung zu beschaffen.

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zentral bedeutsamen Aufgaben „Betrieb, Wartung und Ausbau eines sicheren, effizienten und wirtschaftlichen Übertragungs-/Fernleitungsnetzes“ zugewiesen (sog kompetentielle Vollausstattung). Hinzu tritt die vom ITO wahrzunehmende Investitionsplanung nach Art. 46 Abs. 2 lit. f Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 2 lit. f Gas-RL 2009. Aus Art. 46 Abs. 2 lit. h Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 2 lit. h Gas-RL 2009/73 folgt schließlich, dass der ITO ua über eine Rechtsabteilung, Buchhaltung und IT-Betreuung verfügen muss.742 Sechstens ist der ITO nach Art. 46 Abs. 4 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 4 Gas-RL 2009/73 dazu verpflichtet – ua durch die Kommunikation nach außen und seine Markenpolitik – eine eigene Unternehmensidenität aufzubauen (sog marketingorientierte Vollausstattung). Zur Vermeidung von Verwechslungen muss sich diese erkennbar von der Identität des vertikal integrierten Unternehmens oder eines Teils davon unterscheiden. 204 Regelungen zur Gewährleistung der kompetentiellen und organisatorischen Unabhängigkeit des ITO sowie zur Unabhängigkeit seines Personals und der Unternehmensleitung treffen die Art. 47 und 48 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 18 und 19 Gas-RL 2009.743 In kompetentieller Hinsicht muss der ITO gem. Art. 47 Abs. 1 lit. a Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 18 Abs. 1 lit. a Gas-RL 2009/73 autonome wirksame Entscheidungsbefugnisse haben in Bezug auf Vermögenswerte oder Ressourcen, die für den Betrieb, die Wartung und den Ausbau des Netzes erforderlich sind. Art. 47 Abs. 4 S. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 18 Abs. 4 S. 2 Gas-RL 2009/73 bestimmt überdies explizit, dass das Mutterunternehmen das Wettbewerbsverhalten des ITO im laufenden Geschäft, bei der Netzverwaltung oder bei der Aufstellung des zehnjährigen Netzentwicklungsplans (Art. 51 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 22 Gas-RL 2009/73) weder direkt noch indirekt beeinflussen darf. In organisatorischer Hinsicht wird die Unabhängigkeit des ITO durch die Inkompatibilitätsregel des Art. 47 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 18 Abs. 3 Gas-RL 2009/73 gewährleistet.744 Danach dürfen Tochterunternehmen, die in den Bereichen Erzeugung/Gewinnung oder Versorgung tätig sind, weder direkt noch indirekt Anteile am ITO halten, et vice versa. Anteilseigner der Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreiber muss also unmittelbar die Konzernmutter sein.745 Was schließlich die Unabhängigkeit des Personals und der Unternehmensleitung des ITO betrifft, so wird diese durch eine Reihe von Vorgaben in Art. 48 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 19 Gas-RL 2009/73 sichergestellt. Hervorzuheben sind insoweit die in Art. 48 Abs. 3, 7 und 8 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 19 Abs. 3, 7 und 8 Gas-RL 2009/73 differenziert geregelten vorlaufenden und nachwirkenden Karenzzeiten für die Personen der Unternehmensleitung (bzw. bestimmte, ihnen unmittelbar unterstellte Personen) sowie die Mitglieder der Verwaltungsorgane des ITO.746 205 In institutioneller Hinsicht sind vor allem die Vorgaben zur Rechtsform, zum Gleichbehandlungsprogramm und zum Gleichbehandlungsbeauftragten sowie zum neuartigen 742 Zur Frage, ob und inwieweit daneben noch externe Expertise eingeholt werden kann vgl. Kühling/ Pisal et 1-2/2012, 127 (131 mwN); restriktiv: European Commission, Commission Staff Working Paper (Fn. 661), S. 15: „Only if the ITO has employed a sufficient number of staff members for day-today handling of these activities may it, in specific circumstances and by way of exception, conclude contracts with third-party service providers for legal, IT, or accountancy services“. 743 Grundlegend Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (85 f.). 744 Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (85). 745 Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 25. 746 Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (86); Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 35 f.; kritisch Michaelis/Kemper RdE 2012, 10 (12); s. auch noch die Sonderregelung für die Mitglieder des „Aufsichtsorgans“ in Art. 49 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 20 Abs. 3 Gas-RL 2009/73. Die EUKommission rügt aktuell im Rahmen der Aufsichtsklage gegen Deutschland (Fn. 669) auch eine nur eingeschränkte Umsetzung der unionsrechtlichen Vorschriften über die Unabhängigkeit des Personals und der Unternehmensleitung des ITO (konkret Art. 19 Abs. 3 und Abs. 5 Strom-RL 2009/72 bzw. Art. 19 Abs. 8 und Abs. 5 Gas-RL 2009/73).

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B. Gegenstandsbereich „Aufsichtsorgan“ des ITO hervorzuheben. Die zulässigen Rechtsformen des ITO ergeben sich aus der Bezugnahme von Art. 46 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 17 Abs. 3 GasRL 2009/73 auf Anhang I der Richtlinie (EU) 2017/1132747 bzw. Art. 1 der Richtlinie 68/151.748 Für Deutschland werden im Gassektor mit der Aktiengesellschaft (AG), der Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) noch drei Rechtsformen benannt. Demgegenüber konzentriert sich die Vorgabe im Stromsektor auf die AG. Im Weiteren sieht Art. 50 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 21 Gas-RL 2009/73 die Aufstellung und Durchführung eines Gleichbehandlungsprogramms (Abs. 1) sowie die Ernennung eines Gleichbehandlungsbeauftragten (Abs. 2) vor.749 Hierdurch sollen diskriminierende Verhaltensweisen des ITO ausgeschlossen werden. Von herausragender Relevanz ist in institutioneller Hinsicht schließlich das durch Art. 49 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 20 Gas-RL 2009/73 etablierte „Aufsichtsorgan“ des ITO. Ihm kommen vor allem in den Bereichen Finanzen und Personal wichtige Befugnisse zu.750 Zum einen hat es gem. Art. 49 Abs. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 20 Abs. 1 Gas-RL 2009/73 Entscheidungen zu treffen, die von erheblichem Einfluss auf den Wert der Vermögenswerte der Anteilseigner des ITO sind. Hierzu zählen insbesondere Entscheidungen im Zusammenhang mit der Genehmigung der jährlichen und der langfristigen Finanzpläne, der Verschuldungshöhe des ITO und der Höhe der an die Anteilseigner auszuzahlenden Dividenden. Zum anderen entscheidet das Aufsichtsorgan nach Art. 48 Abs. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 19 Abs. 1 Gas-RL 2009/73 – bei bestehendem Vetorecht der nationalen Regulierungsbehörde nach Abs. 2 – über die Auswahl der Personen der Unternehmensleitung und die Besetzung der Verwaltungsorgane des ITO. Explizit ausgeschlossen werden in Art. 49 Abs. 1 S. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 20 Abs. 1 S. 2 GasRL 2009/73 dagegen Entscheidungsbefugnisse hinsichtlich der laufenden Geschäfte des ITO und der Netzverwaltung sowie in Bezug auf die notwendigen Tätigkeiten zur Aufstellung des zehnjährigen Netzentwicklungsplans nach Art. 51 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 22 Gas-RL 2009. Dessen ungeachtet verfügt das Aufsichtsorgan insgesamt über zentrale Befugnisse, weshalb seine Zusammensetzung von besonderem Interesse ist. Art. 49 Abs. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 20 Abs. 2 Gas-RL 2009/73 bestimmt insoweit, dass sich das Aufsichtsorgan aus Vertretern des vertikal intergrierten Unternehmens, Vertretern von dritten Anteilseignern und – sofern im nationalen Recht vorgesehen – Vertretern anderer Interessengruppen (wie etwa den Arbeitnehmern des ITO im Rahmen der Mitbestimmung)751 zusammensetzt. Aus der kryptisch formulierten Regelung des Art. 49 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 20 Abs. 3 Gas-RL 2009/73 ergibt sich dabei, dass die Mehrheit der Mitglieder des Aufsichtsorgans von der Muttergesellschaft bestimmt werden kann.752 Anders als beim ISO-Modell verbleiben dem vertikal integrierten Unternehmen damit substanzielle Möglichkeiten der Einflussnahme.

747 RL (EU) 2017/1132 des EP und des Rates v. 14.6.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, ABl. 2017 L 169/46; zuletzt geändert durch: RL (EU) 2019/1151 des EP und des Rates v. 20.6.2019, ABl. 2019 L 186/80. 748 Erste RL 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften iSd Art. 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8; aufgehoben durch: RL 2009/101/EG, ABl. 2009 L 258/11. 749 Ausführlich Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 93 Rn. 71 ff. 750 Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (86); Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 50 f. 751 Zu den sich hier stellenden Fragen im Kontext des nationalen Mitbestimmungsrechts: Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (87). 752 Zur umstrittenen Frage nach der Höhe der Mehrheit vgl. die Diskussion zwischen Schmidt-Preuß (et 9/2009, 82 [86 f.] sowie et 12/2009, 74 f.: maximal zwei Mitglieder) und Säcker (et 11/2009, 80 f.: maximal ein Mitglied; s. auch Säcker/Mohr N&R 2012/Beilage 2, 1 [16 mwN]).

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§ 5 Energierecht

206 Zur Gewährleistung der Angemessenheit des Netzes und der Versorgungssicherheit wird der ITO schließlich in Art. 51 Abs. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 22 Abs. 1 Gas-RL 2009/73 dazu verpflichtet, der Regulierungsbehörde jedes Jahr einen zehnjährigen Netzentwicklungsplan vorzulegen und auf der eigenen Website zu veröffentlichen.753 Darin sind neben den bereits beschlossenen Investitionen ua auch die neuen Investitionen zu bestimmen, die in den nächsten drei Jahren durchgeführt werden müssen. Der Regulierungsbehörde kommt die Aufgabe zu, den vorgelegten Plan zu prüfen, ggf. Änderungen zu verlangen und seine Durchführung sicherzustellen. Verweigert der ITO die Vornahme einer darin vorgesehenen neuen Investition aus nicht-zwingenden Gründen, so soll die Regulierungsbehörde verpflichtet sein, zumindest eine von drei Maßnahmen zu ergreifen (s. Art. 51 Abs. 7 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 22 Abs. 7 Gas-RL 2009/73).754 Konkret handelt es sich hierbei erstens um die bloße Aufforderung des ITO zur Vornahme der Investion, zweitens die Einleitung eines allen Investoren offen stehenden Ausschreibungsverfahrens zur Durchführung der Investition sowie drittens die Verpflichtung des ITO, einer Kapitalaufstockung zur Finanzierung der notwendigen Investitionen zuzustimmen und unabhängigen Investoren eine Kapitalbeteiligung zu ermöglichen. Vor allem die letztgenannte Option einer Zwangs-Kapitalerhöhung wirft mit Blick auf die Investitions- und Finanzierungsfreiheit des regulierten Unternehmens und die Mitgliedschaftsrechte seiner Anteilseigner erhebliche grundrechtliche Bedenken (bzgl. Art. 16 und 17 GRC) auf.755 (4) Kompetenz- und grundrechtliche Bewertung 207 Die Vereinbarkeit der Unbundling-Optionen mit den Vorgaben des EU-Primärrechts ist im Schrifttum kontrovers diskutiert worden.756 Im Fokus standen dabei die im Kommissionsvorschlag noch allein vorgesehenen Konzepte des Ownership Unbundling und des Independent System Operator. Die Kritik stützte sich auf kompetenz- und grundrechtliche Bedenken. In kompetenzrechtlicher Hinsicht ist darauf hingewiesen worden, dass es sich sowohl beim OU- als auch beim wirkungsgleichen ISO-Modell um einen „branchenweiten Zwangsverkauf“757 handele. Hierdurch werde die Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten berührt und die Kompetenzausübungsschranke des Art. 345 AEUV (ex-Art. 295 EG) aktiviert758.759 In grundrechtlicher Perspektive ist vor allem geltend gemacht worden, dass das OU-/ISO-Modell wegen der gleich geeigneten aber milderen Alternative eines Independent Transmission Operator als unverhältnismäßiger Eingriff in die EU-Grundrech753 Zur Einführung eines Netzentwicklungsplans auch auf Ebene der Verteilernetzbetreiber vgl. für den Stromsektor jetzt Art. 32 Abs. 3-5 Strom-RL 2019/944 (mit Ausnahmemöglichkeit für integrierte Unternehmen, die weniger als 100.000 angeschlossene Verbraucher oder kleine isolierte Systeme bedienen); kritisch Groebel in FS für Schmidt-Preuß, S. 605 (626). 754 Näher hierzu Kühling/Pisal ZNER 2011, 13 (18); zuletzt Strobel, S. 382 ff. 755 Kritisch Schmidt-Preuß et 9/2009, 82 (87); s. ferner Gärditz/Rubel N&R 2010, 194 (199 ff.); anders Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Hermes EuR Kap. 35 Rn. 41. 756 Vgl. jüngst weitergehend zum WTO-Recht und zum internationalen Investitionsschutzrecht Dralle, S. 83 ff., 203 ff. 757 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 82, 84. 758 Vgl. insbes. Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 52, 82; ders. et 9/2009, 82 (83, 84); ders. EuR 2006, 463 (474 f., 484 [zum OU]); ebenso Baur/Pritzsche/Pooschke/Fischer, S. 20 ff.; insbes. zum OU: Mayen/Karpenstein RdE 2008, 33 (42 f.); Pießkalla EuZW 2008, 199 (201 ff., 204); aA Müller-Terpitz/Weigl EuR 2009, 348 (357 ff.); ferner Calliess, S. 27 ff., 43 ff.; ders. et 11/2007, 92 (94); Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (765); Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/ AEUV AEUV Art. 345 Rn. 11; Holznagel/Theurl/Meyer/Schumacher, S. 71 f.; J.P. Schneider in ders./ Theobald § 2 Rn. 57; Schorkopf in Löwer, Strommarkt, S. 117 (121); zwischen OU- und ISO differenzierend: Storr EuZW 2007, 232 (235 f.). 759 Zum weitergehenden Einwand der fehlenden Kompetenzgrundlage in ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) vgl. Baur/Pritzsche/Pooschke DVBl. 2008, 483 (485); hiergegen aber zu Recht Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (765), unter Rekurs auf die finale Ausrichtung der Binnenmarktkompetenz.

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B. Gegenstandsbereich

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te der Eigentumsfreiheit (Art. 17 GRC) und der Berufs-/Unternehmensfreiheit (Art. 15 und 16 GRC) zu qualifizieren sei.760 Beide vorgenannten Einwände sind freilich durch die Einführung der – im Grundsatz 208 kompetenz- und grundrechtlich unbedenklichen761 – „third option“ des ITO entschärft worden.762 Insbesondere verschiebt sich die Grundrechtsproblematik hierdurch auf die nationale Ebene.763 Der Grund ist, dass im Umsetzungsspielraum von Richtlinien – hier konkret: bei der Entscheidung zwischen den drei Unbundling-Optionen – (zumindest auch) die nationalen Grundrechte Anwendung finden764 (s. zur Frage des anwendbaren Grundrechtsmaßstabs bereits → Rn. 109). Der deutsche Gesetzgeber hat sich im Rahmen der eng an den Wortlaut der Binnenmarktrichtlinien angelehnten EnWG-Novelle 2011765 dafür entschieden, die Wahl zwischen den drei Entflechtungsvarianten den regulierten Unternehmen zu überlassen. Hiermit wird zugleich etwaigen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das OU-/ISO-Modell vorgebeugt. (5) Ausblick: Erstreckung des Entflechtungsregimes auf Gasfernleitungen aus bzw. nach Drittstaaten Losegelöst vom Winterpaket (Clean-Energy-Package) hat die Kommission am 8.11.2017 209 eine vor allem (aber nicht nur) für die Entflechtungsregeln bedeutsame Änderung der GasRichtlinie 2009/73 vorgeschlagen.766 Danach soll der Anwendungsbereich des europäischen Regulierungsrechts auf alle Gasfernleitungen erweitert werden, die von Mitgliedstaaten in Drittstaaten hinein oder aus diesen heraus auf das Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten führen. Nach kontroversen Verhandlungen erzielten Unterhändler von Parlament, Rat und Kommission am 12.2.2019 einen Kompromiss, dessen förmliche Billigung durch den Unionsgesetzgeber noch aussteht.767 Die am 17.4.2019 von Parlament und Rat verabschiedete Änderungsrichtlinie (EU) 2019/692768 sieht vor, dass die den Gasbinnenmarkt der EU regelnden Vorschriften (darunter insbes. das Entflechtungsregime) künftig auch Gasfernleitungen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat bis zum Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder dem Küstenmeer dieses Mitgliedstaats erfassen sollen (s. Art. 2 Nr. 17 Gas-RL 2009/73). Zugleich können gemäß Art. 49 a Gas-RL 2009/72 für bestehende Leitungen Ausnahmen gewährt werden, über die das erste EU-Zielland eines 760 Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Einl. B Rn. 82; ders. et 9/2009, 82 (83, 84); einen Grundrechtsverstoß bejahend auch: Baur/Pritzsche/Pooschke/Fischer, S. 28 ff., 70 ff.; Büdenbender/ Rosin, S. 121 ff.; insbes. zum OU: Müller-Terpitz/Weigl EuR 2009, 348 (360 ff., 369); zwischen OUund ISO-Modell differenzierend: Kühling/Hermeier et 1-2/2008, 134 ff.; Storr EuZW 2007, 232 (237); unentschieden: Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (765); Holznagel/Theurl/Meyer/Schumacher, Ownership Unbundling, S. 89 f.; J.P. Schneider in ders./Theobald § 2 Rn. 57; Schorkopf in Löwer, Strommarkt, S. 117 (125 ff.); für die grundrechtliche Zulässigkeit einer eigentumsrechtlichen Entflechtung: Kaiser/Wischmeyer VerwArch 101 (2010), 34 (49 ff.). 761 Ebenso schon Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (766); näher Schmidt-Preuß in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. B Rn. 84; vgl. auch ders. et 9/2009, 82 (88), wo grundrechtliche Bedenken „nur“ hinsichtlich der – nicht-modellprägenden – Zwangs-Kapitalerhöhung nach Art. 22 Strom-/GasRL 2009 (Art. 51 Strom-RL 2019/944) formuliert werden. 762 S. auch Schmidt-Preuß in Storr, S. 1 (17). 763 Ähnlich Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (766); Schorkopf in Löwer, Strommarkt, S. 117 (129 ff.); Storr in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 94 Rn. 87, 88 ff. 764 Zur Diskussion um einen Verstoß gegen nationales Verfassungsrecht vgl. beschreibend Dralle, S. 66 ff. 765 Vgl. auch Busch N&R 2011, 226: „inhaltlich 1:1“; näher zur Umsetzung der Entflechtungsvorgaben im EnWG 2011: Kühling/Rasbach RdE 2011, 332 (333 ff.); Kühling/Pisal et 1-2/2012, 127 (128 ff.); Michaelis/Kemper RdE 2012, 10 (13 ff.); Säcker/Mohr N&R 2012/Beilage 2, 1 ff.; Salje RdE 2011, 325 (326); Theobald/Gey-Kern EuZW 2011, 896 (899). 766 COM(2017) 660 final; hierzu Keller-Herder/Scholtka ER 2018, 55. 767 S. insoweit den finalen Kompromisstext unter der Dok.-Nr. ST 6351 2019 INIT. 768 ABl. 2019 L 117/1.

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§ 5 Energierecht Gasimports zu entscheiden hat. Vorgesehen ist in Art. 49 b Gas-RL 2009/73 zudem ein sog Ermächtigungsverfahren für die Aushandlung von Abkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten über den Betrieb einer Gasfernleitung. Derartige Abkommen könnten zB dazu dienen, etwaige Unvereinbarkeiten zwischen dem Unionsrecht und den Rechtsvorschriften eines Drittstaates auszuräumen. Die Mitgliedstaaten sind zur Benachrichtigung der Kommission verpflichtet, wenn sie Verhandlungen mit einem Drittstaat über den Abschluss, die Änderung oder Ausweitung eines solchen Abkommens mit Auswirkungen auf die gemeinsamen Vorschriften der EU aufnehmen wollen. Im Hinblick auf denjenigen Teil, der Auswirkungen auf die EU-Vorschriften haben könnte, muss dann die Kommission den Mitgliedstaat ermächtigen, förmliche Verhandlungen aufzunehmen. Inwieweit im Lichte dieser Regelungen noch Raum für eine gänzliche Ausnahme der umstrittenen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2769 von den Entflechtungsvorgaben besteht, erscheint zumindest zweifelhaft und dürfte Anlass für weitere Kontroversen zwischen Bundesregierung und Kommission geben. Im Übrigen sind auch bereits Nichtigkeitsklagen der Nord Stream AG (T-530/19) und der Nord Stream 2 AG (T-526/19) beim EuG anhängig. cc) Verteilernetzbetreiber

210 Die Verteilernetzbetreiber blieben von der Verschärfung des Unbundling-Regimes durch das Dritte Legislativpaket ausgenommen. Es bleibt hier vielmehr grundsätzlich beim bisherigen Vierklang aus buchhalterischer, informationeller, operationeller und rechtlicher Entflechtung. Dahinter stand die Annahme, dass der Einfluss von Produktions- und Vertriebsinteressen im Bereich der Verteilernetze weniger ausgeprägt ist, als auf der (vorgelagerten) Ebene der Transportnetze.770 Hieraus resultiert ein geringeres Diskriminierungspotenzial.771 Der Unionsgesetzgeber erachtete vor diesem Hintergrund die klarere Formulierung, ordnungsgemäße Umsetzung und genaue Überwachung des bisherigen UnbundlingRegimes in Art. 26 Strom-/Gas-RL 2009 für ausreichend.772 Hieran hat sich auch durch das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket im Kern nichts verändert (s. jetzt Art. 35 Strom-RL 2019/944; s. aber noch → Rn. 211 aE). 211 Dessen ungeachtet ergaben sich aus dem Dritten Legislativpaket von 2009 (insoweit unverändert durch das vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket) in dreierlei Hinsicht auch Intensivierungen der Entflechtungsanforderungen für Verteilernetzbetreiber:773 Erstens fordert Art. 35 Abs. 2 S. 2 lit. c Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 26 Abs. 2 S. 2 lit. c GasRL 2009/73 nunmehr explizit, sicherzustellen, dass der Verteilernetzbetreiber im vertikal integrierten Unternehmen „über die erforderlichen Ressourcen, einschließlich personeller, technischer, materieller und finanzieller Ressourcen verfügen“ muss. Hierdurch soll ihm die Ausübung der tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse in Bezug auf Vermögenswerte, die für den Betrieb, die Wartung oder den Ausbau des Netzes erforderlich sind, unabhängig vom vertikal integrierten Unternehmen ermöglicht werden. Anders als im Übertragungs-/Fernleitungsbereich bleiben sog Shared Services aber grundsätzlich zulässig.774 Zweitens erfuhr die Rolle des Gleichbehandlungsbeauftragten des Verteilernetzbetreibers eine Aufwertung. Dieser hat gem. Art. 35 Abs. 2 S. 2 lit. d Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 26 Abs. 2 lit. d Gas-RL 2009/73 „völlig unabhängig“ zu sein und muss Zugang zu 769 Näher Becker ZNER 2019, 181. 770 Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf. Rn. 61 (67. EL 2010). 771 Vgl. näher Erwägungsgrund Nr. 26 Strom-RL 2009/72 (jetzt aber nicht mehr expliziert in Erwägungsgrund Nr. 65 Strom-RL 2019/944) bzw. Erwägungsgrund Nr. 25 Gas-RL 2009/73. 772 Erwägungsgrund Nr. 26 Strom-RL 2009/72 (jetzt aber nicht mehr expliziert in Erwägungsgrund Nr. 65 Strom-RL 2019/944) bzw. Erwägungsgrund Nr. 25 Gas-RL 2009/73. 773 Ausführlich Boers N&R 2011, 16 (17 ff.). 774 Darauf hinweisend auch Büdenbender/Rosin RdE 2010, 197 (202).

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B. Gegenstandsbereich

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allen benötigten Informationen erhalten, über die der Verteilernetzbetreiber und etwaige verbundene Unternehmen verfügen. Drittens sieht Art. 35 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 26 Abs. 3 Gas-RL 2009/73 als neue Anforderung vor, dass vertikal integrierte Verteilernetzbetreiber in ihren Kommunikationsaktivitäten und ihrer Markenpolitik sicherzustellen haben, dass eine Verwechslung mit der Versorgungssparte des vertikal integrierten Unternehmens ausgeschlossen ist. Mit Blick auf das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket ist auf die besonderen Regelungen zu Ladepunkten für Elektrofahrzeuge und für Energiespeicheranlagen hinzuweisen. Nach Art. 33 Abs. 2 bzw. Art. 36 Abs. 1 StromRL 2019/944 ist künftig ein an die Verteilernetzbetreiber gerichtetes grundsätzliches Verbot zu etablieren, Eigentümer solcher Anlagen zu sein oder diese zu entwickeln (errichten), zu verwalten oder zu betreiben.775 Die Mitgliedstaaten können allerdings unter den in Art. 33 Abs. 3 bzw. Art. 36 Abs. 2 und 4 Strom-RL 2019/944 umschriebenen Bedingungen Ausnahmen gestatten.776 d) Zertifizierung von Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibern Die Zulassung und Benennung eines Unternehmens als Übertragungs- bzw. Fernleitungs- 212 netzbetreiber (nicht dagegen als Verteilernetzbetreiber) setzt seine Zertifizierung voraus. Dabei ist zwischen dem in Art. 52 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 10 Gas-RL 2009/73 geregelten einfachen Zertifizierungsverfahren und dem spezifischen Zertifizierungsverfahren für Drittlands-Unternehmen nach Art. 53 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Gas-RL 2009/73 zu unterscheiden:777 aa) Einfaches Zertifizierungsverfahren Das einfache Verfahren ist dreistufig aufgebaut: In einem ersten Schritt leitet die nationale 213 Regulierungsbehörde ein Zertifizierungsverfahren ein, um die Einhaltung der Entflechtungsanforderungen (zum OU,778 ISO779 oder ITO780) sicherzustellen. Dabei kann sie sowohl aus eigener Initiative als auch anlässlich der Mitteilung eines Netzbetreibers oder eines begründeten Antrags der Kommission tätig werden (Art. 52 Abs. 4 S. 2 lit. a–c StromRL 2019/944 bzw. Art. 10 Abs. 4 S. 2 lit. a–c Gas-RL 2009/73). Die Entscheidung der Regulierungsbehörde – die in den beiden letztgenannten Fällen binnen vier Monaten zu treffen ist781 – wird allerdings erst nach Abschluss des in Art. 52 Abs. 6 Strom-RL 2019/944 iVm Art. 51 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 10 Abs. 6 Gas-RL 2009/73 iVm Art. 3 GasVO 715/2009 geregelten Verfahrens wirksam (vgl. Art. 52 Abs. 5 S. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 10 Abs. 5 S. 3 Gas-RL 2009/73). Dieses gliedert sich in zwei weitere Schritte: Zunächst prüft die EU-Kommission gem. Art. 51 Abs. 1 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 3 Abs. 1 Gas-VO 715/2009 in einer Art Zwischenverfahren, ob die Zertifizierungs-Entscheidung der nationalen Regulierungsbehörde mit Art. 52 Abs. 2 oder Art. 53 sowie mit Art. 43 Strom-RL 2019/944 bzw. mit Art. 10 Abs. 2 oder Art. 11 sowie mit Art. 9 GasRL 2009/73 im Einklang steht. Dazu gibt sie innerhalb von zwei Monaten eine Stellung-

775 Kahles/Pause ER 2019, 47 (49 f.); kritisch zu beiden Regelungen Meyer/Sène RdE 2019, 278 (285 f.), die auch auf die Vorgabe für Übertragungsnetzbetreiber in Art. 54 Strom-RL 2019/944 hinweisen. 776 Hierzu etwa Pause ZUR 2019, 387 (395). 777 Näher Möllinger, S. 183 f., 232 ff.; vgl. auch Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 28 ff.; Stanič in Cameron/Heffron, 2.30 ff. 778 Vgl. Art. 53 Abs. 3 S. 2 lit. a iVm Art. 43 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 3 S. 2 lit. a iVm Art. 9 Gas-RL 2009/73. 779 S. Art. 44 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 3 Gas-RL 2009/73. 780 Vgl. Art. 47 Abs. 10 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 18 Abs. 10 Gas-RL 2009/73. 781 Nach Ablauf der Viermonatsfrist gilt die Zertifizierung als erteilt.

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§ 5 Energierecht

nahme ab.782 Der nationale Regulierer trifft dann binnen zweier weiterer Monate eine endgültige Entscheidung. Dabei ist er gem. Art. 51 Abs. 2 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 3 Abs. 2 Gas-VO 715/2009 nur verpflichtet, die Stellungnahme der Kommission „so weit wie möglich“ zu berücksichtigen. Hieraus folgt eine gesteigerte Berücksichtigungspflicht, nicht aber eine strikte Verbindlichkeit im Sinne einer Vetoposition der Kommission.783 Die Letztentscheidungsbefugnis verbleibt also bei der nationalen Regulierungsbehörde,784 deren Entscheidung zusammen mit der Stellungnahme der Kommission veröffentlicht wird. 214 Unternehmen, die Eigentümer eines Übertragungs-/Fernleitungsnetzes sind und denen im Zertifizierungsverfahren die Einhaltung der Entflechtungsanforderungen attestiert wurde, sind gem. Art. 52 Abs. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 10 Abs. 2 Gas-RL 2009/73 von den Mitgliedstaaten zuzulassen und als Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreiber zu benennen (S. 1). Die Benennung wird der Kommission mitgeteilt und im Amtsblatt der EU veröffentlicht (S. 2). Der weitergehenden Zustimmung der Kommission bedarf allein die Benennung eines Independent System Operator (Art. 44 Abs. 1 S. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 14 Abs. 1 S. 2 Gas-RL 2009/73).785 In der Folge sind die derart benannten Unternehmen verpflichtet, die Regulierungsbehörde über alle geplanten Transaktionen zu unterrichten, die zu einer Neubewertung führen können (Art. 52 Abs. 3 StromRL 2019/944 bzw. Art. 10 Abs. 3 Gas-RL). Die Regulierungsbehörde ihrerseits hat die Aufgabe zur Beobachtung der ständigen Einhaltung des Art. 43 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Gas-RL 2009/73 und zur anlassbezogenen (Neu-)Einleitung eines Zertifizierungsverfahrens (Art. 52 Abs. 4 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 10 Abs. 4 Gas-RL 2009/73). bb) Spezifisches Zertifizierungsverfahren (Drittstaatenklausel) 215 Die Grundregelung des Art. 52 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 10 Gas-RL 2009/73 wird bei der Zertifizierung von Drittstaatsunternehmen durch die speziellen Vorschriften der Drittstaatenklausel aus Art. 53 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Gas-RL 2009/73 ergänzt.786 Auch für das derart etablierte spezifische Zertifizierungsverfahren ergibt sich ein dreistufiger Ablauf:787 216 Im Rahmen des Vorschaltverfahrens nimmt die nationale Regulierungsbehörde innerhalb von vier Monaten nach der informatorischen Mitteilung des Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibers gem. Art. 53 Abs. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 2 GasRL 2009/73 den Entwurf einer Entscheidung über die nach Abs. 1 beantragte Zertifizie782 Die Frist verlängert sich um weitere zwei Monate, sofern die Kommission ihrerseits eine Stellungnahme der Energieagentur ACER einholt (Art. 51 Abs. 1 UAbs. 2 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 Gas-VO 715/2009). Legt die Kommission innerhalb der jeweiligen Frist keine Stellungnahme vor, so wird gem. Art. 51 Abs. 1 UAbs. 3 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 3 Gas-VO 715/2009 davon ausgegangen, dass sie keine Einwände gegen die Entscheidung der nationalen Regulierungsbehörde erhebt. 783 Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 29; aA (aber entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 51 Abs. 2 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 3 Abs. 2 Gas-VO 715/2009): Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf. Rn. 41 (67. EL 2010). 784 Etwas anderes gilt nur für den Sonderfall der Zertifizierung eines Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibers nach Art. 43 Abs. 9 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 9 Abs. 10 Gas-RL 2009/73. Die endgültige Entscheidung wird hier durch die Kommission getroffen und von der nationalen Regulierungsbehörde umgesetzt (vgl. Art. 51 Abs. 5 Strom-VO 2019/943 bzw. Art. 3 Abs. 6 Gas-VO 715/2009). Der Grund ist, dass den Mitgliedstaaten dort ausnahmsweise die Möglichkeit eröffnet wird, vom OU-, ISO- und ITO-Modell abweichende Regeln anzuwenden (s. auch bereits den Hinweis in Fn. 732), was nach einem Korrektiv in Form der Letztentscheidungsbefugnis der Kommission verlangt. 785 Vgl. auch Schaller in FS für Scheuing, S. 415 (421). 786 Eingehend zur Drittstaatenklausel: Lecheler/Germelmann, S. 80 ff.; Schmidt-Preuß in Baur/Salje/ Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 13 ff.; s. auch Däuper N&R 2009, 214 (215); Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (769 f.). 787 Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 30; Möllinger, S. 233.

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rung eines von Personen aus Drittstaaten kontrollierten Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibers an (Art. 53 Abs. 3 S. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 3 S. 1 GasRL 2009/73). Dabei ist die Zertifizierung nur dann zu verweigern, wenn nicht nachgewiesen wird, dass erstens die betreffende Rechtsperson den Entflechtungsanforderungen (zum OU,788 ISO789 oder ITO)790 genügt und zweitens die Erteilung der Zertifizierung die Sicherheit der Energieversorgung des Mitgliedstaats und der EU nicht gefährdet791.792 Anderenfalls gibt die Regulierungsbehörde dem Antrag statt.793 Hieraus erhellt zugleich der doppelte Regelungszweck der Drittstaatenklausel:794 Zum einen soll die Wettbewerbsgleichheit zwischen den im Mitgliedstaat tätigen Transportnetzbetreibern gewährleistet, zum anderen einer Gefährdung der Energieversorgungssicherheit vorgebeugt werden. Nachweispflichtig ist grundsätzlich der Antragsteller im Zertifizierungsverfahren.795 Im anschließenden Zwischenverfahren prüft dann auch die Kommission, ob die Verein- 217 barkeit mit den Unbundling-Vorschriften gegeben und ob eine Gefährdung der Energieversorgungssicherheit der EU (nicht des Mitgliedstaats) durch die Erteilung der Zertifizierung ausgeschlossen ist (Art. 53 Abs. 5 und 6 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 5 und 6 Gas-RL 2009/73). Hierzu gibt sie innerhalb von zwei Monaten ihre Stellungnahme ab.796 Die binnen zweier weiterer Monate zu treffende endgültige Entscheidung über die Zertifi- 218 zierung des Drittstaatsunternehmens obliegt schließlich der nationalen Regulierungsbehörde. Sie ist wiederum nur verpflichtet, der Kommissions-Stellungnahme „so weit wie möglich“ Rechnung zu tragen. In Art. 53 Abs. 8 S. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 8 S. 3 Gas-RL 2009/73 erfährt die derart anerkannte Letztentscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten797 sogar eine nochmalige Verstärkung. Dort wird unterstrichen, dass die Mitgliedstaaten „in jedem Fall“ das Recht zur ablehnenden Entscheidung haben, wenn die Erteilung der Zertifizierung die Sicherheit der Energieversorgung des jeweiligen Mitgliedstaats oder die eines anderen Mitgliedstaats gefährdet. Art. 53 Abs. 8 S. 5 Strom788 Vgl. Art. 53 Abs. 3 S. 2 lit. a iVm Art. 43 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 3 S. 2 lit. a iVm Art. 9 Gas-RL 2009/73. 789 S. Art. 44 Abs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 13 Abs. 3 Gas-RL 2009/73. 790 Vgl. Art. 47 Abs. 10 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 18 Abs. 10 Gas-RL 2009/73. 791 Zu den hierbei nach Art. 53 Abs. 3 S. 2 lit. b Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 3 S. 2 lit. b Gas-RL 2009/73 zu berücksichtigenden völkerrechtlichen Rechten und Pflichten der EU bzw. des Mitgliedstaats gegenüber dem Drittstaat sowie den gleichfalls einzustellenden „andere[n] spezielle[n] Gegebenheiten des Einzelfalls und des betreffenden Drittlands“ vgl. Schmidt-Preuß in Baur/Salje/ Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 23, 25. 792 Zur Prüfung einer Gefährdung der Energieversorgungssicherheit kann der Mitgliedstaat auch eine andere zuständige Behörde benennen (Art. 53 Abs. 3 S. 2 lit. b S. 1 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 3 S. 2 lit. b S. 1 Gas-RL 2009/73; so § 4 b Abs. 2 EnWG: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) und bestimmen, dass die Regulierungsbehörde bei ihrer endgültigen Entscheidung an deren Bewertung gebunden ist (Art. 53 Abs. 8 S. 4 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 8 S. 4 Gas-RL 2009/73; so § 4 b Abs. 5 S. 3 EnWG). 793 Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 32. 794 S. auch Lecheler/Germelmann, S. 82. 795 Wie hier Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 24, der ergänzend auf die Legitimation beweislastbezogener Mitwirkungspflichten aus dem Gedanken der Sphärentheorie hinweist. 796 Die Frist verlängert sich um weitere zwei Monate, wenn die Kommission ihrerseits Standpunkte der Energieagentur ACER, des betroffenen Mitgliedstaats sowie interessierter Kreise einholt (Art. 53 Abs. 6 UAbs. 2 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 6 UAbs. 2 Gas-RL 2009/73). Gibt die Kommission innerhalb der jeweiligen Frist keine Stellungnahme ab, so wird gem. Art. 53 Abs. 6 UAbs. 3 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 6 UAbs. 3 Gas-RL 2009/73 davon ausgegangen, dass sie keine Einwände gegen die regulierungsbehördliche Entscheidung erhebt. 797 Ebenso bereits Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (769); Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 31 Rn. 30; ausführlich Schmidt-Preuß, ibid., Kap. 96 Rn. 26; s. auch Lecheler/Germelmann, S. 83; anders Möllinger, S. 234, wonach der Kommission „praktisch ein Vetorecht zu[steht]“.

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RL 2019/944 bzw. Art. 11 Abs. 8 S. 5 Gas-RL 2009/73 sieht schließlich vor, dass die endgültige Entscheidung der Regulierungsbehörde zusammen mit der Stellungnahme der Kommission – ggf. einschließlich der Begründung für eine Abweichung (S. 6) – zu veröffentlichen ist. 219 Im Vorfeld der Verabschiedung des Dritten Energiebinnenmarktpakets ist die Vereinbarkeit der Drittstaatenklausel mit dem EU-Primärrecht kontrovers diskutiert worden.798 Im Fokus stand die Vereinbarkeit mit den EU-Grundfreiheiten.799 Zu beachten ist allerdings, dass die Regelung im Rechtsetzungsverfahren erheblich modifiziert wurde. So lag den Richtlinienvorschlägen der Kommission noch ein deutlich strengerer Ansatz zugrunde.800 Danach durften Personen aus Drittländern grundsätzlich überhaupt nicht die Kontrolle über Übertragungs-/Fernleitungsnetze bzw. Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreiber erlangen. Eine Ausnahme von diesem generellen Verbot des Kontrollerwerbs durch Nicht-EUAusländer konnten nur völkerrechtliche Abkommen der Gemeinschaft vorsehen. Der gegen diese Regelung erhobene Protektionismusvorwurf fand in der gebräuchlichen Bezeichnung als Gazprom-Klausel seinen prägnanten Ausdruck.801 Bei rechtlicher Bewertung kam ein Verstoß gegen die Niederlassungs- und/oder die Kapitalverkehrsfreiheit in Betracht. Aus heutiger Sicht hat sich die Problematik aufgrund der erheblichen Abschwächung der mit der Drittstaatenklausel verbundenen Beeinträchtigungen im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens indes erkennbar entschärft. Die am 13.7.2009 verabschiedeten Regelungen (insbes. Art. 11 Strom-/Gas-RL 2009) sind nach – soweit ersichtlich – einhelliger Auffassung mit den EU-Grundfreiheiten vereinbar.802 Sofern eine Prüfung allein am Maßstab der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) vorgenommen wird,803 folgt dies schon daraus, dass Investoren aus Drittstaaten nicht vom persönlichen Schutzbereich der Grundfreiheit erfasst werden. Misst man die Drittstaatenklausel dagegen zugleich (oder ausschließlich) an der – auch Nicht-EU-Ausländern offenstehenden – Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV),804 so liegt zwar ein Eingriff vor. Dieser ist aber im Hinblick auf die deutliche Abmilderung der Drittstaatenklausel gegenüber dem Kommissionsvorschlag und der mit ihr verfolgten hochrangigen Schutzgüter der Energieversorgungssicherheit805 (s. auch schon → Rn. 58, 114) und der Wettbewerbsgleichheit gerechtfertigt.806

798 Vgl. zur Entstehungsgeschichte: Lecheler/Germelmann, S. 76 ff. 799 Zur zwar umstrittenen, in ständiger EuGH-Judikatur aber anerkannten Bindung der EU-Organe an die Grundfreiheiten vgl. EuGH 17.5.1984 – Rs. 15/83, Slg 1984, 2171 Rn. 15 – Denkavit Nederland; EuGH 9.8.1994 – C-51/93, Slg 1994, I-3879 Rn. 11 – Meyhui; EuGH 25.6.1997 – C-114/96, Slg 1997, I-3629 Rn. 27 – Kieffer und Thill; EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. 154 u. 155/04, Slg 2005, I-6451 Rn. 52 – Alliance for Natural Health; für einen Überblick zum Meinungsstand vgl. Dauses/ Ludwigs/ders. HdbEUWiR Kap. E.I. Rn. 31 f. 800 Vgl. Art. 8 a Strom-RL-2009-E (KOM[2007] 528 endg.); Art. 7 a Gas-RL-E (KOM[2007] 529 endg.); hierzu aus der Lit. Schmidt-Preuß RdE 2007, 281 (284 ff.); ders. in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 12; s. auch Lecheler/Germelmann, S. 166. 801 Statt vieler: Schmidt-Preuß RdE 2007, 281 (287 mwN). 802 Vgl. insoweit (mit zT unterschiedlicher Begründung): Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (770); Lecheler/Germelmann, S. 166; Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 77 ff. 803 Dafür Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (770); Lecheler/Germelmann, S. 166; s. auch allgemein zur Abgrenzung von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit Germelmann EuZW 2008, 596 (596 ff.), 600; Hindelang IStR 2010, 443 (447 f.); Völker IStR 2009, 705 (705 ff.). 804 In diese Richtung: Schmidt-Preuß RdE 2007, 281 (284 ff.); s. auch ders. in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 77 ff., mit ausführlicher Analyse der uneinheitlichen Judikatur des EuGH; hierzu auch näher Dauses/Ludwigs/ders. HdbEUWiR Kap. E.I. Rn. 12 ff. 805 Zur möglichen Anerkennung der Energieversorgungssicherheit als geschriebenem Rechtfertigungsgrund („öffentliche Sicherheit“ iSd Art. 36 AEUV) vgl. EuGH 10.7.1984 – Rs. 72/83, Slg 1984, 2727 Rn. 21 ff. – Campus Oil. 806 Eingehend Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 96 Rn. 85 ff.; ferner Gundel/Germelmann EuZW 2009, 763 (770 mit Fn. 110); Lecheler/Germelmann, S. 166.

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e) Stärkung der Verbraucherrechte Bereits das Dritte Legislativpaket zeichnete sich durch eine signifikante Aufwertung der 220 Verbraucherrechte im Strom- und Gassektor aus.807 Seit der jüngsten Reform im Rahmen des Winterpakets enhält die Strombinnenmarkt-Richtlinie (EU) 2019/944 nun sogar ein eigenes umfangreiches Kapitel III mit dem Titel „Stärkung und Schutz der Verbraucher“ (Art. 10–29 RL).808 Konkret müssen die Mitgliedstaaten etwa dafür sorgen, dass Kunden – im Rahmen der Vertragsbedingungen – binnen drei Wochen den Lieferanten wechseln können (ab 2026 sogar innerhalb von 24 Stunden), wobei grundsätzlich keine Gebühren in Rechnung gestellt werden dürfen (Art. 12 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 3 Abs. 6 iVm Anhang I lit. e Gas-RL 2009/73). Spätestens sechs Wochen nach einem Versorgerwechsel hat der Kunde dann eine Abschlussrechnung zu erhalten (Art. 10 Abs. 12 StromRL 2019/944 bzw. Anhang I Abs. 1 lit. j Gas-RL 2009/73). Des Weiteren sind die Mitgliedstaaten gem. Art. 28 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 3 Abs. 3 und 4 Gas-RL 2009/73 verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz von „schutzbedürftigen Kunden“ zu treffen. Dazu können ein Verbot, solche Kunden in schwierigen Zeiten von der Versorgung auszuschließen, oder auch die Ausarbeitung energiepolitischer Aktionspläne oder Leistungen der sozialen Sicherheitssysteme gehören. Ferner ist in Art. 19 Abs. 2 iVm Anhang II der StromRL 2019/944 bzw. Anhang I Abs. 2 Gas-RL 2009/73 die Einführung von intelligenten Messsystemen vorgesehen (vgl. im Stromsektor zudem den expliziten „Anspruch auf ein intelligentes Messsystem“ nach Art. 21 Strom-RL 2019/944). Hiermit soll eine aktive Beteiligung der Kunden am Strom-/Gasmarkt unterstützt werden. Darüber hinaus sind zentrale Anlaufstellen zur Verbraucherinformation und Mechanismen für die (außergerichtliche) Streitbeilegung zu etablieren (Art. 25 und 26 Strom-RL 2019/944 bzw. Art. 3 Abs. 9 Gas-RL 2009/73). Dem Schutz der Verbraucher dienen im Übrigen auch die Vorgaben zur Gewährleistung der Bereitstellung einer Grundversorgung in Art. 27 Strom-RL 2019/944 (zuvor bereits Art. 3 Abs. 3 Strom-RL 2009/72). Die jüngsten Fortentwicklungen im Elektrizitätssektor durch die Strom-RL 2019/944809 umfassen ua neue Regelungen über Rechte sog aktiver Kunden (Art. 15 iVm Art. 2 Nr. 8) und von Bürgerenergiegemeinschaften (Art. 16 iVm Art. 2 Nr. 11) sowie hinsichtlich der Gestaltung von Aggregierungen bzw. Aggregatoren als neuer Marktrolle (Art. 2 Nr. 18 und 19). Darüber hinaus trifft Art. 18 erstmals nähere Vorgaben über (kostenfreie) Abrechnungen und Abrechnungsinformationen, die genau, leicht verständlich, klar, prägnant, benutzerfreundlich und so dargestellt sein müssen, dass die Verbraucher sie besser vergleichen können (vgl. im Gassektor nur Anhang I Abs. 1 lit. i Gas-RL 2009/73). Hervorhebung verdienen schließlich die neuen Regelungen über einen Anspruch von Endkunden auf Verträge mit dynamischen Stromtarifen (Art. 11), die Ermöglichung und Förderung von Laststeuerung durch Aggregation (Art. 17), die Funktionen intelligenter Verbrauchsmesssysteme (Art. 20) sowie die Erfassung von Energiearmut (Art. 29). f) Ausbau der transeuropäischen Netze Ein Ausbau der transeuropäischen Netze ist Voraussetzung dafür, dass vorhandene Netz- 221 engpässe im Energiebinnenmarkt effektiv beseitigt werden.810 Die Europäische Kommission legte am 17.10.2010 eine Mitteilung mit dem Titel „Energieinfrastrukturprioritäten

807 Instruktiv bereits Danner/Theobald/Däuper Europ. EnergieR B Einf., Rn. 78 f. (67. EL 2010); zur ökonomischen Perspektive Golecki/Tereszkiewicz in Mathis/Huber, S. 253 ff. 808 Hierzu im Überblick Kahles/Pause ER 2019, 47 (48 ff.); s. auch Pause ZUR 2019, 387 (392 f.). 809 Noch zum Vorschlag der Kommission s. Groebel in FS für Schmidt-Preuß, S. 605 (625 f.); Scholtka/ Martin ER 2017, 240 (241 f.). 810 Danner/Theobald/Gundel Europ. EnergieR Rn. 44.

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§ 5 Energierecht bis 2020 und danach – ein Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz“ vor.811 Darin forderte sie eine neue Energieinfrastrukturpolitik, um die Netzentwicklung auf europäischer Ebene für den Zeitraum bis 2020 und danach zu optimieren und koordinieren, damit die EU ihre energiepolitischen Kernziele – Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Versorgungssicherheit – erreichen kann.812 In der Folge haben Parlament und Rat die Verordnung 1316/2013 zur Schaffung der Fazilität „Connecting Europe“ (CEF)813 erlassen.814 Hiermit sollen auch bestehende Lücken in den europäischen Energienetzen geschlossen werden. Die finanzielle Förderung für diesen Teilbereich beträgt im Zeitraum von 2014–2020 rund fünf Mrd. EUR. Sie zielt auf die Entwicklung und Errichtung neuer sowie den Ausbau vorhandener Infrastrukturen und Dienste ab (Art. 3 S. 2 VO 1316/2013).815 Daneben hat der Unionsgesetzgeber zur inhaltlichen Umsetzung des Konzepts der Mitteilung vom 17.10.2010 im Jahr 2013 die insbesondere auf Art. 172 AEUV gestützte Verordnung 347/2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur verabschiedet.816 Diese sog TEN-E-Verordnung umfasst bestimmte Kategorien von Energieinfrastrukturen für die Übertragung, Verteilung und Speicherung von Strom oder Gas sowie für den Transport von Erdöl oder Kohlendioxid (CO2), die sich in der EU befinden oder die EU mit mindestens einem Drittstaat verbinden (vgl. Art. 2 Nr. 1 iVm Anhang II TEN-E-VO 347/2013).817 Sie ist ua darauf ausgerichtet, die nationalen Genehmigungsverfahren für ausgewählte Vorhaben von gemeinsamem Interesse (Projects of Common Interest [VGE/PCI]) zu vereinheitlichen und eine Verkürzung der Verfahrensdauern herbeizuführen.818 Hierzu werden verschiedene Mechanismen etabliert, wie Vorgaben für die Organisation des Genehmigungsverfahrens, die Beteiligung der Öffentlichkeit oder die Dauer und Durchführung des Genehmigungsverfahrens. Die Kommission konnte in ihrer Mitteilung vom 23.11.2017 über die Stärkung der europäischen Energienetze auf erste Erfolge dieses Vorgehens verweisen. Danach sollten bis Ende 2018 etwa 30 VGE/PCI abgeschlossen werden. Weitere 47 von insgesamt 173 wichtigen Vorhaben sollen etwa 2020 finalisiert sein.819 Die notwendigen Investitionen zu Modernisierung und Ausbau der europäischen Energienetze bis 2030 werden von der Kommission auf etwa 180 Mrd. EUR beziffert.820 Im Übrigen sollen die VGE/PCI für den Stromsektor auch zur Erreichung der Stromverbundziele von 10 % bis 2020 bzw. 15 % bis 2030 beitragen821 (s. zum Stromverbundziel auch schon → Rn. 17). 2. Klima- und Umweltschutz

222 Zum Energiebinnenmarktrecht tritt als zweite Säule der EU-Energiepolitik das Energieumweltrecht mit seinen drei Kernmaterien Emissionshandel, Erneuerbare Energien und 811 KOM(2010) 677 endg. 812 Näher von Landwüst in Korte/Ludwigs/Thiele/Wedemeyer, S. 59 (59); vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 3 der TEN-E-VO 347/2013 (Fn. 307). 813 VO (EU) Nr. 1316/2013 des EP und des Rates v. 11.12.2013 zur Schaffung der Fazilität „Connecting Europe“, zur Änderung der VO (EU) Nr. 913/2010 und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 680/2007 und (EG) Nr. 67/2010, ABl. 2013 L 348/129; zuletzt geändert durch VO (EU) 2019/495des EP und des Rates v. 25.3.2019, ABl. 2019 L 85I/16. 814 Zum Folgenden bereits näher Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 114 f. 815 Für eine Halbzeitbewertung vgl. die Mitteilung der Kommission v. 14.2.2018, COM(2018) 66 final. 816 Nachweis in Fn. 307; s. hierzu auch die Literaturhinweise in Fn. 374. 817 Von Landwüst in Korte/Ludwigs/Thiele/Wedemeyer, S. 59 (61). 818 Zur Auswahl der Vorhaben von gemeinsamem Interesse vgl. statt vieler von Landwüst in Korte/ Ludwigs/Thiele/Wedemeyer, S. 59 (62 f.). 819 COM(2017) 718 final, 3. 820 COM(2017) 718 final, 2; vgl. auch COM(2018) 66 final, 4. 821 COM(2017) 718 final, 10, 13 f.

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Energieeffizienz hinzu. Der politische Rahmen wird durch die quantifizierten Klimaschutziele der EU (→ Rn. 17) abgesteckt. Zu ihrer Verwirklichung hat die Union eine kaum noch überschaubare Vielzahl von Sekundärrechtsakten erlassen. a) Emissionshandel vor Beginn der vierten Handelsperiode Der zum 1.1.2005 mit der Richtlinie 2003/87 (EH-RL)822 für Energieanlagen und emissi- 223 onsintensive Industrieanlagen eingeführte Emissionshandel trat am 1.1.2013 in die dritte Handelsperiode ein. Hiermit vollzog sich ein durch die Änderungs-Richtlinie 2009/29 angestoßener Paradigmenwechsel, der insbes. durch drei Merkmale gekennzeichnet ist: die Einführung einer EU-einheitlichen Obergrenze, die Etablierung des Grundprinzips der Versteigerung und die – soweit noch möglich – kostenlose Zuteilung nach unionsweiten und vollständig harmonisierten Regeln.823 Mit Wirkung vom 1.1.2019 erfolgte die Etablierung einer Marktstabilitätsreserve (MSR)824, um dem anhaltenden Preisverfall der Emissionszertifikate entgegenzuwirken. Zur Vorbereitung der vierten Handelsperiode von 2021–2030 wurden in der Änderungsrichtlinie 2018/410825 schließlich neue Regelungen geschaffen und die existierenden Bestimmungen des Emissionshandels an die aktuellen Entwicklungen angepasst. aa) EU-einheitliche Obergrenze Erstens sieht Art. 9 Abs. 1 EH-RL ab 2013 eine einzige EU-einheitliche Obergrenze für die 224 an ortsfeste Anlagen zu vergebenden Emissionszertifikate vor. Damit sind zugleich die vorher maßgeblichen Nationalen Zuteilungspläne entfallen. Die unionsweite Menge der ab 2013 jährlich zu vergebenden Emissionsberechtigungen826 wird bis Ende 2020 linear um 1,74 % p.a abgeschmolzen. Hierdurch soll das Reduktionsziel von 20 % bis 2020 erreicht werden.827 Im Rahmen der vierten Handelsperiode wird es dann ab 2021 zu einer forcierten jährlichen Absenkung der Gesamtzahl an Zertifikaten um einen linearen Faktor von 2,2 % kommen (Art. 9 Abs. 2 EH-RL). Den Hintergrund bildet das aktualisierte EUZiel einer Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 % (gemessen am Stand von 1990).828 bb) Grundprinzip der Versteigerung Zweitens etablierte Art. 10 EH-RL bereits mit Beginn der dritten Handelsperiode die Ver- 225 steigerung der Emissionsberechtigungen als Grundprinzip der Zuteilung an ortsfeste Anlagen.829 Ab Beginn der vierten Handelsperiode im Jahr 2021 beträgt der Anteil der zu ver822 Nachweis in Fn. 70. 823 Näher zum grundlegenden Wandel der Zuteilungsregeln in der dritten Handelsperiode Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 444 ff. 824 Nachweis in Fn. 90. 825 Nachweis in Fn. 91. 826 Mit dem Beschluss 2010/634/EU v. 22.10.2010 (ABl. 2010 L 279/34), geändert durch den Beschluss 2013/448/EU (ABl. 2013 L 240/27), legte die EU-Kommission die Gesamtmenge der ab 2013 zu vergebenden (und linear um 1,74 % p.a. zu verringernden) Zertifikate auf 2 084 301 856 fest; s. daneben für den Luftverkehr den Kommissions-Beschluss 2011/389/EU (ABl. 2011 L 173/13) und den Beschluss 2011/149/EU (ABl. 2011 L 61/42). 827 Explizit Erwägungsgrund Nr. 13 aE der Änderungs-RL 2009/29. 828 Ausdrücklich Erwägungsgrund Nr. 5 der Änderungs-RL 2018/410. 829 Für den Luftverkehr sieht Art. 3 d Abs. 2 S. 1 EH-RL seit dem 1.1.2013 die Versteigerung von 15 % der Zertifikate vor (s. für die Handelsperiode vom 1.1.2012–31.12.2012 auch Art. 3 d Abs. 1 EH-RL). Die übrigen 85 % werden kostenfrei zugeteilt (82 %) bzw. aufgrund einer 3 %-Sonderreserve gem. Art. 3 f EH-RL nach spezifischen Kriterien zugewiesen. Zur vorübergehenden Aussetzung der Anwendbarkeit des Emissionshandels für außereuropäische Flüge vgl. den „Stop-the-clock“-Beschluss Nr. 377/2013/EU der Kommission v. 24.4.2013 (ABl. 2013 L), dessen Ausnahmeregelung durch die

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§ 5 Energierecht steigernden Zertifikate grundsätzlich 57 % (Art. 10 Abs. 1 UAbs. 2 EH-RL). Die Zuständigkeit für die Auktionierung liegt bei den Mitgliedstaaten, zwischen denen zuvor die Gesamtmenge der zu versteigernden Zertifikate aufgeteilt wird.830 (1) Ausnahmen

226 Das Grundprinzip der Versteigerung wird allerdings von Ausnahmen durchbrochen. Dabei kommt es zu einer unterschiedlichen Behandlung von Energieanlagen einerseits und Industrieanlagen andererseits. 227 Für die Stromwirtschaft wurde die Vollversteigerung der Emissionszertifikate bereits ab dem Jahr 2013 im Grundsatz bindend vorgegeben (Art. 10 a Abs. 3 EH-RL).831 Im Kontrast hierzu war in Art. 10 a Abs. 5 und Abs. 11 EH-RL aF für Industrieanlagen zunächst ein schrittweiser Übergang bis zum Jahr 2027 vorgesehen. Weitere Begünstigungen traf Art. 10 a Abs. 12 EH-RL aF zum Schutz derjenigen Industriezweige, die vom Phänomen des „Carbon Leakage“ betroffen sind. Danach wurden bzw. werden im Jahr 2013 und in jedem Folgejahr bis 2020 Anlagen in (Teil-)Sektoren, in denen ein erhebliches Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen in Drittstaaten besteht, vollständig vom System der Versteigerung ausgenommen.832 Mit der jüngsten Änderungs-Richtlinie 2018/410833 wurde die kostenlose Zuteilung für die vierte Handelsperiode 2021–2030 nochmals verlängert.834 Unternehmen in den vom „Carbon-Leakage“-Risiko betroffenen Sektoren erhalten auch künftig 100 % der Zertifikate kostenlos zugeteilt (Art. 10 b Abs. 1–3 EH-RL). Die Befugnis zur Aufstellung einer entsprechenden Carbon-Leakage-Liste bis zum 31.12.2019 wird der Kommission übertragen (Art. 10 b Abs. 5 EH-RL).835 Des Weiteren bleibt die Möglichkeit der kostenlosen Zuteilung auch im Übrigen (zumindest teilweise) erhalten. Konkret ist etwa in Art. 10 b Abs. 4 EH-RL nF vorgesehen, dass zunächst 30 % der Zertifikate für Sektoren und Teilsektoren die nicht akut vom „Carbon-Leakage“-Risiko betroffen sind, kostenlos vergeben werden.836 Dieser Anteil wird dann ab 2026 schritt-

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VO (EU) 421/2014 und die VO (EU) 2017/2392 nochmals bis Ende 2023 verlängert wurde; näher zum Ganzen: Ehrmann in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Vor §§ 11–13 TEHG Rn. 15 ff., der hier auch perspektivisch auf den von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) verabschiedeten sog globalen marktbasierten Mechanismus („Global Market-Based Measure“ – GMBM) zur Begrenzung der CO2-Emissionen des internationalen Luftverkehrs in der Form des CORSIA („Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation“) eingeht. S. insoweit Art. 10 Abs. 2 EH-RL 2003/87. Danach werden den Mitgliedstaaten 90 % der Zertifikate nach Maßgabe ihres relativen Anteils an den geprüften Emissionen im Rahmen des EU-EHS im Jahr 2005 (bzw. – sofern höher – des Durchschnitts der Jahre 2005–2007) zugewiesen. Die übrigen 10 % werden „im Interesse von Solidarität, Wachstum und Verbund in der Union unter bestimmten Mitgliedstaaten aufgeteilt“ (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1 lit. b iVm Anhang IIa). Eine den osteuropäischen Staaten zugutekommende Übergangsregelung enthielt Art. 10 c EH-RL aF. Zudem begründete Art. 10 a Abs. 4 und 11 EH-RL aF hinsichtlich der Zuteilung für Fernwärme und hocheffiziente KWK-Anlagen einen ursprünglich bis zum Jahr 2027 vorgesehenen Übergangszeitraum bis zur vollständigen Versteigerung. Vgl. dazu auch den Beschluss der Kommission 2014/746/EU v. 27.10.2014 zur Festlegung eines Verzeichnisses der Sektoren und Teilsektoren, von denen angenommen wird, dass sie im Zeitraum 2015– 2019 einem erheblichen Risiko einer Verlagerung von CO2-Emissionen ausgesetzt sind, gemäß der RL 2003/87/EG des EP und des Rates, ABl. 2014 L 308/114. Nachweis in Fn. 91. Instruktiv zum Folgenden: König in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 2 Rn. 68 ff. Vgl. den Delegierten Beschluss (EU) 2019/708 der Kommission v. 15.2.2019 zur Ergänzung der RL 2003/87/EG des EP und des Rates hinsichtlich der Festlegung der Sektoren und Teilsektoren, bei denen davon ausgegangen wird, dass für sie im Zeitraum 2021–2030 ein Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen besteht, ABl. 2019 L 120/20. Vgl. daneben noch die fortgeführte Option der übergangsweisen kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten zur Modernisierung des Energiesektors in Art. 10 c EH-RL nF.

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weise bis zum Ende der vierten Handelsperiode im Jahr 2030 auf 0 % abgesenkt. Eine Sonderregelung gilt für Fernwärmeunternehmen, die auch über 2026 hinaus 30 % ihrer Zertifikate kostenlos erhalten können (Art. 10 b Abs. 4 EH-RL nF). (2) Versteigerungsverfahren Was die Regelungen zum zeitlichen und administrativen Ablauf der Versteigerung betrifft, 228 so hat die Kommission in der Verordnung 1031/2010 vom 12.11.2010 detaillierte Vorgaben getroffen.837 Grundsätzlich wird gem. Art. 26 VO eine europaweite Auktionsplattform angestrebt. Den Mitgliedstaaten verbleibt in Art. 30 VO aber eine Opt-Out-Möglichkeit zur Bestellung einer eigenen Plattform. Diese Option hat neben Großbritannien und Polen auch Deutschland (die Versteigerung erfolgt hier an der Leipziger Energiebörse EEX) wahrgenommen. Regelungen zum Auktionsformat treffen die Art. 5 und 7 VO 1031/2010. Danach geben 229 die Bieter ihre Gebote innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters ab, ohne die Offerten der Mitbewerber sehen zu können (Art. 5 VO). Die Gebote werden nach der Höhe des jeweiligen Preisgebots, bzw. – bei gleichem Preisgebot – durch Zufallsauswahl geordnet. Im Anschluss hieran erfolgt die Aufsummierung der Gebotsmengen, beginnend mit dem höchsten Preisgebot. Der Preis des Gebots, bei dem die Summe der Gebotsmengen die versteigerte Zertifikatsmenge erreicht oder übersteigt, bildet gem. Art. 7 Abs. 2 VO den „Auktionsclearingpreis“. Alle Gebote, die in die Summenbildung eingegangen sind, werden zu diesem Einheitspreis zugeteilt (Art. 5 und 7 Abs. 3 VO). cc) Kostenlose Zuteilung nach harmonisierten und unionsweiten Regeln Den dritten Schwerpunkt bildet die (teilweise) kostenlose Zuteilung von Emissionsberech- 230 tigungen. Die Kommission hat hierfür mit einem insbesondere auf Art. 10 a EH-RL gestützten Beschluss vom 27.4.2011 harmonisierte und unionsweite Regeln geschaffen.838 Diese gelten nach Art. 2 des Beschlusses für alle Formen der kostenfreien Zuteilung von

837 VO (EU) Nr. 1031/2010 der Kommission v. 12.11.2010 über den zeitlichen und administrativen Ablauf sowie sonstige Aspekte der Versteigerung von Treibhausgasemissionszertifikaten gemäß der RL 2003/87/EG des EP und des Rates über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft, ABl. 2010 L 302/1; zuletzt geändert durch Delegierte VO (EU) 2019/7 der Kommission v. 30.10.2018, ABl. 2019 L 2/1; aus der Lit.: Funke/Ertl N&R 2011, 2 ff.; Greb, S. 146 f. Die Verordnung gilt nach ihrem Art. 2 im Übrigen nicht nur für Energie- und Industrieanlagen (ortsfeste Anlagen), sondern auch für den Luftverkehr. 838 Beschluss 2011/278/EU der Kommission v. 27.4.2011 zur Festlegung EU-weiter Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten gem. Art. 10 a der RL 2003/87/EG des EP und des Rates, ABl. 2011 L 130/1; aufgehoben (zum 1.1.2021) durch Delegierte Verordnung (EU) 2019/331 der Kommission v. 19.12.2018, ABl. 2019 L 59/8. Eine gegen den Beschluss 2011/278/EU gerichtete Nichtigkeitsklage der Republik Polen wurde als unbegründet abgewiesen (EuG 7.3.2013 – T-370/11, ECLI:EU:T:2013:113 – Polen/Kommission), wobei das Gericht weder eine Verletzung des energiepolitischen Souveränitätsvorbehalts (Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV) noch einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung oder der Verhältnismäßigkeit erkennen konnte. Darüber hinaus hat auch der Gerichtshof die Gültigkeit des Beschlusses 2011/278 in mehreren Vorabentscheidungsurteilen bestätigt (zuletzt EuGH 26.7.2017 – C-80/16 – ArcelorMittal Atlantique and Lorraine). Soweit es die einheitlichen (und abschließenden) Zuteilungsregeln im Beschluss 2011/278/EU nicht gestatten, in Härtefällen kostenlose Zertifikate zuzuteilen, liegt hierin im Übrigen nach der Judikatur von EuG und EuGH keine Verletzung von Grundrechten (in Rede standen die Art. 16 und 17 GRC) bzw. des Prinzips der Verhältnismäßigkeit (EuG 26.9.2014 – T-630/13, ECLI:EU:T:2014:833 Rn. 39 ff. – DK Recycling und Roheisen/Kommission; nachfolgend EuGH 22.6.2016 – C-540/14 P, ECLI:EU:C:2016:469).

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§ 5 Energierecht

Emissionsberechtigungen an ortsfeste Anlagen, ausgenommen die Stromerzeugungsanlagen des Energiesektors nach Art. 10 c EH-RL839.840 231 Im Näheren bestimmt sich die kostenlose Zuteilung im Rahmen der dritten Handelsperiode gem. Art. 10 Abs. 2 lit. a des Beschlusses 2011/278 insbesondere anhand produktbezogener Emissionswerte („Benchmarks“).841 Bei ihrer Ermittlung kommt ein sog Front-Runner-Ansatz zum Einsatz. Den Ausgangspunkt für die Festlegung der Emissionswerte bildet danach der arithmetische Durchschnitt der Treibhausgasbilanz der 10 % „effizientesten“ Anlagen eines Sektors in der EU in den Jahren 2007 und 2008.842 In Anhang I (Nr. 1 und 2) des Kommissions-Beschlusses werden die Emissionswerte im Einzelnen für mehr als 50 Haupt-Produktgruppen festgelegt. Sofern der Zuteilungsberechnung kein ProduktBenchmark zu Grunde gelegt werden kann, kommen nach Art. 10 Abs. 2 lit. b i-iii des Beschlusses sog Fall-Back-Zuteilungsmethoden zum Tragen. Die kostenlose Zuteilung wird auch ab 2021 in der vierten Handelsperiode auf der Grundlage von Benchmarks erfolgen.843 Die Einzelheiten hierzu wurden jüngst in der Delegierten Verordnung (EU) 2019/331 (sog EU-Zuteilungsverordnung) festgelegt.844 Danach erfolgt die kostenfreie Zuteilung – wie in der dritten Handelsperiode – auf der Basis von (überarbeiteten) Benchmarks. dd) Marktstabilitätsreserve 232 Ein neuartiges Instrument des Emissionshandelssystems bildet die zum 1.1.2019 etablierte Marktstabilitätsreserve (MSR845). Hiermit wurde auf den festgestellten Überschuss von rund zwei Milliarden Zertifikaten und einen daraus resultierenden anhaltenden Preisverfall reagiert (zum bereits für den Zeitraum von 2014–2016 beschlossenen sog Backloading → Rn. 24). Die MSR soll als Langfristmaßnahme dazu dienen, Konjunkturschwankungen und andere externe Effekte abzufedern. Sie kommt automatisch zum Tragen, wenn die Gesamtzahl der im Umlauf befindlichen Emissionsberechtigungen eine vorgegebene Schwelle über- bzw. unterschreitet.846 Existiert ein Überangebot, werden die Umlaufmenge um 12 % gekürzt und die Emissionsberechtigungen in die MSR übertragen. Erfolgt umgekehrt die Feststellung einer Knappheit, so werden aus der MSR wieder Emissionsberechtigungen freigegeben. Eine gegen den MSR-Beschluss gerichtete Nichtigkeitsklage der Republik Polen wurde mit Urteil des EuGH847 vom 21.6.2018 abgewiesen. Der Gerichtshof betonte hier insbesondere, dass der Beschluss zu Recht auf Art. 192 Abs. 1 AEUV gestützt worden sei. Die MSR regele als quantitatives Instrument die Menge an Emissionsberechtigungen und nicht deren Preise. Ein Eingriff in die Energieversorgung der Mitgliedstaaten sei daher zu verneinen und das Einstimmigkeitserfordernis des Art. 192

839 S. insoweit auch die am 31.3.2011 veröffentlichte Mitteilung der Kommission „Leitfaden für die fakultative Anwendung von Artikel 10 c der RL 2003/87/EG“, ABl. 2011 C 99/9. 840 Vgl. zudem für den Luftverkehr den Beschluss 2011/638/EU der Kommission v. 26.11.2011 über Benchmarks für die kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten an Luftfahrzeugbetreiber gem. Artikel 3 e der RL 2003/87/EG des EP und des Rates, ABl. 2011 L 252/20. 841 Zu den spezifischen Zuteilungsregeln für Neuanlagen und bei Kapazitätserweiterungen vgl. Spieth/ Hamer NVwZ 2011, 920 (923). 842 Vgl. Art. 10 a Abs. 2 UAbs. 1 EH-RL bzw. Erwägungsgrund Nr. 8 des Kommissions-Beschlusses 2011/278/EU. 843 Vgl. König in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 2 Rn. 68 ff. 844 Delegierte VO (EU) 2019/331 der Kommission v. 19.12.2018 zur Festlegung EU-weiter Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß Artikel 10 a der RL 2003/87/EG des EP und des Rates, ABl. 2019 L 59/8. 845 Nachweis in Fn. 90. 846 Näher zum Folgenden Ehrmann in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, TEHG § 8 Rn. 10 f. 847 EuGH 21.6.2018 – C-5/16, ECLI:EU:C:2018:483 – Republik Polen/Parlament und Rat.

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Abs. 2 UAbs. 1 lit. c AEUV nicht einschlägig.848 Mit der jüngsten Änderungs-Richtlinie 2018/410849 hat die MSR nunmehr auch eine Verstetigung und Weiterentwicklung für die vierte Handelsperiode erfahren. Dabei sind zwei Aspekte hervorzuheben:850 Zum einen wird die jährliche Rate an Emissionsberechtigungen, die in die MSR (im Falle eines Überangebots) eingestellt werden bis 2023 von 12 % auf 24 % verdoppelt (Art. 1 Abs. 5 UAbs. 1 S. 3 MSR-Beschluss 2015/1814). Zum anderen ist als langfristige Maßnahme vorgesehen, dass ab 2023 Emissionsberechtigungen vollständig gelöscht werden können. Konkret sollen ab dem Jahr 2023 die in der Reserve befindlichen Zertifikate, die über der Gesamtzahl der im vorangegangenen Jahr versteigerten Zertifikate liegen, nicht weiter gültig sein (Art. 1 Abs. 5 a MSR-Beschluss 2015/1814). ee) Primärrechtliche Rahmensetzungen für den Emissionshandel Mit Blick auf die primärrechtlichen Rahmensetzungen ist das EU-Emissionshandelssystem 233 in verschiedener Hinsicht diskussionswürdig. Dies betrifft neben Kompetenzfragen (→ Rn. 232, zur Marktstabilitätsreserve) insbesondere das EU-Beihilfenrecht und die EUGrundrechte. (1) EU-Beihilfenrecht Was zunächst das EU-Beihilfenrecht angeht, so stellte sich für die erste und zweite Han- 234 delsperiode vor allem die Frage, ob die (nahezu) ausschließlich kostenlose Zuteilung der Emissionszertifikate851 dem Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 87 Abs. 1 EG) unterfiel.852 Dagegen sprach die Wertlosigkeit der Emissionszertifikate vor ihrer Zuteilung an die Unternehmen.853 Dafür ließ sich aber der mit einer kostenlosen Zuteilung verbundene Einnahmenverzicht des Mitgliedstaats anführen.854 Auf diesen Aspekt hat auch der EuGH im Hinblick auf die unentgeltliche Zurverfügungstellung von Emissionsrechten für Stickstoffoxide (NOx) durch das Königreich der Niederlande rekurriert.855 Ab der im Jahr 2013 beginnenden dritten Handelsperiode wurde die Beihilfenproblematik 235 durch die Etablierung des Grundprinzips der Versteigerung abgemildert. Angesichts der erzielbaren Versteigerungserlöse fehlt es grundsätzlich schon an einer Belastung des Staatshaushalts.856 Etwas anderes kommt nur für den Fall einer Versteigerung unter Marktwert in Betracht.857 Selbst hier stünde der Annahme eines staatlichen Einnahmeverzichts aber die Regelung des Versteigerungsverfahrens in der EU-VO Nr. 1031/2010 848 EuGH 21.6.2018 – C-5/16, ECLI:EU:C:2018:483 Rn. 37 ff. – Republik Polen/Parlament und Rat; näher hierzu und zu den vier weiteren Klagegründen Ehrmann in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, TEHG § 8 Rn. 12. 849 Nachweis in Fn. 91. 850 Ausführlich zum Folgenden Ehrmann in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, TEHG § 8 Rn. 13. 851 Zur noch ungeklärten Rechtsnatur von Emissionsberechtigungen vgl. Ehrmann in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, TEHG § 3 Rn. 12, in Auseinandersetzung mit EuGH 8.3.2017 – C-321/15, ECLI:EU:C:2017:179 – ArcelorMittal Rodange und Schifflange. 852 Bejahend zB Jungnickel/Dulce NVwZ 2009, 623 (625); Koenig/Braun/Pfromm ZWeR 2003, 152 (166 ff.); Pfromm, S. 87 ff.; verneinend Burgi in FS für Götz, S. 173 (183 ff.); Reuter/Busch EuZW 2004, 39 (43); näher bereits Ludwigs ZG 2010, 222 (244 f.). 853 Burgi in FS für Götz, S. 173 (185). 854 Grundlegend Koenig/Braun/Pfromm, ZWeR 2003, 152 (162). 855 EuGH 8.9.2011 – C-279/08 P, Slg 2011, I-7671 Rn. 102 ff., 112 – Kommission/Niederlande; hierzu Bloch N&R 2012, 19 ff.; zuvor bereits EuG 10.4.2008 – T-233/04, Slg 2008, II-591 Rn. 63 ff., 75 – Kommission/Niederlande. 856 Ludwigs ZG 2010, 222; Pfromm, S. 193 f., 194 f.; s. auch schon Koenig/Ernst/Hasenkamp RdE 2009, 73 (74). 857 Jungnickel/Dulce NVwZ 2009, 623 (625).

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§ 5 Energierecht

(→ Rn. 228 f.) entgegen. Keine andere Bewertung ergibt sich für die seit 2013 verbleibenden Möglichkeiten einer kostenfreien Zuteilung von Zertifikaten.858 Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Zuteilung nach unionsweiten und vollständig harmonisierten Regeln (→ Rn. 230 f.) erfolgt. 236 Ungeachtet dessen weist die Emissionshandels-Richtlinie aber auch Konstellationen aus, in denen das EU-Beihilfenrecht virulent werden kann.859 Zu denken ist hier insbesondere an den Fall, dass ein Mitgliedstaat von der in Art. 10 a Abs. 6 UAbs. 1 EH-RL eröffneten (und intendierten) Befugnis Gebrauch macht, Beihilfen zur Kompensation der emissionshandelsbedingten Mehrkosten des Strombezugs von Unternehmen, die in besonderem Maße im internationalen Wettbewerb stehen (sog indirektes carbon leakage), zu gewähren.860 Im deutschen Recht findet sich die einschlägige Grundlage für eine solche Strompreiskompensation in § 2 Abs. 1 S. 4 des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ (s. auch § 2 Abs. 7 TEHG).861 Die zugehörige Förderrichtlinie862 wurde am 17.7.2013 von der EU-Kommission für eine Laufzeit vom 1.1.2014 bis zum 31.12.2020 genehmigt.863 Darüber hinaus muss sich auch die Verwendung der Versteigerungseinnahmen am Beihilfenverbot messen lassen. Zwar sieht Art. 10 Abs. 3 S. 2 EH-RL vor, dass mindestens 50 % der Gelder für Zwecke des Klimaschutzes und der Anpassung an die Folgen des Klimawandels genutzt werden sollten. Diese Maßgabe präjudiziert aber nicht das Resultat etwaiger Beihilfenverfahren.864 Schließlich kann es auch im Kontext der Option einer übergangsweise kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten zur Modernisierung des Energiesektors (Art. 10 c EH-RL) und im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Kleinanlagen und Krankenhäusern (Art. 27 EH-RL) zu beihilfenrechtlich relevanten Tatbeständen kommen.865 (2) EU-Grundrechte 237 Im Fokus der Grundrechtsdiskussion steht die Frage, ob die richtlinienrechtlich angelegte Ungleichbehandlung von Stromerzeugern und Industrieanlagen (→ Rn. 227) mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 20 GRC im Einklang steht.866 Für eine Zulässigkeit las-

858 In eine andere Richtung noch KOM(2008) 16 endg., 13; näher Wegener ZUR 2009, 283 (287). 859 Vgl. hierzu die Mitteilung der Kommission „Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten nach 2012“ v. 5.6.2012, ABl. 2012 C 158/4; aus der Lit. zuletzt eingehend MüKoBeihilfenR/Arhold Teil 8 D Rn. 328 ff. 860 Mitteilung der Kommission v. 5.6.2012 (Fn. 859), Tz. 7 ff., 23 ff. 861 BGBl. I 1807; zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 22.12.2014, BGBl. I 2431. 862 BMWi, Förderrichtlinie zur Strompreiskompensation v. 23.7.2013, BAnz AT v. 6.8.2013 B2. 863 SA.36103, C(2013) 4422 final; näher Ehrmann in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, TEHG § 2 Rn. 39 ff. 864 Explizit: Erwägungsgrund Nr. 18 S. 5 und 6 EE-RL 2009/29 (Fn. 84); s. auch Mitteilung der Kommission v. 5.6.2012 (Fn. 859), Tz. 13 ff., 32 ff. 865 Vgl. Mitteilung der Kommission v. 5.6.2012 (Fn. 859), Tz. 16 f., 18 f., 40 ff., 43 f.; s. nunmehr auch noch den mit der Änderungs-RL 2018/410 eingeführten optionalen Ausschluss von Anlagen mit Emissionen von weniger als 2.500 Tonnen in Art. 27 a EH-RL. 866 Bejahend Koenig in Löwer, Vielfalt des Energierechts, S. 71 (78 f.); verneinend Greb, S. 200 ff., 207; zweifelnd: Burgi in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 183 (208 f.); s. auch noch zur weithin anerkannten Vereinbarkeit der Versteigerungsmethode mit den EU-Freiheitsgrundrechten aus Art. 16 und 17 GRC: Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 447, unter Rekurs auf das verfolgte Ziel der Allokationseffizienz (Art. 1 Abs. 1 EH-RL); im Grundsatz auch Greb, S. 146 ff., 186 ff.; weitergehend zur – soweit ersichtlich – einhellig bejahten Grundrechtskonformität der sukzessiven Verknappung der Zertifikate: Ludwigs, aaO, S. 445, mit Verweis auf das hochrangige Klimaschutzziel (s. Art. 191 Abs. 1 Spstr. 4 AEUV); näher zur grundrechtlichen Bedeutung der Gesamtobergrenze Küll, S. 184 ff.; zur grundlegenden Entscheidung für die Einführung eines Emissionshandelssystems bereits BVerwG 30.6.2005 – 7 C 26.04, NVwZ 2005, 1178.

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sen sich insbesondere drei Gründe anführen:867 Erstens hat der EuGH in der Rs. Arcelor ein sukzessives Vorgehen des Unionsgesetzgebers bei der Schaffung oder Umstrukturierung eines komplexen Systems wie dem des Emissionshandels gebilligt.868 Zweitens wurde dabei vom Gerichtshof auch ein gesetzgeberischer „Wertungsspielraum“ anerkannt.869 Vor allem aber stützt sich die Ungleichbehandlung drittens auf ein objektives und angemessenes Kriterium.870 Die Stromerzeuger können den Wert der Zertifikate in ihre Energiepreise einfließen lassen und damit auf die Endkunden umlegen.871 Darauf hat auch die EU-Kommission in ihrem Vorschlag zur Änderungs-RL 2009/29 explizit hingewiesen.872 Hieraus erhellt, dass mit der Etablierung des Versteigerungsverfahrens im Energiesektor allein die Entstehung sog windfall-profits vermieden, nicht aber die Amortisation der getätigten Investionen in Frage gestellt wird.873 Letzteres hätte im Industriesektor – in dem eine Einpreisung der Zertifikate aufgrund des internationalen Wettbewerbs nicht bzw. nicht in gleichem Maße möglich ist – aber gedroht, wenn es auch dort bereits ab 2013 zu einer Vollversteigerung der Zertifikate gekommen wäre. b) Erneuerbare Energien aa) Erneuerbare-Energien-Richtlinien 2009 und 2018 Im Bereich der Erneuerbaren Energien erfolgte bereits mit der noch auf ex-Art. 175 Abs. 1 238 EG (Art. 192 Abs. 1 AEUV) und ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) gestützten ErneuerbarenEnergien-Richtlinie 2009/28 (EE-RL 2009)874 ein Paradigmenwechsel.875 Zum einen wurde hiermit die Förderung aller Energiesektoren (Strom, Wärme/Kälte und Verkehr) in einem Rechtsakt vereinigt. Zum anderen traf die Richtlinie bindende Vorgaben für eine Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am unionsweiten Gesamtenergieverbrauch auf 20 % bis zum Jahr 2020. Im Rahmen des Winterpakets kam es dann am 11.12.2018 zu einer erneuten Novellierung in der bis zum 30.6.2021 umzusetzenden und auf Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützten Richtlinie 2018/2001 (EE-RL 2018).876 Mit der EE-RL 2018 setzt der Unionsgesetzgeber einen in vielerlei Hinsicht fortentwickelten und besser auf die UEBLL 2014-2020 abgestimmten Förderrahmen für regenerative Energien, der im Hinblick auf die Effektivität der Erreichung des angestrebten EE-Anteils von 32 % bis 2030 allerdings auch Fragen aufwirft. Im Zentrum der noch bis 1.7.2021 fortgeltenden EE-RL 2009 steht die Festlegung rechts- 239 verbindlicher nationaler Mindestanteile von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch in Art. 3 Abs. 1 S. 1 (iVm Anhang I Teil A). Diese reichen von 10 % (Malta) bis 49 % (Schweden), wobei für Deutschland eine Steigerung von 5,8 % im Basisjahr 2005 auf 18 % im Jahr 2020 vorgegeben wird. Mit der EE-RL 2018 werden die nationalen Mindestanteile nicht mehr in die Zukunft fortgeschrieben. Bindungswirkung entfaltet der neue Zielwert von mindestens 32 % für erneuerbare Energien bis 2030 (mit Re867 Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzforderungen, S. 446 f. 868 EuGH 16.12.2008 – C-127/07, Slg 2008, I-9895 Rn. 57 – Arcelor; bestätigend EuGH, 21.6.2018 – C-5/16, ECLI:EU:C:2018:483 Rn. 112, 125 – Republik Polen/Parlament und Rat. 869 EuGH 16.12.2008 – C-127/07, Slg 2008, I-9895 Rn. 61 – Arcelor. 870 Vgl. EuGH 16.12.2008 – C-127/07, Slg 2008, I-9895 Rn. 47 – Arcelor. 871 Ebenso Koenig in Löwer, Vielfalt des Energierechts, S. 71 (78 f.). 872 KOM(2008) 16 endg., 8. 873 Eingehend zur Amortisationsthematik: Küll, S. 209 ff., 229 ff., 362. 874 Nachweis bei Fn. 109. 875 Vgl. bereits Ludwigs ZG 2010, 222 (234 f.); ausführlich Kerth in FS für Scheuing, S. 340 (350 ff.); Lehnert/Vollprecht ZUR 2009, 307 (309 ff.); Ringel/Bitsch NVwZ 2009, 807 ff.; s. auch Lehnert/ Templin/Theobald, VerwArch 102 (2011), 83 (85 f.). 876 Nachweis in Fn. 111.

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view 2023) nur noch auf Unionsebene (Art. 3 Abs. 1 S. 1 RL 2018). Demgegenüber werden keine neuen, verbindlichen nationalen Zielwerte mehr formuliert, was die Effektivität der Zielerreichung in Frage stellt (zum kompetenzrechtlichen Hintergrund → Rn. 243). Art. 3 Abs. 4 RL (iVm Anhang I Teil A) schreibt lediglich die bis Ende 2020 zu erreichenden Vorgaben als verbindlichen Ausgangswert fest. Im Übrigen legen die Mitgliedstaaten nur noch selbst in integrierten Energie- und Klimaplänen die nationalen Beiträge fest, um das verbindliche Gesamtziel der Union gemeinsam zu erreichen (Art. 3 Abs. 2 S. 1 EERL 2018). Angesichts dieser gelockerten Vorgaben wird in Zukunft der als Teil des Winterpakets verabschiedeten neuen Verordnung zur Governance der Energieunion vom 11.12.2018877 umso größere Bedeutung zukommen (→ Rn. 278 ff.). 240 Ein weiterer Unterschied zwischen altem und neuem Rechtsrahmen ergibt sich hinsichtlich der Vorgaben zu den nationalen Fördermechanismen (zur grenzüberschreitenden Öffnung → Rn. 245 ff.). Zwar umfasst die Begriffsbestimmung zur „Förderregelung“ auch weiterhin zahlreiche denkbare Konstellationen (vgl. Art. 2 S. 2 lit. k EE-RL 2009 bzw. Art. 2 S. 2 Nr. 5 EE-RL 2018).878 Dessen ungeachtet folgt aus Art. 4 Abs. 4–8 EE-RL für die Förderung von Elektrizität aus erneuerbaren Quellen eine Hinwendung zu offenen, transparenten, wettbewerbsfördernden, nichtdiskriminierenden und kosteneffizienten Mechanismen wie dem (grundsätzlich technologieneutralen) Ausschreibungsverfahren (Art. 4 Abs. 4–8 EE-RL 2019).879 Letzteres wird auch zentral von den UEBLL 2014–2020 (→ Rn. 121 f.) adressiert, sodass hier eine Verzahnung aufscheint.880 In direkten Preisstützungssystemen hat die Förderung gem. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EE-RL 2018 mittels Marktprämie zu erfolgen, wobei es sich um eine gleitende oder feste Prämie handeln kann. Ein einheitliches Fördersystem wird dagegen auch weiterhin nicht vorgegeben, so dass Unterschiede zwischen den nationalen Modellen zulässig bleiben. Ferner haben die Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen sie über die Verteilung der Steigerung des Anteils aus erneuerbaren Energien auf die drei Bereiche Strom, Wärme/Kälte und Verkehr entscheiden. Für den Verkehrssektor sieht Art. 3 Abs. 4 EE-RL 2009 immerhin ein rechtlich bindendes Mindestziel in Höhe von 10 % des Endenergieverbrauchs vor Nach Art. 25 Abs. 1 EE-RL 2018 muss künftig jeder Mitgliedstaat die Kraftstoffanbieter (Art. 2 S. 2 Nr. 38 EE-RL 2018) verpflichten, bis 2030 einen EE-Anteil von mindestens 14 % im Verkehrssektor zu verwirklichen.881 Ergänzend ist schließlich auf die Neuregelung in Art. 6 EE-RL zur Gewährleistung der Stabilität von Förderregelungen hinzuweisen. Danach stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Höhe der für Projekte im Bereich erneuerbare Energie gewährten Förderung sowie die damit verknüpften Bedingungen nicht in einer Weise überarbeitet werden, die sich negativ auf daraus erwachsende Rechte auswirkt und die Rentabilität von bereits geförderten Projekten infrage stellt. 241 Weitergehend trifft Art. 16 RL EE-RL 2009 umfassende Regelungen über den Netzzugang und den Betrieb von Anlagen und Netzen. Die Mitgliedstaaten werden hier noch explizit verpflichtet, einen vorrangigen Netzzugang882 für Elektrizität aus erneuerbaren Energien 877 Nachweis in Fn. 148. 878 Darauf hinweisend auch Pause/Kahles ER 2019, 9 (13). 879 Vgl. daneben Art. 4 Abs. 2 EE-RL 2018, wonach die Förderregelungen für Elektrizität aus erneuerbaren Quellen „Anreize für die marktbasierte und marktorientierte Integration von Elektrizität aus erneuerbaren Quellen in den Elektrizitätsmarkt zu setzen (…) haben“ (sog Ziel der Marktintegration). 880 S. auch die Klarstellung in Art. 4 Abs. 9 EE-RL 2018, wonach die Art. 107 und 108 AEUV unberührt bleiben. 881 Vgl. daneben noch den bloßen „indikativen Richtwert“ einer Steigerung von 1,3 Prozentpunkten p.a. für die Nutzung erneuerbarer Energie im Wärme- und Kältesektor gem. Art. 23 Abs. 1 EE-RL. 882 Näher Lehnert/Vollprecht ZUR 2009, 307 (315), dort auch zur Frage, ob das Recht auf vorrangigen Netzzugang zugleich ein Recht auf vorrangigen Netzanschluss umfasst, wofür der Effektivitätsgedanke spricht.

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zu etablieren (Art. 16 Abs. 2 lit. b und c EE-RL 2009).883 Im Rahmen der jüngsten Novelle durch die EE-RL 2018 sind diese Regeln zum allgemeinen Einspeisevorrang weggefallen.884 Einen Hintergrund der Streichung bildete die Erkenntnis, dass der Einspeisevorrang zwar den EE-Ausbau fördert, aber keinen Anreiz dafür setzt, Anlagen zur Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien in den Regionen zu bauen, in denen der Strom benötigt wird.885 Künftig sollen im Grundsatz einheitliche Bestimmungen für alle Stromerzeuger gelten. Von zentraler Bedeutung sind hier nunmehr die Art. 12 und 13 der neuen Strombinnenmarkt-VO (EU) 2019/943.886 Art. 12 Strom-VO 2019/943 statuiert eine verpflichtende vorrangige Einspeisung künftig (nur) noch für EE-Anlagen mit einer installierten Stromleistung von weniger als 400 kW (ab 1.1.2026 mit weniger als 200 kW) sowie im Hinblick auf Demonstrationsvorhaben für innovative Technologien vor (Abs. 2 und 5). Eine gänzliche Abschaffung des Einspeisevorrangs bzw. niedrigere Schwellenwerte werden den Mitgliedstaaten unter den Voraussetzungen in Art. 12 Abs. 3 Strom-VO 2019/943 ermöglicht. Des Weiteren sieht Art. 12 Abs. 4 Strom-VO einen optionalen Einspeisevorrang für Strom aus Erzeugungsanlagen vor, die hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplung und eine installierte Stromleistung von weniger als 400 kW verwenden. Art. 12 Abs. 6 Strom-VO begründet schließlich einen Bestandsschutz für EE- und KWK-Anlagen mit Inbetriebnahme vor Inkrafttreten der Verordnung (Art. 71 Strom-VO 2019/943), solange die Anlagen nicht erheblich modifiziert werden. Art. 13 Strom-VO 2019/943 enthält konkrete inhaltliche Vorgaben für Netzbetreiber zur Durchführung von Redispatch-Maßnahmen (Art. 2 Nr. 26 Strom-VO 2019/943). Danach ist ein nicht-marktbasierter Redispatch von vornherein nur möglich, wenn – neben weiteren Voraussetzungen – ein marktbasierter Redispatch ausscheidet (Art. 13 Abs. 3 Strom-VO 2019/943). Grundsätzlich sollen also Gebote über die Abregelung von Erzeugungsanlagen bzw. das Zuschalten von Verbrauchsanlagen entscheiden.887 Im (Ausnahme-)Falle eines nicht-marktbasierten Redispatch sieht Art. 13 Abs. 6 Strom-VO 2019/943 eine Abschaltreihenfolge vor, die die Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Quellen begünstigt. Eine Abregelung darf hier nur erfolgen, wenn keine andere Alternative existiert oder wenn andere Lösungen zu signifikant unverhältnismäßigen Kosten oder schwerwiegenden Risiken für die Netzsicherheit führen würden (lit. a).888 Sofern eine Anlage abgeregelt wird, sieht Art. 13 Abs. 7 Strom-VO 2019/943 einen Anspruch des betroffenen Anlagenbetreiber auf finanziellen Ausgleich vor. Hervorzuheben sind zudem vier weitere Regelungskomplexe, die mit der EE-RL 2018 eta- 242 bliert wurden.889 Dies betrifft erstens die neu aufgenommenen Regelungen zur Organisation und Dauer von Genehmigungsverfahren für Antragsteller (EE-Projektentwickler). Konkret betrifft dies neben der Einführung von Verfahrenshöchstdauern ua die Errichtung 883 Hierzu Lehnert/Vollprecht ZUR 2009, 307 (315), dort auch zur Alternative eines „garantierten Netzzugang[s.]“. 884 Näher Meyer/Sène RdE 2019, 278 (280 f.); Pause ZUR 2019, 387 (393 f.). 885 Kreuter-Kirchhof EuZW 2017, 829 (834). 886 Zur Kontroverse im Schrifttum Frenz ER 2018, 152; ders. RdE 2017, 281; ders. EWS, 1/2018, Die erste Seite; ders. in Ludwigs, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, S. 45 ff.; Kreuter-Kirchhof EuZW 2017, 829 (834); Mai RdE 2017, 335; Schulz/Losch EnWZ 2017, 107 (111 f.); zu den Diskussionen im Gesetzgebungsverfahren Wehle RdE 2018, 407 (413) mwN. Auf nationaler Ebene wurde mit dem Gesetz zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus v. 13.5.2019 (BGBl. I 706) das bisher in § 14 EEG geregelte Einspeisemanagement ins EnWG überführt und auf diese Weise ein einheitliches Regime zur Redispatch-Optimierung geschaffen. 887 Kreuter-Kirchhof EuZW 2017, 829 (834). 888 Vgl. daneben noch Art. 13 Abs. 6 lit. b Strom-VO 2019/944 zum abgeschwächten Vorrang für Strom aus hocheffizienten KWK-Anlagen. 889 Instruktiver Überblick bei Pause/Kahles ER 2019, 9 (15 ff.), die daneben auch die Erweiterung des Anwendungsbereichs von Herkunftsnachweisen auf alle erneuerbaren Energieformen (zB auch Gas aus erneuerbaren Quellen) gem. Art. 19 EE-RL 2018 erörtern.

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oder Benennung einer oder mehrerer Anlaufstellen, die im gesamten Verwaltungsverfahren Beratung und Unterstützung leisten (Art. 16 EE-RL 2018). Zweitens haben die Mitgliedstaaten ein Verfahren der einfachen Mitteilung für den Netzzugang gegenüber dem jeweiligen Verteilernetzbetreiber einzuführen (Art. 17 EE-RL 2018). Drittens werden in Art. 21 EE-RL 2018 erstmals die Rechte von Eigenversorgern im Bereich erneuerbarer Energien anerkannt. Hiervon umfasst ist auch eine Begrenzung der finanziellen Belastung mit Umlagen, Abgaben und Gebühren.890 Viertens müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass sich Endkunden und insbesondere Haushalte – unter Beibehaltung ihrer Rechte und Pflichten als Endkunden – an einer besonders geschützten Erneuerbare-Energien-Gemeinschaft beteiligen dürfen (Art. 22 EE-RL 2018). 243 In kompetenzrechtlicher Perspektive wurde vor allem mit Blick auf die Verbindlichkeit der nationalen Mindestanteile in Anhang I kontrovers diskutiert, ob die EE-RL 2009 nicht statt auf ex-Art. 175 Abs. 1 EG (Art. 192 Abs. 1 AEUV) auf ex-Art. 175 Abs. 2 UAbs. 1 EG (Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV) hätte gestützt werden müssen891.892 Dabei kommt es entscheidend auf den Maßstab für die Überschreitung der Erheblichkeitsschwelle in exArt. 175 Abs. 2 lit. c EG (Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. c AEUV) an. Im Hinblick auf den ambitionierten Umfang der nationalen Zielvorgaben von bis zu 49 % sprach viel dafür, die Aktivierung des Einstimmigkeitserfordernisses zu bejahen. Hieraus wiederum folgt zugleich, dass eine Fortentwicklung der EE-RL 2009 auf Grundlage der neuen Energiekompetenz des Art. 194 AEUV angesichts des dortigen Souveränitätsvorbehalts ausscheiden musste. Dies gilt umso mehr, als Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV sogar auf eine Erheblichkeitsschwelle verzichtet. Vor diesem kompetenzrechtlichen Hintergrund erklärt sich im Übrigen auch, weshalb der Unionsgesetzgeber im Rahmen der auf den Energiekompetenztitel gestützten Richtlinie 2018/2001 gerade keine Fortschreibung der verbindlichen nationalen Mindestziele vorgenommen hat.893 Dies wäre nur einstimmig auf Grundlage von Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. c AEUV möglich gewesen. bb) Primärrechtskonformität gebietsbeschränkter Fördermodelle 244 Die Umsetzung der EE-RL 2009 erfolgte in Deutschland durch das „Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien“ vom 12.4.2011 (EEG 2011).894 Das aktuell gültige EEG 2017895 wird im Zuge der bis zum 30.6.2021 umzusetzenden Richtlinie 2018/2001 (und ggf. auch im Lichte des EuGH-Urteils zum EEG 2012 → Rn. 125) eine erneute Revision erfahren. Zu den klassischen Streitfragen im Hinblick auf die Primärrechtskonformität des nationalen Rechts zählt neben der Beihilfeproblematik (→ Rn. 124 f.) vor allem die Vereinbarkeit einer gebietsbeschränkten Ökostromförderung mit Art. 34 AEUV bzw. den Art. 30 und 110 AEUV.896 Anlass hierfür liefert(e) der diskriminierende Grundansatz des 890 Zum (überschaubaren) Anpassungsbedarf auf nationaler Ebene im Hinblick auf die EEG-Umlage in Fällen der Eigenversorgung: Pause/Kahles ER 2019, 9 (16 f.). 891 Dafür etwa Müller/Bitsch EurUP 2008, 220 (225 f.); in diese Richtung auch Calliess, EU nach Lissabon, S. 484; aA aber Kahl NVwZ 2009, 265; ders. in FS für Scheuing, S. 92 (101); Lehnert/Vollprecht ZUR 2009, 307 (309); Ruffert in Hendler ua, UTR 102 (2010), S. 13 (31 f.). 892 Zu weitergehenden Frage der Zulässigkeit einer Doppelabstützung auf ex-Art. 175 Abs. 1 EG (Art. 192 Abs. 1 AEUV) und – soweit es die Art. 17–19 EE-RL betrifft – ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) vgl. kritisch Kahl NVwZ 2009, 265 (266 f.), unter zutreffendem Rekurs auf die nur beiläufige und nachrangige Mitverfolgung des Binnenmarktziels; s. auch Lehnert/Vollprecht ZUR 2009, 307 (309); anders Müller/Bitsch EurUP 2008, 220 (223). 893 Ebenso Proelß EurUP 2019, 72 (79). 894 BGBl. I 619. 895 Erneuerbare-Energien-Gesetz v. 21.7.2014, BGBl. I 1066; zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes v. 13.5.2019, BGBl. I 706. 896 Zur ähnlich gelagerten Diskussion hinsichtlich der nationalen Förderinstrumente für KWK-Strom vgl. Cremer EuZW 2007, 591; Elspas, S. 143 ff., 156 ff.; J.P. Schneider in ders./Theobald § 21 Rn. 174.

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nationalen Fördersystems für erneuerbare Energien.897 Im EEG 2017 kommt dies durch § 5 Abs. 1 zum Ausdruck, wonach die Anwendung des Gesetzes auf Anlagen voraussetzt, dass die Erzeugung des Stroms im Bundesgebiet erfolgt. In seinem noch zum Stromeinspeisungsgesetz (StrEG) ergangenen PreussenElektra-Urteil 245 von 2001 erachtete der EuGH eine gebietsbeschränkte Ökostromförderung wie jene in Deutschland für gerechtfertigt. Zur Begründung stützte er sich sowohl auf den ungeschriebenen Cassis-Grund des Umweltschutzes als auch auf den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen gem. Art. 36 S. 1 AEUV.898 Zugleich stellten die Luxemburger Richter zwar klar, dass ihre Bewertung maßgeblich auf dem „gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet des Elektrizitätsmarkts“ beruhte.899 Im Jahr 2014 hielt der EuGH dann aber in der Rechtssache Ålands Vindkraft erneut eine gebietsbeschränkte nationale Förderregelung – ungeachtet des zwischenzeitlich erheblich fortentwickelten Regelungsrahmens – für vereinbar mit Art. 34 AEUV. 900 Damit wich er diametral von den Schlussanträgen seines Generalanwalts Bot901 ab. Zur Legitimierung des offen diskriminierenden Fördermechanismus stützte sich der Gerichtshof wiederum auf das zwingende Erfordernis des Umweltschutzes sowie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen in Art. 36 S. 1 AEUV.902 Kritikwürdig hieran erscheint freilich, dass im Dunkeln bleibt, ob eine offen diskriminierende Förderung inländischer Anlagen unabhängig von dem im jeweiligen Mitgliedstaat bereits erreichten Anteil an erneuerbaren Energien möglich ist.903 Sollte der EuGH in diese Richtung zu verstehen sein, könnte von einem schonenden Ausgleich zwischen den beiden primärrechtlich verankerten Zielen von Binnenmarkt und Umwelt-/Klimaschutz nicht mehr die Rede sein (s. noch → Rn. 247 aE). Für Deutschland sieht § 5 Abs. 2-4 EEG 2017 inzwischen eine anteilige Öffnung der För- 246 derung im Umfang von 5 % der jährlich neu zu installierenden Erneuerbare-EnergienLeistung vor. Einzelheiten regelt die Grenzüberschreitende-Erneuerbare-Energien-Verordnung (GEEV).904 Im Lichte dieser anteiligen Öffnung905 relativieren sich auch die auf Art. 30 und Art. 110 AEUV gestützten Bedenken im Hinblick auf die mangelnde Befreiung des aus dem EU-Ausland importierten Grünstroms von der EEG-Umlage.906 Weiterge897 Ausführlich jüngst Ide, S. 123 ff.; zum Folgenden auch bereits Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 49 ff.; zur Paralleldiskussion im Hinblick auf die territoriale Begrenzung nationaler Kapazitätsmechanismen vgl. die Nachweise in Fn. 429. 898 EuGH13.3.2001 – C-379/98, Slg 2001, I-2099, Rn. 73, 75 – PreussenElektra. 899 EuGH 13.3.2001 – C-379/98, Slg 2001, I-2099, Rn. 81 – PreussenElektra. 900 EuGH 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rn. 77, 80 – Ålands Vindkraft. 901 GA Bot 28.1.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:37 Rn. 52 ff. – Ålands Vindkraft. 902 EuGH 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rn. 77, 80 – Ålands Vindkraft; bestätigend EuGH 11.9.2014 – verb. Rs. C-204-208/12, ECLI:EU:C:2014:2192 Rn. 90 ff., 93 – Essent Belgium; vgl. aus der ganz überwiegend kritischen Literatur statt vieler Germelmann EurUP 2014, 329; Glinski EuR 2014, 567; Grabmayr/Kahles ER 2014, 183; Gundel RdE 2014, 387; Ludwigs EuZW 2014, 627. 903 Ludwigs EuZW 2014, 627 f., dort auch zur unterbliebenen Prüfung des – eine Diskriminierung nach der Herkunft des Ökostroms billigenden – Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EE-RL 2009/28 am Maßstab von Art. 34 AEUV sowie zur mangelnden Begründung des EuGH für die Anwendung der Cassis-Gründe auf den offen diskriminierenden schwedischen Fördermechanismus. 904 BGBl. 2017 I 3102; geändert durch Art. 19 des Gesetzes v. 13.5.2019, BGBl. I 706; näher Kahles in Ludwigs, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, S. 119 ff. 905 Zur ersten deutsch-dänischen Ausschreibungen instruktiv Kahles in Ludwigs, Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in der Energiewende, S. 119 (129 ff.). 906 Näher hierzu Ludwigs in Müller/Kahl, S. 111 (129 ff.) mwN; Mai ZNER 2018, 209 (217 f.); Steffens, S. 143 ff., 226 ff.; vgl. im Übrigen zur Übertragbarkeit der Ausführungen des Gerichtshofs im EEGUrt. v. 28.3.2019 (Fn. 453) zum mangelnden Abgabencharakter der EEG-Umlage auf die Einordnung im Rahmen von Art. 30 und 110 AEUV: Ludwigs NVwZ 2019, 909 (914).

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hend hatte die Kommission im Rahmen der Vorschläge zum Clean Energy Package in Art. 5 der neuen Erneuerbare-Energien-Richtlinie sogar für verbindliche Öffnungsvorgaben von 10 % bzw. 15 % der jährlich neu geförderten Kapazität in den Zeiträumen 2021– 2025 bzw. 2026–2030 plädiert.907 Im Gesetzgebungsverfahren erfolgten dann aber eine Absenkung auf 5 % bzw. 10 %, eine zeitliche Verschiebung auf die Zeiträume 2023–2026 bzw. 2027–2030 und eine Verwässerung durch die Einordnung als bloße indikative (und mithin unverbindliche) Anteile. Im Rahmen einer Öffnung oder auch losgelöst hiervon können die Mitgliedstaaten weiterhin die schon in der EE-RL 2009 vorhandenen Kooperationsmechanismen nutzen (Art. 8–13 EE-RL), wobei als neues Instrument die Einrichtung einer Plattform der Union für die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energie (Union renewable development platform) vorgesehen ist.908 247 Die Vereinbarkeit mit Art. 34 AEUV stand auch im Fokus des EuGH-Urteils zum flämischen System der kostenlosen Verteilung von Grünstrom in den Verteilernetzen vom 29.9.2016.909 Nach den im Ausgangsverfahren auf dem Prüfstand stehenden Regelungen blieb die kostenlose Verteilung zum einen auf die Einspeisung von Elektrizität beschränkt, die von Anlagen erzeugt wurde, die an die Verteilernetze in der Flämischen Region angeschlossen waren. Zum anderen beschränkte sich die kostenlose Verteilung auf Elektrizität aus Produktionsanlagen, die unmittelbar in ein Verteilernetz in Belgien einspeisten. Der Gerichtshof sah bereits die Geeignetheit der nur indirekten Förderung zur Erreichung des angestrebten Zwecks einer vermehrten Erzeugung von grünem Strom als nicht erwiesen an und erklärte derartige regionale Regelungen für unvereinbar mit Art. 34 AEUV. Der finanzielle Vorteil bestehe lediglich für die Lieferanten sowie abhängig vom Verkaufspreis in gewissem Maße auch für die Verbraucher. Damit sei nicht gewährleistet, dass der eingeräumte wirtschaftliche Vorteil „letztlich im Wesentlichen tatsächlich den Erzeugern von grünem Strom zugutekommt“.910 Bei einer kritischen Würdigung der Entscheidung erscheint es zwar weitgehend, hierin bereits eine „Absetzbewegung“ von den Rechtssachen PreussenElektra und Ålands Vindkraft zu sehen.911 Immerhin hat der EuGH explizit an der grundsätzlichen Zulässigkeit gebietsbeschränkter Fördermodelle festgehalten.912 Dessen ungeachtet ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Rechtfertigungsfähigkeit einer territorialen Beschränkung der nationalen Förderregelung in der Ålands Vindkraft-Entscheidung (→ Rn. 245) auf den „derzeitigen Stand des Unionsrechts“ bezogen hatte.913 Eine grundlegende Verschiebung könnte nunmehr in dem Umstand zu sehen sein, dass die nationalen Mindestanteile von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch durch die EE-RL 2018 nicht über das Jahr 2020 hinaus fortgeschrieben werden (→ Rn. 239). Folgerichtig spielt eine mangelnde Anrechenbarkeit der Förderung von EUausländischem Ökostrom auf das nationale EE-Ziel (mit der daraus folgenden mangelnden Beherrschbarkeit von Wirkungen und Kosten der nationalen Förderregelungen) künftig keine Rolle mehr914 und kann somit auch nicht mehr zur Rechtfertigung diskriminierender Förderregelungen herangezogen werden.915

907 COM(2016) 767 final. 908 Näher Pause/Kahles ER 2019, 9 (15). 909 EuGH 29.9.2016 – C-492/14, ECLI:EU:C:2016:732 – Essent Belgium; hierzu insbes. Gundel RdE 2016, 511. 910 EuGH 29.9.2016 – C-492/14, ECLI:EU:C:2016:732 Rn. 113 – Essent Belgium. 911 In diese Richtung Schmidt/Kahl/Gärditz § 6 Rn. 55. 912 EuGH 29.9.2016 – C-492/14, ECLI:EU:C:2016:732 Rn. 107 – Essent Belgium. 913 EuGH 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rn. 92, 104 – Ålands Vindkraft. 914 Vgl. dagegen noch EuGH 1.7.2014 – C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 Rn. 97, 98 ff. – Ålands Vindkraft; näher bereits Ludwigs in Müller/Kahl, S. 111 (125). 915 Ludwigs NVwZ 2019, 909 (914).

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c) Energieeffizienz Der Status quo des „Energieeffizienzrechts“ wird durch eine kaum noch überschaubare 248 Regelungsvielfalt auf unionaler (wie auch auf nationaler) Ebene geprägt. Zu Systematisierungszwecken kann grundlegend (wenngleich nicht immer trennscharf) zwischen sektorenübergreifenden und sektorenbezogenen Bestimmungen (aa.) und (bb.) differenziert werden.916 Ungeachtet des disparaten Regelungsrahmens, der auch einer Einordnung des Energieeffizienzrechts als eigenständiges Rechtsgebiet entgegensteht, lassen sich bei übergreifender Betrachtung immerhin einige Strukturmerkmale der Energieeffizienzanforderungen im Energieumweltrecht herausdestillieren (cc.). aa) Sektorübergreifende Regelungen Sektorübergreifende Regelungen sind aufgrund ihrer breitflächigeren Ausrichtung in be- 249 sonderer Weise geeignet, prägende Wirkung für die Herausarbeitung von Strukturprinzipien zu entfalten. Hervorzuheben sind insoweit die unionsrechtlichen Vorgaben zur Kennzeichnung und zum Ökodesign von energieverbrauchsrelevanten Produkten ([1] und [2]), sowie insbesondere die Energieeffizienzrichtlinie 2012/27 (3).917 (1) Energielabel-Verordnung Die rechtliche Grundlage einer verpflichtenden Energieverbrauchskennzeichnung918 bilde- 250 te lange Zeit die auf den Bereich der Haushaltsgeräte beschränkte Kennzeichnungsrichtlinie 92/75.919 Mit der Neufassung durch die Richtlinie 2010/30920 wurde ihr Anwendungsbereich auf alle „energieverbrauchsrelevanten Produkte“ (s. Art. 2 lit. a RL) erweitert. Im Anschluss an eine Überprüfung der EU-Kommission921 erfolgte dann eine Ersetzung der Richtlinie 2010/30 durch die neue EU-Energielabel-Verordnung 2017/1369.922 Diese deckt zwar im Wesentlichen den gleichen Geltungsbereich ab, wurde aber inhaltlich klarer gefasst und aktualisiert, um eine erhöhte Wirksamkeit zu gewährleisten. Die Energielabel-VO gilt in jedem EU-Mitgliedsstaat unmittelbar und muss anders als dies bei der Kennzeichnungsrichtlinie der Fall war, nicht in nationales Recht umgesetzt werden. Die Energielabel-VO zielt auf eine Verpflichtung der Lieferanten (Art. 2 Nr. 14 VO) und 251 Händler (Art. 2 Nr. 13 VO) zu Produktinformationen über den Energie- und Ressourcen-

916 Ludwigs in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 175 (184 ff.); ausdifferenzierter Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 427 ff.; s. auch noch Rn. 237 ff. der Vorauflage; anders Knauff in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 3 Rn. 49, der zwischen allgemeinen Vorschriften, erzeugungs- und nutzungseffizienzrechtlichen Vorgaben unterscheidet. 917 Umfassend Jesse, S. 77, der hier noch auf weitere sektorenübergreifende Rechtsakte wie die Stromsteuer-RL 2003/96 (Fn. 131) eingeht; vgl. auch bereits Ludwigs in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 175 (187 ff.), wo ergänzend die Verbindungslinie zwischen Emissionshandels- und Energieeffizienzrecht aufgezeigt und darauf hingewiesen wird, dass aus Sicht der Regelungsadressaten eine Steigerung der Energieeffizienz die zentrale Option zur Emissionsvermeidung darstellt. 918 Zu den daneben bestehenden Initiativen auf freiwilliger Basis (wie etwa dem Energiesparlabel „Energy-Star“) vgl. Wüstemann, S. 161 ff. 919 Nachweis in Fn. 118. 920 RL 2010/30/EU des EP und des Rates v. 19.5.2010 über die Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen, ABl. 2010 L 153/1; aufgehoben durch VO (EU) 2017/1369 des EP und des Rates v. 4.7.2017, ABl. 2017 L 1908/1; näher zB Meßerschmidt § 16 Rn. 137 ff.; s. jetzt auch Föhlisch/Löwer CR 2018, 307. 921 Bericht der Kommission v. 15.7.2015 über die Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen, COM(2015) 345 final. 922 Nachweis in Fn. 228.

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verbrauch in Gestalt normierter Etiketten und Produktdatenblätter (Art. 3 und 5 VO).923 Den Endverbrauchern soll hierdurch eine informierte Kaufentscheidung ermöglicht werden. Des Weiteren ist in den Art. 4 und 12 VO die Einrichtung einer von den Lieferanten zu befüllenden und online abrufbaren Produktdatenbank ab 2019 durch die EU-Kommission vorgesehen. Sie soll neben dem Zugriff des Verbrauchers auf Informationen auch die Marktüberwachung sowie den Informationsaustausch zwischen den Wirtschaftsakteuren erleichtern (s. Art. 12 Abs. 2 VO).924 Die Datenbank trägt den Namen European Product Database for Energy Labelling (EPREL) und setzt sich aus einem öffentlichen Teil und einem nur für die Marktüberwachungsbehörden und die Kommission zugänglichen Teil zusammen.925 252 Konzeptionell handelt es sich bei der Energielabel-VO um eine sog Rahmenverordnung, die auf den ergänzenden Erlass delegierter Rechtsakte durch die Kommission angewiesen ist. Darin werden detaillierte Anforderungen an die Etiketten für spezifische Produktgruppen festgelegt (Art. 16 iVm Art. 11 Abs. 4 und 5 VO).926 Derzeit bestehen – regelmäßig noch auf die Kennzeichnungsrichtlinie 2010/30 gestützte – delegierte Rechtsakte für 15 einzelne Produktgruppen (ua Fernsehgeräte, Haushaltsgeschirrspüler und Haushaltswaschmaschinen).927 Dort erfolgt eine Zuteilung der Geräte in unterschiedliche Energieeffizienzklassen, die durch ein einheitliches EU-Etikett zu kennzeichnen sind. (2) Ökodesign-Richtlinie 253 Weitergehend werden den Herstellern auch materielle Effizienzvorgaben für die umweltgerechte Produktgestaltung („Ökodesign“) gemacht. Auch hier verfolgt die EU die Regelungstechnik eines Rahmenrechtsaktes mit darauf aufsetzendem Tertiärrecht. Als Grundlage dient die im Jahr 2009 neu gefasste Ökodesign-Richtlinie 2009/125.928 Sie gilt für alle „energieverbrauchsrelevanten Produkte“ iSd Art. 2 Nr. 1 RL.929 Die konkreten Mindesteffizienz- bzw. Höchstverbrauchsstandards ergeben sich aus den gem. Art. 15 Abs. 1 S. 2 iVm Art. 19 Abs. 3 RL zu einzelnen Produktgruppen erlassenen Durchführungsrechtsakten der Kommission.930 Daneben werden in Art. 15 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. b RL als gleichrangige Alternative auch Selbstregulierungsmaßnahmen der Wirtschaft anerkannt. 254 Bislang wurden von der EU-Kommission Durchführungsverordnungen zu weit über 20 Produktgruppen (darunter Elektromotoren, Haushaltskühlgeräte und Haushaltslampen)

923 Für eine Auflistung weiterer Pflichten der Händler und Lieferanten vgl. Art. 6 VO. 924 Hierzu Nusser/Fehse in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. EVPG Rn. 10. 925 Die Datenbank ist abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/energy-climate-change-environment/standa rds-tools-and-labels/products-labelling-rules-and-requirements/energy-label-and-ecodesign/european-p roduct-database-energy-labelling_en (zuletzt abgerufen am 30.6.2019). 926 Näher zur Regelungssystematik: Knauff in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 3 Rn. 87 ff.; noch zur Kennzeichnungs-RL 2010/30/EU: Nusser/Reintjes EuZW 2012, 446 (451 f.). Die Annahme delegierter Rechtsakte richtet sich nach Art. 17 VO 2017/1369, dessen Abs. 3 vorsieht, dass die Befugnisübertragung vom Europäischen Parlament oder vom Rat jederzeit widerrufen werden kann (s. auch Art. 290 Abs. 2 S. 1 lit. a AEUV). 927 Vgl. die Auflistung bei Knauff in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 3 Rn. 92. 928 RL 2009/125/EG des EP und des Rates v. 21.10.2009 zur Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung energieverbrauchsrelevanter Produkte, ABl. 2009 L 285/10; geändert durch RL 2012/27/EU des EP und des Rates v. 25.10.2012, ABl. 2012 L 315/1; vgl. auch die Mitteilung der Kommission zum „Ökodesign Arbeitsprogramm 2016-2019“ v. 30.11.2016, COM(2016) 773 final. 929 Zur entsprechenden Erweiterung des Geltungsbereichs der Ökodesign-RL vgl. Schomerus/Spengler EurUP 2010, 54 (61). 930 Dabei kommt gem. Art. 15 Abs. 1 iVm Art. 19 Abs. 3 RL noch immer das sog Regelungsverfahren mit Kontrolle gem. Art. 5 a Abs. 1–4 des „alten“ Komitologiebeschlusses zur Anwendung. S. insoweit auch bereits den Hinweis in Fn. 591.

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verabschiedet.931 Die Maßnahmen beinhalten präzise und quantitativ bestimmte Anforderungen an die Energieeffizienz der einzelnen Produktgruppen und legen die zugehörigen Berechnungsmethoden und Nachprüfungsverfahren zur Marktaufsicht fest. Die vom Geltungsbereich der Ökodesign-Richtlinie erfassten Produkte dürfen gem. Art. 3 255 Abs. 1 RL nur in Verkehr gebracht bzw. in Betrieb genommen werden, wenn sie den Energieeffizienzanforderungen der für sie geltenden Durchführungsrechtsakte entsprechen und die in Art. 5 Abs. 1 und 2 iVm Anh. III RL vorgesehene „CE“-Kennzeichnung tragen. Zugleich muss der Hersteller im Rahmen einer Konformitätserklärung zusichern, dass das Produkt mit den einschlägigen Bestimmungen der jeweiligen Durchführungsmaßnahme im Einklang steht (Art. 5 Abs. 1 und 3 iVm Anh. VI RL). Art. 8 iVm Anh. IV und V RL fordert schließlich vor Inverkehrbringen bzw. Inbetriebnahme des energieverbrauchsrelevanten Produkts die Durchführung eines Konformitätsbewertungsverfahrens. (3) Energieeffizienzrichtlinie Mit der Energieeffizienzrichtlinie 2012/27 (EnEff-RL)932 wurde erstmals ein stärker ganz- 256 heitlich ausgerichteter Ansatz für Energieeinsparungen in der EU etabliert,933 der jüngst im Rahmen des Winterpakets eine Novellierung (mit Umsetzungsfrist 25.6.2020) erfahren hat.934 In inhaltlicher Hinsicht sind vor allem sechs Schwerpunkte hervorzuheben (vgl. zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung → Rn. 261 f.).935 Erstens werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein (unverbindliches) „indikatives nationales Energieeffizienzziel“ für das Jahr 2020 sowie „indikative nationale Energieeffizienzbeiträge“ zur Erreichung des nunmehr für das Jahr 2030 vorgegebenen EU-Energieeffizienzziels von 32,5 % (mit Review 2023) festzulegen und der Kommission mitzuteilen (Art. 3 Abs. 1 und Abs. 5 EnEff-RL). Das Herzstück der EnEff-RL bildet zweitens die Regelung zur Einführung eines Energieeffizienzverpflichtungssystems auf Unternehmensebene in Art. 7 Abs. 10 (iVm Art. 7 a) EnEff-RL.936 Hiermit soll(t)en von 2014 bis 2020 neue jährliche Energieeinsparungen in Höhe von mindestens 1,5 % des jährlichen Energieabsatzes an Endkunden realisiert werden (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a EnEFF-RL). Für die Zeit von 2021 bis 2030 und die folgenden Zehnjahreszeiträume ist nunmehr in Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b, UAbs. 3 EnEffRL grundsätzlich vorgesehen, dass neue jährliche Einsparungen in Höhe von 0,8 % des jährlichen Endenergieverbrauchs zu erreichen sind.937 Alternativ (oder kumulativ) zur Etablierung eines Energieeffizienzverpflichtungssystems können die Mitgliedstaaten freilich nach Art. 7 Abs. 10 (iVm Art. 7 b) EnEff-RL auch „andere strategische Maßnahmen“ (Erwägungsgrund Nr. 20 EnEff-RL) ergreifen, um (gleichwertige) Energieeinsparungen beim Endkunden zu bewirken.938 Drittens hat die öffentliche Hand ab 1.1.2014 jährlich 3 % der Gesamtfläche beheizter und/oder gekühlter Gebäude, die sich im Eigentum der Zen931 Vgl. die Auflistung bei Knauff in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 3 Rn. 80. 932 Nachweis in Fn. 139. 933 S. auch die Bewertung der Kommission in ihrer Mitteilung „Ein Rahmen für die Klima- und Energiepolitik im Zeitraum 2020–2030“ v. 22.1.2014, COM(2014) 15 final, 9. 934 Vgl. insbes. die RL (EU) 2018/2002 des EP und des Rates v. 11.12.2018 zur Änderung der RL 2012/27/EU zur Energieeffizienz, ABl. 2018 L 328/210. 935 Zum Folgenden bereits Ludwigs in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 175 (191 f.); eingehend ders. in Baur/ Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 15 Rn. 9 ff. 936 Näher hierzu Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 15 Rn. 15 ff.; Schomerus, ER 2013, 184 ff. 937 Kritisch Wehle RdE 2018, 407 (413), unter Hinweis auf das (nunmehr in Art. 1 Abs. 1 UAbs. 3 EnEff-RL verankerte) ambitioniertere Prinzip „Energieeffizienz an erster Stelle (energy efficiency first)“; zum Wechsel der Bezugsgröße (vormals Energieabsatz jetzt Endenergieverbrauch) vgl. Pause ZUR 2019, 387 (390). 938 Zu einer Beitragsverpflichtung zum Nationalen Energieeffizienzfonds gem. Art. 20 Abs. 4 EnEffRL als Alternative zu Energieeffizienzverpflichtungssystemen vgl. (im Grundsatz bejahend) EuGH 7.8.2018 – C-561/16, ECLI:EU:C:2018:633 Rn. 22 ff. – Saras Energía, s. dort (Rn. 43 ff.) auch zur

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tralregierung (in Deutschland also des Bundes) befinden und von ihr genutzt werden, zu renovieren (Art. 5 Abs. 1 EnEff-RL). Auch insoweit sieht die Richtlinie freilich eine alternative Vorgehensweise in Form der Ergreifung „andere[r] kostenwirksame[r] Maßnahmen“ vor (Art. 5 Abs. 6 RL). Viertens enthält die Energieeffizienzrichtlinie auch Direktiven für die Beschaffung von Produkten, Dienstleistungen und Gebäuden durch die Zentralregierungen (Art. 6 Abs. 1 RL).939 Fünftens begründet Art. 8 EnEff-RL Vorgaben zur Förderung der Verfügbarkeit von hochwertigen Energieaudits (Art. 2 Nr. 25 EnEff-RL) für alle Endkunden. Größere Unternehmen (respektive solche, die keine kleinen und mittleren Unternehmen sind940) haben gem. Art. 8 Abs. 4 EnEff-RL (mit Freistellungsmöglichkeit in Abs. 6) mindestens alle vier Jahre Energieaudits durchzuführen, wobei der erste Durchlauf bis zum 5.12.2015 stattfinden musste. Sechstens liegt ein weiterer Regelungsschwerpunkt auf der informativen Verbrauchserfassung und Abrechnung (Art. 9–12 EnEff-RL).941 Hierzu zählen ua Bestimmungen über die Bereitstellung individueller Zähler zu wettbewerbsfähigen Preisen ebenso wie Vorgaben hinsichtlich der Gestaltung intelligenter Verbrauchserfassungssysteme und intelligenter Zähler für den Erdgas- und/oder Stromverbrauch. Mit der jünsten Novelle im Rahmen des Winterpakets wurden zudem die Vorschriften für die invididuelle Messung und Abrechnung der Wärmeenergie verschärft, indem Verbrauchern klarere Rechte auf häufigere und besser verwertbare Informationen über ihren Energieverbrauch eingeräumt werden. 257 Der ganzheitliche Ansatz der Energieeffizienzrichtlinie findet in der Zielsetzung, einen gemeinsamen Rahmen für die Energieeffizienzförderung in der Union zu schaffen (Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 RL) prägnanten Ausdruck.942 Kennzeichen der Richtline sind gerade die sektorenübergreifenden Regelungsinhalte ua zum Gebäudebereich, Produktbereich, zu Energieanlagen, zu Energienetzen, Energiedienstleistungen oder zum öffentlichen Beschaffungswesen.943 Den Mitgliedsstaaten verbleiben dabei durchaus substanzielle Handlungsspielräume. Grund hierfür ist zum einen, dass die Energieeffizienzrichtlinie eine Vielzahl offener Klauseln und mehrdeutiger Begriffe enthält. Zum anderen werden zwar zunächst verpflichtende Regelungsinhalte festgeschrieben (zB bzgl. der Einführung einer 3 %-Renovierungsquote), den Mitgliedstaaten dann aber Möglichkeiten eröffnet, um die vorgegebenen Ziele auf alternativen Wegen (etwa durch „andere kostenwirksame Maßnahmen“) zu erreichen. Die derart gewährten Handlungsspielräume machen im Zusammenspiel mit dem Vorliegen bloß „indikative[r] nationale[r] Energieeffizienzziel[e]“ bzw. „indikative[r] nationale[r] Energieeffizienzbeiträge“ den Kompromisscharakter der Energieeffizienzrichtlinie deutlich. bb) Sektorenbezogene Regelungen 258 In sektorenbezogener Perspektive sind insbesondere die Bereiche Gebäude (1), Energieund Industrieanlagen (2) sowie Verkehr (3) von hervorgehobener Bedeutung.944

939 940 941 942 943 944

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Zulässigkeit der Auferlegung von Energieeffizienzverpflichtungen nur gegenüber bestimmten Unternehmen des Energiesektors. Vgl. daneben noch zu den allgemeinen Vorgaben des EU-Vergaberechts Knauff in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C Teil 3 Rn. 102 ff.; s. auch ders. EurUP 2018, 438 (444 ff.). Vgl. hierzu den Verweis auf die Empfehlung 2003/361 der Kommission (ABl. 2003 L 124/36) in Art. 2 Nr. 26 EED. Vgl. jüngst EuGH 2.5.2019 – C-294/18, ECLI:EU:C:2019:351 – Oulun Sähkömyynti (zu einem Preisnachlass auf die Stromgrundgebühr, den ein Stromversorger nur den Endkunden gewährte, die sich für die Zustellung der Abrechnung auf elektronischem Wege entschieden hatten). Ludwigs in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 175 (192). Nebel in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 143 (153). Ludwigs in Brinktrine/Ludwigs/Seidel, S. 175 (184).

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(1) Gebäude Einen zentralen Bereich des Energieeffizienzrechts bildet der für fast 40 % des Gesamten- 259 ergieverbrauchs der EU verantwortliche Gebäudesektor.945 Nachdem schon die Richtlinie 2002/91946 über das Energieprofil von Gebäuden ab 2006 eine Zertifizierung der Energieeffizienz und die Einführung von Energieausweisen für Neu- und Altbauten in den Mitgliedstaaten vorschrieb, erfolgte mit der Richtlinie 2010/31 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden 947 sowohl eine Ausweitung des Geltungsbereichs als auch eine Konkretisierung der Vorgaben. Am 30.5.2018 wurde dann als erster von acht Rechtsakten des Winterpakets eine erneute Weiterentwicklung der Gebäuderichtlinie verabschiedet, die bis zum 10.3.2020 in nationales Recht umzusetzen ist.948 Weitere Änderungen erfolgten durch die Governance-VO (EU) 2018/1999 (allgemein hierzu → Rn. 278 ff.). Inhaltliche Schwerpunkte der Richtlinie der Gebäude-Richtlinie 2010/31 bilden ua die Be- 260 rechnung der Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, die Anwendung von Mindestanforderungen an die Gesamtenergieeffizienz neuer wie (im Falle größerer Renovierungen auch) bestehender Gebäude sowie die Erstellung von Energieausweisen (Art. 3 iVm Anhang I, Art. 4 und Art. 11 RL).949 Charakteristisch für die EU-Gebäude-Richtlinie ist, dass sie sich in weiten Teilen auf allgemein gefasste Vorgaben und die Benennung von Optionen beschränkt. Den Mitgliedstaaten verbleibt vor diesem Hintergrund ein substanzieller Ausgestaltungsspielraum.950 Die Novellierung aus dem Jahr 2018 beinhaltet neben Vorgaben zur besseren Ausrichtung neuer Gebäude auf die künftigen Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Energie- und Verkehrsinfrastruktur951 auch eine Weiterentwicklung der bisher in der Energieeffizienzrichtlinie 2012/27 geregelten langfristigen Renovierungsstrategien (s. Art. 2 a RL).952 (2) Energie- und Industrieanlagen Einen weiteren Kernbereich bilden die rechtlichen Vorgaben zur Energieeffizienz von 261 Energie- und Industrieanlagen. Zentrale Bedeutung kommt hier der Förderung von Energieerzeugungsanlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung und den Energieeffizienzanforderungen aus der neuen EU-Industrieemissionenrichtlinie zu. 945 KOM(2008) 772 endg., 9 (Fn. 135); zuletzt: Empfehlung (EU) 2019/786 der Kommission v. 8.5.2019 zur Renovierung von Gebäuden, ABl. 2019 L 127/34 sowie Empfehlung (EU) 2019/1019 der Kommission v. 7.6.2019 zur Modernisierung von Gebäuden, ABl. 2019 L 165/70; für einen Überblick zu den Maßnahmen im Gebäudebereich auf europäischer Ebene: Wüstemann, S. 128 ff. 946 RL 2002/91/EG des EP und des Rates v. 16.12.2002 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, ABl. 2002 L 1/65; aufgehoben durch RL 2010/31/EU des EP und des Rates v. 19.5.2010, ABl. 2010 L 153/13. 947 RL 2010/31/EU des EP und des Rates v. 19.5.2010 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, ABl. 2010 L 153/13; zuletzt geändert durch VO (EU) 2018/1999 des EP und des Rates v. 11.12.2018, ABl. 2018 L 328/1 948 RL (EU) 2018/844 des EP und des Rates v. 30.5.2018 zur Änderung der RL 2010/31/EU über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden und der RL 2012/27/EU über Energieeffizienz, ABl. 2018 L 156/75. 949 Vgl. insoweit die Aufzählung der Richtlinien-Anforderungen in Art. 1 Abs. 2 RL 2010/31/EU. 950 Darauf hinweisend: Koch NVwZ 2011, 641 (645); Meßerschmidt § 16 Rn. 17; s. auch den Erwägungsgrund Nr. 10 RL 2010/31/EU. 951 Vgl. etwa die Regelungen zur Errichtung von Ladepunkten bzw. (vorbereitenden) Schutzrohren für Elektrokabel in Art. 8 Abs. 2, 3, 5 und 7 RL 2010/31/EU; näher zu den energierechtlichen Implikationen der Förderung von Elektromobilität zuletzt Ludwigs/Huller RdE 2017, 497; s. auch Helbig/ Mayer in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Vor § 1 LSV Rn. 1 ff. 952 Ludwigs in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. A Rn. 63; vgl. insoweit auch die Empfehlung (EU) 2019/786 der Kommission v. 8.5.2019 zur Renovierung von Gebäuden, ABl. 2019 L 127/34 sowie die Empfehlung (EU) 2019/1019 der Kommission v. 7.6.2019 zur Modernisierung von Gebäuden, ABl. 2019 L 165/70.

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262 Im Bereich der Energieerzeugung wird eine Verbesserung der Energieeffizienz insbesondere durch den verstärkten Einsatz von Kraft-Wärme-Kopplung angestrebt.953 Erreichen herkömmliche Anlagen zur Stromerzeugung einen maximalen Umwandlungsgrad von ca. 35–55 %, kann bei einer mit KWK betriebenen Anlage aufgrund der gekoppelten Erzeugung von Strom und Wärme eine Brennstoffausnutzung von bis zu 90 % verwirklicht werden.954 263 Auf Unionsebene wurde eine Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung zunächst durch die Richtlinie 2004/8955 angestrebt. An deren Stelle traten zum 5.6.2014 die Regelungen der (sektorenübergreifenden) Energieeffizienz-Richtlinie 2012/27 (EnEff-RL).956 Hervorzuheben ist insoweit ein Vierfaches:957 Erstens wurden die Mitgliedstaaten in Art. 14 Abs. 1 EnEff-RL verpflichtet, bis zum 31.12.2015 (und danach auf Ersuchen der Kommission im Fünf-Jahres-Rhythmus) eine umfassende Bewertung des Potenzials für den Einsatz der hocheffizienten KWK sowie der effizienten Fernwärme- und Fernkälteversorgung durchzuführen und ihre Einschätzung der Kommission mitzuteilen. Zweitens haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 14 Abs. 5 EnEff-RL (vorbehaltlich der Freistellungsmöglichkeit in Abs. 6) sicherzustellen, dass ab dem 5.6.2014 bei bestimmten Großprojekten eine KostenNutzen-Analyse im Einklang mit Anhang IX Teil 2 EnEff-RL durchgeführt wird.958 Drittens wird für Strom aus hocheffizienter KWK in Art. 14 Abs. 10 EnEff-RL ein System von Herkunftsnachweisen (mit den Mindestangaben aus Anhang X) bei gegenseitiger Anerkennungspflicht der Mitgliedstaaten eingeführt. Viertens haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 14 Abs. 11 EnEff-RL zu gewährleisten, dass jede verfügbare KWK-Förderung davon abhängig gemacht wird, dass der erzeugte Strom aus hocheffizienter KWK stammt und die Abwärme wirksam zur Erreichung von Primärenergieeinsparungen genutzt wird. 264 Was im Weiteren die Richtlinie 2010/75 über Industrieemissionen betrifft, so wurde hiemit ein einheitlicher Rechtsrahmen geschaffen, der sieben bestehende Richtlinien integriert.959 Vom Anwendungsbereich erfasst werden neben Industrieanlagen auch Anlagen der Energiewirtschaft.960 265 Inhaltlich statuiert die EU-Industrieemissionenrichtlinie ordnungsrechtliche Energieeffizienz-Vorgaben gegenüber den Anlagenbetreibern. So zählt Art. 11 lit. f RL – wie schon Art. 3 Abs. 1 lit. d der früheren IVU-Richtlinie961 – zu den „[a]llgemeine[n] Prinzipien der Grundpflichten der Betreiber“, dass „Energie (…) effizient verwendet [wird]“. Darüber hinaus wird in Art. 11 lit. b RL auch die nunmehr vom Vorsorgegebot abgekoppelte Anwendung der „besten verfügbaren Techniken“ vorgeschrieben. Der Begriff der „beste[n] verfügbare[n] Techniken“ aus Art. 3 Nr. 10 RL wird durch die in Anhang III aufgeführten Einzelkriterien, zu denen wiederum die „(…) Energieeffizienz“ (Nr. 9) zählt, präzisiert.

953 954 955 956 957 958 959 960 961

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Ekardt ZUR Sonderheft 2004, 405 (408). Vgl. Riesner/Sommer in Kramer, S. 476 (481). Nachweis in Fn. 133. Näher zur KWK-Förderung im Rahmen der EnEff-RL: Klemm CuR 2012, 148 (154 f.); Martin EnWZ 2012, 62 (63). Zum Folgenden bereits Ludwigs in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 15 Rn. 26. Ausführlich Martin EnWZ 2012, 62 (63). RL 2010/75/EU des EP und des Rates v. 24.11.2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), ABl. 2010 L 334/17; hierzu näher Diehl ZUR 2011, 59 ff.; Traulsen DÖV 2011, 769 (770 f.). Vgl. insoweit die Aufstellung in Anh. I RL. RL 2008/1/EG des EP und des Rates v. 15.1.2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, ABl. 2008 L 24/8; aufgehoben durch RL 2010/75/EU des EP und des Rates v. 24.11.2010, ABl. 2010 L 334/17.

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B. Gegenstandsbereich

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(3) Verkehr Im Verkehrssektor, der für ca. 20 % des gesamten Primärenergieverbrauchs verantwort- 266 lich zeichnet,962 erfolgt seit Ende der 1990er-Jahre eine verstärkte Energieeffizienzregulierung. Dabei ist zwischen Kennzeichnungspflichten einerseits und Vorgaben zur Produktgestaltung andererseits zu differenzieren. Die Richtlinie 1999/94963 ist darauf ausgerichtet, durch die verbesserte Information der 267 Verbraucher deren Kaufentscheidung zu beeinflussen. Hierdurch soll ein Anreiz für die Automobilhersteller zur Verringerung des Kraftstoffverbrauchs ihrer Fahrzeuge vermittelt werden.964 Inhaltlich stehen vier Pflichten der Hersteller/Händler im Zentrum.965 Zum einen handelt es sich um die am Verkaufsort zu erfüllenden Pflichten zum Hinweis auf den Kraftstoffverbrauch und die CO2-Emissionen des betreffenden Fahrzeugs (Art. 3 iVm Anh. I RL) sowie zum Aushang bzw. zur Anzeige der Kraftstoffverbrauchs- und CO2Emissionsdaten aller dort angebotenen Neufahrzeuge (Art. 5 iVm Anh. III RL). Zum anderen werden die Aufnahme der Kraftstoffverbrauchs- und CO2-Emissionswerte in alle Werbeschriften und sonstigen Werbematerialien für ein bestimmtes Modell (Art. 6 iVm Anh. IV RL) sowie die jährliche Erstellung eines Leitfadens über den Kraftstoffverbrauch und die CO2-Emissionen aller neuen PKW-Modelle (Art. 4 RL iVm Anh. II) gefordert. Neben diese Kennzeichnungspflichten sind in jüngerer Zeit auch produktbezogene Min- 268 destanforderungen getreten. Ins Blickfeld rückte hier insbesondere die Verordnung über CO2-Emissionen von Neuwagen vom 23.4.2009966,967 Darin werden EU-weit verbindliche Emissionswerte formuliert, die von den Herstellern für ihre Neuwagenflotte sukzessive einzuhalten sind (Art. 4 iVm Anh. I VO). Konkret musste die Autoindustrie den durchschnittlichen CO2-Grenzwert von 130 g/km für Neuwagen ab dem Jahr 2015 (Phase-in ab 2012) erreichen. Ab Ende 2020 ist ein durchschnittlicher CO2-Grenzwert von 95 g/km von der gesamten Neuwagenflotte einzuhalten. Überschreitet ein Hersteller die Grenzwerte, wird nach Art. 9 VO seit 2012 eine – kompetenzrechtlich kontroverse968 – „Abgabe wegen Emissionsüberschreitung“ fällig. Parallele Vorgaben finden sich für leichte Nutzfahrzeuge in der Verordnung 510/2011.969 Die Ziele liegen hier bei 175 g/km seit 2017 (Phase-in ab 2014) sowie 147 g/km ab 2020. Mit der ab dem 1.1.2020 geltenden Verord962 Mitteilung der Kommission „Aktionsplan für Energieeffizienz: Das Potenzial ausschöpfen“ v. 19.10.2006, KOM(2006) 545 endg., 16. 963 Nachweis in Fn. 123. 964 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 5 RL 1999/94. 965 Reimer in Britz/Eifert/Reimer, S. 253 (261). 966 VO (EG) Nr. 443/2009 des EP und des Rates v. 23.4.2009 zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen im Rahmen des Gesamtkonzepts der Gemeinschaft zur Verringerung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen, ABl. 2009 L 140/1; aufgehoben (zum 1.1.2020) durch Verordnung (EU) 2019/631 des EP und des Rates v. 17.4.2019, ABl. 2019 L 111/13; näher Schmidt-Kötters/Held NVwZ 2009, 1390 (1390 f.). 967 S. auch noch die VO (EG) Nr. 661/2009 des EP und des Rates v. 13.7.2009 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen, Kraftfahrzeuganhängern und von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge hinsichtlich ihrer allgemeinen Sicherheit, ABl. 2009 L 200/1 (zuletzt geändert durch VO [EU] 2019/543 der Kommission v. 3.4.2019, ABl. 2019 L 95/1), die ua Regelungen zur Kraftstoffeffizienz von Reifen enthält und durch ein hierauf abgestimmtes Kennzeichnungssystem ergänzt wird, das mit der VO (EG) Nr. 1222/2009 des EP und des Rates v. 25.11.2009 über die Kennzeichnung von Reifen in Bezug auf die Kraftstoffeffizienz und andere wesentliche Parameter (ABl. 2009 L 342/46; zuletzt geändert durch VO [EU] Nr. 1235/2011 der Kommission v. 29.11.2011, ABl. 2011 L 317/17) etabliert wurde. 968 Hierzu Seiler EuR 2010, 67 (71 f., 79 ff., 85, 87 mwN). 969 VO (EU) Nr. 510/2011 des EP und des Rates v. 11.5.2011 zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue leichte Nutzfahrzeuge im Rahmen des Gesamtkonzepts der Union zur Verringerung der CO2Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen, ABl. 2011 L 145/1; aufgehoben (zum 1.1.2020) durch VO (EU) 2019/631 des EP und des Rates v. 17.4.2019, ABl. 2019 L 111/13.

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§ 5 Energierecht nung (EU) 2019/631 zur Festsetzung von CO2-Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen und für neue leichte Nutzfahrzeuge wurden die beiden mehrfach und erheblich geänderten Verordnungen von 2009 bzw. 2011 nunmehr aus Gründen der Klarheit neu gefasst und in einem Rechtsakt zusammengeführt.970 Darüber hinaus erfolgt in Art. 1 Abs. 5 VO die Festlegung neuer EU-weiter Flottenziele bis zum Jahr 2030. Danach muss der CO2-Ausstoß von neuen Pkw bzw. neuen leichten Nutzfahrzeugen bis zum 1.1.2030 im Vergleich zum Grenzwert des Jahres 2021 um 37,5 % bzw. 31% sinken (Art. 1 Abs. 5 VO) cc) Übergreifende Strukturmerkmale des „EU-Energieeffizienzrechts“

269 Fragt man nach übergreifenden Strukturen des „EU-Energieeffizienzrechts“,971 so lassen sich vor allem drei charakteristische Merkmale anführen.972 Zum Ersten ist die Vielzahl der nebeneinander zum Einsatz kommenden Steuerungsinstrumente hervorzuheben.973 Diese verdichten sich zu einem regelrechten „Instrumentenmix“.974 Die Gestaltungsmodi reichen von der direkten Verhaltenssteuerung (wie den Mindesteffizienz- und Höchstverbrauchsstandards der Ökodesign-RL) über eine Steuerung durch ökonomische Anreize (wie der „Abgabe wegen Emissionsüberschreitung“) und einer „regulierten Selbstregulierung“975 (als explizit anerkannter Alternative in der Ökodesign-RL) bis hin zu einer informationellen Steuerung (durch eine Vielzahl von Kennzeichnungs- und Ausweispflichten, etwa nach Maßgabe der EU-Energielabel-Verordnung). Zweitens zeichnen sich die Energieeffizienzanforderungen durch ihren multifinalen Charakter aus. Neben dem prägenden Ziel des „Klima- und Umweltschutzes“ stehen dabei auch die Verwirklichung des (Energie-)Binnenmarktes976 und die Versorgungssicherheit977 im Fokus. Hierin liegt zugleich ein weiterer Beleg für die These von der „Ziel- und Maßnahmenverschränktheit“978 (s. auch schon → Rn. 58) der europäischen Energiepolitik. Drittens ist die dynamische Grundausrichtung der Energieeffizienzanforderungen zu unterstreichen. Diese findet zum einen darin ihren Ausdruck, dass bereits in den existierenden Rechtsakten selbst Mechanismen der Fortentwicklung des Anforderungsprofils verankert sind.979 Zum anderen resultieren externe Dynamisierungsimpulse aus der Einbindung des Energieeffizienzrechts in die inte-

970 VO (EU) 2019/631 des EP und des Rates v. 17.4.2019 zur Festsetzung von CO2-Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen und für neue leichte Nutzfahrzeuge und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 443/2009 und (EU) Nr. 510/2011, ABl. 2019 L 111/13. 971 Näher zum Zusammenspiel völkerrechtlicher Abkommen, unionsrechtlicher Rechtsakte und nationaler (Umsetzungs-)Maßnahmen: Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 456 ff.; s. auch Pielow ZUR 2010, 115 (116 f., 119 ff.). 972 Zu den „Charakteristika des Energieeffizienzrechts“ instruktiv Britz/Eifert/Reimer in dies., S. 63 ff., auf Basis der (kritikwürdigen) These vom Energieeffizienzrecht als eigenständigem „Rechtsgebiet im Werden“; vgl. auch Ludwigs, Unternehmensbezogene Effizienzanforderungen, S. 456 ff., aus unternehmensbezogener Perspektive. 973 Vgl. insbes. Britz/Eifert/Reimer in dies., S. 63 (69 ff., 101 ff., 103 ff.); Reimer in Schulze-Fielitz/Müller, S. 147 (168). 974 Schulte in FS für Rengeling, S. 417 (434). 975 Grundlegend Schmidt-Preuß VVDStRL 56 (1997), 160 (162 ff., 164: „gesteuerte Selbstregulierung“). 976 Vgl. zB Art. 1 Abs. 1 der Ökodesign-RL 2009/125 (Nachweis in Fn. 928), wo es heißt, dass der geschaffene Regelungsrahmen darauf abzielt, „(…) den freien Verkehr [energieverbrauchsrelevanter Produkte] im Binnenmarkt zu gewährleisten“. 977 S. etwa Erwägungsgrund Nr. 1 S. 2 der EnEff-RL 2012/27/EU (Nachweis in Fn. 139), wonach „[Energieeffizienz] die Versorgungssicherheit durch die Verringerung des Primärenergieverbrauchs sowie der Energieeinfuhren [verbessert]“. 978 Grundlegend Calliess in Cremer/Pielow, S. 20 (27 f.); ders. in FS für Säcker, S. 589 (591). 979 Vgl. exemplarisch die im System der Ökodesign-RL 2009/125 angelegte „iterative Regulierung“ (Britz/Eifert/Reimer in dies., S. 63 [84]) durch stufenweise Verschärfung des Anforderungsprofils.

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grierte Klima- und Energiepolitik der EU mit quantifizierten, sich evolutiv entwickelnden Klimaschutzzielen (→ Rn. 17). 3. Energieversorgungssicherheit Im Bereich der Energieversorgungssicherheit sind vor allem drei Sekundärrechtsakte her- 270 vorzuheben, die darauf abzielen, die Versorgung mit Elektrizität, Erdöl und Erdgas sicherzustellen. Im Einzelnen handelt es sich um die Richtlinie 2009/119 sowie um die Verordnungen 2017/1938 und 2019/941. Diese Maßnahmen regeln sowohl Präventionsmaßnahmen als auch koordinierte Reaktionsweisen in Krisenzeiten. a) Richtlinie 2009/119 über Mindestvorräte an Erdöl/Erdölerzeugnissen Die noch auf der Grundlage von ex-Art. 100 EG (Art. 122 AEUV) verabschiedete Richtli- 271 nie 2009/119980 hat mit Wirkung vom 31.12.2012 die Vorgängerrichtlinie 2006/67 verdrängt.981 Ausweislich ihres Art. 1 zielt die Richtlinie auf eine Festlegung von Regeln zur Gewährleistung eines hohen Maßes an Sicherheit bei der Erdölversorgung in der EU, die Sicherstellung von Mindestvorräten an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen sowie die Etablierung von Verfahren, um gegebenenfalls einer starken Verknappung zu begegnen. Von zentraler Bedeutung ist dabei vor allem die in Art. 3 Abs. 1 RL geregelte konkrete Verpflichtung der Mitgliedstaaten, zu gewährleisten, dass zu ihren Gunsten im Gebiet der Union ständig Erdölvorräte gehalten werden, die „insgesamt mindestens den täglichen Durchschnittsnettoeinfuhren für 90 Tage oder dem täglichen durchschnittlichen Inlandsverbrauch für 61 Tage entsprechen, je nachdem, welche Menge größer ist“. b) Gassicherungsverordnung 2017/1938 Mit der auf Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützten Gassicherungsverordnung 2017/1938 wur- 272 de zum 1.11.2017 die Verordnung 994/2010982 ersetzt. Übergeordnetes Ziel bleibt die in Art. 1 adressierte Gewährleistung der Erdgasversorgungssicherheit in der Union. Den politischen Hintergrund der „alten“ Verordnung 994/2010 bildete der russisch-ukrainische Gasstreit von Januar 2009.983 Die hieraus resultierende „beispiellose Störung“984 der durch die Ukraine geleiteten Erdgaslieferungen in die EU legte Defizite der VorgängerRichtlinie 2004/67985 offen.986 Mit der im Oktober 2017 erlassenen neuen Gassicherungsverordnung geht der Unionsgesetzgeber nun noch einen erkennbaren Schritt weiter und etabliert erstmals verbindliche Solidaritätsmaßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten in Zeiten von Versorgungskrisen.987 Die neue Verordnung 2017/1938 zielt darauf ab, ein reibungsloses und ununterbrochenes 273 Funktionieren des Erdgasbinnenmarktes sicherzustellen, „indem außerordentliche Maß-

980 Nachweis in Fn. 161; hierzu etwa Frey, Globale Energieversorgungssicherheit, S. 67 f. 981 Nachweis in Fn. 157. 982 Nachweis in Fn. 160; näher hierzu aus der Lit.: Hohaus/Würzberg in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 16 Rn. 23 ff.; Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 223 ff.; Nordmann, S. 346 ff.; aus der Rspr. vgl. EuGH 20.12.2017 – C-226/16, ECLI:EU:C:2017:1005 – Eni ua. 983 Für nähere Ausführungen zum historischen Kontext vgl. den zugrunde liegenden VO-Vorschlag der Kommission v. 16.7.2009 (KOM[2009] 363 endg., 2). 984 KOM(2009) 363 endg., 2. 985 Nachweis in Fn. 156. 986 S. auch schon die Mitteilung der Kommission v. 13.11.2008 zur RL 2004/67/EG über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung, KOM(2008) 769 endg., 13: „Der heutige Gemeinschaftsmechanismus (…) reicht nicht aus, um bei einer Krise der Erdgasversorgung, die über den mit nationalen Maßnahmen beherrschbaren Umfang hinausgeht, zeitnah reagieren zu können.“ 987 Eingehend zuletzt Gundel RdE 2019, 1.

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§ 5 Energierecht

nahmen für den Fall ermöglicht werden, dass der Markt die nachgefragten Erdgaslieferungen nicht mehr bereitstellen kann, wozu auch als letztes Mittel anzuwendende Solidaritätsmaßnahmen gehören, und indem eine klare Festlegung und Zuweisung der Zuständigkeiten der Erdgasunternehmen, der Mitgliedstaaten und der Union sowohl bei der Prävention als auch der Reaktion auf konkrete Störungen der Gasversorgung vorgesehen werden“ (Art. 1 S. 1 VO). Der (ggf. durch Solidarität) geschützte Kundenkreis wird in Art. 2 Nr. 5 und 6 VO definiert und umfasst insbesondere sämtliche Haushaltskunden, die an ein Erdgasverteilernetz angeschlossen sind.988 Die gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit der Erdgasversorgung wird durch Art. 3 Abs. 1 VO den Erdgasunternehmen, den Mitgliedstaaten und vor allem ihren zuständigen Behörden sowie der Kommission zugewiesen 274 In inhaltlicher Hinsicht lässt die Verordnung 2017/1938 einen zweistufigen Ansatz erkennen.989 Danach werden aufbauend auf einer Verpflichtung zur Eigenvorsorge nunmehr auch Solidaritätsmechanismen etabliert, die zum Einsatz kommen, sofern die zunächst rein nationalen Maßnahmen nicht ausreichen sollten. Konkret ist vorgesehen, dass die zuständige Behörde jedes Mitgliedstaats unter Berücksichtigung der von ENTSOG vorgelegten Risikoszenarien einen nationalen Präventionsplan zur Beseitigung oder Minderung der Risiken und einen Notfallplan zur Beseitigung oder Eindämmung der Folgen einer Störung aufstellt (Art. 8–10 VO).990 Tritt der Krisenfall ein, sieht Art. 11 VO unterschiedliche Krisenstufen vor, die von der Frühwarnung über den Alarm bis hin zum Notfall reichen und von der zuständigen nationalen Behörde ausgerufen werden. Weitergehend kann die Kommission gem. Art. 12 VO auf Antrag auch einen regionalen Notfall bzw. einen unionsweiten Notfall proklamieren. Nähere Regelungen zur Solidarität im Krisenfall trifft Art. 13 VO. Dort ist als „letzte[s] Mittel“ eine Verpflichtung zur Hilfeleistung unter Einschränkung der eigenen Versorgung vorgesehen, wenn alle Maßnahmen des betroffenen Mitgliedstaats nicht ausreichen, um die Versorgung der „durch Solidarität geschützten Kunden“ zu gewährleisten (Art. 13 Abs. 3 VO). Die Verpflichtung entfällt nur dann, wenn der Solidarität leistende Mitgliedstaat die Versorgung seiner eigenen „durch Solidarität geschützten Kunden“ nicht mehr gewährleisten könnte. Art. 13 Abs. 8 S. 2 VO sieht überdies vor, dass der ersuchende Staat unverzüglich Zahlung einer angemessenen Entschädigung an den solidarischen Mitgliedstaat leistet oder gewährleistet. c) Risikovorsorge-Verordnung 2019/941 275 Das Gegenstück zur Gassicherungsverordnung bildet die als Teil des Vierten Elektrizitätsbinnenmarktpakets auf Grundlage von Art. 194 AEUV verabschiedete und am 4.7.2019 in Kraft getretene Verordnung (EU) 2019/941 über die Risikovorsorge im Stromsektor vom 5.6.2019.991 Hiermit wurde zugleich die noch auf Basis von ex-Art. 95 EG (Art. 114 AEUV) erlassene Vorgängerregelung in der Richtlinie 2005/89992 aufgehoben. Die neue Risikovorsorge-Verordnung statuiert Regeln für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zur Verhütung und Vorbereitung der Bewältigung von Stromkrisen im Geiste

988 Näher zum dreistufigen Modell aus normalen Kunden, geschützten Kunden und „durch Solidarität“ geschützten Kunden: Gundel RdE 2019, 1 (4). 989 Zum Folgenden Gundel RdE 2019, 1 (4). 990 Vgl. insoweit auch bereits Art. 4 der VO Nr. 994/2010 (Fn. 160). 991 VO (EU) 2019/941 des EP und des Rates v. 5.6.2019 über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor und zur Aufhebung der RL 2005/89/EG, ABl. 2019 L 158/1; noch zum Vorschlag der Kommission vgl. Gundel RdE 2019, 1 (7); Scholtka/Martin ER 2017, 240 (242). 992 Nachweis in Fn. 155; aus der Lit.: Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 228 ff.; Schiller, S. 48 ff.; Schmidt-Preuß in Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 14 Rn. 5 ff.; Wegner, S. 162 ff.

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der Solidarität und Transparenz und unter voller Berücksichtigung der Erfordernisse eines wettbewerbsfähigen Elektrizitätsbinnenmarktes (Art. 1 VO). Konkret verpflichtet sie zunächst ENTSO-E zur Bestimmung von Szenarien für Stromversorgungskrisen auf regionaler Ebene (Art. 5 und 6 VO). Hieran anknüpfend bestimmen die Mitgliedstaaten ihrerseits die relevantesten Szenarien von Stromversorgungskrisen auf nationaler Ebene (Art. 7 VO). Auf Grundlage dieser regionalen und nationalen Szenarien für Stromversorgungskrisen erstellt die zuständige Behörde jedes Mitgliedstaates einen Risikovorsorgeplan (Art. 10 bis 13 VO). Mechanismen zur Bewältigung von Stromversorgungskrisen finden sich in Kapitel IV der Verordnung. Hiervon umfasst ist neben einer Bestimmung zur Frühwarnung und Erklärung des Eintritts einer Krise durch die zuständige nationale Behörde (Art. 14 VO) auch eine Regelung über die Zusammenarbeit und Unterstützung (Art. 15 VO). Diese ist zT an die Gassicherungsverordnung 2017/1938 angelehnt, aber deutlich vager gefasst. In der Sache werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, sich – gegen eine angemessene Entschädigung und soweit technisch möglich – einander Unterstützung durch koordinierte Maßnahmen anzubieten bzw. ad-hoc-Maßnahmen zu vereinbaren. d) Vorgaben der Binnenmarktrichtlinien und -verordnungen Neben den drei vorstehend skizzierten, zentral auf die Gewährleistung der Energieversor- 276 gungssicherheit abzielenden Rechtsakten, finden sich auch in den Binnenmarktrichtlinien und -verordnungen entsprechende Vorgaben.993 Besondere Hervorhebung verdienen insoweit die Bestimmungen in Kapitel IV der neu gefassten Strom-VO 2019/943 über die „Angemessenheit der Ressourcen“.994 Dort werden strengere und harmonisierte Vorschriften für Kapazitätsmechanismen eingeführt995 sowie etwaige Versorgungssicherheitsberichte auf europäischer und nationaler Ebene abgestimmt. Auf diese Weise sollen die Ziele der EU in Bezug auf Versorgungssicherheit und Emissionsminderung in Einklang gebracht werden. Im Rahmen der Allgemeinen Grundsätze (wie etwa dem Vorrang strategischer Reserven) und Gestaltungsprinzipien nach Art. 21 und 22 Strom-VO 2019/943 wird die Einführung von Kapazitätsmechanismen als „letztes Mittel“ qualifiziert und engen Vorgaben hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung unterworfen. Zu letzteren zählen etwa der vorübergehende Charakter, die Genehmigung seitens der Kommission, die Verhinderung von unnötigen Marktverzerrungen und von Beschränkungen des grenzüberschreitenden Handels sowie die Auswahl der Kapazitätsanbieter in einem transparenten, diskriminierungsfreien und wettbewerbsorientierten Prozess. Das Ausmaß der in dem Mechanismus gebundenen Kapazität darf zudem nicht über das zur Problembewältigung notwendige Maße hinausgehen. Überdies wird ein neuer Grenzwert (550 g CO2/kWh) für die durch Kapazitätsmechanismen geförderten Kraftwerke eingeführt, wobei Übergangsregelungen (Art. 22 Abs. 4 Strom-VO 2019/943) und eine Besitzstandsklausel (Art. 22 Abs. 5 StromVO 2019/943) festgeschrieben wurden. Der CO2-Emissionsstandard soll verhindern, dass Kapazitätsmechanismen als „Backdoor-Subventionierung“ von fossilen Brennstoffen mit

993 Näher am Bsp. des Dritten Legislativpakets und mit Fokus auf den Gassektor: Hohaus/Würzberg, Baur/Salje/Schmidt-Preuß, Kap. 16 Rn. 6 ff.; zu den Kommissionsvorschlägen für das Vierte Elektrizitätsbinnenmarktpaket vgl. Scholtka/Martin ER 2017, 240 (242, 245). 994 Noch zum Vorschlag der Kommission vgl. Scholtka/Martin ER 2017, 240 (242, 245). 995 Vgl. insoweit bereits den Bericht der Kommission „Abschlussbericht zur Sektoruntersuchung über Kapazitätsmechanismen“ v. 30.11.2016, COM(2016), 752 final; näher zu den juristischen, politischen und ökonomischen Fragen im Hinblick auf die Einführung von Kapazitätsmechanismen vgl. etwa die Beiträge in Hancher/De Houteclocque/Sadowska, Capacity mechanisms in the EU energy market, 2015; s. auch Huhta, Capacity Mechanisms in EU Energy Law: Ensuring Security of Supply in the Energy Transition, 2019; Pompl, S. 13 ff., 75 ff., 255 ff.; Schreiber in Mathis/Huber, S. 211 ff.

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§ 5 Energierecht hohem Schadstoffausstoß eingesetzt werden.996 Eine Teilnahme von Kohlekraftwerken dürfte damit nach aktuellem Stand der Technik ausgeschlossen sein.997 In dem marktbasierten Ansatz kommt zugleich die Präferenz für einen „Energy-only-Markt (EOM)“ zum Ausdruck, in dem grundsätzlich nur tatsächliche Energielieferungen vergütet werden, nicht aber die Bereitstellung von Leistung. Hierin liegt eine bemerkenswerte Parallele zu dem auf nationaler Ebene erlassenen Strommarktgesetz von 2016.998 Regelungen über die grenzüberschreitende Beteiligung an Kapazitätsmechanismen enthält Art. 26 Strom-VO 2019/943. Danach sind andere Mechanismen als strategische Reserven (und, soweit durchführbar auch diese) offen für die direkte Beteiligung von in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Kapazitätsanbietern (Art. 26 Abs. 1). Zudem müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass ausländische Kapazitäten, die die gleiche technische Leistung erbringen können wie inländische Kapazitäten, die Möglichkeit haben, am gleichen Wettbewerbsverfahren teilzunehmen wie die inländischen Kapazitäten (Abs. 2). e) Energieaußenpolitik

277 Das Motiv der Versorgungssicherheit hat sich schließlich auch – neben der „internationalen Einbettung des europäischen Energieumweltrechts“999 (→ Rn. 16 ff.; s. zur Internationalen Agentur für erneuerbare Energien [IRENA] bereits → Rn. 97) und der Ausdehnung des Energiebinnenmarktes – als primärer „Motor der Entwicklung einer europäischen Energieaußenpolitik“ erwiesen.1000 Die bisherige Bilanz des außenpolitischen Handelns der EU weist vor allem den Energiecharta-Vertrag von 1994 (samt Protokoll über die Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte)1001 sowie den 2005 geschlossenen multilateralen Vertrag über die Energiegemeinschaft1002 (näher Buschle in Hatje/MüllerGraff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (EnzEuR Bd. 1) → Bd. 1 § 44) auf der Habenseite aus.1003 Hinzu kommt die im Rahmen des 2015 ausgerufenen Prozesses zur Schaffung einer Energieunion (vgl. bereits → Rn. 3) etablierte Meldepflicht der Mitgliedstaaten über zwischenstaatliche Abkommen und nicht verbindliche Instrumente zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern im Energiebereich → Rn. 97).1004 Der Energiecharta-Vertrag als gemischtes Abkommen1005 ist insbesondere darauf ausgerichtet, Investitionen in Mittel- und Osteuropa zu fördern und durch die Erleichterung des in ter996 Pressemitteilung der Europäischen Kommission v. 18.12.2018 „Kommission begrüßt politische Einigung über den Abschluss des Pakets ‚Saubere Energie für alle Europäer‘“, IP/18/6870. 997 Meyer/Sène RdE 2019, 278 (282); Pause ZUR 2019, 387 (394). 998 Darauf hinweisend auch Groebel in FS für Schmidt-Preuß, S. 605 (624 f.). 999 Dazu näher Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 70 ff., der hier auch auf die Beteiligung der EU an weiteren Formen internationaler Kooperation im Energieumweltrecht (wie zB der im Jahr 2009 gegründeten, aktuell durch mehr als 170 Mitglieder unterstützten, Internationalen Agentur für erneuerbare Energien IRENA) eingeht. 1000 Gundel in FS für Säcker, S. 697 (697). 1001 Vgl. den Beschluss des Rates und der Kommission 98/181/EG, EGKS, Euratom v. 23.9.1997 über den Abschluss des Vertrags über die Energiecharta und des Energiechartaprotokolls über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte durch die Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1998 L 69/1 (der Text der Charta ist abgedruckt in Anl. 1); näher hierzu Gundel AVR 42 (2004), 157 ff.; ders. in Säcker Berliner Kommentar, Bd. 1/1, Einl. D; Pritzkow, S. 38 ff. 1002 S. den Beschluss des Rates 2006/500/EG v. 29.5.2006 über den Abschluss des Vertrags zur Gründung der Energiegemeinschaft durch die Europäische Gemeinschaft, ABl. 2006 L 198/15; der Text des Vertrages ist abgedruckt ab S. 18. 1003 Gundel in FS für Säcker, S. 697 (701 ff.); instruktiv zur EU-Energieaußenpolitik vgl. auch Pollack/ Schubert/Slominski, S. 143 ff.; Woltering, S. 17 ff., 79 ff.; eingehend zuletzt Coop/Maier in Cameron/ Heffron, 4.01-4.81. 1004 Näher zur außenpolitischen Dimension der Energieunion Coop/Maier in Cameron/Heffron, 4.73 ff. 1005 Instruktiv Coop/Maier in Cameron/Heffron, 4.33 und 4.37, die auch auf den Rückzug Italien aus dem Energiecharta-Vertrag im Jahr 2016 eingehen.

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B. Gegenstandsbereich nationalen Energiehandels die Versorgungssicherheit der importabhängigen Staaten zu erhöhen. Einen Beitrag hierzu leisten auch die Regelungen über den Transit sowie die Streitbeilegungsmechanismen.1006 Die Energiecharta konnte die erhoffte Bedeutung zwar nicht in vollem Umfang erlangen, weil Russland als bedeutendes Export- und Transitland den Vertrag nur unterzeichnet, eine Ratifikation später aber abgelehnt hat.1007 Dessen ungeachtet haben vor allem die Investitionsschutzregeln eine hohe praktische Bedeutung erlangt. Sie stehen zB im Zentrum sowohl der seit 2013 gegen verschiedene EU-Mitgliedsstaaten eingeleiteten Schiedsverfahren wegen nachträglicher Änderung der Förderbedingungen für erneuerbare Energien1008 als auch des Vattenfall II-Verfahrens vor dem ICSID aufgrund des beschleunigten Kernenergieausstiegs.1009 Sollte der EuGH allerdings die in der Achmea-Entscheidung1010 getroffene Aussage zur Inkompatibilität von Intra-EU-Investitionsschutzverfahren auf den Energiecharta-Vertrag übertragen, hätte dies einen substantiellen Bedeutungsverlust der Energiecharta zur Folge. Zwingend erscheint ein solches Votum des Gerichtshofs freilich wegen der auf Intra-EU-BITs fokussierten Ausführungen – zumal im Lichte des jüngsten CETA-Gutachtens1011 – nicht.1012 Die Energiegemeinschaft bildet einen ursprünglich auf zehn Jahre angelegten und später1013 um weitere zehn Jahre verlängerten Rahmen für die energiepolitische Zusammenarbeit zwischen der EU und mehreren Staaten aus der bedeutenden Transitregion Südosteuropa (sowie seit ihren Beitritten in den Jahren 2011 bzw. 2017 auch der Ukraine und Georgien).1014 Ein Schwerpunkt liegt auf der Ausdehnung des gemeinschaftlichen Acquis im Energiebereich auf die Vertragspartner der EU.1015 In zwei Punkten ergeben sich allerdings bedeutsame Abweichungen:1016 Zum einen ist die Streitbeilegung nicht einer gerichtlichen Instanz (nach dem Vorbild des EuGH), sondern dem Ministerrat der Energiegemeinschaft1017 übertragen. Zum anderen bedürfen die erlassenen Rechtsakte stets einer Umsetzung in nationales Recht, während im EU-Energiebinnenmarkt ein zunehmender Einsatz von unmittelbar geltenden Verordnungen zu verzeichnen ist. Mit Blick auf die Perspektiven der Energieaußenpolitik sind schließlich vor allem die energiepolitischen Beziehungen zu Russland1018 und zu den Staaten des Mittelmeerraumes sowie die Erschließung neuer Versorgungswege 1006 Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 207. 1007 Vgl. auch die Bewertung bei Gundel in FS für Säcker, S. 697 (702 f.); zu den noch auf Grundlage des Energiecharta-Vertrags geführten Yokos-Schiedsverfahren von früheren Anteilseignern des ehemaligen russischen Öl- und Gaskonzerns Yukos gegen die Russische Föderation vgl. Flessner in: Ludwigs/Remien, 23 (26). 1008 Instruktiv Steffens in Säcker/Ludwigs Berliner Kommentar, Bd. 2, Einl. C (Teil 1) Rn. 194 ff. mwN. 1009 ICSID Case No ARB/12/12; hierzu statt vieler Gundel EnWZ 2016, 243; Ludwigs NVwZ 2016, 1 (4 ff.). 1010 EuGH 6.3.2018 – C-284/16, ECLI:EU:C:2018:158 – Achmea. 1011 EuGH (Plenum), Gutachten v. 30.4.2019 – Avis 1/17, ECLI:EU:C:2019:341 – Accord ECG UE-Canada; hierzu etwa Gundel EWS 2019, 181. 1012 Überzeugend Gundel EWS 2018, 124 (128 f.), unter Hinweis auf die differenzierenden Ausführungen in Rn. 58 des Urteils. 1013 Beschluss D/2013/03/Mc-EnC des Ministerrats der Energiegemeinschaft, ABl. 2013 L 320/81. 1014 Für einen Überblick vgl. aus der Lit.: Nowak in Herrmann/Terhechte (eds.), S. 405 ff.; Terhechte/ Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 66 ff. 1015 Anders als bei der Energiecharta sind die EU-Mitgliedstaaten hier nicht Vertragsparteien geworden. Als Grund wird darauf verwiesen, dass die Außenkompetenz in Energiefragen angesichts der flächendeckenden Binnenmarktgesetzgebung inzwischen zu einer ausschließlichen EU-Zuständigkeit geworden ist (vgl. Gundel in Schmidt-Preuß/Körber, S. 312 [327]). 1016 Gundel in Schmidt-Preuß/Körber, S. 312 (330 f.). 1017 Vgl. Art. 47 ff. des Vertrags; zu den weiteren Organen zählen ua das in Wien angesiedelte Sekretariat (Art. 67 ff. des Vertrags) sowie ein Regilierungsausschuss aus Vertretern der nationalen Regulierungsbehörden und der EU-Kommission (Art. 58 ff. des Vertrags); näher Gundel in Schmidt-Preuß/ Körber, S. 312 (328 f.). 1018 Hierzu umfassend: Pritzkow, passim.

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§ 5 Energierecht (zB durch das umstrittene Projekt der Ostsee-Gaspipeline „Nord Stream 1 bzw. 2“; vgl. insoweit auch bereits → Rn. 209) von hervorgehobener Bedeutung. 4. Governance-System für die Energieunion und für den Klimaschutz

278 Mit der als Teil des Winterpakets von Parlament und Rat erlassenen und – kompetenzrechtlich nicht unproblematisch1019 (zur grundsätzlichen Unzulässigkeit einer kumulativen Abstützung auf Art. 192 AEUV und Art. 194 AEUV → Rn. 86) – auf Art. 192 Abs. 1 und Art. 194 Abs. 2 AEUV gestützten Verordnung (EU) 2018/19991020 existiert seit dem 24.12.2018 ein neuer zentraler Governance-Mechanismus. Dieser bezieht sich auf alle fünf Dimension der Energieunion und umfasst mithin die Sicherheit der Energieversorgung, den Energiebinnenmarkt, die Energieffizienz, die Dekarbonisierung sowie den Bereich Forschung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit (Art. 1 Abs. 2 VO; s. auch → Rn. 3). Kernziel der Governance-Verordnung ist es, „die bis 2030 und langfristig angestrebten Ziele und Zielvorgaben der Energieunion im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris (…) durch ehrgeizige komplementäre und kohärente Maßnahmen der Union und ihrer Mitgliedstaaten [zu erreichen]“.1021 Als Herausforderungen erweisen sich dabei insbesondere die mangelnde Fortschreibung verbindlicher nationaler Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien (→ Rn. 17, 239) sowie das gänzliche Fehlen bindender nationaler Energieeffizienzziele (→ Rn. 17, 38, 256). Zentrale Instrumente der Governance-VO bilden vor diesem Hintergrund die von den Mitgliedstaaten nach Art. 3 VO zu erstellenden „integrierten nationalen Energie- und Klimapläne“ (NECPs1022) sowie die „LangfristStrategien“ gem. Art. 15 VO.1023 279 Die in einem mehrstufigen Verfahren unter Beteiligung der Öffentlichkeit und in Abstimmung mit den Langfrist-Strategien (→ Rn. 280) zu erstellenden NECPs haben eine Laufzeit von jeweils zehn Jahren und einen ersten Planungszeitraum von 2021–2030 (Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 3–14 VO). 1024 Entlang der fünf Dimensionen der Energieunion stellen die Mitgliedstaaten darin ua ihre nationalen Ziele, Vorgaben und Beiträge sowie die zur Umsetzung geplanten Politiken und Maßnahmen dar (Art. 3 Abs. 2 lit. b und c iVm Art. 4–7 VO). Der Rahmen für die NECPs wird durch eine detaillierte Aufstellung von Berichtspflichten und den „Musteraufbau“ in Anhang I der Governance-Verordnung abgesteckt. Auf dem Gebiet erneuerbarer Energien haben die Mitgliedstaaten einen im Jahr 2030 zu erreichenden EE-Anteil am Bruttoendenergieverbrauch anzugeben. Der beizufügende indikative (also unverbindliche) Zielpfad hat in den Jahren 2022, 2025 und 2027 zu realisierende Mindestwerte von 18 %, 43 % bzw. 65 % der Gesamterhöhung des selbstgesteckten EE-Anteils für 2030 vorzusehen (Art. 4 lit. a Nr. 2 Governance-VO). Zur Festlegung jenes nationalen EE-Beitrags gibt die Governance-VO den Mitgliedstaaten in Art. 5 eine Reihe allgemein gefasster Parameter an die Hand (Abs. 1) und betont die Kollektivverantwortung zur Erreichung des auf Unionsebene verbindlichen 32 %-Ausbauziels (Abs. 2). Im Bereich der Energieeffizienz ist der nationale Beitrag zur Realisierung des europäischen 32,5 %-Ziels als absoluter Wert des Primärenergieverbrauchs und des Endenergiever-

1019 Eine Doppelabstützung für die Governance-VO befürwortend Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (426). 1020 Nachweis in Fn. 148. 1021 Erwägungsgrund Nr. 1 und Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a Governance-VO. 1022 National Energy and Climate Plans. 1023 Eingehend zu beiden Instrumenten jüngst Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (426 ff.); s. auch Pause/Kahles ER 2019, 9 (11 ff.) sowie Leopoldina/acatech/Akademienunion, S. 26 ff.; knapp Lammers/ Römling ZUR 2019, 332 ff.; Proelß EurUP 2019, 72 (79 f.). 1024 Zu dem am 4.1.2019 veröffentlichten Entwurf des deutschen NECP (abrufbar unter https://www.b mwi.de/; zuletzt abgerufen am 30.6.2019) vgl. Lammers/Römling ZUR 2019, 332 (340).

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B. Gegenstandsbereich

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brauchs im Jahr 2030 festzulegen sowie ebenfalls mit einem indikativen Zielpfad zu unterlegen. Im Gegensatz zum (zwar selbst gesetzten, insoweit aber verbindlichen1025) EE-Beitrag ist allerdings auch der an den allgemeinen Parametern in Art. 6 Governance-VO orientierte nationale Energieeffizienzbeitrag für 2030 lediglich indikativ ausgestaltet.1026 Zudem werden für den Zielpfad keine Referenzwerte für die Jahre 2022, 2025 und 2027 statuiert.1027 Die Langfrist-Strategien als zweites zentrales Instrument werden von den Mitgliedstaaten 280 bis zum 1.1.2020 und anschließend bis zum 1.1.2029 sowie danach alle zehn Jahre mit einer Perspektive von mindestens 30 Jahren erstellt (Art. 15 Abs. 1 S. 1 Governance-VO). Sie sollen zur Erfüllung der Verpflichtungen und Ziele der Klimarahmenkonvention (UNFCCC1028) und des Pariser Übereinkommens (insbes. mit dem 2°C- bzw. 1,5°C-Ziel) sowie allgemein zur Verwirklichung eines hocheffizienten, auf erneuerbaren Energien beruhenden Energiesystems in der EU beitragen (Art. 15 Abs. 3 Governance-VO). Eine Aktualisierung ist – soweit notwendig – im Fünf-Jahres-Rhythmus vorgesehen (Art. 15 Abs. 1 S. 2 Governance-VO). Inhaltliche Kernelemente werden in Art. 15 Abs. 4 iVm Anhang IV in groben Zügen benannt. Daneben ist im Übrigen auch die Kommission verpflichtet, bis zum 1.4.2019 eine „Langfrist-Strategie der Union“ zur Reduktion der Treibhausgasemissionen anzunehmen,1029 die im Einklang mit dem Übereinkommen von Paris steht (Art. 15 Abs. 2 und 3 Governance-VO).1030 Zur Evaluierung von Stand und Durchführung der NECPs sehen Art. 17–25 Governance- 281 VO eine grundsätzlich zweijährige Fortschrittsberichterstattung durch die Mitgliedstaaten entlang der fünf Dimensionen der Energieunion vor.1031 Die Berichte bilden einen Teil des von der Kommission gem. Art. 35 Governance-VO bis zum 31.10. jeden Jahres vorzulegenden „Berichts über die Lage der Energieunion“. Regelungen über eine regelmäßige Prüfung und gegebenenfalls Aktualisierung der NECPs enthält Art. 14 Governance-VO. Davon umfasst ist auch ein Verschlechterungsverbot (Abs. 3), mit dem ein Absinken unter ein einmal festgelegtes Ambitionsniveau in den Bereichen erneuerbare Energien und Energieeefizienz verhindert werden soll. Für die Effektivität des Governance-Mechanismus kommt es im Lichte der selbstständig 282 bestimmten nationalen Beiträge maßgeblich darauf an, welche Mechanismen existieren, um drohenden Lücken bzw. Zielverfehlungen auf europäischer Ebene zu begegnen.1032 Ein Lückenschließungs-Mechanismus (gap filler) im Hinblick auf ambition-gaps, die bei Auf1025 Bei Nichterreichen kommt konsequenterweise auch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission nach Art. 258 AEUV in Betracht. Hieran ist im Lichte der Loyalitätspflicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV und in Anlehnung an das Frustrationsverbot des Art. 18 WVK (für die Paralleldiskussion zur sog Vorwirkung von Richtlinien vgl. Pechstein/Nowak/Häde/Franzius EUV/GRC/AEUV EUV Art. 4 Rn. 116) auch schon vor 2030 zu denken. Dies gilt insbesondere dann, wenn Mitgliedstaaten durch ihr Handeln die Zielerreichung ernstlich gefährden, indem sie gar keine, evident unzureichende oder sogar kontraproduktive Maßnahmen ergreifen; eingehend (und wohl noch weitergehend) Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (434 f.). 1026 Darauf hinweisend Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (427). 1027 Pause/Kahles ER 2019, 9 (11 ff.). 1028 United Nations Framework Convention on Climate Change. 1029 Eine erste Miteilung in diesem Kontext hat die Kommission am 28.11.2018 unter dem Titel „Eine Europäische strategische, langfristige Vision für eine wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klimaneutrale Wirtschaft“ (COM[2018] 773 final) vorgelegt. 1030 Kritisch Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (429), unter ergänzendem Hinweis auf die mangelnde Verbindlichkeit („sollten enthalten“). 1031 Näher Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (428). 1032 Vgl. jüngst die Mitteilung der Kommission „Vereint für Energieunion und Klimaschutz – die Grundlage für eine erfolgreiche Energiewende schaffen“ v. 18.6.2019, COM(2019) 285 final, S. 4., wonach der Anteil der erneuerbaren Energien nach den Planentwürfen 2030 auf EU-Ebene statt mindestens 32 % lediglich zwischen 30,4 % und 31,9 % erreichen würde (S. 4) und auch eine „beträchtliche

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§ 5 Energierecht

stellung von NECPs entstehen, und für delivery-gaps, die bei Umsetzung der niedergelegten Ziele, Strategien und Maßnahmen auftreten, ist in Art. 31 und 32 Governance-VO normiert. Bei Vorliegen eines ambition-gap ist die Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten allerdings nur berechtigt, (im Entwurfsstadium der NECPs) „Empfehlungen“ aussprechen1033 bzw. (im finalen Stadium) „Maßnahmen“ vorzuschlagen und ihre allgemeinen Befugnisse auszuüben (Art. 31 Abs. 1 und 3 iVm Art. 34 Governance-VO).1034 Immerhin besteht für den Bereich der erneuerbaren Energien (anders als auf dem Gebiet der Energieeffizienz) eine einheitliche (wenngleich nur indikative) Bemessungsgrundlage, mittels deren eine Richtgröße errechnet werden kann, um die Verantwortlichkeit für eine Lücke transparent zu ermitteln (Art. 31 Abs. 2 iVm Anhang II Governance-VO).1035 283 Die Ermittlung eines delivery-gap bei Umsetzung der NECPs bestimmt sich im Bereich erneuerbarer Energien anhand der drei „Referenzwerte“ für die Jahre 2022, 2025 und 2027 (→ Rn. 279). Im Kontrast hierzu fehlt es auf dem Gebiet der Energieeffizienz an konkreten Zielerfüllungsgraden für diese Jahre.1036 Gelangt die Kommission bei ihrer bis zum 31.10.2021 und danach alle zwei Jahre vorzunehmenden Bewertung der Fortschritte der einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 29 Abs. 1 lit. b Governance-VO) zu dem Befund eines nationalen delivery-gap, „so spricht sie [‚shall issue‘] diesem Mitgliedstaat Empfehlungen gemäß Artikel 34 aus“ (Art. 32 Abs. 1 Governance-VO). Stellt die Kommission im Bereich erneuerbarer Energien weitergehend fest, dass beim indikativen Zielpfad der EU für 2022, 2025 und 2027 mindestens einer der Referenzwerte nicht erreicht wurde, haben jene Mitgliedstaaten, die unter ihren selbstgesteckten Referenzwerten bleiben, binnen eines Jahres zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, um die nationale Lücke zu schließen. Die hierzu in Art. 32 Abs. 3 Governance-VO genannten (nicht abschließenden) Zusatzmaßnahmen umfassen auch freiwillige Zahlungen an einen bis 1.1.2021 zu etablierenden Finanzierungsmechanismus der Union für erneuerbare Energie gem. Art. 33 Governance-VO.1037 Kommt die Kommission bei ihrer Bewertung der Fortschritte auf Unionsebene (Art. 29 Abs. 1 lit. a Governance-VO) zu dem Ergebnis, dass die EU-Ziele verfehlt zu werden drohen, „kann“ sie allen Mitgliedstaaten nach Artikel 34 Empfehlungen aussprechen, um das Risiko zu verringern (Art. 32 Abs. 2 UAbs. 1 Governance-VO). Auf dem Gebiet der erneuerbaren Energie bewertet die Kommission zudem die Tauglichkeit der von den Mitgliedstaaten nach Art. 32 Abs. 3 Governance-VO ergriffenen Zusatzmaßnahmen und schlägt ggf. Maßnahmen vor und übt erforderlichenfalls ihre allgemeinen Befugnisse auf Unionsebene (zB im Wege der Setzung von Tertiärrecht) aus. Daneben schlägt die Kommission auch im Bereich der Energieeffizienz notwendige Maßnahmen vor und macht entspre-

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Lücke“ bei den für den Primär- und den Endenergieverbrauch geltenden Unionszielwerten einer Effizienzsteigerung um mind. 32,5% bis 2030 festzustellen ist (S. 5). Bei einem ambition gap im Hinblick auf die Vorgabe der Union für erneuerbare Energie ist die Kommission zur Abgabe einer Empfehlung sogar verpflichtet (Art. 31 Abs. 1 Governance-VO: „muss“). Zur mangelnden Verbindlichkeit und gerichtlichen Durchsetzbarkeit von Kommissionsempfehlungen iRd Governance-Mechanismus ausführlich Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (433 f.). Der Wortlaut von Art. 31 Abs. 3 Governance-VO („schlägt […] vor“ und „übt […] aus“) weist insoweit auf eine Reduzierung des Entschließungsermessens hin. Nach Art. 3 Abs. 2 EE-RL 2018 können auch die Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer nationalen Beiträge die Formel in Anhang II der Governance-VO berücksichtigen. Vgl. auch noch den zutreffenden Hinweis bei Schlacke/Lammers EurUP 2018, 424 (433), wonach der Lückenschließungs-Mechanismus bei einer im Jahr 2025 festgestellten Verfehlung des Stromverbundziels von 15 % bis 2030 „[a]m wenigsten konkretisiert ist“. Insoweit sieht Art. 32 Abs. 8 Governance-VO lediglich eine Zusammenarbeit der Kommission mit den betroffenen Mitgliedstaaten vor, um sich mit den aufgetretenen Problemen zu befassen. Kritisch zur Freiwilligkeit des Beitrags Leopoldina/acatech/Akademienunion, S. 30, unter Rekurs auf die begrenzte Steuerungskraft dieses Finanzierungsinstruments und den ursprünglich weitergehenden Vorschlag der EU-Kommission.

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B. Gegenstandsbereich

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chend Gebrauch von ihren Befugnissen auf Unionsebene (Art. 32 Abs. 2 UAbs. 3 Governance-VO). Bei einer kritischen Würdigung der neuen Governance-VO ist einerseits anzuerkennen, 284 dass darin erstmals Klima- und Energiepolitik in einem Rechtsakt zusammengeführt werden.1038 Hiermit ist zugleich eine Konsolidierung der verstreuten Planungs-, Berichterstattungs- und Überwachungsvorschriften des EU-Besitzstands verbunden.1039 Andererseits erscheint es höchst fragwürdig, ob die weichen Governance-Mechanismen tatsächlich ausreichen werden, um Verstößen oder mangelnden Klimaanstrengungen der Mitgliedstaaten wirksam zu begegnen.1040 In besonderem Maße gilt dies für den Lückenschließungs-Mechanismus (gap filler), der ebenso komplex wie zahnlos ausgestaltet ist. 5. Überblick zum Recht der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) Die Aktivitäten der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) umfassen neben Empfeh- 285 lungen,1041 Programmen,1042 Mitteilungen,1043 Berichten,1044 sowie Formen internationaler Kooperation (wie ITER)1045 auch den Erlass bindender Rechtsakte mit konkreten regulatorischen Vorgaben.1046 Im Zentrum stehen dabei der Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlen zum einen und die Sicherheitsüberwachung im Nuklearbereich zum anderen.1047 Was zunächst den Bereich des Gesundheitsschutzes angeht, so sind hier die Richtlinie 2013/59 zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen („Grundnormen“)1048 sowie die Richtlinie 2006/117 des Rates 1038 In diese Richtung auch Leopoldina/acatech/Akademienunion, S. 31. 1039 Vgl. auch den Hinweis im zugrunde liegenden Kommissionsvorschlag (COM[2016] 759, 2), wonach über 50 existierende Planungs-, Berichterstattungs- und Überwachungsvorschriften des EU-Besitzstands im Bereich Energie und Klima integriert, gestrafft oder aufgehoben werden (darunter zum 1.1.2021 auch die Climate Monitoring Mechanism Regulation [EU] Nr. 525/2013). 1040 In diese Richtung auch Leopoldina/acatech/Akademienunion, S. 31; ferner Schlacke/Knodt ZUR 2019, 404 (408). 1041 S. etwa die Empfehlung 2006/851/Euratom der Kommission v. 24.10.2006 für die Verwaltung der Finanzmittel für die Stilllegung kerntechnischer Anlagen und die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle, ABl. 2006 L 330/31. 1042 S. zuletzt die VO (Euratom) 2018/1563 des Rates v. 15.10.2018 über das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschung und Ausbildung (2019–2020) in Ergänzung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation Horizont 2020 und zur Aufhebung der VO (Euratom) Nr. 1314/2013, ABl. 2018 L 262/1. 1043 Vgl. exemplarisch die Mitteilung der Kommission an den Rat und das EP v. 4.10.2012 über die umfassenden Risiko- und Sicherheitsbewertungen („Stresstests“) von Kernkraftwerken in der Europäischen Union und damit verbundene Tätigkeiten, COM(2012) 571 final. 1044 Vgl. etwa den (zweiten) Bericht der Kommission an das EP, den Rat und den WSA v. 19.1.2018 über die Durchführung der RL 2006/117/Euratom über die Überwachung und Kontrolle der Verbringungen radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente durch die Mitgliedstaaten, COM(2018) 6 final. 1045 S. das Übereinkommen über die Gründung der Internationalen ITER-Fusionsenergieorganisation für die gemeinsame Durchführung des ITER-Projekts, ABl. 2006 L 358/62. Vertragsparteien sind: die Volksrepublik China, Indien, Japan, die Republik Korea, die Russische Föderation, die Vereinigten Staaten sowie die Europäische Atomgemeinschaft; nähere Informationen zu ITER sind abrufbar unter https://www.iter.org/ (zuletzt abgerufen am 30.6.2019). 1046 Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 189 ff. mwN; s. auch Terhechte/Gundel HdB-EUVerwR § 23 Rn. 4; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Hermes EuR Kap. 35 Rn. 53 ff. 1047 Dauses/Ludwigs/Lecheler/Recknagel HdbEUWiR Kap. M Rn. 190 ff., 195 ff. 1048 RL 2013/59/Euratom des Rates v. 5.12.2013 zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung und zur Aufhebung der RL 89/618/Euratom, 90/641/Euratom, 96/29/Euratom, 97/43/Euratom und 2003/122/ Euratom, ABl. 2014 L 13/1; noch zur Vorgänger-RL 96/29/Euratom: Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Hermes EuR Kap. 35 Rn. 55; s. auch EuGH 25.11.1992 – C-376/90, Slg 1992, I-6153 Rn. 16 ff. – Kommission/Belgien, wonach es den Mitgliedstaaten gestattet ist, strengere Dosisgrenzwerte festzulegen (hierauf explizit rekurrierend Erwägungsgrund Nr. 5 RL 2013/59/Euratom).

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§ 5 Energierecht vom 20.11.2006 über die Überwachung und Kontrolle der Verbringungen radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente1049 hervorzuheben. Die Sicherheitsüberwachung im Nuklearbereich wird geprägt durch die Richtlinie 2009/711050 und die Richtlinie 2011/70.1051 Hierdurch werden Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit ziviler kerntechnischer Anlagen bzw. für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle geschaffen. Die Finanzierung von Maßnahmen, die der Förderung eines hohen Standards nuklearer Sicherheit und eines hohen Strahlenschutzstandards sowie der Anwendung effizienter und wirksamer Sicherungsmaßnahmen für Kernmaterial in Drittländern dienen, steht schließlich im Fokus der Verordnung (Euratom) Nr. 237/2014 zur Schaffung eines Instruments für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit.1052

C. Ausblick 286 Das europäische Energierecht hat sich seit Mitte der 1990er-Jahre zu einer eigenständigen dynamischen Rechtsmaterie entwickelt. Prägend hierfür sind die drei Entwicklungsstränge des Energiebinnenmarktrechts, des Energieumweltrechts und des Rechts der Energieversorgungssicherheit. Diese drei „Säulen“ zeichnen sich durch ein stetig wachsendes Maß an normativer Verdichtung und Verschränkung aus. Seit dem Vertrag von Lissabon findet die umfangreiche Sekundärrechtsgesetzgebung der EU auch einen „primärrechtlichen Anker“ in Form der neuen Energiekompetenz des Art. 194 AEUV. Zwar resultiert hieraus keine substanzielle Kompetenzverschiebung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Die mit der neuen Kompetenzgrundlage verbundene Klarstellungs-, Bündelungs- und Abrundungsfunktion bleibt hiervon aber unbenommen. Insbesondere spiegeln sich hierin die drei Leitziele der EU im Energiebereich in aller Deutlichkeit wider: Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit/Umweltverträglichkeit und Versorgungssicherheit. Diese drei Kernziele der europäischen Energiepolitik stehen, ausdifferenziert in fünf miteinander verflochtene Dimensionen, auch im Fokus des 2015 ausgerufenen Prozesses zur Schaffung einer Energieunion. Dabei besteht zwar eine weitgehende Zielharmonie, was im Einzelfall auftretende Konflikte jedoch nicht ausschließt. Diese sind im Hinblick auf die Gleichrangigkeit der Ziele im Sinne eines schonenden Ausgleichs aufzulösen. 287 Was die jüngst im Rahmen des Winterpakets „Clean Energy for All Europeans“ weiter forcierte sekundärrechtliche Ausgestaltung der drei Pfeiler im Einzelnen angeht, so zeichnet sich zunächst das Energiebinnenmarktrecht durch die (sukzessive) Verschärfung der materiellen Anforderungen in den Bereichen Netzzugang, Entflechtung und Zertifizierung, die Stärkung der Verbraucherrechte und die Regelungen über den Ausbau der transeuropäischen Netze sowie durch die Herausbildung eines Energie-Regulierungsverbundes aus. Dem Energieumweltrecht mit seinen drei Kernmaterien Emissionshandel, Erneuerbare Energien und Energieeffizienz kommt elementare Bedeutung im Hinblick auf die Verwirklichung der quantifizierten Klimaschutzziele der EU (wie zuletzt der 40-32,5-32-Initiative bis 2030) zu, wobei die ergriffenen Maßnahmen einen regelrechten „Instrumentenmix“ ergeben. Als Schwachpunkte könnten sich freilich die mangelnde Fortschreibung 1049 ABl. 2006 L 337/21. 1050 RL 2009/71/Euratom des Rates v. 25.6.2009 über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen ABl. 2009 L 172/18; zuletzt geändert durch RL des Rates 2014/87/ Euratom v. 8.7.2014, ABl. 2014 L 219/42. 1051 RL 2011/70/Euratom des Rates v. 19.7.2011 über einen Gemeinschaftsrahmen für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle, ABl. 2011 L 199/48. 1052 VO (Euratom) Nr. 237/2014 des Rates v. 13.12.2013 zur Schaffung eines Instruments für Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit, ABl. 2014 L 77/109.

358

Ludwigs https://doi.org/10.5771/9783748900238-219 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

5

verbindlicher nationaler Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie das gänzliche Fehlen übergreifender bindender nationaler Energieeffizienzziele erweisen. Die neue Governance-Verordnung (EU) 2018/1999 bietet mangels scharfer Sanktionsmechanismen kein effektives Korrektiv. Das Recht der Energieversorgungssicherheit schließlich zielt auf die ausreichende und zuverlässige Versorgung mit Elektrizität, Erdöl und Erdgas unter zunehmender Sensibilität für die Bedeutung einer echten Energieaußenpolitik der EU. Einen echten Quantensprung bewirkt hier insbesondere die Gassicherungsverordnung (EU) Nr. 2017/1938, mit der erstmals echte Solidaritätsmechanismen etabliert werden, sowie für den Elektrizitätsektor auch (wenngleich abgeschwächt, weil vager gefasst) die im Rahmen des Winterpakets verabschiedete Risikovorsorge-Verordnung 2019/941 288

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

15.7.1964

Rs. 6/64

Slg 1964, 1251

Costa/ENEL

NJW 1964, 2371 = DVBl. 1964, 990

EuGH

10.7.1984

Rs. 72/83

Slg 1984, 2727

Campus Oil

DVBl. 1985, 333 = RiW 1985, 218

EuGH

25.11.1992 C-376/90

Slg 1992, I-6153

Kommission/ Belgien

EuGH

27.4.1994

C-393/92

Slg 1994, I-1477

Almelo

NJW 1994, 2142 (Leitsatz) = EuZW 1994, 408

EuGH

23.10.1997 C-157/94

Slg 1997, I-5699

Kommission/ Niederlande

DB 1997, 2482

EuGH

23.10.1997 C-158/94

Slg 1997, I-5789

Kommission/ Italien

EuGH

23.10.1997 C-159/94

Slg 1997, I-5815

Kommission/ Frankreich

EuZW 1998, 76 = RdE 1998, 62

EuGH

13.3.2001

C-379/98

Slg 2001, I-2099

PreussenElektra

NJW 2001, 3695 (Leitsatz) = EuZW 2001, 242

EuGH

25.10.2001 C-398/98

Slg 2001, I-7915

Kommission/ Griechenland

EuR 2002, 106

EuGH

4.6.2002

C-483/99

Slg 2002, I-4781

Elf-Aquitaine

NJW 2002, 2305 = EuZW 2002, 433

EuGH

7.6.2005

C-17/03

Slg 2005, I-4983

Vereiniging voor EuZW 2005, 695 = Energie, Milieu en EWS 2005, 315 Water ua

EuG

21.9.2005

T-87/05

Slg 2005, II-3745

EDP

WuW/E EU-R 943

BVerfG

13.3.2007

1 BvF 1/05

E 118, 79

TreibhausgasEmissionsberechtigungen

NVwZ 2007, 937 = EuGRZ 2007, 340

EuGH

6.3.2008

C-196/07

Slg 2008, I-41 L

Kommission/ Spanien

EWS 2008, 158

EuG

10.4.2008

T-233/04

Slg 2008, II-591

Kommission/ Niederlande

Ludwigs https://doi.org/10.5771/9783748900238-219 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

359

5

§ 5 Energierecht Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

22.4.2008

C-408/04P

Slg 2008, I-2767

Kommission/ Salzgitter AG

EuZW 2008, 480 (Leitsatz)

EuGH

22.5.2008

C-439/06

Slg 2008, I-3913

citiworks

NJW 2008, 3345 (Leitsatz) = EuZW 2008, 406

EuGH

17.7.2008

C-206/06

Slg 2008, I-5497

Essent Netwerk Noord BV

EuGH

17.7.2008

C-207/07

Slg 2008, I-111

Kommission/ Spanien

EuGH

16.12.2008 C-127/07

Slg 2008, I-9895

Arcelor

EuGH

29.10.2009 C-274/08

Slg 2009, I-10647

Kommission/ Schweden

EuGH

29.10.2019 C-474/08

ECLI:EU:C:2 009:681

Kommission/ Belgien

EuGH

20.4.2010

C-265/08

Slg 2010, I-3377

Federutility

EuGH

11.11.2010 C-543/08

Slg 2011, I-11241

Kommission/ Portugal

EuZW 2011, 17 = ZIP 2010, 2340

EuGH

21.7.2011

C-2/10

Slg 2011, I-6561

Azienda AgroZootecnica

NVwZ 2011, 1057 = ZUR 2012, 43

EuGH

8.9.2011

C-279/08P

Slg 2011, I-7671

Kommission/ Niederlande

EuG

12.10.2011 T-224/10

Slg 2011, II-7177

Association belge des consommateurs test-achats ASBL

EuGH

21.12.2011 C-242/10

Slg 2011, I-13665

Enel Produzione Spa

EuGH

21.12.2011 C-366/10

Slg 2011, I-13755

Air Transport Association of America

NVwZ 2012, 226 = EuGRZ 2012, 33

EuGH

6.9.2012

C-490/10

ECLI:EU:C:2 012:525

Parlament/Rat

EnWZ 2012, 29 = EurUP 2013, 226

EuG

7.3.2013

T-370/11

ECLI:EU:T:2 013:113

Polen/Kommission

EnWZ 2013, 174

EuGH

22.10.2013 verb. Rs. C-105/12, C-106/12 und C-107/12

ECLI:EU:C:2 013:677

Essent

EuZW 2014, 61

EuGH

19.12.2013 C-262/12

ECLI:EU:C:2 013:851

Vent de Colère

EuZW 2014, 115

EuGH

11.9.2014

ECLI:EU:C:2 014:2192

Essent Belgium

EnWZ 2014, 511

360

verb. Rs. C-204-208/1 2

Ludwigs https://doi.org/10.5771/9783748900238-219 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

NVwZ 2009, 382 = EuZW 2009, 263

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

EuGH

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

26.11.2014 C-66/13

ECLI:EU:C:2 014:2399

Green Network

EnWZ 2015, 78

EuGH

12.2.2015

C-48/14

ECLI:EU:C:2 015:91

Parlament/Rat

EuZW 2015, 230

EuGH

4.6.2015

C-5/14

ECLI:EU:C:2 015:354

Kernkraftwerke Lippe-Ems

NVwZ 2015, 1122

EuG

10.5.2016

T-47/15

ECLI:EU:T:2 016:281

Deutschland/ Kommission (EEG 2012)

EnWZ 2016, 409

EuGH

22.6.2016

C-540/14 P

ECLI:EU:T:2 014:833

DK Recycling und NVwZ 2017, 541 Roheisen/ Kommission

EuGH

7.9.2016

C-121/15

ECLI:EU:C:2 016:637

ANODE

EuGH

29.9.2016

C-492/14

ECLI:EU:C:2 016:732

Essent Belgium

EnWZ 2016, 508

BVerfG

6.12.2016

1 BvR 2821/11 ua

E 143, 246

Kernenergieausstieg

NJW 2017, 217

EuGH

8.3.2017

C-321/15

ECLI:EU:C:2 017:179

ArcelorMittal Rodange und Schifflange

NVwZ 2017, 865

BVerfG

13.4.2017

2 BvL 6/13

E 145, 173

Kernbrennstoffsteuer

NJW 2017, 2249

EuGH

11.5.2017

C-44/16 P

ECLI:EU:C: 2017:357

Dyson/Kommission

EuGH

22.6.2017

C-549/15

ECLI:EU:C: 2017:490

E.ON Biofor Sverige

EuGH

13.9.2017

C-329/15

ECLI:EU:C: 2017:671

ENEA

EuGH

21.6.2018

C-5/16

ECLI:EU:C: 2018:483

Republik Polen/ Parlament und Rat

EuG

12.7.2018

T-356/15

ECLI:EU:T: 2018:439

Österreich/ Kommission (Hinkley Point C)

EuGH

25.7.2018

C-135/16

ECLI:EU:C: 2018:582

Georgsmarienhüt- EuZW 2018, 814 te

EuGH

7.8.2018

C-561/16

ECLI:EU:C: 2018:633

Saras Energía

EuG

15.11.2018 T-793/14

ECLI:EU:T: 2018:790

Tempus Energy and Tempus Energy Technology/ Kommission

RdE 2017, 524

EuZW 2018, 915

Ludwigs https://doi.org/10.5771/9783748900238-219 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

361

5

5

§ 5 Energierecht Gericht

Datum

EuGH

Sammlung

Benennung

28.11.2018 verb. Rs. C-262/17, C-263/17 und C-273/17

ECLI:EU:C: 2018:961

Solvay Chimica Italia ua

EuGH

6.12.2018

C-305/17

ECLI:EU:C: 2018:986

FENS

EuGH

6.12.2018

C-305/17

ECLI:EU:C: 2018:986

FENS

EuGH

28.3.2019

C-405/16 P

ECLI:EU:C: 2019:268

Deutschland/ Kommission (EEG 2012)

EuGH

2.5.2019

C-294/18

ECLI:EU:C: 2019:351

Oulun Sähkömyynti

EuGH

15.5.2019

C-706/17

ECLI:EU:C: 2019:407

Achmea

362

Az.

Ludwigs https://doi.org/10.5771/9783748900238-219 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Fundstellen

§ 6 Transportrecht Matthias Knauff A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Mobilität als Voraussetzung des Vereinten Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arten von Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliche Dimension . . . . . b) Politische Dimension . . . . . . . . . . . c) Persönliche Dimension . . . . . . . . . II. Entwicklung des europäischen Transportrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Transport als Gegenstand des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Transport im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . 1. Transportspezifische Vorschriften a) Gemeinsame Verkehrspolitik nach Titel VI AEUV . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . (1) Zwingend erfasste Verkehrsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fakultativ erfasste Verkehrsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Materielle Grundentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Pflicht zur Gestaltung einer gemeinsamen Verkehrspolitik (2) Unselbstständigkeit . . . . . . . . . . . . (3) Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Organisatorische Aspekte . . . . . dd) EU-Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verfahren und Art der Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Mögliche Regelungsinhalte . . . . (4) Grenzen der Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Verkehrsaußenpolitik . . . . . . . . . . ee) Mitgliedstaatliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Spezielle Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Stillhaltegebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Frachten und Beförderungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beihilferechtliche Sonderregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Koordinierungsbeihilfen . . . . . . . (b) Abgeltungsbeihilfen . . . . . . . . . . . . (c) Unterstützungstarife . . . . . . . . . . . (3) Grenzübergangsabgaben . . . . . . . (4) Teilungsbedingte Sonderregeln für die Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Transeuropäische Verkehrsnetze als Mobilitätsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 3 4 6 9 10 12 14 15 18 21 24 25 26 27 28 29 33 36 37 39 41 44 46 47 49 51 56 59 62 63 64 67 71 72 75 78 80 83 87

aa) Normative Ausgestaltung . . . . . bb) Verhältnis zur gemeinsamen Verkehrspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Bestimmungen . . . . . . . . . a) Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . c) EU-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . e) Ausnahmen für mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraute Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Querschnittsklauseln . . . . . . . . . . . II. Transportsekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Landverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Marktbezogene Regelungen . . . . aa) Eisenbahnverkehr . . . . . . . . . . . . . bb) Güterkraftverkehr . . . . . . . . . . . . . cc) Grenzüberschreitender Personenverkehr mit Kraftomnibussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Öffentlicher Personenverkehr b) Technische Regelungen . . . . . . . . . aa) Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anforderungen an Fahrzeuge und ihre Nutzung . . . . . . . . . . . . . . (2) Anforderungen an das Fahrpersonal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Luftverunreinigungen . . . . . . . . . . (2) Geräuschemissionen . . . . . . . . . . . cc) Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . 2. Schifffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Binnenschifffahrt . . . . . . . . . . . . . . . aa) Marktbezogene Regelungen . . . bb) Technische Regelungen . . . . . . . . b) Seeschifffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Marktbezogene Regelungen . . . bb) Technische Regelungen . . . . . . . . 3. Luftverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Marktbezogene Regelungen . . . . aa) Marktöffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Passagierrechte . . . . . . . . . . . . . . . . b) Technische Regelungen . . . . . . . . . aa) Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sonstige Maßnahmen auf dem Gebiet des Transports . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Abkommen . . . . . . . . . 2. Agenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außerrechtliche Maßnahmen . . . . . . C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

88 91 93 94 97 103 107

110 113 117 118 119 120 125 129 131 138 139 140 144 146 147 150 153 156 157 158 160 163 164 168 176 177 178 184 186 187 190 192 193 199 203 206 207 211 214 217

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§ 6 Transportrecht Verordnung (EG) Nr. 718/1999 des Rates vom 29. März 1999 über kapazitätsbezogene Maßnahmen für die Binnenschifffahrtsflotten der Gemeinschaft zur Förderung des Binnenschifffsverkehrs, ABl. L 90 vom 2.4.1999, 1. Richtlinie (EU) 2016/1629 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2016 zur Festlegung technischer Vorschriften für Binnenschiffe, zur Änderung der Richtlinie 2009/100/EG und zur Aufhebung der Richtlinie 2006/87/EG, ABl. L 252 vom 16.9.2016, 118. Verordnung (EWG) Nr. 4055/86 des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern, ABl. L 378 vom 31.12.1986, 1. Richtlinie 2009/45/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über Sicherheitsvorschriften und -normen für Fahrgastschiffe, ABl. L 163 vom 25.6.2009, 1. Richtlinie 2008/106/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten, ABl. L 323 vom 3.12.2008, 33. Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft, ABl. L 293 vom 31.10.2008, 3. Richtlinie 96/67/EG des Rates vom 15. Oktober 1996 über den Zugang zum Markt der Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen der Gemeinschaft, ABl. L 272 vom 25.10.1996, 36. Verordnung (EU) 2019/712 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 zur Sicherstellung des Wettbewerbs im Luftverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 868/2004, ABl. L 123 vom 10.5.2019, 4. Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. L 46 vom 17.2.2004, 1. Verordnung (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2018 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der Richtlinien 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates, ABl. L 212 vom 22.8.2018, 1. Verordnung (EG) Nr. 549/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 zur Festlegung des Rahmens für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums („Rahmenverordnung“), ABl. L 96 vom 31.3.2004, 1. Verordnung (EU) 2016/796 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über die Eisenbahnagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 881/2004, ABl. L 138 vom 26.5.2016, 1. Verordnung (EG) Nr. 1406/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2002 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, ABl. L 208 vom 5.8.2002, 1.

A. Einführung 1 Die Überwindung räumlicher Entfernungen ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte. Neben „Großereignissen“ mit Mobilitätscharakter wie Völkerwanderungen und Kriegszügen, durch die nicht zuletzt Europa immer wieder erschüttert und politisch umgestaltet wurde, bestehen seit jeher und überall Verbindungsrouten zwischen Siedlungszentren, auf denen Personen und Handelsgüter und damit auch Ideen Räume überwinden. Nachweise hierfür finden sich bereits in frühester Zeit. Einige alte Hauptverkehrswege wie die Seidenstraße dienten über Jahrhunderte als die nahezu einzigen Verbindungen zwischen den

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A. Einführung

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Kontinenten und Kulturen. Seit der frühen Neuzeit, insbesondere seit der portugiesischen Expansion unter Heinrich dem Seefahrer (1394–1460) und den sich daran bis in das 20. Jahrhundert hinein anschließenden Entdeckungen und geistig-politischen Umwälzungen, hat sich Mobilität sowohl im Nah- als auch im Fernbereich zum „Normalzustand“ entwickelt.1 Die heutige Welt ist von einem dichten Verkehrsnetz zu Lande, zu Wasser und in der Luft umgeben. Damit korrespondiert die Existenz spezialisierter Mobilitätsindustrien.2 Räumliche Entfernung stellt zu Beginn des 21. Jahrhunderts kein unüberwindbares Hindernis mehr dar. Nahezu jeder Ort im „globalen Dorf“ ist heute für jeden innerhalb eines überschaubaren Zeitraums und unter Einsatz eines grundsätzlich ebenso überschaubaren Budgets erreichbar, soweit dem nicht politische oder rechtliche Hindernisse entgegenstehen. Verkehr ist jedoch stets mit spezifischen Fragestellungen verbunden, die (auch) rechtliche 2 Antworten erfordern. Die Sicherheit der Verkehrswege und grundsätzlich auch der Verkehrsmittel bilden unabdingbare Voraussetzungen für die Möglichkeit von Mobilität. Aufgrund dessen sowie aus wirtschaftspolitischen Gründen ist häufig auch die Berechtigung zur Durchführung von Verkehrsleistungen Gegenstand mobilitätsbezogener Regelungen. In neuerer Zeit rückt überdies die Frage nach einem „umweltgerechten Verkehr“3 in den Fokus. Für die moderne, weithin mobilitätsabhängige Gesellschaft einschließlich ihrer regelmäßig (zumindest) überregional agierenden Wirtschaft ist die Leistungsfähigkeit des Verkehrssystems insgesamt von vitaler Bedeutung. Verkehrspolitik und ihrem normativen Niederschlag kommt daher heute weltweit und damit auch in der EU eine wesentliche Bedeutung zu, die allerdings nur selten mit einer entsprechenden Wahrnehmung in der allgemeinen Öffentlichkeit wie auch in der breiteren Fachöffentlichkeit korrespondiert.

I. Mobilität als Voraussetzung des Vereinten Europas Ohne die Mobilität von Personen und Gütern wäre die EU als politischer „Staatenver- 3 bund“,4 der derzeit 27 Staaten auf einem halben Kontinent umfasst und auf dem Gedanken der Wirtschaftsintegration basiert, nicht denkbar. Mobilität ist daher notwendig Befassungsgegenstand auf europäischer Ebene. Allerdings bedarf es einer differenzierenden Wahrnehmung und Regelung: Mobilität tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf, dient unterschiedlichen Zwecken und zeitigt eine Vielzahl von Auswirkungen. 1. Begrifflichkeit Die Begriffe der Mobilität, des Verkehrs und des Transports weisen auf eine Ortsverände- 4 rung hin,5 sind im Übrigen aber inhaltsarm und daher ausfüllungs- und abgrenzungsbedürftig. Vorliegend ist die Begrifflichkeit im spezifischen Sinne der europäischen Verkehrspolitik und somit mit verkehrswirtschaftlichem Schwerpunkt6 (nicht aber ausschließlich in

1 Zur historischen Entwicklung des Verkehrs Schiedt/Tissot/Merki/Schwinges (Hrsg.), Verkehrsgeschichte – Histoire des transports, 2010; im Überblick Merki, Verkehrsgeschichte und Mobilität, 2008. 2 Hinzu kommen Kommunikationsnetze, die einen unkörperlichen Informationsverkehr ermöglichen. Diese sind nicht Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. 3 Exemplarisch Koch (Hrsg.), Rechtliche Instrumente einer dauerhaft umweltgerechten Verkehrspolitik, 2000; Lübbig, in: Nowak, S. 180 ff. 4 BVerfG 12.10.1993 – BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155 (181). 5 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 29; Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 16. 6 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 116; Streinz/Schäfer EUV/ AEUV AEUV Art. 90 Rn. 12, 14.

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§ 6 Transportrecht

diesem Sinne)7 zu verwenden. Insoweit bezeichnen sie nur den Vorgang der Ortsveränderung, nicht aber deren Zwecke, die unter anderen rechtlichen Aspekten durchaus eine zentrale Rolle spielen können, etwa im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Einwanderung oder der Arbeitsaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat. Auch diese Erscheinungen werden häufig mit dem Begriff der Mobilität verbunden, der dann jedoch in einem weiteren, den nachfolgenden Ausführungen nicht zugrunde liegenden Sinne verwendet wird. Entsprechendes gilt für den Verkehrsbegriff, der gerade im Zusammenhang mit der Bezeichnung der Grundfreiheiten als „Verkehrsfreiheiten“ seine auf die bloße Ortsveränderung bezogene Begrenzung verliert. Transport wird dagegen im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch zumeist enger nur im Sinne einer Güterbeförderung verwendet. Der Begriff lässt sich aber auch auf die Personenbeförderung beziehen. Anders als der auf ein aktives Tun verweisende Mobilitäts- oder der neutrale Verkehrsbegriff enthält der Terminus „Transport“ eher ein passives Element. Juristisch sind diese Differenzierungen jedoch nicht von Belang. 5 In einem rechtlichen Kontext berühren die Begriffe über die Durchführung der Ortsveränderung als den begrifflichen Kern hinaus notwendig auch zahlreiche „Begleitaspekte“. Gegenstände des Verkehrs(wirtschafts)- oder Transportrechts sind zwingend auch Anforderungen an Fähigkeiten der verkehrsleistenden Personen und Unternehmen, an Eigenschaften der zu verwendenden Verkehrsmittel und ihre Nutzung sowie Informations-, Kooperations- und Kontrollpflichten, die mit der Verkehrsdurchführung im Zusammenhang stehen. Weitere Regelungsbereiche – auch nach deutschem Verständnis privatrechtlichen Charakters8 – treten bereichsspezifisch hinzu. Das Verkehrs- bzw. Transportrecht enthält daher neben dem „Ortsveränderungsrecht“ nahezu unvermeidlich eine Vielzahl von Regelungen, die zwar einen Bezug zur Verkehrsdurchführung aufweisen, diese aber nicht stets unmittelbar betreffen. 2. Arten von Mobilität 6 Mobilität nimmt vielfältige Formen an,9 die aus sachlichen Gründen einen unterschiedlichen Regelungsbedarf nach sich ziehen und auch vor dem Hintergrund der Ziele der EU unterschiedlich relevant sind. Nach der zurückgelegten Entfernung lassen sich Nah-, Regional- und Fernverkehr unterscheiden. Im Kontext des Europarechts ist insbesondere letzterer von Bedeutung; zunehmend geraten aber wegen ihrer eigenen wirtschaftlichen Relevanz auch Verkehrsleistungen über kürzere Distanzen in den Fokus des europäischen Gesetzgebers. Die genutzten Verkehrsmittel (insbesondere Kraftfahrzeuge, Eisenbahnen, Schiffe und Flugzeuge) werfen jeweils spezifische tatsächliche Fragestellungen auf und bieten daher weitere Anknüpfungspunkte für rechtliche Differenzierungen. Als dritte grundlegende Unterscheidungskategorie kommt schließlich der Gegenstand der Ortsveränderung hinzu. Personen- und Güterverkehr befriedigen unterschiedliche individuelle und gesamtgesellschaftliche Verkehrsbedürfnisse. Die offenkundig abweichenden Anforderungen an die Rahmenbedingungen der Beförderung sind ebenfalls Ansatzpunkt für normative Differenzierungen. 7 Die Anteile der einzelnen Verkehrsträger am Gesamtverkehrsaufkommen innerhalb der EU unterscheiden sich deutlich. Personenverkehr findet zu über 81 % als motorisierter Individualverkehr mit Personenkraftwagen auf der Straße statt. Auf Busverkehre entfallen 7 Vgl. von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 37; Schwarze/Stadler EUKommentar (3. Aufl. 2012) AEUV Art. 90 Rn. 3. 8 Vgl. unter Bezugnahme auf die überkommene deutsche Begrifflichkeit des „Transportrechts“ Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 14. 9 S. insoweit auch Aberle, S. 18 ff.

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A. Einführung

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knapp 9 %, auf schienengebundene Verkehre etwas über 9 % der Verkehrsleistung. Der Schiffsverkehr spielt jenseits touristischer Angebote keine maßgebliche Rolle (mehr). Der Luftverkehr ist vor allem für Verkehre mit Drittlandsbezug von Bedeutung. Im Güterverkehr ist eine ähnliche Gewichtung der Verkehrsarten zu erkennen. Auch hier ist der Straßenverkehr (idR mit Lastkraftwagen) mit 73 % die vorherrschende Verkehrsart. Daneben entfallen unter 17 % der Güterverkehrsleistung auf die Eisenbahn und etwa 6 % auf die Binnenschifffahrt.10 Die Vielfalt der Erscheinungsformen des Verkehrs, ihre jeweiligen Anteile am Gesamtver- 8 kehrsaufkommen und die damit verbundenen unterschiedlichen Regelungsbedürfnisse stehen auf europäischer ebenso wie auf mitgliedstaatlicher Ebene weithin einer Einheit des Verkehrs- bzw. Transportrechts entgegen. Ungeachtet der Möglichkeit der Schaffung einiger übergreifender Regelungen mit Grundsatzcharakter handelt es sich schon wegen seines Gegenstands um eine disparate Regelungsmaterie. 3. Dimensionen Ungeachtet ihrer vielfältigen Ausprägungen ruft Mobilität verschiedene Wirkungen her- 9 vor, die für das Funktionieren der EU von teils erheblicher Bedeutung sind. Insoweit lassen sich eine wirtschaftliche, eine politische und eine persönliche Dimension unterscheiden. Sie beeinflussen die Formulierung der Ziele der europäischen Verkehrspolitik und wirken sich infolgedessen auch auf die Fassung des EU-Transportrechts aus. a) Wirtschaftliche Dimension Mobilität ist in doppelter Hinsicht wirtschaftlich bedeutsam. Die Überwindung von teils 10 erheblichen räumlichen Entfernungen durch Personen und Güter ist zunächst Voraussetzung dafür, dass sich der Binnenmarkt entwickeln kann und die Grundfreiheiten verwirklicht werden.11 Verkehr ermöglicht einen Austausch von Gütern zwischen den EU-Mitgliedstaaten und darüber hinaus. In erheblichem Umfang ist Verkehr auch bereits für die Güterproduktion unentbehrlich, da der Abbau von Lagerkapazitäten bei den produzierenden Unternehmen eine Anlieferung von Zulieferteilen „just in time“ erzwingt. Verkehr ist des Weiteren Voraussetzung für eine nachfragegerechte Verteilung personeller Ressourcen. Ohne die tatsächliche Möglichkeit der Ortsveränderung liefen die Gewährleistungen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie der Arbeitnehmerfreizügigkeit weitgehend leer. Dies würde die Marktmechanismen stören und schwerwiegende ökonomische Folgen zeitigen. Verkehr ist mithin Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und damit für Wohlstand. Darüber hinaus ist der Verkehrssektor selbst von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. 11 Verkehrsleistungen machen etwa 5 % des BIP aller EU-Mitgliedstaaten aus. Hinzu kommen verkehrsbezogene Leistungen wie der Bau und die Instandhaltung von Verkehrsmitteln und -infrastruktur sowie die Bereitstellung der Antriebsenergien. Im Verkehrssektor sind mehr als 11 Millionen Menschen beschäftigt.12

10 Europäische Kommission, Statistical Pocketbook 2018 – EU transport in figures, S. 19, 37, 49 (abrufbar unter https://ec.europa.eu/transport/sites/transport/files/pocketbook2018.pdf). 11 Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 6; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/ Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 17; Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 19; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 4. 12 Europäische Kommission, Statistical Pocketbook 2018 - EU transport in figures, S. 19 (abrufbar unter https://ec.europa.eu/transport/sites/transport/files/pocketbook2018.pdf); s. auch Streinz/Schäfer EUV/ AEUV AEUV Art. 90 Rn. 21.

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§ 6 Transportrecht b) Politische Dimension

12 Neben der wirtschaftlichen weist der Verkehr auch eine politische Dimension auf. Im zwischenstaatlichen Verhältnis ist Verkehr Ausdruck einer Kooperation, zumindest aber einer friedlichen Koexistenz. Die Durchlässigkeit von Grenzen für Personen und Güter geht zugleich mit einer Offenheit für den Austausch von Ideen und Meinungen einher. Dieser kulturelle Aspekt ist im Kontext der europäischen Integration von hoher Bedeutung. Wohl kaum etwas symbolisiert das Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten der EU stärker und trägt in den Augen ihrer Bürger besser zu ihrer Legitimation bei als die freie Fahrt ohne Kontrollen über die Grenzen innerhalb des Schengen-Raumes. Auch die Verkehr sowohl voraussetzenden als auch erzeugenden Möglichkeiten der Bildung und Arbeit in anderen EU-Mitgliedstaaten ist für die Herausbildung von gegenseitigem Verständnis und eines Zusammengehörigkeitsgefühls der Unionsbürger als Träger „europäischer Demokratie“ von entscheidender Bedeutung. 13 Kleinräumig ermöglicht Verkehr vor allem das Funktionieren der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft.13 Verkehr hat insoweit auch eine das Gemeinwesen insgesamt stabilisierende Wirkung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen und sonstigen Gütern, die in der (post-)industriellen Gesellschaft ohne Verkehr nicht möglich ist. Von diesen innerstaatlich auftretenden Wirkungen profitiert mittelbar auch die EU, die eine funktionierende Staatlichkeit ihrer Mitglieder erfordert. c) Persönliche Dimension 14 Verkehr dient schließlich unmittelbar dem Einzelnen, indem er zur Sicherung der persönlichen Existenz und zur Realisierung von Wünschen beiträgt. Er ist häufig die Voraussetzung für den Erwerb des Lebensunterhalts durch Arbeit. Auch Bildung, Freizeitgestaltung und Kontakte zu anderen sind trotz der Fortschritte der Kommunikationstechnologie ohne persönliche Mobilität nur eingeschränkt möglich. Gleiches gilt für die Zugänglichkeit eines Warenangebots. Im europäischen Kontext ermöglicht Verkehr dem Einzelnen darüber hinaus den „Blick über den Tellerrand“ und häufig damit verbunden eine Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit und den Abbau von Vorurteilen.14

II. Entwicklung des europäischen Transportrechts 15 Trotz der Bedeutung des Verkehrs für die europäische Integration sind die Anfänge einer europäischen Verkehrspolitik erst mehr als 25 Jahre nach Abschluss der Gründungsverträge zu verzeichnen. Zwar enthielt bereits der EWG-Vertrag (1957) mit den Art. 74 ff. EWGV einen Verkehrstitel, der die EWG zu einer „gemeinsamen Verkehrspolitik“ verpflichtete. In der Frühzeit der europäischen Integration erlangte dieser jedoch kaum praktische Bedeutung. Die Mitgliedstaaten waren zum damaligen Zeitpunkt nicht bereit, eine abgestimmte Verkehrspolitik zu betreiben und die Verkehrsmärkte zu öffnen.15 Nur punktuell wurden unmittelbar verkehrsbezogene Rechtsakte erlassen.16 Korrespondierend da13 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 1; vgl. auch Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 6 f. 14 Näher Aberle, S. 6 ff. 15 Zur Ausgangslage Ebert/Harter, Europa ohne Fahrplan? Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957–1985), 2010, S. 19 ff.; Dauses/ Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 16 ff., 227 f.; zusammenfassend Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 1, 4 ff.; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 8 ff.; Kainer/Persch EuR 2018, 33 (35 f.). 16 Vgl. Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 28.

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mit wurde auch eine Außenzuständigkeit der EWG im Verkehrsbereich negiert. Dies wurde vom EuGH zwar nicht im Hinblick auf den konkret zu beurteilenden Abschluss des AETR-Abkommens aufgrund der zeitlichen Abfolge von Sekundärrechtsetzung und Aushandlung des Abkommens beanstandet; er stellte jedoch grundsätzlich klar, dass die Nutzung einer Binnenkompetenz notwendig mit einer Außenzuständigkeit der EWG einher gehe.17 Ungeachtet der Zurückhaltung der Mitgliedstaaten bei der Ausformung einer gemeinsamen Verkehrspolitik wirkte sich eine Vielzahl von Regelungen, die vornehmlich anderen Regelungszielen diente, auf den Verkehrssektor aus. Die Herausbildung der primärrechtlich geforderten europäischen Verkehrspolitik als ei- 16 genständiger Politikbereich begann erst infolge eines Untätigkeitsurteils des EuGH18 ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre. Die Entwicklung dieses Politikfeldes gewann in den 1990er-Jahren erheblich an Dynamik.19 Mit dem Anwachsen der grenzüberschreitenden Verkehrsströme infolge der Verwirklichung des Binnenmarktes und dessen Erweiterung auf die neu beitretenden Mitgliedstaaten nahm der politische Widerstand gegen eine europäische Lösung der immer stärker drängenden Verkehrs- und der dadurch verursachten Umweltprobleme20 ab, ohne bis heute jedoch gänzlich erloschen zu sein. Infolgedessen konnte sich die EU zu einem bedeutenden verkehrspolitischen Akteur entwickeln. Heute besteht eine kaum noch überschaubare Zahl von verkehrsbezogenen, wenn auch nicht stets auf den Verkehrstitel gestützten Sekundärrechtsakten (im Einzelnen dazu → Rn. 117 ff.), die häufigen Änderungen unterliegen und den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern vielfach einen geringen eigenständigen Gestaltungsspielraum belassen.21 Im Primärrecht hat diese neue Dynamik nur einen sehr geringen Niederschlag gefunden. 17 Grundlegende Änderungen der primärrechtlichen Grundlagen der gemeinsamen Verkehrspolitik erfolgten im Zuge der zahlreichen Vertragsänderungen bis hin zum Vertrag von Lissabon nicht. Der heute aus den Bestimmungen der Art. 90 bis 100 AEUV gebildete Verkehrstitel entspricht weithin demjenigen, der bereits im EWGV enthalten war.22

III. Politische Einordnung Verkehr ist ungeachtet seiner positiven Wirkungen häufig Gegenstand politischer Ausein- 18 andersetzungen auf mitgliedstaatlicher Ebene und ausgehend davon auch in der EU insgesamt. Da die aus umweltpolitischen Gründen vorzugswürdige Verkehrsvermeidung in weitem Umfang sowohl den Mobilitätsbedürfnissen von Personen als auch den Notwendigkeiten der Güterverbringung nicht gerecht wird, steht vor allem die Art und Weise der Verkehrsleistung in Frage. Hintergründe sind vornehmlich die Umweltrelevanz des Ver17 EuGH 31.3.1971 – Rs. 22/70, Slg 1971, 263, Rn. 15/19 – AETR. 18 EuGH 22.5.1985 – Rs. 13/83, Slg 1985, 1513 – Europäisches Parlament und Kommission/Rat. Eine daran anknüpfende „Momentaufnahme“ des damaligen Standes der gemeinsamen Verkehrspolitik und ihrer erheblichen Defizite findet sich in Basedow (Hrsg.), Europäische Verkehrspolitik. Nach dem Untätigkeitsurteil des Europäischen Gerichtshofes gegen den Rat vom 22.5.1985 – Rs. 13/83 (Parlament ./. Rat), 1987. 19 Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 249 ff.; s. auch Pedret Cuscó, EU Transport an EU Transport Policy, in: Ortiz Blanco/van Houtte, Rn. 1.14 ff. 20 Dazu im Überblick von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 6; Streinz/ Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 23. 21 Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 52; systematisch zur Sekundärrechtsetzung Bieber/Maiani, S. 85 ff.; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Sendmeyer, Europarecht, § 34, Rn. 22 ff.; Lenz/Borchardt/ Mückenhausen EU-Verträge Vorbem. Art. 90–100 AEUV Rn. 1, bezeichnet den Verkehr als „heute zu den von der EU am dichtesten reglementierten Bereichen“ gehörig; umfassend zur Entwicklung der EUVerkehrspolitik Frerich/Müller, Bd. 1, Kap. 1. 22 Zu den erfolgten Änderungen im Überblick Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 1.

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kehrs (Luftverschmutzung, Lärm, Platzbedarf), seine Kosten (Infrastruktur, Abläufe) und seine sozialen Auswirkungen. Der Umgang damit schlägt sich maßgeblich in der Fassung transportrechtlicher Vorschriften nieder. 19 Als weithin unbefriedigend wird die Dominanz des Straßenverkehrs angesehen. Die Kommission bezeichnet es als wesentliches Ziel der europäischen Verkehrspolitik, dessen Anteil an der Gesamtverkehrsleistung zugunsten des Eisenbahn- und Schiffsverkehrs deutlich zurückzudrängen.23 Auch die Zunahme des innereuropäischen Luftverkehrs wird wegen der damit verbundenen Umweltbelastungen24 kritisch gesehen.25 Erfolge bei der Zurückdrängung dieser Verkehrsträger sind jedoch bislang nicht erkennbar. Dies verwundert nicht, da wirksame Maßnahmen nur in sehr geringem Umfang ergriffen werden. So erfolgt eine Ausrichtung des verkehrswirtschaftlichen Sekundärrechts an umweltpolitischen Zielen auch in neuerer Zeit nicht.26 Ob die im Jahr 2012 erfolgte27 Einbeziehung des Flugverkehrs in das Treibhausgasemissionshandelssystem zu nennenswerten Verkehrsverlagerungen führt, erscheint zweifelhaft.28 Politisch ist die Zurückdrängung des Straßenverkehrs auch insoweit schwierig durchsetzbar, als nicht in allen EU-Mitgliedstaaten hinreichend leistungsfähige Schienennetze und Wasserstraßen zur Verfügung stehen, so dass eine Verkehrsverlagerung kaum praktisch durchführbar erscheint. Der von der EU geförderte Ausbau transeuropäischer Schienennetze29 ist nicht geeignet, diesem Umstand nachhaltig abzuhelfen. Infolgedessen ist die Bekämpfung der mit dem Straßenverkehr verbundenen Emissionen bislang im Wesentlichen durch die Festlegung technischer Anforderungen an die einzusetzenden Kraftfahrzeuge erfolgt (→ Rn. 138 ff.). Vergleichbare Ansätze bestehen auch im Hinblick auf den Luftverkehr, wobei die Fortschritte wegen der Notwendigkeit der internationalen Abstimmung der an Flugzeuge zu stellenden technischen Anforderungen deutlich weniger ambitioniert ausfallen (→ Rn. 184 ff.). 20 Im Personenverkehr stellt sich darüber hinaus das Problem des Verhältnisses zwischen motorisiertem Individualverkehr (MIV), der mit privaten Kraftfahrzeugen erfolgt, und dem öffentlichen Personenverkehr (ÖPV), der im Wesentlichen mit Eisenbahnen, Straßenbahnen und Bussen durchgeführt wird. Europaweit überwiegt der MIV deutlich.30 Allein 23 24 25 26 27

KOM(2011) 144 endg., 10. Dazu Koch/Wieneke, Umweltprobleme des Luftverkehrs, NVwZ 2003, 1153. S. bereits KOM(1999) 640 endg. Zum Güterkraftverkehr Knauff DVBl. 2011, 727 (732 f.). Parallel wird eine solche für den Schiffsverkehr, dazu Lassen, Einbeziehung des Schiffsverkehrs in das Emissionshandelssystem, ZUR 2010, 570, sowie für den Automobilverkehr, dazu Engel/Mailänder, Einbeziehung des Automobilverkehrs in den Emissionshandel, NVwZ 2016, 270, diskutiert. 28 Näher Fischer, Ökologische und ökonomische Auswirkungen des Emissionshandels im Luftverkehr, in: Hartwig, Aktuelle Entwicklungen in der Verkehrspolitik. Infrastruktur, Luftverkehr und ÖPNV, 2011, S. 77 (102 ff.); zur tatsächlichen Entwicklung siehe https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/dereuropaeische-emissionshandel#textpart-5; Zur Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Vorgaben EuGH 21.12.2011 – C-366/10, Rn. 46 ff. – ATA; zustimmend Frenz EurUP 2011, 278; kritisch insoweit Erling, Der EU-Emissionshandel im Luftverkehr, ZLW 58 (2009), 337; Bartlik, Die Einbeziehung des Luftverkehrs in das EU-Emissionshandelssystem, EuR 2011, 196. Zur Durchsetzung s. auch DVO (EU) 2019/1603 der Kommission zur Ergänzung der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die von der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation angenommenen Maßnahmen für die Überwachung von, die Berichterstattung über und die Prüfung von Luftverkehrsemissionen für die Zwecke der Umsetzung eines globalen marktbasierten Mechanismus, ABl. L 250 v. 30.9.2019, 10. 29 Vgl. Art. 10 VO (EU) Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2013 über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 661/2010/EU, ABl. L 348 v. 20.12.2013, 1, zuletzt geändert durch DVO (EU) 2017/849, ABl. L 128I v. 19.5.2017, 1; s. ergänzend DVO (EU) 2017/6 der Kommission über den europäischen Bereitstellungsplan für das Europäische Eisenbahnverkehrsleitsystem, ABl. L 3 v. 6.1.2017, 6. 30 Europäische Kommission, Statistical Pocketbook 2018 – EU transport in figures, S. 19 (abrufbar unter https://ec.europa.eu/transport/sites/transport/files/pocketbook2018.pdf).

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in Großstädten mit gut ausgebauten Nahverkehrssystemen führt deren höhere Attraktivität zu einer stärkeren Nutzung des ÖPV. Allerdings ist festzustellen, dass der herkömmliche ÖPV zunehmend durch vermehrte Car-Sharing-Angebote und alternative, internetbasierte Transportmöglichkeiten mit „halbindividuellem“ Charakter (on demand-Verkehre) sowohl ergänzt als auch unter Druck gesetzt wird.31 Vermeidbare Umweltbelastungen, Staus und infolgedessen erhebliche volkswirtschaftliche Kosten sind die unmittelbare Folge eines stetig ansteigenden MIV. Politisch wird daher auch auf europäischer Ebene eine Stärkung des ÖPV gefordert.32 Allerdings fehlt es der EU ebenso an Regelungskompetenzen zum Erlass wirkungsvoller Vorgaben wie den Mitgliedstaaten am Willen, ihr diese einzuräumen.

IV. Rechtliche Einordnung Verkehr ist notwendig Gegenstand des Europarechts. Die primärrechtliche Verpflichtung 21 zur Erarbeitung einer gemeinsamen Verkehrspolitik ist daher konsequent. Aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung des Verkehrs sind die darauf bezogenen Vorschriften zumindest auch dem Wirtschaftsrecht zugehörig. Allerdings weist das europäische Transportrecht infolge der Mehrdimensionalität seines Gegenstands zugleich enge Bezüge zu anderen Rechtsgebieten, insbesondere dem europäischen Umweltrecht, auf. Indem Verkehr häufig die Voraussetzungen für eine Realisierung der Grundfreiheiten schafft, nehmen diese auf die sekundärrechtliche Ausgestaltung des Verkehrssektors erheblichen Einfluss. Diese Besonderheit des Verkehrs hat sich in der Existenz eines eigenständigen Titels im EWGV/EGV/AEUV niedergeschlagen,33 der systematisch in engem Zusammenhang mit den Grundfreiheiten und den Wettbewerbsregeln steht. Die damit verbundene Qualifikation als eigenständiges Politikfeld und mithin als eigenständiges Teilgebiet des Europarechts steht allerdings der Anwendbarkeit von Rechtsnormen aus anderen normativen Zusammenhängen, etwa dem Umwelt- oder dem Kartellrecht, auf den Verkehrssektor nicht entgegen, soweit in den Art. 90 ff. AEUV keine Sonderregelungen vorgesehen sind. Mitunter, so etwa im Vergaberecht,34 bestehen sogar spezifisch auf den Verkehrssektor bezogene Regelungen, die keinen Bezug zur gemeinsamen Verkehrspolitik aufweisen. Infolge des in einer globalisierten Wirtschaft vielfach die Grenzen der EU überschreiten- 22 den Charakters von Verkehrsvorgängen ist die europäische Verkehrspolitik in ein dichtes Netz aus internationalen Vereinbarungen eingebunden. Neben spezifisch verkehrsbezogenen völkerrechtlichen Verträgen, an denen die EU teils unmittelbar, teils mittelbar durch ihre Mitgliedstaaten beteiligt ist, können sich auch „sachfremde“ völkerrechtliche Vorgaben wie das WTO-Recht auf die Möglichkeiten der Gestaltung der europäischen Verkehrspolitik auswirken. Daneben besteht eine Vielzahl bilateraler Abkommen mit verkehrsbezogenen Inhalten mit benachbarten Staaten, deren konzeptioneller Einfluss allerdings deutlich geringer ist. Im Verhältnis zur Verkehrspolitik der Mitgliedstaaten und deren normativem Nieder- 23 schlag beanspruchen europäische Vorgaben nach den allgemeinen Regeln Vorrang. Da der 31 S. etwa Ingold, Gelegenheitsverkehr oder neue Verkehrsgelegenheiten? Taxi-Apps und Ridesharing als Herausforderung für das Personenbeförderungsrecht, NJW 2014, 3334 ff.; Kramer/Hinrichsen, Der Fall Uber – Taxen, Mietwagen und der technologische Fortschritt, GewArch 2015, 145 ff.; Schröder, Ridesharing-Angebote als Herausforderung für das Personenbeförderungs- und das Ordnungsrecht, DVBl. 2015, 143 ff. 32 Vgl. nur KOM(2011) 144 endg., 9. 33 Kritisch Kainer/Persch EuR 2018, 33 (51 ff.). 34 S. insoweit die RL 2009/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Förderung sauberer und energieeffizienter Straßenfahrzeuge, ABl. L 120 v. 15.5.2009, 5; zur Umsetzung im nationalen Recht Knauff, Energieeffiziente Beschaffung, VergabeR 2019, 274 (280 ff.).

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§ 6 Transportrecht Verkehr gem. Art. 4 Abs. 2 lit. g AEUV zu den geteilten Zuständigkeiten zählt, setzt der Erlass verkehrsbezogenen Sekundärrechts neben der erforderlichen politischen Übereinstimmung im Rat und im Europäischen Parlament die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, Art. 5 Abs. 3 EUV, voraus. Dieses steht jedenfalls einem uneingeschränkten Zugriff des europäischen Gesetzgebers auf den Verkehrssektor entgegen. Zumindest im Hinblick auf den Verkehr im Nahbereich verbleibt daher ein dauerhafter Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten, ohne dass dies jedoch ausschließt, dass sich allgemeine Vorgaben des europäischen Transportrechts auf diesen auswirken.

B. Transport als Gegenstand des Europarechts 24 Verkehr ist Gegenstand zahlreicher Normen sowohl des europäischen Primär- als auch des Sekundärrechts. Weithin handelt es sich dabei um verkehrswirtschaftliche Regelungen. Zunehmend erfolgt jedoch eine Erweiterung der sekundärrechtlichen Regelungsbereiche auf systematisch eher dem Ordnungsrecht zuzuordnende Problemstellungen.

I. Transport im Primärrecht 25 Das Primärrecht enthält zahlreiche Vorgaben, die sich auf den Verkehr auswirken. Neben den spezifisch auf den Verkehr bezogenen oder dessen Voraussetzungen betreffenden Vorschriften sind zahlreiche allgemeine Bestimmungen für die Ausgestaltung der europäischen Verkehrspolitik relevant und dienen damit als ergänzender Maßstab für den Erlass von Sekundärrecht. 1. Transportspezifische Vorschriften 26 Mit dem Verkehr und seiner Ermöglichung befasst sich der AEUV in zwei, systematisch jenseits ihrer gemeinsamen Verankerung im dritten Teil des AEUV unverbundenen Titeln. Neben dem Titel VI: „Der Verkehr“ kommt auch Titel XVI: „Transeuropäische Netze“ eine unmittelbare Relevanz für die Organisation des Verkehrs in der EU zu. a) Gemeinsame Verkehrspolitik nach Titel VI AEUV 27 Die Art. 90 bis 100 AEUV enthalten die Grundentscheidungen über die Existenz und die Ausgestaltung der europäischen Verkehrspolitik. Ihre Regelungsgegenstände wie auch ihre Detailgenauigkeit sind disparat.35 Zugleich decken sie die relevanten Problemstellungen nur partiell ab. Infolgedessen verbleibt für den europäischen Gesetzgeber – unter Beachtung sonstiger primärrechtlicher Vorgaben – ein großer Gestaltungsspielraum bei der sekundärrechtlichen Ausformung der gemeinsamen Verkehrspolitik. aa) Anwendungsbereich 28 Die gemeinsame Verkehrspolitik bezieht sich nach Art. 100 AEUV nicht notwendig auf alle Verkehrsträger. Vielmehr differenziert die Vorschrift zwischen solchen Verkehrsarten, die typischerweise innerhalb der EU erfolgen (Binnenverkehre) und solchen, die regelmäßig deren Außengrenzen überschreiten.36 Dies hat die Besonderheit zur Folge, dass die Rechtsetzungskompetenzen der EU im Verkehrssektor nicht nur funktional im Hinblick auf die Verkehrsleistung an sich bestimmt werden, sondern – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 2 EUV – auch der 35 Vgl. auch Callies/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 21 a; Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 2; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 5. 36 Zu den historischen Hintergründen Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 1.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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Art und Weise ihrer Durchführung eine rechtliche Relevanz zukommt. Art. 100 Abs. 1 AEUV legt die Geltung des Titels VI zwingend „für die Beförderungen im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr“ fest. Die Seeschifffahrt und die Luftfahrt werden demgegenüber nach Art. 100 Abs. 2 S. 1 AEUV nur fakultativ erfasst. Atypische oder neue Beförderungsmöglichkeiten stehen nicht außerhalb der Verträge, sondern sind unter die vorhandenen Begrifflichkeiten zu fassen, soweit sie den genannten Verkehrsträgern entsprechende Funktionen erfüllen. Ist dies jedoch nicht der Fall, wie etwa bei Seilbahnen, können darauf bezogene Regelungen nicht im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik getroffen, sondern nur auf anderweitige Ermächtigungsgrundlagen gestützt werden.37 Gleiches gilt für Transporte mittels Rohrleitungen, da diese gänzlich andere Charakteristika als die in Art. 100 AEUV benannten Verkehrsträger aufweisen und eine Vergleichbarkeit daher weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht gegeben ist.38 (1) Zwingend erfasste Verkehrsarten Beförderungen im Eisenbahnverkehr sind im technischen Sinne solche, die durch spurge- 29 bundene Verkehrsmittel (Triebköpfe/Lokomotiven und Waggons bzw. Triebwagen als „rollendem Material“) erfolgen. Herkömmlich erfolgt dies unter Verwendung einer RadSchiene-Technik.39 Die zurückgelegte Entfernung ist unerheblich. Infolgedessen werden Sund Trambahnen40 ebenso wie Fernverkehrszüge erfasst. Es kommt nicht darauf an, ob Schienennetze miteinander verbunden sind oder verbunden werden können. Auch der Eisenbahnverkehr auf isolierten Strecken und mit Kleinbahnen mit (ggf. historischer) Zubringerfunktion wird daher wegen seiner technischen Eigenschaften ungeachtet der fehlenden gesamteuropäischen Relevanz erfasst. Umstritten ist jedoch, inwieweit sonstige eisenbahnähnliche Verkehrsmittel erfasst werden. Wegen ihrer funktionalen Übereinstimmung ist dies für Magnetschwebebahnen zu bejahen.41 Gleiches gilt auch für technisch straßenbahnähnliche Stadtbahnen und U-Bahnen, die jeweils im Lokalverkehr auf eigenem Schienennetz verkehren, das sowohl vom Eisenbahn- als auch vom Straßennetz getrennt ist. Beförderungen im Straßenverkehr sind solche, die mit Landfahrzeugen unter Nutzung ei- 30 nes Straßenkörpers erfolgen.42 Anders als bei der vorgenannten Variante liegt Art. 100 Abs. 1 AEUV insoweit kein (jedenfalls im Ausgangspunkt) verkehrsmittelspezifischer, sondern ein verkehrswegebezogener Ansatz zugrunde. Eine Beförderung im Straßenverkehr ist stets gegeben bei Verkehren, die mit Kraftfahrzeugen (insbesondere Personen- und Lastkraftwagen, Motorräder) durchgeführt werden. Ob es sich um Fahrzeuge handelt, die typischerweise zu anderen Zwecken als dem Transport von Personen oder Gütern eingesetzt werden (zB Traktoren), ist für die Bestimmung des Anwendungsbereichs der gemeinsamen Verkehrspolitik unerheblich; die Unterscheidung kann jedoch bei deren Ausgestaltung Bedeutung erlangen. Ebenfalls erfasst werden Straßenbahnen. Diese sind zwar schienengebunden; das Gleisbett befindet sich jedoch regelmäßig auf Straßen oder steht bau37 Calliess/Ruffert/Jung EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, AEUV Art. 100 Rn. 4; unter Bezugnahme auf die Kommissionspraxis bezeichnen Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 100 Rn. 40, die Zuordnung dagegen als offen. 38 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 5; Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 100 Rn. 2. 39 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 15; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 100 Rn. 4. 40 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 100 Rn. 36. 41 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 5; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 100 Rn. 4; einschränkend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 100 Rn. 36. 42 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 100 Rn. 4.

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§ 6 Transportrecht

lich in unmittelbarem Zusammenhang damit. Der nichtmotorisierte Landverkehr auf Straßen wirft im Allgemeinen keinen europäischen Regelungsbedarf auf. Grundsätzlich unterfällt er jedoch ebenfalls dem Verkehrstitel und kann – unter Beachtung weiterer Anforderungen, insbesondere des Subsidiaritätsprinzips – Gegenstand der gemeinsamen Verkehrspolitik sein. 31 Als dritte Verkehrsart erfasst Art. 100 Abs. 1 AEUV den Binnenschiffsverkehr, der, wie die Gegenüberstellung in Art. 100 Abs. 2 S. 1 AEUV klarstellt, von der Seeschifffahrt abzugrenzen ist. Der Begriff des Binnenschiffsverkehrs erfasst alle Verkehre, die mit schwimmfähigen Fahrzeugen auf Flüssen, Kanälen und sonstigen Binnengewässern durchgeführt werden.43 Nicht erfasst werden dagegen die Meere, die den europäischen Kontinent umschließen, so dass die Küstenschifffahrt nicht als Binnenschiffsverkehr zu qualifizieren ist.44 Auf die Bauart der einzusetzenden Fahrzeuge kommt es nicht an.45 Unerheblich ist daher auch, ob es sich um Schiffe im technischen Sinne handelt. Erfasst werden ungeachtet ihrer zu vernachlässigenden praktischen Bedeutung daher auch Flöße und Amphibienfahrzeuge. 32 Im Hinblick auf den Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr sieht Art. 100 Abs. 1 AEUV zudem das Erfordernis einer „Beförderung“ vor. Insoweit liegt zunächst eine Beschränkung auf den Verkehrsvorgang nahe. Einem solchen Verständnis stehen aber andere Sprachfassungen,46 vor allem aber auch ein Vergleich mit Art. 91 Abs. 1 (insbes. lit. d) AEUV entgegen.47 Letztere Vorschrift hätte bei einem engen Verständnis des Art. 100 Abs. 1 AEUV nahezu keinen Anwendungsbereich. Da es sich jedoch zugleich um die Zentralnorm hinsichtlich der Gestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik handelt, kann ein darauf gerichteter Wille der Mitgliedstaaten nicht unterstellt werden. Der Begriff der „Beförderung“ verweist daher letztlich nur darauf, dass ein Verkehrsvorgang im Sinne einer Ortsveränderung in irgendeiner Weise von den zu treffenden Regelungen berührt sein muss, sei es auch nur sehr mittelbar. Der Beförderungsbegriff enthält jedoch eine weitere, potenziell einschränkende Konnotation. So erscheint aufgrund des Wortlauts möglich, dass nicht jede Verkehrsdurchführung mit den erfassten Verkehrsmitteln bzw. auf den erfassten Verkehrswegen – auf Grundlage des Vorstehenden einschließlich ihrer Rahmenbedingungen – Gegenstand des Anwendungsbereichs des Verkehrstitels sein kann, sondern nur eine solche, bei denen eine Person den Verkehr mit Dritten oder Gütern durchführt. Ein „sich (selbst) befördern“ ist grammatikalisch sowohl im Deutschen als auch parallel in den anderen Sprachfassungen für die dort verwendeten Begrifflichkeiten grundsätzlich ausgeschlossen. Vielmehr wird stets jemand oder etwas befördert. „Eigentransporte“, die vielfach von Privatpersonen im Straßenverkehr erfolgen, wären danach der gemeinsamen Verkehrspolitik entzogen. Trotz der weithin verkehrswirtschaftlichen Ausrichtung des Titels VI48 trägt dies dem Anliegen der Aufnahme des Verkehrs in das Primärrecht nicht hinreichend Rechnung.49 Überdies wären mit einer derartigen Interpretation unzählige Abgrenzungsschwierigkeiten verbunden, da auch der „sich Befördernde“ im Regelfall zusätz43 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 100 Rn. 4. 44 Von der Groeben/Schwarze/Erdmenger EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 80 EG, Rn. 10. Aus verkehrswirtschaftlicher Perspektive steht diese dagegen gleichsam zwischen See- und Binnenschifffahrt, Aberle, S. 21. 45 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 100 Rn. 37. 46 Engl.: „The provisions of this Title shall apply to transport by rail, road and inland waterway.” Frz.: „Les dispositions du présent titre s'appliquent aux transports par chemin de fer, par route et par voie navigable.“ 47 Calliess/Ruffert/Jung EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, AEUV Art. 100 Rn. 5; Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 43. 48 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 70 EGV Rn. 3; Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 14. 49 Vgl. auch Groeben/Schwarze/Erdmenger EUV/EGV, 6. Aufl. 2003, Art. 70 EG, Rn. 5.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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lich zumindest auch „etwas“ im tatsächlichen Wortsinne befördert. Derartige zufallsabhängige und zudem mangels abweichender sachlicher Problemstellungen nicht als Differenzierungskriterien geeignete Umstände bilden keinen belastbaren Anknüpfungspunkt für eine Entscheidung über die Eröffnung eines europäischen Politikfeldes. Dies gilt umso mehr, als europarechtlich fassbarere Aspekte wie etwa eine Grenzüberschreitung des Verkehrs von Art. 100 Abs. 1 AEUV gerade nicht thematisiert werden. Letztlich ist die Vorschrift daher dahin gehend zu verstehen, dass jegliche Aspekte im Zusammenhang mit dem Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr dem Verkehrstitel unterfallen und somit der gemeinsamen Verkehrspolitik zugänglich sind.50 Dem Beförderungsbegriff kommt somit in der deutschen Sprachfassung nicht mehr als eine illustrative Bedeutung zu; in anderen Sprachfassungen bedarf es seiner im Hinblick auf die Klarstellung des Verkehrsbezugs. (2) Fakultativ erfasste Verkehrsarten Auf Beförderungen mit anderen Verkehrsträgern als den in Art. 100 Abs. 1 AEUV ge- 33 nannten oder diesen auf interpretativem Wege gleichzustellenden findet der Verkehrstitel keine Anwendung.51 Obwohl diese Differenzierung ausschließlich historisch begründet ist und insoweit kaum mehr zeitgemäß erscheint,52 hat sie ihre Geltung auch durch den Vertrag von Lissabon nicht verloren. Allerdings ermächtigt Art. 100 Abs. 2 AEUV zum Erlass von Sekundärrechtsakten für die Seeschifffahrt und die Luftfahrt. Bezüglich Verfahren und Gegenstand bestehen keine Besonderheiten gegenüber Rechtsakten, die sich auf Grundlage des Verkehrstitels auf Verkehrsträger nach Art. 100 Abs. 1 AEUV beziehen. De facto werden die Seeschifffahrt und die Luftfahrt daher zum Bestandteil der gemeinsamen Verkehrspolitik.53 Aus dem systematischen Zusammenhang folgt, dass es ungeachtet der fehlenden Nennung in Art. 100 Abs. 2 AEUV auch insoweit einer zumindest verkehrlichen Nutzung bedarf. Militärische Verkehre sind nach Sinn und Zweck der Norm jedoch nicht erfasst; für diese gelten allenfalls die Vorschriften über die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach Art. 42 ff. EUV. Seeschifffahrt sind all diejenigen Verkehre, die mit schwimmfähigen Fahrzeugen, insbe- 34 sondere Schiffen aller Art, auf den Meeren einschließlich der Hohen See durchgeführt werden. Sie ist negativ von der Binnenschifffahrt (→ Rn. 31) abzugrenzen, was jedoch kaum trennscharf möglich ist.54 Allerdings zählen auch das Anlaufen und die Nutzung von Häfen zur Seeschifffahrt, wenn sich diese nicht unmittelbar an der Küste befinden, jedoch von dort angelaufen werden können. Infolge der undifferenzierten Formulierung des Art. 100 Abs. 2 AEUV werden sämtliche Verkehrszwecke erfasst. Unproblematisch sind insoweit die Passagier- und die Frachtbeförderung im Liniendienst wie auch ad hoc. Darauf bezogene Hilfsverkehre wie der Lotsendienst werden ebenfalls erfasst. Fischereifahrzeuge dienen dagegen nicht vorrangig dem Verkehr, sondern dem Fang und ggf. der Verarbeitung von Fisch und sonstigen Meerestieren. Insoweit unterfallen sie primär den Vorgaben über die gemeinsame Fischereipolitik nach Art. 38 ff. AEUV. Gleichwohl zählen sie,

50 Im Ergebnis so auch Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 6; Hailbronner/Wilms/ Jochum, Art. 80 EGV Rn. 6. 51 Hailbronner/Wilms/Jochum, Art. 80 EGV Rn. 7; aA Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 100 Rn. 4. 52 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 4; kritisch auch Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 100 Rn. 3. 53 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche EU AEUV Art. 100 Rn. 35; Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 5; ähnlich Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 80 EGV Rn. 4. 54 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 80 EGV Rn. 8.

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wie die Bezugnahmen im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen55 verdeutlichen, nach überkommenem Verständnis zur Seeschifffahrt. Soweit keine spezielleren Regelungen eingreifen, unterfallen daher auch Fischereifahrzeuge Art. 100 Abs. 2 AEUV. 35 Der Luftfahrt unterfallen schließlich alle Verkehre, die mit Luftfahrzeugen, insbesondere Flugzeugen, innerhalb der Erdatmosphäre – nach überkommener Auffassung bis zu einer Höhe von 100 km56 – durchgeführt werden. Flüge, die darüber hinausgehen, sind der Raumfahrt zuzurechnen, die Gegenstand der europäischen Raumfahrtpolitik nach Art. 189 AEUV ist. Allerdings steht bei der beginnenden kommerziellen Raumfahrt, die bislang nur die Grenzen des Weltraums erreicht, der Verkehrs- und nicht der Forschungsaspekt im Vordergrund. Die nicht normierte 100 km-Grenze ist daher allenfalls als Richtwert tauglich, kann aber nicht der trennscharfen Abgrenzung zwischen gemeinsamer Verkehrs- und europäischer Raumfahrtpolitik dienen. Als notwendige Infrastruktur unterfallen auch Flughäfen und -plätze der Luftfahrtalternative des Art. 100 Abs. 2 AEUV. Mit Blick auf die Sicherheit des Luftverkehrs gilt dies auch für dessen Überwachung und Lenkung vom Boden aus durch Fluglotsen. Luftfahrzeuge, die nicht primär Verkehrszwecken dienen, wie Wetterballons, unterfallen der Vorschrift jedenfalls insoweit, als sie sich im Luftraum bewegen und dadurch zum einen selbst „Verkehr“ darstellen und sich zum anderen potenziell auf Verkehrsbewegungen anderer Luftfahrzeuge auswirken. bb) Materielle Grundentscheidungen 36 Art. 90 AEUV enthält die grundlegende Entscheidung über die Durchführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik (jedenfalls) in den in Art. 100 Abs. 1 AEUV genannten Bereichen. Diese soll sich, wie die Bezugnahme auf „die Ziele der Verträge“ verdeutlicht, in die allgemeinen primärrechtlichen Vorgaben über die europäische Integration, insbesondere Grundfreiheiten, Binnenmarkt und Wettbewerbsregeln, einfügen. (1) Pflicht zur Gestaltung einer gemeinsamen Verkehrspolitik 37 Die Durchführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik ist der EU verpflichtend aufgegeben. Die Formulierungen sowohl von Art. 90 AEUV („werden … verfolgt“) als auch von Art. 91 Abs. 1 AEUV („werden … aufstellen/festlegen/erlassen“) stehen einem Verständnis der Vorschriften des Verkehrstitels als bloße Ermächtigungen, von denen nach Maßgabe politischen Ermessens Gebrauch gemacht werden kann, entgegen. Mit der Kompetenzeinräumung geht vielmehr ein rechtliches Gebot zur Kompetenznutzung einher.57 Infolgedessen zählt eine Verkehrspolitik zum Kern der Tätigkeiten der EU. 38 Die Verpflichtung zur Durchführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik ist daher zumindest grundsätzlich58 auch justiziabel. Zwar ist die gerichtliche Verpflichtung zum politischen Agieren durchaus nicht selbstverständlich, betrifft sie doch die Grenzziehung zwischen Recht und Politik. Im Falle der gemeinsamen Verkehrspolitik hat sie sich jedoch als notwendiger Anstoß erwiesen (→ Rn. 16). Allerdings betrifft diese Verpflichtung nur das „Ob“, nicht aber das „Wie“ der Ausgestaltung des Politikfeldes. Titel VI des AEUV verlangt jenseits punktueller Detailvorgaben allein, dass sich die EU mit verkehrs(wirtschafts)bezogenen Fragen befassen, nicht aber, dass eine uneingeschränkte Europäisierung 55 ABl. EG L 179 v. 23.6.1998, 4. 56 So die von der Fédération Aéronautique Internationale zugrunde gelegte Begrifflichkeit, vgl. FAI-Statutes 2018, S. 5 (abrufbar unter https://www.fai.org/sites/default/files/documents/statutes_2018.pdf). 57 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 70 EGV Rn. 1; vgl. auch Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 4; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 8; von einem „politischen Auftrag“ spricht dagegen Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 1. 58 Einschränkend Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 90 Rn. 1.

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des Verkehrssektors erfolgen muss. Vielmehr zielen die Art. 90 ff. AEUV in ihrem Gesamtkontext im Wesentlichen auf Aspekte der Verkehrsgestaltung ab, die für das Zusammenwachsen Europas von Bedeutung sind. Infolgedessen können einzelne Regelungsbereiche auch ganz ausgespart und der mitgliedstaatlichen Gestaltung überlassen werden. Insoweit lässt sich auch ein politisches Element der Entscheidungsfindung nicht vermeiden. Allerdings widerspräche es der Grundentscheidung der Art. 90 iVm Art. 91 Abs. 1, 100 Abs. 1 AEUV, die gemeinsame Verkehrspolitik auf unbedeutende Nebenaspekte des unmittelbar erfassten Landverkehrs und der Binnenschifffahrt zu beschränken. Primärrechtlich gefordert ist vielmehr, dass die EU Regeln von substanzieller Bedeutung für den Verkehrssektor aufstellt. Nur dann ist der Verpflichtung zur Durchführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik im Sinne eines „Ob“ Genüge getan. (2) Unselbstständigkeit Anders als etwa die gemeinsame Agrarpolitik, der gemäß ihrer spezifischen Ausgestaltung 39 durch die Art. 38 ff. AEUV weithin eigene Gesetzlichkeiten zugrunde liegen (s. Härtel § 7), weist die gemeinsame Verkehrspolitik nur ein geringes Maß an Eigenständigkeit auf. Sie ist vielmehr eng mit den übrigen Politiken der EU verzahnt.59 Wie die Formulierung des Art. 90 AEUV zu erkennen gibt, kommt ihr im Hinblick auf die Ziele der EU eine dienende Funktion zu. Zu diesen Zielen zählen insbesondere die in Art. 3 EUV genannten. Darüber hinaus erfasst die Bezugnahme auf „die Ziele der Verträge“ in Art. 90 AEUV auch deren Konkretisierung durch die weiteren Vorschriften des gesamten Primärrechts. Neben EUV und AEUV sowie Protokollen sind daher insbesondere die in der Grundrechtecharta positivierten sowie die ergänzenden60 ungeschriebenen EU-Grundrechte von Bedeutung. Die Unselbstständigkeit der gemeinsamen Verkehrspolitik spiegelt sich im fragmentari- 40 schen Charakter der Vorschriften des Verkehrstitels wider. Diese weisen weithin Bezüge zu Bestimmungen aus anderen Titeln des AEUV auf und dienen der Verwirklichung und Konkretisierung dort verankerter Gewährleistungen (Art. 93, 94 bis 97 AEUV) oder deren bereichsspezifischer Modifikation (Art. 93, 98 AEUV). Insoweit fehlt es zugleich an einer Interpretierbarkeit der Vorschriften allein aus sich selbst heraus. Vielmehr ist der titelübergreifende Kontext zwingend einzubeziehen. In stärkerem Maße für sich selbst, wenn auch schon wegen Art. 90 AEUV nicht isoliert von den übrigen Vorgaben der Verträge, stehen nur die Bestimmungen über Anwendungsbereich und Maßnahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik (Art. 91, 100 AEUV) sowie über die Einrichtung eines beratenden Sachverständigenausschusses für Verkehrsfragen bei der Kommission (Art. 99 AEUV). (3) Offenheit Die Unselbstständigkeit der gemeinsamen Verkehrspolitik schlägt sich auch im weitgehen- 41 den Fehlen von Vorgaben über ihre Ausgestaltung („Wie“) nieder.61 Zwar geben die Vorschriften des Verkehrstitels zu erkennen, dass Verkehr nicht behindert, sondern tendenziell vereinfacht werden soll. Abgesehen von den wenigen in den Art. 93 ff. AEUV genannten Aspekten ist der europäische Gesetzgeber jedoch bei der Konkretisierung des Regelungsauftrags des Art. 90 AEUV frei, soweit er sich nicht in Widerspruch zu den generellen Zielen des Primärrechts setzt. Infolgedessen beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle durch 59 Vgl. auch Bieber/Maiani, S. 38 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 123; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 7. 60 Knauff, Ungeschriebenes Primärrecht, in: Müller-Graff/Schmahl/Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel. Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 127, 147; ausführlich Ludwig, Zum Verhältnis zwischen Grundrechtecharta und allgemeinen Grundsätzen – die Binnenstruktur des Artikel 6 EUV nF EuR 2011, 715, 724 ff. 61 Ähnlich Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 90 Rn. 9.

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den EuGH darauf, ob sich verkehrsbezogene Sekundärrechtsakte auf die herangezogene Rechtsgrundlage stützen lassen und ob keine Verstöße gegen sonstige Vorgaben des Primärrechts erfolgt sind. Mangels einer entwickelten Schutzpflichtendogmatik lassen sich auch aus den Grundfreiheiten und den EU-Grundrechten keine konkreten Rechtsetzungserfordernisse ableiten. Eine Rechtspflicht, im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik spezifische Maßnahmen zu ergreifen, ist daher im Regelfall nicht begründbar. Es besteht folglich eine erhebliche Diskrepanz zwischen der strikten primärrechtlichen Verpflichtung zur Durchführung der gemeinsamen Verkehrspolitik und den weiten politischen Freiräumen bei ihrer Ausgestaltung. 42 Diese weiten Gestaltungsspielräume treten besonders deutlich in der Kompetenznorm des Art. 91 Abs. 1 AEUV zu Tage. Neben den (bereits weit gefassten) Ermächtigungsgrundlagen für die Schaffung von Sekundärrechtsakten im Hinblick auf den grenzüberschreitenden Verkehr (lit. a), die Zulassung von Verkehrsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten (lit. b) und die Verkehrssicherheit (lit. c) ermächtigt lit. d der Vorschrift den europäischen Gesetzgeber zum Erlass „alle(r) sonstigen zweckdienlichen Vorschriften“. Parallel dazu können auf Grundlage von Art. 100 Abs. 2 AEUV für die fakultativ in die gemeinsame Verkehrspolitik einzubeziehenden Verkehrssektoren der Seeschifffahrt und der Luftfahrt „geeignete Vorschriften“ ohne gegenständliche Konkretisierung erlassen werden. Beide Kompetenznormen lassen jeglichen inhärenten rechtlichen Maßstab vermissen. Sie verweisen daher unmittelbar auf die Maßgeblichkeit politischer Erwägungen, die allein durch die von Art. 90 AEUV in Bezug genommenen Vertragsziele gelenkt und (in geringem Umfang) eingeschränkt werden. 43 Infolge der offenen Ausgestaltung ihrer normativen Grundlagen kann die Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in Abhängigkeit vom politischen Willen der an ihrer Ausformung beteiligten Organe (und damit vermittelt über den Rat auch der Mitgliedstaaten) temporär wie auch in den einzelnen Verkehrssektoren sehr unterschiedlich voranschreiten. Dieses hohe Maß an Gestaltungsfreiheit ermöglicht einerseits die Erarbeitung passgenauer und konsensfähiger Lösungen für auftretende Problemstellungen; sie erschwert aber andererseits die Herausbildung einer sektorübergreifenden Dogmatik des aus der gemeinsamen Verkehrspolitik erwachsenden europäischen sekundären Verkehrsrechts. Darüber hinaus kann sie eine Einigung auf Standards, die über dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“ liegen, erheblich erschweren, wie dies im Vorfeld des Erlasses der VO (EG) Nr. 1370/2007 überaus deutlich wurde.62 Nur sofern zwingende sachliche Gründe vorliegen, die aus internationalen Vereinbarungen folgende Verpflichtungen oder politischer Druck von außen ausnahmsweise ambitionierte(re) Regelungen erzwingen, entziehen sich sowohl Gegenstände als auch Fassung des EU-Verkehrssekundärrechts in der Praxis den nach wie vor ausgeprägten Beharrungskräften der Mitgliedstaaten. Insoweit hat die in Art. 91 Abs. 1, Art. 100 Abs. 2 AEUV angelegte und auf intensive Nutzung der Kompetenzgrundlagen abzielende Offenheit die über Jahrzehnte schleppende Entwicklung des Politikbereichs zumindest begünstigt. cc) Organisatorische Aspekte 44 Die gemeinsame Verkehrspolitik erfolgt grundsätzlich innerhalb der allgemeinen Organisationsstrukturen der EU. Darin schlägt sich die Bedeutung des Politikbereichs Verkehr in der Einrichtung spezialisierter (Unter-)Gremien nieder: Der Rat entscheidet im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik in seiner Zusammensetzung als Rat der Verkehrsminis-

62 Zum mühsamen Entstehungsprozess Linke/Fehling/Linke Einl. Rn. 48 ff.

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ter.63 Im Europäischen Parlament wurde ein Verkehrsausschuss eingerichtet, der der Vorbereitung der Entscheidungsfindung im Parlament dient.64 Innerhalb der Kommission wurde auf Grundlage von Art. 248 AEUV für den Verkehrsbereich ein eigenständiges Ressort eingerichtet. Der Verkehrskommissar steht der seit 2010 von anderen Politikbereichen getrennten Generaldirektion Mobilität und Verkehr vor.65 Ergänzend wurden bislang drei Europäische Agenturen mit (jeweils namensgebenden) Aufgaben im Verkehrssektor eingerichtet (→ Rn. 197 ff.): Seit 2002 bestehen die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA)66 sowie die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA).67 Im Jahre 2006 wurde die Europäische Eisenbahnagentur für sichere und kompatible Eisenbahnsysteme (ERA)68 geschaffen. Im gleichen Jahr wurde zudem die (heutige) Exekutivagentur für Innovation und Netze (INEA)69 eingerichtet, deren Mandat sich ua auf die finanzielle Durchführung und Verwaltung des Programms „Connecting Europe Facility (CEF) for Transport“ bezieht. Des Weiteren besteht eine Vielzahl beratender Ausschüsse auf Grundlage der VO (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren.70 Aufgrund seiner vielfältigen Zuständigkeiten ist insoweit das Europäische Energie- und Verkehrsforum71 besonders hervorzuheben. Die einzige primärrechtlich begründete Besonderheit des Verkehrssektors im Organisati- 45 onsgefüge der EU ist der beratende Sachverständigenausschuss für Verkehrsfragen bei der Kommission, dessen Zuständigkeiten sich allerdings nicht auf die von Art. 100 Abs. 2 AEUV erfassten Verkehrssektoren erstreckt. Seine Mitglieder werden gem. Art. 99 S. 1 AEUV von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um nationale Fachbeamte.72 Seine Funktion besteht in einer umfassenden Beratung der Kommission in Fragen der Verkehrspolitik. Allerdings wird er nach Art. 99 S. 2 AEUV nur tätig, wenn die Kommission seine Anhörung wünscht. Dies ist bereits seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall gewesen, weshalb die Ausschussmandate nicht mehr besetzt wurden, so dass dem Ausschuss anders als seinen nicht primärrechtlich vorgesehenen Pendants keinerlei praktische Bedeutung zukommt.73 In Anbetracht der Fassung des Art. 99 AEUV ist darin kein Primärrechtsverstoß zu sehen. dd) EU-Maßnahmen Zentrale Rechtsgrundlage für den Erlass von Sekundärrechtsakten im Rahmen der ge- 46 meinsamen Verkehrspolitik ist Art. 91 Abs. 1 AEUV. Für den Bereich der Luftfahrt und 63 S. Art. 1 iVm Nr. 7 des Anhangs des Beschlusses des Rates zur Festsetzung der Liste der Zusammensetzungen des Rates, die zu den in Art. 16 Abs. 6 UAbs. 2 und 3 des Vertrags über die Europäische Union genannten Zusammensetzungen hinzukommen, ABl. 2009 L 315/46; vgl. auch Schwarze/Stadler EUKommentar (3. Aufl. 2012), AEUV Art. 91 Rn. 4 ff. 64 http://www.europarl.europa.eu/committees/de/TRAN/home.html. 65 http://ec.europa.eu/transport/index_en.htm. 66 http://www.emsa.europa.eu. 67 http://www.easa.europa.eu. 68 http://www.era.europa.eu. 69 https://ec.europa.eu/inea/. 70 ABl. L 55 v. 28.2.2011, 13. 71 Beschluss 2001/546/EG der Kommission zur Einrichtung eines beratenden Ausschusses mit der Bezeichnung „Europäisches Energie- und Verkehrsforum“, ABl. L 195 v. 19.7.2001, 58. 72 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 99 Rn. 29; Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 99 Rn. 1. 73 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 99 Rn. 1; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 99 Rn. 3; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 99 Rn. 2.

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§ 6 Transportrecht der Seeschifffahrt enthält Art. 100 Abs. 2 AEUV eine ungeachtet der unterschiedlichen Fassung der Vorschrift entsprechende Regelung.74 Hinzu treten Handlungsmöglichkeiten, die sich aus allgemeinen Vorschriften oder Grundsätzen ergeben. (1) Kompetenzen

47 Nach Art. 4 Abs. 2 lit. g AEUV unterfällt der gesamte Bereich des Verkehrs der zwischen Mitgliedstaaten und EU geteilten Zuständigkeit. Die in Art. 100 AEUV angelegte Differenzierung(smöglichkeit) zwischen den Verkehrsträgern spielt insoweit keine Rolle, da es für die Zuordnung zur geteilten Zuständigkeit nach Art. 4 Abs. 1 AEUV allein darauf ankommt, dass der EU in den Verträgen überhaupt eine Zuständigkeit übertragen wurde. 48 Die Zuordnung des Verkehrs zur geteilten Zuständigkeit ist in Anbetracht der sowohl grenzüberschreitenden wie auch örtlich begrenzten Ausprägungen des Verkehrs sachgerecht, da sie sowohl der EU als auch den Mitgliedstaaten notwendige Gestaltungsspielräume eröffnet. Aus ihr folgt zugleich eine Geltung des Subsidiaritätsprinzips gem. Art. 5 Abs. 3 EUV.75 Dies ist insbesondere, nicht aber ausschließlich für Maßnahmen bedeutsam, die auf Art. 91 Abs. 1 lit. c und d AEUV gestützt werden.76 Seine kompetenzausübungsbegrenzenden Wirkungen sind jedoch (auch) im Verkehrssektor äußerst gering.77 Da nicht nur die einzelne Verkehrsleistung als solche und ihre Bedeutung für die EU, sondern auch der Verkehrsmarkt in den Blick zu nehmen ist, erfüllen nicht nur grenzüberschreitende oder sonst bedeutsame Verkehre die Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips, sondern grundsätzlich auch örtlich begrenzte Verkehre, denen in ihrer Gesamtheit ebenfalls eine hohe wirtschaftliche Bedeutung zukommt, die ein Tätigwerden der EU zu rechtfertigen vermag. Anderes gilt allenfalls für atypische oder hoch spezialisierte Verkehre, die kleinräumig durchgeführt werden und von geringem Interesse für Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten sind, wie etwa Bürgerbusse.78 Für die in Art. 100 AEUV genannten Verkehrsarten trifft dies jedoch regelmäßig nicht zu, so dass das Subsidiaritätsprinzip dem Erlass von EU-Sekundärrecht und damit einer rechtlichen Ausformung der gemeinsamen Verkehrspolitik nicht entgegensteht. (2) Verfahren und Art der Rechtsakte 49 Der Erlass von Sekundärrechtsakten im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik erfolgt nach den übereinstimmenden Vorgaben in Art. 91 Abs. 1, 100 Abs. 2 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen. Die Anhörungserfordernisse tragen dem Umstand Rechnung, dass Regelungen im Verkehrssektor häufig wirtschafts-, sozial- und regionalpolitische Bedeutung haben. Erforderlich ist stets ein Vorschlag der Kommission, Art. 17 Abs. 2 EUV, Art. 293 AEUV. Insbesondere bei dessen Erarbeitung kommt eine Anhörung des beratenden Sachverständigenausschusses nach Art. 99 S. 2 AEUV in Betracht; darüber hinaus ist dieser in das Gesetzgebungsverfahren 74 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 1. 75 Ausführlich im vorliegenden Kontext Mehl, Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf dem Gebiet der Europäischen Verkehrspolitik. Zugleich eine Studie über die gemeinschaftliche Rechtsetzungsbefugnis im Verkehrssektor, 2004, insbes. ab S. 123; s. auch Schröder EurUP 2014, 252, 256. 76 Hailbronner/Wilms/Jochum, Art. 71 EGV Rn. 14 f.; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 5; zu weitgehend ist aber die Ablehnung seiner Geltung für auf Art. 91 Abs. 1 lit. a, b AEUV gestützte Sekundärrechtsakte bei Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 9. 77 Ähnlich Frenz Handbuch Europarecht, Bd. 6, Rn. 3177; tendenziell nimmt sie nach Einschätzung von Schwarze/Stadler EU-Kommentar (3. Aufl. 2012), AEUV Art. 91 Rn. 14, sogar noch ab. 78 Dazu Schaller, Kommunale Verkehrskonzepte. Wege aus dem Infarkt der Städte und Gemeinden, 1993, S. 111; Knauff, Bürgerbusse im Lichte des Personenbeförderungsrechts, Verkehr und Technik 2015, 29 ff.

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nicht eingebunden. Nicht ausgeschlossen ist durch die Anordnung der Durchführung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens in Art. 91 Abs. 1, 100 Abs. 2 AEUV die Schaffung von Normen, die die Kommission zur delegierten Rechtsetzung gem. Art. 290 AEUV berechtigen, die sich jedoch auf untergeordnete Aspekte und Konkretisierungen beschränken muss. Mangels entsprechender primärrechtlicher Vorgaben obliegt die Wahl der Art des zu er- 50 lassenden Rechtsakts iSv Art. 288 AEUV gem. Art. 296 UAbs. 1 AEUV den am Rechtsetzungsverfahren beteiligten Akteuren.79 Der Kommission kommt dabei wegen ihres Vorschlagmonopols eine besondere Gestaltungsmacht zu. Praktisch sind im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik Verordnungen und Richtlinien relevant. In neuerer Zeit finden nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung von Umsetzungsdefiziten zunehmend erstere Verwendung. Der in Art. 296 UAbs. 1 AEUV in Bezug genommene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Art. 5 Abs. 4 EUV, steht dem wegen der höheren Effektivität von Verordnungen, die in ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit und ihrer schnell(er)en Wirksamkeit wurzeln, nicht entgegen. Der Unionsgesetzgeber bemüht sich zudem im Verkehrsbereich, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz materiell dadurch Rechnung zu tragen, dass in Verordnungen mitgliedstaatliche Ausgestaltungsspielräume verbleiben. Ob ein derartiger Regelungsansatz jedoch der Regelungsform wie auch dem Regelungsbedarf hinreichend Rechnung trägt, erscheint fraglich. (3) Mögliche Regelungsinhalte Art. 91 Abs. 1 AEUV nimmt für die in Art. 100 Abs. 1 AEUV genannten Verkehrsarten 51 eine ansatzweise Konkretisierung der möglichen Regelungsgegenstände von verkehrsbezogenem Sekundärrecht vor. Art. 100 Abs. 2 AEUV verzichtet für den Luftverkehr und die Seeschifffahrt auf entsprechende Vorgaben. In der Sache ergeben sich wegen der in beiden Vorschriften enthaltenen Regelungsoffenheit (→ Rn. 42) jedoch keine relevanten Abweichungen.80 Sie bilden zugleich im Verkehrssektor die maßgeblichen Kompetenznormen. Art. 91 Abs. 1 lit. a AEUV ermächtigt den europäischen Gesetzgeber im Interesse der Ver- 52 wirklichung der Dienstleistungsfreiheit,81 „für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gemeinsame Regeln aufzustellen“. Erfasst werden im Rahmen des Anwendungsbereichs der Vorschrift grenzüberschreitende Verkehre aller Art, die unter Berührung des Staatsgebietes mindestens eines EU-Mitgliedstaates durchgeführt werden. Folglich kann die Vorschrift als Rechtsgrundlage für den Erlass von Sekundärrecht sowohl für die Personen- als auch für die Güterbeförderung dienen. Sie betrifft zudem den innerunionalen Verkehr ebenso wie denjenigen mit Drittstaaten.82 Im letzteren Falle wirken sich Sekundärrechtsakte typischerweise auch auf Personen und Unternehmen aus diesen Staaten aus. Hinsichtlich dieses Gegenstandes kommt der EU eine umfassende Regelungsbefugnis zu, so dass Sekundärrechtsakte über den Marktzugang (insbesondere Kontingentierungen), sicherheits- und umweltbezogene Mindestanforderungen an die im grenzüberschreitenden Verkehr zu verwendenden Fahrzeuge oder die notwendige Qualifikation der Fahrer auf Art. 91 Abs. 1 lit. a AEUV gestützt werden können. 79 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 2; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 6. 80 Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 35. 81 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/ Kotthaus AEUV Art. 91 Rn. 15; Lenz/Borchardt/ Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 91 Rn. 8; Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 8. 82 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 71 EGV Rn. 7 f.; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 28.

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Die Vorschrift bringt deutlicher als die anderen Varianten des Art. 91 Abs. 1 AEUV und als Art. 100 Abs. 2 AEUV die europäische Relevanz des Verkehrs zum Ausdruck: Gerade der die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten überschreitende Verkehr ist für die Verwirklichung des Binnenmarktes und der Grundfreiheiten und damit für das wirtschaftliche, soziale und politische Zusammenwachsen der EU unerlässlich; der Verkehr über die Außengrenzen hinweg verbindet den Binnenmarkt mit anderen Märkten und ermöglicht auch insoweit Handel und wirtschaftliches Wachstum. Eine EU-weite Rechtsharmonisierung trägt dazu bei, Reibungsverluste infolge unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Vorgaben zu verhindern und Verkehrsbehinderungen durch protektionistische Regelungsansätze in einzelnen Mitgliedstaaten zu vermeiden. Nicht ausgeschlossen werden durch Art. 91 Abs. 1 lit. a AEUV allerdings von der EU gesetzte „binnenmarktprotektionistische“ Regelungen, die die Möglichkeiten der Verkehrsdurchführung mit EU-Bezug seitens Drittstaatsangehöriger erheblich erschweren. 53 Keine grenzüberschreitende Verkehrsleistung, wohl aber einen grenzüberschreitenden Sachverhalt setzt Art. 91 Abs. 1 lit. b AEUV voraus. Danach legt die EU im Wege der Sekundärrechtsetzung „für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind, die Bedingungen [fest]“. Die Vorschrift bildet zunächst eine verkehrsspezifische Kompetenzgrundlage hinsichtlich der Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV.83 Darüber hinaus dient sie aber auch der Realisierung der Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, da das Merkmal der fehlenden Ansässigkeit im betreffenden Mitgliedstaat keine Ausschlusswirkung im Hinblick auf das Bestehen von Zweigniederlassungen entfaltet. Art. 91 Abs. 1 lit. b AEUV ermächtigt zum Erlass von harmonisierendem Sekundärrecht, das dem Abbau von mitgliedstaatlichen Hindernissen für die Erbringung von Verkehrsleistungen durch Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten mittels Vereinheitlichung der Zulassungserfordernisse dient. Als solche kommen insbesondere Kriterien der fachlichen Eignung und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in Betracht. Eine umfassende Marktöffnung fordert Art. 91 Abs. 1 lit. b AEUV allerdings nicht.84 Auch das europäische Sekundärrecht kann daher Restriktionen vorsehen, wobei allerdings die marktöffnende Tendenz der Grundfreiheiten unbeschadet Art. 58 Abs. 1 AEUV nicht unterlaufen werden darf. 54 Des Weiteren kann die EU auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV „Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit erlassen“. Insoweit fehlt es an jeglicher Notwendigkeit eines unmittelbaren Bezugs zu Grenzüberschreitungen oder zum Binnenmarkt.85 Die Gefährlichkeit des Verkehrs besteht unabhängig davon und ist als solche Gegenstand der gemeinsamen Verkehrspolitik. Allerdings sind unterschiedliche Verkehrssicherheitsanforderungen in den Mitgliedstaaten geeignet, die Freiheit des Verkehrs zu behindern, so dass sich eine diesbezügliche Harmonisierung zumindest mittelbar auch positiv auf die Verwirklichung des Binnenmarktes auswirkt.86 Eine solche Harmonisierung kann auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV nur mit dem Ziel der Senkung der Zahl der Unfälle und der Vermeidung der damit verbundenen Folgewirkungen erfolgen. Dies gilt auch dann, wenn die Durchführung von Verkehrsleistungen dadurch beschränkt oder weniger 83 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 28; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 6. 84 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 91 Rn. 20; Lenz/Borchardt/ Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 91 Rn. 11; Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 71 EGV Rn. 11. 85 Callies/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 76 f.; Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 91 Rn. 13 ff.; Hailbronner/Wilms/Jochum, Art. 71 EGV Rn. 13; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 6; die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips daher hervorhebend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 91 Rn. 25. 86 EuGH 28.11.1978 – C-97/78, Slg 1978, 2311 – Schumalla; 9.9.2004 – C-184/02 und C-223/02, Slg 2004, I-7789, Rn. 40 – Spanien und Finnland/Parlament und Rat.

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attraktiv gemacht wird: Nicht der Verkehr, sondern dessen Sicherheit soll auf Grundlage der Norm verbessert werden. Ein „race to the bottom“ im Interesse einer Verkehrserleichterung um jeden Preis lässt Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV nicht zu. Dies gilt umso mehr, als es sich bei der Vorschrift nicht allein um eine Kompetenzermächtigung handelt, deren Nutzung im Ermessen des europäischen Gesetzgebers steht. Vielmehr lässt sich ihr im Zusammenhang mit der einführenden Formulierung („werden … erlassen“) eine Pflicht zur Ergreifung verkehrssicherheitssteigernder Maßnahmen entnehmen. Welche Maßnahmen dies im Einzelnen sind und welches Niveau die Verkehrssicherheit in der EU erreichen soll, wird primärrechtlich allerdings nicht vorgegeben. Insoweit verbleibt es bei der Gestaltungsfreiheit des Rechtsetzers. In Betracht kommen im Wesentlichen technische und organisatorische Maßnahmen.87 Zudem ist Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV im Zusammenhang88 mit den übrigen verkehrsbezogenen Kompetenzgrundlagen zu sehen: Das „sicherste“ Ausbleiben von Verkehr kann kein Ziel der gemeinsamen Verkehrspolitik sein. Vielmehr zielt Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV darauf ab, den für erforderlich gehaltenen Verkehr möglichst ungefährlich auszugestalten. Jenseits dieser Bereiche ermächtigt Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV die EU, „alle sonstigen 55 zweckdienlichen Vorschriften [zu] erlassen“. Gleichsinnig gestattet Art. 100 Abs. 2 S. 1 AEUV die Schaffung „geeignete[r] Vorschriften“, die zugleich die in Art. 91 Abs. 1 lit. a–c AEUV genannten Aspekte umfassen können.89 Infolgedessen ist der gesamte gegenständlich von Titel VI des AEUV erfasste Verkehrssektor in der EU (→ Rn. 29 ff.) einer umfassenden Gestaltung durch die gemeinsame Verkehrspolitik zugänglich, die letztlich ungeachtet der grundsätzlichen Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV, auf eine Generalermächtigung gestützt wird,90 die eine trennscharfe Abgrenzung zwischen den konkreteren Ermächtigungsgrundlagen des Art. 91 Abs. 1 lit. a–c AEUV als nicht zwingend erforderlich erscheinen lässt.91 Verkehrswirtschaft und Verkehrssicherheit können letztlich ebenso wie soziale und umweltbezogene Fragen des Verkehrs europäisch gestaltet werden. Mit den Bezugnahmen auf die Zweckdienlichkeit bzw. Eignung verweisen Art. 91 Abs. 1 lit. d, 100 Abs. 2 S. 1 AEUV auf im Kern politische Maßstäbe, die allerdings den Zielen der gemeinsamen Verkehrspolitik Rechnung tragen müssen.92 Daher lässt sich dem in Art. 91 Abs. 1 AEUV enthaltenen Regelungsauftrag in Bezug auf lit. d anders als im Hinblick auf lit. a–c allenfalls eine Appellfunktion entnehmen. Die Formulierung des Art. 100 Abs. 2 S. 1 AEUV („können … erlassen“) bringt das Ermessen des europäischen Gesetzgebers weitaus deutlicher zum Ausdruck, ohne materiell grundsätzlich abweichende rechtliche Maßstäbe aufzustellen. Der Verpflichtung zur Entwicklung einer gemeinsamen Verkehrspolitik in den von Art. 100 Abs. 1 AEUV erfassten Bereichen (→ Rn. 29 ff.) wird bereits dadurch Genüge getan, dass die zumindest gegenständlich bestimmbaren Regelungsaufträge aus Art. 91 Abs. 1 lit. a–c vom europäischen Gesetzgeber aufgegriffen werden. Eine Verpflichtung zur Sekundärrechtsetzung jenseits dessen lässt sich Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV mangels hinreichender Bestimmt-

87 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 70. 88 Nicht notwendig ist nach zutreffender Auffassung aber, dass in Bereichen, in denen der Verkehrssicherheit dienende Regelungen geschaffen werden sollen, bereits sonstiges verkehrsbezogenes Sekundärrecht vorliegen muss; zutreffend Albrecht, Europa und der Straßenverkehr nach dem Lissabon-Vertrag, DAR 2010, 185 (186 f.). 89 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 100 Rn. 15. 90 Vgl. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 91 Rn. 28; Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 91 Rn. 16. 91 Dahin gehend auch Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 4. 92 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 71 EGV Rn. 15 f.; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 6.

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§ 6 Transportrecht heit93 ungeachtet der gemeinsamen zwingenden Eingangsformulierung der einzelnen Ermächtigungen des Art. 91 Abs. 1 AEUV nicht entnehmen. In der Praxis lässt sich korrespondierend damit eine vielfältige, den jeweiligen politischen Gegebenheiten entsprechende Nutzung des Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV als Grundlage für die Sekundärrechtsetzung in den erfassten Verkehrsbereichen feststellen.94 (4) Grenzen der Gestaltungsfreiheit

56 Der Erlass der auf Art. 91 Abs. 1 AEUV gestützten Sekundärrechtsakte muss stets „unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Verkehrs“ erfolgen. Art. 100 Abs. 2 S. 1 AEUV enthält keine parallele Formulierung; allerdings liegt der Vorschrift eine entsprechende Wertung zugrunde, dass sie gerade (nur) zum Erlass „geeignete[r] Vorschriften“ ermächtigt. Verkehrsbezogene Regelungen können aber nur dann als geeignet angesehen werden, wenn sie den Besonderheiten des Verkehrssektors Rechnung tragen, so dass in der Sache auch diesbezüglich im Primärrecht kein regulatorischer Unterschied zwischen dem Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr einerseits und der Seeschiff- und der Luftfahrt andererseits besteht. Als „Besonderheiten des Verkehrs“ sind vor allem seine spezifischen Funktionen in tatsächlicher und (europa)rechtlicher Hinsicht zu qualifizieren (→ Rn. 9 ff., 21 ff.).95 Deren Erfüllung soll durch Sekundärrechtsakte im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik nicht in Frage gestellt werden.96 Punktuell spiegelt sich dieser Ansatz auch bereits im Primärrecht wider (Art. 93, 94 AEUV). Die Wahrung der Leistungsfähigkeit des Verkehrs in der EU bildet insoweit einen wesentlichen bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik zu berücksichtigenden Aspekt. Dieser steht zwar – auch strukturellen97 – Veränderungen des Verkehrssektors in den Mitgliedstaaten durch europäische Rechtsetzung nicht entgegen, wie auch die Formulierung als bloßes Berücksichtigungsgebot in Art. 91 Abs. 1 AEUV verdeutlicht. Allerdings sind verkehrspolitische Maßnahmen der EU so zu gestalten, dass die Verkehrsdurchführung als solche (systembezogen und damit grundsätzlich verkehrsmittelunabhängig) zu jedem Zeitpunkt sichergestellt ist.98 Ein geeignetes Mittel hierfür kann insbesondere die Festlegung langer Übergangsfristen sein,99 um einen möglichst störungsfreien Wandel der jeweils betroffenen Verkehrssektoren zu ermöglichen. Die Bezugnahme auf die Besonderheiten des Verkehrs bezieht aber auch seine Folgewirkungen insbesondere im Hinblick auf die Umwelt ein.100 Infolgedessen steht Art. 91 Abs. 1 AEUV auch dem Erlass von Sekundärrecht nicht entgegen, das sich negativ auf (bestimmte Arten von) Verkehrsleistungen auswirken kann. Letztlich ist die Bezugnahme auf die Besonderheiten des Verkehrs daher auch unabhängig davon, dass es sich um ein bloßes Berücksichtigungsgebot handelt, rechtlich ambivalent. Ihre Bedeutung ist insgesamt gering. Innerhalb des durch Art. 92 ff. AEUV vorgegebenen Rahmens und unter Beachtung des sonstigen Primärrechts kann die gemeinsame Verkehrspolitik daher weitgehend frei gestaltet werden, ohne dass dies mit dem normativen Gebot der Berücksichtigung der Besonderheiten des Verkehrs in Konflikt geraten würde. Dessen Beachtung ist al93 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 10. 94 S. insoweit den Überblick bei Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 83 ff. 95 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 4; dahin gehend auch Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 7; ausführlich von der Groeben/Schwarze/Hatje/ Fehling Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 12 ff. 96 Vgl. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 91 Rn. 13. 97 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 7. 98 Dahin gehend iErg auch Otto, Die öffentliche Finanzierung und die Genehmigung des ÖPNV (ÖSPV) im Binnenmarkt, 2003, S. 46. 99 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 7. 100 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 6; Thum, Der kombinierte Verkehr im Recht der EU, 1998, S. 124.

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lerdings im Interesse der Funktionsfähigkeit der europäischen Gesellschaften zugleich ein Gebot der politischen Vernunft, so dass sich die geringe normative Steuerungskraft kaum negativ niederschlagen kann. Etwas konkretere Anforderungen an die Sekundärrechtsetzung lassen sich Art. 91 Abs. 2 57 AEUV entnehmen.101 Danach wird bei der Sekundärrechtsetzung „den Fällen Rechnung getragen, in denen die Anwendung den Lebensstandard und die Beschäftigungslage in bestimmten Regionen sowie den Betrieb der Verkehrseinrichtungen ernstlich beeinträchtigen könnte“. In Art. 100 Abs. 2 AEUV ist keine entsprechende Regelung enthalten. Die diesbezüglich erfassten Verkehrsarten werfen allerdings in Bezug auf die in Art. 91 Abs. 2 AEUV angesprochenen Aspekte nur in geringem Umfang Probleme auf, für deren Lösung es primärrechtlicher Vorgaben nicht bedarf. Soweit Art. 91 Abs. 2 AEUV auf den Betrieb der Verkehrseinrichtungen Bezug nimmt, handelt es sich um eine Konkretisierung des in Art. 91 Abs. 1 AEUV enthaltenen Gebots der Berücksichtigung der Besonderheiten des Verkehrs (→ Rn. 56). Unter den Begriff der Verkehrseinrichtungen sind dabei insbesondere Verkehrsträger und -infrastrukturen,102 aber auch komplexe Verkehrssysteme des großstädtischen ÖPNV zu fassen. Demgegenüber kommt der weiteren Bezugnahme auf den Lebensstandard und die Beschäftigungslage in bestimmten Regionen eine eigene normative Bedeutung zu. Sie zeigt zugleich die enge Verbindung der gemeinsamen Verkehrspolitik zur Regional-,103 Wirtschafts- und Sozialpolitik auf. Indem Verkehr häufig Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität ist, können sich verkehrspolitische Maßnahmen sowohl positiv als auch negativ auf die ökonomische Entwicklung auswirken. Dies gilt insbesondere für Regionen in Randbereichen. Deren ohnehin oft schlechtere Wachstumschancen sollen durch verkehrspolitische Maßnahmen der EU nicht noch zusätzlich belastet werden. Diese Wertung hat zugleich in den Art. 96 Abs. 2 S. 1, Art. 98 AEUV primärrechtlichen Niederschlag gefunden. Allerdings steht Art. 91 Abs. 2 AEUV nicht jeder negativen Einwirkung auf die regionale Wirtschaftsentwicklung oder den Betrieb von Verkehrseinrichtungen entgegen, sondern nur solchen von potenziell erheblichem Gewicht. Die in der Norm enthaltene Formulierung („ernstlich beeinträchtigen könnte“) ist gleichwohl für politische Wertungen offen und stellt auch in Anbetracht des Prognosecharakters der zu treffenden Einschätzung keinen strikten rechtlichen Maßstab auf, so dass die Gestaltungsspielräume des europäischen Gesetzgebers im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik durch Art. 91 Abs. 2 AEUV nicht wesentlich beschränkt werden.104 Um die in der Vorschrift genannten Auswirkungen zu vermeiden, können Sekundärrechtsakte im Anwendungsbereich des Art. 91 Abs. 1 AEUV insbesondere allgemeine Ausnahmevorschriften für spezifische regionale Verkehrssituationen oder einzelfallbezogene Befreiungsmöglichkeiten vorsehen, soweit dies erforderlich ist. Ein generelles Neugestaltungs- und insbesondere Liberalisierungshindernis enthält Art. 91 Abs. 2 AEUV dagegen nicht.105 Für den besonderen Regelungsgegenstand der Beförderungsentgelte und -bedingungen legt 58 Art. 94 AEUV fest, dass jede im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik getroffene

101 Die wenig klare Vorschrift geht auf eine verfahrensrechtliche Sonderregelung in Art. 71 Abs. 2 EGV zurück, welche auf die Grundsätze der Verkehrsordnung bezogen war. Mit dem Vertrag von Lissabon hat die Regelung ihren Charakter gänzlich gewandelt. Frenz Handbuch Europarecht, Bd. 6, Rn. 3181 f., sieht eine spezifische Nähe zu Art. 14 AEUV. 102 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 7. 103 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 7. 104 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 13; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 8; Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 5, folgert aus der Formulierung des Art. 91 Abs. 2 AEUV die Notwendigkeit einer Interessenabwägung. 105 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 9.

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§ 6 Transportrecht Maßnahme,106 und damit nach heute unumstrittener Auffassung sowohl im Hinblick auf die Personen wie auch auf die Güterbeförderung,107 „der wirtschaftlichen Lage der Verkehrsunternehmen Rechnung zu tragen“ hat. Diese Vorgabe dient der Wahrung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen und damit zugleich der Funktionsfähigkeit des Verkehrssystems: Die gemeinsame Verkehrspolitik, die insbesondere auch „teure“ sozial- und umweltpolitische Ziele verfolgen kann, soll nach dieser primärrechtlichen Entscheidung nicht gleichsam zulasten der – privaten oder öffentlichen – Verkehrsunternehmen erfolgen. Diese müssen in der Lage sein, ihre Ausgaben durch die Einnahmen zu decken.108 Sie können sich jedoch nicht auf die Vorschrift berufen, da es ihr an der für eine unmittelbare Anwendbarkeit erforderlichen Bestimmtheit fehlt.109 Im Zuge der fortschreitenden Liberalisierung des Verkehrssektors hat Art. 94 AEUV seine praktische Relevanz weitgehend verloren. Beförderungsentgelte und -bedingungen werden heute grundsätzlich nicht (mehr) normativ vorgegeben. An die Stelle der vormals autonom mitgliedstaatlichen, später europarechtlich überformten Vorgaben über Tarif-, Bedienungs- und sonstigen verkehrsdurchführungsbezogenen Pflichten ist weithin eine marktmäßige Leistungserbringung oder eine Vereinbarung derartiger Pflichten zwischen den zuständigen Behörden und dem Verkehrsunternehmen im Zuge von Zulassungsentscheidungen getreten. Nur mittelbare Einwirkungen auf die Beförderungsentgelte und -bedingungen, die auch aus nicht verkehrsbezogenen Rechtsakten resultieren können, unterfallen Art. 94 AEUV nicht.110 Auch innerhalb ihres Anwendungsbereichs ist die Steuerungskraft der Vorschrift gering. Zwar muss der europäische Gesetzgeber den wirtschaftlichen Auswirkungen einer beabsichtigten Maßnahme auf die Verkehrsunternehmen „Rechnung … tragen“; unter der Voraussetzung der Wahrung der Verhältnismäßigkeit ist die Primärrechtskonformität jedoch gegeben.111 Art. 94 AEUV enthält diesbezüglich nicht mehr als ein Berücksichtigungsgebot.112 Insbesondere lässt sich der Vorschrift kein Verschlechterungsverbot oder gar ein Bestandsschutz113 entnehmen. Die Gestaltungsfreiheit des europäischen Gesetzgebers schränkt Art. 94 AEUV daher nur marginal ein. Ungeachtet dessen wird die Ratio der Vorschrift notwendig im Rahmen einer Verkehrspolitik verwirklicht, die auf eine dauerhafte Leistungsfähigkeit des Verkehrssektors abzielt. (5) Verkehrsaußenpolitik

59 Während die internen Zuständigkeiten der EU im Verkehrssektor durch Art. 91, 100 AEUV festgelegt werden, enthält das Primärrecht keine Vorgaben über die Verkehrsaußenpolitik. In Anbetracht der häufig auch die EU-Außengrenzen überschreitenden Verkehrsvorgänge ist eine diesbezügliche Zuständigkeit der EU jedoch sachlich unverzichtbar. Es verwundert daher nicht, dass die heute in Art. 216 AEUV normierte Rechtsprechung des EuGH, wonach die Außenkompetenz der EU in den Bereichen der geteilten Zustän106 Nach Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 94 Rn. 1; Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 94 Rn. 1, richtet sich die Vorschrift außer an die EU auch an die Mitgliedstaaten. 107 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 74 EGV Rn. 3; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/ Kotthaus AEUV Art. 94 Rn. 5. 108 Vgl. auch von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 94 Rn. 11. 109 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 94 Rn. 1; Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 94 Rn. 1; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 94 Rn. 2. 110 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 94 Rn. 4; grds. für ein weites Verständnis Streinz/ Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 94 Rn. 4. 111 EuGH 9.9.2004 – verb. Rs. C-184/02 und C-223/02, Slg 2004, I-7789, Rn. 68 – Spanien und Finnland/Europäisches Parlament und Rat. 112 Vgl. Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 94 Rn. 2; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 94 Rn. 1. 113 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 94 Rn. 5.

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digkeit aus der Wahrnehmung von primärrechtlich eingeräumten Binnenkompetenzen folgt, ihren Ausgangspunkt in einer verkehrspolitischen Konstellation nahm.114 Infolge ihrer intensiven Sekundärrechtsetzung kommen der EU heute im Verkehrssektor daher auch weitgehende Befugnisse im Hinblick auf die Regelung von verkehrsspezifischen Fragen im Verhältnis zu Drittstaaten zu.115 Daneben ist eine autonome Verkehrsaußenpolitik der EU-Mitgliedstaaten nur noch in begrenztem Umfang möglich.116 Der Abschluss gemischter Abkommen unter Einbeziehung von EU und Mitgliedstaaten ist möglich und zugleich geboten, wenn die betreffende Regelungsmaterie nicht ausschließlich der EU zugeordnet ist.117 Folge dieser impliziten Kompetenzzuweisung ist die Existenz einer Vielzahl bi- und multi- 60 lateraler völkerrechtlicher Verträge im Verkehrsbereich unter Beteiligung der EU.118 Dabei handelt es sich im Wesentlichen einerseits um regional begründete Verträge mit Nachbarstaaten und Beitrittskandidaten119 mit vielfältigen Anwendungsbereichen und regionalem Fokus, andererseits um der globalen Dimension des Verkehrs Rechnung tragende Abkommen.120 Diese Verträge zielen regelmäßig auf eine Erleichterung des internationalen Verkehrs, insbesondere durch den Abbau von unmittelbaren Verkehrshemmnissen, aber auch durch die Vereinbarung einheitlicher Sicherheits-, Umwelt- und Sozial(mindest)standards ab. Sie sind grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar, sondern bedürfen der Transformation in EU-(Sekundär-)Recht. Perspektivisch richtet sich die EU-Verkehrsaußenpolitik auf eine Vertiefung der Koopera- 61 tion mit benachbarten Staaten und Regionen.121 Die Beseitigung von Verkehrshindernissen dient dabei vor allem der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung aller Beteiligten. Darüber hinaus fördert sie politisch das Zusammenwachsen Europas auch über die EU-Außengrenzen hinaus und ist zugleich ein Instrument der Heranführung von Beitrittskandidaten an die EU. Im Bereich der Luftfahrt strebt die EU eine weltweite Liberalisierung der Märkte bei gleichzeitiger Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs an.122 ee) Mitgliedstaatliche Maßnahmen Der Verkehrssektor war und ist in allen EU-Mitgliedstaaten stets Gegenstand spezifischer, 62 von anderen Wirtschaftssektoren abweichender politischer Gestaltung. Nicht selten wiesen die Verkehrsmärkte ein hohes Maß an staatlicher Beeinflussung auf. Mittel hierfür 114 EuGH 31.3.1971 – Rs. 22/70, Slg 1971, 263 – AETR; zu den relevanten Entscheidungen im Überblick Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 56 ff.; zu den Konsequenzen von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 41 ff. 115 Vgl. EuGH 5.12.2017 – C-600/14, ECLI:EU:C:2017:935 – Deutschland/Rat; zum Verhältnis von Entwicklungszusammenarbeit und Verkehrspolitik aus kompetenzrechtlicher Sicht EuGH 11.6.2014 – C-377/12, ECLI:EU:C:2014:1903 – Kommission/Rat. 116 S. diesbezüglich auch VO (EG) Nr. 847/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Aushandlung und Durchführung von Luftverkehrsabkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten, ABl. L 157 v. 30.4.2004, 7; vorangehend EuGH 5.11.2002 – C-471/98, Slg 2002, I-9681, Rn. 66 ff. – Open skies; 5.11.2002 – C-476/98, Slg 2002, I-9855, Rn. 81 ff. – Kommission/Deutschland; dazu Bentzien, Die Urteile des EuGH vom 5. November 2002 betreffend die Zuständigkeit der EG für Luftverkehrsabkommen mit Drittstaaten, ZLW 52 (2003), 153 ff.; Thym, Der Binnenmarkt und die „Freiheit der Lüfte“ EuR 2003, 277 ff. 117 Dazu Schwarze/Stadler EU-Kommentar (3. Aufl. 2012) AEUV Art. 90 Rn. 12 ff.; zu Kap. 8 des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Singapur EuGH 16.5.2017 Gutachten 2/15. 118 Im Einzelnen s. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 77 ff. 119 Dazu im Überblick Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 28 ff. 120 Für den Luftverkehr vgl. Bentzien, Die Luftverkehrsaußenpolitik der EU nach den „Open Skies“-Urteilen des EuGH v. 5.11.2002, ZLW 58 (2009), 566. 121 Vgl. KOM(2007) 160 endg.; KOM(2009) 301 endg.; KOM(2011) 415 endg. 122 KOM(2005) 79 endg., 2 f.

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§ 6 Transportrecht war neben restriktiven rechtlichen Vorgaben ein unmittelbares wirtschaftliches Engagement der Staaten. Zahlreiche Verkehrsunternehmen (insbesondere ÖPNV-, Eisenbahnund Fluggesellschaften) befinden sich bis heute in staatlicher Trägerschaft und dienen insoweit zumindest mittelbar auch als Instrument zur Erreichung politischer Zielsetzungen. Diese Besonderheit der mitgliedstaatlichen Verkehrsmärkte schlägt sich auch in der Fassung des Verkehrstitels im AEUV nieder. Dessen weitaus meiste Vorschriften beziehen sich auf die Zulässigkeit bestimmter mitgliedstaatlicher Maßnahmen. Der regulative Grundansatz zielt dabei in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten und den Wettbewerbsregeln auf eine Verkehrsvereinfachung ab. Allerdings fällt das primärrechtliche Liberalisierungsprogramm deutlich weniger ambitioniert aus, wie auch Art. 58 Abs. 1 AEUV verdeutlicht, wonach die Dienstleistungsfreiheit im Verkehrssektor gemäß den Bestimmungen des Verkehrstitels und damit jenseits der wenigen darin enthaltenen Vorgaben weithin durch Sekundärrecht auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 AEUV verwirklicht wird, nicht aber durch unmittelbare Anwendung der Art. 56 ff. AEUV. (1) Spezielle Diskriminierungsverbote

63 Die Schlechterstellung von EU-ausländischen gegenüber inländischen Verkehrsunternehmen durch die EU-Mitgliedstaaten stellt eine besondere Gefahr für die Öffnung der Verkehrsmärkte dar. Der Verkehrstitel enthält daher mit den Art. 92, 95 AEUV zwei Vorschriften, die typische Diskriminierungstatbestände zum Gegenstand haben. (a) Stillhaltegebot 64 Um gleichsam die Ausgangssituation für die Entwicklung einer gemeinsamen Verkehrspolitik einzufrieren,123 enthält der heutige Art. 92 AEUV ein Stillhaltegebot,124 das zugleich ein partielles Verschlechterungsverbot beinhaltet. Die Vorschrift legt fest, dass mit dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags am 1.1.1958 bestehende nationale Vorschriften nicht in einer Weise geändert werden dürfen, die sich negativ auf Verkehrsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten im Vergleich zu inländischen Verkehrsunternehmen auswirken. Etwas anderes gilt nur für den praktisch nicht relevanten125 Fall einer einstimmigen Entscheidung des Rates, die konstitutiv wirkt.126 Für später beitretende EU-Mitgliedstaaten gilt diese Regelung im Hinblick auf den Zeitpunkt ihres Beitritts. Die Vorschrift gilt in Anbetracht der expliziten Bezugnahme auf Sekundärrechtsakte, die ihre Rechtsgrundlage in Art. 91 Abs. 1 AEUV finden, nur für den dem Verkehrstitel nach Art. 100 Abs. 1 EUV unterfallenden Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr, dagegen auch nicht entsprechend für die Luft- und Seeschifffahrt, die auf Grundlage von Art. 100 Abs. 2 AEUV ausgestaltet werden können.127 65 Inhaltlicher Kern des Art. 92 AEUV ist ein spezielles Diskriminierungsverbot128 im Hinblick auf Verkehrsunternehmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten, also solchen, die ihre 123 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 92 Rn. 1. 124 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 92 Rn. 1; von der Groeben/ Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 1 125 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 92 Rn. 10. 126 Frenz NZV 2010, 430 (432). 127 Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 92 Rn. 1. 128 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 1, 3; Schmahl, Deutsche Straßen, „Pkw-Vignette“ und Europa – Protektionismus oder Gemeinwohlorientierung?, in: Stumpf/ Kainer/Baldus (Hrsg.), Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht. Festschrift für Peter-Christian Müller-Graff, 2015, S. 689, 692; Frenz NZV 2010, 430 (432); Hillgruber, Europarechtsfragen der „Straßenmaut“, DVBl. 2016, 73 (77); Kainer/Ponterlitschek, Einführung von nationalen Straßenbenutzungsgebühren für Pkw: Verstoß gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot?, ZRP 2013, 198 (199).

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Niederlassung im EU-Ausland haben129 oder deren Inhaber Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates sind,130 das sich ausschließlich an die Mitgliedstaaten richtet.131 Mangels dahin gehender Differenzierungen gilt dieses für sämtliche Unternehmen unabhängig von Tätigkeitsbereich132 und Trägerschaft. Diese dürfen durch mitgliedstaatliche Maßnahmen einschließlich der Verwaltungspraxis weder unmittelbar noch mittelbar schlechter gestellt werden. Dies schließt zunächst in Übereinstimmung mit Art. 18 AEUV eine rechtliche oder tatsächliche Benachteiligung gegenüber inländischen Verkehrsunternehmen aus133. Nach Ansicht des EuGH134 steht Art. 92 AEUV darüber hinaus aber auch jeglicher negativer Beeinflussung der Betätigungsmöglichkeiten von EU-ausländischen Verkehrsunternehmen durch die Mitgliedstaaten entgegen. Dies gilt auch für den einseitigen Abbau von bestehenden Privilegierungen. Dagegen sollen nach einer Literaturansicht autonome „Gesamtverschlechterungen“, wenngleich solche tendenziell im Widerspruch zur durch den Verkehrstitel beabsichtigten Öffnung der Verkehrsmärkte stehen, unter der Voraussetzung möglich sein, dass sie das Privilegierungsverhältnis aufrechterhalten.135 Unklar ist jedoch, wie sich dieses bestimmt. De facto ist jeder mitgliedstaatliche Eingriff in bestehende Ausländerprivilegien daher jedenfalls mit einem erheblichen rechtlichen Risiko verbunden. Dies gilt umso mehr, als sich (nur) die EU-ausländischen Verkehrsunternehmen unmittelbar auf Art. 92 AEUV berufen können.136 Der Abbau von etwaigen später autonom geschaffenen Privilegierungstatbeständen durch die Mitgliedstaaten wird dagegen in keinem Falle von Art. 92 AEUV berührt, da es sich insoweit nicht um im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens „bestehende Vorschriften“ handelt. In zeitlicher Hinsicht beschränkt sich die Anwendung der Vorschrift nach ihrem Wortlaut 66 auf den Zeitpunkt bis zum Erlass von Sekundärrecht auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 AEUV. Sie weist insoweit den Charakter einer Übergangsbestimmung auf.137 Allerdings beschränkt sich nach Sinn und Zweck des Art. 92 AEUV der Regelungsgehalt nicht auf den überaus begrenzten Zeitraum bis zum Erlass der ersten europarechtlichen Vorschriften im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik. Zwar sollte diese nach Auffassung der Gründungsstaaten alsbald an die Stelle der mitgliedstaatlichen Verkehrspolitiken treten, was allerdings zunächst nur zögerlich und bis heute nicht umfassend geschehen ist (→ Rn. 117 ff.). Das Ziel der Norm, eine weitere Verschlechterung der Durchlässigkeit der Verkehrsmärkte bis zum Erlass harmonisierender Vorschriften zu verhindern, setzt 129 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 92 Rn. 1; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 92 Rn. 3; Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 92 Rn. 3; Otto, Die öffentliche Finanzierung und die Genehmigung des ÖPNV (ÖSPV) im Binnenmarkt, 2003, S. 51. 130 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 72 EGV Rn. 3. 131 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 92 Rn. 1. 132 Zur Erfüllung der Voraussetzungen des europarechtlichen Unternehmerbegriffs bedarf es allerdings eines wirtschaftlichen Charakters der Tätigkeit. 133 Siehe insoweit auch EuGH 18.6.2019 – C-591/17, NJW 2019, 2369 Rn. 37 ff., 158 ff. – Österreich/ Deutschland. 134 EuGH 19.5.1992 – C-195/90, Slg 1992, I-3141, Rn. 20 ff. – Kommission/Deutschland; 31.3.1993 – C-184/91 und C-221/91, Slg 1993, I-1633, Rn. 12 ff. – Oorburg und van Messem; kritisch in Bezug auf die Folgewirkungen Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 92 Rn. 6; grundsätzlich zustimmend Korte/Gurreck, Die europarechtliche Zulässigkeit der sog PKW-Maut EuR 2014, 420 (432). 135 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 92 Rn. 7; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 7; Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 92 Rn. 3; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 6. 136 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 4; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 4; Frenz NZV 2010, 430 (432). 137 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 72 EGV Rn. 1; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 2.

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§ 6 Transportrecht aber bereichsspezifisch ihre fortbestehende Anwendbarkeit voraus. Aus Sicht des primären Europarechts nicht hinnehmbare Rückschritte in der Öffnung der mitgliedstaatlichen Verkehrsmärkte lassen sich bei Fehlen einschlägiger sekundärrechtlicher Vorgaben nur vermeiden, wenn Art. 92 AEUV ungeachtet sonstiger Fortschritte bei der Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik als dauerhaft relevante Gewährleistung eines mitgliedstaatlichen Mindeststandards im Hinblick auf die Behandlung EU-ausländischer Verkehrsunternehmen verstanden wird.138 Der EuGH zieht Art. 92 AEUV folgerichtig auch in neuerer Zeit mitunter als Prüfungsmaßstab heran. Mit der Zunahme des auf Art. 91 Abs. 1 AEUV gestützten Sekundärrechts hat sich der Anwendungsbereich der Vorschrift jedoch erheblich reduziert, so dass ihr heute kaum mehr als eine programmatische Funktion zukommt. (b) Frachten und Beförderungsbedingungen

67 Für den grenzüberschreitenden Verkehr innerhalb der EU steht Art. 95 Abs. 1 AEUV Diskriminierungen entgegen, „die darin bestehen, dass ein Verkehrsunternehmer in denselben Verkehrsverbindungen für die gleichen Güter je nach ihrem Herkunfts- oder Bestimmungsland unterschiedliche Frachten und Beförderungsbedingungen anwendet.“ Der Terminus Frachten betrifft diesbezüglich die Tarife; derjenige der Beförderungsbedingungen die beförderungsvertraglichen Bestimmungen und darauf bezogene sonstige Vorschriften.139 Ausweislich des Wortlauts beschränkt sich der Anwendungsbereich der Norm, die der Realisierung der Warenverkehrsfreiheit dient,140 auf den Güterverkehr,141 wobei sämtliche Art. 100 Abs. 1 AEUV unterfallende Verkehrsmittel erfasst werden. Adressaten der Regelung sind neben den explizit in Bezug genommenen Verkehrsunternehmen auch die Mitgliedstaaten, soweit sie auf die Frachten und Beförderungsbedingungen Einfluss nehmen. Verboten sind diskriminierende Unterscheidungen für identische Transporte, die am Ausgangs- oder Zielstaat anknüpfen. Die Identität ist dabei, wie die Formulierung des Art. 95 Abs. 1 AEUV nahe legt, anhand wirtschaftlicher Kriterien zu bestimmen:142 Neben Start- und Endpunkt143 kommt es im Wesentlichen auf die Art der beförderten Güter und das gewählte Verkehrsmittel an. Dagegen ist unerheblich, ob eine tatsächliche völlige Übereinstimmung mit zuvor durchgeführten Transporten im Hinblick auf Ladung und Routenführung gegeben ist. Auch zielt Art. 95 Abs. 1 AEUV nicht darauf ab, verkehrsmittelübergreifende Einheitspreise zu schaffen. Die jeweiligen besonderen Eigenschaften des Lkw-, Eisenbahn- und Binnenschiffsverkehrs sollen sich durchaus auf die Preisbildung auswirken können. Nicht verboten, sondern grundsätzlich europarechtlich gewollt sind auch Preisunterschiede zwischen einzelnen Verkehrsunternehmen, die Ausdruck des Wettbewerbs auf dem Verkehrsmarkt sind.144 68 Die unmittelbare Anwendbarkeit der Vorschrift ist umstritten. Nach dem durch den Vertrag von Lissabon neu gefassten Wortlaut des Art. 95 Abs. 1 AEUV erscheint eine unmittelbare Anwendung möglich, da die Norm sich mit einem eindeutigen Verbotsinhalt an

138 Implizit Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 92 Rn. 3. 139 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 95 Rn. 1; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 95 Rn. 3. 140 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 95 Rn. 1. 141 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 95 Rn. 4. 142 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 95 Rn. 4; vgl. auch Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/ AEUV AEUV Art. 95 Rn. 2; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 95 Rn. 2; Frenz NZV 2010, 430, 433. 143 AA Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 95 Rn. 3. 144 Vgl. Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 95 Rn. 1.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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spezifische Adressaten richtet.145 Dagegen spricht jedoch, dass Art. 95 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV gegenüber der früheren Fassung der Norm insoweit unverändert festlegt, dass „[d]er Rat … eine Regelung zur Durchführung des Absatzes 1“ trifft, die zugleich nach Art. 95 Abs. 4 AEUV den „Rahmen“ für Kommissionsentscheidungen bildet, die sachlich erfasste Diskriminierungsfälle zum Gegenstand haben. Aufgrund dieses systematischen Zusammenhangs ist Art. 95 Abs. 1 AEUV nach wie vor entgegen der zunehmend vertretenen Auffassung nicht unmittelbar anwendbar.146 Vielmehr bedarf es einer sekundärrechtlichen Ausgestaltung. Hinsichtlich dieser enthält Art. 95 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV ein zwingendes, an den Rat gerichtetes Rechtsetzungsgebot, das bereits mit Erlass der VO (EWG) Nr. 11 des Rates über die Beseitigung von Diskriminierungen auf dem Gebiet der Frachten und Beförderungsbedingungen gem. Art. 79 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft147 erfüllt wurde, so dass das in Art. 95 Abs. 1 AEUV enthaltene Diskriminierungsverbot trotz seiner fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit praktisch zur Anwendung kommt. Die nähere Ausgestaltung des für die Realisierung des Regelungsgehalts des Art. 95 Abs. 1 69 AEUV erforderlichen Sekundärrechts obliegt nach Art. 95 Abs. 3 AEUV dem Rat. Dieser kann nach Art. 95 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV „insbesondere die erforderlichen Vorschriften erlassen, um es den Organen der Union zu ermöglichen, für die Beachtung des Abs. 1 Sorge zu tragen, und um den Verkehrsnutzern die Vorteile dieser Bestimmung voll zukommen zu lassen.“ Er entscheidet auf Vorschlag der Kommission nach bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments sowie des Wirtschafts- und Sozialausschusses. Anders als bei der sonstigen sekundärrechtlichen Ausformung der gemeinsamen Verkehrspolitik auf Grundlage des Art. 91 AEUV kommt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren insoweit nicht zur Anwendung; auch der Ausschuss der Regionen wird nicht angehört. Sachliche Gründe für diese verfahrensrechtliche Besonderheit im Bereich verbotener Diskriminierungen durch Frachten und Beförderungsbedingungen sind nicht ersichtlich. Es handelt sich um ein rechtspolitisch fragwürdiges Relikt der früheren Regelungen über die gemeinsame Verkehrspolitik, die durch eine Dominanz des Anhörungsverfahrens gekennzeichnet war. Jenseits des von Art. 95 Abs. 3 AEUV gegenständlich erfassten engen Bereichs können jedoch, wie Art. 95 Abs. 2 AEUV klarstellt, „sonstige Maßnahmen“ auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 AEUV getroffen und damit Sekundärrecht im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Der Kommission obliegt nach Art. 95 Abs. 4 AEUV die Durchsetzung des in Art. 95 70 Abs. 1 AEUV enthaltenen Diskriminierungsverbots auf Grundlage seiner sekundärrechtlichen Ausgestaltung durch den Rat. Von Amts wegen oder auf Antrag eines Mitgliedstaates prüft und beurteilt sie der Vorschrift unterfallende Diskriminierungsfälle. Die normativ vorgesehene Beratung mit dem jeweiligen Mitgliedstaat vor ihrer abschließenden Beschlussfassung vermittelt diesem kein Vetorecht, sondern soll allein eine zutreffende Durchsetzung des Diskriminierungsverbots sicherstellen. (2) Beihilferechtliche Sonderregelungen Die funktionalen Besonderheiten des Verkehrs gegenüber anderen Wirtschaftssektoren 71 (→ Rn. 9 ff.) haben sich primärrechtlich in einigen beihilferechtlichen Sonderregelungen

145 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 95 Rn. 4; Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 95 Rn. 1; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 95 Rn. 1; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 95 Rn. 9. 146 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 95 Rn. 4; Frenz NZV 2010, 430 (433). 147 ABl. v. 16.8.1960, 1121 (dort insbes. Art. 4 Abs. 1), zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 569/2008 des Rates, ABl. L 161 v. 20.6.2008, 1.

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§ 6 Transportrecht für die Art. 100 Abs. 1 AEUV unterfallenden Verkehre niedergeschlagen.148 Art. 93 AEUV sieht in Ergänzung von Art. 107 ff. AEUV und als spezielle Vorschrift gegenüber Art. 106 AEUV149 die Vereinbarkeit von Beihilfen iSv Art. 107 Abs. 1 AEUV vor, „die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs oder der Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistungen entsprechen.“ Fehlt es – insbesondere auf Grundlage der Altmark Trans-Rechtsprechung150 – an der Beihilfeneigenschaft einer staatlichen Förderungsmaßnahme oder ist eine Beihilfe bereits auf Grundlage des allgemeinen Beihilferechts zulässig, greift Art. 93 AEUV als verkehrsbezogene Spezialvorschrift nicht ein.151 Soweit dies aber der Fall ist, kann den tatbestandlich erfassten Maßnahmen die fehlende Übereinstimmung mit den Art. 107 ff. AEUV nicht entgegen gehalten werden. Art. 93 AEUV erweitert somit die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Unterstützung von Verkehrsunternehmen im Interesse der Leistungsfähigkeit des Verkehrssektors insgesamt über den nach dem allgemeinen Beihilferecht bestehenden Rahmen hinaus.152 Dabei unterscheidet die Vorschrift zwischen Koordinierungs- (Alt. 1) und Abgeltungsbeihilfen (Alt. 2). Bei beiden Beihilfearten handelt es sich um typische Förderungsmaßnahmen, die der Realisierung verkehrspolitischer Bedürfnisse und Zielsetzungen dienen. Andere staatliche Unterstützungsmaßnahmen für Verkehrsunternehmen werden wegen des abschließenden Charakters der eng auszulegenden153 Ausnahmevorschrift nicht erfasst. Explizit untersagt werden durch Art. 96 AEUV Beihilfen in Form von Unterstützungstarifen. (a) Koordinierungsbeihilfen

72 Koordinierungsbeihilfen sind Beihilfen, die auf die Sicherstellung einer sinnvollen Aufgabenteilung zwischen den einzelnen Verkehrsträgern abzielen154 und somit der Effizienzsteigerung des gesamten Verkehrssystems dienen.155 Es handelt sich um ordnungspolitische Maßnahmen156 mit Beihilfencharakter, mittels derer „der Staat in die Entwicklung des Verkehrssektors im Interesse der Allgemeinheit lenkend eingreift“,157 mithin gezielt auf Angebot und Nachfrage bezüglich Verkehrsleistungen Einfluss nimmt.158 Ziel ist typischerweise eine Steigerung der Effizienz des Verkehrssystems insgesamt,159 etwa durch die Förderung des kombinierten Verkehrs.160 Dabei besteht keine inhärente Beschränkung auf die in Art. 100 Abs. 1 AEUV genannten Verkehrsarten, die unmittelbar der gemeinsamen Verkehrspolitik unterfallen. Vielmehr kann eine mit der Gewährung von Beihilfen einhergehende Koordinierung auch im Verhältnis von Eisenbahnverkehr und Luftfahrt sowie von Binnen- und Seeschifffahrt auf Grundlage von Art. 93 AEUV erfolgen. Die Kommissi148 Für andere Verkehre vgl. Beschluss 2012/21/EU. 149 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/ Kotthaus AEUV Art. 93 Rn. 25; von der Groeben/ Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 93 Rn. 5. 150 EuGH 24.7.2003 – C-280/00, Slg 2003, I-7747, Rn. 74 ff. 151 Hailbronner/Wilms/Jochum, Art. 73 EGV Rn. 4 – Altmark Trans. 152 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 93 Rn. 1 f. 153 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 93 Rn. 7. 154 Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge Art. 93, Rn. 3; Baumeister/Berschin A1 Rn. 207. 155 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 93 Rn. 20. 156 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 93 Rn. 19; Geiger/Khan/Kotzur/ Khan EUV/AEUV AEUV Art. 93 Rn. 4; Frenz Handbuch Europarecht, Bd. 3, 2007, Rn. 98. 157 Mitteilung der Kommission über Gemeinschaftliche Leitlinien für staatliche Beihilfen an Eisenbahnunternehmen, ABl. C 184 v. 22.7.2008, 13, Rn. 89. 158 Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 197; von einer „planenden Dimension“ spricht Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 93 Rn. 10. 159 Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 198. 160 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 93 Rn. 10; zu dieser Verkehrsform im Überblick Aberle, S. 23 f.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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on hat exemplarisch für den Eisenbahnsektor als mögliche Ausprägungen von Koordinierungsbeihilfen benannt: „a) Beihilfen für die Nutzung der Infrastruktur zugunsten von Eisenbahnunternehmen, die mit Ausgaben für die von ihnen benutzten Verkehrswege belastet sind, welche Unternehmen anderer Verkehrsarten nicht zu tragen haben; b) Beihilfen zur Verringerung der externen Kosten, durch die Verkehrsverlagerung auf die Schiene gefördert werden soll, da diese gegenüber anderen Verkehrsträgern, zB der Straße, weniger externe Kosten verursacht; c) Beihilfen zur Förderung der Interoperabilität und, sofern sie der Koordinierung des Verkehrs dienen, zur Verbesserung der Sicherheit, Beseitigung technischer Hindernisse und Verringerung von Lärmemissionen, (…); d) Beihilfen für Forschung und Entwicklung, die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs entsprechen.“161 Ungeachtet ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit und ihrer Beispielhaftigkeit umreißt diese Aufzählung mögliche Erscheinungsformen von Koordinierungsbeihilfen zutreffend und lässt sich zugleich auf Verkehrsbereiche außerhalb des Eisenbahnsektors übertragen.162 Eine sekundärrechtliche Regelung von Koordinierungsbeihilfen iSv Art. 93 Alt. 1 AEUV 73 ist möglich. Es bedarf ihr jedoch nach zutreffender Auffassung nicht, da Art. 93 Alt. 1 AEUV die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendbarkeit erfüllt und die Mitgliedstaaten unabhängig von etwaigen sekundärrechtlichen Ausgestaltungen zur Gewährung von Koordinierungsbeihilfen berechtigt. Die über Jahrzehnte bestehende einzige einschlägige VO (EWG) Nr. 1107/70163 wurde im Jahr 2009 aufgehoben und nur durch punktuelle Neuregelungen ersetzt. Auch grundsätzlich zulässige mitgliedstaatliche Koordinierungsbeihilfen müssen sich un- 74 geachtet dahin gehender expliziter Vorgaben in Art. 93 AEUV materiell in das primärrechtlich aufgestellte Gesamtsystem einfügen. Sie müssen daher „notwendig und im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig sein, und die damit einhergehende Wettbewerbsverzerrung [darf] den allgemeinen Interessen der Gemeinschaft nicht zuwiderlaufen.“164 Dabei nimmt nach Ansicht der Kommission mit dem Fortschreiten der Liberalisierung im Verkehrssektor die Notwendigkeit verkehrslenkender Maßnahmen durch Koordinierungsbeihilfen und damit deren Zulässigkeit ab.165 Dem ist jedenfalls insoweit zuzustimmen, als im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik vorangetriebene Öffnungen der Verkehrsmärkte nicht seitens der Mitgliedstaaten mittels Gewährung von Koordinierungsbeihilfen umgangen werden dürfen. Gleiches gilt im Hinblick auf den Erlass von Sekundärrecht, das bereits auf eine Verbesserung des Zusammenwirkens der Verkehrsträger gerichtet ist. Jenseits dessen verbleibt den Mitgliedstaaten jedoch auch bei einer Fortentwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik ein Gestaltungsspielraum für verkehrskoordinierende Maßnahmen und deren Unterstützung durch die Gewährung von Beihilfen auf Grundlage von Art. 93 Alt. 1 AEUV. 161 Mitteilung der Kommission über Gemeinschaftliche Leitlinien für staatliche Beihilfen an Eisenbahnunternehmen, ABl. 2008/C 184/13, Rn. 98. 162 Speziell zur Infrastrukturfinanzierung s. Baumeister/Berschin A1 Rn. 214 ff. 163 ABl. L 130 v. 15.6.1970, 1; ausführlich dazu unter besonderer Berücksichtigung der Kommissionspraxis Frohnmeyer/Mückenhausen/Nemitz, VO (EWG) 1107/70, Rn. 1 ff. 164 Mitteilung der Kommission über Gemeinschaftliche Leitlinien für staatliche Beihilfen an Eisenbahnunternehmen, ABl. C 184 v. 22.7.2008, 13, Rn. 96. 165 Mitteilung der Kommission über Gemeinschaftliche Leitlinien für staatliche Beihilfen an Eisenbahnunternehmen, ABl. C 184 v. 22.7.2008, 13, Rn. 90: ebenso Callies/Ruffert/Martinez EUV/AEUV Art. 93 Rn. 10; Frenz Handbuch Europarecht, Bd. 3, Rn. 99; aA Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 198.

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§ 6 Transportrecht (b) Abgeltungsbeihilfen

75 Beihilfen, die „der Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistungen entsprechen“ (Abgeltungsbeihilfen) nach Art. 93 Alt. 2 AEUV sind demgegenüber Ausgleichsleistungen für die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen im Verkehr seitens der öffentlichen Hand. Dabei handelt es sich um Leistungen, welche die Verkehrsunternehmen regelmäßig aus wirtschaftlichen Gründen andernfalls nicht oder nicht so erbringen würden, deren Erbringung (in einer bestimmten Art und Weise) jedoch im Interesse der Allgemeinheit notwendig oder politisch gewünscht ist.166 Der Terminus „Begriff des öffentlichen Dienstes“ korrespondiert mit demjenigen der „Dienst(leistung)e(n) von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ in Art. 14 S. 1, Art. 106 Abs. 2 AEUV, Art. 36 GRC (→ Rn. 110 ff.).167 Die Gegenstände gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen im Verkehrssektor können dementsprechend vielfältige Formen annehmen. Neben Bedienungs- und Tarifvorgaben kommen etwa Qualitätsanforderungen in Betracht. Über praktische Bedeutung können Abgeltungsbeihilfen insbesondere im ÖPNV verfügen, da dort eine ausschließlich marktmäßige Leistungserbringung regelmäßig den verkehrspolitischen Erfordernissen nicht entspricht. 76 Allerdings ist der Anwendungsbereich von Art. 93 Alt. 2 AEUV insoweit eingeschränkt, als es nach der Altmark Trans-Rechtsprechung des EuGH bei „öffentliche(n) Zuschüsse(n), die den Betrieb von Liniendiensten im Stadt-, Vorort- und Regionalverkehr ermöglichen sollen,“ bereits an der Beihilfeneigenschaft iSv Art. 107 Abs. 1 AEUV und damit an der zentralen Anwendungsvoraussetzung des Art. 93 AEUV fehlt, „soweit sie als Ausgleich anzusehen sind, der die Gegenleistung für Leistungen darstellt, die von den begünstigten Unternehmen zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen erbracht werden.“ Maßgeblich seien hierfür folgende Kriterien: n „Erstens ist das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut worden, und diese Verpflichtungen sind klar definiert worden; n zweitens sind die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufgestellt worden; n drittens geht der Ausgleich nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken; n viertens ist die Höhe des erforderlichen Ausgleichs, wenn die Wahl des Unternehmens, das mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut werden soll, nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, auf der Grundlage einer Analyse der Kosten bestimmt worden, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit Transportmitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu berücksichtigen sind.“168

166 Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 93 Rn. 7. 167 Ausführlich dazu Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann/Knauff Art. 106 Rn. 56 ff. 168 EuGH 24.7.2003 – C-280/00, Slg 2003, I-7747, Rn. 95 – Altmark Trans.

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Zudem nahm der EuGH an, dass eine sekundärrechtliche Ausgestaltung den Rückgriff 77 auf Art. 93 Alt. 2 AEUV sperre.169 Zwar trifft zu, dass Art. 93 Alt. 2 AEUV zur Herstellung ihrer rechtssicheren Anwendung grundsätzlich der sekundärrechtlichen Ausgestaltung bedarf, die derzeit für den Bereich des ÖPV durch die VO (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der VOen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates170 erfolgt (→ Rn. 131 ff.). Vor dem Hintergrund der europarechtlichen Normenhierarchie ist die Auffassung des EuGH gleichwohl wenig überzeugend.171 De facto führt diese Rechtsprechung zu einer interpretativen Beseitigung des Art. 93 Alt. 2 AEUV, die mit der zuletzt durch den Vertrag von Lissabon bestätigten Fortexistenz der Vorschrift als klare primärrechtliche Entscheidung zugunsten mitgliedstaatlicher Maßnahmen mit Beihilfencharakter („Mit den Verträgen vereinbar sind …“) kaum kompatibel ist. Entgegen der EuGH-Rechtsprechung ist daher für Ausgleichsleistungen für die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Verkehrsleistungen, die als Beihilfen zu qualifizieren sind, auch neben einer sekundärrechtlichen Ausgestaltung von einem verbleibenden Anwendungsbereich von Art. 93 Alt. 2 AEUV auszugehen, mag dessen praktische Relevanz auch gering sein. Dem entspricht auch die aktuelle sekundärrechtliche Ausgestaltung durch die VO (EG) Nr. 1370/2007. (c) Unterstützungstarife Art. 96 Abs. 1 AEUV verbietet als gegenüber Art. 107 Abs. 1 AEUV speziellere Norm172 78 vorbehaltlich einer Genehmigung der Kommission seitens der Mitgliedstaaten festgelegte oder sonst auf staatliche Einwirkung rückführbare173 Unterstützungstarife in Form von Frachten und Beförderungsbedingungen, „die in irgendeiner Weise der Unterstützung oder dem Schutz eines oder mehrerer bestimmter Unternehmen oder Industrien dienen“. Derartige Tarife, die von den begünstigten Nutzern der Verkehrsleistung an das verkehrsdurchführende Unternehmen zu zahlen sind, liegen grundsätzlich unterhalb des Marktniveaus.174 Die Differenz wird dem dadurch zunächst belasteten Verkehrsunternehmen gegebenenfalls seitens der öffentlichen Hand erstattet, ohne dass dies eine anderweitige rechtliche Wertung nach sich zöge.175 Die mitgliedstaatliche Festlegung von Unterstützungstarifen, die sowohl normativ mit allgemeiner Geltung als auch durch individuelle Anordnung gegenüber oder Vereinbarung mit einzelnen Verkehrsunternehmen und schließlich sogar durch eine „Genehmigung“ scheinbar autonom ausgehandelter Tarife erfolgen kann, zielt nicht auf die Förderung der Verkehrsunternehmen,176 sondern sonstiger, insbesondere produzierender Unternehmen, die die Verkehrsleistung in Anspruch nehmen, durch eine künstliche Senkung der Transportkosten ab.177 Die dadurch begünstigten Unternehmen

169 EuGH 24.7.2003 – C-280/00, Slg 2003, I-7747, Rn. 106 ff. – Altmark Trans; kritisch zur teils abweichenden Kommissionspraxis Otting/Soltész/Melcher EuZW 2009, 444. 170 ABl. L 315 v. 3.12.2007, 1, geändert durch VO (EU) 2016/2338, ABl. L 354 v. 14.12.2016, 22. 171 Kritisch auch Wachinger, Das Recht des Marktzugangs im ÖPNV. Genehmigung, Vertragsvergabe und Finanzierung im straßengebundenen ÖPNV nach deutschem und europäischem Recht, 2006, S. 183 ff. 172 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 96 Rn. 1; Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 96 Rn. 1; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 1; aA Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 96 Rn. 2. 173 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 96 Rn. 6 f.; Lenz/Borchardt/ Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 96 Rn. 2; Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 76 EGV Rn. 4. 174 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 7. 175 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 2. 176 EuGH 15.3.2017 – C-253/16, Rn. 20 – Flibtravel International und Leonard Travel International. 177 Calliess/Ruffert/Jung EUV/AEUV (4. Aufl. 2011), AEUV Art. 96 Rn. 1.

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oder Branchen müssen ebenso wie im allgemeinen Beihilferecht klar abgrenzbar sein.178 Frei am Markt aufgrund unternehmerischer Entscheidungen179 gebildete Wettbewerbstarife werden, wie Art. 96 Abs. 3 AEUV (nur) klarstellt,180 nicht erfasst.181 Insoweit fehlt es zugleich an der Involviertheit staatlicher Mittel, so dass es bereits am Beihilfencharakter fehlt.182 Sachlich bezieht sich Art. 96 AEUV ebenso wie der identisch formulierte Art. 95 Abs. 1 AEUV auf den Gütertransport.183 Die praktische Bedeutung von Unterstützungstarifen ist heute gering. Da im Zuge der Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik den Mitgliedstaaten durch entgegenstehendes Sekundärrecht weithin die Möglichkeit genommen wurde, in die Preisbildung am Verkehrsmarkt einzugreifen, bilden beihilferechtlich irrelevante Wettbewerbstarife iSv Art. 96 Abs. 3 AEUV den Regelfall.184 79 Ebenso wie nach dem allgemeinen Beihilferecht obliegt der Kommission die Durchsetzung des in Art. 96 AEUV enthaltenen speziellen und zugleich unmittelbar anwendbaren185 Beihilfenverbots. Ausschließlich die Kommission ist auch berechtigt, Ausnahmen zuzulassen. Dies muss explizit erfolgen und setzt einen vorherigen Antrag des betreffenden Mitgliedstaates voraus. In Ausübung ihrer Aufsichtsfunktion kann die Kommission aber auch von Amts wegen tätig werden und bestehende Unterstützungstarife prüfen. Bei ihrer als Beschluss iSv Art. 288 Abs. 4 AEUV ergehenden Entscheidung „berücksichtigt sie“ nach Art. 96 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV „insbesondere sowohl die Erfordernisse einer angemessenen Standortpolitik, die Bedürfnisse der unterentwickelten Gebiete und die Probleme der durch politische Umstände schwer betroffenen Gebiete als auch die Auswirkungen dieser Frachten und Beförderungsbedingungen auf den Wettbewerb zwischen den Verkehrsarten.“ Darüber hinaus ist sie an das bestehende Sekundärrecht gebunden. Im Rahmen dessen kommt ihr allerdings ein erheblicher Entscheidungsspielraum zu,186 der in scheinbarem Widerspruch zu dem in Art. 96 Abs. 1 AEUV normierten Verbot von Unterstützungsbeihilfen steht. Dieser korrespondiert jedoch mit ihren Entscheidungsbefugnissen im allgemeinen Beihilferecht insbesondere auf Grundlage von Art. 107 Abs. 3 AEUV und fügt sich insoweit in den übergreifenden Regelungsansatz des EU-Beihilferechts ein. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sieht Art. 96 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV eine vorherige Beratung mit dem jeweils betroffenen Mitgliedstaat vor. Diese dient vor allem der Erkenntnis der tatsächlichen Umstände. Ein Mitentscheidungsrecht kommt dem Mitgliedstaat nicht zu.

178 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 96 Rn. 9; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 9; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 2. 179 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 7; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 5. 180 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 76 EGV Rn. 8; Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 96 Rn. 6. 181 Ausführlich dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 96 Rn. 15 ff.; siehe darüber hinaus zur Kartellrechtswidrigkeit einer nationalen Regelung, nach der die Preise im gewerblichen Güterkraftverkehr nicht unter den Mindestbetriebskosten liegen dürfen, die von einer Stelle festgelegt werden, die sich im Wesentlichen aus Vertretern der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zusammensetzt, EuGH 4.9.2014 – C-184/13, C-187/13, C-194/13, C-195/13 und C-208/13, EuZW 2014, 864 – API. 182 Calliess/Ruffert/Jung EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, AEUV Art. 96 Rn. 8. 183 Lenz/Borchardt/Mückenhausen EUV/AEUV AEUV Art. 96 Rn. 2; Hailbronner/Wilms/Jochum, Art. 76 EGV Rn. 2. 184 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 96 Rn. 1. 185 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 96 Rn. 3; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 11; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 96 Rn. 3. 186 Callies/Ruffert/Martinez EUV/AEUV Art. 96 Rn. 12; Frenz NZV 2010, 430 (434).

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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(3) Grenzübergangsabgaben Die Erhebung von Abgaben anlässlich des Grenzübertritts bildete über lange Zeit hinweg 80 sowohl ein Hindernis für den grenzüberschreitenden Verkehr als auch eine staatliche Einnahmequelle. Diese Abgaben waren von den Verkehrsunternehmen beim Grenzübertritt zu entrichten und wurden den Auftraggebern mit einem Aufschlag in Rechnung gestellt. Dieser Praxis trägt die Existenz von Art. 97 AEUV Rechnung. Danach dürfen die „Abgaben oder Gebühren, die ein Verkehrsunternehmer neben den Frachten beim Grenzübergang in Rechnung stellt, … unter Berücksichtigung der hierdurch tatsächlich verursachten Kosten eine angemessene Höhe nicht übersteigen.“ Zudem werden „[d]ie Mitgliedstaaten … bemüht sein, diese Kosten schrittweise zu verringern.“ Die Kommission wird zur Abgabe von Empfehlungen berechtigt. In seiner Gesamtheit dient Art. 97 AEUV dem Abbau von Hemmnissen für den grenzüber- 81 schreitenden (Waren-)Verkehr187 und damit vor allem der Verwirklichung des Binnenmarktes. Die Vorschrift gilt nur für öffentlich-rechtliche Abgaben188 im Güterverkehr. Insbesondere werden von dem Verkehrsunternehmer dem Auftraggeber privatrechtlich autonom in Rechnung gestellte Kosten anlässlich eines Grenzübertritts im Zusammenhang mit einem Transport tatbestandlich nicht erfasst.189 Infolge des weitgehenden Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen und der (spätestens) damit verbundenen Abschaffung von Grenzübergangsabgaben hat Art. 97 AEUV seinen zentralen Anwendungsbereich verloren. Der Vorschrift kann daher nahezu nur noch bei einer Überschreitung der EU-Außengrenzen Bedeutung zukommen.190 Infolge des Wettbewerbs im Transportwesen ist jedoch auch dies unwahrscheinlich.191 In der Sache verbietet Art. 97 Abs. 1 AEUV den Verkehrsunternehmen, geleistete Grenz- 82 übergangsabgaben mit einem übermäßig hohen Aufschlag auf die Auftraggeber zu überwälzen. Die abstrakte Obergrenze bildet die Summe aus Abgabenhöhe, tatsächlich entstandenen Kosten und einem angemessenen branchenüblichen Gewinn. Konkrete Vorgaben über die zulässige Höhe überwälzungsfähiger Kosten lassen sich Art. 97 Abs. 1 AEUV jedoch nicht entnehmen,192 so dass es der Vorschrift auch an der unmittelbaren Anwendbarkeit fehlt.193 An die Mitgliedstaaten richtet sich das ebenfalls nicht unmittelbar anwendbare Gebot der Verringerung von Grenzübergangsabgaben in Art. 97 Abs. 2 AEUV. Die der Kommission durch Art. 97 Abs. 3 AEUV eingeräumten Befugnisse sind in Anbetracht der gem. Art. 288 Abs. 5 AEUV fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit von Empfehlungen wenig ausgeprägt. Eine Sekundärrechtsetzung zur Senkung der Grenzübergangskosten ist jedoch auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV möglich. (4) Teilungsbedingte Sonderregeln für die Bundesrepublik Deutschland Für die Bundesrepublik Deutschland gestattet Art. 98 AEUV in sachlich beschränktem 83 und grundsätzlich zeitlich begrenztem Umfang Abweichungen von den Vorschriften des Verkehrstitels einschließlich des darauf gestützten Sekundärrechts,194 um teilungsbedingte 187 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 97 Rn. 1; Frenz NZV 2010, 430 (431). 188 Callies/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 97 Rn. 2; aA von der Groeben/Schwarze/Hatje/ Fehling Unionsrecht AEUV Art. 97 Rn. 3; Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 97 Rn. 1. 189 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 97 Rn. 1; Hailbronner/Wilms/ Jochum Art. 77 EGV Rn. 3. 190 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 97 Rn. 5; Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 97 Rn. 2. 191 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 97 Rn. 10. 192 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 97 Rn. 1. 193 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 97 Rn. 3. 194 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 98 Rn. 2.

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wirtschaftliche Nachteile auszugleichen. Anknüpfend daran sah die VO (EWG) Nr. 3572/90 des Rates zur Änderung bestimmter Richtlinien, Entscheidungen und Verordnungen auf dem Gebiet des Straßen-, Eisenbahn- und Binnenschiffsverkehrs aufgrund der Herstellung der deutschen Einheit195 einige spezifische Übergangsvorschriften vor. 84 Die andauernde Existenz des zunächst nur auf die besondere Situation in den Zonenrandgebieten bezogenen Art. 98 AEUV trägt dem Umstand Rechnung, dass die vielfältigen Folgen der Teilung Deutschlands auch ca. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht vollständig überwunden sind.196 Allerdings ist zwischenzeitlich im Verkehrssektor eine Angleichung der Verhältnisse weitgehend erfolgt, so dass ein Rückgriff auf Art. 98 AEUV in Anbetracht des Umstandes, dass die in Anspruch genommene Ausnahme zum Nachteilsausgleich in einem eng auszulegenden Sinne197 „erforderlich“ sein muss, eine Anwendung des Europarechts also negative Folgen für die Überwindung der Teilungsfolgen hätte, grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt.198 Bereits zuvor hatte die Bundesrepublik Deutschland keine Notwendigkeit gesehen, von europarechtlichen Vorgaben abweichende Regelungen zu treffen.199 85 In Übereinstimmung mit dieser Entwicklung sieht Art. 98 AEUV seine Abschaffung durch einen gem. Art. 16 Abs. 3 EUV mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Ratsbeschluss aufgrund eines Kommissionsvorschlags nach fünf Jahren ab Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, also ab dem 1.12.2014 vor. Eines Vertragsänderungsverfahrens bedarf es hierzu ebenso wenig wie der Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat. Bislang ist ein solcher Aufhebungsbeschluss nicht gefasst worden, so dass Art. 98 AEUV unverändert gültig ist; ein automatisches Außerkrafttreten der Vorschrift ist nicht vorgesehen. 86 Sachlich erfasst der Anwendungsbereich des Art. 98 AEUV nach der Rechtsprechung des EuGH,200 die durch die Erklärung Nr. 28 zur Schlussakte zum Vertrag von Lissabon durch die Mitgliedstaaten implizit bestätigt wird, ungeachtet des uneingeschränkten Wortlauts Abweichungen von den europäischen Regeln für Infrastrukturbeihilfen nicht. Jenseits dessen steht es der deutschen Verkehrspolitik (nur) im Hinblick auf die Überwindung ökonomischer Teilungsfolgen frei, eigenständig von europarechtlichen Vorgaben abzuweichen, solange Art. 98 AEUV seine Geltung behält. b) Transeuropäische Verkehrsnetze als Mobilitätsvoraussetzung 87 In engem sachlichem Zusammenhang mit den Bestimmungen über den Verkehr im Titel VI des AEUV stehen die Regelungen im Titel XVI über transeuropäische Netze (Art. 170– 172 AEUV)201 (umfassend Calliess/Lippert in Wegener (Hrsg.), Europäische Querschnittspolitiken (EnzEuR Bd. 8) → Bd. 8 § 2) soweit sie sich auf Verkehrsinfrastrukturen beziehen. Deren Existenz und Leistungsfähigkeit ist eine unabdingbare Voraussetzung für ein funktionierendes Verkehrssystem und damit zugleich für die Realisierbarkeit einer ambitionierten gemeinsamen Verkehrspolitik.

195 ABl. L 353 v. 17. 12. 1990, 12. 196 Vgl. Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 78 EGV Rn. 3 f.; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 98 Rn. 1; aA Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 98 Rn. 1. 197 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 78 EGV Rn. 5. 198 Von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 98 Rn. 7; Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 98 Rn. 3. 199 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 98 Rn. 1. 200 EuGH 30.9.2003 – C-57/00 P und C-61/00 P, Slg 2003, I-9975, Rn. 57 – Freistaat Sachsen ua/ Kommission. 201 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 2.

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aa) Normative Ausgestaltung Art. 170 Abs. 1 AEUV erklärt explizit den Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze im 88 Bereich der Verkehrsinfrastruktur im Interesse der Verwirklichung des Binnenmarktes und der Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts zu einer Aufgabe der EU.202 Ausweislich des Art. 170 Abs. 2 AEUV steht dabei „die Förderung des Verbunds und der Interoperabilität der einzelstaatlichen Netze sowie des Zugangs zu diesen Netzen“ im Zentrum. Im Ausgangspunkt zielen die Regelungen über transeuropäische Verkehrsnetze daher auf eine Verbesserung der infrastrukturellen Voraussetzungen für den grenzüberschreitenden Verkehr sowie für sonstige Verkehre, denen aus volkswirtschaftlichen Gründen eine unionsweite Bedeutung zukommt, ab.203 Zumindest mittelbar profitieren davon jedoch auch rein innerstaatliche Verkehre. Die Art. 170 ff. AEUV unterfallenden transeuropäischen Verkehrsnetze umfassen potenzi- 89 ell alle Verkehrsträger. Das gesamte Territorium der EU oder Teile davon durchziehende Straßen- und Eisenbahnnetze einschließlich notwendiger Infrastrukturen, insbesondere Bahnhöfe, die dem Personen- und Güterverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten dienen (können), sind die bedeutsamsten Erscheinungsformen transeuropäischer Verkehrsnetze. Erfasst werden aber auch Verkehrswege für die Binnenschifffahrt in Form von (ausgebauten) Flüssen und Kanälen. Als für den innerunionalen Verkehr relevante Infrastrukturen können schließlich auch Flug- und Seehäfen Gegenstand von Maßnahmen auf Grundlage von Art. 170 ff. AEUV sein. Gleiches gilt für die Förderung des kombinierten Verkehrs und die Entwicklung von technischen Systemen zur Unterstützung des Verkehrs.204 Obwohl nach Art. 4 Abs. 2 lit. h AEUV transeuropäische Netze zu den Hauptbereichen 90 der geteilten Zuständigkeit zählen, weisen die Art. 170 ff. AEUV der EU nur geringe Kompetenzen zu. Anders als bei der gemeinsamen Verkehrspolitik auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV verfügt die EU im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten nur über wenige Gestaltungsmöglichkeiten. Dies wird bereits an Art. 170 Abs. 1 AEUV deutlich, der die Rolle der EU darauf beschränkt, zum Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze beizutragen, nicht aber diesen eigenständig voranzutreiben. Auch beschränkt sich die der EU nach Art. 171 Abs. 1 AEUV zugewiesene Rechtsetzungskompetenz jenseits von Maßnahmen, die der Interoperabilität der Netze im Sinne einer technischen Verbundfähigkeit205 zum Zwecke ihrer „Verkoppelung“206 dienen und insoweit einen technischen Charakter aufweisen,207 auf die Schaffung von „Leitlinien“. Zwar werden diese gem. Art. 172 Abs. 1 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so dass ihnen – anders als den als Soft Law zu qualifizierenden Leitlinien der Kommission (→ Rn. 202) – eine uneingeschränkte rechtliche Verbindlichkeit zukommt.208 Nach der primärrechtlichen Konzeption weisen diese Leitlinien jedoch einen geringen inhaltlichen Konkretisierungsgrad auf. Von Art. 171 Abs. 1 1. Spiegelstr. AEUV werden in den Leitlinien allein „die Ziele, die Prioritäten und die Grundzüge der im Bereich der transeuropäischen Netze in Betracht gezogenen Aktionen erfasst“, nicht aber konkrete Maßnahmen.209 Zudem bedürfen sie nach Art. 172 Abs. 2 AEUV „der Billigung des betroffenen Mitgliedstaats“, wenn sie dessen 202 203 204 205 206 207 208

Ausführlich dazu Bogs, Die Planung transeuropäischer Verkehrsnetze, 2002. Vgl. Lenz/Borchardt/Neumann EUV/AEUV AEUV Art. 170 Rn. 7. Zusammenfassend Calliess/Ruffert/Callies EUV/AEUV AEUV Art. 170 Rn. 9 ff. Streinz/Schröder EUV/AEUV AEUV Art. 170 Rn. 28. Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 170 Rn. 19. Dazu im Überblick Lenz/Borchardt/Neumann EU-Verträge AEUV Art. 171 Rn. 23 ff. Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 171 Rn. 3; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Rodi Unionsrecht AEUV Art. 171 Rn. 3; einschränkend Lenz/Borchardt/Neumann EUV/AEUV AEUV Art. 171 Rn. 3. 209 Streinz/Schröder EUV/AEUV AEUV Art. 171 Rn. 10 ff.

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§ 6 Transportrecht Hoheitsgebiet berühren. Diesen Anforderungen trägt die Fassung der einschlägigen VO (EU) Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 661/2010/EU210 Rechnung. Darüber hinaus beschränkt sich die Rolle der EU im Wesentlichen auf eine Unterstützung der Mitgliedstaaten.211 Dies gilt insbesondere auch in finanzieller Hinsicht.212 Diesbezüglich sieht Art. 177 Abs. 2 AEUV die Schaffung eines Kohäsionsfonds vor, der „zu Vorhaben in den Bereichen Umwelt und transeuropäische Netze auf dem Gebiet der Verkehrsinfrastruktur finanziell beiträgt.“ De facto vermittelt die damit verbundene Möglichkeit der Mittelverteilung der EU durchaus gewisse Gestaltungsmöglichkeiten. Eine eigenständige Verkehrsinfrastrukturpolitik auf Grundlage von Art. 170 ff. AEUV ist ihr dennoch nicht möglich.213 bb) Verhältnis zur gemeinsamen Verkehrspolitik

91 Die erheblich divergierende Ausgestaltung der Gestaltungskompetenzen der EU in den sachlich eng verbundenen Bereichen Verkehr und Verkehrsinfrastrukturen verleiht der Frage nach dem Verhältnis der Kompetenzgrundlagen eine große praktische Relevanz. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der sehr weitgehenden Ermächtigungen zur Sekundärrechtsetzung in Art. 91 Abs. 1 lit. d, Art. 100 Abs. 2 AEUV, auf deren Grundlage nahezu jede verkehrsbezogene Regelung von der EU erlassen werden kann (→ Rn. 55). 92 Thematisch sind die Regelungen über transeuropäische Netze im Hinblick auf Verkehrsnetze und -infrastrukturen gegenüber den allgemeinen verkehrspolitischen Vorschriften spezieller und damit nach den auch für das Europarecht relevanten Auslegungsmethoden vorrangig.214 Dies gilt umso mehr, als die Art. 170 ff. AEUV anders als die Art. 90 ff. AEUV erst nachträglich durch den Vertrag von Maastricht in das Primärrecht eingefügt wurden, so dass von einem entsprechenden Verständnis der EU-Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ auszugehen ist. Dieses theoretisch klare Spezialitätsverhältnis ist jedoch in seiner Anwendung weniger eindeutig. So schließen die Art. 170 ff. AEUV bereits den Erlass von Sekundärrecht im Hinblick auf Verkehrsinfrastrukturen im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik nicht vollständig, sondern allein im Hinblick auf die erfassten transeuropäischen Verkehrsnetze aus. Sonstige Maßnahmen bezüglich Verkehrsinfrastrukturen können durchaus auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV ergriffen werden. Eine abstrakte Unterscheidung zwischen beiden Bereichen ist überdies in Anbetracht dessen, dass innerstaatlicher, punktuell grenzüberschreitender und europaweiter Verkehr weithin dieselben Infrastrukturen nutzen, nicht möglich. Es ist daher im Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Ziel- und Schwerpunktsetzungen der beabsichtigten Regelungen eine Abgrenzung vorzunehmen. Entsprechendes gilt für Vorschriften über den grenzüberschreitenden Verkehr, soweit diese auch infrastrukturbezogene Vorgaben enthalten. In Anbetracht dessen trägt der Ansatz des EuGH, zur Abgrenzung der Kompetenzgrundlagen auf den objektiven Schwerpunkt des jeweiligen Sekundärrechtsakts abzustellen,215 ebenso den tatsächlichen Problemstellungen wie den juristischen Unterscheidungs210 ABl. L 348 v. 20.12.2013, 1; zuletzt geändert durch DVO (EU) 2017/849 der Kommission, ABl. L 128I v. 19.5.2017, 1. 211 Lenz/Borchardt/Neumann EU-Verträge AEUV Art. 170 Rn. 1; Streinz/Schröder EUV/AEUV AEUV Art. 170 Rn. 2, 29. 212 Näher Lenz/Borchardt/Neumann EUV/AEUV AEUV Art. 171 Rn. 32 ff. 213 Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 170 Rn. 3; umfassend zur Entwicklung der EU-Verkehrsinfrastrukturpolitik Frerich/Müller, Bd. 1, Kap. 2. 214 Streinz/Schröder EUV/AEUV AEUV Art. 170 Rn. 10; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 2. 215 EuGH 26.3.1996 – C-271/94, Slg 1996, I-1689, Rn. 32 – Parlament/Rat; vgl. auch EuGH 11.9.2003 – C-211/01, Slg 2003, I-8913, Rn. 38 ff. – Kommission/Rat.

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erfordernissen angemessen Rechnung, obwohl er nicht in der Lage ist, Rechtssicherheit ex ante uneingeschränkt zu vermitteln. Allerdings sind derartige Unklarheiten der Kompetenzabgrenzung keine Besonderheit des Verkehrssektors, sondern treten vielfach im Primärrecht auf und sind daher hinzunehmen. 2. Allgemeine Bestimmungen Ungeachtet der Existenz spezifischer Vorgaben für den Verkehr im europäischen Primär- 93 recht unterfällt dieser weithin auch den allgemeinen Regelungen.216 Punktuell bedarf es zudem der Abgrenzung217 wie auch der durch das Kohärenzgebot des Art. 7 AEUV geforderten Abstimmung zwischen den Regelungsbereichen und damit zugleich zwischen den einzelnen Politikfeldern der EU. Gerade soweit individuelle Rechte bestehen, muss die Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik diesen Rechnung tragen. a) Binnenmarkt Die Errichtung des Binnenmarktes, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV, Art. 26 AEUV, bildet 94 ungeachtet der normativen Aufwertung anderer Politikbereiche im Zuge der letzten Vertragsänderungen nach wie vor eines der zentralen Ziele der EU.218 Zahlreiche im weitesten Sinne wirtschaftsbezogene Normen des AEUV zielen im Kern darauf ab, Hindernisse für den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der EU abzubauen. Bezogen auf den Verkehr ist diesbezüglich zwischen dessen dienender Funktion für die Verwirklichung des Binnenmarktes in anderen Wirtschaftsbereichen und dem „Verkehrsbinnenmarkt“ zu unterscheiden. Die Angewiesenheit des Binnenmarktes auf einen funktions- und leistungsfähigen Ver- 95 kehrssektor steht außer Frage. Grenzüberschreitungen von Waren und Personen sind ohne ein entsprechendes Angebot an Verkehrsmitteln in einem relevanten Maße ausgeschlossen. Verkehr ist daher eine Grundvoraussetzung des Binnenmarktes219 (→ Rn. 10) und als solche ein möglicher Regelungsgegenstand von binnenmarktbezogenen Vorschriften. Eine klare Abgrenzung der Ermächtigungen zur Schaffung einer gemeinsamen Verkehrspolitik, die zwar häufig, aber nicht notwendig einen Binnenmarktbezug aufweist, auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV sowie von Binnenmarktregeln mit Verkehrsbezug auf Grundlage von Art. 26 Abs. 1 AEUV ist kaum möglich. Die partielle Überschneidung der primärrechtlichen Ziele hat zur Folge, dass auch der lex specialis-Grundsatz keine eindeutigen Schlüsse zulässt. Letztlich ist auf den Schwerpunkt der zu schaffenden Regelung abzustellen: Überwiegt der Verkehrsbezug, ist auf Art. 90 ff. AEUV zurückzugreifen, andernfalls kann auch Art. 26 Abs. 1 AEUV als Kompetenzgrundlage für Sekundärrecht dienen, das den Verkehr als Voraussetzung für die Realisierung des Binnenmarktes in anderen Wirtschaftssektoren regelt oder einen Produktbezug enthält.220 Die Realisierung des spezifischen „Verkehrsbinnenmarktes“, also die Öffnung und Ver- 96 schmelzung der historisch abgeschotteten mitgliedstaatlichen Verkehrsmärkte,221 ist dem216 Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge Vorbem. Art. 90–100 AEUV Rn. 4; Streinz/Schäfer EUV/ AEUV AEUV Art. 90 Rn. 8; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 7. 217 Dazu Frenz NZV 2010, 430. 218 Zur daraus folgenden Relativierung Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon EuR 2010, 725 (740 ff.); aA Müller-Graff, Soziale Marktwirtschaft als neuer Primärrechtsbegriff der Europäischen Union, in: Müller-Graff/Schmahl/Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel. Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 600 (615 f.). 219 Vom Verkehr als „‚Blutkreislauf‘ im Körper des Binnenmarktes“ spricht Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 1. 220 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 4. 221 Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 4.

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§ 6 Transportrecht gegenüber eindeutig als Frage zu qualifizieren, die im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik zu lösen ist. Dies entspricht sowohl der Systematik des AEUV als auch dem Willen der Mitgliedstaaten als Primärrechtsetzer. Es hätte nicht der Schaffung eines besonderen Titels zum Verkehr bedurft, wenn Grundfreiheiten und – seit der EEA 1987 – Binnenmarkt unmittelbar als Grundlagen für die politische und rechtliche Umgestaltung des Verkehrssektors hätten dienen sollen. Marktstrukturentscheidungen im Verkehr sind daher ausschließlich auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV zu treffen. Ungeachtet der fehlenden Einschlägigkeit des Art. 26 AEUV als Kompetenzgrundlage ist die grundlegende, nicht sektorspezifische Wertung des Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV jedoch auch bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik zu berücksichtigen. Dies wird zudem durch die Bezugnahme auf die „Ziele der Verträge“ in Art. 90 AEUV klargestellt. Die Verwirklichung des Verkehrsbinnenmarktes bildet daher ungeachtet der fehlenden expliziten Benennung in Art. 90 ff. AEUV ein notwendiges Ziel der gemeinsamen Verkehrspolitik, die somit zumindest teilweise stets Verkehrsbinnenmarktpolitik sein muss, ohne dass sie jedoch darauf beschränkt wäre. Wie der neutralen Formulierung des Art. 91 Abs. 1 AEUV, insbesondere lit. b („Bedingungen festlegen“), lit. c („Verbesserung der Verkehrssicherheit“) und lit. d („zweckdienlich[e] Vorschriften“), zu entnehmen ist, können auf Grundlage der Vorschrift geschaffene Sekundärrechtsnormen im Einzelfall sogar binnenmarktbehindernde Wirkungen entfalten, wie dies etwa bei der Festlegung anspruchsvoller Standards für die Sicherheit von Fahrzeugen der Fall ist, die diese nicht erfüllende potenzielle Marktteilnehmer notwendig ausschließt. Allerdings dürfen derartige Wirkungen nur Folge, nicht aber Ziel der Regelungen sein. Ob ein sekundärrechtlicher Rückbau eines einmal erreichten Niveaus des Verkehrsbinnenmarktes europarechtlich zulässig ist, erscheint vor dem Hintergrund des Art. 90 AEUV iVm Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV jedenfalls dann zweifelhaft, wenn dieser nicht durch die Verfolgung anderer in Art. 3 EUV genannter Ziele der EU gerechtfertigt und somit der damit verbundene Rückschritt in einem zentralen Politikbereich der EU durch einen Fortschritt in einem anderen gleichsam kompensiert wird. Bislang sind derartige Problemlagen jedoch nicht aufgetreten. Zwar hat sich die Schaffung des Verkehrsbinnenmarktes als politisch bis heute schwieriges Vorhaben erwiesen, so dass dessen Entwicklungsstand insgesamt deutlich hinter der Marktöffnung in anderen Bereichen zurückbleibt. Gleichwohl sind stetige Fortschritte erkennbar. In einigen Verkehrssektoren wie der gewerblichen Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen (→ Rn. 125 ff.), der Seeschiff- (→ Rn. 162 ff.) und der Luftfahrt (→ Rn. 174 ff.)222 ist bereits heute eine nahezu uneingeschränkte Realisierung des Binnenmarktes zu konstatieren. b) Grundfreiheiten

97 Ebenso wie die Verwirklichung des Binnenmarktes setzen die Grundfreiheiten als dessen wesentliche Kennzeichen Verkehr voraus (→ Rn. 10). Dies gilt vor allem für die Warenverkehrsfreiheit sowie die Personenverkehrsfreiheiten einschließlich der deren Realisierung dienenden speziellen Politiken der EU auf Grundlage des AEUV. Die Freiheiten des Kapital- und Zahlungsverkehrs nach Art. 63 AEUV weisen demgegenüber nur in geringem Maße einen Verkehrsbezug auf, da sie von einer Ortsveränderung von Personen oder Gegenständen weithin unabhängig sind. 98 Der grenzüberschreitende Handel mit Waren, der durch Art. 34 ff. AEUV auch mittels individualrechtlicher Wirkung geschützt wird, kann ohne geeignete Transportmittel nicht erfolgen. Zwischen Warenverkehrsfreiheit und Güterverkehr bestehen daher enge tatsächliche Verbindungen. Diese sind bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik

222 Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge AEUV Art. 100 Rn. 7, 12.

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auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV notwendig zu berücksichtigen.223 Allerdings erzwingt die Warenverkehrsfreiheit keine Öffnung der Güterverkehrsmärkte. Sie steht allein einer Ausgestaltung der darauf bezogenen mitgliedstaatlichen Normen entgegen, die sich zumindest tatsächlich restriktiv auf den grenzüberschreitenden Handel mit Waren in der EU auswirken und insoweit als verbotene Maßnahmen gleicher Wirkung iSv Art. 34 f. AEUV zu qualifizieren sind. 224 Nicht umfasst vom Gewährleistungsgehalt der Warenverkehrsfreiheit ist jedoch die Frage, wer unter welchen Voraussetzungen zur Durchführung des Transports der betreffenden Waren berechtigt ist. Soweit Verkehrsmittel, etwa Kraftfahrzeuge, jedoch ihrerseits Gegenstand des grenzüberschreitenden Handels sind, nimmt ihnen dies zwar nicht ihre spezifische Eigenschaft als Verkehrsvoraussetzung; sie sind insoweit aber gleichwohl Waren ohne spezifische verkehrswirtschaftliche und -politische Relevanz, die Art. 34 ff. AEUV unterfallen, nicht aber dem Verkehrstitel des AEUV. Hinsichtlich der Personenverkehrsfreiheiten der Niederlassungs- und Dienstleistungsfrei- 99 heit, Art. 49 ff., 56 ff. AEUV, sowie der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 ff. AEUV, ist zu differenzieren: die Arbeitnehmerfreizügigkeit und auch die Niederlassungsfreiheit jenseits der Gründung von Niederlassungen in anderen Mitgliedstaaten von Verkehrsunternehmen weisen im Ausgangspunkt eine spezifische Nähe zum Personenverkehr auf, da sie die grenzüberschreitende Mobilität von Individuen voraussetzen. Ebenso wie der Warenverkehrsfreiheit für den Güterverkehr lassen sich ihnen jedoch keine Vorgaben über die Verkehrsorganisation entnehmen, so dass auch sie im Wesentlichen als Grundentscheidungen der Verträge bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik zu berücksichtigen sind. Gleiches gilt für die Dienstleistungsfreiheit,225 soweit Verkehr als bloßes Hilfsmittel ihrer 100 Verwirklichung in anderen Kontexten dient.226 Eine andere Problematik stellt sich jedoch, wenn gerade das Angebot von Verkehrsleistungen oder damit in Verbindung stehenden Dienstleistungen227 durch einen Unternehmer in einem anderen EU-Mitgliedstaat228 in Frage steht. Dabei handelt es sich um wirtschaftliche Leistungen, die im Ausgangspunkt den liberalisierend wirkenden Vorgaben über die Dienstleistungsfreiheit unterfallen. Die damit verbundenen strukturellen Veränderungen der mitgliedstaatlichen Verkehrsmärkte waren die Mitgliedstaaten jedoch nicht hinzunehmen bereit. Art. 58 Abs. 1 AEUV sieht daher vor, dass „[f]ür den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs … die Bestimmungen des Titels über den Verkehr“ gelten. Die Dienstleistungsfreiheit im Verkehr gilt mithin nicht unmittelbar, sondern nur soweit und in der Form, wie sie sekundärrechtlich im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik ausgestaltet wurde. Eine vom Willen des europäischen Gesetzgebers, und damit der im Rat vereinigten Regierungen der Mitgliedstaaten unabhängige Liberalisierung des Verkehrssektors, ist dadurch ausgeschlossen.229 Daran anknüpfend sieht Art. 2 Abs. 2 lit. d RL 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt230 vor, dass ihre 223 S. dazu auch Frenz Handbuch Europarecht, Bd. 6, Rn. 3117 ff.; Frenz NZV 2010, 430 (430 f.). 224 Näher Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 173 ff.; aus der Rspr. EuGH 15.11.2005 – C-320/03, Slg 2005, I-9871, Rn. 63 ff. – Kommission/Österreich; 21.12.2011 – C-28/09 – Kommission/Österreich, jeweils zur Anordnung eines Lkw-Fahrverbots auf der Inntalautobahn. 225 Näher Kainer/Persch EuR 2018, 33 (40 ff.). 226 S. insoweit EuGH 1.10.2014 – C-340/14 und C-341/14, Rn. 43 ff. – Trijber. 227 Zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen EuGH 15.10.2015 – C‑168/14, NVwZ 2016, 218 Rn. 38 ff. – Grupo Itevelesa. 228 Für das Fehlen eines grenzüberschreitenden Bezugs EuGH 13.2.2014 – C-419/12 und C-420/12, ECLI:EU:C:2014:81 Rn. 34 ff. – Crono Service. 229 Näher von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 20 ff.; Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 5 ff.; Frenz NZV 2010, 430 (431 f.). 230 ABl. L 376 v. 27.12.2006, 36.

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§ 6 Transportrecht

Regelungen keine Anwendung auf „Verkehrsdienstleistungen einschließlich Hafendienste, die in den Anwendungsbereich von Titel V des Vertrags fallen“, finden. Zugleich ist das rechtliche Verhältnis von Dienstleistungsfreiheit und gemeinsamer Verkehrspolitik im Sinne eines uneingeschränkten Vorrangs letzterer bestimmt. Konsequenterweise hat der EuGH in Bezug auf die App UberPop es daher abgelehnt, eine internetbasierte Vermittlung von taxiähnlichen Verkehrsleistungen als durch die Dienstleistungsfreiheit gerechtfertigt zu qualifizieren. Vielmehr sei „ein Vermittlungsdienst …, der es mittels einer Smartphone-Applikation ermöglichen soll, gegen Entgelt eine Verbindung zwischen nicht berufsmäßigen Fahrern, die das eigene Fahrzeug benutzen, und Personen herzustellen, die eine Fahrt im innerstädtischen Bereich unternehmen möchten, als mit einer Verkehrsdienstleistung untrennbar verbunden anzusehen und daher als Verkehrsdienstleistung im Sinne von Art. 58 Abs. 1 AEUV einzustufen“, sofern der Vermittlungsdienst „einen entscheidenden Einfluss auf die Bedingungen aus[übt], unter denen diese Fahrer die Leistung erbringen. Dabei ist insbesondere klar ersichtlich, dass Uber durch die gleichnamige Anwendung zumindest den Höchstpreis für die Fahrt festsetzt, dass diese Gesellschaft den Preis beim Kunden erhebt und danach einen Teil davon an den nicht berufsmäßigen Fahrer des Fahrzeugs überweist und dass sie eine gewisse Kontrolle über die Qualität der Fahrzeuge und deren Fahrer sowie über deren Verhalten ausübt, die gegebenenfalls zu ihrem Ausschluss führen kann.“231 Grundsätzlich können und müssen zwar auch die Wertungen der Dienstleistungsfreiheit in die Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik einfließen;232 wegen Art. 58 Abs. 1 AEUV ist dies jedoch nur in sehr geringem Umfang erforderlich. Im Anwendungsbereich von Art. 100 Abs. 2 AEUV gilt die Dienstleistungsfreiheit jedoch unmittelbar.233 101 Für die Niederlassungsfreiheit stellen sich insoweit mit der Dienstleistungsfreiheit vergleichbare Problemstellungen als die Niederlassung von Verkehrsunternehmen in anderen Mitgliedstaaten betroffen ist. Eine Art. 58 Abs. 1 AEUV entsprechende Vorschrift besteht diesbezüglich jedoch nicht. Dennoch ist das Marktöffnungspotential der Art. 49 ff. AEUV überaus gering, da trotz der Formulierung der Niederlassungsfreiheit als Beschränkungsverbot in Art. 49 Abs. 1 AEUV sich diese weitgehend auf eine Gleichstellung EU-ausländischer mit inländischen Unternehmen beschränkt.234 Darüber hinausgehende Betätigungsmöglichkeiten garantiert die Niederlassungsfreiheit nicht. Infolgedessen ist sie nur in geringem Umfang geeignet, allgemein geltende Marktzutrittsbarrieren zu überwinden, wie sie über lange Zeit hinweg für die Verkehrsmärkte prägend waren. 102 Insgesamt kommt die liberalisierende Wirkung der Grundfreiheiten ebenso wie diejenige des daran anknüpfenden Binnenmarktes (→ Rn. 94 ff.) im Hinblick auf den Verkehr nur in sehr geringem Umfang zum Tragen. Die Verwirklichung ihrer Ziele obliegt weitgehend dem Sekundärrechtsetzer im Rahmen der Ausformung der gemeinsamen Verkehrspolitik auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV. Die Wirkungen der Grundfreiheiten auf die Organisation der Verkehrsmärkte sind daher höchst mittelbar und unterscheiden sich auch dadurch deutlich von denjenigen auf anderen Märkten.

231 EuGH 20.12.2017 – C-434/15, EuZW 2018, 131 Rn. 48, 39 – Asociación Profesional Elite Taxi/Uber Systems SpainSL; daran anknüpfend EuGH 10.4.2018 – C-320/16, EuZW 2018, 378 – Uber France SAS. 232 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 7; Frenz NZV 2010, 430 (431). 233 EuGH 4.4.1974 – Rs. 167/73, Slg 1974, 359, Rn. 17 ff. – Kommission/Frankreich; 7.6.2007 – C-178/05, Slg 2007, I-4185, Rn. 52 – Kommission/Griechenland; aA von der Groeben/Schwarze/Hatje/Fehling Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 21. 234 Vgl. diesbezüglich EuGH 22.12.2010 – C-338/09, EuZW 2011, 190 – Yellow Cab.

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c) EU-Grundrechte Verkehr ist nicht nur objektiv für das Funktionieren von Gesellschaften und Märkten un- 103 erlässlich, sondern weist zugleich in mehrfacher Hinsicht eine subjektive Dimension auf. Anbieter und Nutzer von Verkehrsleistungen genießen jeweils spezifischen Grundrechtsschutz235 (auch) auf Grundlage der Europäischen Grundrechtecharta. Im Einzelfall kann ein Grundrechtsschutz mittelbar durch Verkehr Betroffener, etwa von Anwohnern an Verkehrswegen, hinzutreten. Die Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik muss dieser grundrechtlichen Gemengelage Rechnung tragen. Das Angebot von Verkehrsleistungen durch einen Verkehrsunternehmer unterfällt als be- 104 rufliche und unternehmerische Tätigkeit dem Schutzbereich der Art. 15 und 16 GRC.236 Trotz der in Art. 15 Abs. 2 GRC verankerten „Freiheit, in jedem Mitgliedstaat … zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen“, sind die (potenziellen) Auswirkungen dieser grundrechtlichen Gewährleistungen jedoch im Verkehrssektor tendenziell gering. Für die unternehmerische Freiheit des Art. 16 AEUV folgt dies vor dem Hintergrund von Art. 90 ff. AEUV und der Wirkungsschwäche von Binnenmarkt und Grundfreiheiten im Verkehrsbereich (→ Rn. 94 ff., 97 ff.) unmittelbar aus der tatbestandlichen Einschränkung, dass diese (nur) „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“ wird. Grundrechtlich wird insoweit nicht mehr Freiheit gewährleistet, als bereits auf Grundlage des AEUV besteht. Infolgedessen gehen von Art. 16 AEUV kaum Liberalisierungsimpulse aus. Gleiches gilt auch für Art. 15 Abs. 2 AEUV (soweit dieser neben Art. 16 AEUV Anwendung finden kann)237 in Anbetracht der in Art. 52 Abs. 2 GRC enthaltenen Einschränkung, dass „[d]ie Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, … im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen“ erfolgt. Letztlich kommen Berufs- und Unternehmerfreiheit nur zum Tragen, soweit sekundärrechtlich auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV Betätigungsmöglichkeiten für Verkehrsunternehmer durch eine Marktöffnung vorgesehen werden. Trotz der geringen Eigenständigkeit der Gewährleistungen in der GRC sind diese bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik nicht ohne jede Bedeutung. Die grundlegende Bedeutung von Berufs- und Unternehmerfreiheit, die Art. 15 f. GRC in Anknüpfung an die frühere Rechtsprechung des EuGH zum Ausdruck bringen und die zugleich teilweise mit entsprechenden Gewährleistungen in den mitgliedstaatlichen Verfassungen korrespondiert, kann in Anbetracht des Stellenwertes der Grundrechte in der EU, wie er in Art. 6 EUV zum Ausdruck kommt, nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Zumindest sind die grundrechtlichen Positionen der Verkehrsunternehmer bei der Entscheidungsfindung anzuerkennen und in die Abwägung einzustellen. Gleiches gilt für die Mobilitätsgehalte der Grundrechte der Verkehrsnutzer. Ebenso wie 105 die Verwirklichung der Grundfreiheiten ist die effektive Inanspruchnahme von zahlreichen und überaus unterschiedlichen Grundrechten, etwa der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Art. 12 GRC, der Berufsfreiheit (im Hinblick auf verkehrsfremde Tätigkeiten), Art. 15 GRC, oder der Freizügigkeit, Art. 45 GRC, in der modernen arbeitsteiligen und raumübergreifenden Gesellschaft von der Existenz von Verkehrsmöglichkeiten abhängig. Die daraus folgende „grundrechtsverwirklichende“ Funktion des Verkehrs hat zwar einen mittelbaren Grundrechtsschutz der Verkehrsleistungen zur Folge. Auswirkungen auf die Organisation des Verkehrsmarktes sind damit allerdings nicht verbunden. Bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik ist allein ein Mindestmaß an Mobili235 Näher mit Bezug zum nationalen Recht Knauff, Gewährleistungsstaat, S. 182 ff. 236 Vgl. EuGH 9.9.2004 Rs. C-184/02 und C-223/02, Slg 2004, I-7789, Rn. 51 ff. – Spanien und Finnland/Parlament und Rat; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 9. 237 Dazu Meyer/Bernsdorff NK-EuGRCh Art. 15 Rn. 12 f.

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tät zu gewährleisten, wobei die Reichweite dieser Gewährleistungsfunktion gering ist. Grundrechtswidrig wäre allenfalls ein spürbarer Abbau von Verkehrsmöglichkeiten, der zugleich weder der Zielrichtung der gemeinsamen Verkehrspolitik auf Grundlage der Art. 90 ff. AEUV entspricht noch politisch zu erwarten ist. 106 Gewisse Auswirkungen auf die gemeinsame Verkehrspolitik kann schließlich das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Art. 31 GRC, im Hinblick auf die Arbeitnehmer im Verkehrssektor entfalten. Die spezifischen Gefahren der Verkehrsteilnahme und die Besonderheiten des Fernverkehrs gegenüber anderen Arbeitsfeldern sind bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik zu berücksichtigen. Kompetenziell wird dies insbesondere durch die Ermächtigung zum Erlass „alle[r] sonstigen zweckdienlichen Vorschriften“ gem. Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV ermöglicht. Art. 31 GRC legt nahe, diese Kompetenzgrundlage bei der Sekundärrechtsetzung im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik auch dafür zu nutzen, Normen zu schaffen, welche den Eigenheiten von Beschäftigungsverhältnissen im Verkehrssektor wie der uU langen Abwesenheit vom Betriebsort, verkehrsbedingten Risiken und einer vielfach hohen Verantwortung der Arbeitnehmer auch in deren Interesse Rechnung tragen. Ein konkreter Regelungsauftrag lässt sich Art. 31 GRC allerdings nicht entnehmen. d) Wettbewerbsrecht 107 Verkehrsleistungen weisen unabhängig von der Art und Weise ihrer Erbringung einen wirtschaftlichen Charakter auf und werden von Unternehmen im Sinne des europäischen Wirtschaftsrechts erbracht. Sie unterfallen daher grundsätzlich den in Titel VII Kap. 1 AEUV enthaltenen Wettbewerbsregeln des Kartell- und Beihilferechts.238 Diese enthalten auch keine generellen Ausnahmeregelungen für den Verkehrssektor oder einzelne seiner Teilbereiche. Das Primärrecht enthält nur einige punktuelle Sondervorschriften, steht einer den Besonderheiten des Verkehrssektors in gewissem Umfang Rechnung tragenden, tendenziell privilegierenden sekundärrechtlichen Ausgestaltung aber nicht entgegen. 108 Das europäische Kartellrecht der Art. 101 ff. AEUV verbietet Absprachen zwischen Unternehmen, abgestimmte Verhaltensweisen und den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen. Auf sekundärrechtlicher Grundlage wird zudem das Entstehen letzterer durch Unternehmenszusammenschlüsse unterbunden. Diese Restriktionen gelten auch für Verkehrsunternehmen in sämtlichen Bereichen des Personen- und Güterverkehrs,239 soweit nicht im Einzelfall eine funktional begründete Freistellung auf Grundlage von Art. 106 Abs. 2 AEUV erfolgt (→ Rn. 110 ff.) oder – insbesondere auf Grundlage von Art. 103 Abs. 2 lit. c AEUV, aber auch von Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV – besondere sekundärrechtliche Vorgaben bestehen. Letzteres ist in gewissem Umfang der Fall (→ Rn. 117, 165, 178). Infolgedessen ist der Verkehrssektor ungeachtet des Fehlens spezifischer primärrechtlicher Anknüpfungspunkte als kartellrechtlicher Sonderbereich zu qualifizieren. In ihren wettbewerblichen Auswirkungen negative Verhaltensweisen von Unternehmen sind danach in einem größeren Umfang als nach allgemeinem Kartellrecht zulässig. Für hoheitliche Maßnahmen der Marktorganisation seitens der Mitgliedstaaten wie auch der EU bilden die Art. 101 ff. AEUV ohnehin keinen Rechtmäßigkeitsmaßstab. 109 Das grundsätzliche Verbot wettbewerbsverfälschender staatlicher Beihilfen nach Art. 107 Abs. 1 AEUV gilt ähnlich wie die Art. 101 ff. AEUV ebenfalls grundsätzlich auch für den 238 Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 10, Art. 91 Rn. 96 ff.; Frenz NZV 2010, 430 (433); s. auch ausführlich Dauses/Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 188 ff.; umfassend Ortiz Blanco/van Houtte, EU Regulation and Competition Law in the Transport Sector, 2. Aufl. 2017. 239 EuGH 30.4.1986 – Rs. 209–213/84, Slg 1986, 1425, Rn. 38 ff. – Asjes ua; 11.4.1989 – 66/86, Slg 1989, 803, Rn. 19 ff. – Ahmed Saeed.

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Verkehrssektor. Mit Art. 93 AEUV besteht diesbezüglich jedoch anders als im Kartellrecht eine primärrechtliche Sonderregelung, die bestimmte Arten von Beihilfen im Verkehrssektor ohne Weiteres vom Beihilfeverbot ausnimmt (→ Rn. 71 ff.), so dass eine staatliche Förderung von Verkehrsunternehmen, die den Charakter einer Beihilfe aufweist, in deutlich größerem Maße als von Unternehmen in anderen Branchen möglich ist. Soweit Art. 93 AEUV tatbestandlich nicht einschlägig ist, können staatliche Beihilfen an Verkehrsunternehmen darüber hinaus auf Grundlage von Art. 107 Abs. 3 AEUV (insbesondere lit. e) sowie von Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV freigestellt werden. Beihilferechtlich ist der Verkehrssektor daher insgesamt als privilegierter Bereich zu qualifizieren, der weiteren Privilegierungen zugänglich ist. e) Ausnahmen für mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraute Unternehmen Die besondere Bedeutung des Verkehrs für die Funktionsfähigkeit der modernen Gesell- 110 schaft hat eine Qualifikation weiter Bereiche, insbesondere des Öffentlichen Personenverkehrs,240 darüber hinaus zumindest potenziell aber auch von Teilen des Güterverkehrs, als Dienst(leistung) von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne der Art. 14, 106 Abs. 2 AEUV, Art. 36 GRC zur Folge. Zwar lässt sich eine abstrakte Abgrenzung von rein marktbezogenen Verkehren und solchen mit einer besonders schützenswerten gesamtgesellschaftlichen Zwecksetzung auch vor dem Hintergrund der Unklarheit der europarechtlichen Begrifflichkeit kaum treffen. Entscheidend ist vielmehr die Gemeinwohlorientierung der Verkehrsleistung im Einzelfall.241 Ist diese gegeben, gestattet Art. 106 Abs. 2 AEUV die Inanspruchnahme von Ausnahmen von der Anwendung des Europarechts für die betroffenen Verkehre. Beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung kommt dem keine praktische Relevanz zu, da die gemeinsame Verkehrspolitik den Besonderheiten des Verkehrssektors auch insoweit Rechnung trägt. Dem entspricht zugleich die Intention der Mitgliedstaaten bei der Schaffung von Sonderregeln für den Verkehr. Erst eine (aus politischen Gründen unwahrscheinliche) vollständige Freigabe des Verkehrsmarktes im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik würde Art. 106 Abs. 2 AEUV jedoch dann (wieder) einen Anwendungsbereich im Verkehrssektor verschaffen, wenn die sekundärrechtliche Ausgestaltung die Gemeinwohlfunktionen des Verkehrs missachtet. In diesem Falle könnten die Mitgliedstaaten für Verkehre mit „Daseinsvorsorgecharakter“ Ausnahmen von den europarechtlichen Vorgaben auf Grundlage von Art. 106 Abs. 2 AEUV in Anspruch nehmen. Die Qualifikation von Verkehren als Dienst(leistung) von allgemeinem wirtschaftlichem 111 Interesse ist jedoch zugleich von der EU bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik zu berücksichtigen. Art. 14 S. 1 AEUV bestimmt, dass die EU „im Rahmen ihrer … Befugnisse im Anwendungsbereich der Verträge dafür Sorge [trägt], dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können.“ Zusätzlich „anerkennt und achtet“ die EU nach Art. 36 GRC „den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu fördern.“ Hieraus folgt eine primärrechtliche Verpflichtung der EU, (auch) bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik sicherzustellen, dass die Gemeinwohlorientierung der erfassten Tätigkeiten gewahrt bleibt. Der Verkehrssektor, für dessen sekundärrechtliche Ausgestaltung 240 S. bereits Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938, S. 7, 36 f. 241 Knauff, Gewährleistungsstaat, S. 126 ff.

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§ 6 Transportrecht

Art. 90 AEUV explizit auf die Verfolgung der Ziele der Verträge und damit auch auf die Grundsatzbestimmung des Art. 14 AEUV verweist, zählt zu den (wenigen) Bereichen, in denen diese Verpflichtung praktische Relevanz erlangen kann. Ungeachtet der normhierarchischen Gleichrangigkeit ihrer Verankerung mit dem verkehrsspezifischen Sekundärrecht sind bei dessen Erlass nach ihrer Schaffung auch die in Verordnungen auf Grundlage von Art. 14 S. 2 AEUV festgelegten „Grundsätze und Bedingungen“ für das Funktionieren von Dienst(leistung)en von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse242 zu berücksichtigen. Diesen kommt nach Sinn und Zweck des Art. 14 S. 2 AEUV notwendig eine Maßstabfunktion für konkretisierendes Sekundärrecht in den einzelnen Sektoren zu, in denen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse angeboten werden, mithin auch für weite Teile des Verkehrssektors. 112 Sowohl die nach Art. 106 Abs. 2 AEUV möglichen Ausnahmen von der Anwendung europarechtlicher Vorgaben als auch die positive Anerkennung von Dienst(leistung)en von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in Art. 14 AEUV, Art. 36 GRC sind ausschließlich funktional begründet. Staatliche und kommunale Verkehrsunternehmen, denen in zahlreichen Mitgliedstaaten eine hohe Bedeutung insbesondere im Öffentlichen Personenverkehr zukommt, werden daher durch die Vorschriften nicht geschützt.243 Einer (weiteren) Liberalisierung der Verkehrsmärkte im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik steht das primärrechtliche Bekenntnis zu Dienst(leistung)en von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse daher nicht entgegen, sofern das Angebot und die Gemeinwohlorientierung der betroffenen Verkehre auf eine beliebige Weise sichergestellt werden. Jenseits dessen lässt sich den Art. 14, 106 Abs. 2 AEUV, 36 GRC kein Maßstab für die Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV entnehmen. f) Querschnittsklauseln 113 Die Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik muss schließlich den Anforderungen der Querschnittsklauseln der Art. 8 ff. AEUV entsprechen. Von Bedeutung sind dabei vor allem Umwelt- und Verbraucherschutzerfordernisse, Art. 11 f. AEUV. Vor dem Hintergrund der expliziten Inbezugnahme des Verkehrs in Art. 13 AEUV ist darüber hinaus dem Tierschutz Rechnung zu tragen. 114 Art. 11 AEUV legt fest, dass die Erfordernisse des Umweltschutzes bei den Unionspolitiken und damit auch bei der gemeinsamen Verkehrspolitik244 einbezogen werden müssen. Unabhängig von der fehlenden Festlegung eines konkreten Schutzniveaus folgt daraus eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten einer Ökologisierung (auch) des Verkehrssektors.245 Der hohen Umweltrelevanz des Verkehrs kann dabei sowohl durch Maßnahmen auf Grundlage von Art. 90 ff. AEUV als auch von Art. 191 ff. AEUV Rechnung getragen werden. Dies geschieht bislang jedoch nur defizitär. Eine Abstimmung von Verkehrs- und Umweltpolitik erfolgt nicht in einem Maße, welches eine praktische Relevanz von Art. 11 AEUV zu erkennen gibt. So zeichnet sich auch auf Art. 91 AEUV gestütztes verkehrsmarktbezogenes Sekundärrecht aus neuerer Zeit durch einen Verzicht auf die Einbeziehung ökologischer Belange aus.246 Umweltschutz im Verkehr und damit die bereichsspezi242 243 244 245

Dazu Knauff, Die Daseinsvorsorge im Vertrag von Lissabon, EuR 2010, 725 (731 ff.). Näher mwN Knauff, Gewährleistungsstaat, S. 111 ff. Vgl. EuGH 23.10.2007 – C-440/05, Slg 2007, I-9097, Rn. 58 ff. – Kommission/Rat. Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 9; Frenz Handbuch Europarecht, Bd. 6, Rn. 3108; Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 39, qualifiziert die „Förderung einer nachhaltigen Mobilität“ zum „Hauptziel“ der gemeinsamen Verkehrspolitik. Zum Verhältnis von europäischer Verkehrs- und Umweltpolitik s. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/ Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 135 ff. 246 Dazu mit Bezug zur Neuordnung des Güterkraftverkehrsrechts Knauff DVBl. 2011, 727 (732).

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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fische Realisierung des Regelungsgehalts des Art. 11 AEUV erfolgt vielmehr nahezu ausschließlich unter Inanspruchnahme der umweltpolitischen Kompetenzbestimmungen.247 Auf deren Grundlage wurden insbesondere Festlegungen über Umweltanforderungen an Fahrzeuge getroffen (→ Rn. 145 ff., 159, 168 ff., 188 f.). Diese tragen zwar durchaus zu einer Verringerung des Beitrags des einzelnen am Verkehr teilnehmenden Fahrzeugs zur Umweltbelastung bei. Ohne (bislang fehlende) ergänzende verkehrsmarktbezogene Regelungen, die auf Art. 91 Abs. 1, Art. 100 Abs. 2 AEUV zu stützen sind, sind ihre ökologischen Auswirkungen aber begrenzt, da sie die Folgen einer Verkehrszunahme nicht zu erfassen vermögen. Der Regelungsgehalt des Art. 11 AEUV harrt daher im Verkehrssektor noch weithin seiner Realisierung und ist insoweit zugleich als – wenn auch unbestimmter und vor allem programmatischer – fortbestehender Regelungsauftrag zu deuten. Weitaus stärker kommt bislang die verbraucherschutzpolitische Querschnittsklausel des 115 Art. 12 AEUV im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik zum Tragen. Insbesondere im Hinblick auf den Öffentlichen Personenverkehr überschneiden sich deren Ziele weithin mit denjenigen der Art. 14, 106 Abs. 2 AEUV und Art. 36 GRC (→ Rn. 110 ff.). Zudem führen auch die Traditionen in den Mitgliedstaaten, die in die Sekundärrechtsetzung einfließen, dazu, dass dem „Daseinsvorsorgecharakter“ zahlreicher Verkehrsleistungen und damit zugleich dem Verbraucherschutz im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik de facto Rechnung getragen wird. Verbraucherschutz ist dabei vor allem im Sinne eines Schutzes der Nutzer von Verkehrsleistungen insbesondere im Hinblick auf deren Erschwinglichkeit, Pünktlichkeit und Sicherheit zu verstehen. Bezüglich letzterer besteht zugleich mit Art. 91 Abs. 1 lit. c AEUV eine spezielle Kompetenzgrundlage. Anders als bei der Verwirklichung des Umweltschutzes stellt sich im Hinblick auf den Verbraucherschutz das Problem der Abgrenzung verschiedener potenziell einschlägiger spezieller Kompetenzen nur in geringem Maße, da Art. 169 AEUV die EU nur sehr eingeschränkt zu einer eigenständigen Gestaltung des Verbraucherschutzes im Wege der Rechtsetzung ermächtigt. Verbraucherschutz im Verkehr erfolgt daher nahezu notwendig auf Grundlage des Verkehrstitels. Der Verpflichtung der EU wie auch der Mitgliedstaaten aus Art. 13 AEUV, im Rahmen 116 ihrer Verkehrspolitik „den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung“ zu tragen, kann ungeachtet ihrer bislang nicht abschließend geklärten Bedeutung248 insbesondere durch den Erlass von Regelungen über die Durchführung von Tiertransporten Folge geleistet werden. Solche können für den spezifischen Teilverkehrsmarkt insbesondere auf Grundlage von Art. 91 Abs. 1 lit. d AEUV, aber aufgrund ihrer Binnenmarktrelevanz auch alternativ auf Grundlage von Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV erlassen werden. Eine potenzielle Bedeutung kann Art. 13 AEUV im Einzelfall darüber hinaus bei der Planung von Verkehrsinfrastrukturen im Rahmen der Schaffung transeuropäischer Verkehrsnetze zukommen, wobei zugleich im Hinblick auf den Lebensraumschutz Überschneidungen mit den primärrechtlichen Umweltschutzanforderungen bestehen. Insgesamt ist die Bedeutung von Art. 13 AEUV für den Verkehrssektor als eher gering zu veranschlagen.

II. Transportsekundärrecht Auf Grundlage der im AEUV enthaltenen Kompetenzgrundlagen hat die EU eine Vielzahl 117 sekundärrechtlicher Normen erlassen, die sämtliche in Art. 100 AEUV angesprochenen

247 Dies erklärt sich historisch aus den ursprünglich divergierenden Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren. 248 Vgl. Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 3.

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§ 6 Transportrecht Erscheinungsformen des Verkehrs betreffen.249 Der Entwicklungstand des Sekundärrechts in den einzelnen Verkehrsbereichen variiert jedoch erheblich. Dies ist sowohl auf die Divergenz der jeweils spezifischen sachlichen Fragestellungen als auch auf das Fehlen eines politischen Willens zu einer im Rahmen der tatsächlichen Möglichkeiten übergreifenden Gestaltung des europäischen Verkehrsmarktes zurückzuführen. Infolgedessen bestehen jeweils eigenständige normative Regime für den Land-, Luft-, Binnen- und Seeschiffsverkehr.250 Der Einschlägigkeit verschiedener Kompetenzgrundlagen unter Einbeziehung solcher, die außerhalb des Verkehrstitels verankert sind, kommt demgegenüber infolge ihrer weitgehenden primärrechtlichen Angleichung keine entscheidende Bedeutung mehr zu. Verkehrsbezogenes Sekundärrecht aus der Frühzeit beschränkte sich dagegen häufig auf die (heute) von Art. 100 Abs. 1 AEUV erfassten Sektoren. Noch in Geltung ist insoweit die vom EWG-Rat erlassene VO Nr. 11 über die Beseitigung von Diskriminierungen auf dem Gebiet der Frachten und Beförderungsbedingungen gem. Art. 79 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft251 (entspr. Art. 95 Abs. 1 AEUV). Die gleiche Beschränkung liegt der an einer frühen Regelung anknüpfenden VO (EG) Nr. 169/2009 des Rates über die Anwendung von Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs252 zugrunde, die gewisse Erleichterungen gegenüber dem allgemeinen europäischen Kartellrecht enthält.253 1. Landverkehr

118 Der Verkehr über Land ist die zugleich wichtigste und vielfältigste Erscheinungsform des Verkehrs. Er unterfällt sachlich gem. Art. 90, 100 Abs. 1 EUV uneingeschränkt der gemeinsamen Verkehrspolitik (→ Rn. 29 ff.). Eisenbahn- und Straßenverkehr sind sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr die wesentlichen Träger des Personen- und des Gütertransports. Sie sind daher Gegenstand zahlreicher sekundärrechtlicher Vorschriften.254 Diese lassen sich grundsätzlich danach unterscheiden, ob sie sich primär auf eine Gestaltung des Landverkehrsmarktes oder auf technische Aspekte beziehen. Eine Besonderheit bildet die RL 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zum Rahmen für die Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr und für deren Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern,255 die den Straßenverkehr als Gesamtsystem qualifiziert, dessen Funktionsfähigkeit durch den Einsatz intelligenter Technik optimiert werden soll.

249 Ausführlich dazu Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Sendmeyer EuR § 34 Rn. 12 ff. 250 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 91 Rn. 9. 251 ABl. L 52 v. 16.8.1960, 1121, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 569/2008 des Rates, ABl. L 161 v. 20.6.2008, 1. 252 ABl. L 61 v. 5.3.2009, 1. 253 Dazu Immenga/Mestmäcker/Knauff, Bd. 1, 6. Aufl. 2019, Verkehr Rn. 32 ff.; Loewenheim/Meessen/ Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann/Wachinger/Herrmann/Kreis 4. Teil Verkehr Rn. 27 ff. 254 Umfassend zur Entwicklung der europäischen Landverkehrspolitik (einschließlich Binnenschifffahrt) Frerich/Müller, Bd. 2. 255 ABl. L 207 v. 6.8.2010, 1, geändert durch RL (EU) 2017/2380, ABl. L 340 v. 20.12.2017, 1; s. ergänzend DVO (EU) Nr. 305/2013 der Kommission zur Ergänzung der RL 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die harmonisierte Bereitstellung eines interoperablen EU-weiten e Call-Dienstes, ABl. L 91 v. 3.4.2013, 1; DVO (EU) Nr. 885/2013 der Kommission zur Ergänzung der IVS-RL 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Bereitstellung von Informationsdiensten für sichere Parkplätze für Lastkraftwagen und andere gewerbliche Fahrzeuge, ABl. L 247 v. 18.9.2013, 1; DVO (EU) 2015/962 der Kommission zur Ergänzung der RL 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Bereitstellung EU-weiter Echtzeit-Verkehrsinformationsdienste, ABl. L 157 v. 23.6.2015, 21; DVO (EU) 2017/1926 der Kommission zur Ergänzung der RL 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Bereitstellung EU-weiter multimodaler Reiseinformationsdienste, ABl. L 272 v. 21.10.2017, 1.

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a) Marktbezogene Regelungen Die Entwicklung des landverkehrsbezogenen Sekundärrechts erfolgte zunächst weithin 119 verkehrsmittelspezifisch und zudem entlang der Grenzen zwischen den Funktionen des Verkehrs. Personen- und Güterverkehr mit Eisenbahnen und Kraftfahrzeugen werfen nicht nur in tatsächlicher Hinsicht unterschiedliche Regelungsbedürfnisse auf, sondern werden auf europäischer Ebene zugleich politisch differenzierend bewertet. Dies schlägt sich in einer jeweils spezifischen Fassung des relevanten Sekundärrechts nieder. Weithin wurden die Landverkehrsmärkte jedoch liberalisiert. Für den ÖPV bestehen Sonderregeln, soweit dieser nicht ausschließlich auf kommerzieller Grundlage erbracht wird. aa) Eisenbahnverkehr Der Eisenbahnverkehr war herkömmlich in allen Mitgliedstaaten staatlich monopoli- 120 siert.256 Beginnend mit der VO (EWG) Nr. 1191/69 des Rates über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs257 und der VO (EWG) Nr. 1192/69 des Rates über gemeinsame Regeln für die Normalisierung der Konten der Eisenbahnunternehmen258, die beide zwischenzeitlich aufgehoben wurden, erfolgte eine zunächst zurückhaltende Europäisierung. Die zu diesem Zeitpunkt erfolgte Abgrenzung der Eisenbahnunternehmen von der staatlichen Exekutive259 bildete gleichwohl den Grundstein für die Liberalisierung des Eisenbahnmarktes. Diese ist heute weit fortgeschritten, bleibt aber noch hinter den anderen Sektoren zurück.260 Eisenbahnunternehmen in privater wie staatlicher Trägerschaft sind berechtigt, in allen Mitgliedstaaten sowohl Personen- als auch Güterverkehrsleistungen (zumindest) im Fernverkehr kommerziell anzubieten und zu diesem Zwecke insbesondere die bestehende Eisenbahninfrastruktur zu nutzen. Das Europarecht zielt darauf ab, den in den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor wenig ausgeprägten Wettbewerb auf dem Eisenbahnmarkt zu entwickeln und zugleich faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Als Kern des europäischen Eisenbahnmarktrechts ist die RL 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums261 zu qualifizieren, die durch weitere Sekundärrechtsakte ergänzt wird. Um die Rechte eines Eisenbahnunternehmens wahrnehmen zu können, bedürfen die be- 121 treffenden Unternehmen einer Genehmigung nach Art. 17 ff. RL 2012/34/EU.262 Diese Genehmigung wird vom Niederlassungsmitgliedstaat erteilt. Sie berechtigt zum Tätigwerden auf dem Eisenbahnmarkt im gesamten Unionsgebiet, jedoch noch nicht zur Infrastrukturnutzung (→ Rn. 123). Das Genehmigungserfordernis dient der Sicherstellung der Zuverlässigkeit, der finanziellen Leistungsfähigkeit und der fachlichen Eignung des Eisenbahn256 Zur historischen Ausgangssituation und den damit verbundenen Problemstellungen im Überblick Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 38 ff. 257 ABl. L 156 v. 28.6.1969, 1, geändert durch VO (EWG) 1893/91 des Rates, ABl. L 169 v. 29.6.1991, 1. 258 ABl. L 156 v. 28.6.1969, 8. 259 Deren Schutz vor staatlicher unentgeltlicher Verpflichtung zur Erbringung bestimmter Leistungen kann insoweit sogar als Hauptziel angesehen werden, Heinze, Zur Rechtsstellung der Unternehmen in dem seit 1. Januar 1996 geltenden Personenbeförderungsrecht, DÖV 1996, 977 (982); ähnlich Maaß, Der Wettbewerb im örtlichen Personenbeförderungswesen: Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Bereich straßengebundener Beförderung, 1998, S. 153. 260 Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV Art. 91, Rn. 46. 261 ABl. L 343 v. 14.12.2012, 32, zuletzt geändert durch Delegierten Beschluss (EU) 2017/2075, ABl. L 295 v. 14.11.2017, 69; s. dazu im Überblick Lerche, Die Neufassung des europäischen Eisenbahnregulierungsrechts, N&R 2013, 27 ff.; zu den Änderungen Staebe EuZW 2018, 146 ff. 262 Ergänzend DVO (EU) 2015/171 der Kommission über bestimmte Aspekte des Verfahrens der Genehmigung von Eisenbahnunternehmen, ABl. L 29 v. 5.2.2015, 3.

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§ 6 Transportrecht

unternehmens sowie dem Nachweis einer Haftpflichtversicherung. Bei Erfüllung dieser klassisch verkehrsgewerberechtlichen Voraussetzungen besteht ein Anspruch auf die Genehmigungserteilung. Auf Grundlage dieser Regelungen werden zugleich die verkehrsleistenden Akteure auf dem Eisenbahnmarkt identifiziert. 122 Art. 4 ff. RL 2012/34/EU legen vor dem Hintergrund der historischen Vereinnahmung der Eisenbahnen durch die Mitgliedstaaten fest, dass diese Unternehmen rechtlich und wirtschaftlich selbstständig sein und nach Maßgabe wirtschaftlicher Rationalität agieren263 müssen. Zuwendungen für gemeinwirtschaftliche Personenverkehrsleistungen (→ Rn. 131 ff.) sind gesondert auszuweisen und dürfen nicht auf andere Bereiche übertragen werden. Infrastruktur (Schienennetz, Bahnhöfe und sonstige Immobilien) und Betrieb sind wirtschaftlich und bei der Rechnungsführung zu trennen. Gefordert ist eine grundsätzliche Eigenverantwortlichkeit der Infrastrukturbetreiber für Betrieb und Instandhaltung der Schienenwege.264 Die Entscheidung über den Zugang von Eisenbahninfrastruktur ist Stellen vorzubehalten, die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. 123 Im Einzelnen erfolgt die Zulassung zur Infrastrukturnutzung und die Festlegung ihrer Bedingungen nach Art. 26 ff. RL 2012/34/EU. Grundsätzlich haben die Eisenbahnunternehmen danach im Rahmen der Kapazitäten einen Zulassungsanspruch, der sich an den Betreiber der Infrastruktur richtet. Die Zulassung wie auch die Nutzungsentgelte, die grundsätzlich nicht nur einzelfall-, sondern fahrplanbezogen erfolgen, dürfen weder diskriminierend noch prohibitiv wirken. Letztere sollen jedoch zugleich kostendeckend sein. Zusätzlich sieht die RL 2012/34/EU leistungsabhängige Entgeltbestandteile vor, die sowohl bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen als auch bei den Infrastrukturbetreibern zu Qualitätsverbesserungen führen sollen.265 Die Überwachung der Einhaltung der Vorgaben der RL obliegt einer von den Mitgliedstaaten einzurichtenden unabhängigen Regulierungsstelle. Die zentrale Zwecksetzung der Regelungen besteht darin, unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Eisenbahnmarktes, insbesondere der Angewiesenheit der Verkehrsleistungserbringung auf die nicht beliebig vermehrbare Eisenbahninfrastruktur, die Fairness und das Funktionieren des Wettbewerbs zu gewährleisten. Folge ist eine Öffnung und Verschmelzung der mitgliedstaatlichen Eisenbahnmärkte. Die Kabotage ist jedoch nach wie vor nicht uneingeschränkt zulässig.266 124 Die RL 2012/34/EU wird durch weitere Sekundärrechtsakte ergänzt, die sich auf den Eisenbahnmarkt beziehen. Der Schaffung seiner Voraussetzungen dient im Rahmen ihres Anwendungsbereichs die VO (EU) Nr. 913/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Gü263 Zu Einschränkungen im Hinblick auf den Schutz nach der VO (EG) Nr. 1370/2007 erteilter öffentlicher Dienstleistungsaufträge siehe DVO (EU) 2018/1795 der Kommission zur Festlegung des Verfahrens und der Kriterien für die Durchführung der Prüfung des wirtschaftlichen Gleichgewichts gemäß Artikel 11 der RL 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 294 v. 21.11.2018, 5. 264 Näher Staebe EuZW 2018, 146 (148 f.); mit Bezug zur nationalen Umsetzung Ludwigs, Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs im Eisenbahnbereich. Welches Gesicht gibt das Artikelgesetz der Regulierung?, NVwZ 2016, 1665 ff.; ausführlich, jedoch nicht mehr uneingeschränkt aktuell, Helmstädter, Die Trennung von Netz und Betrieb im Eisenbahnsektor. Eine europarechtliche Untersuchung des Ownership Unbundling, 2011, insbes. ab S. 171. 265 Siehe ergänzend DVO (EU) 2015/909 der Kommission über die Modalitäten für die Berechnung der Kosten, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallen, ABl. L 148 v. 13.6.2015, 17; DVO (EU) 2015/10 der Kommission über Kriterien für Antragsteller hinsichtlich der Zuweisung von EisenbahnFahrwegkapazität und zur Aufhebung der DVO (EU) Nr. 870/2014, ABl. L 3 v. 7.1.2015, 34; DVO (EU) 2016/545 der Kommission über Verfahren und Kriterien in Bezug auf Rahmenverträge für die Zuweisung von Fahrwegkapazität, ABl. L 94 v. 8.4.2016, 1. 266 Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 75; s. auch DVO (EU) Nr. 869/2014 der Kommission über neue Schienenpersonenverkehrsdienste, ABl. L 239 v. 12.8.2014, 1.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts terverkehr,267 die Vorgaben für die erforderliche Infrastruktur und deren Nutzung enthält. Sie bezweckt zugleich eine Stärkung des Güterverkehrs auf der Schiene. Auf Grundlage der VO (EU) 2018/643 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Statistik des Eisenbahnverkehrs268 werden Daten erhoben, die dessen Parameter betreffen. Die damit verbundene Marktbeobachtung ermöglicht nicht zuletzt eine politische Evaluation des europäischen Eisenbahn(markt)rechts und ist damit Voraussetzung für dessen Weiterentwicklung. Vornehmlich dem Verbraucherschutz im Eisenbahnmarkt dient dagegen die VO (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr,269 die anders als die übrigen eisenbahnrechtlichen Vorgaben den Güterverkehr naturgemäß nicht umfasst. Darüber hinaus bezweckt sie jedoch auch, die Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Erbringung qualitativ hochwertiger Verkehrsleistungen anzuhalten, um die Attraktivität der Eisenbahn als Verkehrsmittel im Personenfernverkehr zu verbessern. Schließlich soll der Eisenbahnbinnenmarkt durch die Gewährleistung der Interoperabilität der Systeme gefördert werden. Diesem Zweck dient die RL (EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union270 die auf eine technische Harmonisierung im Eisenbahnverkehr (einschließlich Infrastruktur) abzielt, um einen 267 ABl. L 276 v. 20.10.2010, 22, geändert durch VO (EU) Nr. 1316/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 348 v. 20.12.2013, 129; zur Primärrechtskonformität von Art. 29 und Anhang II EuGH 12.11.2015 – C-121/14, Rn. 42 ff. – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat. 268 ABl. L 112 v. 2.5.2018, 1; s. ergänzend VO (EG) Nr. 332/2007 der Kommission über die technischen Einzelheiten der Datenübermittlung der Statistiken über den Eisenbahnverkehr, ABl. L 88 v. 29.3.2007, 16. 269 ABl. L 315 v. 3.12.2007, 14; dazu Staudinger, Zweifelsfragen der VO (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, EuZW 2008, 751; Lindemann, Neue Fahrgastrechte im Eisenbahnverkehr, TranspR 2011, 10; zur Interpretation des Art. 8 Abs. 2 iVm Anhang II Teil II EuGH 22.11.2012 – C-136/11, NVwZ 2013, 355 – Westbahn Management GmbH/ÖBB Infrastruktur AG; zu Art. 17 und 30 Abs. 1 EuGH 26.9.2013 – C-509/11, NJW 2013, 3429 – ÖBB-Personenverkehr AG. 270 ABl. L 138 v. 26.5.2016, 44; ergänzend DVO (EU) 2019/250 der Kommission über die Muster der EG-Erklärungen und -Bescheinigungen für Eisenbahn-Interoperabilitätskomponenten und -Teilsysteme, das Muster der Typenkonformitätserklärung für Schienenfahrzeuge und über die EG-Prüfverfahren für Teilsysteme gemäß der RL (EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 201/2011 der Kommission, ABl. L 42 v. 13.2.2019, 9; Beschluss 2011/155/EU der Kommission über die Veröffentlichung und Verwaltung des Referenzdokuments gem. Art. 27 Abs. 4 der RL 2008/57/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Gemeinschaft, ABl. L 63 v. 10.3.2011, 22; Beschluss der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems Verkehrsbetrieb und Verkehrssteuerung des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union und zur Änderung der Entscheidung 2007/756/EG, ABl. L 345 v. 15.12.2012, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2015/995, ABl. L 165 v. 30.6.2015, 1; VO (EU) Nr. 321/2013 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems Fahrzeuge – Güterwagen des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union und zur Aufhebung der Entscheidung 2006/861/EG der Kommission, ABl. L 104 v. 12.4.2013, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2015/924 der Kommission, ABl. L 150 v. 17.6.2015, 10; VO (EU) Nr. 1299/2014 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems „Infrastruktur“ des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union, ABl. L 356 v. 12.12.2014, 1; VO (EU) Nr. 1300/2014 der Kommission über die technischen Spezifikationen für die Interoperabilität bezüglich der Zugänglichkeit des Eisenbahnsystems der Union für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität, ABl. L 356 v. 12.12.2014, 110; VO (EU) Nr. 1301/2014 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems „Energie“ des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union, ABl. L 356 v. 12.12.2014, 179; VO (EU) Nr. 1302/2014 der Kommission über eine technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems Fahrzeuge – Lokomotiven und Personenwagen des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union, ABl. L 356 v. 12.12.2014, 228, zuletzt geändert durch DVO (EU) 2018/868 der Kommission, ABl. L 149 v. 14.6.2018, 16; VO (EU) Nr. 1303/2014 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität bezüglich der Sicherheit in Eisenbahntunneln im Eisenbahnsystem der Europäischen Union, ABl. L 356 v. 12.12.2014, 394, geändert durch VO (EU) 2016/912 der Kommission, ABl. L 153 v. 10.6.2016, 28; VO (EU) Nr. 1304/2014 der Kommission

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§ 6 Transportrecht durchgehenden Zugverkehr in der EU zu ermöglichen. Den mit dem Brexit verbundenen Problemstellungen trägt die VO (EU) 2019/503 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2019 über bestimmte Aspekte der Sicherheit und Konnektivität im Eisenbahnverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union271 Rechnung. bb) Güterkraftverkehr

125 Die Bedeutung des Güterkraftverkehrs hat seit der Gründung der EWG stetig zugenommen. Zugleich hat sich der Markt – nicht zuletzt unter europäischem Einfluss – erheblich gewandelt. Traditionell unterlagen Güterkraftverkehrsunternehmen zahlreichen Restriktionen. Kontingentierung, Preisbindungen und ein Vorrang des Schienengüterverkehrs in weitgehend abgeschotteten mitgliedstaatlichen Märkten bildeten zum Zeitpunkt des Einsetzens der gemeinsamen Verkehrspolitik eher den Regel- als den Ausnahmefall.272 Die frühe güterkraftverkehrsbezogene Sekundärrechtsetzung knüpfte daran zunächst an. In den 1990er-Jahren erfolgte jedoch eine umfassende Liberalisierung, in deren Folge der Güterverkehrsmarkt EU-weit dem freien Wettbewerb geöffnet wurde. Auch die Kabotage wurde deutlich erleichtert. Im Jahr 2009 erfolgte durch das „Road Package“ eine teilweise Novellierung zentraler Bestandteile des einschlägigen europäischen Rechtsrahmens. Dabei wurden die zuvor bestehenden Richtlinien durch Verordnungen ersetzt, um die Durchsetzung der europarechtlichen Vorgaben zu verbessern. 126 Die VO (EG) Nr. 1071/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Regeln für die Zulassung zum Beruf des Kraftverkehrsunternehmers und zur Aufhebung der RL 96/26/EG des Rates273 regelt abschließend274 die gewerberechtlichen Voraussetzungen, die ein Unternehmer erfüllen muss, um Verkehrsleistungen mit Kraftfahrzeugen anbieten zu können. Der Anwendungsbereich der VO umfasst zwar neben dem Güterkraftverkehr auch die gewerbliche Personenbeförderung mit Kraftfahrzeugen

271 272 273 274

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über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems „Fahrzeuge – Lärm“ sowie zur Änderung der Entscheidung 2008/232/EG und Aufhebung des Beschlusses 2011/229/EU, ABl. L 356 v. 12.12.2014, 421; VO (EU) Nr. 1305/2014 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität zum Teilsystem Telematikanwendungen für den Güterverkehr des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 62/2006 der Kommission, ABl. L 356 v. 12.12.2014, 438, geändert durch DVO (EU) 2018/278 der Kommission, ABl. L 54 v. 24.2.2018, 11; VO (EU) 2016/919 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität der Teilsysteme „Zugsteuerung, Zugsicherung und Signalgebung“ des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union, ABl. L 158 v. 15.6.2016, 1; Delegierter Beschluss (EU) 2017/1474 der Kommission zur Ergänzung der RL (EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf spezifische Ziele für die Ausarbeitung, Annahme und Überarbeitung der Technischen Spezifikationen für die Interoperabilität (Bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2017) 3800), ABl. L 210 v. 15.8.2017, 5; DVO (EU) 2018/545 der Kommission über die praktischen Modalitäten für die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Schienenfahrzeugen und die Genehmigung von Schienenfahrzeugtypen gemäß der RL (EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 90 v. 6.4.2018, 66; DVO (EU) 2019/773 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems „Verkehrsbetrieb und Verkehrssteuerung“ des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2012/757/EU, ABl. L 139I v. 27.5.2019, 5; DVO (EU) 2019/777 der Kommission zu gemeinsamen Spezifikationen für das Eisenbahn-Infrastrukturregister und zur Aufhebung des Durchführungsbeschlusses 2014/880/EU der Kommission, ABl. L 139I v. 27.5.2019, 312; siehe zur Interoperabilitätsproblematik im Eisenbahnverkehr auch Schmehl, Die Vereinheitlichung technischer Spezifikationen im europäischen Eisenbahnwesen als Voraussetzung für Wettbewerb, 2008. ABl. L 85I vom 27.3.2019, 60. Für Deutschland Knauff DVBl. 2011, 727 (728 f.). ABl. L 300 v. 14.11.2009, 51, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 517/2013 des Rates, ABl. L 158 v. 10.6.2013, 1; im Überblick dazu Knorre TranspR 2011, 353 (354 f.); Müller-Eiselt VR 2012, 9 (12 f.). EuGH 8.2.2018 – C-181/17, ECLI:EU:C:2018:75 – Kommission/Spanien.

Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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von mehr als 3,5 t zulässigem Gesamtgewicht; über eine marktprägende Bedeutung verfügt sie jedoch insoweit kaum, da nicht rein kommerzielle, sondern (typischerweise) der Daseinsvorsorge zugehörige Busverkehre der VO (EG) Nr. 1370/2007 unterfallen (→ Rn. 131 ff.). Im Güterkraftverkehr bewirkt die VO (EG) Nr. 1071/2009 allerdings, dass eine mitgliedstaatliche Steuerung des Marktes in Anlehnung an überkommene Regelungsansätze ausgeschlossen ist. Allein ein unternehmerbezogenes Zulassungserfordernis ist vorgesehen. Güterkraftverkehr darf allerdings jedes Unternehmen durchführen, das über eine Niederlassung in einem EU-Mitgliedstaat verfügt, zuverlässig, finanziell leistungsfähig und fachlich geeignet ist. Diese Voraussetzungen werden in der VO im Detail konkretisiert, wobei im Interesse einer hohen Wettbewerbsintensität im Güterkraftverkehrsmarkt keine prohibitiv wirkenden Anforderungen aufgestellt werden. Die Mitgliedstaaten können darüber hinaus weitere Anforderungen aufstellen, sofern diese verhältnismäßig und nichtdiskriminierend sind. Die jeweils erforderlichen Nachweise sind von den Mitgliedstaaten gegenseitig anzuerkennen. Hinsichtlich der Verkehrsdurchführung bedarf es zur Gewährleistung ihrer Ordnungsmäßigkeit der Bestellung einer geeigneten natürlichen Person als Verkehrsleiter, der tatsächlich und dauerhaft die Verkehrstätigkeiten des Unternehmens leitet. Die Mitgliedstaaten überwachen die Erfüllung der Anforderungen der VO durch die Verkehrsunternehmen. Sie führen zu diesem Zweck elektronische Register und kooperieren miteinander.275 Die VO schafft gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen in allen Mitgliedstaaten und öffnet die mitgliedstaatlichen Güterkraftverkehrsmärkte für diejenigen Akteure, die sich in einem anderen als ihrem Herkunftsmitgliedstaat niederlassen wollen. Eine Berechtigung zum grenzüberschreitenden Angebot von Güterverkehrsleistungen in Form von Dienstleistungen vermittelt die VO allerdings nicht. Die insoweit maßgeblichen Vorgaben enthält die VO (EG) Nr. 1072/2009 des Europä- 127 ischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs.276 Diese stellt für den grenzüberschreitenden gewerblichen Güterkraftverkehr innerhalb der EU einheitliche Regeln auf. Danach ist für die Durchführung derartiger Verkehre eine Gemeinschaftslizenz erforderlich; Fahrer aus Drittstaaten benötigen zudem eine Fahrerbescheinigung. Die Gemeinschaftslizenz wird auf Antrag jedem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Verkehrsunternehmen, das die Berufszugangsvorschriften erfüllt (→ Rn. 126), von seinem Niederlassungsstaat erteilt. Spezifische Anforderungen bestehen nicht, so dass grundsätzlich jeder interessierte Güterkraftverkehrsunternehmer berechtigt ist, grenzüberschreitende Verkehrsleistungen anzubieten. Darüber hinaus berechtigt die Gemeinschaftslizenz in begrenztem Umfang zur Kabotage,277 also zur Durchführung von Transporten ohne Grenzüberschreitung innerhalb eines anderen Mitgliedstaates im Anschluss an einen Transport dorthin. Die VO gestattet diesbezüglich drei Beförderungen innerhalb von sieben Tagen nach der Entladung der bei der Einreise eingeführten Güter. Darüber hinaus können sich Kabotagebeförderungen innerhalb dieses Zeitraums in einem nochmals begrenzterem Maße auch auf weitere Mitgliedstaaten erstrecken. Die die Gemeinschaftslizenz ergänzende Fahrerbescheinigung dient dem Zweck, dass bei der Transportdurchführung nur Fahrpersonal eingesetzt wird, das ungeachtet fehlender Unionsbürgerschaft sowohl die aufenthaltsrechtlichen als auch die berufsspezifischen Anforderungen erfüllt. Ohne dass die VO (EG) Nr. 1072/2009 den Güterkraftverkehrsmarkt uneingeschränkt öffnen würde, schafft sie die Voraussetzungen 275 Dazu EuGH 5.10.2016 – C-583/15, ECLI:EU:C:2016:741 – Kommission/Portugal. 276 ABl. L 300 v. 14.11.2009, 72, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 517/2013 des Rates, ABl. L 158 v. 10.6.2013, 1; im Überblick Knorre TranspR 2011, 353 (355). 277 Dazu Müller-Eiselt VR 2012, 9 (15 f.); zur damit verbundenen Frage einer Kraftfahrzeugsteuerpflicht verneinend auf Grundlage der Vorgängerregelung EuGH 2.7.2002 – C-115/00, Slg 2002, I-6077 – Hoves Internationaler Transport-Service.

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§ 6 Transportrecht

für eine (weitere) Intensivierung und Europäisierung des Wettbewerbs in diesem. Für die hierfür erforderliche uneingeschränkte Freigabe der Kabotage fehlt es bislang an einem politischen Willen der Mitgliedstaaten und damit im Rat als wesentlichem Akteur im europäischen Gesetzgebungsverfahren. 128 Die vorstehend umrissenen Verordnungen werden durch eine Anzahl weiterer auf den Güterverkehrsmarkt bezogener Sekundärrechtsakte ergänzt. Die RL 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge278 ermöglicht ohne Anspruch auf Ausschließlichkeit die mitgliedstaatliche Einführung einer Mautpflicht für Kraftfahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 3,5 t, die auf bestimmten Fernverkehrsstraßen zum Gütertransport eingesetzt werden. In sachlichem Zusammenhang damit – wenn auch nicht beschränkt auf schwere Nutzfahrzeuge – steht die RL (EU) 2019/520 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme und die Erleichterung des grenzüberschreitenden Informationsaustauschs über die Nichtzahlung von Straßenbenutzungsgebühren in der Union.279 Ausdruck der traditionellen staatlichen Beeinflussung des Sektors ist die VO (EWG) Nr. 3916/90 des Rates über Maßnahmen bei Krisen auf dem Güterkraftverkehrsmarkt.280 Auf deren Grundlage können im Falle eines die Funktionsfähigkeit des Güterkraftverkehrsmarkts dauerhaft in Frage stellenden Überangebots eine Beschränkung des Marktzutritts neuer Unternehmen sowie kapazitätsausweitungsbegrenzende Maßnahmen verfügt werden. Praktische Relevanz hat diese bislang nicht entfaltet. Auf eine Ausweitung der Betätigungsmöglichkeiten der Güterkraftverkehrsunternehmen zielt dagegen die RL 2006/1/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verwendung von ohne Fahrer gemieteten Fahrzeugen im Güterkraftverkehr281 ab, indem sie diese für grundsätzlich zulässig erklärt. Weitere Sekundärrechtsakte befassen sich mit Sonderformen des Güterkraftverkehrs. So normiert die RL 92/106/EWG des Rates über die Festlegung gemeinsamer Regeln für bestimmte Beförderungen im kombinierten Güterverkehr zwischen Mitgliedstaaten282 die bei einer aus umwelt- und verkehrspolitischen Gründen grundsätzlich befürworteten partiellen Verlagerung der Güterbeförderung auf die Schiene mittels Eisenbahntransport von Lastkraftwagen, ihren Anhängern oder Containern auftretenden Fragen. Zu- und Ablaufverkehre können dabei von allen zugelassenen Güterkraftverkehrsunternehmen durchgeführt werden; eine Kontingentierung und spezifische Genehmigungspflichten sind ausgeschlossen. Die Durchführung von Tiertransporten setzt nach der VO (EG) Nr. 1/2005 des Rates über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der RL 64/432/EWG und 93/119/EG und der VO (EG) Nr. 1255/97283 zwar eine behördliche Zulassung voraus. Diese wird jedoch jedem Transportunternehmer erteilt, der die besonderen fachlichen Voraussetzungen erfüllt. Eine spezifische Regulierung des Marktes für Tiertransporte mit Kraftfahrzeugen ist damit nicht verbunden. Der Erkenntnis der tatsächlichen Marktsituation dient schließlich die VO (EU) Nr. 70/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die statis-

278 ABl. L 187 v. 20.7.1999, 42, zuletzt geändert durch RL 2013/22/EU des Rates, ABl. L 158 v. 10.6.2012, 356. 279 ABl. L 91 v. 29.3.2019, 45. 280 ABl. L 375 v. 31.12.1990, 10. 281 ABl. L 33 v. 4.2.2006, 82. 282 ABl. L 368 v. 17.12.1992, 38, geändert durch RL 2013/22/EU des Rates, ABl. L 356 v. 10.6.20013, 356; zur Förderung des kombinierten Verkehrs durch die EU s. umfassend, jedoch nicht mehr uneingeschränkt aktuell Thum, Der kombinierte Verkehr im Recht der EU, 1998. 283 ABl. L 3 v. 5.1.2005, 1; s. auch Brandt, Tiertransporte und Tierschutz im Europäischen Recht TranspR 2008, 230.

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tische Erfassung des Güterkraftverkehrs.284 Die Auswirkungen des Brexits auf den Güterkraftverkehr regelt die VO (EU) 2019/501 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2019 über gemeinsame Regeln zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Güter- und Personenkraftverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union.285 cc) Grenzüberschreitender Personenverkehr mit Kraftomnibussen Grenzüberschreitender Personenverkehr mit Kraftfahrzeugen in der EU gehört heute 129 ebenso wie der europaweite Güterkraftverkehr zur Normalität. Zumeist erfolgt er als Individualverkehr mit Personenkraftwagen, der keine verkehrsmarktbezogenen Regelungsbedürfnisse aufwirft. Allerdings nimmt auch der grenzüberschreitende Busverkehr zu. Dieser tritt zudem ungeachtet seiner europäischen Dimension potenziell in Konkurrenz mit dem innerstaatlichen ÖPV. Infolgedessen hat die EU in den 1990er-Jahren erste sekundärrechtliche Vorschriften geschaffen, die durch die nunmehr geltende VO (EG) Nr. 1073/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Regeln für den Zugang zum grenzüberschreitenden Personenkraftverkehrsmarkt und zur Änderung der VO (EG) Nr. 561/2006286 ersetzt wurden. Danach bedarf der Unternehmer ebenso wie im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr (→ Rn. 127) einer Gemeinschaftslizenz, die an die Stelle der nationalen Genehmigungen tritt. Auf deren Erteilung hat der beantragende Verkehrsunternehmer einen Anspruch, wenn er über eine Genehmigung für die Personenbeförderung mit Kraftomnibussen für die entsprechenden Verkehrsarten nach dem Recht des Mitgliedstaates der Niederlassung verfügt, die europarechtlichen Anforderungen bezüglich des Zugangs zum Beruf des Personenkraftverkehrsunternehmers sowie die Rechtsvorschriften über die Sicherheit im Straßenverkehr für Fahrer und Fahrzeuge287 erfüllt. Sofern der grenzüberschreitende Busverkehr im Liniendienst durchgeführt werden soll, 130 bedarf es zusätzlich einer Linienverkehrsgenehmigung. Diese darf nur versagt werden, wenn dem Verkehrsunternehmer nicht die zur Durchführung des Linienverkehrs erforderlichen Fahrzeuge unmittelbar zur Verfügung stehen, der Antragsteller früher gegen einschlägige Vorschriften des Personenbeförderungs- und Verkehrsrechts verstoßen hat, oder – bei Beantragung einer Genehmigungserneuerung – er hinsichtlich der ursprünglichen Genehmigung gegen deren Bedingungen verstoßen hat, wenn nachgewiesen wird, dass der beantragte Linienverkehr unmittelbar die Funktionsfähigkeit eines bestehenden gemeinwirtschaftlichen Verkehrsdienstes im Sinne der VO (EG) 1073/2009 (→ Rn. 131 ff.) gefährdet288 oder es sich um einen Verkehr handelt, der tatsächlich vornehmlich der Personenbeförderung innerhalb ein und desselben Mitgliedstaates dient. In der Genehmigung 284 ABl. L 32 v. 3.2.2012, 1; dazu ergänzend VO (EG) Nr. 2163/2001 der Kommission über die technischen Modalitäten für die Übermittlung der Daten zur Statistik des Güterkraftverkehrs, ABl. L 291 v. 8.11.2001, 13, geändert durch VO (EG) Nr. 973/2007 der Kommission, ABl. L 216 v. 21.8.2007, 10; VO (EG) Nr. 6/2003 der Kommission über die Verbreitung der Statistik des Güterkraftverkehr, ABl. L 1 v. 4.1.2003, 45, geändert durch VO (EU) Nr. 202/2010 der Kommission, ABl. L 61 v. 11.3.2010, 24. 285 ABl. L 85I v. 27.3.2019, 39. 286 ABl. L 300 v. 14.11.2009, 88, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 517/2013 des Rates, ABl. L 158 v. 10.6.2013, 1; ergänzend VO (EU) Nr. 361/2014 der Kommission mit Durchführungsvorschriften zur VO (EG) Nr. 1073/2009 hinsichtlich der Beförderungsdokumente für den grenzüberschreitenden Personenverkehr mit Kraftomnibussen und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 2121/98, ABl. L 107 v. 10.4.2014, 39. 287 Vgl. im Einzelnen dazu mit Verweis auf die einschlägigen Bestimmungen Frohnmeyer/Mückenhausen/ Ipsen VO (EWG) 684/92 Rn. 28 f. 288 Damit ist ein nur sehr beschränkter Wettbewerbsschutz verbunden, Frohnmeyer/Mückenhausen/Ipsen VO (EWG) 684/92 Rn. 51.

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§ 6 Transportrecht sind die Art des Verkehrsdienstes, die Streckenführung, die Gültigkeitsdauer sowie Haltestellen und Fahrpläne festzulegen. Mit dem Recht auf Durchführung des genehmigten Verkehrs geht zugleich eine entsprechende Verpflichtung einher. Die Auswirkungen des Brexits auf die Erbringung von Linienverkehrsdiensten und Sonderformen des Linienverkehrs regelt die VO (EU) 2019/501 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2019 über gemeinsame Regeln zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Güter- und Personenkraftverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union.289 dd) Öffentlicher Personenverkehr

131 Anders als in früheren Stadien der Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik knüpft das auf die Gestaltung des Verkehrsmarkts bezogene Sekundärrecht heute nicht mehr uneingeschränkt an die einzelnen Verkehrsträger an. Vielmehr erfolgt im ÖPV, soweit dieser der „Daseinsvorsorge“ zugehörig ist, eine den Eisenbahn- und den Straßenverkehr gleichermaßen betreffende Regelung. Die in der Praxis höchst bedeutsame VO (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der VOen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates290 knüpft an das primärrechtliche Bekenntnis zur Bedeutung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in den Art. 14, 106 Abs. 2 AEUV und Art. 36 GRC (→ Rn. 110 ff.) an und bemüht sich auf Grundlage dessen um einen Ausgleich zwischen den in zahlreichen Mitgliedstaaten verbreiteten traditionellen Modellen eines Leistungsangebots durch öffentliche Verkehrsunternehmen mit privilegierter Marktstellung und stärker wettbewerbsorientierten Ansätzen. Weithin liegt ihr das Modell eines regulierten Wettbewerbs zugrunde.291 Rein kommerzielle Verkehre erfasst die VO nicht; für Verkehre, die im Allgemeininteresse erbracht werden und daher gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unterliegen, die eine mangelnde wirtschaftliche Attraktivität für den Verkehrsunternehmer zur Folge haben und daher seitens der öffentlichen Hand kompensationsbedürftig sind, stellt sie jedoch eine abschließende Regelung auf. Die VO (EG) Nr. 1370/2007 ermöglicht eine Förderung des ÖPV durch die öffentliche Hand entweder durch finanzielle Ausgleichsleistungen oder durch die Einräumung ausschließlicher Rechte. Sonstige Fördermaßnahmen mit übereinstimmender Zielrichtung kommen in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich nicht in Betracht.292 132 Die Zahlung von Ausgleichsleistungen oder die Einräumung ausschließlicher Rechte kann nur unter engen Voraussetzungen erfolgen. Sie finden ihre Grundlage regelmäßig in einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag, dem zentralen Instrument der VO (EG)

289 ABl. L 85I v. 27.3.2019, 39. 290 ABl. L 315 v. 3.12.2007, 1, geändert durch VO (EU) 2016/2338, ABl. L 354 v. 14.12.2016, 22; Gesamterläuterungen bei Berschin in Säcker (Hrsg.) Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht, Bd. 4, 2. Aufl. 2019, VO (EG) 1370/2007; Willenbruch/Wieddekind/ Hübner Vergaberecht, 4. Aufl. 2017, 7. Teil; Linke VO (EG) Nr. 1370/2007; Saxinger/Winnes (Hrsg.), Recht des öffentlichen Personenverkehrs. Kommentar zur Personenbeförderung auf Straße und Schiene, Teil 1, Stand 12/2018; Immenga/Mestmäcker/Knauff, Bd. 5, 6. Aufl. 2020 (i.E.), VO (EG) Nr. 1370/2007; Ziekow/Völlink/Zuck Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, VO 1370; Jürschik, Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste; Linke, 148 ff.; zu den Änderungen Linke NZBau 2017, 331; Saxinger, Die Novellierung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 und ihre Auswirkungen auf den straßengebundenen ÖPNV, GewArch 2017, 463; Knauff N&R 2018, 26. 291 Zusammenfassend zum Wettbewerbsmodell Deuster DÖV 2010, 591 (593 f.). 292 Vgl. auch zur Vorgängerregelung EuGH 7.5.2009 – C-504/07, Slg 2009, I-3867, Rn. 20 ff. – Antrop; grundlegend zur Finanzierungsproblematik Lehr, Beihilfen zur Gewährleistung des öffentlichen Personennahverkehrs. Die europarechtskonforme Finanzierung der Daseinsvorsorge am Beispiel des ÖPNV in Deutschland, 2011.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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Nr. 1370/2007.293 Die VO verwendet diesbezüglich eine spezifische, vom vergaberechtlichen Verständnis abweichende Begrifflichkeit. Gegenstand des öffentlichen Dienstleistungsauftrags sind zum einen die Festlegung der spezifischen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, die der Verkehrsunternehmer zu erfüllen hat. Dabei handelt es sich um die zu erbringenden Verkehrsleistungen,294 Betriebs-, Tarif- und Beförderungspflichten.295 Zum anderen müssen öffentliche Dienstleistungsaufträge die „Gegenleistung“ der öffentlichen Hand enthalten, also die spezifische Ausgleichszahlung oder das näher bestimmte Ausschließlichkeitsrecht.296 Die Laufzeit öffentlicher Dienstleistungsaufträge kann bei Busverkehrsdiensten grundsätzlich bis zu zehn, bei schienengebundenen Verkehrsdiensten bis zu 15 Jahren betragen. Darüber hinaus können in öffentlichen Dienstleistungsaufträgen Vorgaben hinsichtlich Sozial- und Qualitätsstandards sowie der Unterauftragsvergabe297 aufgenommen werden. Anstelle der Erteilung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags kommt im Hinblick auf gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die ausschließlich298 einen finanziellen Ausgleich nach sich ziehen, alternativ eine Regelung durch allgemeine Vorschriften, etwa in Form von Rechtsnormen, in Betracht. Sind Verkehrsleistungen mit Bussen und Straßenbahnen (ohne U-Bahnen) Gegenstand öf- 133 fentlicher Dienstleistungsaufträge, ist bei deren Vergabe das europäische Vergaberecht vorrangig anzuwenden.299 Explizit ausgenommen ist jedoch die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen, die den Unternehmer zur wirtschaftlichen Nutzung der im Auftrag der Vergabestelle erbrachten Dienstleistung berechtigen300 Deren Vergabe richtet sich nach der VO (EG) Nr. 1370/2007, die insoweit als lex specialis zu qualifizieren ist.301 Nach der Rechtsprechung des EuGH greift der Vorrang des allgemeinen Vergaberechts jedoch auch bei der inhouse-Vergabe ein,302 deren Kennzeichen die Auftragsvergabe durch den öffentlichen Auftraggeber an eine mit ihm rechtlich nicht identische Einrichtung ist, über die er eine ähnliche Kontrolle wie über eine eigene Dienststelle ausübt und die im Wesentlichen

293 Zur Konzeption Schaaffkamp/Karl, Vom öffentlichen Interesse zur Konzeption und Vergabe des öffentlichen Dienstleistungsauftrags, in: Knauff, Bestellung, S. 23. 294 Vgl. Baumeister/Berschin A1 Rn. 178; Fandrey, S. 132 ff. 295 Vgl. BVerwG 29.10.2009 – 3 C 1.09, NVwZ-RR 2010, 559, Rn. 27; instruktiv dazu Winnes, Zum Begriff der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung im ÖPNV, DVBl. 2010, 790 (791 f.). 296 Zur Qualifikation der Liniengenehmigung als solches s. Deuster DÖV 2010, 591 (594 ff.); Saxinger, Genehmigungen und Ausgleichsleistungen im Personenbeförderungsrecht vor dem Hintergrund der neuen VO (EG) Nr. 1370/2007, DVBl. 2008, 688 (689 ff.); Sitsen, Der Begriff des ausschließlichen Rechts und seine Bedeutung für den ÖPNV, IR 2011, 76. 297 Näher Wittig, Vergabe von Subunternehmerleistungen im ÖPNV und SPNV, in: Knauff, Bestellung, S. 87. 298 Baumeister/Berschin A1 Rn. 160; Linke, S. 171. 299 Näher Hübner, Bestellung nach GWB-Vergaberecht, in: Knauff, Bestellung, S. 47. Ungeachtet des Wortlauts für einen Anwendungsvorrang des Vergaberechts auch außerhalb dieser Bereiche Weyd, Das Zusammenwirken von Vergabe- und Beihilfenrecht am Beispiel öffentlicher Personenverkehrsdienste, EWS 2010, 167 (173); aA Linke/Prieß/Linke Art. 5 Rn. 14; ausführlich zum Verhältnis zwischen den Normkomplexen Fandrey, S. 143 ff.; Linke, S. 246 ff.; näher zum Verhältnis von Vergaberecht und VO (EG) Nr. 1370/2007 Goede/Stoye/Stolz/Knauff 17. Kap. Rn. 19 ff.; Diemon-Wies, Die Vergabe von Busdienstleistungen im ÖPNV nach der VO (EG) 1370/2007, dem GWB oder dem PBefG?, VergabeR 2014, 305. 300 Näher Baumeister/Berschin A1 Rn. 202 ff.; Fandrey, S. 151 ff.; Griem/Mosters, Wettbewerbliche Vergaben nach Art. 5 Abs. 3 VO Nr. 1370/2007, in: Pünder/Prieß, S. 1, 5 ff.; Winnes, Öffentliche Auftragsvergabe im ÖPNV, VergabeR 2009, 712 (713 ff.); explizit für Fahrgeldeinnahmen EuGH 6.4.2006 – C-410/04, Slg 2006, I-3303, Rn. 16 – ANAV. 301 Prieß, Zulässigkeit der Direktvergabe im ÖPNV – Direktvergaben nach der VO 1370/2007, in Pünder/Prieß, S. 67, 69; s. auch Nettesheim NVwZ 2009, 1449 (1451). 302 EuGH 21.3.2019 – C-266/17, C-267/17, EuZW 2019, 388 – Rhein-Sieg-Kreis ua/Verkehrsbetrieb Hüttebräucker GmbH ua; gleichsinnig EuGH 8.5.2019 – C‑253/18, NZBau 2019, 658 – Rhenus Veniro.

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§ 6 Transportrecht

für diesen tätig werden muss.303 Die nicht spezifisch vergabebezogenen Bestimmungen der VO (EG) Nr. 1370/2007 sind stets zu beachten.304 134 Kommt die VO (EG) Nr. 1370/2007 zur Anwendung, werden öffentliche Dienstleistungsaufträge grundsätzlich im Wege eines als „wettbewerbliches Vergabeverfahren“ bezeichneten Ausschreibungswettbewerbs vergeben. Bei dessen Ausgestaltung verbleiben den Mitgliedstaaten mangels detaillierter europarechtlicher Vorgaben erhebliche Gestaltungsspielräume.305 Das Verfahren muss allein den allgemeinen Vergabegrundsätzen des offenen und fairen Wettbewerbs, der Nichtdiskriminierung und der Transparenz entsprechen. Verhandlungen nach Angebotsabgabe sind jedoch – anders als im allgemeinen Vergaberecht – zulässig.306 135 In bestimmten Fällen kann jedoch alternativ307 eine wettbewerbsfreie Direktvergabe erfolgen. Darin wählt die zuständige Behörde den Unternehmer nach eigenem Ermessen aus.308 Ein solches Vorgehen ist nur in den explizit aufgeführten Fällen309 zulässig. Danach ist eine Direktvergabe von Eisenbahnverkehrsleistungen bislang noch stets und voraussetzungslos zulässig; ab 25.12.2023 nur mehr unter spezifischen Voraussetzungen.310 Des Weiteren kann im Wege der Direktvergabe die Beauftragung eines internen Betreibers erfolgen. Anders als im (für Bus- und Straßenbahnverkehre vorrangigen) allgemeinen Vergaberecht stellt die untergeordnete Beteiligung Privater an einem öffentlichen Verkehrsunternehmen die Qualifikation als interner Betreiber die Möglichkeit der Direktvergabe nicht in Frage. Allerdings setzt diese zusätzlich voraus, dass der interne Betreiber und alle Unternehmen, an denen er Beteiligungen unabhängig von deren Höhe hält, öffentliche Personenverkehrsdienste ausschließlich innerhalb des geografischen311 Zuständigkeitsgebiets der zuständigen Behörde erbringen und sich außerhalb dessen nicht an wettbewerblichen Vergabeverfahren über ÖPV-Leistungen beteiligen. Davon ausgenommen sind nur Zubringerdienste in bzw. aus benachbarte(n) Gebiete(n). Schließlich ist eine Direktvergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge bei wirtschaftlich wenig bedeutenden und daher nicht 303 EuGH 19.11.1999 – C-107/98, Slg 1999, I-8121, Rn. 50 – Teckal; 11.1.2005 – C-26/03, Slg 2005, I-1, Rn. 49 – Stadt Halle. 304 Zur Unterauftragsvergabe EuGH 27.10.2016 – C-292/15, NZBau 2017, 48, Rn. 34 ff. – Hörmann Reisen; zur Vorinformationspflicht EuGH 20.9.2018 – C-518/17, NZBau 2018, 773 – Stefan Rudigier. 305 Näher Goede/Stoye/Stolz/Knauff 17. Kap. Rn. 26 ff.; Kramer/Hinrichsen, Bestellung nach der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, in: Knauff, Bestellung, S. 63, 78 ff. 306 Gegenstand der Verhandlungen können jedoch nur Aspekte sein, die einen sachlichen Bezug zu „der Besonderheit und der Komplexität“, mithin zu den Spezifika des zu vergebenden öffentlichen Dienstleistungsauftrags aufweisen. Reine Preisverhandlungen sind unzulässig, Griem/Mosters, Wettbewerbliche Vergaben nach Art. 5 Abs. 3 VO Nr. 1370/2007, in: Pünder/Prieß, S. 1, 21, mit insgesamt restriktiver Tendenz, vgl. auch Schröder, Inhalt, Gestaltung und Praxisfragen des wettbewerblichen Vergabeverfahrens nach der neuen europäischen ÖPNV-VO, NVwZ 2008, 1288 (1291); weiter Pünder, Die Vergabe von Personenverkehrsdienstleistungen in Europa und die völkerrechtlichen Vorgaben des WTO-Beschaffungsübereinkommens, EuR 2007, 564 (572); Fehling/Niehnus, Der europäische Fahrplan für einen kontrollierten Ausschreibungswettbewerb im ÖPNV – Zündfunke für eine Modernisierung des PBefG und neues Vergabemodell für Dienstleistungskonzessionen, DÖV 2008, 662 (664). 307 Zur Verfahrenswahl Knauff, Die Beauftragung von Verkehrsleistungen im ÖPNV: Direktvergabe versus wettbewerbliches Vergabeverfahren, DVBl. 2014, 692. 308 Nettesheim NVwZ 2009, 1449 (1452); enger Linke, S. 223 f.; kritisch zur Primärrechtskonformität Baumeister/Berschin A1 Rn. 206 ff. 309 Ausführlich dazu Fandrey, S. 195 ff.; im Überblick Goede/Stoye/Stolz/Knauff 17. Kap. Rn. 36 ff.; Knauff, Möglichkeiten der Direktvergabe im ÖPNV (Schiene und Straße), NZBau 2012, 65 (69 ff., 73); Wagner-Cardenal/Dierkes, Die Direktvergabe von öffentlichen Personenverkehrsdiensten, NZBau 2014, 738 (741 ff.). 310 Näher Knauff N&R 2018, 26 (27 f.); Linke NZBau 2017, 331 (335 ff.). 311 Stickler/Feske, Die In-House-Vergabe von ÖSPV-Leistungen nach der VO (EG) 1370/2007, VergabeR 2010, 1 (7 f.).

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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als binnenmarktrelevant zu qualifizierenden Aufträgen (de minimis-Vergaben) sowie bei Notmaßnahmen möglich. Werden gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen in allgemeinen Vorschriften312 vorgegeben 136 oder wird der zugrunde liegende öffentliche Dienstleistungsauftrag direkt vergeben, legt die VO (EG) Nr. 1370/2007 die Modalitäten der Berechnung der Ausgleichsleistungen detailliert fest, da deren Höhe dann anders als bei einer wettbewerblichen Vergabe nicht Gegenstand eines Preisfindungsprozesses unter Marktbedingungen war. Dabei sind die Berechnungsparameter so zu bestimmen, dass eine Überkompensation unter Berücksichtigung aller Einnahmen und Ausgaben sowie eines angemessenen Gewinns des Betreibers ausgeschlossen ist. Für den ÖPV mit Bussen gilt darüber hinaus die VO (EU) Nr. 181/2011 des Europäischen 137 Parlaments und des Rates über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004,313 deren Regelungsregime nach den zurückgelegten Wegstrecken differenziert. Sie dient vor allem dem Verbraucherschutz, nimmt aber zugleich auf die (Mindest-)Qualität der Verkehrsleistungen Einfluss. Neben fahrgastbezogenen Diskriminierungsverboten hinsichtlich der Beförderungsbedingungen oder wegen Behinderungen enthält sie Regelungen über Fahrgastrechte bei Unfällen, Gepäckverlust, Verspätung und Annullierung und sieht Informationspflichten der Verkehrsunternehmer sowie ein Beschwerdemanagement vor. b) Technische Regelungen Technische Regelungen bilden seit langem einen Schwerpunkt der landverkehrsbezogenen 138 Sekundärrechtsetzung (auch) im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik. Diese enthalten zumeist Anforderungen an die verwendeten Fahrzeuge und ihre Nutzung und zielen weithin auf eine Erhöhung von Sicherheit und Umweltschutz im Verkehr ab. Sie weisen im Allgemeinen eine hohe Detailgenauigkeit auf und sind im Zuge des technischen Fortschritts Gegenstand häufiger Änderungen. Aufgrund der erheblichen technischen Unterschiede bei der Verkehrserbringung mit Eisenbahnen oder Kraftfahrzeugen bezieht sich das relevante Sekundärrecht weithin jeweils nur auf eine der Verkehrsformen im Landverkehr. aa) Sicherheit Die Sicherheit des Verkehrs ist unabdingbar für seine störungsfreie Durchführung. Die Si- 139 cherheit der Verkehrsmittel ist zugleich Voraussetzung für ihre Verkehrsfähigkeit im Binnenmarkt. Insoweit sind Sicherheitsvorschriften zugleich ein Marktbezug zu Eigen. Sicherheitsbezogenes Sekundärrecht im Verkehr stellt daher Anforderungen an die Fahrzeuge und ihre Nutzung sowie an die Fahrzeugführer auf. (1) Anforderungen an Fahrzeuge und ihre Nutzung Im Eisenbahnsektor enthält die RL (EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des 140 Rates über Eisenbahnsicherheit314 die Grundanforderungen für die Gewährleistung einer sicheren Verkehrsleistungserbringung, die allerdings einer weiteren Konkretisierung be312 Zu den Besonderheiten Baumeister/Berschin A1 Rn. 166 f.; Linke, S. 178 ff.; umfassend Spanka, Gewährleistung des öffentlichen Personennahverkehrs durch allgemeine Vorschriften, 2019, insbes. S. 193 ff. 313 ABl. L 55 v. 28.2.2011, 1. 314 ABl. L 138 v. 26.5.2016, 102; konkretisierend VO (EU) Nr. 1158/2010 der Kommission über eine gemeinsame Sicherheitsmethode für die Konformitätsbewertung in Bezug auf die Anforderungen an die Ausstellung von Eisenbahnsicherheitsbescheinigungen, ABl. L 326 v. 10.12.2010, 11; VO (EU)

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§ 6 Transportrecht

dürfen, die insbesondere der Europäischen Eisenbahnagentur (→ Rn. 198) obliegt. Bei deren Erfüllung erhalten die transportdurchführenden Eisenbahnunternehmen eine Eisenbahnsicherheitsbescheinigung und die Fahrwegbetreiber der Eisenbahninfrastruktur eine Sicherheitsgenehmigung. Eine Koordinierungs- und Beratungsfunktion kommt in diesem Kontext der durch Beschluss der Kommission zur Einrichtung der EU-Plattform für die Sicherheit im Schienenpersonenverkehr315 begründeten Gruppe aus mitgliedstaatlich benannten Experten zu. Zudem wurde durch die VO (EU) Nr. 642/2014 des Rates zur Errichtung des Gemeinsamen Unternehmens Shift2Rail316 eine Öffentlich-Private Partnerschaft gegründet, die der Koordinierung und Verwaltung der Investitionen der Union in Forschung und Innovation für den europäischen Schienenverkehrssektor dient. 141 Zahlreiche Sekundärrechtsakte befassen sich mit Anforderungen an Kraftfahrzeuge aller Art. Diese dürfen nur dann in Verkehr gebracht und verwendet werden, wenn sie über eine Typgenehmigung nach der RL 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (Rahmenrichtlinie),317 die mit Wirkung vom 1.9.2020 durch die VO (EU) 2018/858 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Genehmigung und die Marktüberwachung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge, zur Änderung der VOen (EG) Nr. 715/2007 und (EG) Nr. 595/2009 und zur Aufhebung der RL 2007/46/EG318 ersetzt wird, und der diese ergänzenden VO (EG) Nr. 661/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen, Kraftfahrzeuganhängern und von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge hinsichtlich ihrer allgemeinen Sicherheit319 verfügen. Die letztgenannte VO führt eine Vielzahl zuvor bestehender Einzelregelungen zusammen und enthält insbesondere auch Vorgaben über die Notwendigkeit des Einbaus

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Nr. 1169/2010 der Kommission über eine gemeinsame Sicherheitsmethode für die Konformitätsbewertung in Bezug auf die Anforderungen an die Erteilung von Eisenbahnsicherheitsgenehmigungen, ABl. L 327 v. 11.12.2010, 13; VO (EU) Nr. 1078/2012 der Kommission über eine gemeinsame Sicherheitsmethode für die Kontrolle, die von Eisenbahnunternehmen und Fahrwegbetreibern, denen eine Sicherheitsbescheinigung beziehungsweise Sicherheitsgenehmigung erteilt wurde, sowie von den für die Instandhaltung zuständigen Stellen anzuwenden ist, ABl. L 320 v. 17.11.2012, 8; DVO (EU) Nr. 402/2013 der Kommission über die gemeinsame Sicherheitsmethode für die Evaluierung und Bewertung von Risiken und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 352/2009, ABl. L 121 v. 3.5.2013, 8, geändert durch DVO (EU) 2015/1136 der Kommission, ABl. L 185 v. 14.7.2015, 6; DVO (EU) 2018/761 der Kommission zur Festlegung gemeinsamer Sicherheitsmethoden für die Aufsicht durch die nationalen Sicherheitsbehörden nach Ausstellung einer einheitlichen Sicherheitsbescheinigung oder Erteilung einer Sicherheitsgenehmigung gemäß der RL (EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 1077/2012 der Kommission, ABl. L 129 v. 25.5.2018, 16; DVO (EU) 2018/763 der Kommission über die praktischen Festlegungen für die Erteilung von einheitlichen Sicherheitsbescheinigungen an Eisenbahnunternehmen gemäß der RL (EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 653/2007 der Kommission, ABl. L 129 v. 25.5.2018, 49; DVO (EU) 2019/779 der Kommission mit Durchführungsbestimmungen für ein System zur Zertifizierung von für die Instandhaltung von Fahrzeugen zuständigen Stellen gemäß der RL (EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 445/2011 der Kommission, ABl. L 139I v. 27.5.2019, 360. ABl. C 232 v. 3.7.2018, 3. ABl. L 177 v. 17.6.2014, 9. ABl. L 263 v. 9.10.2007, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2017/2400 der Kommission, ABl. L 349 v. 29.12.2017, 349. ABl. L 151 v. 14.6.2018, 1. ABl. L 200 v. 31.7.2009, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2016/1004 der Kommission, ABl. L 16 v. 23.6.2016, 1.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts von Geschwindigkeitsbegrenzungseinrichtungen320 und weiteren technischen Hilfssystemen in schwere Nutzfahrzeuge. Für Fahrzeuge der Klassen M1 und N 1 ergibt sich aus der VO (EU) 2015/758 des Europäischen Parlaments und des Rates über Anforderungen für die Typgenehmigung zur Einführung des auf dem 112-Notruf basierenden bordeigenen eCall-Systems in Fahrzeugen und zur Änderung der RL 2007/46/EG321 das Erfordernis des Vorhandenseins entsprechender Notrufsysteme. Die Notwendigkeit des Einbaus und der Nutzung eines Fahrtenschreibers folgt aus der VO (EU) Nr. 165/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates über Fahrtenschreiber im Straßenverkehr, zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über das Kontrollgerät im Straßenverkehr und zur Änderung der VO (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr.322 Für diese Fahrzeuge gelten des Weiteren die größen- und gewichtsbezogenen Vorgaben der RL 96/53/EG des Rates zur Festlegung der höchstzulässigen Abmessungen für bestimmte Straßenfahrzeuge im innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verkehr in der Gemeinschaft sowie zur Festlegung der höchstzulässigen Gewichte im grenzüberschreitenden Verkehr.323 Pkw, kleinere Nutzfahrzeuge und deren Anhänger müssen aus Gründen der Verkehrssicherheit mit Reifen ausgestattet sein, die den Anforderungen der RL 89/459/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Profiltiefe der Reifen an bestimmte Klassen von Kraftfahrzeugen und deren Anhängern324 entsprechen und somit eine Mindestprofiltiefe von 1,6 mm aufweisen. Zwei- und dreirädrige Kraftfahrzeuge325 sowie land- und forstwirtschaftliche Zugmaschinen326 unterliegen besonderen Regelungen, die sich auf ihre Bauart beziehen. Dem Nachweis der Erfüllung der technischen Anforderungen dient insbesondere die RL 1999/37/EG des Rates über Zulassungsdokumente für Fahrzeuge.327 Für sämtliche Kraftfahrzeuge schreibt die RL 2014/45/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über die regelmäßige technische Überwachung von 320 Dazu auch RL 92/6/EWG des Rates über Einbau und Benutzung von Geschwindigkeitsbegrenzern für bestimmte Kraftfahrzeugklassen in der Gemeinschaft, ABl. L 57 v. 2.3.1992, 27, geändert durch RL 2002/85/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 327 v. 4.12.2002, 8. 321 ABl. L 123 v. 19.5.2015, 77, geändert durch DVO (EU) 2017/79 der Kommission, ABl. L 12 v. 17.1.2017, 44; ergänzend DVO (EU) 2017/78 der Kommission zur Festlegung von Verwaltungsvorschriften für die EG-Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen bezüglich der auf dem 112-Notruf basierenden bordeigenen eCall-Systeme und einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der VO (EU) 2015/758 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Privatsphäre und des Datenschutzes für die Benutzer solcher Systeme, ABl. L 12 v. 17.1.2017, 26. 322 ABl. L 60 v. 28.2.2014, 1; ergänzend DVO (EU) 2016/68 der Kommission vom 21. Januar 2016 über die für die Vernetzung der elektronischen Register von Fahrerkarten notwendigen gemeinsamen Verfahren und Spezifikationen, ABl. L 15 v. 22.1.2016, 51, geändert durch DVO (EU) 2017/1503 der Kommission, ABl. L 221 v. 26.8.2017, 10; DVO (EU) 2016/799 der Kommission zur Durchführung der VO (EU) Nr. 165/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Vorschriften über Bauart, Prüfung, Einbau, Betrieb und Reparatur von Fahrtenschreibern und ihren Komponenten, ABl. L 139 v. 26.5.2016, 1, geändert durch DVO (EU) 2018/502 der Kommission, ABl. L 85 v. 28.3.2018, 1; DVO (EU) 2017/548 der Kommission zur Festlegung eines Musterformulars für die schriftliche Erklärung zu Entfernung oder Aufbrechen der Plombierung eines Fahrtenschreibers, ABl. L 79 v. 24.3.2017, 1. 323 ABl. L 235 v. 17.9.1996, 59, geändert durch RL 2015/719/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 115 v. 6.5.2015, 1. 324 ABl. L 226 v. 3.8.1989, 4. 325 VO (EU) Nr. 168/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Genehmigung und Marktüberwachung von zwei- oder dreirädrigen und vierrädrigen Fahrzeugen, ABl. L 60 v. 2.3.2013, 52, geändert durch DVO (EU) Nr. 134/2014 der Kommission, ABl. L 53 v. 21.2.2014, 1. 326 VO (EU) Nr. 167/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Genehmigung und Marktüberwachung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen, ABl. L 60 v. 2.3.2013, 1, zuletzt geändert durch DVO (EU) 2018/830 der Kommission, ABl. L 140 v. 6.6.2018, 15. 327 ABl. L 138 v. 1.6.1999, S. 57, zuletzt geändert durch RL 2014/46/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 127 v. 29.4.2013, 129. Nach EuGH 6.9.2012 – C-150/11,

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Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und zur Aufhebung der RL 2009/40/EG328 regelmäßige technische Untersuchungen vor, um die Verkehrssicherheit der Fahrzeuge dauerhaft sicherzustellen. Ergänzend zu mitgliedstaatlichen Vorgaben enthält die RL 2014/47/EU über die technische Unterwegskontrolle der Verkehrs- und Betriebssicherheit von Nutzfahrzeugen, die in der Union am Straßenverkehr teilnehmen, und zur Aufhebung der RL 2000/30/EG,329 für die erfassten Fahrzeuge spezifische Vorgaben für unangekündigte technische Kontrollen auf öffentlichen Straßen während der Verkehrsteilnahme. Während dieser greift darüber hinaus bei allen Automobilien die RL 91/671/EWG des Rates über die Gurtanlegepflicht und die Pflicht zur Benutzung von Kinderrückhalteeinrichtungen in Kraftfahrzeugen330 ein. Ebenfalls auf die sichere Straßennutzung ist die RL 2004/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen an die Sicherheit von Tunneln im transeuropäischen Straßennetz331 gerichtet, die allerdings infrastrukturbezogene Vorgaben enthält und somit einen anderen Regelungsansatz als die vorstehenden Rechtsakte verfolgt. 142 Verkehrsmittelübergreifende Regelungen hinsichtlich der Sicherheit von Gefahrguttransporten enthält die RL 2008/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland.332 Ergänzend enthält die RL 95/50/EG des Rates über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße333 spezifische Vorschriften für die Kontrolle der von ihr erfassten Beförderungen. 143 Für nicht dem Verkehrstitel des AEUV unterfallende Seilbahnen (→ Rn. 28) folgen schließlich spezifische Sicherheitsanforderungen aus der VO (EU) 2016/424 des Europäischen Parlaments und des Rates über Seilbahnen und zur Aufhebung der RL 2000/9/ EG.334 Aus kompetenzrechtlichen Gründen sind diese jedoch vor allem der Verwirklichung des Binnenmarktes zu dienen bestimmt, indem sie bereichsspezifisch die Voraussetzungen hierfür schaffen. Gleichwohl handelt es sich um technische Anforderungen, die zumindest de facto eine sichere Verkehrsdurchführung bezwecken.

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ECLI:EU:C:2012:539 1. Ls. – Kommission/Belgien –, verstößt ein Mitgliedstaat gegen die RL, wenn er „systematisch für die technische Untersuchung vor der Zulassung eines zuvor in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenen Fahrzeugs außer der Vorlage der Zulassungsbescheinigung die Vorlage der Übereinstimmungsbescheinigung des Fahrzeugs verlangt und für solche Fahrzeuge, bei denen es zu einem Eigentümerwechsel kommt, eine technische Untersuchung vor ihrer Zulassung vorschreibt, ohne dass die Ergebnisse der in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten technischen Untersuchung berücksichtigt werden.“ ABl. L 127 v. 29.4.2014, 51; ergänzend DVO (EU) 2019/621 der Kommission über die für die technische Überwachung in Bezug auf die zu prüfenden Positionen erforderlichen technischen Angaben sowie zur Anwendung der empfohlenen Prüfmethoden und zur Festlegung detaillierter Regelungen hinsichtlich des Datenformats und der Verfahren für den Zugang zu den einschlägigen technischen Angaben, ABl. L 108 v. 23.4.2019, 5. ABl. L 127 v. 29.4.2014, 134; ergänzend DVO (EU) 2017/2205 der Kommission mit Durchführungsbestimmungen für das Verfahren zur Meldung von Nutzfahrzeugen mit erheblichen oder gefährlichen Mängeln, die bei einer technischen Unterwegskontrolle festgestellt wurden, ABl. L 314 v. 30.11.2017, 3. ABl. L 373 v. 31.12.1991, 26, geändert durch die DRL 2014/37/EU der Kommission, ABl. L 59 v. 28.2.2014, 32. ABl. L 167 v. 30.4.2004, 39, geändert durch VO (EG) Nr. 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 188 v. 18.7.2009, 14. ABl. L 260 v. 30.9.2008, 13, zuletzt geändert durch Beschluss 2018/936/EU der Kommission, ABl. L 165 v. 2.7.2018, 42. ABl. L 249 v. 17.10.1995, 35, zuletzt geändert durch RL 2008/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 162 v. 21.6.2008, 11. ABl. L 81 v. 31.3.2016, 1; ergänzt durch Durchführungsbeschluss (EU) 2019/1923 der Kommission über die harmonisierten Normen für Seilbahnen zur Unterstützung der VO (EU) 2016/424 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 298 v. 19.11.2019, 8.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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(2) Anforderungen an das Fahrpersonal Sicherheit im Verkehr setzt eine entsprechende Qualifikation des Fahrpersonals voraus. 144 Auch diese ist daher Gegenstand einiger Sekundärrechtsakte, die im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik erlassen wurden. Für den Eisenbahnverkehr enthält die RL 2007/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zertifizierung von Triebfahrzeugführern, die Lokomotiven und Züge im Eisenbahnsystem in der Gemeinschaft führen,335 die wesentlichen Anforderungen an die Qualifikation von Lokomotivführern und deren Nachweis, insbesondere ihre Fahrerlaubnis und zusätzliche Bescheinigungen im Hinblick auf die Nutzung spezifischer Fahrzeuge und Infrastrukturen. Für Kraftfahrzeuge statuiert die RL 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führerschein336 dessen Notwendigkeit, Voraussetzungen und Wirkungen.337 Berufskraftfahrer unterliegen darüber hinaus weithin den weitergehenden Qualifikationsanforderungen der RL 2003/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer bestimmter Kraftfahrzeuge für den Güter- oder Personenkraftverkehr und zur Änderung der VO (EWG) Nr. 3820/85 des Rates und der RL 91/439/EWG des Rates sowie zur Aufhebung der RL 76/914/EWG des Rates.338 Um allen Straßenverkehrsteilnehmern in der EU ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten 145 und die Durchsetzung von Sanktionen zu erleichtern, wenn die Delikte mit einem in einem anderen Mitgliedstaat als dem Deliktsmitgliedstaat zugelassenen Fahrzeug begangen werden, sieht die RL (EU) 2015/413 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Informationen über die Straßenverkehrssicherheit gefährdende Verkehrsdelikte339 eine enge Kooperation der Mitgliedstaaten unter Einschluss eines Zugriffs auf nationale Fahrzeugzulassungsdaten einschließlich einer Gewährung der Befugnis zur Durchführung einer automatisierten Suche vor. Erfasste Delikte sind Geschwindigkeitsübertretung, Nichtanlegen des Sicherheitsgurts, Überfahren eines roten Lichtzeichens, Trunkenheit im Straßenverkehr, Fahren unter Drogen335 ABl. L 315 v. 3.12.2007, 51, zuletzt geändert durch RL 2016/882/EU der Kommission, ABl. L 146 v. 3.6.2016, 22; ergänzt durch VO (EU) Nr. 36/2010 der Kommission über Gemeinschaftsmodelle für die Fahrerlaubnis der Triebfahrzeugführer, Zusatzbescheinigungen, beglaubigte Kopien von Zusatzbescheinigungen und Formulare für den Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis für Triebfahrzeugführer gem. der RL 2007/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 13 v. 19.1.2010, 1, geändert durch VO (EU) Nr. 519/2013 der Kommission, ABl. L 158 v. 10.6.2013, 74. 336 ABl. L 403 v. 30.12.2006, 18, zuletzt geändert durch RL 2018/933/EU der Kommission, ABl. L 165 v. 2.7.2018, 35; ergänzend VO (EU) Nr. 383/2012 der Kommission v. 4.5.2012 zur Festlegung technischer Anforderungen in Bezug auf Führerscheine, die ein Speichermedium (einen Mikrochip) enthalten, ABl. L 120 v. 5.5.2012, 1; Beschluss (EU) 2016/1945 der Kommission über Äquivalenzen zwischen Führerscheinklassen (bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2016) 6517), ABl. L 302 v. 9.11.2016, 62. 337 Zur Problematik des Führerscheintourismus und der Anerkennung von Führerscheinen s. EuGH 6.4.2006 – C-227/05, Slg 2006, I-49 – Halbritter; 28.9.2006 – C-340/05, Slg 2006, I-98 – Kremer; 26.6.2008 – C-329/06 und C-343/06, Slg 2008, I-4635 – Wiedemann und Funk; 26.6.2008 – C-334/06–C-336/06, Slg 2008, I-4691 – Zerche; 3.7.2008 – C-225/07, Slg 2008, I-103 – Möginger; 20.11.2008 – C-1/07, Slg 2008 I-8571 – Weber; 19.2.2009 – C-321/07, Slg 2009, I-1113 – Schwarz; 9.7.2009 – C-445/08, EuZW 2009, 735 – Wierer; 2.12.2010 – C-334/09, NJW 2011, 587 – Scheffler; 13.10.2011 – C-224/10, DAR 2011, 629 – Apelt; 22.11.2011 – C-590/10, NJW 2012, 2018 – Köppl; 1.3.2012 – C-467/10, NJW 2012, 1341 – Akyüz; 26.4.2012 – C-419/10, NJW 2012, 1935 – Hofmann; 22.5.2014 – C-356/12, SVR 2015, 72 – Glatzel; 23.4.2015 – C-260/13, DAR 2015, 316 – Aykul; 21.5.2015 – C-339/14, NJW 2015, 3217 – Wittmann; 25.6.2015 – C-664/13, NJW 2015, 3219 – Nīmanis; 26.10.2017 – C-195/16, DAR 2018, 435 – Strafverfahren gegen I; zur Führerscheinklassifizierung EuGH 25.1.2018 – C-314/16 – Kommission/Tschechische Republik. 338 ABl. L 226 v. 10.9.2003, 4, zuletzt geändert durch RL 2018/645/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 112 v. 2.5.2018, 29. 339 ABl. L 68 v. 13.3.2015, 9; zur kompetenzrechtlichen Zugehörigkeit zur gemeinsamen Verkehrspolitik vgl. EuGH 6.5.2014 – C-43/12, ECLI:EU:C:2014:298 – Kommission/Parlament und Rat.

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§ 6 Transportrecht einfluss, Nichttragen eines Schutzhelms, unbefugte Benutzung eines Fahrstreifens sowie rechtswidrige Benutzung eines Mobiltelefons oder anderer Kommunikationsgeräte beim Fahren. bb) Umweltschutz

146 Die Umweltrelevanz des Verkehrs schlägt sich in einer Vielzahl von Sekundärrechtsakten nieder, die Anforderungen an seine Auswirkungen auf die Umwelt enthalten. Schwerpunkte der auf den Landverkehr bezogenen Rechtsakte sind die Vermeidung bzw. Reduzierung von Luftverschmutzung und Lärm, die von den verwendeten Fahrzeugen erzeugt werden. Nicht wenige der dem Umweltschutz im Verkehr dienenden Vorschriften finden ihre kompetenzielle Grundlage nicht (nur) in den Art. 90 ff. AEUV, sondern sind (teils ergänzend, teils ausschließlich) auf Art. 114, 192 AEUV gestützt. Ein Grund dafür ist neben dem sachlichen Bezug auch die vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon unterschiedliche Ausgestaltung des Rechtsetzungsverfahrens im Binnenmarkt- und Umweltbereich einerseits und im Verkehrsbereich andererseits. (1) Luftverunreinigungen 147 Luftverunreinigungen werden im Verkehr vor allem durch den Ausstoß von Abgasen verursacht, die bei der Verbrennung von Treibstoffen in Motoren entstehen. Die bislang außerhalb des Eisenbahnverkehrs wenig verbreiteten Elektromotoren arbeiten zwar nur dann emissionsfrei, wenn die zum Antrieb benötigte Energie aus erneuerbaren Energien oder Atomkraft gewonnen wird. Dies ist nur in eingeschränktem Maße der Fall. Die bei der Verstromung von Kohle, Erdöl oder Erdgas in Kraftwerken anfallenden Emissionen sind dem Verkehr jedoch nicht ausschließlich zurechenbar. Infolgedessen sind sie nicht Gegenstand des europäischen Verkehrsumweltrechts. Allerdings zielt die RL 2014/94/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe340 darauf ab, die Rahmenbedingungen für eine Ersetzung konventioneller Treibstoffe zu verbessern. Darüber hinaus bezieht die RL 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Luftqualität und saubere Luft für Europa341 notwendig auch den Verkehr ein und wirkt sich daher auf diesen aus. 148 Der Eisenbahnverkehr wirft im Hinblick auf unmittelbar bei der Verkehrsdurchführung verursachte Luftverunreinigungen nur insoweit einen Regelungsbedarf auf, als Lokomotiven mit Dieselmotoren verwendet werden. Die VO (EU) 2016/1628 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anforderungen in Bezug auf die Emissionsgrenzwerte für gasförmige Schadstoffe und luftverunreinigende Partikel und die Typgenehmigung für Verbrennungsmotoren für nicht für den Straßenverkehr bestimmte mobile Maschinen und Geräte, zur Änderung der VOen (EU) Nr. 1024/2012 und (EU) Nr. 167/2013 und zur Änderung und Aufhebung der RL 97/68/EG342 enthält diesbezüglich Grenzwerte für den Kohlenmonoxid-, Kohlenwasser- und Stickstoff- sowie den Partikelausstoß. 149 Anders als Eisenbahnen werden Kraftfahrzeuge bislang nahezu ausschließlich mit Verbrennungsmotoren betrieben, die während des Betriebs zu Luftverunreinigungen führen. Infolgedessen ist seit den 1970er-Jahren eine Vielzahl von Sekundärrechtsakten erlassen 340 ABl. L 307 v. 28.10.2014, 1; s. ergänzend DVO (EU) 2019/1745 der Kommission zur Ergänzung und Änderung der RL 2014/94/EU des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf Ladepunkte für Kraftfahrzeuge der Klasse L, die landseitige Stromversorgung für Binnenschiffe, die Wasserstoffversorgung für den Straßenverkehr und die Erdgasversorgung für den Straßen- und Schiffsverkehr sowie zur Aufhebung der DVO (EU) 2018/674 der Kommission, ABl. L 268 v. 22.10.2019, 1. 341 ABl. L 152 v. 11.6.2008, 1, geändert durch RL (EU) 2015/1480 der Kommission, ABl. L 226 v. 29.8.2015, 4. 342 ABl. L 252 v. 16.9.2016, 53.

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Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Transport als Gegenstand des Europarechts worden, die darauf abzielen, diese Luftverunreinigungen durch die Festlegung von Grenzwerten zu reduzieren. Im Laufe der Zeit wurden diese Grenzwerte häufig geändert, um ambitioniertere Umweltziele zu erreichen. Der regulative Grundansatz zielt auf eine Vermeidung von luftverunreinigenden Stoffen an der Quelle ab. Neben erforderlichen Änderungen an der Motortechnik dienen dem die Verpflichtung zum Einbau von Katalysatoren und On-Board-Diagnosesystemen. Fahrzeuge, die die vorgegebenen Anforderungen, insbesondere die Emissionsgrenzwerte, nicht erfüllen, erhalten keine Typgenehmigung und können daher in der EU nicht zugelassen werden. Die VO (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge343 bildet hinsichtlich der von ihr erfassten Fahrzeuge das zentrale Regelwerk. Für dieselben Kraftfahrzeuge normiert die VO (EG) Nr. 443/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen im Rahmen des Gesamtkonzepts der Gemeinschaft zur Verringerung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen344 für den Zeitraum von 2012 bis 2020 (und teils darüber hinaus) Maßnahmen zur Verringerung des Kohlendioxidausstoßes; für die Zeit ab 2020 enthält die VO (EU) Nr. 510/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue leichte Nutzfahrzeuge im Rahmen des Gesamtkonzepts der Union zur Verringerung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen und leichten Nutzfahrzeugen345 strengere Anforderungen. Die vor allem in der gewerblichen Personen- und Güterbeförderung verwendeten Busse und Lastkraftwagen unterfallen der VO (EG) Nr. 595/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen und Motoren hinsichtlich der Emissionen von schweren Nutzfahrzeugen (Euro 6) und über den Zugang zu Fahrzeugreparatur- und -wartungsinformationen, zur Änderung der VO (EG) Nr. 715/2007 und der RL 2007/46/EG sowie zur Aufhebung der RL 80/1269/EWG, 2005/55/EG und 2005/78/EG,346 die neben einer Senkung bereits zuvor bestehender neue Grenzwerte für Kohlenwasserstoffe, Nichtmethan-Kohlenwasserstoffe und Methan enthält. Spezifische Vorgaben bestehen für land- und forstwirtschaftliche Zugmaschinen.347 Auf die Vermeidung von Emissionen zielt schließlich auch eine Anzahl von Vorschriften ab, die sich mit spezifischen Bestandteilen von Kraftfahrzeugen befassen. Zu nennen sind insbesonde343 ABl. L 171 v. 29.6.2007, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 459/2012 der Kommission, ABl. L 142 v. 1.6.2012, 16. Im Überblick Koch/Braun, Aktuelle Entwicklungen des Immissionsschutzrechts, NVwZ 2010, 1271 (1276). 344 ABl. L 140 v. 5.6.2009, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2018/649 der Kommission, ABl. L 108 v. 27.4.2018, 14. Ergänzend treten die VO (EU) Nr. 1014/2010 der Kommission über die Erfassung und Meldung von Daten über die Zulassung neuer Personenkraftwagen gemäß der VO (EG) Nr. 443/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates ABl. L 293 v. 11.11.2010, 15, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2017/1231 der Kommission, ABl. L 177 v. 8.7.2017, 11, und die VO (EU) Nr. 63/2011 der Kommission mit Durchführungsbestimmungen für die Beantragung einer Ausnahme von den Zielvorgaben für spezifische CO2-Emissionen gemäß Art. 11 der VO (EG) Nr. 443/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 23 v. 27.1.2011, 16, hinzu. 345 ABl. L 145 v. 31.5.2011, 1, zuletzt geändert durch DVO (EU) 2017/1499 der Kommission, ABl. L 219 v. 25.8.2017, 1; ergänzend DVO (EU) Nr. 427/2014 der Kommission zur Einführung eines Verfahrens zur Genehmigung und Zertifizierung innovativer Technologien zur Verringerung der CO2 -Emissionen von leichten Nutzfahrzeugen nach der VO (EU) Nr. 510/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 125 v. 26.4.2014, 57, geändert durch DVO (EU) 2018/259 der Kommission, ABl. L 49 v. 22.2.2018, 9. 346 ABl. L 188 v. 18.7.2009, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 133/2014 der Kommission, ABl. L 47 v. 18.2.2014, 1. 347 Art. 19 Abs. 3 VO (EU) Nr. 167/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Genehmigung und Marktüberwachung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen, ABl. L 60 v. 2.3.2013, 1, zuletzt geändert durch DVO (EU) 2018/830 der Kommission, ABl. L 140 v. 6.6.2018, 15.

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§ 6 Transportrecht re die VO (EG) Nr. 661/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen, Kraftfahrzeuganhängern und von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge hinsichtlich ihrer allgemeinen Sicherheit348 und die RL 2006/40/EG über Emissionen aus Klimaanlagen in Kraftfahrzeugen und zur Änderung der RL 70/156/EWG des Rates.349 (2) Geräuschemissionen

150 Der Landverkehr erzeugt vielfältige Geräusche. Übersteigen diese eine bestimmte Intensität, werden Geräusche als Lärm empfunden, der sich auch negativ auf die menschliche Gesundheit auswirken kann. Infolgedessen bildet die Lärmbekämpfung einen wesentlichen Bestandteil des europäischen Umweltrechts. Konsequent bezieht die RL 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm350 den Verkehr in ihren Anwendungsbereich ein. Darüber hinaus bestehen verkehrsmittelspezifische Sekundärrechtsakte, die auf eine Lärmreduzierung an der Quelle abzielen. 151 Die von Eisenbahnen ausgehende Lärmbelastung resultiert vor allem aus Geräuschen, die durch die Bewegung der Züge entstehen. Die RL (EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union351 iVm der VO (EU) Nr. 1304/2014 der Kommission über die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems „Fahrzeuge – Lärm“ sowie zur Änderung der Entscheidung 2008/232/EG und Aufhebung des Beschlusses 2011/229/EU352 trägt dem durch die Aufstellung spezifischer Lärmgrenzwerte für neues rollendes Material (Güterwagen, Lokomotiven, Triebzüge und Reisezugwagen) Rechnung. Zudem sind Boni und Mali für geräuscharme bzw. -intensive Züge bei der Berechnung der Wegeentgelte vorgesehen.353 152 Konventionell betriebene Kraftfahrzeuge erzeugen Lärm dagegen vor allem mittels ihrer Antriebskomponenten und durch das Abrollgeräusch der Reifen. Die VO (EU) Nr. 540/2014 über den Geräuschpegel von Kraftfahrzeugen und von Austauschschalldämpferanlagen sowie zur Änderung der RL 2007/46/EG und zur Aufhebung der RL 70/157/EWG354 normiert Grenzwerte für die Geräuschemissionen von Kraftfahrzeugen mit mindestens vier Rädern gestaffelt nach Fahrzeugklassen. In Bezug auf die die zulässigen Abrollgeräusche von Reifen statuiert die VO (EG) Nr. 661/2009 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen, Kraftfahrzeuganhängern und von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge hinsichtlich ihrer allgemeinen Sicherheit355 Grenzwerte; „lärmpositiv“ wird auf Vorgaben für akustische Warnein-

348 ABl. L 200 v. 31.7.2009, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2016/1004 der Kommission, ABl. L 165 vom 23.6.2016, 1. 349 ABl. L 161 v. 14.6.2006, 12, ergänzt durch VO (EG) Nr. 706/2007 der Kommission zur Festlegung von Verwaltungsvorschriften für die EG-Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen und eines harmonisierten Verfahrens für die Messung von Leckagen aus bestimmten Klimaanlagen nach der RL 2006/40/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 161 v. 22.6.2007, 33, geändert durch VO (EU) Nr. 519/2013 der Kommission, ABl. L 158 v. 10.6.2013, 74. 350 ABl. L 189 v. 18.7.2002, 12, geändert durch RL 2015/996 der Kommission, ABl. L 168 v. 1.7.2015, 1. 351 ABl. L 138 v. 26.5.2016, 44. 352 ABl. L 356 v. 12.12.2014, 421. 353 DVO (EU) 2015/429 der Kommission zur Festlegung der Modalitäten für die Anlastung der Kosten von Lärmauswirkungen, ABl. L 70 v. 14.3.2015, 36. 354 ABl. L 158 v. 27.5.2014, 131, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 1576/2017, ABl. L 239 v. 19.9.2017, 3. 355 ABl. L 200 v. 31.7.2009, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2016/1004 der Kommission, ABl. L 165 vom 23.6.2016, 1.

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richtungen verwiesen.356 Für Krafträder sind entsprechende Vorgaben in der VO (EU) Nr. 168/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Genehmigung und Marktüberwachung von zwei- oder dreirädrigen und vierrädrigen Fahrzeugen357 sowie der RL 93/30/EWG des Rates über die Einrichtungen für Schallzeichen von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen358 geregelt, für landwirtschaftliche Maschinen in der VO (EU) Nr. 167/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Genehmigung und Marktüberwachung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen.359 cc) Arbeitsbedingungen Neben der Vielzahl markt- und technikbezogener Sekundärrechtsakte hat die EU eine 153 überschaubare Anzahl von Regelungen erlassen, welche die Arbeitsbedingungen des Fahrpersonals betreffen. Zumindest mittelbar entfalten diese zugleich Rückwirkungen auf Marktstruktur und Verkehrssicherheit. Im Eisenbahnsektor enthält die RL 2005/47/EG des Rates betreffend die Vereinbarung 154 zwischen der Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (CER) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) über bestimmte Aspekte der Einsatzbedingungen des fahrenden Personals im interoperablen grenzüberschreitenden Verkehr im Eisenbahnsektor360 in Anknüpfung an eine Vereinbarung der Sozialpartner Mindestbedingungen für den Arbeitnehmerschutz. Allerdings erstreckt sich ihr Anwendungsbereich nur auf die Konstellation des grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehrs. Für das Fahrpersonal im Straßenverkehr bestehen mehrere Regelwerke. Die 155 RL 2002/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Regelung der Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausüben,361 bezweckt die Festlegung von Mindestvorschriften für die Gestaltung der Arbeitszeit. Ergänzend enthält die VO (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der VOen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 3820/85 des Rates362 Vorgaben über Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten für Kraftfahrer im Straßengüter- und -personenverkehr. Die Durchführung von Kontrollen erfolgt auf Grundlage der RL 2006/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestbedingungen für die Durchführung der VOen (EWG) Nr. 3820/85 und

356 Regelung Nr. 28 der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE) – Einheitliche Vorschriften für die Genehmigung der Vorrichtungen für Schallzeichen und der Kraftfahrzeuge hinsichtlich ihrer Schallzeichen, ABl. L 323 v. 6.12.2011, 33. 357 ABl. L 60 v. 2.3.2013, 52, geändert durch DVO (EU) Nr. 134/2014 der Kommission, ABl. L 53 v. 21.2.2014, 1; konkretisierend DVO (EU) Nr. 3/2014 zur Ergänzung der VO (EU) Nr. 168/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Anforderungen an die funktionale Sicherheit von Fahrzeugen für die Genehmigung von zwei- oder dreirädrigen und vierrädrigen Fahrzeugen (ABl. L 7 v. 10.1.2014, 1). 358 ABl. L 188 v. 29.7.1993, 18. 359 ABl. L 60 v. 2.3.2013, 1, zuletzt geändert durch DVO (EU) 2018/830 der Kommission, ABl. L 140 v. 6.6.2018, 15; ergänzend DVO (EU) 2015/208 zur Ergänzung der VO (EU) Nr. 167/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Anforderungen an die funktionale Sicherheit von Fahrzeugen für die Genehmigung von land- und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen, ABl. L 42 v. 17.2.2015, 1. 360 ABl. L 195 v. 27.7.2005, 15. 361 ABl. L 80 v. 23.3.2002, 35; zur Primärrechtskonformität EuGH 9.9.2004 – C-184/02 und C-223/02, Slg 2004, I-7789 – Spanien und Finnland/Parlament und Rat. 362 ABl. L 102 v. 11.4.2006, 1, geändert durch VO (EG) Nr. 1073/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 300 v. 14.11.2009, 88.

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§ 6 Transportrecht (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über Sozialvorschriften für Tätigkeiten im Kraftverkehr sowie zur Aufhebung der RL 88/599/EWG des Rates.363 2. Schifffahrt

156 Das Europarecht differenziert sowohl hinsichtlich der Rechtsgrundlagen (→ Rn. 31, 34) als auch bei deren sekundärrechtlicher Ausgestaltung zwischen der Binnen- und der Hochseeschifffahrt. Während erstere vor allem eine Alternative zu einem straßen- oder schienengebundenen Transport innerhalb der EU bildet, stellt die Hochseeschifffahrt im Regelfall Verbindungen zwischen der EU und Drittstaaten her, so dass ihr eine internationale Dimension inhärent ist. Sowohl die Binnen- als auch die Hochseeschifffahrt dienen heute vor allem dem Gütertransport.364 Personenbeförderung erfolgt nahezu ausschließlich zu touristischen Zwecken, insbesondere in Form von Kreuzfahrten. Dementsprechend betrifft die Mehrzahl der Sekundärrechtsakte den Schiffsgüterverkehr sowie generelle Anforderungen in technischer Hinsicht. a) Binnenschifffahrt 157 Die Schifffahrt auf Flüssen und Kanälen verfügt in den Staaten Europas über eine lange Tradition. Die Wasserwege über Land waren jahrhundertelang wichtige Handelsrouten, die auch das Wachstum der an ihnen liegenden Städte in weitem Umfang ermöglichten. Erst das Aufkommen der Eisenbahn relativierte den mit dem Zugriff auf einen günstigen und leistungsfähigen Ferntransportweg verbundenen Wettbewerbsvorteil der an Flüssen liegenden Städte. Parallel erfolgte jedoch im Zuge der Industrialisierung Europas ein Ausbau der Binnenwasserstraßen.365 Diese ermöglichen zwar keinen schnellen Transport; eine Verschiffung ist jedoch flexibel, geeignet zur Beförderung großer Mengen und im Vergleich zum Verkehr mit konventionell betriebenen Kraftfahrzeugen weniger umweltbelastend. Der Anteil der Binnenschifffahrt am modal split ist im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte allerdings ungeachtet einer stetigen Zunahme der transportierten Güter und Strecken deutlich gesunken und beträgt heute nach einer Stabilisierung EU-weit ca. 5 % der Gesamttransportleistung,366 da aus Sicht der Nachfrager die Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen wegen der noch größeren Flexibilität insbesondere in örtlicher Hinsicht und des Geschwindigkeitsvorteils häufig attraktiver erscheint. Die gemeinsame Verkehrspolitik zielt darauf ab, die Binnenschifffahrt wieder zu stärken.367 Dies setzt die (Wieder-)Herstellung ihrer Wettbewerbsfähigkeit voraus. Ebenso wie im Hinblick auf den Verkehr mit Eisenbahnen und Kraftfahrzeugen bilden auch in Bezug auf die Binnenschifffahrt Vorschriften mit markt- und technikbezogenem Regelungsgehalt die wesentlichen Gegenstände der Sekundärrechtsetzung.368 aa) Marktbezogene Regelungen 158 Wie der gesamte Transportmarkt unterlag auch die Binnenschifffahrt traditionell staatlichen Einflussnahmen und Beschränkungen. Die nationalstaatliche Abschottung erfolgte

363 ABl. L 102 v. 11.4.2006, 35, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2016/403 der Kommission, ABl. L 74 v. 19.3.2016, 8. 364 Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 15. 365 Aberle, S. 20, bezeichnet das europäische Wasserstraßennetz gleichwohl als „sehr weitmaschig“. 366 Europäische Kommission, Statistical Pocketbook 2018 – EU transport in figures, S. 37 (abrufbar unter https://ec.europa.eu/transport/sites/transport/files/pocketbook2018.pdf). 367 Mitteilung der Kommission über die Förderung der Binnenschifffahrt „NAIADES“ – Integriertes europäisches Aktionsprogramm für die Binnenschifffahrt, KOM(2006) 6 endg. 368 Ausführlich zu dieser Regner, S. 73 ff.

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jedoch in geringerem Umfang als im straßen- und schienengebundenen Verkehr.369 Dies war sowohl geographischen Zwängen als auch der Existenz überkommener grenzüberschreitender Verkehrswege geschuldet. Allerdings bedurfte es für die Herstellung eines freien Schiffsverkehrs auf Binnenwasserstraßen des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge wie der Revidierten Rheinschifffahrtsakte (1868).370 Jenseits ihres Anwendungsbereichs unterlag die Binnenschifffahrt zahlreichen Reglementierungen. Diese finden ungeachtet der zwischenzeitlich erfolgten weitgehenden Liberalisierung371 einen fernen Widerhall in der sekundärrechtlichen Zulassung besonderer Maßnahmen bei schweren Marktstörungen. Zentrale Bedeutung für die Marktordnung in den drei Segmenten Trockenladungsschiffe, 159 Tankschiffe und Schubboote kommt der VO (EG) Nr. 718/1999 des Rates über kapazitätsbezogene Maßnahmen für die Binnenschifffahrtsflotten der Gemeinschaft zur Förderung des Binnenschifffahrtsverkehrs372 zu. In Anknüpfung an die zuvor bestehende „Altfür-neu-Regelung“, wonach die Zulassung eines neuen grundsätzlich die Außerdienststellung eines alten Binnenschiffes gleicher Funktionalität voraussetzte, sah die VO für einen bis 2003 dauernden Übergangszeitraum Zulassungsbegrenzungen für neue Schiffe, die potenziell im grenzüberschreitenden Verkehr eingesetzt werden, vor. Die Mitgliedstaaten werden zudem zur Einrichtung von Binnenschifffahrtsfonds verpflichtet, die insbesondere für Strukturbereinigungsmaßnahmen373 in Anspruch genommen werden können, die einem Überangebot entgegenwirken sollen und die aus Sonderbeiträgen der Verkehrsunternehmen gespeist werden. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten insbesondere berufsbezogene Maßnahmen treffen sowie Fördermaßnahmen hinsichtlich Verbesserungen der Schiffe ergreifen. Konkretisierend tritt die VO (EG) Nr. 181/2008 der Kommission zur Festlegung der Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) Nr. 718/1999 des Rates über kapazitätsbezogene Maßnahmen für die Binnenschifffahrtsflotten der Gemeinschaft zur Förderung des Binnenschiffsverkehrs (kodifizierte Fassung)374 hinzu. Im Ergebnis bestehen heute keine Marktzutrittsschranken infolge einer Kapazitätsbegrenzung mehr. Nach der VO (EG) Nr. 1356/96 des Rates über gemeinsame Regeln zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit im Binnenschiffsgüter- und -personenverkehr zwischen Mitgliedstaaten375 sind Binnenschifffahrtsunternehmer ohne Diskriminierungen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder Niederlassung zum innerunionalen Verkehr zuzulassen. Aufgrund der VO (EWG) Nr. 3921/91 des Rates über die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmen zum Binnenschiffsgüter- und -personenverkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind,376 ist insbesondere eine Kabotage nahezu uneingeschränkt zulässig. Mit spezifischen Aspekten der Verkehrsdurchführung befasst sich die RL 96/75/EG des Rates über die Einzelheiten der Befrachtung und der Frachtratenbildung im inner-

369 Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 70 EGV Rn. 38. 370 S. ergänzend VO (EWG) Nr. 2919/85 des Rates zur Festlegung der Bedingungen für die Inanspruchnahme der Regelung, die aufgrund der Revidierten Rheinschifffahrtsakte den Schiffen der Rheinschifffahrt vorbehalten ist, ABl. L 280 v. 22.10.1985, 4; zu deren Verhältnis zum EU-Recht Grabitz/Hilf/ Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 63 ff.; Klein, insbes. ab S. 83. 371 Von einer vollständigen Marktöffnung spricht Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 91 Rn. 7; zur Entwicklung der EU-Binnenschifffahrtspolitik Klein, S. 62 ff.; Regner, S. 9 ff. 372 ABl. L 90 v. 2.4.1999, 1, geändert durch VO (EU) Nr. 546/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 163 v. 29.4.2014, 15. 373 Zur Primärrechtskonformität vgl. EuGH 17.7.1997 – C-248/95 und C-249/95, Slg 1997, I-4475 – SAM Schifffahrt und Stapf. 374 ABl. L 56 v. 29.2.2008, 8. 375 ABl. L 175 v. 13.7.1996, 7. 376 ABl. L 373 v. 31.12.1991, 1.

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§ 6 Transportrecht staatlichen und grenzüberschreitenden Binnenschiffsgüterverkehr in der Gemeinschaft.377 Danach werden im gesamten EU-Binnenschiffsgüterverkehr seit Ablauf eines Übergangszeitraums im Jahr 2000 Verträge frei geschlossen und Frachtraten frei ausgehandelt. Für öffentliche Dienstleistungsaufträge im Binnenschiffsverkehr, welcher der Personenbeförderung dient, können die Mitgliedstaaten die VO (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der VOen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates378 (→ Rn. 131 ff.) für anwendbar erklären. Zwingend gilt für die Personenbeförderung mit Binnenschiffen dagegen die VO (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der VO (EG) Nr. 2006/2004,379 die auf ein Schutzniveau der Fahrgäste abzielt, das demjenigen bei anderen Verkehrsträgern entspricht. Die VO (EU) 2018/974 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Statistik des Güterverkehrs auf Binnenwasserstraßen380 bildet die Grundlage für die Datenerhebung. bb) Technische Regelungen

160 Die marktbezogenen Vorgaben für die Binnenschifffahrt werden durch einige Sekundärrechtsakte ergänzt, die im Interesse der Verkehrssicherheit und -fähigkeit Regelungen technischer Natur enthalten. Für die Verbesserung der Sicherheit, Effizienz und Umweltfreundlichkeit381 der Binnenschifffahrt sieht die RL 2005/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über harmonisierte Binnenschifffahrtsinformationsdienste (RIS) auf den Binnenwasserstraßen der Gemeinschaft382 die Einführung eines harmonisierten, interoperablen und offenen Navigationshilfe- und Informationssystems vor. Für Gefahrguttransporte mit Binnenschiffen gilt die RL 2008/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland.383 Jenseits dessen beziehen sich die relevanten Sekundärrechtsakte teils auf die Schiffe, teils auf deren Führer. 161 Die RL (EU) 2016/1629 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung technischer Vorschriften für Binnenschiffe, zur Änderung der RL 2009/100/EG und zur Aufhebung der RL 2006/87/EG384 enthält technische Anforderungen an Binnenschiffe mit einer Länge von mindestens 20 m, mit einem Volumen von mindestens 100 m3, zu deren Antrieb bestimmte Schlepp- und Schubboote, Fahrgastschiffe, die zusätzlich zur Besatzung mehr als zwölf Fahrgäste befördern, und schwimmende Geräte. Für kleinere Binnenschiffe, die dem Gütertransport dienen, gilt korrespondierend die RL 2009/100/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die gegenseitige Anerkennung von Schiffsat377 ABl. L 304 v. 27.11.1996, 12, geändert durch VO (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 284 v. 31.10.2003, 1. 378 ABl. L 315 v. 3.12.2007, 1; geändert durch VO (EU) 2016/2338, ABl. L 354 v. 14.12.2016, 22. 379 ABl. L 334 v. 17.12.2010, 1. 380 ABl. L 179 v. 16.7.2018, 14. 381 S. diesbezüglich auch Reinhold, Der Schutz der Umwelt in der Binnenschifffahrt unter besonderer Berücksichtigung ausgewählter zukünftiger Handlungsansätze auf dem Weg zu einer ökologischen Binnenschifffahrtspolitik, 2009, S. 54 ff. 382 ABl. L 255 v. 30.9.2005, 152, geändert durch VO (EG) Nr. 219/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 87 v. 31.3.2009, 109; ergänzend DVO (EU) 2019/838 der Kommission über die technischen Spezifikationen für Schiffsverfolgungs- und -aufspürungssysteme und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 415/2007, ABl. L 138 v. 24.5.2019, 31; DVO (EU) 2019/1744 der Kommission über technische Spezifikationen für elektronische Meldungen in der Binnenschifffahrt und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 164/2010, ABl. L 273 v. 25.10.2019, 1. 383 ABl. L 260 v. 30.9.2008, 13, zuletzt geändert durch Beschluss 2018/936/EU der Kommission, ABl. L 165 v. 2.7.2018, 42. 384 ABl. L 252 v. 16.9.2016, 118, geändert durch Delegierte RL (EU) 2018/970 der Kommission, ABl. L 174 v. 10.7.2018, 15.

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testen für Binnenschiffe.385 Zu Freizeitzwecken genutzte Wasserfahrzeuge unterfallen schließlich der RL 2013/53/EU der Europäischen Parlaments und des Rates über Sportboote und Wassermotorräder und zur Aufhebung der RL 94/25/EG,386 deren Geltung nicht auf deren Nutzung auf Binnengewässern begrenzt ist. Die notwendige Befähigung der Schiffsführer ist Gegenstand der RL (EU) 2017/2397 des 162 Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der Binnenschifffahrt und zur Aufhebung der RL 91/672/EWG und 96/50/EG des Rates.387 Die Erteilung der Unionsschifferpatente ist an die Erfüllung von Mindestvoraussetzungen geknüpft. Sie berechtigen ihre Inhaber zum Führen von Binnenschiffen der betreffenden Klasse in der gesamten EU. b) Seeschifffahrt Die Seeschifffahrt ist anders als die Binnenschifffahrt nicht Gegenstand der gemeinsamen 163 Verkehrspolitik. Ungeachtet dessen hat die EU insbesondere auf Grundlage des (heutigen) Art. 100 Abs. 2 AEUV eine Vielzahl von Sekundärrechtsakten erlassen, die Aspekte der Seeschifffahrt betreffen.388 aa) Marktbezogene Regelungen Der Markt der Verkehrsleistungen, die auf dem Meer unter Einbeziehung der hohen See 164 erbracht werden, unterscheidet sich in räumlicher Hinsicht von den vorstehend betrachteten Sektoren des Verkehrsmarktes durch seinen nahezu unvermeidlichen Bezug zu Drittstaaten.389 Infolgedessen ist der EU eine autonome Regulierung ebenso wenig möglich wie zuvor den Mitgliedstaaten. Die Seeschifffahrt zeichnet sich vielmehr traditionell durch eine internationale Prägung und grundsätzliche Marktoffenheit aus, die allerdings durch kartellähnliche „Konferenzen“ der Reedereien faktisch eingeschränkt wurde.390 Das marktbezogene europäische Sekundärrecht beschränkt sich daher auf einige Rechtsakte. Überdies regelt die VO (EU) 2017/352 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für die Erbringung von Hafendiensten und zur Festlegung von gemeinsamen Bestimmungen für die finanzielle Transparenz der Häfen391 in Bezug auf diese einige Aspekte des Marktzutritts sowie der Finanzierung. Die VO (EWG) Nr. 4055/86 des Rates zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienst- 165 leistungsverkehrs auf die Seeschifffahrt zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern392 erklärt explizit die Dienstleistungsfreiheit in der Seeschifffahrt für anwendbar.393 Sie berechtigt dabei nicht nur Verkehrsunternehmer mit Sitz in der EU, sondern auch solche, welche als Staatsangehörige eines Mitgliedstaates in 385 ABl. L 259 v. 2.10.2009, 8, geändert durch RL 2016/1629/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 252 v. 16.9.2016, 118. 386 ABl. L 354 v. 28.12.2013, 90. 387 ABl. L 345 v. 27.12.2017, 53. 388 Zur Entwicklung im Überblick Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 11 f.; ausführlich Frerich/Müller, Bd. 3, Kap. 2. 389 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 3. 390 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 100 Rn. 13. 391 ABl. L 57 v. 3.3.2017, 1; s. dazu Parashu, Der sekundärrechtliche Ansatz der EU zur Rahmensetzung von Hafendiensten, EWS 2017, 329; Brinkmann, Grundzüge eines Europäischen Rechts für Seehäfen, TranspR 2018, 329. 392 ABl. L 378 v. 31.12.1986, 1, geändert durch VO (EWG) Nr. 3573/90 des Rates, ABl. L 353 v. 17.12.1990, 16. 393 Zum in Art. 1 Abs. 1 VO (EG) Nr. 4055/86 wurzelnden Verbot der Anwendung unterschiedlicher Tarife in einem Mitgliedstaat auf gleiche Lotsendienste, je nachdem ob das Unternehmen, das Befördern im Seeverkehr zwischen zwei Mitgliedstaaten vornimmt, ein Schiff betreibt, das zur Seekabotage, die

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§ 6 Transportrecht

Drittstaaten niedergelassen sind, sofern deren Schiffe in einem Mitgliedstaat der EU registriert sind. Die Regelung wird in Bezug auf Seeverkehre, die zwischen Häfen eines Mitgliedstaates erfolgen, durch die VO (EWG) Nr. 3577/92 des Rates zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr zwischen den Mitgliedstaaten (Seekabotage)394 ergänzt, die auch bezüglich ihres Gegenstandes eine Liberalisierung vornimmt. Ebenfalls der Verwirklichung von Binnenmarkt und Grundfreiheiten dient die VO (EG) Nr. 789/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Umregistrierung von Fracht- und Fahrgastschiffen innerhalb der Gemeinschaft und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 613/91 des Rates,395 die deren Erleichterung im Interesse der Verwendbarkeit von Schiffen in der gesamten EU bei gleichzeitiger Wahrung von Sicherheits- und Umwelterfordernissen bezweckt. 166 Die besondere Wettbewerbssituation in der Seeschifffahrt spiegelt sich – mit abnehmender Tendenz396 – schließlich in einigen Sekundärrechtsakten wider, die spezifisch auf die Stärkung europäischer Unternehmen im nicht stets fairen und von Eingriffen freien internationalen Wettbewerb gerichtet sind. Die VO (EG) Nr. 246/2009 des Rates über die Anwendung des Artikels 81 Absatz 3 des Vertrages auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen zwischen Seeschifffahrtsunternehmen (Konsortien)397 enthält im Wege einer Gruppenfreistellung für diese einige wettbewerbsrechtliche Erleichterungen im Hinblick auf den internationalen Seeverkehr. Sie wird durch die VO (EG) Nr. 906/2009 der Kommission über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen zwischen Seeschifffahrtsunternehmen (Konsortien)398 konkretisiert. Gegen Dumpingangebote von Drittstaatsreedereien richtet sich die VO (EWG) Nr. 4057/86 des Rates über unlautere Preisbildungspraktiken in der Seeschifffahrt399 gegen solche von Drittstaatswerften die VO (EU) 2016/1035 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz gegen schädigende Preisgestaltung im Schiffbau.400 Eine Abwehr von behindernden Maßnahmen von Drittstaaten ermöglicht die VO (EWG) Nr. 4058/86 des Rates für ein koordiniertes Vorgehen zum Schutz des freien Zugangs zu Ladungen in der Seeschifffahrt.401 167 Der Seeschifffahrtsmarkt unterfällt schließlich einigen wettbewerblich neutralen Sekundärrechtsakten. Auch insoweit gilt die VO (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr.402 Der

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den unter der Flagge dieses Staates fahrenden Schiffen vorbehalten ist, zugelassen ist oder nicht, EuGH 17.5.1994 – C-18/93, Slg 1994, I-1783, Rn. 32 ff. – Corsica Ferries. ABl. L 364 v. 12.12.1992, 7; dazu Milbradt, Liberalisierung der Seekabotage unter völkerrechtlichen und europarechtlichen Aspekten, 1999, S. 108 ff.; Volz/Ehm, Die EU-VO zur Liberalisierung der Seekabotage TranspR 2009, 393. ABl. L 138 v. 30.4.2004, 19, geändert durch VO (EG) Nr. 219/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 87 v. 31.3.2009, 109. Zur Entwicklung Calliess/Ruffert/Martinez EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 12 ff.; zur Anwendbarkeit des allgemeinen EU-Kartellrechts auf den Seeverkehr Schmidt, EU-Kartellrecht nunmehr pur im internationalen Seeverkehr, TranspR 2007, 18. ABl. L 79 v. 25.3.2009, 1; s. dazu Immenga/Mestmäcker/Knauff Bd. 1, 6. Aufl. 2019, Verkehr, Rn. 95 ff. ABl. L 256 v. 29.9.2009, 31, geändert durch VO (EU) Nr. 697/2014 der Kommission, ABl. L 184 v. 25.6.2014, 3; näher Immenga/Mestmäcker/Knauff Bd. 1, 6. Aufl. 2019, Verkehr, Rn. 112 ff. ABl. L 378 v. 31.12.1986, 14. ABl. L 176 v. 30.6.2016, 1. ABl. L 378 v. 31.12.1986, 21. ABl. L 334 v. 17.12.2010, 1.

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Markttransparenz dient die RL 2009/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die statistische Erfassung des Güter- und Personenseeverkehrs.403 bb) Technische Regelungen Die Mehrzahl der seeschifffahrtsbezogenen Sekundärrechtsakte ist technischer Natur. Da- 168 bei stehen Fragen der Sicherheit im Interesse des Schutzes von Menschenleben und des Umweltschutzes im Zentrum. Nicht selten stellen derartige Sekundärrechtsakte Reaktionen auf vor ihrem Erlass erfolgte Schiffsunglücke dar. Vielfach stehen sie zudem im Zusammenhang mit internationalen Vereinbarungen.404 Mehrere Regelwerke beziehen sich auf den Bau, die Ausrüstung und die diesbezügliche 169 Kontrolle von Schiffen. Für Schiffe, die dem Personenverkehr dienen, gilt die RL 2009/45/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Sicherheitsvorschriften und -normen für Fahrgastschiffe.405 Die RL 2017/2110/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über ein System von Überprüfungen im Hinblick auf den sicheren Betrieb von Ro-Ro-Fahrgastschiffen406 und Fahrgast-Hochgeschwindigkeitsfahrzeugen im Linienverkehr und zur Änderung der RL 2009/16/EG sowie zur Aufhebung der RL 1999/35/EG des Rates407 sieht zudem besondere Kontrollerfordernisse für die erfassten Schiffe vor, die ihre Grundlage in den bauartbedingten besonderen Risiken finden. Für die mit Blick auf die Unfallfolgen besonders gefährlichen Öltankschiffe enthält die VO (EU) Nr. 530/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates zur beschleunigten Einführung von Doppelhüllen oder gleichwertigen Konstruktionsanforderungen für Einhüllen-Öltankschiffe408 spezifische Konstruktionsanforderungen. Für alle neuen Schiffe gelten die sicherheitsausrüstungsbezogenen Vorgaben der RL 2014/90/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Schiffsausrüstung und zur Aufhebung der RL 96/98/EG des Rates.409 Allein dem Umwelt- und Gesundheitsschutz dient dagegen die ebenfalls umfassende Geltung beanspruchende VO (EG) Nr. 782/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über das Verbot zinnorganischer Verbindungen auf Schiffen,410 die häufig als Bewuchsschutzanstrich verwendet wurden.

403 ABl. L 141 v. 6.6.2009, 29, zuletzt geändert durch Beschluss Nr. 2012/186/EU der Kommission, ABl. L 101 v. 11.4.2012, 5. 404 Vgl. Schwarze/Stadler EU-Kommentar (3. Aufl. 2012), AEUV Art. 100 Rn. 4, 6. 405 ABl. L 163 v. 25.6.2009, 1, zuletzt geändert durch RL 2016/844/EU der Kommission, ABl. L 141 v. 28.5.2016, 51; s. darüber hinaus Beschluss 2013/638/EU der Kommission über grundlegende Anforderungen an Seefunkanlagen, die auf nicht dem SOLAS-Übereinkommen unterliegenden Schiffen eingesetzt werden und am weltweiten Seenot- und Sicherheitsfunksystem (GMDSS) teilnehmen sollen (Bekanntgegeben unter Aktenzeichen C(2013) 5185), ABl. L 296 v. 7.11.2013, 22. 406 Dabei handelt es sich um „ein Schiff, das so gestaltet ist, dass Straßen- oder Eisenbahnfahrzeuge unmittelbar an und von Bord fahren können, und das mehr als zwölf Fahrgäste befördert“ (Art. 2 Nr. 1 RL 2017/2110/EU). 407 ABl. L 315 v. 30.11.2017, 61. 408 ABl. L 172 v. 30.6.2012, 3. 409 ABl. L 257 v. 28.8.2014, 146; ergänzend DVO (EU) 2018/414 der Kommission zur Ergänzung der RL 2014/90/EU des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Festlegung der Schiffsausrüstungsgegenstände, die elektronisch gekennzeichnet werden können, ABl. L 75 vom 19.3.2018, 3; DVO (EU) 2018/608 der Kommission zur Festlegung technischer Kriterien für die elektronische Kennzeichnung von Schiffsausrüstungen, ABl. L 101 v. 20.4.2018, 64; DVO (EU) 2019/1397 der Kommission über Entwurfs-, Bau- und Leistungsanforderungen sowie Prüfnormen für Schiffsausrüstung und zur Aufhebung der DVO (EU) 2018/773, ABl. L 237 v. 13.9.2019, 1. 410 ABl. L 115 v. 9.5.2003, 1, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 219/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 87 v. 31.3.2009, 109; ergänzt durch VO (EG) Nr. 536/2008 der Kommission mit Durchführungsvorschriften für Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 7 der VO (EG) Nr. 782/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über das Verbot zinnorganischer Verbindungen auf Schiffen und zur Änderung dieser VO, ABl. L 156 v. 14.6.2008, 10.

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170 Der Betrieb von Schiffen bildet einen weiteren Regelungsschwerpunkt. Die VO (EG) Nr. 336/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Umsetzung des Internationalen Codes für Maßnahmen zur Organisation eines sicheren Schiffsbetriebs innerhalb der Gemeinschaft und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 3051/95 des Rates411 enthält Vorgaben betreffend die Einrichtung, Anwendung und ordnungsgemäße Aufrechterhaltung der an Bord und an Land befindlichen Systeme zur Organisation von Sicherheitsmaßnahmen sowie deren Überwachung. Spezifisch dem Umweltschutz bei dem Betrieb von Schiffen dient die RL 2005/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen, einschließlich strafrechtlicher Sanktionen, für Verschmutzungsdelikte.412 Zur Erhöhung der Sicherheit und Leichtigkeit des Seeverkehrs, insbesondere um die Reaktionsfähigkeit der Behörden auf Vorkommnisse, Unfälle oder potenziell gefährliche Situationen auf See, einschließlich von Such- und Rettungsaktionen, zu verbessern und zu einer besseren Verhütung und Aufdeckung von Verschmutzungen durch Schiffe beizutragen, sieht die RL 2002/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung eines gemeinschaftlichen Überwachungs- und Informationssystems für den Schiffsverkehr und zur Aufhebung der RL 93/75/EWG des Rates413 die Schaffung automatisierter technischer Kontrollsysteme vor. Besondere Meldepflichten und Vorgehensweisen gelten für Gefahrguttransporte. Für satellitengestützte Schiffsüberwachungssysteme von Fischereifahrzeugen enthält die VO (EU) Nr. 404/2011 der Kommission mit Durchführungsbestimmungen zu der VO (EG) Nr. 1224/2009 des Rates zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der gemeinsamen Fischereipolitik414 spezifische Vorgaben. 171 Die Seeschifffahrt ist notwendig auf die Nutzung von Häfen angewiesen. Auch diese ist mit Risiken verbunden und wirft vor dem Hintergrund der Gewährleistung von Sicherheit und Umweltschutz einen Regelungsbedarf auf. Die VO (EG) Nr. 725/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erhöhung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen415 sowie die RL 2005/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Erhöhung der Gefahrenabwehr in Häfen416 zielen auf die Sicherheit der Hafennutzung ab. Einbezogen ist insbesondere auch eine Verhinderung von vorsätzlichen rechtswidrigen Sicherheitsbeeinträchtigungen. Der Ablaufvereinfachung dient dagegen die VO (EU) 2019/1239 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines europäischen Umfelds zentraler Meldeportale für den Seeverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 2010/65/EU.417 Spezifische Vorgaben enthalten aus Gründen des Umweltschutzes die RL (EU) 2019/883 des Europäischen Parlaments und des Rates über Hafenauffangeinrichtungen für die Entladung von Abfällen von Schiffen, zur Änderung der Richtlinie 2010/65/EU und zur Aufhebung der Richtlinie 2000/59/EG,418 die darauf abzielt, das – insbesondere illegale – Einbringen von Schiffsabfällen und Ladungsrückständen auf See 411 ABl. L 64 v. 4.3.2006, S. 1, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1137/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 311 v. 21.11.2008, 1. 412 ABl. L 255 v. 30.9.2005, 11, geändert durch RL 2009/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 280 v. 27.10.2009, 52. 413 ABl. L 208 v. 5.8.2002, S. 10, zuletzt geändert durch RL 2014/100/EU der Kommission, ABl. L 308 v. 29.10.2014, 82. 414 ABl. L 112 v. 30.4.2011, 1. 415 ABl. L 129 v. 29.4.2004, 6, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 219/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 87 v. 31.3.2009, 109. 416 ABl. L 310 v. 25.11.2005, 28, geändert durch VO (EG) Nr. 219/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 87 v. 31.3.2009, 109. 417 ABl. L 198 v. 25.7.2019, 64. 418 ABl. L 151 vom 7.6.2019, 116.

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durch Schiffe zu verringern, sowie aus Gründen der Verkehrssicherheit die RL 2001/96/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von harmonisierten Vorschriften und Verfahrensregeln für das sichere Be- und Entladen von Massengutschiffen.419 Weitere Sekundärrechtsakte betreffen die Untersuchung und Folgen von Unfällen. Die 172 RL 98/41/EG des Rates über die Registrierung der an Bord von Fahrgastschiffen im Verkehr nach oder von einem Hafen eines Mitgliedstaates der Gemeinschaft befindlichen Personen420 dient der besseren Erkennbarkeit des betroffenen Personenkreises. Das im Fall eines Schiffsunglücks gebotene Vorgehen wird durch die RL 2009/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Grundsätze für die Untersuchung von Unfällen im Seeverkehr und zur Änderung der RL 1999/35/EG des Rates und der RL 2002/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates421 determiniert. Die finanziellen Folgen von Schiffsunfällen betreffen die VO (EG) Nr. 392/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Unfallhaftung von Beförderern von Reisenden auf See422 sowie die RL 2009/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Versicherung von Schiffseigentümern für Seeforderungen,423 die für nichtstaatliche Eigentümer von Schiffen eine Versicherungspflicht im Hinblick auf Unfallfolgen festlegt.424 Sind Schiffe nicht mehr verwendbar, unterfallen sie der VO (EU) Nr. 1257/2013 des 173 Europäischen Parlaments und des Rates über das Recycling von Schiffen und zur Änderung der VO (EG) Nr. 1013/2006 und der RL 2009/16/EG425. Diese zielt auf die Vermeidung, Verminderung, Minimierung und Eliminierung von Unfällen, Verletzungen und anderen nachteiligen Auswirkungen des Recyclings von Schiffen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt ab. Sie bezweckt, während des gesamten Lebenszyklus eines Schiffes die Sicherheit, den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Meeresumwelt der Union zu verbessern, damit insbesondere gewährleistet wird, dass gefährliche Abfälle, die beim Schiffsrecycling anfallen, umweltgerecht behandelt werden. In Bezug auf bestimmte Gefahrstoffe verbietet sie deren Verwendung auf Schiffen und legt Regeln zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Behandlung fest. Für das auf See eingesetzte Personal bestehen einige Regelwerke mit unterschiedlichen 174 Zielrichtungen. Die RL 2008/106/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten426 dient vor allem der Sicherheit 419 ABl. L 13 v. 16.1.2002, 9, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1137/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 311 v. 21.11.2008, 1. 420 ABl. L 188 v. 2.7.1998, 35, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1137/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 311 v. 21.11.2008, 1. 421 ABl. L 131 v. 28.5.2009, 114; ergänzend DVO (EU) Nr. 651/2011 der Kommission zur Annahme der Verfahrensordnung für den von den Mitgliedstaaten im Einvernehmen mit der Kommission festgelegten Rahmen für die ständige Zusammenarbeit gemäß Art. 10 der RL 2009/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 177 v. 6.7.2011, 18; VO (EU) Nr. 1286/2011 der Kommission über die Festlegung einer gemeinsamen Methodik zur Untersuchung von Unfällen und Vorkommnissen auf See gem. Art. 5 Abs. 4 der RL 2009/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 328 v. 10.12.2011, 36. 422 ABl. L 131 v. 28.5.2009, 24. 423 ABl. L 131 v. 28.5.2009, 128. 424 Dazu Czerwenka, Neue Haftungs- und Entschädigungsregelungen in der Schifffahrt – Harmonisierung durch Europarecht, TranspR 2010, 165. 425 ABl. L 330 v. 10.12.2013, 1, geändert durch Beschluss (EU) 2018/853 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 150 v. 14.6.2018, 155; ergänzend Durchführungsbeschluss (EU) 2016/2325 der Kommission über das Muster der gemäß der VO (EU) Nr. 1257/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recycling von Schiffen ausgestellten Bescheinigung des Gefahrstoffinventars, ABl. L 345 v. 20.12.2016, 131. 426 ABl. L 323 v. 3.12.2008, 33, geändert durch RL 2012/35/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 343 v. 14.12.2012, 78.

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§ 6 Transportrecht

und dem Umweltschutz, indem Anforderungen an Kenntnisse und Fertigkeiten von Schiffsbesatzungen aufgestellt werden, wobei nach Aufgabenfeldern differenziert wird. Dem Schutz der Seeleute dienen dagegen die RL 1999/63/EG des Rates zu der vom Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und dem Verband der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (FST) getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten427 sowie die damit in sachlichem Zusammenhang stehende RL 1999/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Durchsetzung der Arbeitszeitregelung für Seeleute an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen.428 Der Realisierung des Seearbeitsübereinkommens dienen die RL 2009/13/EG des Rates zur Durchführung der Vereinbarung zwischen dem Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) über das Seearbeitsübereinkommen 2006 und zur Änderung der RL 1999/63/EG429 und die RL 2013/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Verantwortlichkeiten der Flaggenstaaten für die Einhaltung und Durchsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006.430 175 Schließlich besteht eine Anzahl von Sekundärrechtsakten, deren Gegenstand die verwaltungsmäßige Durchsetzung der materiellen Verpflichtungen bildet. Die RL 2009/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erfüllung der Flaggenstaatpflichten431 normiert Anforderungen an die Mitgliedstaaten bezüglich der Zulassung und Überwachung der bei ihnen registrierten Schiffe. Die RL 2009/16/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Hafenstaatkontrolle432 enthält Regelungen für die Überprüfung von Schiffen, insbesondere solchen mit hohem Risikoprofil. Eine Betrauung privater Organisationen mit Überprüfungsaufgaben ist zulässig. Diesbezüglich sind die VO (EG) Nr. 391/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen433 sowie die RL 2009/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen und die einschlägigen Maßnahmen der Seebehörden434 zu beachten. Die VO (EU) 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Überwachung von Kohlendioxidemissionen aus dem Seeverkehr, die Berichterstattung darüber und die Prüfung dieser Emissionen und zur Änderung der RL 2009/16/EG435 enthält Vorschriften für die genaue Überwachung von, Berichterstattung über und Prüfung von CO2-Emissionen und anderen releABl. L 167 v. 2.7.1999, 33, geändert durch RL 2009/13/EG des Rates, ABl. L 124 v. 20.5.2009, 30. ABl. L 14 v. 20.1.2000, 29. ABl. L 124 v. 20.5.2009, 30; geändert durch RL (EU) 2018/131 des Rates, ABl. L 22 v. 26.1.2018, 28. ABl. L 329 v. 10.12.2013, 1. ABl. L 131 v. 28.5.2009, 132. ABl. L 131 v. 28.5.2009, 57, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 123 v. 19.5.2015, 55; dazu Brandt, Die europäische Hafenstaatkontrolle nach der Reform, TranspR 2010, 205. 433 ABl. L 131 v. 28.5.2009, 11, geändert durch VO (EU) Nr. 1355/2014 der Kommission, ABl. L 365 v. 19.12.2014, 82; ergänzend VO (EU) Nr. 788/2014 der Kommission mit Bestimmungen für die Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern und den Entzug der Anerkennung von Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen gem. den Art. 6 und 7 der VO (EG) Nr. 391/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 214 v. 19.7.2014, 12. 434 ABl. L 131 v. 28.5.2009, 47, zuletzt geändert durch RL 2014/111/EU der Kommission, ABl. L 366 v. 20.12.2014, 83. 435 ABl. L 123 v. 19.5.2015, 55, geändert durch DVO (EU) 2016/2071 der Kommission, ABl. L 320 v. 26.11.2016, 1; ergänzend DVO (EU) 2016/1927 der Kommission über Vorlagen für Monitoringkonzepte, Emissionsberichte und Konformitätsbescheinigungen gemäß der VO (EU) 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Überwachung von Kohlendioxidemissionen aus dem Seeverkehr, die Berichterstattung darüber und die Prüfung dieser Emissionen, ABl. L 299 v. 5.11.2016, 1; DVO (EU) 2016/1928 der Kommission über die Bestimmung der Ladung, die von anderen Katego-

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vanten Informationen von Schiffen, die in einem Hafen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ankommen, sich dort aufhalten oder diesen verlassen, um diese Emissionen aus dem Seeverkehr kostenwirksam zu reduzieren. 3. Luftverkehr In historischer Betrachtung ist der Luftverkehr eine noch vergleichsweise neue Erschei- 176 nung. Eine kommerzielle Luftfahrt erfolgt in größerem Umfang erst seit etwa einem halben Jahrhundert. Ihre heutige Bedeutung war zu Beginn dieser Entwicklung, die zeitlich mit den Römischen Verträgen korrespondierte, nicht absehbar. Vielmehr handelte es sich zunächst um eine exklusive Beförderungsform, die sowohl in der Personen- als auch (wenngleich in deutlich geringerem Umfang)436 in der Güterbeförderung im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern ungeachtet seiner stetigen Zunahme von geringer quantitativer Bedeutung und zugleich Gegenstand staatlichen Prestiges war. Eine primärrechtliche Einbeziehung des Luftverkehrs in die gemeinsame Verkehrspolitik erschien daher ebenso wenig notwendig (→ Rn. 33) wie über lange Zeit hinweg eine Sekundärrechtsetzung. Erst seit den 1990er-Jahren hat der Luftverkehr – auch als Folge einer erheblichen Zunahme der Kapazitäten und einer Verbilligung der Beförderungskosten im Zusammenhang mit einem zunehmend unternehmerischen Verständnis – sowohl innerhalb der Union als auch über deren Grenzen hinaus eine Bedeutung erlangt, die (auch) eine europarechtliche Regulierung notwendig erscheinen ließ.437 Heute besteht eine umfassende (sekundärrechtliche) Luftverkehrspolitik der EU,438 die sich parallel zum Regelungsansatz im Hinblick auf andere Verkehrsträger zum einen auf die Marktstrukturierung und zum anderen auf technische Aspekte bezieht. a) Marktbezogene Regelungen Obwohl der Luftverkehr in den in territorialer Hinsicht eher kleinen Mitgliedstaaten der 177 EU nahezu unausweichlich eine internationale Dimension aufweist,439 waren die Luftverkehrsmärkte zunächst weithin abgeschlossen440 und wurden meist von einem Unternehmen in staatlicher Trägerschaft dominiert.441 Wettbewerb erfolgte allenfalls punktuell, wenn austauschbare internationale Flugverbindungen von verschiedenen staatlichen Fluggesellschaften zu unterschiedlichen Preisen angeboten wurden. Dies war jedoch nur in geringem Umfang der Fall. Der Luftverkehrspolitik der EU liegt ein davon deutlich abweichender, auf eine umfassende Marktöffnung gerichteter Regelungsansatz zugrunde. Überdies wurden die Rechte der Passagiere gestärkt. Die notwendigen Daten werden auf Grundlage der VO (EG) Nr. 437/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom

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rien von Schiffen als Fahrgastschiffen, Ro-Ro-Schiffen und Containerschiffen gemäß der VO (EU) 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Überwachung von Kohlendioxidemissionen aus dem Seeverkehr, die Berichterstattung darüber und die Prüfung dieser Emissionen befördert wird, ABl. L 299 v. 5.11.2016, 22; DVO (EU) 2016/2072 der Kommission über die Prüftätigkeiten und die Akkreditierung von Prüfstellen gemäß der VO (EU) 2015/757 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Überwachung von Kohlendioxidemissionen aus dem Seeverkehr, die Berichterstattung darüber und die Prüfung dieser Emissionen, ABl. L 320 v. 26.11.2016, 5. Aberle, S. 20 f. Vgl. Schwarze/Stadler EU-Kommentar (3. Aufl. 2012), AEUV Art. 100 Rn. 12; zur Entwicklung im Überblick Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 100 Rn. 24 ff.; Fritzsche, S. 65 ff.; ausführlich Frerich/Müller, Bd. 3, Kap. 3. Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 6; ausführlich dazu Schladebach EuR 2006, 773; zur Entwicklung Streinz/Schäfer/Kramer EUV/AEUV AEUV Art. 100 Rn. 31 ff. Hailbronner/Wilms/Jochum Art. 70 EGV Rn. 5. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 100 Rn. 22. Vgl. von der Groeben/Schwarze/Erdmenger EUV/EGV (6. Aufl. 2004), Vorb. zu den Art. 70–80 EG, Rn. 7.

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§ 6 Transportrecht 27.2.2003 über die statistische Erfassung der Beförderung von Fluggästen, Fracht und Post im Luftverkehr442 erhoben. Die Folgen des Brexits sind Gegenstand der Verordnung (EU) 2019/502 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.3.2019 über gemeinsame Vorschriften zur Gewährleistung der grundlegenden Konnektivität im Luftverkehr im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union.443 aa) Marktöffnung

178 Parallel zur Schaffung des Binnenmarktes und zu den Liberalisierungsbemühungen in anderen Sektoren des Verkehrsmarktes zielt das auf den Luftverkehrsmarkt bezogene Sekundärrecht auf eine umfassende Marktöffnung ab. Infolgedessen hat sich der Luftverkehrsmarkt bis heute deutlich gewandelt. An die Stelle einer geringen Zahl nebeneinander agierender staatlicher Luftfahrtunternehmen ist eine Vielzahl von Unternehmen in zumeist privater Trägerschaft getreten, die in einem intensiven Wettbewerb stehen. Die starke Zunahme des Luftverkehrs in den vergangenen 20 Jahren steht nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem dadurch ermöglichten Auftreten von „Billigfliegern“. Mit der Marktöffnung der Luftverkehrsleistungen ging zudem eine solche im Hinblick auf notwendige Begleittätigkeiten einher. 179 Die VO (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft444 enthält zentrale Voraussetzungen für einen freien Luftverkehrsmarkt. Als Tätigkeitsvoraussetzung bedarf es danach einer Betriebsgenehmigung, auf deren Erteilung bei Erfüllung der Voraussetzungen ein Anspruch besteht. Diese Voraussetzungen betreffen die Fähigkeiten und Berechtigungen, Luftverkehrsdienstleistungen durchzuführen, sowie Mindestanforderungen im Hinblick auf finanzielle Leistungsfähigkeit und Eignung; zudem muss das Unternehmen seinen Sitz in der EU haben und im Mehrheitseigentum von Mitgliedstaaten oder Unionsbürgern stehen.445 Die Erfüllung der Voraussetzungen unterliegt ständiger mitgliedstaatlicher Kontrolle. Die Betriebsgenehmigung berechtigt grundsätzlich zum im Übrigen voraussetzungslosen Angebot von Luftverkehrsleistungen in der EU einschließlich der Kabotage. Ein konkretes Verkehrsrecht im Sinne der Berechtigung, einen Flugdienst zwischen zwei Flughäfen der Gemeinschaft durchzuführen, geht damit jedoch nicht einher. Dieses ist diskriminierungsfrei, gemäß transparenter, verhältnismäßiger und objektiver Entscheidungen von den Mitgliedstaaten aufgrund des sonstigen einschlägigen Rechtsrahmens zu erteilen. Grund für diese scheinbare Beschränkung des freien Luftverkehrsmarktes ist die begrenzte Zahl und Leistungsfähigkeit der zur Verfügung stehenden Flughäfen. Gezielte Eingriffe in den Wettbewerb sind auf dieser Grundlage nicht möglich. Die Mitgliedstaaten unterliegen dabei der Kontrolle durch die Kommission. Die Preisfestsetzung im Luftverkehr steht den Luftverkehrsunternehmen grundsätzlich frei. Auszuweisen ist dabei aus Gründen des Verbraucherschutzes stets der Endpreis. Auf Grundlage der VO 442 ABl. L 66 v. 11.3.2003, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 517/2013 des Rates, ABl. L 158 v. 10.6.2013, 1; dazu ergänzend VO (EG) Nr. 1358/2003 der Kommission zur Durchführung der VO (EG) Nr. 437/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates über die statistische Erfassung der Beförderung von Fluggästen, Fracht und Post im Luftverkehr und zur Änderung der Anhänge I und II der genannten Verordnung, ABl. L 194 v. 1.8.2003, 9, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 519/2013 der Kommission, ABl. L 158 v. 10.6.2013, 74. 443 ABl. L 85I v. 27.3.2019, 49. 444 ABl. L 293 v. 31.10.2008, 3, geändert durch VO (EU) Nr. 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1; dazu Pegatzky/Rockstroh, Die Reform des europäischen Luftverkehrsrechts durch die VO (EG) Nr. 1008/2008, ZLW 58 (2009), 541. 445 Zum damit verbundenen Diskriminierungsverbot EuGH 25.1.2011 – C-382/08, EuZW 2011, 177 – Neukirchinger.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts kommt schließlich auch die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen in Betracht. Anders als im ÖPV (→ Rn. 131 ff.) kommt diesen im Luftverkehr jedoch nur eine geringe praktische Bedeutung zu. Im Hinblick auf die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts ermächtigt die VO (EG) Nr. 487/2009 des Rates zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Luftverkehr446 die Kommission, im Verordnungswege eine gemeinsame Planung und Koordinierung der Flugpläne; Konsultationen über Tarife für die Beförderung von Fluggästen, Gepäck und Fracht im Linienflugverkehr; Vereinbarungen über den gemeinsamen Betrieb neuer Linienflugdienste mit geringem Verkehrsaufkommen; Zuweisung von Zeitnischen auf Flugplätzen und Planung der Flugzeiten sowie den gemeinsamen Erwerb, die gemeinsame Entwicklung und den gemeinsamen Betrieb von computergesteuerten Buchungssystemen, welche die Flugzeiten, Buchungen und Flugscheinausstellung umfassen, durch Luftfahrtunternehmen für zulässig zu erklären. Dies ist bislang nicht geschehen. Gegen wettbewerbsverzerrende Praktiken, die von Drittstaaten ausgehen, wendet sich die VO (EU) 2019/712 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Sicherstellung des Wettbewerbs im Luftverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 868/2004.447 Die Vergabe der für die Verkehrsdurchführung unerlässlichen Start- und Landerechte an den Flughäfen (Slots) richtet sich nach der VO (EWG) Nr. 95/93 des Rates über gemeinsame Regeln für die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der Gemeinschaft.448 Diese kommt bei Kapazitätsengpässen im Hinblick auf Linienflüge zur Anwendung; andernfalls sind grundsätzlich die Wünsche der Luftverkehrsunternehmen maßgeblich. Die Zuweisung der Slots hat neutral, transparent und nichtdiskriminierend zu erfolgen. Dies gilt auch im Hinblick auf die tageszeitliche Festlegung. Neubewerber sind ungeachtet der Anerkennung überkommener Rechtspositionen angemessen zu berücksichtigen.449 Im Hinblick auf die unionsweite Einsetzbarkeit des Personals nimmt die VO (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der VOen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der RLen 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, und zur Aufhebung der VOen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der VO (EWG) Nr. 3922/91 des Rates450 eine weitgehende Harmonisierung der Berufszugangsvoraussetzungen vor. Erfasst werden sowohl das fliegende als auch das nicht fliegende Personal. Im Hinblick auf die Nutzung der Luftverkehrsinfrastruktur sieht die RL 96/67/EG des Rates über den Zugang zum Markt der Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen der

446 ABl. L 148 v. 11.6.2009, 1; s. dazu Immenga/Mestmäcker/Knauff, Bd. 1, 6. Aufl. 2019, Verkehr, Rn. 137 ff. 447 ABl. L 123 v. 10.5.2019, 4. 448 ABl. L 14 v. 22.1.1993, 1, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 545/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 167 v. 29.6.2009, 24. 449 Im Einzelnen dazu Fritzsche, S. 126 ff.; Schladebach EuR 2006, 773 (780 ff.); s. auch Geisler/Boewe, Zu neuen Entwicklungen im Bereich der Slot-Vergabe. Die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Auslegung relevanter Rechtsvorschriften, ZLW 57 (2008), 501. 450 ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1; Durchführungsbeschluss (EU) 2019/2167 der Kommission zur Genehmigung des Netzstrategieplans für die Netzfunktionen des Flugverkehrsmanagements des einheitlichen europäischen Luftraums für den Zeitraum 2020-2029, ABl. L 328 v. 18.12.2019, 89.

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§ 6 Transportrecht Gemeinschaft451 ebenfalls eine Liberalisierung vor. Sachlich werden die administrative Abfertigung am Boden/Überwachung, die Fluggast-, Gepäck-, Fracht- und Postabfertigung, Vorfeld-, Betankungs-, Stationswartungs-, Flugbetriebs- und Besatzungsdienste sowie Transportdienste am Boden und Bordverpflegungsdienste (Catering) erfasst. Die Unterstellung dieser Tätigkeiten unter den Wettbewerb dient der Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit und soll zugleich einen Beitrag zur Senkung der Betriebskosten der Luftverkehrsunternehmen und zur Qualitätssteigerung leisten. Die Auswahl der Anbieter erfolgt mittels einer Ausschreibung anhand sachgerechter, objektiver, transparenter und nichtdiskriminierender Kriterien. Auch eine Selbstabfertigung ist zulässig. Einschränkungen sind nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Die von den Luftverkehrsunternehmen für die Nutzung der Einrichtungen und Dienstleistungen, die seitens des Flughafens bereitgestellt werden und mit Landung, Start, Beleuchtung und Abstellen von Luftfahrzeugen sowie mit der Abfertigung von Fluggästen und Fracht in Zusammenhang stehen, zu zahlenden Entgelte sind nach der RL 2009/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Flughafenentgelte452 so zu gestalten, dass sie der Infrastruktur oder dem gebotenen Dienstleistungsniveau angemessen sind. Diskriminierungen sind unzulässig. Der Anwendungsbereich der RL ist allerdings auf Flughafen mit regelmäßig mehr als 5 Mio. Fluggastbewegungen jährlich beschränkt. bb) Passagierrechte

184 Der Schutz der Passagiere453 bildet einen weiteren Schwerpunkt des auf die Erbringung von Luftverkehrsleistungen bezogenen Sekundärrechts. Die VO (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichsund Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 295/91454 verpflichtet die Luftverkehrsunternehmen zu situationsspezifischen Kompensationsmaßnahmen in den erfassten Fällen einer nicht planmäßigen Beförderung. Die VO trägt damit nicht zuletzt dem Umstand, dass Flugpassagiere zumeist nicht ohne Weiteres auf andere Beförderungsmittel ausweichen können, und ihrer daraus folgenden besonderen Schutzbedürftigkeit Rechnung. Für Personen mit eingeschränkter Mobilität enthält 451 ABl. L 272 v. 25.10.1996, 36, geändert durch VO (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 284 v. 31.10.2003, 1; dazu Fritzsche, S. 150 ff.; auch zur deutschen Umsetzung Rittner, Flughafengebühren und Marktzugang zu den Bodenabfertigungsdiensten nach Gemeinschaftsrecht, EuZW 1998, 651. 452 ABl. L 70 v. 14.3.2009, 11; dazu Schiller, Neue gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zur Festsetzung von Flughafenentgelten: Die Richtlinie 2009/12/EG über Flughafenentgelte, ZLW 58 (2009), 356; zur Primärrechtskonformität EuGH 12.5.2011 – C-176/09 – Luxemburg/Parlament und Rat. 453 Eine gänzlich andere Zielrichtung liegt der RL 2004/82/EG des Rates über die Verpflichtung von Beförderungsunternehmen, Angaben über die beförderten Personen zu übermitteln, ABl. L 261 v. 6.8.2004, 24, zugrunde. Diese bezweckt, Grenzkontrollen zu verbessern und die illegale Einwanderung zu bekämpfen, indem die Luftverkehrsunternehmen Angaben über die beförderten Personen vorab an die zuständigen nationalen Behörden zu übermitteln haben. 454 ABl. L 46 v. 17.2.2004, 1; dazu Schmid, Die VO (EG) Nr. 261/2004 – Europäischer Verbraucherschutz mit Nachbesserungsbedarf, ZLW 54 (2005), 373; Haanappel, The New EU Denied Boarding Compensation Regulation of 2004, ZLW 55 (2006), 22; Peterhoff, Die Rechte des Flugreisenden im Überblick, TranspR 2007, 103 (105 ff.); Schmid, Die Bewährung der neuen Fluggastrechte in der Praxis – Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der VO (EG) Nr. 261/2004, NJW 2006, 1841; Schmid/Hopperdietzel, Die Fluggastrechte – eine Momentaufnahme, NJW 2010, 1905; Sendmeyer, Alle Jahre wieder: Europäische Fluggastrechte im Schneechaos, NJW 2011, 808; Müller-Rostin, Flugannullierungen wegen Sperrung des Luftraumes – die Rechte der Fluggäste und der Absender von Luftfracht, TranspR 2011, 129 ff.; zur Primärrechtskonformität der Art. 5–7 VO (EG) Nr. 261/2004 EuGH 10.1.2006 – C-344/04, Slg 2006, I-403 – IATA und ELFAA; zum Vorliegen den Ersatzanspruch ausschließender außergewöhnlicher Umstände EuGH 4.4.2019 – C-501/17, NJW-RR 2019, 562 – Germanwings.

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B. Transport als Gegenstand des Europarechts

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die VO (EG) Nr. 1107/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität455 Vorschriften für deren Schutz und zu den notwendigen Hilfeleistungen mit dem Ziel, auch diesen Personen eine grundsätzlich uneingeschränkte Beförderung im Flugverkehr zu ermöglichen. Im Kern ebenfalls dem Verbraucherschutz dient die VO (EG) Nr. 80/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Verhaltenskodex in Bezug auf Computerreservierungssysteme und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 2299/89 des Rates.456 Im Hinblick auf Unfälle und den finanziellen Ausgleich ihrer Folgen enthalten die VO 185 (EG) Nr. 2027/97 des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr457 sowie die VO (EG) Nr. 785/ 2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über Versicherungsanforderungen an Luftfahrtunternehmen und Luftfahrzeugbetreiber458 spezifische Verhaltensanforderungen an die Luftverkehrsunternehmen. Diese sollen eine schnelle und vollständige Erfüllung der Ersatzansprüche Geschädigter sicherstellen. b) Technische Regelungen In technischer Hinsicht weist der Luftverkehr einige Besonderheiten auf. Er ist stark infra- 186 strukturabhängig und in seinem Ablauf organisationsbedürftig; zugleich sind die Folgen von Unfällen regelmäßig besonders gravierend. Überdies ist er mit hohen Umweltbelastungen verbunden.459 Das europäische Luftverkehrssekundärrecht enthält daher zahlreiche Vorgaben, welche darauf abzielen, Sicherheit und Umweltverträglichkeit des Luftverkehrs zu verbessern. aa) Sicherheit Entscheidend für die Sicherheit des Luftverkehrs ist zunächst die Verwendung sicherer 187 Komponenten. Luftfahrzeuge, ihr Betrieb sowie Flugplätze müssen der VO (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der VOen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der RLen 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, und zur Aufhebung der VOen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der VO (EWG) Nr. 3922/91 des Rates460 entsprechen, die jeweils spezifische Mindestanforderungen enthält. Auf Grundlage der VO (EG) Nr. 2111/2005 des Europä455 ABl. L 204 v. 26.7.2006, 1. 456 ABl. L 35 v. 4.2.2009, 47. 457 ABl. L 285 v. 17.10.1997, 1, geändert durch VO (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 140 v. 30.5.2002, 2; dazu Mühlbauer, Die Verbesserung des Schutzes der Fluggäste durch die EG-VO Nr. 2027/97 v. 9.10.1997, VersR 1998, 1335; Ruhwedel, VO (EG) Nr. 2027/97 des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen v. 9.10.1997, TranspR 1998, 13; zum Verhältnis der VO zum Warschauer Abkommen EuGH 22.10.2009 – C-301/08, Slg 2009, I-10185, Rn. 35 ff. – Bogiatzi. 458 ABl. L 138 v. 30.4.2004, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 285/2010 der Kommission, ABl. L 87 v. 7.4.2010, 19. 459 Dazu und ebenenübergreifend zu rechtlichen Lösungsansätzen Koch/Wieneke, Umweltprobleme des Luftverkehrs, NVwZ 2003, 1153. 460 ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1; ergänzend VO (EU) Nr. 139/2014 der Kommission zur Festlegung von Anforderungen und Verwaltungsverfahren in Bezug auf Flugplätze gemäß der VO (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 44 v. 14.2.2014, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2018/401 der Kommission, ABl. L 72 v. 15.3.2018, 17; VO (EU) Nr. 452/2014 der Kommission zur Festlegung von technischen Vorschriften und Verwaltungsverfahren für den Flugbetrieb von Drittlandsbetreibern gem. der VO (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L

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§ 6 Transportrecht

ischen Parlaments und des Rates über die Erstellung einer gemeinschaftlichen Liste der Luftfahrtunternehmen, gegen die in der Gemeinschaft eine Betriebsuntersagung ergangen ist, sowie über die Unterrichtung von Fluggästen über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens und zur Aufhebung des Artikels 9 der RL 2004/36/EG461 kann Luftfahrtunternehmen, deren Flugzeuge erhebliche Sicherheitsmängel aufweisen, die Betriebsgenehmigung entzogen werden. Infolgedessen sind sie zur Erbringung von Luftverkehrsleistungen in der EU nicht mehr berechtigt.462 Im Hinblick auf sicherheitsrelevante Ereignisse im Zusammenhang mit dem Flugverkehr statuiert die VO (EU) Nr. 376/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Meldung, Analyse und Weiterverfolgung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt, zur Änderung der VO (EU) Nr. 996/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der RL 2003/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der VOen (EG) Nr. 1321/2007 und (EG) Nr. 1330/2007 der Kommission463 umfassende Meldepflichten, die der Unfallvermeidung dienen. Für gravierende Vorfälle stellt die VO (EU) Nr. 996/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Untersuchung und Verhütung von Unfällen und Störungen in der Zivilluftfahrt und zur Aufhebung der RL 94/56/EG464 eine Untersuchungspflicht auf. 188 Von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit des Luftverkehrs ist auch eine entsprechende Organisation und Überwachung des Luftraums. Zentral ist diesbezüglich die Ersetzung der getrennten mitgliedstaatlichen Lufträume durch einen einheitlichen europäischen Luftraum (Single European Sky).465 Dessen grundlegende Konstituierung erfolgt durch die VO (EG) Nr. 549/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Rahmens für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums (Rahmenverordnung).466 Diese verfolgt gem. ihrem Art. 1 Abs. 1 „das Ziel …, die derzeitigen Sicherheitsstandards des Luftverkehrs zu verbessern, einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des Luftverkehrssystems zu leisten und die Gesamteffizienz des Flugverkehrsmanagements (ATM) und der Flugsicherungsdienste (ANS) für den allgemeinen Flugverkehr

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133 v. 6.5.2014, 12, geändert durch VO (EU) 2016/1158 der Kommission, ABl. L 192 v. 16.7.2016, 21; VO (EU) Nr. 1321/2014 der Kommission über die Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen und luftfahrttechnischen Erzeugnissen, Teilen und Ausrüstungen und die Erteilung von Genehmigungen für Organisationen und Personen, die diese Tätigkeiten ausführen, ABl. L 362 v. 17.12.2014, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) 2018/1142 der Kommission, ABl. L 207 v. 16.8.2018, 2; VO (EU) 2018/395 der Kommission zur Festlegung detaillierter Vorschriften für den Flugbetrieb mit Ballonen gemäß der VO (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 71 v. 14.3.2018, 10; DVO (EU) 2018/1976 der Kommission zur Festlegung detaillierter Vorschriften für den Flugbetrieb mit Segelflugzeugen gemäß der VO (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 326 v. 20.12.2018, 64; DVO (EU) 2019/945 der Kommission über unbemannte Luftfahrzeugsysteme und Drittlandbetreiber unbemannter Luftfahrzeugsysteme, ABl. L 152 v. 11.6.2019, 1; DVO (EU) 2019/947 der Kommission über die Vorschriften und Verfahren für den Betrieb unbemannter Luftfahrzeuge, ABl. L 152 v. 11.6.2019, 45. ABl. L 344 v. 27.12.2005, 15, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1; dazu Kohlhase, Die VO (EG) Nr. 2111/2005 – die „Schwarze Liste“ in der EU und transparentere Informationen für Fluggäste, ZLW 55 (2006), 22. Zu den Hintergründen Schladebach EuR 2006, 773 (784 f.). ABl. L 122 v. 24.4.2014, 18, geändert durch VO (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1; ergänzend DVO (EU) 2015/1018 der Kommission zur Festlegung einer Liste zur Einstufung von Ereignissen in der Zivilluftfahrt, die gemäß der VO (EU) Nr. 376/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates meldepflichtig sind, ABl. L 163 v. 30.6.2015, 1. ABl. L 295 v. 12.11.2010, 35, geändert durch VO (EU) Nr. 376/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 122 v. 24.4.2014, 18. Dazu im Überblick Fritzsche, S. 163 ff.; Scherer, Vom nationalen zum einheitlichen europäischen Luftraum, EuZW 2005, 268. ABl. L 96 v. 31.3.2004, 1, geändert durch VO (EG) Nr. 1070/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 300 v. 14.11.2009, 34.

Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Transport als Gegenstand des Europarechts in Europa im Hinblick darauf zu steigern, den Anforderungen aller Luftraumnutzer zu entsprechen. Dieser einheitliche europäische Luftraum besteht aus einem zusammenhängenden europaweiten Netz von Strecken, Streckenmanagement- und Flugverkehrsmanagementsystemen,467 denen ausschließlich Sicherheits-, Effizienz- und technische Erwägungen zum Vorteil aller Luftraumnutzer zugrunde liegen.“ Die nähere Ausgestaltung dieses Rahmens erfolgt durch mehrere Sekundärrechtsakte. Die VO (EG) Nr. 550/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum (Flugsicherungsdienste-VO)468 enthält Anforderungen für einen sicheren und effizienten Betrieb von Flugsicherungsorganisationen und normiert überdies marktbezogene Elemente in diesem traditionell hoheitlich geprägten Sektor. Flugsicherungsorganisationen bedürfen der Zertifizierung.469 Eine spezifische Rechtsform oder Eigentümerstruktur ist dagegen nicht vorgeschrieben. Sie werden von den Mitgliedstaaten, die insoweit über ein Ermessen verfügen, jeweils mit Ausschließlichkeit für die Dienstleistung in funktionalen Luftraumblöcken benannt. Die Finanzierung erfolgt mittels Gebühren für die jeweils erbrachten Leistungen, die von den Luftraumnutzern zu tragen sind.470 Die erforderlichen Qualifikationen des eingesetzten Personals regelt ergänzend die VO (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der VOen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der RL 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, und zur Aufhebung der VOen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der VO (EWG) Nr. 3922/91 des Rates.471 Des Weiteren wird der einheitliche europäische Luftraum durch die VO (EG) Nr. 551/2004 des Europäischen Parlaments und 467 S. diesbezüglich auch VO (EG) Nr. 219/2007 des Rates zur Gründung eines gemeinsamen Unternehmens zur Entwicklung des europäischen Flugverkehrsmanagementsystems der neuen Generation (SESAR), ABl. L 64 v. 2.3.2007, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 721/2014 des Rates, ABl. L 192 v. 1.7.2014, 1. 468 ABl. L 96 v. 31.3.2004, 10, geändert durch VO (EG) Nr. 1070/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 300 v. 14.11.2009, 34; ergänzend DVO (EU) 2019/317 der Kommission zur Festlegung eines Leistungssystems und einer Gebührenregelung für den einheitlichen europäischen Luftraum und zur Aufhebung der DVO (EU) Nr. 390/2013 und (EU) Nr. 391/2013, ABl. L 56 v. 25.2.2019, 1; DVO (EU) Nr. 409/2013 der Kommission zur Festlegung gemeinsamer Vorhaben, zum Aufbau von Entscheidungsstrukturen und zur Schaffung von Anreizen für die Unterstützung der Durchführung des europäischen Masterplans für das Flugverkehrsmanagement, ABl. L 123 v. 4.5.2013, 1; DVO (EU) Nr. 716/2014 der Kommission über die Einrichtung des gemeinsamen Pilotvorhabens für die Unterstützung der Durchführung des europäischen Masterplans für das Flugverkehrsmanagement, ABl. L 190 v. 28.6.2014, 19; DVO (EU) 2018/1048 der Kommission zur Festlegung von Anforderungen an die Luftraumnutzung und von Betriebsverfahren in Bezug auf die leistungsbasierte Navigation, ABl. L 189 v. 26.7.2018, 3. 469 Näher DVO (EU) Nr. 1035/2011 der Kommission zur Festlegung gemeinsamer Anforderungen an die Erbringung von Flugsicherungsdiensten und zur Änderung der VOen (EG) Nr. 482/2008 und (EU) Nr. 691/2010, ABl. L 271 v. 18.10.2011, 23, zuletzt geändert durch DVO (EU) Nr. 448/2014 der Kommission, ABl. L 132 v. 3.5.2014, 53. 470 Näher DVO (EU) 2019/317 der Kommission zur Festlegung eines Leistungssystems und einer Gebührenregelung für den einheitlichen europäischen Luftraum und zur Aufhebung der DVOen (EU) Nr. 390/2013 und (EU) Nr. 391/2013, ABl. L 56 v. 25.2.2019, 1. 471 ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1; ergänzend VO (EU) 2015/340 der Kommission zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf Lizenzen und Bescheinigungen von Fluglotsen gemäß der VO (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, zur Änderung der DVO (EU) Nr. 923/2012 der Kommission und zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 805/2011 der Kommission, ABl. L 63 v. 6.3.2015, 1; DVO (EU) 2017/373 der Kommission zur Festlegung gemeinsamer Anforderungen an Flugverkehrsmanagementanbieter und Anbieter von Flugsicherungsdiensten sowie sonstiger Funktionen des Flugverkehrsmanagementnetzes und die Aufsicht hierüber sowie zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 482/2008, der DVOen (EU) Nr. 1034/2011, (EU) Nr. 1035/2011 und (EU) 2016/1377 und zur Änderung der VO (EU) Nr. 677/2011, ABl. L 62 v. 8.3.2017, 1.

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des Rates über die Ordnung und Nutzung des Luftraums im einheitlichen europäischen Luftraum (Luftraum-VO)472 ausgestaltet. Diese legt eine spezifische Luftraumarchitektur473 fest, innerhalb der eine flexible Luftraumnutzung474 erfolgen soll. 189 Die VO (EG) Nr. 300/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 2320/2002475 enthält schließlich Regelungen zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit des Luftverkehrs, die von Dritten ausgehen. Zu diesem Zweck sieht sie eine Vielzahl von Kontrollerfordernissen vor. In Bezug auf den Brexit enthält die VO (EU) 2019/494 des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Flugsicherheit im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Union476 spezifische Vorgaben. bb) Umweltschutz 190 Die Umweltrelevanz des Luftverkehrs hat sich in einer überschaubaren Anzahl umweltbezogener Sekundärrechtsakte niedergeschlagen. Diese beschränken sich zudem weithin darauf, Lärmschutzanforderungen aufzustellen. Die auch im Kontext der Sicherheitsgewährleistung (→ Rn. 185) relevante VO (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der VOen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der RLen 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, und zur Aufhebung der VOen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der VO (EWG) Nr. 3922/91 des Rates477 zielt explizit auch auf die Sicherstellung eines einheitlichen und hohen Niveaus des Umweltschutzes im Flugverkehr ab. Sie verweist im Wesentlichen auf die Schallimmissionsgrenzwerte des Chicagoer Abkommens. Weitere derartige Regelungen, die auf verschiedene Modifikationen jenes Abkommens Bezug nehmen, enthält die RL 89/629/EWG zur Begrenzung der Schallemission von zivilen Unterschallstrahlflugzeugen478 mit einer maximalen Abflugmasse von 472 ABl. L 96 v. 31.3.2004, 20, geändert durch VO (EG) Nr. 1070/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 300 v. 14.11.2009, 34; ergänzend DVO (EU) 2019/123 der Kommission zur Festlegung detaillierter Durchführungsbestimmungen für die Netzfunktionen des Flugverkehrsmanagements und zur Aufhebung der VO (EU) Nr. 677/2011 der Kommission, ABl. L 28 v. 31.1.2019, 1; Durchführungsbeschluss (EU) 2019/709 der Kommission über die Benennung des Netzmanagers für die Netzfunktionen des Flugverkehrsmanagements (ATM) im einheitlichen europäischen Luftraum (bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2019) 3228), ABl. L 120 v. 8.5.2019, 27; Durchführungsbeschluss (EU) 2019/2167 der Kommission zur Genehmigung des Netzstrategieplans für die Netzfunktionen des Flugverkehrsmanagements des einheitlichen europäischen Luftraums für den Zeitraum 2020-2029, ABl. L 328 v. 18.12.2019, 89). 473 Näher DVO (EU) 2016/1185 der Kommission zur Änderung der DVO (EU) Nr. 923/2012 hinsichtlich der Aktualisierung und Vervollständigung der gemeinsamen Luftverkehrsregeln und Betriebsvorschriften für Dienste und Verfahren der Flugsicherung (SERA Teil C) und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 730/2006, ABl. L 196 v. 21.7.2016, 3. 474 Näher VO (EG) Nr. 2150/2005 der Kommission über gemeinsame Regeln für die flexible Luftraumnutzung, ABl. L 342 v. 24.12.2005, 20. 475 ABl. L 97 v. 9.4.2008, 72, geändert durch VO (EU) Nr. 18/2010 der Kommission, ABl. L 7 v. 12.1.2010, 3; ergänzend DVO (EU) 2015/1998 der Kommission zur Festlegung detaillierter Maßnahmen für die Durchführung der gemeinsamen Grundstandards für die Luftsicherheit, ABl. L 299 v. 14.11.2015, 1, zuletzt geändert durch DVO (EU) 2018/55 der Kommission, ABl. L 10 v. 13.1.2018, 5; dazu Lienhart, Luftsicherheit im europäischen Kontext, ZLW 58 (2009), 1 (8 ff.); Leininger, Das neue Luftsicherheitsrecht der Europäischen Union. Entwicklung und Änderungen durch Inkrafttreten der VO (EU) Nr. 185/2010, ZLW 59 (2010), 335 (485). 476 ABl. L 85I v. 27.3.2019, 11. 477 ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1. 478 ABl. L 363 v. 13.12.1989, 27.

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über 34 t und mit mehr als 19 Plätzen. Zudem enthält die RL 2006/93/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Regelung des Betriebs von Flugzeugen des Teils II Kapitel 3 Band 1 des Anhangs 16 zum Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt, 2. Ausgabe (1988),479 ein grundsätzliches Anflugverbot für Flughäfen in der EU für die erfassten, besonders lauten Flugzeuge. Zum Zwecke der Reduzierung des Fluglärms an der Quelle setzt die VO (EU) Nr. 598/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der RL 2002/30/EG480 Anreize zur Verwendung umweltfreundlicherer Flugzeuge. Mit dem Ziel, die Umweltfreundlichkeit des Luftverkehrs generell zu verbessern, wurde 191 zudem durch die VO (EG) Nr. 71/2008 des Rates über die Gründung des Gemeinsamen Unternehmens Clean Sky481 eine befristete öffentlich-private Partnerschaft gegründet. Diese wurde durch die Nachfolge-VO (EU) Nr. 558/2014 des Rates zur Gründung des Gemeinsamen Unternehmens Clean Sky 2482 mit Modifikationen weitergeführt.

III. Sonstige Maßnahmen auf dem Gebiet des Transports Wenngleich die EU im Verkehrssektor vor allem durch den Erlass von Sekundärrecht tätig 192 wird, handelt es sich dabei nicht um die einzige Maßnahmeart. Von besonderer Bedeutung sind die Beteiligung an internationalen Abkommen und die Gründung von Agenturen. 1. Internationale Abkommen Die EU ist Vertragspartei zahlreicher völkerrechtlicher Verträge, die den Verkehr betref- 193 fen. Dessen nicht selten grenzüberschreitende Dimension hat nicht nur die Europäisierung des Sektors in den EU-Mitgliedstaaten vorangetrieben, sondern ist auch Grundlage für die Notwendigkeit einer internationalen Abstimmung. Als wesentlicher verkehrspolitischer Akteur in Europa ist die EU in diese einzubeziehen. Hinsichtlich der verkehrsbezogenen internationalen Abkommen, an denen die EU beteiligt 194 ist, lassen sich zwei Ausprägungen grundsätzlich unterscheiden. Zum einen handelt es sich um bilaterale Vereinbarungen zwischen der EU und einem Drittstaat. Diese bezwecken regelmäßig Verkehrserleichterungen. Bei benachbarten Staaten sind sie zugleich nicht selten Bestandteil des Beitrittsprozesses. Zum anderen ist die EU an zahlreichen multilateralen Vereinbarungen beteiligt. Im Allgemeinen weisen diese einen eher punktuellen Charakter auf und regeln die spezifischen Fragen, die mit der Nutzung eines bestimmten Verkehrsmittels zu bestimmten Zwecken verbunden sind oder vereinheitlichen technische Aspekte als Voraussetzung des grenzüberschreitenden Verkehrs. Ein grundsätzlich verkehrsträgerübergreifender Ansatz liegt aufgrund seiner spezifischen Zielrichtung etwa dem Europäischen Übereinkommen über den Schutz von Tieren beim internationalen Transport483 zugrunde, das dennoch zugleich einige verkehrsmittelspezifische Vorschriften aufstellt. Das aufgrund des Übereinkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Weltraumorganisation und der Europäischen Organisation zur Sicherung der Luftfahrt über einen europäischen Beitrag zur Errichtung eines globalen Satellitennavigations-

479 ABl. L 374 v. 27.12.2006, 1. 480 ABl. L 173 v. 12.6.2014, 65. 481 ABl. L 30 v. 4.2.2008, 1, geändert durch Entscheidung 2009/520/EG der Kommission, ABl. L 175 v. 4.7.2009, 14. 482 ABl. L 169 v. 7.6.2014, 77. 483 ABl. L 241 v. 13.7.2004, 22.

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§ 6 Transportrecht systems (GNSS)484 zu schaffende System soll ebenfalls verkehrsträgerübergreifende Wirkungen entfalten. Derartige multilaterale Abkommen schlagen sich häufig im Erlass des ihrer Umsetzung dienenden Sekundärrechts nieder, wirken somit auf die Struktur der Rechtsordnung der EU zurück und unterscheiden sich dadurch zugleich von bilateralen Abkommen, die allenfalls punktuelle Änderungen nach sich ziehen. Zahlreiche andere multilaterale Abkommen im Verkehrsbereich, etwa das Europäische Übereinkommen über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR)485 und das Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen)486 entfalten für die EU infolge der Beteiligung aller Mitgliedstaaten eine mittelbare Bindungswirkung. Auch diese können eine Anpassungs- und Umsetzungssekundärrechtsetzung nach sich ziehen. Im Folgenden werden exemplarisch einige bedeutsame multilaterale Abkommen in einzelnen Verkehrssektoren in den Blick genommen, an denen die EU als Vertragspartei beteiligt ist. Im Hinblick auf den Landverkehr bekennt sich das Protokoll zur Durchführung der Alpenkonvention von 1991 im Bereich Verkehr487 in einem umweltpolitischen Kontext zur Bevorzugung der Entwicklung des Eisenbahnverkehrs gegenüber anderen Verkehrsträgern im Alpenraum als Bestandteil einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Auf bestimmte Fälle der Personenbeförderung mit Kraftfahrzeugen bezieht sich das Übereinkommen über die Personenbeförderung im grenzüberschreitenden Gelegenheitsverkehr mit Omnibussen (Interbus-Übereinkommen).488 Dieses enthält im Wesentlichen für die erfassten Verkehre einige marktöffnende Elemente, technische Anforderungen und auf die Verkehrsdurchführung bezogene Regelungen. Die Binnenschifffahrt unterfällt im Hinblick auf damit verbundene Verschmutzungen dem Übereinkommen über die Zusammenarbeit zum Schutz und zur verträglichen Nutzung der Donau (Donauschutzübereinkommen).489 Eine spezifische Vereinbarung zur gemeinsamen Lösung von Fragen, die sich im Hinblick auf die Seeschifffahrt stellen, enthält das Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Abkommen von Cartagena und seinen Mitgliedstaaten, der Republik Bolivien, der Republik Ecuador, der Republik Kolumbien, der Republik Peru und der Republik Venezuela – Briefwechsel über den Seeverkehr490 – über ein generelles Bekenntnis der Vertragsparteien über eine Zusammenarbeit (auch) im Verkehrssektor hinaus. Konkrete Verpflichtungen folgen aus diesem Abkommen jedoch nicht. Für den Luftverkehr besteht aufgrund seiner Besonderheiten eine vergleichsweise hohe Zahl an multilateralen Abkommen unter Beteiligung der EU.491 Mit der VO (EG) Nr. 847/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Aushandlung und Durchführung von Luftverkehrsabkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten492 besteht zugleich eine unionsinterne Regelung, die deren Abschluss und Realisierung betrifft. Für die Flugsicherheit in Europa ist der Beitritt der EU zum Internationalen Übereinkommen über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt (Eurocontrol)493 von zentraler Bedeutung. Das Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493

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ABl. L 194 v. 10.7.1998, 16. Abrufbar unter http://www.unece.org/fr/trans/main/sc1/sc1aetr.html. Abrufbar unter http://www.icao.int/publications/Pages/doc7300.aspx. ABl. L 323 v. 8.12.2007, 15. ABl. L 321 v. 26.11.2002, 13. ABl. C 288 v. 1.10.1996, 20. ABl. L 127 v. 29.4.1998, 11. Lenz/Borchardt/Mückenhausen EU-Verträge Art. 100 Rn. 18. ABl. L 157 v. 30.4.2004, 7. ABl. L 304 v. 30.9.2004, 210.

Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Transport als Gegenstand des Europarechts

6

über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Übereinkommen von Montreal)494 enthält Vorgaben über auszustellende Urkunden sowie über die Haftung der Luftverkehrsunternehmen. Das im Rahmen des GATT ausgehandelte Übereinkommen über den Handel mit Zivilluftfahrzeugen495 dient dem Abbau von Handelshemmnissen im Hinblick auf die erfassten Verkehrsmittel. Einer Einbeziehung der südosteuropäischen Staaten in den Luftverkehrsbinnenmarkt dient das Übereinkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten, der Republik Albanien, Bosnien und Herzegowina, der Republik Bulgarien, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, der Republik Island, der Republik Kroatien, der Republik Montenegro, dem Königreich Norwegen, Rumänien, der Republik Serbien und der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Kosovo zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Luftverkehrsraums (ECAA-Übereinkommen).496 Grundlagen dieses gemeinsamen europäischen Luftverkehrsraums sind der freie Marktzugang, die Niederlassungsfreiheit, gleiche Wettbewerbsbedingungen und gemeinsame Regeln, auch in den Bereichen Flug- und Luftsicherheit, Flugverkehrsmanagement, Sozialvorschriften und Umweltschutz. 2. Agenturen Ebenso wie in zahlreichen anderen Politikbereichen497 hat die EU auch im Hinblick auf 199 den Verkehr in den vergangenen Jahren Agenturen eingesetzt, die als organisatorisch eigenständige europäische Verwaltungseinheiten unterstützende Aufgaben in einzelnen Verkehrssektoren wahrnehmen sollen. Diese werden im Wesentlichen aus dem Haushalt der EU finanziert, sind jedoch unabhängig und verfügen über Rechtspersönlichkeit, einen eigenen Haushaltsplan sowie über eigenes Personal. Einem Verwaltungsrat, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission sowie (außer bei der EASA) von Akteuren des spezifischen Verkehrssektors, die über kein Stimmrecht verfügen, zusammensetzt, kommen wesentliche Entscheidungsbefugnisse zu. Die Agenturen unterliegen zudem der Kontrolle durch das Europäische Parlament. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten beschränken sich weithin auf die Abgabe von Empfehlungen und Stellungnahmen. Über Rechtsetzungskompetenzen verfügen die Agenturen grundsätzlich nicht; gleichwohl gehört bereichsspezifisch die Ausarbeitung von Rechtsetzungsvorschlägen sowie sekundärrechtlich vorgesehenen Dokumenten für die Kommission zu ihren Aufgaben. Auf die Entwicklung der erfassten Sektoren nehmen die Agenturen daher de facto erheblichen Einfluss. Für den Eisenbahnsektor begründet die VO (EU) 2016/796 des Europäischen Parlaments 200 und des Rates über die Eisenbahnagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 881/2004498 die Europäische Eisenbahnagentur (ERA). Gemäß Art. 2 UAbs. 1 VO (EU) 2016/796 ist „Ziel der Agentur …, zur weiteren Entwicklung und zum reibungslosen Funktionieren eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums ohne Grenzen beizutragen, indem ein hohes Maß an Eisenbahnsicherheit und Interoperabilität bei gleichzeitiger Verbesserung der Wettbewerbsposition des Eisenbahnsektors gewährleistet wird. Insbesondere trägt die Agentur in technischen Fragen zur Durchführung des Unionsrechts bei, und zwar durch die Entwicklung eines gemeinsamen Konzepts für die Sicherheit im europäischen Eisenbahnsystem und durch die Erhöhung des Interoperabilitätsniveaus der Eisenbahnsysteme.“ Darüber hinaus nimmt die ERA nach Art. 2 UAbs. 3 494 495 496 497 498

ABl. L 194 v. 18.7.2001, 39. ABl. L 71 v. 17.3.1980, 58. ABl. L 285 v. 16.10.2006, 3. Überblick bei Kirste, Das System der Europäischen Agenturen, VerwArch 102 (2011), 268 ff. ABl. L 138 v. 26.5.2016, 1; ergänzend DVO (EU) 2018/867 der Kommission zur Festlegung der Geschäftsordnung der Beschwerdekammer(n) der Eisenbahnagentur der Europäischen Union, ABl. L 149 v. 14.6.2018, 3.

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451

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§ 6 Transportrecht

VO (EU) 2016/796 „die Rolle der für die Erteilung von Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Eisenbahnfahrzeugen und von Fahrzeugtypen sowie von einheitlichen Sicherheitsbescheinigungen für Eisenbahnunternehmen zuständigen Unionsbehörde wahr, sofern das in der RL (EU) 2016/797 und der RL (EU) 2016/798 vorgesehen ist.“ Schwerpunkte ihrer Aufgaben bilden mithin Sicherheit und Interoperabilität im Eisenbahnwesen der EU, das dadurch gegenüber anderen Verkehrsträgern gestärkt werden soll. Neben der Erarbeitung von Empfehlungen, die in plural zusammengesetzten Arbeitsgruppen erfolgt, obliegt der ERA die Prüfung nationaler Vorschriften, die technische Unterstützung insbesondere der Kommission in Fragen der Interoperabilität, die Beauftragung der erforderlichen Studien und die Innovationsförderung.499 201 Über Zuständigkeiten im Bereich der Seeschifffahrt verfügt die auf Grundlage der VO (EG) Nr. 1406/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs500 eingerichtete gleichnamige Agentur (EMSA). Sie zielt gem. Art. 1 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1406/2002 auf „die Gewährleistung eines hohen, einheitlichen und effektiven Niveaus bei der Sicherheit und der Gefahrenabwehr im Seeverkehr sowie bei der Verhütung und Bekämpfung von Verschmutzung durch Schiffe und der Bekämpfung der Meeresverschmutzung durch Öl- und Gasanlagen“ ab. Ihr obliegt insbesondere eine technisch-wissenschaftliche sowie informationsbezogene Unterstützung von Kommission und Mitgliedstaaten. Im Hinblick auf letztere kommen ihr auch Überwachungsaufgaben zu. Zudem hat sie im Bereich der Sicherheit, der Gefahrenabwehr und des Seeverkehrs sowie der absichtlichen oder unabsichtlichen Meeresverschmutzung auch die Aufgabe der Informations- und Datensammlung, -speicherung und -bewertung. 202 Der Sicherheit im Luftverkehr dient die durch Art. 75 ff. VO (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der VOen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der RLen 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, und zur Aufhebung der VOen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der VO (EWG) Nr. 3922/91 des Rates501 eingerichtete Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA).502 Ihre Aufgaben sind sehr weit gefasst. Sie ist insbesondere befugt, bestimmte Einzelentscheidungen zu treffen und Vorschriften zu erlassen. Ihr Vorschlagsrecht gegenüber der Kommission schließt auch auf die Festsetzung von Geldbußen und Zwangsgeldern ein. Ihre Kooperationsaufgabe bezieht sich neben dieser und den Mitgliedstaaten zudem auf Drittstaaten. Im Hinblick auf die von der EASA zu treffenden Entscheidungen 499 Zum Zusammenwirken mit den mitgliedstaatlichen Eisenbahnverwaltungen auf Grundlage der Vorgängerregelung Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund? – Europäische Verwaltungsentwicklung am Beispiel der Netzzugangsregulierung bei Telekommunikation, Energie und Bahn, EuR 2006, 46 (68 ff.). 500 ABl. L 208 v. 5.8.2002, 1, zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 2016/1625 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 251 v. 16.9.2016, 77. 501 ABl. L 212 v. 22.8.2018, 1; ergänzend DVO (EU) Nr. 628/2013 der Kommission über die Arbeitsweise der Europäischen Agentur für Flugsicherheit bei Inspektionen zur Kontrolle der Normung und für die Überwachung der Anwendung der Bestimmungen der VO (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 736/2006 der Kommission, ABl. L 179 v. 29.6.2013, 46; VO (EU) Nr. 319/2014 der Kommission über die von der Europäischen Agentur für Flugsicherheit erhobenen Gebühren und Entgelte und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 593/2007, ABl. L 93 v. 28.3.2014, 58. 502 Dazu Fritzsche, S. 156 ff.; Riedel, Die Gemeinschaftszulassung für Luftfahrtgerät. Europäisches Verwalten durch Agenturen am Beispiel der EASA, 2006, insbes. S. 63 ff.; Glombik, Aus dem ABC der Europäischen Union – Europäische Agentur für Flugsicherheit, VR 2008, 160.

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C. Ausblick

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besteht die Möglichkeit der Anrufung einer Beschwerdekammer durch die Betroffenen. Die Finanzierung der EASA erfolgt teilweise durch Gebühren und Entgelte, die kostendeckend für die Ausstellung und Verlängerung von Zulassungen bzw. Zeugnissen sowie der damit zusammenhängenden Tätigkeiten der fortlaufenden Aufsicht, der Erbringung von Dienstleistungen sowie der Bearbeitung von Beschwerden erhoben werden. 3. Außerrechtliche Maßnahmen Das auf den Verkehrssektor anwendbare Recht wird schließlich – wiederum in Überein- 203 stimmung mit der Situation in anderen Politikfeldern – durch außerrechtliche Maßnahmen der EU ergänzt. Eine rechtsähnliche Wirkung entfaltet das Soft Law. Dabei handelt es sich um nicht 204 außenrechtliche Regelungen mit Steuerungsfunktion, die in Ausübung von Hoheitsgewalt geschaffen werden.503 Wesentlicher Urheber ist die Kommission. Exemplarisch seien die Mitteilung der Kommission über Gemeinschaftliche Leitlinien für staatliche Beihilfen an Eisenbahnunternehmen,504 die Leitlinien für die Anwendung von Art. 81 des EG-Vertrags auf Seeverkehrsdienstleistungen505 sowie die Leitlinien für die Finanzierung von Flughäfen und die Gewährung staatlicher Anlaufbeihilfen für Luftfahrtunternehmen auf Regionalflughäfen („Luftverkehrsleitlinien 2005“)506 genannt. Derartigen Regelungen kommt de facto eine erhebliche Maßstabs- und Gestaltungswirkung für die erfassten Bereiche zu. Des Weiteren bestehen zahlreiche Strategien, Pläne und Programme, welche die Entwick- 205 lung des Verkehrssektors in der EU betreffen. Teilweise sind diese mit der Finanzierung konkreter Verkehrsprojekte verbunden. Dies gilt insbesondere im Bereich des Infrastrukturausbaus im Rahmen transeuropäischer Netze, bezüglich dessen die EU nur über geringe legislative Kompetenzen verfügt (→ Rn. 90).

C. Ausblick Das Transportrecht bildet heute einen bedeutsamen und ausdifferenzierten Bestandteil der 206 Rechtsordnung der EU, der sich nach wie vor dynamisch entwickelt. De facto erfasst die gemeinsame Verkehrspolitik die Personen- und Güterbeförderung mit allen Verkehrsträgern. Abschließend sollen die den Regelungen zugrunde liegenden Grundentscheidungen507 und verbleibende Defizite in den Blick genommen und die grundlegende Richtung der weiteren Entwicklung anhand relevanter rechtspolitischer Stellungnahmen prognostiziert werden.

I. Grundentscheidungen Der Verkehrstitel des AEUV wie auch das darauf gestützte Sekundärrecht zielen darauf 207 ab, die traditionellen Besonderheiten des Verkehrssektors weitgehend zu beseitigen und einen (zumindest) EU-weiten Verkehrsbinnenmarkt als spezifische Ausprägung des Bin503 Ausführlich dazu Knauff, Der Regelungsverbund. Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, 2010, S. 214 ff. 504 ABl. C 184 v. 22.7.2008, 13. 505 ABl. C 245 v. 26.9.2008, 2; dazu Dreyer, Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern und Kartellrecht im Seeverkehr – Die neuen Leitlinien der Europäischen Kommission für die Anwendung von Artikel 81 EU auf Seeverkehrsdienstleistungen nach der Aufhebung der VO (EWG) Nr. 4056/86, TranspR 2009, 225. 506 ABl. C 312 v. 9.12.2005, 1; zur Problematik vgl. auch Soltész, Regionalflughäfen und „Billigflieger“ aus Sicht des Europäischen Beihilferechts, DVBl. 2010, 277. 507 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Sendmeyer EuR § 34 Rn. 174, spricht von einer „verkehrsträgerübergreifenden Politik“.

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§ 6 Transportrecht

nenmarktes iSv Art. 26 Abs. 2 AEUV zu schaffen. Nur soweit die Erfüllung der Funktionen des Verkehrs Sonderregeln erfordern, können diese Bestand haben. Nach dem derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung ist diese Zielsetzung in allen Verkehrssektoren weitgehend erreicht. Die Mitgliedstaaten haben infolgedessen nur noch sehr beschränkte Möglichkeiten zur Gestaltung eigenständiger Verkehrspolitiken. 208 Zur Erreichung dieser Zielsetzung dient verkehrsträgerübergreifend Sekundärrecht, das einerseits einen Marktbezug aufweist und andererseits technische Vorgaben enthält. Den marktbezogenen Regelungen liegt grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem Binnenmarktkonzept ein Bekenntnis zum Wettbewerb zugrunde.508 Soweit möglich soll die Erbringung von Verkehrsleistungen auf einem von Eingriffen sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten möglichst freien Markt erfolgen. Zu dessen Rahmenbedingungen zählen allerdings im Bereich der Personenbeförderung zunehmend detailliert ausgestaltete Passagierrechte als Ausdruck des Verbraucherschutzes509 und zahlreiche weitere Rahmenbedingungen, so dass das verkehrspolitische Ziel heute als regulierter Wettbewerb qualifiziert werden kann.510 Die technischen Regelungen weisen im Hinblick auf Verkehrssicherheit und Umweltschutz übereinstimmende Zielrichtungen auf. Diese sollen weithin durch Anforderungen an die Verkehrsmittel und ihre Nutzung erreicht werden. Qualifikationsanforderungen an das Personal sowie Vorgaben für die Arbeitsbedingungen treten teilweise, aber nicht stets hinzu. 209 Im Verhältnis zwischen den Verkehrsträgern lässt die EU im Rahmen ihrer gemeinsamen Verkehrspolitik eine gewisse Präferenz für die Eisenbahn als Fernverkehrsmittel erkennen. Allerdings handelt es sich dabei vor allem um ein politisches Bekenntnis. Dessen sekundärrechtliche Ausgestaltung erfolgt nur in geringem Umfang. Vielmehr hat die Liberalisierung (auch) der anderen Verkehrssektoren dazu geführt, dass deren Attraktivität für die Nutzer, die frei zwischen den Verkehrsträgern wählen können (sollen),511 weiter zugenommen hat. Eine aktive Eisenbahnförderpolitik betreibt die EU mithin nicht. Ein dem widersprechender rechtlicher Grundsatz der uneingeschränkt freien Verkehrsmittelwahl ist jedoch ebenfalls nicht zu erkennen.512 210 In erheblichem Umfang knüpft das sekundäre europäische Transportrecht an internationale Abkommen der EU wie auch ihrer Mitgliedstaaten an, setzt diese um oder ergänzt sie. Zugleich verfolgt die EU eine aktive Verkehrsaußenpolitik. Infolgedessen schlägt sich die häufig internationale Dimension des Verkehrs in einer zunehmenden Ausrichtung transportrechtlicher Regelungen in auf internationaler Ebene vereinbarten Vorgaben nieder. Zumindest bereichsspezifisch hat dies eine (gewollte) Rechtsangleichung auch im Verhältnis zu Drittstaaten zur Folge.

II. Defizite 211 Jenseits einer rechtspolitischen Bewertung lässt das europäische Transportrecht einige Defizite erkennen. Ungeachtet der stets möglichen und vielfach auch berechtigten Kritik an der Ausgestaltung einzelner Sekundärrechtsakte lassen sich bei einer Gesamtbetrachtung des Rechtsgebiets zwei grundlegende Probleme identifizieren.

508 Vgl. auch Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 46. 509 S. insoweit auch die Mitteilung der Kommission, Eine europäische Perspektive für Reisende: Mitteilung über die Rechte der Benutzer aller Verkehrsträger, COM(2011) 898 endg. 510 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche AEUV Art. 90 Rn. 11. 511 Streinz/Schäfer EUV/AEUV AEUV Art. 90 Rn. 47. 512 Zutreffend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Boeing/Maxian Rusche/Kotthaus AEUV Art. 90 Rn. 12 f.; Dauses/ Epiney/Heuck/Schleiss HdBEUWiR L Rn. 113 ff.

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C. Ausblick

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Wie zahlreiche andere Bereiche des Europarechts lässt es zunächst sowohl in seiner Ge- 212 samtheit als auch sektoral über einige wenige grundlegende Richtungsentscheidungen hinaus an Systematik und Übersichtlichkeit fehlen. Trotz der hohen Zahl einschlägiger Regelungen verfügen diese weithin über einen nur punktuellen Anwendungsbereich und bleiben somit bezogen auf den tatsächlichen Regelungsbedarf Fragment. Folge ist ein wenig transparentes Zusammenwirken mit dem mitgliedstaatlichen Recht, das durch die zunehmende Verwendung von Verordnungen anstelle von Richtlinien als Regelungsinstrument noch verstärkt wird. Die hohe Änderungshäufigkeit trägt ebenfalls nicht zur Rechtssicherheit bei. Dabei handelt es sich gleichwohl um Folgen des überstaatlichen Charakters und der damit notwendig verbundenen Rechtsetzung im Rahmen des jeweils politisch im Gesetzgebungsverfahren und insbesondere im Rat erreichbaren Kompromisses. Die teils hohe sachliche Komplexität der sekundärrechtlichen Regelungen ist dagegen ihrem Gegenstand geschuldet. Das auf europäischer Ebene erkennbare Bemühen um eine in rechtstechnischer Hinsicht „gute Gesetzgebung“ hat im EU-Transportrecht bislang allenfalls geringe Wirkungen gezeigt. Bezogen auf die Inhalte des EU-Transportrechts ist eine fehlende Abstimmung mit ande- 213 ren Rechtsgebieten zu konstatieren. Im Primärrecht angelegte Zielkonflikte, insbesondere zwischen Marktfreigabe und Umweltschutz im Verkehrssektor, werden weithin auch durch das einschlägige Sekundärrecht nicht gelöst. Zwar bemüht sich das EU-Transportrecht vielfach um eine weniger umweltschädliche Ausgestaltung des Verkehrs. Für einen effektiven Umweltschutz notwendige Maßnahmen der Verkehrslenkung und -beschränkung, die insbesondere zu einer Abnahme des Straßenverkehrs und den damit verbundenen Emissionen erforderlich sind, erfolgen nicht.513 Die durchgehende Trennung zwischen liberalisierendem marktbezogenem Sekundärrecht einerseits und harmonisierenden technikbezogenen Regelungen andererseits ist neben den sachlich-gegenständlichen Unterschieden nicht zuletzt Ausdruck dieses Umstands, der sich schließlich auch im weitgehenden Fehlen gegenseitiger Bezugnahmen zeigt.

III. Perspektive Die Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik und damit zugleich des EU-Transport- 214 rechts sind nicht abgeschlossen. Das im März 2011 von der Kommission veröffentlichte Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem“514 nimmt den Zeitraum bis 2050 in den Blick und lässt damit zugleich eine langfristige Prognose über grundlegende Tendenzen der zukünftigen Rechtsentwicklung erkennen. Darin hat die Kommission sich zur Vollendung des wettbewerblich geprägten Verkehrsbinnenmarktes bekannt und zugleich vor dem Hintergrund der Umweltauswirkungen des Verkehrs sowie dem Ziel einer Reduzierung der Abhängigkeit vom Erdöl „Zehn Ziele für ein wettbewerbsorientiertes und ressourcenschonendes Verkehrssystem: Orientierungswerte zur Erreichung des Ziels einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um 60 %“ formuliert: „Entwicklung und Einführung neuer und nachhaltiger Kraftstoffe und Antriebssysteme (1) Halbierung der Nutzung mit konventionellem Kraftstoff betriebener PKW‘ im Stadtverkehr bis 2030; vollständiger Verzicht auf solche Fahrzeuge in Städten bis 2050; Erreichung einer im wesentlichen CO2-freien Stadtlogistik in größeren städtischen Zentren bis 2030.

513 Vedder/Heintschel v. Heinegg/Epiney Unionsrecht AEUV Art. 90 Rn. 10. 514 KOM(2011) 144 endg.

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§ 6 Transportrecht

(2) Anteil CO2-emissionsarmer nachhaltiger Flugkraftstoffe von 40 % bis 2050; ebenfalls bis 2050; Senkung der CO2-Emissionen von Bunkerölen für die Seeschifffahrt in der EU um 40 % (falls erreichbar 50 %). Optimierung der Leistung multimodaler Logistikketten, unter anderem durch stärkere Nutzung energieeffizienterer Verkehrsträger. (3) 30 % des Straßengüterverkehrs über 300 km sollten bis 2030 auf andere Verkehrsträger wie Eisenbahn- oder Schiffsverkehr verlagert werden, mehr als 50 % bis 2050, was durch effiziente und umweltfreundliche Güterverkehrskorridore erleichtert wird. Um dieses Ziel zu erreichen, muss auch eine geeignete Infrastruktur geschaffen werden. (4) Vollendung eines europäischen Hochgeschwindigkeitsschienennetzes bis 2050. Verdreifachung der Länge des bestehenden Netzes bis 2030 und Aufrechterhaltung eines dichten Schienennetzes in allen Mitgliedstaaten. Bis 2050 sollte der Großteil der Personenbeförderung über mittlere Entfernungen auf die Eisenbahn entfallen. (5) Ein voll funktionsfähiges EU-weites multimodales TEN-V-‚Kernnetz‘ bis 2030, mit einem Netz hoher Qualität und Kapazität bis 2050 und einer entsprechenden Reihe von Informationsdiensten. (6) Bis 2050 Anbindung aller Flughäfen des Kernnetzes an das Schienennetz, vorzugsweise Hochgeschwindigkeitsschienennetz; sicherstellen, dass alle Seehäfen des Kernnetzes ausreichend an das Güterschienenverkehrsnetz und, wo möglich, an das Binnenwasserstraßensystem angeschlossen sind. Steigerung der Effizienz des Verkehrs und der Infrastrukturnutzung durch Informationssysteme und marktgestützte Anreize. (7) Einführung der modernisierten Flugverkehrsmanagement-Infrastruktur (SESAR) in Europa bis 2020 und Vollendung des gemeinsamen europäischen Luftverkehrsraums. Einführung äquivalenter Managementsysteme für den Land- und Schiffsverkehr (ERTMS, IVS, SSN und LRIT, RIS). Einführung des europäischen globalen Satellitennavigationssystems (Galileo). (8) Bis 2020 Schaffung des Rahmens für ein europäisches multimodales Verkehrsinformations-, Management- und Zahlsystem. (9) Bis 2050 Senkung der Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr auf nahe Null. Im Hinblick auf dieses Ziel strebt die EU eine Halbierung der Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr bis 2020 an. Gewährleisten, dass die EU bezüglich der technischen Sicherheit und Gefahrenabwehr bei allen Verkehrsträgern weltweit führend ist. (10) Umfassendere Anwendung des Prinzips der Kostentragung durch die Nutzer und Verursacher und größeres Engagement des Privatsektors zur Beseitigung von Verzerrungen (einschließlich schädlicher Subventionen), Generierung von Erträgen und Gewährleistung der Finanzierung künftiger Verkehrsinvestitionen.“515 215 Zur Umsetzung dieser Ziele hat die Kommission eine Strategie entwickelt, deren wesentliche Elemente die Schaffung eines einheitlichen europäischen Verkehrsraums, Innovationen im Hinblick auf Technologie und Verhalten, sowie eine moderne Infrastruktur und deren intelligente Bepreisung und Finanzierung bilden. Diese Strategie soll durch eine Vielzahl von konkreten Initiativen verfolgt werden, die sich nicht zuletzt in zahlreichen neuen Sekundärrechtsakten niederschlagen werden und auch bereits niedergeschlagen haben. Im Falle der Verwirklichung der im Weißbuch genannten Ziele werden die bislang bestehenden Defizite des EU-Transportrechts zumindest teilweise abgebaut. 515 KOM(2011) 144 endg., 10 f.

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

6

Zusätzlich hat die Kommission im Dezember 2015 eine Luftfahrtstrategie für Europa ent- 216 worfen.516 Als Hauptprioritäten hat sie darin die Erschließung von Wachstumsmärkten durch die Verbesserung von Dienstleistungen, Marktzugang und Investitionsmöglichkeiten in Drittländern, wobei faire Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen sind, die Überwindung der Grenzen des Wachstums in der Luft und am Boden durch die Verringerung von Kapazitätsengpässen und die Verbesserung von Effizienz und Vernetzung sowie die Aufrechterhaltung hoher Standards für Flugsicherheit und Gefahrenabwehr in der EU durch den Übergang zu risiko- und leistungsbezogenen Konzepten benannt. Auch diese Strategie hat bereits begonnen, sich auf die Sekundärrechtsetzung niederzuschlagen. 217

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

31.3.1971

22/70

Slg 1971, 263 AETR

EuGH

4.4.1974

167/73

Slg 1974, 359 Kommission/ Frankreich

EuGH

22.5.1985

13/83

Slg 1985, 13/83

Europäisches Parlament und Kommission/Rat

NJW 1985, 2080

EuGH

30.4.1986

209–213/84

Slg 1986, 1425

Asjes ua

NJW 1986, 2182

EuGH

11.4.1989

66/86

Slg 1989, 803

Ahmed Saeed

NJW 1989, 2192

EuGH

19.5.1992

C-195/90

Slg 1992, I-3141

Kommission/ Deutschland

NJW 1992, 1949 = DB 1992, 1520

EuGH

31.3.1993

C-184/91 und C-221/91

Slg 1993, I-1633

Oorburg und van Messen

EuZW 1993, 513

EuGH

17.5.1994

C-18/93

Slg 1994, I-1783

Corsica Ferries

EuGH

26.3.1996

C-271/94

Slg 1996, I-1689

Parlament/Rat

EuZW 1996, 416 L

EuGH

17.7.1997

C-248/95 und C-249/95

Slg 1997, I-4475

SAM Schifffahrt und Stapf

EuZW 1998, 178 = TranspR 1999, 239

EuGH

19.11.1999 C-107/98

Slg 1999, I-8121

Teckal

EuZW 2000, 246 = NZBau 2000, 90

EuGH

2.7.2002

C-115/00

Slg 2002, I-6077

Hoves Internationaler Transport Service

NVwZ 2002, 1360 = EuZW 2003, 154

EuGH

5.11.2002

C-471/98

Slg 2002, I-9681

Kommission/ Belgien

EuGH

5.11.2002

C-476/98

Slg 2002, I-9855

Open skies

EuZW 2003, 82 = EuR 2003, 259

EuGH

24.7.2003

C-280/00

Slg 2003, I-7747

Altmark Trans

NJW 2003, 2515 = EuZW 2003, 496

EuGH

11.9.2003

C-211/01

Slg 2003, I-8913

Kommission/Rat

516 COM(2015) 598 final.

Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

457

6

§ 6 Transportrecht Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

EuGH

9.9.2004

C-184/02 und C-223/02

Slg 2004, I-7789

Spanien und Finn- EuZW 2004, 660 = land/Parlament NJW 2005, 1637 und Rat

EuGH

11.1.2005

C-26/03

Slg 2005, I-1

Stadt Halle

EuZW 2005, 86 = NVwZ 2005, 187

EuGH

15.11.2005 C-320/03

Slg 2005, I-9871

Kommission/ Österreich

EuZW 2006, 50 = ZUR 2006, 139

EuGH

10.1.2006

C-344/04

Slg 2006, I-403

IATA und ELFAA NJW 2006, 351 = EuZW 2006, 112

EuGH

6.4.2006

C-227/05

Slg 2006, I-49

Halbritter

NJW 2006, 2173 = EuZW 2006, 412

EuGH

6.4.2006

C-410/04

Slg 2006, I-3303

ANAV

EuZW 2006, 415 = NZBau 2006, 326

EuGH

28.9.2006

C-340/05

Slg 2006, I-98

Kremer

NJW 2007, 1863 = NZV 2007, 537

EuGH

7.6.2007

C-178/05

Slg 2007, I-4185

Kommission/ Griechenland

EuGH

23.10.2007 C-440/05

Slg 2007, I-9097

Kommission/Rat

ZUR 2008, 312 = NStZ 2008, 703

EuGH

26.6.2008

C-329/06 und C-343/06

Slg 2008, I-4635

Wiedemann und Funk

NJW 2008, 2403 = EuZW 2008, 472

EuGH

26.6.2008

C-334/06– C-336/06

Slg 2008, I-4691

Zerche

KommJur 2008, 347 = NJOZ 2008, 3126

EuGH

3.7.2008

C-225/07

Slg 2008, I-103

Möginger

NJW 2009, 207 = NZV 2009, 154

EuGH

16.10.2008 C-136/07

Slg 2008, I-7793

Kommission/ Spanien

EuGH

20.11.2008 C-1/07

Slg 2008, I-8571

Weber

NJW 2008, 3767 = EuZW 2009, 16

EuGH

19.2.2009

C-321/07

Slg 2009, I-1113

Schwarz

KommJur 2009, 222 = EuZW 2009, 712

EuGH

7.5.2009

C-504/07

Slg 2009, I-3867

Antrop

EuGH

22.10.2009 C-301/08

Slg 2009, I-10185

Bogiatzi

EuGH

22.12.2010 C-338/09

Yellow Cab

NJW 2011, 909 = EuZW 2011, 190 = TranspR 2011, 121

EuGH

25.1.2011

C-382/08

Neukirchinger

NJW 2011, 1057 = EuZW 2011, 177 = SpuRt 2011, 110

EuGH

12.5.2011

C-176/09

Luxemburg/Parlament und Rat

EuGH

21.12.2011 C-28/09

458

Kommission/ Österreich

Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Fundstellen

EuGRZ 2012, 48 = ZUR 2012, 291

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

EuGH

EuGH

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

21.12.2011 C-366/10

ATA

EuZW 2012, 342 = EuGRZ 2012, 33 = NVwZ 2012, 226

1.10.2014

Trijber

C-340/14 und C‑341/14

EuGH

27.10.2016 C-292/15

Hörmann Reisen

EuGH

16.5.2017

Freihandelsabkommen zwischen der EU und Singapur

EuGH

20.12.2017 C-434/15

Asociación Profesional Elite Taxi/ Uber Systems SpainSL

EuZW 2018, 131

EuGH

20.9.2018

C-518/17

Stefan Rudigier

NZBau 2018, 773 = VergabeR 2019, 37

EuGH

21.3.2019

C-266/17 und C-267/17

Rhein-Sieg-Kreis ua/Verkehrsbetrieb Hüttebräucker GmbH ua

EuZW 2019, 388

EuGH

8.5.2019

C-253/18

Stadt Euskirchen/ Rhenus Veniro GmbH & Co. KG

BVerfG

12.10.1993 2 BvR 2134/92 und 2 BvR 2159/92

Gutachten 2/15

BVerfGE 89, 155

NZBau 2017, 48

NJW 1993, 3047 = NVwZ 1994, 53

Knauff https://doi.org/10.5771/9783748900238-363 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

459

6

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D. Recht der Gesundheits- und Ernährungswirtschaft

https://doi.org/10.5771/9783748900238-461 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

https://doi.org/10.5771/9783748900238-461 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7 Agrarrecht Ines Härtel A. Einordnung in das Gesamtsystem . . . . . . . . . . I. Der Agrarbereich als Kultursystem . . . . II. Begriff des europäischen Agrarrechts . . 1. Das Agrarrecht als eigenständiges Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Multifunktionale Landwirtschaft als Grundlage des Agrarrechts . . . . . 3. Landwirtschaft im Rechtssinne . . . . 4. Die Begriffe „Landwirtschaftsrecht“ und „Agrarrecht“ im föderalen Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . III. Historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entstehung der Gemeinsamen Agrarpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reformen der 1970er- und 1980erJahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die MacSharry-Reform 1992 . . . . . . 4. Die Agenda 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Fischler-Reform 2003 . . . . . . . . . 6. Health Check 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . 7. GAP-Reform 2014–2020 . . . . . . . . . . IV. Kompetenzgrundlagen für die europäische Agrargesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Agrarpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umweltschutzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 3. Energiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Forstpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsangleichung/Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gesundheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Tierschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Allgemeine Strukturpolitik . . . . . . . . . 10. Weitere Politikfelder . . . . . . . . . . . . . . . B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Komplexe Ausdifferenzierungen des Agrarrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäisches Agrarwettbewerbsrecht . . 1. Wettbewerb und Landwirtschaft . . 2. Sonderstellung der Landwirtschaft im Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . a) Primärrechtliche Ausgestaltung b) Sekundärrechtliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Agrarkartellrecht . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundsätzliche Geltung des unternehmensbezogenen Wettbewerbsrechts im Agrarsektor (2) Agrarspezifische Bereichsausnahme vom Kartellverbot . . . . . . bb) Verbote von unlauteren Handelspraktiken . . . . . . . . . . . . . cc) Agrarbeihilfenrecht . . . . . . . . . . . . (1) Unterscheidung zwischen Unionsbeihilfen, Verbundbei-

1 1 9 9 16 22 27 32 33 37 43 45 49 52 55 56 58 67 72 74 75 77 80 81 89 91 92 92 94 94 95 95 98 100 100 102 111 118

hilfen und staatlichen Beihilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Privilegierung staatlicher Agrarbeihilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Behandlung von Unionsbeihilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Behandlung von Verbundbeihilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Zwei-Säulen-Struktur der Gemeinsamen Agrarpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die 1. Säule der GAP – gemeinsame Marktordnung und Direktzahlungen . . 1. Die Gemeinsame Marktorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Marktinterventionen . . . . . . . . . . . aa) Öffentliche Intervention und private Lagerhaltung . . . . . . . . . . bb) Produktionsregulierungen . . . . . cc) Krisenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . b) Vermarktungsnormen . . . . . . . . . . c) Handel mit Drittstaaten . . . . . . . . 2. Direktzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die 2. Säule der GAP – die Förderung des ländlichen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verwaltungsvollzug des europäischen Agrarrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organisationsstrukturen . . . . . . . . . . . 2. Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem (InVeKoS) . . . . . . . . . 3. Cross Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kontrolle der mitgliedstaatlichen Behörden durch die EU-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Transparenz der Agrarbeihilfen . . . . C. Aktuelle Entwicklung und Ausblick . . . . . . . . I. Die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der mehrjährige Finanzrahmen für 2021–2027 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgenabschätzung, öffentliche Konsultation, Mitteilung der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die GAP-Legislativvorschläge der Europäischen Kommission . . . . . . . . . a) Die drei Verordnungsentwürfe in rechtstechnischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ziele der GAP-Reform . . . . . . . . . c) Direktzahlungen (1. Säule) . . . . . d) Neue Umweltarchitektur . . . . . . . e) Ländlicher Raum (2. Säule) . . . . f) Neues „Umsetzungsmodell“: GAP-Strategiepläne der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

118 120 123 125 126 131 132 137 137 138 139 141 145 146 151 158 158 160 163 170 172 175 175 176 177 182 182 183 193 195 196 197 201 204

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7

§ 7 Agrarrecht Literatur: Anderegg, Ralph, Grundzüge der Agrarpolitik, 1999; Belger, Guido, Das Agrarbeihilfenrecht – Grundlagen, Sonderstellung im europäischen Wettbewerbsrecht, Verwaltungsvollzug und Transparenz, 2012; Bittner, Roland, Futtermittelrecht, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 29; Brunn, Gerhard, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Ditzingen 2004; Bureau, Jean-Christophe/Mahé, Louis-Pascal, CAP reform beyond 2013: An idea for a longer view, 2008; Busse, Christian, Agrarrecht, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 25; ders. Agrarökoproduktionsrecht, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 30; ders. Das Instrument des Greening im Rahmen der GAP-Reform 2014/2015, DVBl. 2015, 337 ff.; ders. Das neue Agrarmarktrecht der GAP-Reform 2014/15 – Zur Ablösung der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 durch die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013, AUR 2015, 321 ff; ders. Die Stellung der Molkereigenossenschaften im Agrarkartellrecht, WuW 2016, 154 ff.; ders. Die Sonderkartellverordnungen der Europäischen Kommission vom April 2016 zur Planung der Milcherzeugung, ZWeR 2017, 88 ff.; ders. Agrarmarktrecht zwischen Liberalisierung und Steuerung – Die Krisenmaßnahmen im Milchmarktrecht 2014 – 2016, DVBl. 2017, 473 ff.; Colemann, William David/Tangermann, Stefan, The 1992 CAP Reform, the Uruguay Round and the Comission: Conceptualizing Linked Policy Games, Journal of Common Market Studies, Vol. 3 (1999), 385 ff.; Cymutta, Sebastian, Tierschutzrecht, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 25; Dederer, Hans-Georg, Gentechnikrecht, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 20; Dänicke, Carmen, Das umweltrelevante Agrarförderrecht nach der jüngsten EU-Agrarreform – Überlegungen zum Umweltnutzen, AUR 2015, 335 ff.; Eickstedt, Falk-Rembert von, Vom Landwirt zum Landschaftspfleger, 2010; Erhart, Amelia, State Aid in the Field of Agriculture, in: Sanchez-Rydelski (Hrsg.), The EC State Aid Regime: Distortive Effects of State Aid on Competition and Trade, 2006, S. 477 ff.; Francois, Matthias H., Kontingentierung als produktionslenkende Maßnahme landwirtschaftlicher Produkte, 1997; Frenz, Walter, Handbuch Europarecht, Bd. 6, 2011; Gehrke, Heike, Die Milchquotenregelung, 1996; Görlach, Willi/Kindermann, Heinz/Kreissl-Dörfler, Wolfgang, Landwirtschaft in Europa – ohne Reform keine Zukunft, 2001; Grimm, Christian/ Norer, Roland, Agrarrecht, 4. Aufl. 2015; Gundel, Jörg, Agrarpolitik versus EU-Wettbewerbsrecht, NZKart 2019, 302 ff.; Hauhs, Michael, Nachhaltigkeit und Landnutzung, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008; Härtel, Ines, Vom Klimawandel bis zur Welternährung – zentrale Weltprobleme, Rechtsintegration und Zukunftsgesellschaft, in: Härtel (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Energiewende, Klimawandel, Welternährung. Politische und rechtliche Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, 2014, S. 13 ff.; dies., Agrarrecht 4.0 – Digitale Revolution in der Landwirtschaft, in: Frenz (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0, 2019; dies (Hrsg.), Handbook of Agri-Food Law in China, Germany, European Union: Food Security, Food Safety, Sustainable Use of Resources in Agriculture, 2018; dies., The Right to Food – normative references in the multi-level system, in: Härtel/Budzinowski (Hrsg.), Food Security, Food Safety, Food Quality. Current Developments and Challenges in European Union Law, 2016, S. 15 ff.; dies., Handbuch Weinrecht. Verbundkommentar zur deutsch-europäischen Weinordnung, 2014; dies., Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union nach 2013 in juristischer Perspektive, in: Schriftenreihe der Rentenbank (Hrsg.), Bd. 27, 2011, S. 41 ff.; dies., Kohäsion durch föderale Selbstbindung – Gemeinwohl und die Rechtsprinzipien Loyalität, Solidarität und Subsidiarität in der Europäischen Union (Bd. 4, § 82) sowie Zuwachsende Legitimität: Institutionen und Verfahren der Rechtsetzung in der föderalen Europäischen Union (Bd. 4, § 86), beide in: dies. (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, 2012, 4 Bde.; Haarstrich, Jens, Das Förderungsrecht für den ländlichen Raum (2. Säule), in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 7; Isermeyer, Folkhard, Erst die Mittel, dann das Ziel? Wie sich die EU-Agrarpolitik in eine Sackgasse manövriert und wie sie dort wieder herauskommen kann, in: Härtel (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Energiewende, Klimawandel, Welternährung, 2014, S. 587 ff.; Käb, Peter, Agrarrechtliche Probleme einer multifunktionalen Landwirtschaft, 2010; Kloepfer, Michael, Systematisierung des Umweltrechts, 1978; ders., Umweltrecht, 4. Aufl. 2016; Krüger, Wolfgang, Betriebsprämienregelung und Cross Compliance, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 6; ders./Haarstrich,

464

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7 Agrarrecht Jens, Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2015: die wesentlichen Veränderungen ab 2015, AUR 2015, 129 ff.; Krüger, Wolfgang/List, Meinhard, Aktuelle Entwicklungen zur Vereinfachung der Gemeinsamen Agrarpolitik - Ein Zwischenstand, AUR 2017, 41 ff.; Leidwein, Alois, Europäisches Agrarrecht, 2. Aufl. 2004; Lohse, Andrea, Agrarkartellrecht, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 9; Lückemeyer, Manfred, Die Reform der Politiken der EU: Die gemeinsame Agrarpolitik, in: Caesar/Scharrer (Hrsg.), Die Zukunft Europas im Lichte der Agenda 2000, 2000, S. 163 ff.; Martínez Soria, José, Landwirtschaft und Wettbewerbsrecht – Bestandsaufnahme und Perspektiven, EuZW 2010, 368 ff.; ders.; Das Greening der Gemeinsamen Agrarpolitik, NuR 2013, 690 ff.; Meyer-Bolte, Catharina, Agrarrechtliche Cross Compliance als Steuerungsinstrument im Verwaltungsverbund, 2007; Mögele, Rudolf/Rusu, Ioanana Eleonora, Die Vorschläge der Kommission für die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020, Der Landkreis 2018, S. 731 ff.; Müller, Thorsten/SchulzeFielitz, Helmuth, Auf dem Weg zu einem Klimaschutzrecht, in: dies. (Hrsg.), Europäisches Klimaschutzrecht, 2008, S. 9 ff.; Neumann, Janosch, Bodenschutzrecht, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 21; Norer, Roland, Lebendiges Agrarrecht, 2005; ders./Bloch, Felix, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), EU-Wirtschaftsrecht, G. Agrarrecht, 45. Erg.-Lief. 2018; Olbrisch, Mathias, Organic Farming 3.0 – towards a procress of legal change, in: Härtel (Hrsg.) Food Security, Food Safety, Food Quality. Current Developments and Challenges in European Union Law, 2016, S. 223 ff.; Petrack, Sebastian, Patentierbarkeit im Agrarsektor, 2016; Priebe, Hermann/Scheper, Wilhelm/Urff, Winfried von, Agrarpolitik in der EG: Probleme und Perspektiven, 1984; Ramìrez, Leòn, Der Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Lebensmittel, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht, 2012, Kap. 31; Schink, Alexander, Beeinträchtigung der Umwelt in Deutschland durch landwirtschaftliche Produktion, UPR 1999, S. 8 ff.; Schmitz, Michael/Wronka, Tobias, Die Gemeinsame Agrarpolitik und die Osterweiterung, in: Wittschorek (Hrsg.), Agenda 2000: Herausforderungen an die Europäische Union und an Deutschland, 1999, S. 81 ff.; SchulzeFielitz, Helmuth, in: Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 989 ff.; Seidl, Alois, Deutsche Agrargeschichte, 2006; Streinz, Rudolf, Das neue Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch vor dem Hintergrund des Verbraucherschutzes, in: Calliess/Härtel/Veit (Hrsg.), Neue Haftungsrisiken in der Landwirtschaft: Gentechnik, Lebensmittel- und Futtermittelrecht, Umweltschadensrecht, 2007, S. 47 ff.; Swoboda, Jan, Föderale Mehrebenen-Vernetzung am Beispiel ELER. Rahmenbedingungen, Aufgaben und Methoden in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. 2, 2012, § 50; Urff, Winfried von, Agrarmarkt und Struktur des ländlichen Raumes in der Europäischen Union, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche, 2006, S. 205 ff.; Thiemeyer, Guido, Vom „Pool vert“ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: europäische Integration, Kalter Krieg und die Anfänge der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik 1950– 1957, 1999; Weingarten, Peter, Ländliche Räume und Politik zu deren Entwicklung, in: Friedel/Spindler (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume, 2009, S. 93 ff.; Wolffgang, Hans-Michael, Die europäische Agrarpolitik zwischen Markt und Plan, in: Erbguth (Hrsg.), Planung, FS für W. Hoppe, 2000, S. 949 ff. Vorschriften Sekundärrecht: Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 (Rindfleisch-Etikettierungsverordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.7.2000 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern und über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 820/97 des Rates, ABl. L 204 vom 11.8.2000, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 999/2001 (TSE-Verordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.5.2001 mit Vorschriften zur Verhütung, Kontrolle und Tilgung bestimmter transmissibler spongiformer Enzephalopathien, ABl. L 147 vom 31.5.2001, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Lebensmittel-Basisverordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 31 vom 1.2.2002, 1 ff.

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 7 Agrarrecht Verordnung (EG) Nr. 1642/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.7.2003 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 245 vom 29.9.2003, 4 ff. Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 (Futtermittelzusatzstoff-Verordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.9.2003 über Zusatzstoffe zur Verwendung in der Tierernährung, ABl. L 268 vom 18.10.2003, 29 ff. Verordnung (EG) Nr. 2160/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.11.2003 zur Bekämpfung von Salmonellen und bestimmten anderen durch Lebensmittel übertragbaren Zoonoseerregern, ABl. L 325 vom 12.12.2003, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 852/2004 (Lebensmittelhygiene-Verordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über Lebensmittelhygiene, ABl. L 139 vom 30.4.2004, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs, ABl. L 139 vom 30.4.2004, 55 ff. Verordnung (EG) Nr. 854/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 mit besonderen Verfahrensvorschriften für die amtliche Überwachung von zum menschlichen Verzehr bestimmten Erzeugnissen tierischen Ursprungs, ABl. L 139 vom 30.4.2004, 206 ff. Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz, ABl. L 165 vom 30.4.2004, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 1/2005 (Tiertransport-Verordnung) des Rates vom 22.12.2004 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien 64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97, ABl. L 3 vom 5.1.2005, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 396/2005 (Pestizidverordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.2.2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in oder auf Lebens- und Futtermitteln pflanzlichen und tierischen Ursprungs und zur Änderung der Richtlinie 91/414/EWG des Rates, ABl. L 70 vom 16.3.2005, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 1184/2006 (Agrarwettbewerbsverordnung) des Rates vom 24.7.2006 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen, ABl. L 214 vom 4.8.2006, 7 ff. Verordnung (EG) Nr. 834/2007 (Öko-Verordnung) des Rates vom 28.6.2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91, ABl. L 189 vom 20.7.2007, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 889/2008 der Kommission vom 5.9.2008 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen hinsichtlich der ökologischen/ biologischen Produktion, Kennzeichnung und Kontrolle, ABl. L 250 vom 18.9.2008, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24.9.2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung, ABl. L 303 vom 18.11.2009, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 (Lebensmittelinformations-Verordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission Text von Bedeutung für den EWR, ABl. L 304 vom 22.11.2011, 18 ff.

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§ 7 Agrarrecht Durchführungsverordnung (EU) Nr. 29/2012 der Kommission vom 13.1.2012 mit Vermarktungsvorschriften für Olivenöl, ABl. L 12 vom 14.1.2012, 14 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 357/2012 der Kommission vom 24.4.2012 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 29/2012 mit Vermarktungsvorschriften für Olivenöl, ABl. L 113 vom 25.4.2012, 5 ff. Verordnung (EU) Nr. 1151/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.11.2012 über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, ABl. L 343 vom 14.12.2012. Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.12.2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates, ABl. L 347 vom 20.12.2013, 320 ff. Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 (ELER-Verordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.12.2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005, ABl. L 347 vom 20.12.2013, 487 ff. Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.12.2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates, ABl. L 347 vom 20.12.2013, 549 ff. Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 (Direktzahlungen-Verordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.12.2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 637/2008 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates, ABl. L 347 vom 20.12.2013, 608 ff. Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.12.2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007, ABl. L vom 20.12.2013, 671 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1337/2013 der Kommission vom 13.12.2013 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Angabe des Ursprungslandes bzw. Herkunftsortes von frischem, gekühltem oder gefrorenem Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelfleisch, ABl. L 335 vom 14.12.2013, 19 ff. Verordnung (EU) Nr. 1379/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2013 über die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur, zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1184/2006 und (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 104/2000 des Rates, ABl. L 354 vom 28.12.2013, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 1408/2013 (Agrar-De-minimis-Verordnung) der Kommission vom 18.12.2013 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen im Agrarsektor, ABl. L 352 vom 24.12.2013, 9 ff. Verordnung (EU) Nr. 508/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 über den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 2328/2003, (EG) Nr. 861/2006, (EG) Nr. 1198/2006 und (EG) Nr. 791/2007 des Rates und der Verordnung (EU) Nr. 1255/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 149 vom 20.5.2014, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 579/2014 der Kommission vom 28.5.2014 über eine Ausnahmeregelung zu einigen Bestimmungen des Anhangs II der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen

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§ 7 Agrarrecht Parlaments und des Rates hinsichtlich der Beförderung flüssiger Öle und Fette auf dem Seeweg, ABl. L 160 vom 29.5.2014, 14 ff. Delegierte Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission vom 11.3.2014 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und die Bedingungen für die Ablehnung oder Rücknahme von Zahlungen sowie für Verwaltungssanktionen im Rahmen von Direktzahlungen, Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum und der Cross-Compliance, ABl. L 181 vom 20.6.2014, 48 ff Verordnung (EU) Nr. 702/2014 (Agrar-Gruppenfreistellungsverordnung) der Kommission vom 25.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Arten von Beihilfen im Agrar- und Forstsektor und in ländlichen Gebieten mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. L 193 vom 1.7.2014, 1 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 834/2014 der Kommission vom 22.7.2014 mit Vorschriften für die Anwendung des gemeinsamen Überwachungs- und Bewertungsrahmens der Gemeinsamen Agrarpolitik, ABl. L 230 vom 1.8.2014, 1 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 908/2014 der Kommission vom 6.8.2014 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Zahlstellen und anderen Einrichtungen, der Mittelverwaltung, des Rechnungsabschlusses und der Bestimmungen für Kontrollen, Sicherheiten und Transparenz, ABl. L 255 vom 28.8.2014, 59 ff. Verordnung (EU) Nr. 2016/429 der Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2016 zu Tierseuchen und zur Änderung und Aufhebung einiger Rechtsakte im Bereich der Tiergesundheit („Tiergesundheitsrecht“), ABl. L 84 vom 31.3.2016, 1 ff. Delegierte Verordnung (EU) Nr. 2016/558 der Kommission vom 11.4.2016 zur Genehmigung von Vereinbarungen und Beschlüssen von Genossenschaften und anderen Formen von Erzeugerorganisationen im Sektor Milch und Milcherzeugnisse über die Planung der Erzeugung, ABl. L 96/18 vom 12.4.2016, 18 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2016/559 der Kommission vom 11.4.2016 zur Genehmigung von Vereinbarungen und Beschlüssen über die Planung der Erzeugung im Sektor Milch und Milcherzeugnisse, ABl. L 96/20 vom 12.4.2016, 20 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2016/2294 der Kommission vom 11.4.2016 zur Genehmigung von Vereinbarungen und Beschlüssen über die Planung der Erzeugung im Sektor Milch und Milcherzeugnisse, ABl. L 324 vom 10.12.2015, 3 f. Delegierte Verordnung (EU) Nr. 2016/1237 der Kommission vom 18.5.2016 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Durchführungsbestimmungen für die Regelung über Ein- und Ausfuhrlizenzen und zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Vorschriften über die Freigabe und den Verfall der für solche Lizenzen geleisteten Sicherheiten sowie zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 2535/2001, (EG) Nr. 1342/2003, (EG) Nr. 2336/2003, (EG) Nr. 951/2006, (EG) Nr. 341/2007 und (EG) Nr. 382/2008 der Kommission und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 2390/98, (EG) Nr. 1345/2005, (EG) Nr. 376/2008 und (EG) Nr. 507/2008 der Kommission (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. L 206 vom 30.7.2016, 1 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2016/1239 der Kommission vom 18.5.2016 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Regelung über Ein- und Ausfuhrlizenzen (Text von Bedeutung für den EWR), ABl. L 206 vom 30.7.2016, 44 ff. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2016/1615 der Kommission vom 8.9.2016 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2016/559 hinsichtlich des für Vereinbarungen und Beschlüsse über die Planung der Erzeugung im Sektor Milch und Milcherzeugnisse zulässigen Zeitraums, ABl. L 242/17 vom 9.9.2016, 17 ff.

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§ 7 Agrarrecht Verordnung (EU) Nr. 2017/625 der Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.3.2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 999/2001, (EG) Nr. 396/2005, (EG) Nr. 1069/2009, (EG) Nr. 1107/2009, (EU) Nr. 1151/2012, (EU) Nr. 652/2014, (EU) 2016/429 und (EU) 2016/2031 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 1/2005 und (EG) Nr. 1099/2009 des Rates sowie der Richtlinien 98/58/EG, 1999/74/EG, 2007/43/EG, 2008/119/EG und 2008/120/EG des Rates und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 854/2004 und (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 89/ 608/EWG, 89/662/EWG, 90/425/EWG, 91/496/EEG, 96/23/EG, 96/93/EG und 97/78/EG des Rates und des Beschlusses 92/438/EWG des Rates (Verordnung über amtliche Kontrollen), ABl. L 95 vom 7.4.2017, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 2017/1981 der Kommission vom 31.10.2017 zur Änderung des Anhangs III der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Temperaturbedingungen während der Beförderung von Fleisch, ABl. L 285 vom 1.11.2017, 10 ff. Verordnung (EU) Nr. 2017/2393 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2017 zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1305/2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), (EU) Nr. 1306/2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik, (EU) Nr. 1307/2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik, (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und (EU) Nr. 652/2014 mit Bestimmungen für die Verwaltung der Ausgaben in den Bereichen Lebensmittelkette, Tiergesundheit und Tierschutz sowie Pflanzengesundheit und Pflanzenvermehrungsmaterial, ABl. L 350 vom 29.12.2017, 15 ff. Verordnung (EU) Nr. 2018/455 der Kommission vom 16.3.2018 zur Festlegung zusätzlicher Pflichten und Aufgaben des Referenzlaboratoriums der Europäischen Union für Fisch- und Krustentierkrankheiten sowie zur Änderung von Anhang VII der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 77 vom 20.3.2018, 4 f. Verordnung (EU) Nr. 2018/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.5.2018 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates, ABl. L 150/1 vom 14.6.2018, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 der Kommission vom 18.1.2019 zur Änderung der Anhänge II, III und V der Verordnung (EG) Nr. 396/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Höchstgehalte an Rückständen von Buprofezin, Diflubenzuron, Ethoxysulfuron, Ioxynil, Molinat, Picoxystrobin und Tepraloxydim in oder auf bestimmten Erzeugnissen, ABl. L 22 vom 24.1.2019, 74 ff. Richtlinie 91/676/EWG (Nitratrichtlinie) des Rates vom 12.12.1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen, ABl. L 375 vom 31.12.1991, 1 ff. Richtlinie 92/43/EWG (FFH-Richtlinie) des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. L 206 vom 22.7.1992, 7 ff. Richtlinie 98/58/EG des Rates vom 20.7.1998 über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere, ABl. L 221 vom 8.8.1998, 23 ff. Richtlinie 1999/74/EG des Rates vom 19.7.1999 zur Festlegung von Mindestanforderungen zum Schutz von Legehennen, ABl. L 203 vom 3.8.1999, 53 ff. Richtlinie 2000/60/EG (Wasserrahmenrichtlinie) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl. L 327 vom 22.12.2000, 1 ff. Richtlinie 2007/43/EG des Rates vom 28.6.2007 mit Mindestvorschriften zum Schutz von Masthühnern, ABl. L 182 vom 12.7.2007, 19 ff.

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§ 7 Agrarrecht Richtlinie 2008/119/EG des Rates vom 18.12.2009 über Mindestanforderungen für den Schutz von Kälbern, ABl. L 10 vom 15.1.2009, 7 ff. Richtlinie 2008/120/EG des Rates vom 18.12.2008 über Mindestanforderungen für den Schutz von Schweinen, ABl. L 47 vom 18.2.2009, 5 ff. Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.11.2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. L 20 vom 26.1.2010, 7 ff. Richtlinie 2009/28/EG (EEG-Richtlinie) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG, ABl. L 140 vom 5.6.2009, 16 ff. Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen, ABl. L vom 21.12.2018, 82 ff. Richtlinie (EU) 2019/633 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.4.2019 über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Agrarund Lebensmittelversorgungskette, ABl. L 111 vom 25.4.2019, 59 ff.Sonstige Rechtsakte der Union: Grünbuch „Perspektiven der gemeinsamen Agrarpolitik“ vom 23.7.1985, KOM(85) 333 endg. Mitteilung der Europäischen Kommission: „Vereinfachung und bessere Rechtsetzung in der Gemeinsamen Agrarpolitik“ vom 19.10.2005, KOM(2005) 509 endg. Mitteilung der Europäischen Kommission: Vorbereitung auf den „GAP-Gesundheitscheck“, vom 20.11.2007, KOM(2007) 722 endg. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Eine vereinfachte GAP für Europa – ein Erfolg für uns alle“, vom 18.3.2009, KOM(2009) 128 endg. Mitteilung der Europäischen Kommission: Die GAP bis 2020: Nahrungsmittel, natürliche Ressourcen und ländliche Gebiete – die künftigen Herausforderungen, vom 18.11.2010, KOM(2010) 672 endg. Mitteilung der Europäischen Kommission: Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, vom 3.3.2010, KOM(2010) 2020 endg. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18.1.2011 zur Anerkennung der Landwirtschaft als Sektor von strategischer Bedeutung für die Ernährungssicherheit (2010/2112 (INI)), ABl. C 136 E vom 11.5.2012, 8 ff. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Strategie der Europäischen Union für den Schutz und das Wohlergehen von Tieren 2012–2015, vom 19.1.2012, KOM(2012) 6 endg. Rahmenregelung der Europäischen Union für staatliche Beihilfen im Agrar- und Forstsektor und in ländlichen Gebieten 2014–2020, ABl. C 204 vom 1.7.2014, 1 ff. Beschluss der Kommission vom 24.1.2017 zur Einrichtung der Expertengruppe der Kommission „Plattform für den Tierschutz“, ABl. C 31 vom 31.1.2017, 61 ff. Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft, vom 29.11.2017, COM(2017) 713 final. Durchführungsbeschluss (EU) 2019/265 der Kommission vom 12.2.2019 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (Bekannt gegeben unter Aktenzeichen C(2019) 869), ABl. L 44 vom 15.2.2019, 14 ff. Stellungnahme Nr. 7/2018 des Rechnungshofs zu den Vorschlägen der Kommission für Verordnungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik für die Zeit nach 2020, ABl. 2019 C 41 vom 1.2.2019, 1 ff.

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A. Einordnung in das Gesamtsystem

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Rechtsaktentwürfe: Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette, vom 12.4.2018, COM(2018) 173 final. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des mit Vorschriften für die Unterstützung der von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik zu erstellenden und durch den Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) zu finanzierenden Strategiepläne (GAP-Strategiepläne) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, vom 1.6.2018, COM(2018) 392 final. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Finanzierung, Verwaltung und Überwachung der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013, vom 1.6.2018, COM(2018) 393 final. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse, (EU) Nr. 1151/2012 über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, (EU) Nr. 251/2014 über die Begriffsbestimmung, Beschreibung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierte Weinerzeugnisse, (EU) Nr. 228/2013 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zugunsten der Regionen in äußerster Randlage der Union und (EU) Nr. 229/2013 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zugunsten der kleineren Inseln des Ägäischen Meeres, vom 1.6.2018, COM(2018) 394 final/2.

A. Einordnung in das Gesamtsystem I. Der Agrarbereich als Kultursystem Der erste und älteste vergemeinschaftete Bereich der Europäischen Union ist der Agrar- 1 sektor – die „Agrar-Union“ (bis 1954 „Pool Vert“) – und auf ihn bezogen die europäische „Gemeinsame Agrarpolitik“ (GAP) und das untrennbar damit verknüpfte europäische Agrarrecht. Im Jahre 2012 wurde auf gesamteuropäischer wie mitgliedstaatlicher Ebene „50 Jahre GAP“ erinnerungspolitisch als Erfolg gefeiert.1 In der Tat hat das positive Zusammenwirken im Dreieck von europäischer Agrarproduktion, europäischer Agrarpolitik und europäischem Agrarrecht dazu geführt, dass trotz aller Probleme bei Effizienz und Effektivität und immer wieder reformierten Anreizsystemen wie Regelungen das Grundziel der Lebensmittel-Versorgung von inzwischen rund 500 Mio. Verbraucherinnen und Verbrauchern zu vernünftigen Preisen und in lebendigen ländlichen Regionen und Räumen stets erreicht wurde. Die europäische Gemeinsame Agrarpolitik mit ihrem Fundament des Agrarrechts hat zu- 2 gleich einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Integration2 geleistet. Zwar hatte nach den Römischen Verträgen 1957 die Einigung der EWG-Agrarmister am 14.1.1962 auf gemeinschaftlich regulierte, rechtlich eingefasste Marktordnungen für Agrarprodukte vielfältige und unterschiedliche weltpolitische wie auch mitgliedstaatliche Gründe – vor allem auch in Hinblick auf den großen strukturellen Wandel der Landwirtschaft in einer sich

1 S. dazu die 50 Jahre GAP würdigenden Reden auf der Feierstunde der Agrarminister der EU-Mitgliedstaaten am 25.1.2012 sowie die Web-Seite der Europäischen Kommission: www.europa.eu/agriculture/5 0-years-of-cap/index.de; s. dazu auch Götz JZ 2012, 53 ff. 2 Zum Gesamtprozess der Europäischen Integration s. Thiemeyer, Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen, 2010; Clemens/Reinfeldt/Wille, Geschichte der Europäischen Integration, 2008; s. auch Brunn, Die Europäische Einigung: von 1945 bis heute, 2. Aufl. 2009.

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neu formierenden europäischen und globalen Staatenwelt.3 Aber entscheidend war das prioritäre Ziel – nicht zuletzt unter dem Eindruck weltweiter Agrarkrisen, der Kriegsfolgen und der katastrophalen Hungerwinter –, die Versorgung der Bevölkerung in den EWG-Staaten grundsätzlich zu sichern. Produktionssteigerungen im Agrarbereich standen damit stets im Focus politisch-rechtlicher Regelungen. Dadurch sollte, als neues zweites Ziel, gleichzeitig das Einkommen der Bauern bewahrt bzw. gesteigert werden.4 Ernährungspolitik mit dem Ziel der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung wurde nun mit landwirtschaftlicher Sozialpolitik, später auch mit der Entwicklung ländlicher Räume als Regionalpolitik rechtlich miteinander verbunden. 3 Schon immer waren Staaten bestrebt, die Versorgung der heimischen Bevölkerung mit Lebensmitteln abzusichern. Neben kriegerischen Auseinandersetzungen zogen Naturkatastrophen, schlechte Ernten und Hungersnöte in der Geschichte oft auch Revolten, Aufstände, Revolutionen und ebenso auch vielfältige Auswanderungen nach sich, was oft an den Grundfesten der jeweiligen politisch-rechtlichen Herrschaft rüttelte. 4 Grundsätzlich ist jeder Mensch, damals wie heute, auf physiologische Selbsterhaltung ausgerichtet. Da der Mensch anthropologisch in seiner „exzentrischen Positionalität“5 durch seine Leiblichkeit (Natur) und Vernunftfähigkeit (Kultur) einerseits, seiner Doppelnatur als Individual- und Sozialwesen andererseits gekennzeichnet ist, bildet auch die Versorgung mit Nahrungsgütern stets eine kulturelle kollektive, politisch-rechtliche Sphäre aus. Die Evolution der Gattung Mensch erfolgte über rund zwei Millionen Jahre, die Evolutionsgeschichte des Menschen beträgt rund 120.000–150.000 Jahre, die ausgeprägte Kulturgeschichte des Menschen seit der Sesshaftigkeit etwa 8.000–10.000 Jahre (seit der sogenannten Neolithischen Revolution).6 Mit der Selbstdomestikation des Menschen7 – der Trennung von Natur und Kultur als Voraussetzung für die Bearbeitung der Natur im Sinn des Landanbaus – einher geht die Domestikation der Natur durch diesen. Die Natur-Domestikation besteht dann vor allem in dem auslesenden und züchterischen Eingriff in die umgebende Tier- und Pflanzenwelt und die Landnutzung,8 einschließlich der Weidewirtschaft. Die Produktion der Lebensmittel in ihrer ganzen Bandbreite ist eine außerordentliche Kulturleistung und gehört zu den ältesten der Menschheit überhaupt. Agrarische Arbeitsteilung, Vorratshaltung und die Entwicklung von Agrartechnik beschleunigten die kulturelle Evolution des Agraranbaus, dem „domestizierten Ökosystem“,9 als Sicherung der notwendigen Lebensmittel und riefen eine zweite Kulturordnung der Überlieferung und der Ess-Sitten,10 der Politik und des Rechts hervor,11 die auch Bezüge zum Religiösen 3 In seinen Verzweigungen dargelegt bei Thiemeyer, 1999. 4 Thiemeyer, S. 20 ff.; zur historischen Einordnung und Entwicklung s. auch Kluge, Vierzig Jahre Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., 1989. 5 Diese Kategorie der menschlichen Stellung in der Welt als Natur- und Kulturwesen (Leiblichkeit und Vernunft) wird entfaltet im siebten Kapitel bei Plessner, Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), 1977; s. dazu Fischer Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2000), 265 ff. 6 S. Reichholf, Das Rätsel der Menschheit. Entscheidende Stufen in der Evolution des Menschen, in: Fischer/Wiegandt (Hrsg.), Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, 2003, S. 102 ff.; ders., Das Rätsel der Menschwerdung: Die Entstehung des Menschen im Wechselspiel der Natur, 1997; ders., Warum die Menschen sesshaft wurden: Das größte Rätsel unserer Geschichte, 2008; Seidl, S. 10 ff. 7 Deacon, The Symbolic Species: The Co-Evolution of Language and the Brain, 1997. 8 Hauhs in Kahl, S. 471 ff. 9 Hauhs in Kahl, S. 471, 484. 10 S. dazu Hirschfelder, Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, 2001/2005; Pilcher, Nahrung und Ernährung in der Menschheitsgeschichte, 2006. 11 Bellwood, Die erste reiche Ernte. Die Entstehung und Verbreitung der Landwirtschaft, in: Robinson/ Wiegandt (Hrsg.), Die Ursprünge der modernen Welt. Geschichte im wissenschaftlichen Vergleich, 2008, S. 166 ff.; Klein, The Human Career. Human Biological and Cultural Origins, 3. Aufl. 2009.

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aufwies. Die Ursprünge und Ausbauten der Agrarkultur liegen wohl im sogenannten „fruchtbaren Halbmond“ im Vorderen Orient bzw. Vorderasien.12 Dieser agrarkulturellen Entwicklung einschließlich erster rechtlicher Regelungen folgte dann die Ausbreitung in Europa. Ob am Anfang der Agrarkultur die Knappheit der Nahrungsmittel in Form gejagten Wil- 5 des stand, die zum Ackeranbau von Pflanzen führte, ist allerdings umstritten. Nach Reichholf13 stand am Anfang nicht die Nahrungsmittelherstellung als Antwort auf den Hunger, sondern die Produktion von Rauschmitteln. Er weist darauf hin, dass die damaligen Erträge von Pflanzen sehr gering waren, und in den orientalischen Siedlungsregionen gab es genug Wild. Die Züchtungsziele von Pflanzen – vor allem Gerste – lagen in der Herstellung von Rauschmitteln durch Gärung (vergleichbar dem heutigen Bier) für gemeinschaftsbildende, kultische Zwecke. Erst mit weiteren Züchtungserfolgen und der Überschussproduktion erfolgte das Brotbacken. Welcher Theorie man auch folgen mag, im Ergebnis erfolgten aus den sesshaften agrari- 6 schen Siedlungen, Dörfern und Städten mit ihren agrarkulturellen Wissensbeständen und Traditionen die frühen Staatsbildungen mit der zentralen Sicherung der Lebensmittelproduktion. Cum grano salis kann man sagen, dass von den damaligen Agrar-Gesellschaften bis zu den heutigen hoch ausdifferenzierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften die Lösung des Problems der Nahrungsmittelproduktion und -sicherheit zu den primär zu erreichenden Staatstätigkeiten gehört. Das gilt auch dann, wenn heute – nach der historischen Entwicklung von Nationalstaat und rechtsstaatlicher Demokratie – die Staatstätigkeit von einer Vielfalt weiterer wichtige Aufgabenwahrnehmungen gekennzeichnet ist. Die beständige Ausdifferenzierung des Rechts – bspw. des Boden- und Eigentumsrechts – 7 wie auch des Agrarrechts als ius spezificum bis in unsere Gegenwart weisen auf die nach wie vor andauernde große Bedeutung des Agrarbereichs als weiterbestehende hohe Kulturleistung hin. Gerade in Europa war dieses erfahrbar. Vom Altertum über das Mittelalter bis zur Neuzeit waren die Gesellschaften trotz allen Handelns von der Agrarproduktion und deren Fortschritten abhängig.14 Schlechte Ernten führten stets zu Hungersnöten, die wiederum – neben Kriegen, Frondiensten und Steuern – Treiber für Erhebungen des `gemeinen Volkes´ waren.15 Erinnert sei an die vielfältigen lokalen Bauernaufstände in vielen Teilen Europas im 13. und 14. Jahrhundert, den Bauernkrieg 1523–1526, aber auch an die Einflüsse der Hungersnöte bspw. in der französischen Revolution von 1789 und der deutschen Revolution von 1848/49. Nach der industriellen Revolution des 19. Jahr-

12 Seidl, S. 21 ff.; neben dem vorderasiatisch-europäischen Strang mit der Konzentration auf den Getreideanbau entwickelten sich aber auch in Nordostasien (Korea, China) mit dem Reisanbau und in Mesoamerika mit dem Maisanbau eigenständige Agrarkulturen. 13 Mit ausführlicher Argumentation Reichholf, Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte, 2008 – den Zusammenhang von Getreideanbau zu Rauschmitteln (Bier) und zum Brot wird vor allem entfaltet im Teil V, S. 235 ff.; auch die Weidewirtschaft nahm in einem Gebiet zwischen dem heutigen Südost-Anatolien und Syrien ihren Anfang (Domestikation der Auerochsen), von wo sie dann über verschiedene Wege nach Europa kam – heute gibt es allein in Deutschland rund 12,5 Mio. Rinder. Bollongino/Burger/Powell/Mashkour/Vigne/Thomas, Modern Taurine Cattle descendend from small number of Near-Eastern founders, in: Molecular Biology and Evolution, 2012 (online-Publikation v. 14.3.2012). 14 S. die Übersicht bei Seidl, 2006. 15 S. dazu Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, 1974; Achilles, Landwirtschaft in der frühen Neuzeit, 1991; ders., Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, 1993; zu den Ursachen von Revolutionen s. Tilly, Die Europäischen Revolutionen, 1993; auf Deutschland bezogen: Blickle, Bauernkrieg, sowie: Schulze, Revolten und Prozesse in der deutschen Geschichte – zwischen „Bauernkrieg“ und Französischer Revolution, beide in: Sarkowicz (Hrsg.), Aufstände, Unruhen, Revolutionen. Zur Geschichte der Demokratie in Deutschland, 1998, S. 25 ff. und S. 43 ff.

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hunderts waren im 20. Jahrhundert die Not-, Mangel- und Hungererfahrung infolge der Weltkriege prägend für das kollektive europäische Bewusstsein. 8 Mit den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen konnte allerdings der Agraranbau neue quantitative und qualitative Dimensionen gewinnen. Ausdruck für die gewonnene Ertragsstärke unter Einsatz neuer Düngemittel,16 Schädlingsbekämpfungsmittel und wissenschaftlichen Agrartechniken ist die „Grüne Revolution“,17 die dann Erfolge über Europa hinaus in anderen Teilen der Welt nach sich ziehen konnte. Die Verquickung mit den weltweiten Märkten für Futtermittel und Nahrungsgütern, aber auch der aktuelle Überfluss an Lebensmitteln und vielen anderen Konsumgütern in den Wohlstandsgesellschaften Europas verdeckt, dass dies erst eine sehr kurze historische Zeitspanne betrifft und auch im europäischen Kontext sehr unterschiedliche Ausgestaltungen aufwies. Denn auch in der Europäischen Union beginnen sich nach dem Ende der Ost-West-Teilung mit der Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten sukzessive neue Ertrags- und Qualitätssteigerungen im Agrarsektor auszubilden, so dass sich im gesamten Raum der europäischen Mitgliedstaaten eine gemeinschaftliche Agrarproduktion, Lebensmittelqualität und Sicherheit in der Versorgung entwickeln kann. Entscheidenden Anteil daran haben nicht nur die Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik, sondern damit verbunden vor allem der stabile, verlässliche Rechtsrahmen des europäischen Agrarrechts, das auf der Basis des Agrarbereichs als Kultursystem eine zweite Ordnung als Agrar-Rechtskultur ausbildet. Dieses europäische Agrarrecht soll nun im Folgenden dargestellt und entfaltet werden.

II. Begriff des europäischen Agrarrechts 1. Das Agrarrecht als eigenständiges Rechtsgebiet 9 Im föderalen Mehrebenensystem der Europäischen Union gibt es eine Vielzahl agrarspezifischer wie agrarrelevanter Rechtsvorschriften. Dabei hat der gesamte Agrar-Rechtsbestand einen erheblichen Umfang sowie hohe Komplexität erreicht, der ein kaum überschaubares Spektrum darstellt. Dieses Phänomen wirft zugleich die Frage auf, ob das Agrarrecht ein abgrenzbares Rechtsgebiet ist bzw. ein solches sein muss. Hinter diesem aufgeworfenen Problem steht letztlich die Grundüberlegung, was überhaupt ein Rechtsgebiet konstituiert. 10 Obgleich Differenzierung und Systematisierung in verschiedene Rechtsgebiete grundlegend für die Rechtswissenschaften und Rechtspraxis sind, wird in der neueren Rechtstheorie kaum eine Auseinandersetzung um mögliche Kriterien für die Entstehung eines Rechtsgebietes geführt.18 Vielmehr finden wir hauptsächlich Darstellungen über die Einteilung in Rechtsgebiete. Es gibt nur einige wenige, jüngere Grundsatzaussagen über die Konstituierung von neuen eigenständigen Rechtsgebieten, so zur Entstehung des Umweltrechts,19 in Bezug auf das Wirtschaftsverwaltungsrecht20 und mit Blick auf das Klimaschutzrecht.21 11 Danach ist „Die Entstehung eines „Rechtsgebietes“ (…) ein komplexer Vorgang der Interaktion von Fachleuten und fachnaher öffentlicher Meinung, von Gesetzgebung und wissenschaftlicher Interpretation.“22 „Die Wahrnehmung bestimmter Bereiche des Rechts 16 17 18 19 20 21

S. Härtel, Düngung im Agrar- und Umweltrecht, 2002. Evenson/Gollin, Science, 5/2008, 758 ff. Vgl. Kloepfer Umweltrecht § 1 Rn. 96. Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, S. 68 ff.; ders. Umweltrecht § 1 Rn. 94 ff. Stolleis in Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle, S. 1 ff. Müller/Schulze-Fielitz in dies, S. 9 ff.; Schulze-Fielitz auch schon früher mit Blick auf das Umweltrecht in Willoweit, S. 989, 990 ff. 22 Stolleis in Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle, S. 1, 10.

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durch Wissenschaft und Praxis als „Rechtsgebiete“ ist dabei Folge (…) zahlreicher ineinandergreifender sozialer Entwicklungsprozesse.“23 Die Qualifizierung von Rechtsvorschriften als Rechtsgebiet kann erstens rechtsfolgenbe- 12 stimmend sein, dh sie kann insbesondere kompetenzbegründend für den Gesetzgeber, für eine Behörde oder für ein Gericht sein.24 Auch kann die Zuordnung zu einem Rechtsgebiet „interpretationsleitende“ Funktionen erfüllen.25 Zweitens kann der „Zweck der Konstituierung von Rechtsgebieten auch primär akademisch-didaktischer Art sein“ oder – drittens – „in rechtssystematischer Ausrichtung“ erfolgen.26 „Wissenschaftlicher Zweck der Rechtssystematisierung ist es vor allem, erkenntnisfördernd Grundgedanken und -strukturen in verschiedenen Rechtsvorschriften zu verdeutlichen und so zu einer harmonischen Rechtsentwicklung27 beizutragen“.28 Viertens kann mit der Konstituierung eines Rechtsgebietes ein „Wildwuchs“ von Rechtsvorschriften und Instrumenten in eine kohärente „gute Ordnung“ gebracht werden. All dies ist im Sinne eines wohlgeordneten Rechts, das Rechtstheoretikern bei der Er- 13 kenntnissuche hilft und Rechtsanwendern in der Praxis dient. Was ist mit wohlgeordnetem Recht gemeint? Ein solches Recht dient als Leitbild in der Suche nach einer sinnvollen Ordnung des Rechts.29 Es lässt sich im Wesentlichen nach fünf normativen Kriterien bemessen, die sich in der Rechtspraxis überschneiden: Das sind erstens die Ziele, Werte und Rechtsprinzipien der Verfassung sowie die Menschen- und Grundrechte.30 Zweitens die Kohärenz als dem Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung bzw. der Einheit der Verfassung. Drittens die Effektivität und die Effizienz von Rechtsnormen. Dabei betrifft die Effizienz die Art und Weise, wie man zum Ziel der Rechtsnorm gelangt und bedeutet Effektivität die tatsächliche Wirksamkeit der Norm. Viertens die Transparenz, die sich vor allem auf die Normenklarheit und das Bestimmtheitsgebot bezieht. Fünftens die Nachhaltigkeit,31 die Dauerhaftigkeit und Intergenerationengerechtigkeit mit dem dreidimensionalen Ansatz – sozial, ökonomisch, ökologisch – für die Ausgestaltung von Rechtsnormen verbindet. Für die Bestimmung eines Rechtsgebietes sind diese normativen Kriterien des wohlgeord- 14 neten Rechts wie auch andere Kriterien keine apriorischen Setzungen. Es gibt hier keine transhistorischen, idealen, objektiven, allgemeingültigen Kriterien, der sich die Rechtstheorie quasi in platonischer Sicht erkenntnismäßig nur anzunähern bräuchte. Vielmehr hängt die Ausdifferenzierung einer Rechtsmaterie fundamental von den jeweiligen historischen, wissenschaftlichen, sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Gegebenheiten ab, mit denen sie verbunden ist. Allerdings lassen sich einige wertende Kriterien als „Orientierungspunkte“ ausmachen: Ein erster Anhaltspunkt für die mögliche Entstehung eines neuen eigenständigen Rechtsgebietes ist das Vorliegen eines komplexen, zusammenhängenden Lebensbereichs, wobei ein bloß kurzfristiges, vorübergehendes Phänomen Schulze-Fielitz in Willoweit, S. 989, 990. Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, S. 68; ders. Umweltrecht § 1 Rn. 96. Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, S. 69. Kloepfer Umweltrecht § 1 Rn. 96. Hervorhebung durch die Verfasserin. Kloepfer Umweltrecht § 1 Rn. 96. Dem auch folgend Axer, Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, 1994, S. 223. 29 Für die europäische Rechtsetzungslehre s. Härtel Handbuch Europäische Rechtsetzung § 2; dies. in dies. Handbuch Föderalismus § 86 Rn. 13. 30 Funktionen, Aufgaben der Rechtsetzung: Europäische Integration durch Rechtsetzung – Gewährleistung und Verwirklichung individueller Freiheit (vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV) – Tietje VVDStRL 66 (2007), 45 (52). 31 Zur Nachhaltigkeit s. grundlegend Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit, 2011; Kahl, Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008.

23 24 25 26 27 28

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nicht zu einem Rechtsgebiet taugt.32 Des Weiteren wird ein Rechtsgebiet durch Sachzusammenhänge und Sachstrukturen geprägt, die sich zu inhaltlicher Kohärenz fügen. Erforderlich ist der übergeordnete normativ „gleiche Nenner“.33 Es muss einen gewissermaßen „einheitsstiftenden Begriff“34 geben, unter dem die verschiedenen Rechtsvorschriften und Rechtsinstitute subsumiert werden können. Ein entstehendes Rechtsgebiet wird dadurch semantisch „plausibel (in) ein Gebiet zusammen(ge)fasst“.35 „Konstituierend für ein neues (Teil-)Rechtsgebiet kann schon sein, wenn ein gemeinsames Ziel der Problemlösung durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Gesetze und Instrumente angestrebt wird, die ihrerseits in ihrer Reichweite aufeinander abgestimmt werden müssen.“36 Prägend für ein neues eigenständiges Rechtsgebiet können aber auch verfassungsrechtliche „Vorabentscheidungen“ wie Gesetzgebungskompetenzen und Staatszielbestimmungen sein. Neben der Verfassung können solche „Vorabentscheidungen“ in besonderen Kompetenzvorschriften für Behörden oder speziellen Rechtswegzuweisungen gesehen werden.37 15 Zu den normativen Entscheidungen und der plausiblen semantischen Begriffsbildung tritt im Laufe der kommunikativ-diskursiven Entwicklung rechtsgebietliche Anerkennung durch den juristischen Berufsstand im Allgemeinen und die Scientific Community im Besonderen hinzu.38 Dazu gehören weitere Elemente einer „äußeren Professionalisierung“39 des Rechtsgebietes: die Existenz von Lehrstühlen, Forschungsinstituten, Lehrbüchern, Zeitschriften, Monografien und Schriftenreihen, die Anerkennung als juristisches Prüfungsfach, aber auch die Einrichtung von Verwaltungsabteilungen, die Spezialausrichtung von Kanzleien sowie die Möglichkeit zur Ausbildung als Fachanwalt. 2. Multifunktionale Landwirtschaft als Grundlage des Agrarrechts 16 Für die Begründung wie Bestimmung des Rechtsgebietes Agrarrecht stellt sich die Frage, ob hier ein einheitsstiftender Begriff besteht, unter dem die Regelungen plausibel zugeordnet werden können und der so für die Rechtsmaterie identitätsprägend ist. Zugleich könnten mit diesem Begriff ein politisches Konzept – hier das der Multifunktionalität der Landwirtschaft – bzw. bestimmte Ziele – so die der Gemeinsamen und mitgliedstaatlichen Agrarpolitik – verbunden sein. 17 Der für die Begründung und Bestimmung des Rechtsgebietes Agrarrecht maßgebliche Begriff „Agrar“ stammt etymologisch aus dem Lateinischen. Die Vorsilbe „Agrar“- bedeutet Landwirtschaft, Ackerbau, „agrarius“ demnach: den Ackerbau betreffend, zur Landwirtschaft gehörend, und „ager“ (Genetiv: agri) ist der Acker. Der Bauer hieß agricola, was im Lateinischen als Zusammensetzung (agri, colere) heißt: derjenige, der den Acker bebaut, pflegt, verehrt. Damit ist schon in der Antike angesprochen, was auch für die Gegenwart gilt: Es geht nicht um eine reine ökonomische Produktion, sondern der Acker bedarf durch den Bauern einer besonderen Pflege, damit die Bodenfruchtbarkeit und die Umwelt erhalten bleiben. Das erfordert spezielle Kenntnisse über Saatzucht, Pflanzenbau, Bodenbeschaffenheit, Ertragseinschätzungen, das Wetter und die Jahreszeiten (usw), ferner die Weitsicht für die Sicherung der Erträge auch in den kommenden Jahren, einer nachhalti32 Vgl. Bettermann, Das Wohnungsrecht als selbstständiges Rechtsgebiet, 1949, S. 8, 36; Maslaton LKV 2008, 289 (291). 33 Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, S. 68. 34 Schulze-Fielitz in Willoweit, S. 989, 991. 35 Schulze-Fielitz in Willoweit, S. 989, 991. 36 Müller/Schulze-Fielitz in dies., S. 9, 10. 37 Vgl. Kloepfer, Systematisierung des Umweltrechts, S. 68; Müller/Schulze-Fielitz in dies., S. 9, 10; Maslaton LKV 2008, 289 (291). 38 Stolleis in Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle, S. 1, 10, 12. 39 Schulze-Fielitz in Willoweit, S. 989, 992 f.; Müller/Schulze-Fielitz in dies., S. 9, 10.

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gen Entwicklung und des Wissens um die Einbindung in die Gesamtgesellschaft. Was für die Pflanzenproduktion gilt, hat entsprechende Bedeutung für die Tierproduktion. Insofern verweist der Begriff „Agrar“ bspw. als Agrikultur darauf, dass der Ackerbau – oder die Landwirtschaft, beide Begriffe werden oft synonym gebraucht – einschließlich Tierhaltung, in ein wirtschaftliches, politisches, rechtliches und kulturelles Umfeld eingebunden und in eine politisch-rechtliche Regelungsstruktur einbezogen ist. Während Landwirtschaft im föderalen Mehrebenensystem als Rechtsbegriff nicht einheit- 18 lich, sondern je nach Regelungsumfeld unterschiedlich definiert wird, kann Landwirtschaft im Allgemeinen als Urproduktion, die wirtschaftliche Nutzung des Bodens zur Erzeugung pflanzlicher und tierischer Produkte, beschrieben werden. Dabei gehören zur pflanzlichen Erzeugung vor allem der Ackerbau (einschließlich der Saatgutproduktion), die Grünlandwirtschaft und der Anbau von Sonderkulturen (wie zB Obst, Feldgemüse, Wein, Hopfen, Heil- und Arzneimittelpflanzen, Baumschulerzeugnisse, Blumen) und zur tierischen Erzeugung die Tierhaltung sowie die Tierzucht.40 Allerdings ist die Landwirtschaft auch eng mit dem Agribusiness41 verknüpft, das heißt 19 die der Landwirtschaft vorgelagerten (zB Landmaschinenbau) und nachgelagerten (zB Lebensmittelverarbeitung/-veredlung) Bereiche. Das Agribusiness umfasst die gesamte Lebensmittelkette und damit alle Schritte von der Urproduktion bis zum Verbraucher. Die Landwirtschaft gewinnt mit Produktionsmitteln aus den vorgelagerten Wirtschaftsbereichen (Futter-, Dünge-, Pflanzenschutzmittel, Landmaschinen etc) die pflanzlichen und tierischen Rohstoffe, die vom Ernährungsgewerbe weiterverarbeitet werden. Während die traditionelle Landwirtschaft primär der Nahrungsmittelproduktion dient, erfüllt die moderne Landwirtschaft eine Vielzahl von Aufgaben und Funktionen. Dabei verbindet das europäische Modell einer multifunktionalen Landwirtschaft „die wettbewerbsfähige Erzeugung von qualitativ hochwertigen Lebensmitteln und nachwachsenden Rohstoffen mit Leistungen der Landwirtschaft für die Allgemeinheit, insbesondere n eine verlässliche Eigenversorgung mit Nahrungsmitteln sowie einen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherung, n die Pflege und Erhaltung der Kulturlandschaft, n die Sicherung der Biodiversität und die Erbringung ökologischer Leistungen im Wasser-, Boden- oder Klimaschutz, n die Erfüllung hoher Standards vor allem im Rahmen des Verbraucher-, Tier- und Umweltschutzes, n die Erhaltung vitaler öffentlicher Räume vor dem Hintergrund des demografischen Wandels durch die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen und neuen Einkommensmöglichkeiten im Zuge der Diversifizierung“.42 Die Möglichkeiten der Diversifizierung der Landwirtschaft, also der Ausdehnung der An- 20 gebote und Leistungen, decken sich zum großen Teil mit dem Konzept der Multifunktionalität bzw. hängen mit ihm eng zusammen.43 Beispiele für Diversifizierungen verschiedenster Art sind die Direktvermarktung, Ferien auf dem Bauernhof, Pferdepensionen sowie der gesamte Agrar-/Bioenergiebereich (Biomasse, nachwachsende Rohstoffe). Damit

40 Grimm/Norer, S. 2 f. 41 Unter dem Agribusiness werden die der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Wirtschaftszweige verstanden (Anderegg, S. 76, Fn. 40). 42 Agrarministerkonferenz der Bundesländer, 2009. 43 Vgl. dazu Norer, S. 490–493; Käb, S. 61–68.

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tritt der Landwirt nicht als reiner Nahrungsmittelerzeuger auf, sondern insbesondere auch als „Pfleger des ländlichen Kulturerbes“, „Landschaftspfleger“44 oder als „Energiewirt“.45 21 Die Multifunktionalität wie Diversifizierung der Landwirtschaft spiegelt sich bereits in der Realität wider.46 So erhält und pflegt die europäische Landwirtschaft rund die Hälfte der Landfläche in der EU.47 Dabei gab es im Jahre 2016 in der EU-28 10,2 Mio. landwirtschaftliche Betriebe und eine landwirtschaftlich genutzte Fläche von 173 Mio. Hektar.48 Die europäische Landwirtschaft sichert die natürlichen Lebensgrundlagen, erhält eine vielfältige Landschaft als Lebens-, Freizeit- und Erholungsraum und stärkt die ländlichen Gebiete als funktionsfähige Siedlungs- und Wirtschaftsräume.49 Insgesamt ist die Landwirtschaft mit den vor- und nachgelagerten Bereichen als Teil der Volkswirtschaft der EU nach wie vor ein bedeutender Wirtschaftsbereich. 3. Landwirtschaft im Rechtssinne 22 Bei der juristischen Definition bzw. Deskription des Begriffs Landwirtschaft finden sich im föderalen Mehrebenensystem auf den jeweiligen Rechtsebenen verschiedene Ansätze, die je nach dem jeweiligen Regelungskontext variieren. Der Begriff der multifunktionalen Landwirtschaft wird nicht allgemein legaldefiniert, sondern beruht auf dem politischen Konzept einer modernen und nachhaltigen europäischen Landwirtschaft und lässt sich normativ erst aus der Zusammenschau verschiedener Gesetze ermitteln. 23 Obgleich das Primärrecht der Europäischen Union mit dem Titel III im AEUV die „Die Landwirtschaft und die Fischerei“ als eigenständiges Politikfeld der Europäischen Union festlegt, wird selbst der Begriff Landwirtschaft nicht unmittelbar definiert. Vielmehr wird an den Begriff „landwirtschaftliche Erzeugnisse“ angeknüpft, der zugleich für den Anwendungsbereich der Gemeinsamen Agrarpolitik des Titels III bedeutsam ist. Dabei definiert Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV landwirtschaftliche Erzeugnisse als „Erzeugnisse des Bodens, der Viehzucht und der Fischerei sowie die mit diesem in unmittelbaren Zusammenhang stehenden Erzeugnisse der ersten Verarbeitungsstufe“. Zugleich steckt Art. 38 Abs. 3 AEUV den Anwendungsbereich der Art. 39 bis 44 AEUV insofern ab, als er auf die in Anhang I des Vertrages aufgeführten Erzeugnisse Bezug nimmt. 24 Allerdings besteht zwischen dem Anhang I und der Definition in Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV teilweise ein gewisser Widerspruch.50 Auf der einen Seite führt Anhang I nicht alle Primärerzeugnisse des Bodens und der Viehzucht auf, obwohl sie landwirtschaftliche Erzeugnisse iSd Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV darstellen. Beispielsweise werden Holz, Wolle, Leinen, Seide oder Häute nicht genannt. Auf der anderen Seite erfasst Anhang I als Verarbeitungsprodukte weitere Stufen und geht somit über die Definition in Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV hinaus, wie zB raffinierte Öle, Margarine, Kunsthonig, Stärke, Zubereitungen aus Früchten. In der Rechtspraxis wird die Inkohärenz im ersten Ansatz so aufgelöst, dass Anhang I als maßgebliche Norm für die Einordnung eines landwirtschaftli-

44 S. zB von Eickstedt, Vom Landwirt zum Landschaftspfleger, 2010. 45 Dazu s. Härtel in dies. Handbuch des Fachanwalts Agrarrecht Kap. 1 Rn. 26. 46 Dazu s. Agrarpolitischer Bericht 2011 der Bundesregierung; Statistisches Bundesamt (Destatis), Ergebnisse der Landwirtschaftszählung 2010 (2011), http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis /Internet/DE/Content/Statistiken/LandForstwirtschaft/StrukturenLandwirtschaftlicherBetriebe/Aktuel l,templateId=renderPrint.psml; Deutscher Bauernverband, Situationsbericht 2018/19. 47 http://ec.europa.eu/agriculture/envir/report/de/concl_de/report.htm, S. 2. 48 Deutscher Bauernverband, Situationsbericht 2018/19, S. 103. 49 http://ec.europa.eu/agriculture/capexplained/index_de_print.htm; http://ec.europa.eu/agriculture/envir/r eport/de/concl_de/report.htm. 50 Dazu s. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 19; Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 17 ff.

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Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

A. Einordnung in das Gesamtsystem chen Erzeugnisses im Sinne des Vertrages51 und damit für die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union im Agrarbereich herangezogen wird. Der Definition in Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV ist damit nur noch der „Charakter einer Grundaussage“ beizumessen.52 Im zweiten Ansatz steht dem Unionsgesetzgeber grundsätzlich noch die Möglichkeit offen, sogenannte Nicht-Anhang-I-Erzeugnisse auf der Grundlage der Kompetenzergänzungsklausel des Art. 352 AEUV in die Agrarrechtsetzung einzubeziehen, wenn die zu treffende Regelung zur Verwirklichung eines der GAP-Ziele erforderlich ist.53 Nach der Rechtsprechung des EuGH kann außerdem eine Verordnung, die Anhang-I-Erzeugnisse regelt, auch ergänzende Regelungen zu Nicht-Anhang-I-Erzeugnissen aufnehmen.54 Allerdings ist der allgemeine Anwendungsbereich der Agrargesetzgebungskompetenz noch weiter zu ziehen. Er erstreckt sich nicht allein auf die im Anhang I aufgeführten Erzeugnisse oder ergänzende Regelungen zu Nicht-Anhang-I-Erzeugnissen. Denn die im Anhang I festgelegte Begrenzung bezieht sich auf landwirtschaftliche Erzeugnisse und entfaltet deswegen nur eine Auswirkung auf die Gesetzgebung für erzeugnisspezifische Maßnahmen.55 Dies betrifft insbesondere Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation. Andere Regelungsgegenstände – wie Maßnahmen zur Förderung des ländlichen Raumes –, die nicht erzeugnisspezifisch ausgerichtet sind, können unabhängig vom Anhang I auf die Agrarkompetenz (Art. 43 AEUV) gestützt werden, wenn sie ein agrarpolitisches Ziel iSd Art. 39 AEUV verfolgen. Da die agrarpolitischen Ziele einer weiten offenen Interpretation zugänglich sind und dabei zugleich durch die Querschnittsklauseln (insbesondere die zum Umweltschutz, Tierschutz und Verbraucherschutz) beeinflusst werden, wird der Agrarbereich und ebenso die normative Deskription des Begriffs Agrar weit gezogen. Dementsprechend wird auch auf Unionsebene das Rechtsgebiet Agrarrecht weit gefasst. Diese Offenheit des Begriffs Agrarrecht lässt es zu, neue und ergänzende Formen der Agrarwirtschaft – spezifische Bereiche der „Agrarsysteme der Zukunft“ – in den Anwendungsbereich der GAP einzubeziehen. Dazu gehören insbesondere geschlossene hydroponische und aeroponische Agrarsysteme, die mit dem Konzept „Vertical Farming“ (Produktion in vielstöckigen Gebäuden) verbunden werden. Als Vorzüge hydroponischer Anlagen als geschlossene Produktionseinheiten gegenüber der klassischen offenen Landwirtschaft werden angeführt die Vermeidung von Dünge-/Pflanzenschutzmitteleinträgen in die Natur und von Bodenerosionen durch Landmaschinen sowie die Reduktion des Wasserverbrauchs. Ein Nachteil ist bisher allerdings der hohe Energieverbrauch für die künstliche Belichtung.56 Ein weiterer Bereich der Agrarsysteme der Zukunft bildet die Erschließung umweltfreundlicher Proteinquellen bzw. von Fleisch 2.0.57 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang zB die Herstellung von In-vitro-Fleisch und die Insektenzucht.58 Aus der 51 Vgl. EuGH 29.2.1984 – Rs. C-77/83, Slg 1984, I-1257 – CILFIT; EuGH 16.11.1989 – C-131/87, Slg 1989, I-3743 (3768) = NJW 1990, 2925. 52 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 20. 53 S. Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 19; Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 38 Rn. 13. 54 EuGH 2.7.2009 – C-343/07, Slg 2009, I-5491, Rn. 50 – Bavaria = EuZW 2010, 40 = LMuR 2009, 204. 55 Dazu s. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 35. 56 Richter/Kind, Geschlossene hydroponische Agrarsysteme, TAB, Themenkurzprofil Nr. 17, Mai 2017, S. 1. 57 Jetzke/Bovenschulte/Ehrenberg-Silies, Fleisch 2.0 – unkonventionelle Proteinquellen, TAB, Themenkurzprofil Nr. 5, Mai 2016. 58 Sekundärrechtlich fallen sie de lege lata unter die VO (EU) 2015/2283 vom 25.11.2015 über neuartige Lebensmittel, ABl. L 327 v. 11.12.2015, 1 ff. Zu diesem Rechtsregime ausführlich Fritzsche, Innovative Lebensmittel im europäischen Verwaltungsverfahrensrecht – Die Zulassung von Novel Food als Risikoentscheidung, i.E. Zu weiteren Bsp. für Novel Food s. auch Härtel, Ernährungswirtschaftsrecht, in dies. (Hrsg.), Wege der Ernährungswirtschaft, 2017, S. 37, 47 ff.

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 7 Agrarrecht

Insektenzucht resultieren bereits jetzt marktfähige Produkte, wie zB Mehlwurmburger und Heuschreckensnacks. Die Anpassungsfähigkeit der GAP an solch innovative und zugleich (möglicherweise) ökologisch nachhaltigere Methoden, Verfahren, Systeme der Gewinnung von Nahrungsgütern ist rechtsmethodisch doppelt zu begründen: Zum einen ist das GAP-Ziel der Sicherstellung der Versorgung der Verbraucher/innen mit Lebensmitteln (Art. 39 Abs. 2 lit. d AEUV) unter gleichzeitiger Beachtung des Umweltschutzes (Querschnittsklausel gem. Art. 11 AEUV) heranzuziehen. Zum anderen drängt sich eine rechtliche Zuordnung der produzierten Nahrungsgüter zu den Anhang-I-Erzeugnissen auf. 25 Während das Unionsprimärrecht an den Begriff landwirtschaftliche Erzeugnisse anknüpft (Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV), stellt das Unionssekundärrecht wiederum auf die landwirtschaftliche Tätigkeit ab (zB Art. 4 Abs. 1 lit. c VO (EU) Nr. 1307/2013 – Direktzahlungen-Verordnung). So wird landwirtschaftliche Tätigkeit definiert als „die Erzeugung, die Zucht oder den Anbau landwirtschaftlicher Erzeugnisse, einschließlich Ernten, Melken, Zucht von Tieren und Haltung von Tieren für landwirtschaftliche Zwecke, oder die Erhaltung von Flächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand [...]“. Indem unter landwirtschaftliche Tätigkeit auch die „Erhaltung von in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand“ fällt, wird die Rolle des Landwirts als Landschaftspfleger festgeschrieben und ein weites, ökologisiertes Verständnis des Agrarrechts zugrunde gelegt. Der Bezug zur Landwirtschaft bleibt hier indes bestehen, da ein „guter landwirtschaftlicher Zustand“ vorausgesetzt wird. Der EuGH musste sich bereits in seiner Rechtsprechung zum Agrarbeihilfenrecht mit der Ökologisierung der Begriffe der landwirtschaftlichen Tätigkeit bzw. landwirtschaftlichen Fläche befassen. Dabei stellte er insbesondere in seinem Urteil vom 14.10.2010 fest:59 „Dass Parzellen, die tatsächlich als Acker- oder Dauergrünland60 genutzt werden, überwiegend dem Naturschutz oder der Landschaftspflege dienen, schließt ihre Einstufung als landwirtschaftliche Fläche iSd Verordnung Nr. 796/200461 somit nicht aus. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Umweltschutz, …. zu den Zielen der Betriebsprämienregelung gehört. Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass der Umweltschutz, der eines der wesentlichen Ziele der Europäischen Union ist, als ein Ziel anzusehen ist, das auch Bestandteil der gemeinsamen Agrarpolitik ist…“.62 Mit der Voraussetzung des „aktiven Betriebsinhabers“63 wird der Begriff der landwirtschaftlichen Tätigkeit weiter konkretisiert. Diese Voraussetzung wurde mit der Agrarreform 2014-2020 eingeführt, weil in der Vergangenheit Agrarbeihilfen an Unternehmen gezahlt wurden, deren Geschäftszweck nicht oder nur marginal landwirtschaftlicher Art ist.64 26 Prägend für das Rechtsgebiet Agrarrecht sind zwar in Bezug auf das Unionsrecht in erster Linie das Primärrecht zur Gemeinsamen Agrarpolitik – die Agrarkompetenz – und die darauf gestützten Rechtsakte. Allerdings ist der unionsrechtliche Teil des Agrarrechts damit nicht abschließend umschrieben. Vielmehr werden und müssen agrarspezifische wie agrar59 S. EuGH 14.10.2010 – C-61/09, Slg 2010, I-9763, Rn. 39 – Niedermair-Schiemann = NuR 2011, 35. 60 Einfügung durch die Verfasserin: Der EuGH nimmt dabei auf die sekundärrechtlichen Legaldefinitionen Ackerland und Dauergrünland Bezug (vgl. Rn. 35 f. der Entscheidung). Im Sinne dieser sekundärrechtlichen Legaldefinitionen sind Ackerland für den Anbau landwirtschaftlicher Kulturpflanzen genutzte Flächen und stillgelegte Flächen oder in gutem landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand erhaltene Flächen. Dauergrünland sind danach Flächen, die durch Einsaat oder auf natürliche Weise (Selbstaussaat) zum Anbau von Gras oder anderen Grünfutterpflanzen genutzt werden und mindestens fünf Jahre lang nicht Bestandteil der Fruchtfolge des landwirtschaftlichen Betriebes waren. 61 ABl. L 141 vom 30.4.2004, 18 ff. 62 Dabei bezieht der EuGH sich auf sein Urteil vom 16.7.2009 – C-428/07, Slg 2009, I-6355, Rn. 29 – Horvath. 63 Zum Begriff s. Art. 4 Abs. 1 lit. c iii) VO (EU) Nr. 1307/2013. 64 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 10 VO (EU) Nr. 1307/2013.

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Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

A. Einordnung in das Gesamtsystem relevante Lebenssachverhalte auf der Grundlage anderer Kompetenztitel geregelt werden, so vor allem auf der Grundlage der allgemeinen Harmonisierungs-, Umweltschutz- oder Gesundheitskompetenz. Dementsprechend wurde in der Rechtsetzungspraxis eine Vielzahl agrarspezifischer wie agrarrelevanter Rechtsakte auf andere einzelne Kompetenzen gestützt oder von der Mehrfachabstützung von Kompetenzen Gebrauch gemacht. Für die Bestimmung des Rechtsgebietes Agrarrecht kommt es – im Sinne einer umfassenden Rechtssystematisierung – auf die Erfassung des komplexen und zusammenhängenden Lebensbereiches „Landwirtschaft“ bzw. „Agrar“ an. Abbildung 1: Anhang I – Listen zu Artikel 38 des Vertrags Nummer des Brüsseler Zolltarifschemas Kapitel 1

Warenbezeichnung

lebende Tiere

Kapitel 2

Fleisch und genießbarer Schlachtabfall

Kapitel 3

Fische, Krebstiere und Weichtiere

Kapitel 4

Milch und Milcherzeugnisse, Vogeleier; natürlicher Honig

Kapitel 5 05.04 05.15

Därme, Blasen und Mägen von anderen Tieren als Fischen, ganz oder geteilt Waren tierischen Ursprungs, anderweit weder genannt noch inbegriffen; nicht lebende Tiere des Kapitels 1 oder 3, ungenießbar

Kapitel 6

lebende Pflanzen und Waren des Blumenhandels

Kapitel 7

Gemüse, Pflanzen, Wurzeln und Knollen, die zu Ernährungszwecken verwendet werden

Kapitel 8

genießbare Früchte, Schalen von Zitrusfrüchten oder von Melonen

Kapitel 9

Kaffee, Tee und Gewürze, ausgenommen Mate (Position 09.03)

Kapitel 10

Getreide

Kapitel 11

Müllereierzeugnisse, Malz; Stärke; Kleber, Inulin

Kapitel 12

Ölsaaten und ölhaltige Früchte; verschiedene Samen und Früchte; Pflanzen zum Gewerbe- oder Heilgebrauch, Stroh und Futter

Kapitel 13 ex 13.03 Kapitel 15 15.01 15.02 15.03 15.04 15.07 15.12 15.13 15.17 Kapitel 16 Kapitel 17 17.01 17.02

Pektin Schweineschmalz; Geflügelfett, ausgepresst oder ausgeschmolzen Talg von Rindern, Schafen oder Ziegen, roh oder ausgeschmolzen, einschließlich Premier Jus Schmalzstearin; Oleostearin; Schmalzöl, Oleomargarine und Talgöl, weder emulgiert, vermischt noch anders verarbeitet Fette und Öle von Fischen oder Meeressäugetieren, auch raffiniert Fette pflanzliche Öle, flüssig oder fest, roh, gereinigt oder raffiniert tierische und pflanzliche Fette und Öle, gehärtet, auch raffiniert, jedoch nicht weiter verarbeitet Margarine, Kunstspeisefett und andere genießbare verarbeitete Fette Rückstände aus der Verarbeitung von Fettstoffen oder von tierischen oder pflanzlichen Wachsen Zubereitungen von Fleisch, Fischen, Krebstieren und Weichtieren Rüben- und Rohrzucker, fest andere Zucker; Sirupe; Kunsthonig, auch mit natürlichem Honig vermischt; Zucker und Melassen, karamellisiert

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§ 7 Agrarrecht Nummer des Brüsseler Zolltarifschemas

Warenbezeichnung

17.03 17.05

Melassen, auch entfärbt Zucker, Sirupe und Melassen, aromatisiert oder gefärbt (einschließlich Vanilleund Vanillinzucker), ausgenommen Fruchtsäfte mit beliebigem Zusatz von Zucker

Kapitel 18 18.01 18.02 Kapitel 20 Kapitel 22 22.04 22.05

Kakaobohnen, auch Bruch, roh oder geröstet Kakaoschalen, Kakaohäutchen und anderer Kakaoabfall Zubereitungen von Gemüse, Küchenkräutern, Früchten und anderen Pflanzen oder Pflanzenteilen

22.10

Traubenmost, teilweise vergoren, auch ohne Alkohol stummgemacht Wein aus frischen Weintrauben; mit Alkohol stummgemachter Most aus frischen Weintrauben Apfelwein, Birnenwein, Met und andere gegorene Getränke Äthylalkohol und Sprit, vergällt und unvergällt, mit einem beliebigen Äthylalkoholgehalt, hergestellt aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die in Anhang I aufgeführt sind (ausgenommen Branntwein, Likör und andere alkoholische Getränke, zusammengesetzte alkoholische Zubereitungen – Essenzen – zur Herstellung von Getränken) Speiseessig

22.07 ex 22.08 ex 22.09

Kapitel 23

Rückstände und Abfälle der Lebensmittelindustrie; zubereitetes Futter

Kapitel 24 24.01

Tabak, unverarbeitet; Tabakabfälle

Kapitel 45 45.01

Naturkork, unbearbeitet, und Korkabfälle; Korkschrot, Korkmehl

Kapitel 54 54.01 Kapitel 57 57.01

Flachs, roh, geröstet, geschwungen, gehechelt oder anders bearbeitet, jedoch nicht versponnen; Werg und Abfälle (einschließlich Reißspinnstoff) Hanf (Cannabis sativa), roh, geröstet, geschwungen, gehechelt oder anders bearbeitet, jedoch nicht versponnen; Werg und Abfälle (einschließlich Reißspinnstoff)

4. Die Begriffe „Landwirtschaftsrecht“ und „Agrarrecht“ im föderalen Mehrebenensystem 27 Für die rechtlichen Rahmenbedingungen der multifunktionalen Landwirtschaft gibt es eine Vielzahl allgemeiner wie besonderer agrarbezogener Rechtsvorschriften.65 Mit Blick auf die Bezeichnung des Rechtsgebietes Agrarrecht stellt sich die Frage, ob die Begriffe „Landwirtschaft“ und „Agrar“ eine eigenständige Bedeutung aufweisen oder synonym zu verstehen sind. Das Primärrecht der EU verwendet beide Begriffe, so den Begriff Landwirtschaft im Zuständigkeitskatalog (Art. 4 Abs. 2 lit. d AEUV) aber auch im Titel III des AEUV selbst sowie an verschiedenen Stellen der Art. 38 ff. AEUV und den Begriff Agrar in der Zusammensetzung „gemeinsame Agrarpolitik“ in den Art. 38 ff. AEUV.66 Dabei ist der Unterscheidung zwischen Landwirtschaft und Agrar keine primärrechtliche Relevanz beizumessen. So taucht auch in anderen Sprachfassungen des Vertrages diese Unterscheidung erst gar nicht auf, wie zum Beispiel im Englischen und Französischen, wo einheitlich von „agriculture“ die Rede ist.67

65 Zu dem rechtswissenschaftlichen Streit, ob das Agrarrecht nur die auf die Landwirtschaft beziehenden Sondernormen erfasst oder funktional zu bestimmen ist, s. Norer, S. 120–141 mwN. 66 Vgl. Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 1; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 22. 67 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Busse EuR § 25 Rn. 2.

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A. Einordnung in das Gesamtsystem

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Allerdings wird in der Rechtsbegriffsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland – als Teil 28 der europäischen föderalen Rechtsgeschichte – zwischen „Landwirtschaft“ und „Agrar“ unterschieden. Dabei bildet das Landwirtschaftsrecht den tradierten Begriff und umfasst hauptsächlich die Bereiche des landwirtschaftlichen Privatrechts (Sondererbrecht, Landpachtrecht etc). Das Agrarrecht stellt hingegen den weiteren Begriff dar, bei dem es sich heute um eine komplexe Querschnittsmaterie handelt, die zahlreiche einzelne Rechtsmaterien betrifft. Dabei knüpft der weitere und moderne Begriff des Agrarrechts wiederum an den Begriff Landwirtschaft und an das Konzept der multifunktionalen Landwirtschaft an. Neben dem tradierten Landwirtschaftsrecht sind in den letzten rund 70 Jahren gewichtige 29 Gebiete des Agrarrechts entstanden, die zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, Agrarverwaltungsrecht und damit auch zum Besonderen Verwaltungsrecht gehören. Wegen der bestehenden Verknüpfungen der verschiedenartigen speziellen landwirtschaftlichen Lebenssachverhalte und des Strukturwandels in der Landwirtschaft ist es geboten, sich nicht allein auf einen Agrarrechtsbegriff im engeren Sinne zu beziehen, der nur die eigentliche Urproduktion betreffende Regelungen erfasst. Sinnvoll ist es vielmehr, einen weiten Agrarrechtsbegriff zugrunde zu legen. Ein solchermaßen umfassendes Begriffsverständnis trägt dem Paradigmenwechsel68 von der „klassischen“ Landwirtschaft zu einer multifunktionalen Landwirtschaft Rechnung – bis hin zu den integrierten Wertschöpfungsketten/Wertschöpfungsnetzwerken der Agrar- und Ernährungswirtschaft sowie den wachsenden und vielfältigen gesellschaftlichen Aufgaben ländlicher Räume. Dabei bestehen unter anderem starke Verknüpfungen zwischen Landwirtschaft, Ernährungswirtschaft und Energiewirtschaft. Zum Mehrebenen-Agrarrecht im weiteren Sinne gehören daher sämtliche Regelungen in 30 Bezug auf die Erzeugnisse, Produktionsmittel, Produktionsverfahren, die Beschäftigten und über die Urproduktion hinaus die vor- und nachgelagerten Bereiche.69 Demnach zählen zum Agrarrecht insbesondere das Agrarmarktrecht, das Recht des ländlichen Raumes, das Agrarsozialrecht, Agrarumweltrecht (einschließlich Wasser-, Naturschutz-, Bodenschutz- und Immissionsschutzrecht, Düngemittel- und Pflanzenschutzmittelrecht),70 das Recht zur Agrobiodiversität,71 Tierschutzrecht, Tierseuchenrecht, Agrarklimaschutzrecht (Mitigation und Adaptation), Agrarenergierecht, Agrargentechnikrecht, aber ebenso das Saatgut-, Sortenschutz- und Tierzuchtrecht sowie das Futtermittelrecht.72 Eine besonders enge Verbindung weist das Agrarrecht zum Lebensmittelrecht (hierzu Gundel § 8) auf. So wird seit der großen EU-Lebensmittelrechtsreform im Jahre 2002, die hauptsächlich auf die BSE-Krise zurückzuführen ist, der Landwirt als Lebensmittelunternehmer angesehen.73 Bereits aus diesem Grund ist die in der Vergangenheit vorgenommene strikte Unterscheidung zwischen Agrarrecht und Lebensmittelrecht nicht mehr zutreffend. Zudem kennzeichnen sich die gegenwärtig etablierten Strukturen der Agrar- und Ernährungswirtschaft durch eine vertiefte Integration der Wertschöpfungsketten – der Primärproduktion, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen bis hin zum Endkonsum. Die Integrationsdynamik wird durch die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die technologischen Innovationen, den 68 Vgl. Härtel AUR 2/2007, Sonderbeilage I, 2 ff. 69 Zur Unterscheidung des öffentlich-rechtlichen Agrarrechts im weiteren Sinne und im engeren Sinne s. Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Busse EuR § 25 Rn. 4. 70 Härtel, Agrarumweltrecht, in Koch/Hofmann/Reese, Handbuch des Umweltrechts, 5. Aufl. 2018, § 15 Rn. 7 ff., 47 ff. 71 S. dazu BMELV, Agrobiodiversität erhalten; Virchow APuZ 3/2008, 10 ff. 72 Dazu s. Wrede, Futtermittelrecht, 2004; Bittner in Härtel, Kap. 29. 73 Vgl. VO (EG) Nr. 178/2002 (Lebensmittel-Basisverordnung), geändert durch Art. 1 der VO (EG) Nr. 1642/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.7.2003, ABl. L 245 vom 29.9.2003, 4 ff.; dazu ausführlicher Streinz in Calliess/Härtel/Veit, S. 47 ff.; Schröder/Kraus EuZW 2005, 423 ff.

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§ 7 Agrarrecht

erheblichen Wandel des Verbraucherverhaltens und die globale Ausweitung der Agrarund Lebensmittelmärkte verstetigt. Das Recht hat diese Entwicklung der strukturellen Integration der Wertschöpfungsketten im Agri-Food-Bereich aufgenommen und zum Gegenstand der Rechtsfortbildung gemacht, so zB die rechtliche Verankerung des Prinzips der Rückverfolgbarkeit zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit, das Recht zum ökologischen Landbau74 und das Recht zu den geografischen Herkunftsangaben.75 Weitergedacht wird dieser integrierte Ansatz auch in Bezug auf die ökologische Nachhaltigkeit, vor allem im Sinne des produktbezogenen Life Cycle-Ansatzes und der Kreislaufwirtschaft. Vor dem Hintergrund der neuen Phänomene und neuen Erfordernisse integrierter Ansätze im Hinblick auf Nahrungsgüter und der (Neo-)Ernährungssouveränität ist aus rechtswissenschaftlicher Perspektive die Etablierung eines zusammenführenden Begriffs sinnvoll. Dabei bietet sich die begriffliche Verankerung des Rechtsgebietes „Ernährungswirtschaftsrecht“ an.76 Hiervon erfasst werden dann auch die „Agrarsysteme der Zukunft“ (wie zB Vertical Farming und Fleisch 2.0, → Rn. 24). Außerdem erfasst das Agrarrecht das Fischerei-, Forst- und Jagdrecht. Ein weit verstandener Agrarrechtsbegriff liegt auch dem in Deutschland seit 2009 bestehenden Berufsbild „Fachanwalt für Agrarrecht“ zugrunde.77 31 Das Agrarrecht ist damit als eine komplexe Querschnittsmaterie zu qualifizieren, die eine Vielzahl verschiedener Rechtsmaterien umfasst, die zum einen dem Öffentlichen Recht und zum anderen dem Privatrecht aber auch dem Strafrecht zugeordnet werden können oder Schnittmengen dieser Hauptrechtsgebiete bilden. Dabei ist das Agrarrecht zugleich durch seinen Mehrebenenbezug gekennzeichnet. So existieren auf nationaler, europäischer wie globaler Ebener agrarbezogene sowie agrarrelevante Rechtsnormen. Während nur noch einige Rechtsbereiche des Agrarrechts rein mitgliedstaatliches Recht darstellen, sind die anderen Materien europäisiert, und zwar in unterschiedlicher Intensität.78 Dabei haben sich gerade im Bereich des öffentlichen Agrarwirtschaftsrechts das Recht der Europäischen Union und das der Mitgliedstaaten bereits zu einem Rechtsetzungsverbund verwoben.79 Selbst Bereiche, die nicht von der Europäischen Union, sondern vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber geregelt worden sind, werden erheblich vom Unionsrecht beeinflusst. Dies betrifft beispielsweise das für die Landwirtschaft besonders praktisch relevante (Land)Pachtrecht. So werden zentrale pachtrechtliche Pflichten wie insbesondere die nach deutschem Pachtrecht bestehende Pflicht des Pächters zur „ordnungsgemäßen Landwirtschaft“ durch das Agrarumweltrecht der Union determiniert.80

74 Zum ökologischen Landbau s. Härtel ZUR 2008, 233 ff.; ferner Busse in Härtel, Kap. 30. 75 Ramìrez in Härtel, Kap. 31; Härtel, Geografische Herkunftsangaben als Rechtsgut – das Schutzsystem der EU für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, in: Przegląd Prawa Rolnego (Agricultural Law Review)/ Uniwersytet Im. Adama Mickiewicza w Poznaniu, 2014 Nr. 2 (15), S. 175–198; Härtel/Zhong, The Right of Geographical Indications of Agricultural Products and Food, in: Härtel (Hrsg.), Handbook of Agri-Food Law in China, Germany, European Union, 2018, S. 611 ff. 76 Hierzu bereits Härtel, Ernährungswirtschaftsrecht – zwischen Steigerung von Komplexität und dem Anspruch wohlgeordneten Rechts, in: dies. (Hrsg.), Wege der Ernährungswirtschaft, 2017, S. 37, 39 f. 77 Die Satzungsversammlung der deutschen Anwaltschaft beschloss diesbezüglich die Änderung der Fachanwaltsordnung 2008, die dann im Frühjahr 2009 in Kraft trat. 78 Auf eine genaue Festlegung bis hin zu einer präzisen Prozentzahl der Europäisierung der Rechtsakte soll hier verzichtet werden, da diese in der Vergangenheit schon zu unnötigen Pauschalierungen geführt hat (s. dazu König/Mäder PVS 49 (2008), 438). 79 Zum Agrarrechtsverbund im föderalen Mehrebenensystem in seinen Ausprägungen eines Rechtsetzungsverbundes, Finanzierungsverbundes, Organisationsverbundes, Vollzugsverbundes s. Terhechte/ Härtel HdB-EUVerwR § 37 Rn. 46–52. 80 Zu weiteren Beispielen s. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 35.

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Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

A. Einordnung in das Gesamtsystem

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Abbildung 2:   Globale Ebene WTO (insbes. Landwirtschaftsübereinkommen) FAO (insbes. Codex Alimentarius)

EU- Ebene 

Primärrecht Agrarrecht i.e.S.: Art. 38 – 44 AEUV Agrarrecht i.w.S.: Rechtsmaterien mit Bezug zur Landwirtschaft



Sekundärrecht 1. Säule – Marktordnungsrecht 2. Säule – ländliche Entwicklung

UN Sustainable Development Goals

UN Sustainable Development Goals

 

Nationale Ebene   

Bund Länder Kommunen

III. Historischer Kontext Die eigenständige Entwicklung und damit normative Ausdifferenzierung des Agrarrechts 32 erklärt sich aus der Sonderstellung der Landwirtschaft im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen und den neuen Herausforderungen an den ländlichen Raum. Dabei wurden die primärrechtlichen Grundlagen für die Gemeinsame Agrarpolitik von Beginn bis heute kaum verändert.81 Mit dem Lissabon-Vertrag wurde allein82 das ordentliche Gesetzgebungsverfahren für die GAP eingeführt und so das Mitwirkungsrecht des Europäischen Parlaments gestärkt. Selbst die Artikelnummern zur GAP (Art. 38–44 AEUV) entsprechen zufällig wieder der ursprünglichen Nummerierung im EWG-Vertrag.83 Allerdings hat sich das weitere primärrechtliche Umfeld verändert, das auf die Gemeinsame Agrarpolitik einwirkt. Gemeint sind vor allem die im Laufe der letzten Vertragsrevisionen aufgenommenen Querschnittsklauseln, insbesondere zum Umweltschutz, Verbraucherschutz, Tierschutz sowie zur Kultur.84 Hingegen ist das Sekundärrecht zur Gemeinsamen Agrarpolitik immer wieder reformiert worden. 1. Die Entstehung der Gemeinsamen Agrarpolitik Von Anfang an war die Landwirtschaftspolitik und ihre rechtliche Ausgestaltung85 zuerst 33 im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dann in der Europäischen Gemeinschaft und jetzt in der Europäischen Union als Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV) wesentlicher Bestandteil der europäischen Eini-

81 S. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 18. 82 Darüber hinaus wurde lediglich noch im Titel neben die Landwirtschaft die Fischerei hinzugefügt und in dem Zusammenhang eine Klarstellung in Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV aufgenommen. 83 Zwischenzeitlich – also in der Zeit seit des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrages bis zur Neufassung durch den Lissabon-Vertrag – war die GAP in der Reihung von Art. 32–38 EGV geregelt. S. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 18. 84 S. Art. 11–13 und Art. 167 Abs. 4 AEUV. Ferner ist die Querschnittsklausel zum sozialen Schutz, zur Beschäftigung und Gesundheitsschutz (Art. 9 AEUV) zu nennen. 85 Priebe/Scheper/von Urff, Agrarpolitik in der EG, 1984; Olmi, Politique Agricole Commune, 1991, S. 115 ff., 231 ff.; Snyder, Law of the Common Agricultural Policy, 1985, S. 5 ff.; Kreutzer AgrarR 1989, 169 ff.; Koester European Review of Agricultural Economics, Vol. 11 (1984), 129 ff.

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gungsbestrebungen.86 Bereits im Vorfeld der Verhandlungen zu den Römischen Verträgen, den Gründungsurkunden der Europäischen Union, war die Landwirtschaftspolitik87 als ureigenes europäisches Integrationsfeld Gegenstand unterschiedlicher Interessen und Kontroversen.88 In allen Mitgliedstaaten, besonders aber in Frankreich und Deutschland, war traditionell die Landwirtschaftspolitik ein hochsensibler Politikbereich. Frankreich erwartete, dass die starke deutsche Industrie größere Vorteile aus der Öffnung der Märkte ziehen könnte und forderte als Ausgleich die Stärkung des Agrarsektors durch ein protektionistisches und interventionistisches System. Da über die wirtschaftliche Marktöffnung und europäische Marktintegration hinaus die Schutzinteressen der Landwirtschaft, insbesondere die Sicherung der Einkommen der Bauern einschließlich der Aufhebung von Einkommensunterschieden zu anderen Wirtschaftszweigen,89 überwogen, wurde die gemeinsame Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik Teil eines grundlegenden Kompromisses vor allem zwischen der deutschen und der französischen Regierung. Darauf basierend konnten dann die Römischen Verträge 1957 geschlossen werden und 1958 in Kraft treten, mit denen Europa als „Gemeinschaft des Rechts“90 einen neuen, eigenständigen Anfang nahm. 34 Die Landwirtschaftspolitik wurde in der Folgezeit als Testfall für das Gelingen einer integrativen europäischen Politik angesehen. In dieser Perspektive wurden dann die Grundsätze der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) unter dem stellvertretenden Kommissionspräsidenten Sicco Mansholt 1958 auf der Konferenz von Stresa festgelegt. 1960 von den sechs Gründungsmitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verabschiedet, traten sie schließlich 1962 in Kraft.91 In Anbetracht der teilweise schwierigen Versorgungslage in der Nachkriegszeit stand von den im EWG-Vertrag festgelegten Zielen besonders im Vordergrund, künftig eine im Grundsatz ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln für die Bevölkerung zu angemessenen Preisen zu gewährleisten. Mit der nun formulierten Gemeinsamen Agrarpolitik sollte ein tragfähiger gemeinsamer Agrarsektor geschaffen und die Bauern zu einer höheren Produktivität in der landwirtschaftlichen Produktion gebracht werden. Zugleich galt es, die Einkommen der Bauernschaft über festgelegte Preise zu sichern. In Stresa wurden zentrale Merkmale für eine gemeinsame Agrarmarktordnung der gesamten Landwirtschaft anvisiert. Nach dieser sollte der freie Warenverkehr zwi86 Zugrunde lag die Erkenntnis, dass die Welt singulärer, autonomer Nationalstaaten begann, zunehmend überholt zu werden und daher in der supranationalen Europäisierung die innovative Antwort auf die Fragen der Zeit lag; die Gründungsidee der EWG/EU ist daher: gemeinsamer Souveränitätsgewinn durch nationale Souveränitätsbeschränkung. S. Judt, Die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, 2006, S. 184 ff., 925; Weidenfeld, Europa – aber wo liegt es?, S. 43 ff. sowie ders./Giering, Die Zukunft Europas, S. 625 ff., beide in Weidenfeld, Die Europäische Union, 2006; vgl. Kühnhardt APuZ 10/2007, 3 ff. 87 Zu den verschiedenen Phasen der EU-Agrarpolitik und deren strukturelle Ausprägung s. Henrichsmeyer/Witzke, Agrarpolitik, Bd. 2, 1994, S. 561 ff.; Anderegg, Grundzüge der Agrarpolitik; Leidwein, Europäisches Agrarrecht. 88 Thiemeyer, 1999; s. auch von Urff in Weidenfeld, S. 205 ff.; zur allgemeinen Entwicklung bis zu den Römischen Verträgen s. Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939– 1957, 1990; Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1982; zum weiteren Verlauf s. Knipping, Rom 25. März 1957. Die Einigung Europas, 2004 sowie Laqueur, Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945–1992, 1992. 89 So verpflichtete das Landwirtschaftsgesetz von 1955 die deutsche Bundesregierung, die Einkommen der Bauern so hoch zu halten, wie sie in anderen Branchen üblich waren, vgl. Brunn, S. 167. 90 Kühnhardt ApuZ 10/2007, 6 ff.; vgl. Schwarze, Das Recht als Integrationsinstrument in Carpotorti ua (Hrsg.), Du droit international au droit de l‘integration, 1987, S. 637 ff. 91 Vgl. hierzu Dokumente der Landwirtschaftskonferenz der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Stresa vom 3.–12.7.1958, Europäische Gemeinschaften (Hrsg.), Dokumente der Landwirtschaftskonferenz der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Stresa vom 3. bis 12. Juli 1958, 1959, S. 19 ff.; Scheper in Priebe/Scheper/von Urff, S. 169 ff.; Barents, Agricultural Law of the EC, 1994, S. 3 ff.

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schen den EWG-Staaten gewährleistet (gemeinsamer Agrarmarkt), der Vorrang der innergemeinschaftlichen Agrarproduktion bei gleichzeitiger Marktöffnung gegenüber anderen Staaten sichergestellt (Gemeinschaftspräferenz), die Finanzierung der GAP-Agrarausgaben aus dem EWG-Gemeinschaftshaushalt geleistet (gemeinschaftliche Finanzierung) und die geforderte agrarische Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln seitens der Mitgliedstaaten durch ein ausgeklügeltes System der Mengensteuerung mittels Markt-, Interventions- und Strukturinstrumenten erreicht werden. Dazu wurden spezielle Marktordnungsbestimmungen für spezielle Produkte (zB Getreide) erlassen. Staatliche Richt-, Interventions- und Schwellenpreise strukturierten das Marktgeschehen und damit den an die Landwirte ausgezahlten Preis. Staatlich garantiert wurde der Ankauf der Überschussproduktion. Nach dem Grundsatz „garantierte Preise für den Erzeuger ohne Beschränkung der Pro- 35 duktion“ wurde der „Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft“ (EAGFL) geschaffen, der von der Kommission verwaltet wurde. Überschüsse konnten dabei weiterverarbeitet oder auch vernichtet werden, was regelmäßig zu Kritik und insgesamt zu Akzeptanzproblemen der GAP führte. Der europäische Agrarmarkt war nach außen abgeschottet. Überschüsse an Agrarerzeugnissen wurden mit Exportsubventionen auf den Weltagrarmärkten abgesetzt. Im Hinblick auf die gesetzten Ziele der Nachkriegszeit war das System der GAP durchaus 36 nicht ohne Erfolg. Die Einkommen in der Landwirtschaft wurden stabilisiert, allerdings zu hohen Kosten.92 Nach 1962 stiegen in vielen landwirtschaftlichen Bereichen auch dank des wissenschaftlich-technischen Fortschritts die Produktivität wie die Produktion schnell an; bereits Anfang der siebziger Jahre wurde bei einer Reihe von Agrargütern ein Selbstversorgungsgrad über 100 % erreicht. Der Verbraucher konnte sich auf eine gesicherte Nahrungsmittelproduktion verlassen und zudem auf ein breites Produktsortiment an Lebensmitteln zurückgreifen. 2. Reformen der 1970er- und 1980er-Jahre Das, was für die ersten Jahre als eine zufriedenstellende Lösung erschien, erwies sich in 37 den siebziger und achtziger Jahren zunehmend als Problem. Für eine Vielzahl kleiner und mittlerer Betriebe blieb die Einkommenssituation trotz Steigerungen insgesamt unzureichend. Die wachsende Produktivität wurde mit einer Reihe von negativen Umwelteffekten erkauft. Das Preisinterventionssystem trieb die Lebensmittelpreise für Verbraucher nach oben – teilweise auf das Zwei- bis Vierfache des Weltmarktpreises.93 Hinzu kamen ansteigende Disparitäten zwischen Angebot und Nachfrage mit der Folge 38 sich stetig ansammelnder Überschüsse. So wuchs bspw. im Milchsektor von 1970–1983 das Angebot jährlich um 2 %, die Nachfrage aber um 0,7 %.94 Die Garantie der Preise für die Bauern sowie die Kauf-/Abnahmeverpflichtung führten zu immer größeren Milch- und Weinseen sowie Butter-, Getreide- und Zuckerbergen, für deren Lagerung erhebliche Finanzen aufgewendet werden mussten: 1969 betrug die Lagerhaltung bereits 1,2 Mio. Tonnen Zucker, 6 Mio. Tonnen Getreide und 100.000 Tonnen Butter95 – und mit jedem Jahr wurde es mehr. Hinzu kam es durch die subventionierten Agrarexporte der EWG, aber

92 Wurden an die Landwirte der EWG-Länder 1962 rund 151 Mio. Mark ausgezahlt, waren es 1969 bereits 10 Mrd. Mark. S. hierzu und zum folgenden Brunn, S. 170 ff. 93 Brunn, S. 170. 94 S. Görlach/Kindermann/Kreissl-Dörfler, S. 6. 95 Hauptzahler war dabei die Bundesrepublik Deutschland: 1969 zahlte sie in den EAGFL 1,6 Mrd. Mark ein und bekam 610 Mio. Mark rückvergütet. Die Debatte um Deutschland als „größter Nettozahler“ der EU hatte hier eine ihrer Ursachen.

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auch von anderen Ländern wie zB den USA, zu relevanten Verzerrungen auf den Weltagrarmärkten. Die Folge des Interventionssystems mit seinen Stützungskäufen, Lagerhaltungen und der Subventionierung von Exporten war ein erheblicher Anstieg der Agrarausgaben mit einem Volumen, das schließlich über zwei Drittel des EWG-Haushaltes, zeitweilig sogar 70 %,96 ausmachte. In den achtziger Jahren stiegen die Agrarausgaben um rund 15 % jährlich. Die Folge war nicht nur eine deutliche Einschränkung anderer EWGAufgaben, sondern ein drohender Kollaps des europäischen Finanzierungssystems. Da der EWG-Agrarbereich bis in die achtziger Jahre der einzig vergemeinschaftete Politiksektor der EWG war und damit als Vorzeigebereich galt, waren – neben dem stets schwierigen Ausgleich divergierender Interessenskonstellationen – grundlegende Reformen nur schwer durchzusetzen. Dies änderte sich dann sukzessiv unter dem Druck der immer stärkeren öffentlichen Kritik, der finanziellen Situation, sich verändernder Verbraucheranforderungen sowie der internationalen Handelsentwicklung (Uruguay-Runde). 39 Hinzu kamen die gesellschaftlichen Diskussionen der 1970er- und 1980er-Jahre zum Umweltschutz. Diese schlugen sich politisch ua in der Verordnung zur Verbesserung der Agrarstruktur von 198597 nieder, dann in der Einheitlichen Europäischen Akte (Umweltschutzpolitik als Ziel), später grundsätzlich in den Verträgen von Maastricht (Umweltpolitik als eigene Gemeinschaftspolitik) und Amsterdam. In der Gemeinschaftspolitik mitsamt ihren ausdifferenzierten Teilbereichen mussten deshalb die Belange des Umweltschutzes nun stärkere Berücksichtigung finden.98 Die Umweltverträglichkeit der Landwirtschaft wurde nun zu einem ständigen Thema der GAP. 40 Angesichts der negativen Effekte des interventionistischen Agrarmarktsystems wurde ein erster Reformversuch der GAP bereits 1968 anvisiert in Form eines Reformplanes des damaligen Kommissars Sicco Mansholt („Memorandum zur Reform der Landwirtschaft in der Europäischen Gemeinschaft“). Dem Ziel eines funktionierenden Agrarmarktes wurden die Förderung größerer Betriebseinheiten, die Aufgabe kleinbäuerlicher Betriebe sowie Ausgleichsprämien für stillgelegte Produktionsflächen zugeordnet. Dieser Plan einer Modernisierung landwirtschaftlicher Betriebe lag den vom Ministerrat 1972 beschlossenen Strukturrichtlinien zugrunde. Da aber weder die Preisgarantie noch die Mengenabnahmeverpflichtung geändert wurde, verstärkte sich dadurch sogar noch die Überschussproduktion. 41 Eine weitere Reform der GAP 1983/84 versuchte das Problem der enorm wachsenden Überschussproduktion aufgrund weiter bestehender Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage durch Begrenzung und Deckelung zu lösen, ohne den Grundmechanismus außer Kraft zu setzen.99 Stabilisierung und Reduzierung der Agrarproduktion sollten durch Einführung von Produktionsquoten und garantierten Höchstmengen – wie zB die Garantiemengenregelungen bei der Milch 1984100 oder später die Garantiemengenfestlegung für Getreide und Ölsaaten 1988 – bewirkt werden. Nach dem Beschluss des Europäischen Rates in Fontainebleau wurden die Agrarausgaben insgesamt gedeckelt und durften nicht mehr steigen als der Zuwachs der gemeinschaftlichen Eigenmittel insgesamt. 96 S. Görlach/Kindermann/Kreissl-Dörfler, S. 6. 97 Mit dieser Effizienzverordnung bekamen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, an diejenigen Landwirte eine Art Beihilfe zu zahlen, die sich zu einer wirtschaftlich effizienten und/oder einer die Umwelt erhaltenden Wirtschaftsweise verpflichtet hatten. Hierin kann man durchaus einen Vorläufer der späteren „Cross Compliance“-Regelungen sehen. Vgl. von Urff in Weidenfeld, S. 205, 213. 98 Art. 174 (Ziele) und Art. 175 (Kompetenzordnung) des EG-Vertrages, heute: Art. 191 und 192 AEUV; zur Umweltpolitik s. Roth-Behrendt/Nowak, Die Umweltpolitik der Europäischen Union in Weidenfeld, Die Europäische Union, 2006, S. 305 ff. 99 S. etwa Dauses/Ludwigs/Norer/Bloch HdBEUWiR G. Rn. 8. 100 Zum Milchquotenrecht s. Gehrke, Milchquotenregelung, 1996; Francois, Kontingentierung, 1997.

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In Folge des sogenannten Delors-Pakets, das im Zuge der Reform der Gemeinschaftsfi- 42 nanzen und der Strukturfonds auch die Reduzierung der Agrarausgaben vorsah, wurden auf einem Sondergipfel in Brüssel 1988 weitere Reformen beschlossen. Die Steigerung der Agrarausgaben wurde weiter gedrückt unter den Durchschnitt der Ausgabensteigerungen (und sollte damit jährlich höchstens noch 74 % der Steigerungsrate des BSP der Gemeinschaft betragen). Die Produzenten sollten jetzt an den Kosten der Überproduktion mitbeteiligt werden. Flächenstilllegungen, Extensivierungsprogramme, direkte Einkommensbeihilfen und Vorruhestandsanreize waren weitere Maßnahmen. Aber diese wie weitere Reformmaßnahmen, auch in Zusammenhang mit der Süderweiterung der Gemeinschaft, erzielten nicht die gewünschte durchschlagende Wirkung, da der Grundmechanismus des gemeinsamen Agrarmarktes – die Sicherung der bäuerlichen Einkommen über festgelegte Preise und der Mengenankauf – im Kern erhalten blieb.101 3. Die MacSharry-Reform 1992 Bereits im Grünbuch der Kommission über „Perspektiven der gemeinsamen Agrarpolitik“ 43 von 1985102 wurden Probleme benannt und weitreichendere Reformüberlegungen angestellt. Aber erst mit der MacSharry-Reform von 1992 gelang die erste wirkliche Abkehr vom alten System; sie stellte die Weichen für eine sukzessive Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik seit der Einführung der europäischen Agrarmarktordnungen. Diese war notwendig geworden, weil die GATT-Uruguay-Runde103 ab Mitte der 1980er-Jahre in die weltweite Liberalisierung des Warenverkehrs erstmals auch die Agrarprodukte einbezog. Die während der Verhandlungen unter Federführung von Agrarkommissar Ray MacSharry erzielten Ergebnisse in Hinblick ua auf Subventionsbeschränkung, Verbesserung des Marktzugangs, Reduzierung der internen Stützung zwischen Binnenmarkt und Weltmarkt waren Ausdruck für die Abkehr der GAP vom alten System der direkten Verknüpfung von Überschussankauf, Preisstützung und den Einkommen der Landwirte. Zum einen wurden die Preise für Agrarprodukte erheblich gesenkt (bei Rindfleisch um 15 % – bei Getreide um 29 %; hier wurden die Interventionspreise in drei Jahresraten um 33 % zurückgeführt), zum andern wurden Preise und landwirtschaftliche Einkommen teilweise entkoppelt. Zur Kompensation für die entgangenen Erlöse wurde verstärkt auf das System erzeugungsunabhängiger direkter Einkommensbeihilfen gesetzt.104 Allerdings werden die Ausgleichszahlungen nur bei gleichzeitiger Stilllegung von bisher mit Getreide, Ölsaaten oder Eiweißpflanzen bestellten Ackerflächen vorgenommen (Ausnahme Kleinerzeuger). Analog gilt das für Tiere: Direktzahlungen werden abhängig gemacht von der Anzahl der Tiere pro Futterfläche (Besatzdichtefaktor). Durch die direkten flächen- statt ertragsorientierten Beihilfen ist einerseits das Einkommen der Bauern weniger produktionsabhängig, andererseits werden weniger Anreize zur Produktionssteigerung gegeben.105 Hinzu kamen flankierende Maßnahmen wie die Umgestaltung der Vorruhestandsregelung

101 Mit den Erweiterungsrunden, der Reform der Strukturpolitik und der Einheitlichen Europäischen Akte als Grundlage der Einrichtung eines Gemeinsamen EU-Binnenmarktes und als logische Folge davon die Wirtschafts- und Währungsunion bis hin zum Vertrag von Maastricht 1992 gab es aber eine Reihe von Fortschritten. 102 Grünbuch „Perspektiven der gemeinsamen Agrarpolitik“ vom 23.7.1985, KOM(85) 333 endg.; vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Die Lage der Landwirtschaft in der Gemeinschaft. Bericht 1985, S. 71 ff. 103 Zur GATT und zur WTO s. Turek, Standort Europa in Weidenfeld, Die Europäische Union, 2006, S. 407 ff. 104 Oppermann/Classen/Nettesheim EuropaR § 24 Rn. 4. 105 Ausnahmeregelung: Für die fünf neuen Bundesländer als Ziel-1-Gebiete wurde ein regionaler Gesamtfonds eingerichtet.

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für Landwirte ab 55 Jahren (Frührente) oder Prämien für Umweltleistungen106 wie umweltverträgliche Produktionsmethoden und Aufforstungen. Die Abkehr vom bisherigen Interventionssystem, die teilweise Entkopplung und der Einbezug von Umweltschutzmaßnahmen in die landwirtschaftliche Produktion waren Anzeichen eines grundlegenden „Systemwandels“.107 44 In den darauffolgenden Jahren wurden Erfolge der Entkopplung sichtbar durch den Rückgang der Überschüsse,108 die Rückführung des Agraraußenhandelsdefizits, die Stabilisierung der Agrarmärkte, auch durch die Heranführung der europäischen Agrarpreise an das Niveau der Weltmarktpreise sowie die Anhebung des landwirtschaftlichen Durchschnittseinkommens. Allerdings bereiteten der beträchtliche Umfang der Beihilfen und der Anstieg der Direktzahlungen weiterhin hohe Probleme. 4. Die Agenda 2000 45 Die Reform von 1992 wurde – nach erfolgreichem Abschluss der Uruguay-Runde und daran orientierten Anpassungsmaßnahmen an Vorgaben des GATT/WTO-Abkommens109 – mit der Agenda 2000110 fortgeführt. Neben der Festlegung des künftigen Finanzrahmens der Gemeinschaft 2000–2006, der Ausrichtung auf die bevorstehende EU-Erweiterung durch die zehn mittel- und osteuropäischen Staaten und die Neuordnung der künftigen EU-Strukturpolitik stand die Weiterentwicklung der GAP auf der Agenda. Hierbei sollte der mit der MacSharry-Reform 1992 begonnene Reformweg unter veränderten Bedingungen konsequent weiter beschritten werden.111 46 Mit dem am 25.3.1999 in Berlin beschlossenen Reformpaket sollte der landwirtschaftliche Bereich an die Herausforderungen von EU-Erweiterung, Globalisierung des Agrarhandels, stärkerer Wettbewerbsfähigkeit und Strukturwandel ländlicher Räume angepasst werden.112 Dem Problem der Finanzlasten des EU-Haushaltes durch die Agrarausgaben wurde durch die Begrenzung der Agrarausgaben im Rahmen der Haushaltskonsolidierung113 auf real durchschnittlich 40,5 Mrd. EUR pro Jahr (für sogenannte Marktmaßnahmen) begegnet. Hinzu kamen für die ländliche Entwicklung etwa 13 Mrd. EUR. Hinsicht-

106 Durch Art. 130 r der Einheitlichen Europäischen Akte war die Rechtsgrundlage für die umweltpolitischen Kompetenzen der damaligen EG geschaffen worden. 107 Dauses/Ludwigs/Norer/Bloch HdBEUWiR G., Rn. 11; Leidwein, S. 77; vgl. auch Colemann/ Tangermann Journal of Common Market Studies, Vol. 3 (1999), 385 ff. 108 So reduzierten sich die Getreide-Interventionsbestände im Zeitraum von 1992/93–1994/95 von 33 Mio. Tonnen auf 9 Mio. Tonnen; der Rindfleischberg von 1 Mio. Tonnen reduzierte sich bis 1995 auf nur noch 20.000 Tonnen, s. Görlach/Kindermann/Kreissl-Dörfler, S. 10. 109 Krüdewagen VR 2000, 193. Weitere Stationen waren 1995 das Strategiepapier für die Landwirtschaft der Kommission im Rahmen des Europäischen Rates von Madrid und der Kohäsionsbericht der Kommission 1996 – in beiden werden eine Weiterentwicklung der GAP, eine größere Marktorientierung und der Einbezug der Entwicklung ländlicher Räume gefordert. 110 Mitteilung der Europäischen Kommission „Agenda 2000: eine stärkere und erweiterte Union“ vom 16.7.1997; am 18.3.1998 legte dazu die EU-Kommission eine Reihe von Legislativvorschlägen („Legislativpaket“) vor, um nach der politischen Entscheidung die Ziele möglichst bald in Rechtsinstrumente umsetzen zu können. Vgl. auch Santer, Agenda 2000 – für eine stärkere und erweiterte Union, S. 21 ff. sowie Kühnhardt, Die Europäische Union zwischen Reformerfordernissen und Erweiterungserfolgen: Zur Ausgestaltung der Agenda 2000, S. 33 ff., beide in Wittschorek, Agenda 2000: Herausforderungen an die Europäische Union und an Deutschland, 1999. 111 S. dazu Lehner, „Agenda 2000“, Erweiterung und Reform der EU: Der strategische Ansatz der Europäischen Kommission in Caesar/Scharrer, S. 9 ff. 112 Vgl. Lückemeyer in Caesar/Scharrer, S. 163 ff.; vgl. auch Thalheim AgrarR 1999, 229 ff. 113 Das diente auch der Reduzierung der Belastungen der Nettozahlungen von Mitgliedsländern, insbes. Deutschlands.

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lich der preislichen Wettbewerbsfähigkeit114 wurden weitere Reduzierungen der Marktstützungspreise (schrittweise) vorgenommen.115 Im Gegenzug wurde der Anteil der direkten Einkommensbeihilfen für Landwirte erhöht und damit das Einkommensniveau in etwa gesichert. Damit wurde der Weg sukzessiver Abkopplung der Einkommen von der Produktion fortgesetzt. Die obligatorische Flächenstilllegung, für die ein Regelsatz von 10 % beschlossen wurde, kann freiwillig auf bis zu ein Drittel der Grundfläche erhöht werden. Nach der „horizontalen Verordnung“116 steht den Mitgliedstaaten die Möglichkeit offen, die Zahlung der direkten Einkommensbeihilfen von der Einhaltung spezifischer Umweltauflagen abhängig zu machen (fakultative Cross Compliance).117 Auch eine Reihe unterschiedlicher sozial-ökonomischer Bedingungen/Auflagen ermöglicht die Kürzung direkter Beihilfen (Modulation). Zu der ersten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik wird mit der Verordnung über die 47 Entwicklung des ländlichen Raumes eine 2. Säule gebildet. Hier lag die Einsicht zugrunde, dass die Agrarproduktion nach wie vor ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im ländlichen Raum ist, der Landwirtschaftssektor aber gerade gegenüber früher ein kleiner werdender Bereich der Gesamtwirtschaft ist. Ländliche Räume müssen daher durch die gesamte Wertschöpfungskette der Lebensmittelwirtschaft sowie durch weitere Branchen an ökonomischer Lebensfähigkeit gewinnen. Die 2. Säule der GAP soll diesem multifunktionalen Charakter ländlicher Regionen Rechnung tragen (Stärkung der Agrarstrukturpolitik). Mit der Agenda 2000 wurde der „Systemwandel“ in der GAP fortgesetzt. Grundsätzlich 48 hielt die Agenda 2000 jedoch am Ziel der Einkommenssicherung durch staatliche Preisund Mengenbeeinflussung fest. Die Kritik der Bauernverbände118 richtete sich zunehmend aber darauf, dass bei der sukzessiven Entkopplung die Direktzahlungen nicht den Verlust durch die Preissenkungen auffangen würden. Die EU-Kommission stand umgekehrt jedoch unter dem Druck, dass sie aufgrund der finanziellen Ausgabendynamik das alte Marktordnungssystem reformieren musste und gleichzeitig eine Perspektive entwickeln musste, wie nach der Erweiterungsrunde um die MOE-Staaten die Mittel auf mehr Länder angemessen zu verteilen sein könnten.119 Schließlich wurde durch die Erweiterung der Union die landwirtschaftliche Fläche um 44 %, die Ackerfläche um 55 % erhöht. Hinzu 114 Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit einheimischer Agrarerzeugnisse einschließlich der Stimulierung der Binnennachfrage und größerer Exportfähigkeit war das strategische Ziel der EU-Kommission; dazu passte der frühere Weg der Intervention und Kontrolle der Erzeugung durch Mengenbegrenzung immer weniger, s. Ahner, Die agrarpolitischen Aspekte der Agenda 2000, in Wittschorek, Agenda 2000: Herausforderungen an die Europäische Union und an Deutschland, 1999, S. 49. 115 Für Getreide um 15 %, Milch/Milcherzeugnisse um 15 % der Interventionspreise ab 2005 sowie Aufstockung der Quoten um 1,5 %, bei Rindfleisch Beibehaltung des Interventionspreises, aber Kürzung des Grundpreises um 20 % und zudem Schlachtprämien, bei Wein wird das Verbot von Neupflanzungen bis 2010 ausgedehnt und über die neue Marktordnung die kontrollierte Aufstockung des Weinbaupotentials erreicht. 116 Die Ergebnisse des Berliner Gipfels vom März 1999 wurden von der Kommission eingearbeitet, die entsprechenden Verordnungen wurden vom Ministerrat am 17.5.1999 beschlossen. Neben der Verordnung zu Cross Compliance/Modulation wurde mit einer zweiten horizontalen Verordnung die Verwaltung des Europäischen Ausgleichs- und Garantiefonds EAGFL auf das Ziel der Dezentralisierung neu geordnet. 117 Die Umsetzung von Cross Compliance sollte durch das landwirtschaftliche Fachrecht erfolgen. Im deutschen Agrarrecht existierte dazu bereits eine Reihe von Vorschriften „der guten fachlichen Praxis“, wobei die Anforderungen zumeist über dem EU-Durchschnitt liegen. Vgl. Lückemeyer in Caesar/ Scharrer, S. 167 f.; s. auch Karnitschnig AgrarR 2002, 101 ff. 118 S. dazu Born in Wittschorek, S. 59 ff. Zur Kritik aus ökonomisch-ordnungspolitischer Sicht s. Henze in Caesar/Scharrer, S. 178 ff. 119 S. Schmitz/Wronka in Wittschorek, S. 81 ff. Die konkreten landwirtschaftlichen Beitrittsbedingungen für die MOE-Länder wurden auf dem Gipfel in Kopenhagen 2002 festgelegt. Dabei wurde auf deren konkrete Situation eingegangen. Die MOE-Staaten (Mittel- und osteuropäische Staaten: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn und Zypern) erhielten für ihre

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§ 7 Agrarrecht kam, dass durch Seuchen – BSE, Maul- und Klauenseuche, Schweinepest – das Vertrauen der Verbraucher in die erzeugten Lebensmittel zurückging. Die darauf schwindende Konsumnachfrage und der Exportstopp der betroffenen Länder erzeugten weiteren Reformdruck. 5. Die Fischler-Reform 2003

49 Im Rahmen der Halbzeitbewertung der Agenda 2000 hatte die Kommission 2002 weitere Reformschritte vorgelegt, die den eingeschlagenen Weg fortführten.120 Die Fischler-Reform 2002/03 sollte die Agenda 2000 überprüfen und die GAP weiter modernisieren, die Überproduktion zurückführen, die Agrarbeihilfen an die zunehmende Liberalisierung der WTO anpassen, den Umwelt- und Gesundheitsschutz stärken und die Wirtschaftskraft ländlicher Räume verbessern. Mit den Luxemburger Beschlüssen vom 25.–26.6.2003 „GAP-Reform – Langzeitperspektive für eine nachhaltige Landwirtschaft“ wurde im Zuge der Neuausrichtung der GAP erstens im Kern eine Entkopplung von Agrarmarktbeihilfen und Produktion ab 2005 eingeführt.121 Statt der früheren Mengenregulierung mit ihren Anreizen zur Überproduktion aufgrund der Fördergelder wird nun ein mengenunabhängiges Fördersystem aufgebaut in Form einer einheitlichen Einkommensstützung für landwirtschaftliche Betriebe. Diese Betriebsprämie wird im Prinzip unabhängig davon gezahlt, was und wie viel produziert wird.122 Statt Prämienoptimierung über die Mengenproduktion (bei Getreide und Tieren) soll so eine stärkere Ausrichtung am Markt erfolgen. Als Zweites wurde neben der Entkopplung zugleich die Bindung der vollen Prämienauszahlung an die Einhaltung vorgeschriebener Standards im Umwelt-, Pflanzen-, Tierund Arbeitsschutz sowie an die Qualitätsmerkmale der Lebens- und Futtermittel (Sicherheit) vorgeschrieben (obligatorische Cross Compliance).123 Zum Dritten erfolgte eine Stärkung der zweiten Säule (Agrarstrukturmaßnahmen): Die durch die obligatorische Modulation der Direktzahlung bei der ersten Säule eingesparten Mittel, die zu 80 % bei den Ländern verbleiben, können im Rahmen der Modulation für die Entwicklung ländlicher Räume umgeschichtet werden. Dazu wurde der Maßnahmenkatalog der ländlichen Entwicklung erweitert.

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Agrarprodukte den vollen und sofortigen Zugang zum Gemeinsamen Markt. Ebenso sollten sie am Interventionssystem teilnehmen. Die Direktzahlungen sollten mit sukzessiver Steigerung über einen Zeitraum von zehn Jahren eingeführt werden, beginnend ab dem Jahr 2004 mit 25 %. Der Beitritt der 10 MOE-Staaten zur Europäischen Union erfolgte am 1.5.2004. Zu den von Agrarkommissar Fischler im Juli 2002 vorgelegten Punkten wurden im Januar 2003 Verordnungsvorschläge vorgelegt. Die dann vom Ministerrat im Juni 2003 getätigten Beschlüsse weichen allerdings aufgrund der verschiedenen Interessen der Mitgliedsstaaten deutlich von den Kommissionsvorschlägen ab. Allerdings erfolgte die Entkopplung nicht vollständig und obligatorisch. Die Mitgliedstaaten können bis 25 % bei Ackerkulturen die Kopplung aufrechterhalten. Bei den Marktordnungen wurde der Interventionspreis für Getreide beibehalten, die Intervention für Roggen eingestellt, für Hartweizen gekürzt, die Senkung des Interventionspreises für Butter soll 25 % umfassen mit einer Verteilung auf vier Jahre, weitere spezielle Regelungen gab es ua bei Rindern, Schafen und Ziegen sowie bei den sog Mittelmeerprodukten Oliven, Baumwolle, Hopfen, des Weiteren bei Zucker und Tabak. Zur Betriebsprämienregelung s. BMELV, Meilensteine der Agrarpolitik, S. 17 ff. Den Mitgliedstaaten wurde dabei die Wahlmöglichkeit geboten zwischen der Orientierung an historischen Produktionsmengen oder an regionalen Flächengrößen. Für Deutschland wird nach einer Übergangszeit mit Geltung eines Kombinationsmodells das Regional- oder Flächenmodell – Einführung von regional einheitlichen Hektarprämien – gemäß eines Mehrheitsbeschlusses von Bund und Ländern angestrebt, um so auch ein transparentes System der Direktzahlungen zu schaffen. BMELV, Meilensteine der Agrarpolitik, S. 13 ff. und S. 73 ff. Das betriebliche Beratungssystem muss spätestens ab 2007 funktionsfähig sein. S. auch BMELV, Die EU-Agrarreform – Umsetzung in Deutschland, 2006; Neumann in Härtel, Kap. 21 Rn. 100.

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Die große Zahl von Programmen, Planungssystemen, Finanzstrukturen und Kontrollsyste- 50 men war nicht mehr effizient beherrschbar. Deshalb wurde im Zuge der Verwaltungsmodernisierung und -vereinfachung der Rechtsrahmen erneuert. Ergebnis war ua die Bildung von zwei Fonds, dem Europäischen Garantiefonds für Landwirtschaft (EGFL) und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER). Auch mit den Maßnahmen zur Entkopplung bleibt die Gemeinsame Agrarpolitik vor al- 51 lem hinsichtlich der Einkommen ein Rahmenstützungssystem für die Landwirte, allerdings mit stärkerer Orientierung an den Märkten, an ökologischen Standards und an den Belangen von Verbrauchern; darüber hinaus wird sie zugleich immer mehr zu einer Entwicklungs- und Strukturpolitik für ländliche Räume. Doch darf nicht übersehen werden, wie sehr sich dabei die neue GAP strukturell von der alten GAP unterscheidet. Das zeigt ein Vergleich der Struktur der EU-Agrarhaushalte von 1991 und 2007,124 die den Wandel von Marktstützung zu den weitgehend entkoppelten direkten Beihilfen verdeutlicht. So war die Haushaltsstruktur 1991 gekennzeichnet durch 9 % Direktzahlungen und 91 % Marktstützung (bei 0 % ländliche Entwicklung). Dagegen war die Haushaltsstruktur 2007 gekennzeichnet durch 64 % Direktzahlungen, 14 % Marktstützung und 22 % ländliche Entwicklung. 6. Health Check 2008 Im Zuge der GAP-Reform 2003 wurde beschlossen, im Jahr 2008 eine Halbzeit-Bewer- 52 tung der bisherigen Ergebnisse – den sogenannten Health Check – vorzunehmen.125 In der Sache ist der Health Check eine Folgenabschätzung im Sinne eines Bausteines einer guten europäischen Rechtsetzung.126 Allerdings wurden seitens der Kommission neben dem Ergebnismonitoring wieder weitere Korrekturen der GAP angestrebt. Auf der Basis der Kommissionsvorschläge vom 20.11.2007 „Vorbereitung auf den GAP-Gesundheitscheck“ (Health Check) 127 erzielte der EU-Agrarrat am 20.11.2008 eine politische Einigung über die Gesundheitsüberprüfung der GAP. Die Beschlüsse verstetigten im Grundsatz den eingeschlagenen Reformweg zu mehr Markt und die Unterstützung des ländlichen Raumes insgesamt. Erstens wurde die Milchquote in den Jahren 2009–2013 um 1 % jährlich erhöht (im Sinne des von den Beteiligten viel beschworenen „soft-landing“).128 Bestätigt wurde ihr endgültiges Auslaufen im Jahr 2015. Hinzu kam die Möglichkeit, mit Milchbegleitmaßnahmen (sogenannter Milchfonds) den Wandel abzufedern, die Wettbewerbsfähigkeit von Milchviehbetrieben und benachteiligten Gebieten besonders zu fördern. Die Finanzierung erfolgte vor allem durch Verwendung nicht genutzter Ausgabenreste bei den Direktzahlungen sowie aus der zusätzlichen Modulation. Zusammen mit der nationalen Kofinanzierung standen für flankierende Maßnahmen im Milchsektor für Deutschland bis 2013 etwa 1 Mrd. EUR zur Verfügung. Bei den Marktmaßnahmen wurden eher klei-

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S. DBV-Situationsberichte von 2003 und 2008. VO (EG) Nr. 72/2009 des Rates vom 19.1.2009, ABl. L 30 vom 31.1.2009, 1 ff. S. dazu Härtel Handbuch Europäische Rechtsetzung § 17 Rn. 13 ff., 35; Synthese, Rn. 56. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Vorbereitung auf den „GAP-Gesundheitscheck“, v. 20.11.2007, KOM(2007) 722 endg. 128 Verschiedene Mitgliedstaaten hatten sogar Quotenaufstockungen bis zu 15 % gefordert; für Italien gab es eine Sonderregelung, wonach die gesamte 5 % Milchquotenerhöhung bereits im aktuellen Quotenjahr 2009/10 zur Abdeckung der eigenen Überlieferungen im Markt genutzt werden kann („Frontloading“). Zugleich wurde eine Super-Überschussabgabe für alle Mitgliedstaaten eingeführt. Außerdem gab es noch Anpassungen des Fettgehaltskorrekturfaktors.

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nere Korrekturen beschlossen.129 Straffungen gab es bei der Getreideintervention, weitere Entkopplungen bei spezifischen Agrarprodukten.130 53 Zu den wesentlichen Änderungen gehörte zweitens die Erhöhung der obligatorischen Modulation. Ab dem Jahr 2009 wurde die bisherige Basismodulation schrittweise von 2 % auf 5 % steigend auf insgesamt 10 % erhöht, wobei die eingesparten Mittel dem ländlichen Raum zugutekamen. Das bedeutet die stufenweise Kürzung aller Direktzahlungen ab 5.000 EUR (bis dahin Freibetrag). Zusätzlich erfolgte ab 2010 eine weitere Kürzung um 4 % bei Betrieben, bei denen die Direktzahlungen 300.000 EUR überschritten (sogenannte weitergehende progressive Modulation).131 Die Mittel dienten in erster Linie für die Bewältigung der neuen Herausforderungen Klimawandel, erneuerbare Energien, Biodiversität und Wasserwirtschaft, wodurch sich – gerade im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe – neue Einkommensquellen für die Landwirte erschlossen. Außerdem war die Mittelverwendung auch für Innovationen und zur Restrukturierung im Milchsektor vorgesehen. Auch innerhalb der ersten Säule konnten Mittel in stärkerem Maße als bisher umgelenkt werden, zB an Erzeuger in benachteiligten Gebieten oder Ernteversicherungen.132 Der EuGH hat in seinem Urteil vom 14.3.2013 in der Rs. Agrargenossenschaft Neuzelle133 keine primärrechtlichen Bedenken gegen die Ausgestaltung der Modulation gehegt. Die vom Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) im Vorabentscheidungsersuchen vorgetragenen Zweifel an der Vereinbarkeit der Basismodulation (Art. 7 Abs. 1 VO 73/2009) mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und die Zweifel an der Vereinbarkeit der weitergehen-

129 So gab es den Wegfall der Verbrauchsbeihilfen für Butter, die Abschaffung der obligatorischen privaten Lagerhaltung für Käse und die fakultative Gewährung von Beihilfen im Magermilchbereich; aber entgegen den Kommissionsvorschlägen, die auf ein geringes Mindestsicherungsniveau im Milchmarkt abzielten, wurde die derzeitige Interventionsregelung zum Ankauf bei Butter und Magermilchpulver beibehalten, ebenso die obligatorische Beihilfe für die private Lagerhaltung bei Butter. 130 Auch noch nach 2010 bleibt das gegenwärtige Regime der Intervention als Sicherheitsnetz bis zu einer Menge von 3 Mio. t Weizen erhalten. Darüber hinaus gehende Mengen unterliegen einem Ausschreibungsverfahren zu regionalen Preisen. Entkopplungen wurden vereinbart bei Verarbeitungsbeihilfen für Kartoffelstärke, Trockenfutter, Flachs, Hanf (2012), der Erzeugerbeihilfen bei Olivenöl (2010), Reis, Schalenfrüchte, Saatgetreide, Eiweißpflanzen, Stärkekartoffeln (2012) sowie Abschaffung der Produktionserstattungen und der bürokratieaufwendigen Energiepflanzenprämie. 131 Ursprünglich sollte nach den Vorstellungen der Kommission betriebsgrößenabhängig um bis zu 17 % gekürzt werden. Für Deutschland hätte das Einbußen bis zu 425 Mio. EUR bedeutet; durch die ausgehandelte Reduzierung sind mehr als die Hälfte aller deutschen Betriebe nicht von den Kürzungen betroffen, die Gesamtbelastungen für Deutschland belaufen sich auf 240 Mio. EUR (davon entfallen 68 Mio. EUR auf die Progression, dh 1.800 Betriebe von 375.000 Betrieben in Deutschland). 132 Bei der Neufassung (in der VO (EG) Nr. 73/2009 [Direktzahlungen-Verordnung]) kam es zu einigen Änderungen: so wurden angesichts der „Tank- oder Teller“-Diskussion die bereits ein Jahr zuvor ausgesetzten Flächenstilllegungen abgeschafft und Hilfen für Sektoren mit besonderen Problemen beschlossen (sog „Art. 68“-Maßnahmen), „Gesundheitscheck“ der Gemeinsamen Agrarpolitik, http://ec. europa.eu/agriculture/healthcheck/index_de.htm. Nach der alten Rechtslage konnten die Mitgliedstaaten 10 % des jedem Sektor entsprechenden Anteils der nationalen Obergrenze für Direktzahlungen einbehalten und in dem betreffenden Sektor für Umweltschutzmaßnahmen oder Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität und der Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse einsetzen. Um mehr Flexibilität zu erreichen, müssen die Mittel nicht mehr in denselben Sektor zurückfließen, sondern können zur Verfügung gestellt werden, um Nachteile in bestimmten Regionen auszugleichen, die auf die Erzeugung von Milch, Rindfleisch, Schaf- und Ziegenfleisch sowie Reis spezialisiert sind, oder um Ansprüche in Bereichen aufzustocken, die unter Umstrukturierungs- und/oder Entwicklungsprogramme fallen, vgl. Art. 68 der VO (EG) Nr. 73/2009 (Direktzahlungen-Verordnung). Weitere Einsatzmöglichkeiten sind Maßnahmen im Bereich des Risikomanagements, etwa Ernteversicherungsregelungen, die bei Naturkatastrophen greifen, oder Fonds auf Gegenseitigkeit, die beim Ausbruch von Tierseuchen helfen. 133 EuGH 14.3.2013 – C-545/11, ECLI:EU:C:2013:169 – Agrargenossenschaft Neuzelle = EuZW 2013, 228 = GRUR 2013, 182; ausführlicher zum Vorabentscheidungsersuchen s. Härtel, in Voraufl., § 7 Rn. 148 ff.

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den progressiven Modulation (Art. 7 Abs. 2 VO 73/2009) mit dem Diskriminierungsverbot nach Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV hat der EuGH nicht geteilt. Drittens wurden weitere Vereinfachungen bei Cross Compliance134 erzielt, so beim Was- 54 sermanagement oder den Auflagen bei den Flächen hinsichtlich eines guten ökologischen und landwirtschaftlichen Zustands. Die Kommission verpflichtete sich in einer Protokollerklärung, die Vereinfachungsbestrebungen bei Cross Compliance fortzuführen. Die Beschlüsse im Rahmen des Health-Check haben sich in der Umsetzung bis 2011 hingezogen. 7. GAP-Reform 2014–2020 Bei der Reform der GAP für den Förderzeitraum 2014–2020 handelt es sich um die erste 55 Agrarreform der EU, bei der das Europäische Parlament neben dem Rat Gesetzgeber war und die EU-Kommission einen öffentlichen Konsultationsprozess durchgeführt hatte. Nach einer umfangreichen öffentlichen Debatte im Jahr 2010, an der sich über 55.000 Bürger, Interessenverbände, Organisationen der Zivilgesellschaft und spezifische Think Tanks beteiligt hatten, veröffentlichte die EU-Kommission am 18.11.2010 die Mitteilung „Die GAP bis 2020: Nahrungsmittel, natürliche Ressourcen und ländliche Gebiete – die künftigen Herausforderungen“.135 Am 12.10.2011 präsentierte die Kommission ihre Vorschläge für die Reform. Die neuen EU-Agrargesetzgebungsakte wurden allerdings erst – nach mehr als 40 trilateralen Verhandlungen zwischen Agrarrat, EU-Kommission und Europäischem Parlament und der verzögerten Einigung auf den mehrjährigen Finanzrahmen – am 20.12.2013 veröffentlicht. Nach dem Wortlaut der Verordnungen sollten sie seit dem 1.1.2014 gelten. Doch es bedurfte noch der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, so dass die GAP-Reform erst seit 1.1.2015 wirksam werden konnte. Aufgrund dieser zeitlichen Verzögerungen bedurfte es Übergangsregelungen.136 Zu den langfristigen Hauptzielen dieser GAP-Reform gehörten: rentable Lebensmittelproduktion, nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen sowie ausgewogene räumliche Entwicklung. Die Nachhaltigkeit wird gesteigert, indem neben dem Instrument Cross Compliance das neue Beihilfeelement „Greening“ (Ökologisierungszuschlag) eingeführt wurde.137 Auf das Greening entfallen 30% des nationalen Finanzrahmens für Direktzahlungen im Rahmen der ersten Säule der GAP. Eine Stärkung der Nachhaltigkeit im Rahmen der zweiten Säule der GAP liegt darin, dass in jedem Programm für die ländliche Entwicklung mindestens 30% der Mittel für freiwillige Maßnahmen reserviert werden müssen, die für Umwelt- und Klimaschutz von Nutzen sind. Dazu gehören insbesondere Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen, ökologischer Landbau, Maßnahmen in Natura-2000-Gebieten. Diese Maßnahmen werden auf lokale Bedürfnisse zugeschnitten und sollen damit zur Umweltverbesserung und zum Klimaschutz beitragen.138 Kritische politische Bewertungen der Wirkung der Agrarreform 2014–2020 und der Gesetzgebungsprozess für die GAP 2021–2027 haben bereits begonnen (dazu → Rn. 168 ff.).

IV. Kompetenzgrundlagen für die europäische Agrargesetzgebung Die Regelungsgegenstände des europäischen Agrarrechts sind vielfältig und haben auf- 56 grund der ständigen Fortentwicklungen im Bereich der multifunktionalen Landwirtschaft 134 Zum Bürokratieabbau s. Mitteilung der Kommission „Eine vereinfachte GAP für Europa – ein Erfolg für uns alle“, KOM(2009) 128/3, insbesondere 3.6. Cross Compliance. Die Kommission schlägt eine Zusammenfassung aller Cross Compliance-Vorschriften in einem Rechtsakt vor. 135 KOM(2010) 673 endg. 136 Krüger/Haarstrich AUR 2015, 129. 137 Vgl. hierzu auch Erjavec/Erjavec, „Greening“, in Schmid/Vogel, S. 43 ff.; Martínez NuR 2013, 690 ff. 138 Europäische Kommission, Überblick über die Reform der GAP 2014–2020, 2013, S. 2 ff.

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einen hohen Grad an Komplexität erreicht. Die agrarpolitischen Rahmenbedingungen fallen nicht nur in den Anwendungsbereich der Gemeinsamen Agrarpolitik hinein, sondern berühren auch andere Politikfelder der Union.139 Für die Agrargesetzgebung der Europäischen Union stellt der Kompetenztitel zur Gemeinsamen Agrarpolitik zwar die Hauptkompetenz dar. Allerdings müssen auch verschiedene Regelungsbereiche des Agrarrechts, die nicht oder nicht allein von der Agrarkompetenz abgedeckt werden, auf andere Kompetenzen gestützt werden. Die Abgrenzung zwischen verschiedenen möglichen Kompetenzen ist von praktischer Bedeutung. So spielt die Zuordnung zu einem Politikbereich für die Qualifizierung der Zuständigkeitsart eine Rolle (vgl. dazu Art. 2 ff. AEUV), also ob der Unionsgesetzgeber etwa die ausschließliche oder geteilte Zuständigkeit hat oder ob etwa nur Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen ergriffen werden dürfen.140 Zugleich hängen von der Rechtsgrundlage der zulässige Regelungsumfang und -inhalt wie auch die Regelungsdichte ab, aber auch die einschlägigen Verfahrensmodi, das heißt welches Gesetzgebungsverfahren und welche Beschlussfassung in den Gesetzgebungsorganen anwendbar sind. Außerdem können die Voraussetzungen für Schutzklauseln und Schutzergänzungsklauseln in den Mitgliedstaaten je nach Rechtsgrundlage unterschiedlich streng sein. 57 Aufgrund der Verknüpfungen der agrarrelevanten Rahmenbedingungen mit anderen Politikfeldern und Aufgaben der Union gilt es das Verhältnis der Agrarkompetenz zu anderen Rechtsetzungskompetenzen der Union näher zu beleuchten. Grundsätzlich muss sich die Wahl der Rechtsgrundlage durch den Unionsgesetzgeber auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände stützen, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsaktes zählen.141 Kommen für einen Rechtsakt mehrere Rechtsgrundlagen in Betracht und stehen die Grundlagen nicht in einem Subsidiaritäts- oder Spezialitätsverhältnis zueinander, dann ist für die Kompetenzabgrenzung der Hauptzweck142 bzw. der Schwerpunkt der Regelung maßgeblich. Lässt sich anhand des Schwerpunktes keine Zuordnung durchführen, da mit dem Rechtsakt gleichgewichtig zwei/mehrere Sachkomplexe geregelt bzw. Zwecke verfolgt werden (sollen), drängt sich eine Doppel- bzw. Mehrfachabstützung auf.143 1. Agrarpolitik 58 Im Bereich der Landwirtschaft144 teilt die Union ihre Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. d AUEV). Bei der geteilten Zuständigkeit können die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten nur tätig werden, soweit und sofern die Union auf diesem Gebiet von ihrer Kompetenz keinen Gebrauch gemacht

139 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 37. 140 Zu den unterschiedlichen Kompetenzarten s. insbesondere Streinz, Die Kompetenzordnung in der föderalen Europäischen Union, in Härtel Handbuch Föderalismus, Bd. 4, 2012, § 85 mwN. 141 Sr. Rspr., s. zB EuGH 26.3.1987 – C-45/86, Slg 1987, I-1493, Rn. 11 = NJW 1987, 3073; EuGH 26.3.1996 – C-271/94, Slg 1996, I-1689, Rn. 14 = EuZW 1996, 416; EuGH 10.12.2002 – C-491/01, Slg 2002, I-11453, Rn. 93 – British American Tabacco = DVBl. 2003, 414; EuGH 26.1.2006 – C-533/03, Slg 2006, I-1025, Rn. 43 = HFR 2006; UR 2006, 654. Zum Ganzen s. insbesondere Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, § 3 Rn. 664 ff.; Streinz/Streinz EUV/AEUV EUV Art. 5 Rn. 11; Calliess/ Ruffert/Calliess EUV/AEUV EUV Art. 5 Rn. 10; Kahl, Der Rechtsgrundlagenstreit vor dem Gerichtshof – „Fortsetzung folgt …“ in Müller-Graff/Schmahl/Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel, FS für D. Scheuing, 2011, S. 92 ff. 142 EuGH 17.3.1993 – C-155/91, Slg 1993, I-939, Rn. 20 = NJW 1993, 3188; EuGH 9.10.2001 – C-377/98, Slg 2001, I-7079, Rn. 27 = NJW 2002, 2455. 143 Zur Behandlung dieser s. Härtel in Niedobitek, § 6 Rn. 95 ff., 107–109; Calliess/Ruffert/Korte EUV/ AEUV AEUV Art. 114 Rn. 142; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, § 3 Rn. 673 ff. 144 Und Fischerei mit Ausnahme der Erhaltung der biologischen Meeresschätze.

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hat.145 Folge der geteilten Zuständigkeit ist die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 EUV), das in einigen Bereichen für eine gewisse Renationalisierung der Agrarpolitik streiten könnte.146 In der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur GAP hat es bislang jedoch keine Rolle gespielt. Während früher im Bereich der GAP der Rat das Hauptrechtsetzungsorgan war und das 59 Europäische Parlament lediglich über ein Anhörungsrecht verfügte, ist das Parlament mit dem Lissabon-Vertrag auch im Bereich der GAP zum Mitgesetzgeber geworden. So legen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte sowie die anderen Bestimmungen fest, die für die Verwirklichung der Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik notwendig sind (Art. 43 Abs. 2 AEUV). Vom ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in der Gemeinsamen Agrarpolitik bestehen jedoch zwei Ausnahmen. Zum einen ist in Art. 43 Abs. 3 AEUV festgelegt: „Der Rat erlässt auf Vorschlag der Kommission die Maßnahmen zur Festsetzung der Preise, der Abschöpfungen, der Beihilfen und der mengenmäßigen Beschränkungen“. Zum anderen erlaubt Art. 42 Abs. 2 AEUV dem Rat, auf Vorschlag der Kommission, Ausnahmetatbestände für die Zulässigkeit von Beihilfen festzulegen a) zum Schutz von Betrieben, die durch strukturelle oder naturgegebene Bedingungen benachteiligt sind, oder b) im Rahmen wirtschaftlicher Entwicklungsprogramme. Die rechtliche Abgrenzung dieser beiden selbstständigen Rechtsgrundlagen bereitet aller- 60 dings Schwierigkeiten, wie die Judikatur des EuGH147 belegt. Nach der EuGH-Rechtsprechung148 sei Art. 43 Abs. 2 AEUV die richtige Rechtsgrundlage für Maßnahmen, „die eine dem Unionsgesetzgeber vorbehaltene politische Entscheidung voraussetzten, weil sie zur Verwirklichung der mit der gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik der Union angestrebten Ziele notwendig sind“. Hingegen seien Maßnahmen, deren Erlass dem Rat gem. Art. 43 Abs. 3 AEUV vorbehalten seien, „in erster Linie technischen Charakters“.149 Die künftige konkrete Anwendung der Topoi des EuGH wird mit Rechtsunsicherheiten verbunden sein. Generalanwalt Maciej Szpunar hat in seinen Schlussanträgen beispielhaft treffend die Frage aufgeworfen „Wie soll man z.B. eine Maßnahme einstufen, die technisch erscheint, aber erhebliche budgetäre Auswirkungen hat? Handelt es sich dabei nicht auch um eine Maßnahme, die eine ‚politische Entscheidung‘ einschließt?“150 Bei der Suche nach einer weiteren Erhellung der Abgrenzung von Art. 43 Abs. 2 AEUV und Art. 43 Abs. 3 AEUV könnte man auch an die Wesentlichkeitsdoktrin des EuGH denken. Danach müssen die „wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie“ durch einen Basisrechtsakt geregelt werden und dürfen nicht delegiert werden.151 145 Vgl. Art. 2 Abs. 2 AEUV. 146 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV Art. 43 Rn. 5; Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 43 Rn. 21. 147 EuGH – verb. Rs. C-124/13 und C-125/13, ECLI:EU:C:2015:790 – Kabeljau; EuGH – verb. Rs. C-103/12 und C-165/12, ECLI:EU:C:2014:2400 – Venezuela; EuGH – C-113/14, ECLI:EU:C:2016:635 – Deutschland/Parlament und Rat; EuGH – C-113/14, ECLI:EU:C:2016:635 – Bundesrepublik Deutschland/Europäisches Parlament und Rat; hierzu Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 43 Rn. 16–19. 148 EuGH C-113/14, ECLI:EU:C:2016:635 Rn. 54 mwN – Deutschland/Parlament und Rat. 149 EuGH C-113/14, ECLI:EU:C:2016:635 Rn. 54 mwN – Deutschland/Parlament und Rat. 150 Schlussanträge des Generalanwalts Maciej Szpunar v. 20.4.2016 – C-113/14, ECLI:EU:C:2016:279 Rn. 65 – Bundesrepublik Deutschland/Parlament und Rat. 151 EuGH 25/70, Slg. 1970, 1161 (1172), Rn. 6 – Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide/Köster; vgl. Härtel Handbuch Europäische Rechtsetzung § 11 Rn. 11 ff. mwN; Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 43 Rn. 19.

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61 Auch im Haushaltsverfahren sind die Rechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments mit dem Lissabon-Vertrag gestärkt worden. Das alte EU-Recht unterschied mit Blick auf die Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments und des Rates danach, ob es sich um obligatorische oder nichtobligatorische Ausgaben handelte. Für die obligatorischen Ausgaben (1. Säule) besaß der Rat eine dominierende Rolle und für die nichtobligatorischen Ausgaben (2. Säule) das Parlament. Nunmehr ist die Trennung von obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben aufgehoben worden und das Europäische Parlament und der Rat sind gemeinsam Haushaltsgesetzgeber (vgl. Art. 314 AEUV). Auch die für die Agrarfinanzierung bedeutsame „Finanzielle Vorausschau“, die vom Rat einstimmig zu beschließen ist, bedarf – erst seit dem Lissabon-Vertrag – der Zustimmung des Europäischen Parlamentes (s. Art. 312 AEUV).152 62 Infolge des gleichberechtigten Mitgesetzgebungsrechts des Europäischen Parlaments ist das demokratische Legitimationsniveau des GAP-Sekundärrecht gesteigert worden. Damit verbunden sind zugleich eine Erhöhung des Komplexitätsgrades des politischen Aushandlungsprozesses und eine zeitliche Verlängerung des Gesetzgebungsverfahrens im Vergleich zum früheren Verfahren der Anhörung des Parlaments. 63 Der Umfang der Rechtsgrundlage für Rechtsakte auf dem Gebiet der Gemeinsamen Agrarpolitik gem. Art. 43 Abs. 2 AEUV ist, wie der EuGH zur Vorgängervorschrift (Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EGV) feststellte, weit auszulegen.153 Danach kann die Union letztlich jeden Bereich, sofern dieser für die Durchführung der GAP relevant ist, kompetenzrechtlich regeln. Es sind alle Maßnahmen erfasst, sofern sie im Schwerpunkt eines oder mehrere Ziele der GAP verfolgen,154 auch wenn zugleich Ziele verfolgt werden, die außerhalb der GAP liegen.155 Die Rechtsprechung betont die Vorrangstellung der Vorschriften über die Landwirtschaft, wie sie in Art. 32 Abs. 2 EGV (entspricht heute Art. 38 Abs. 2 AEUV) zum Ausdruck komme.156 Dennoch bestehende Abgrenzungsprobleme zu anderen Kompetenzen, wie vor allem zur Harmonisierungs- oder der Umweltkompetenz, haben sich nach der Einführung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auch für den Bereich der Landwirtschaft mit dem Vertrag von Lissabon entschärft.157 64 Agrarrechtliche Maßnahmen der Union, die sich auf die Kompetenznorm des Art. 43 Abs. 2 AUEV stützen, müssen mindestens eines der Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik verwirklichen bzw. fördern. Die Ziele der GAP, die seit den Römischen Verträgen von 1957 unverändert sind, wurden in Anlehnung an das deutsche Landwirtschaftsgesetz von 1955 formuliert158 und erstrecken sich gem. Art. 39 Abs. 1 AEUV auf: a) die Steigerung der Produktivität, b) die Gewährleistung einer angemessenen Lebenshaltung der in der Landwirtschaft tätigen Personen, c) die Stabilisierung der Märkte, d) die Sicherstellung der Versorgung und e) angemessene Verbraucherpreise. 152 S. auch Krüger in Härtel, Kap. 6 Rn. 227. 153 EuGH 23.2.1988 – C-68/86, Slg 1988, I-855, Rn. 14 – Hormone = NJW 1989, 1425; EuGH 23.2.1988 – C-131/86, Slg 1988, I-905, Rn. 19 – Legehennen = EuR 1988, 294; EuGH 16.11.1989 – C-131/87, Slg 1989, I-3743, Rn. 10 = NJW 1990, 2925; EuGH 25.2.1999 – C-164, 165/97, Slg 1999, I-1139 = NuR 2000, 148 = ZUR 1999, 223. 154 EuGH 23.2.1988 – C-68/86, Slg 1988, I-855, Rn. 14 – Hormone = NJW 1989, 1425; EuGH 23.2.1988 – C-131/86, Slg 1988, I-905 – Legehennen. 155 Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 37 Rn. 5. 156 Mögele ZEuS 2000, 79. 157 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 43 Rn. 6. 158 Weingarten APuZ 5–6/2010, 6.

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Bei der Konkretisierung der Ziele verfügt der Unionsgesetzgeber über ein weites Ermessen.159 Er muss nicht alle Ziele zeitgleich verfolgen. Es besteht aber auch keine Hierarchie zwi- 65 schen den verschiedenen Zielen, die in ein Spannungsverhältnis zueinander treten können (zB angemessene Lebenshaltung der Landwirte und angemessene Verbraucherpreise). Vielmehr kann der Gesetzgeber aus politischen und wirtschaftlichen Gründen bestimmte Ziele prioritär verfolgen.160 Das gesetzgeberische Ermessen ist erst überschritten, wenn nur eines der Ziele isoliert verfolgt und damit die Verwirklichung eines der anderen Ziele unmöglich gemacht wird.161 Der Wortlaut zu den Zielen der GAP nach Art. 39 AEUV ist zwar seit den Römischen 66 Verträgen unverändert geblieben. Allerdings hat sich das primärrechtliche Umfeld verändert, das sich wiederum auf die Ausgestaltung der GAP auswirkt. Denn es würde der Konzeption der Verträge widersprechen, einen Politikbereich isoliert von anderen zu verfolgen. Es besteht eine Wechselwirkung mit weiteren Aufgaben und Zielen, so dass diese allgemeinen Ziele, wie Schaffung eines Binnenmarktes, nie völlig verdrängt werden können. Daher können (und müssen) bei der Gestaltung der GAP durchaus auch die anderen Ziele der Union berücksichtigt werden.162 Darüber hinaus sind die agrarpolitischen Ziele vor allem im Lichte der – im Zuge der Weiterentwicklung des Primärrechts – verankerten Querschnittsklauseln auszulegen. Bedeutsam sind dabei insbesondere die Querschnittsklauseln zum Umweltschutz (Art. 11 AEUV),163 Tierschutz (Art. 13 AEUV), Verbraucherschutz (Art. 12 AEUV), Sozialschutz (Art. 9 AEUV), Gesundheitsschutz (Art. 168 Abs. 1 AEUV) und zum wirtschaftlichen, sozialen sowie territorialen Zusammenhalt (Art. 175 Abs. 1 AEUV). Die Querschnittsklausel bzw. das Integrationsprinzip zum Umweltschutz nach Art. 11 AEUV weist im Rahmen der GAP – angesichts der engen Wechselbeziehung von Landwirtschaft und Umwelt – eine besonders praktische Relevanz auf. Dabei erstreckt sich die Ausstrahlungswirkung des Art. 11 AEUV nicht nur auf das gesamte Primärrecht der EU, sondern auch auf das gesamte Sekundärrecht.164 Damit sind das primäre und sekundäre GAP-Recht umweltschutzfreundlich auszulegen und in agrarrechtliche Abwägungs- und Ermessensentscheidungen der Legislative sowie Exekutive der Umweltschutz einzubeziehen.165

159 EuGH 5.10.1994 – C-280/93, Slg 1994, I-4973, Rn. 47 = NVwZ 1995, 575; EuGH 7.9.2006 – C-310/04, Slg 2006, I-7285, Rn. 21 – Ministero dell’Economia e delle Finanze, Agenzia delle Entrate/FCE Bank plc. 160 Vgl. Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 39 Rn. 2; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 39 Rn. 9; Calliess/Ruffert/Martínez EUV/AEUV AEUV Art. 39 Rn. 14; Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 39 Rn. 8; Schwarze/Bittner EU-Kommentar AEUV Art. 39 Rn. 8. 161 EuGH 17.12.1981 – C-197-200, 243, 245/80, Slg 1981, I-3211, Rn. 41 – Ludwigshafener Walzmühle = NJW1982, 2722. 162 Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 39 Rn. 6; Schwarze/Bittner EU-Kommentar AEUV Art. 39 Rn. 4. 163 Speziell zum Umweltschutz s. zB EuGH 19.9.2002 – C-336/00, Slg 2002, I-7699, Rn. 33 – Huber = EWS 2003, 83. 164 Vgl. Streinz/Kahl EUV/AEUV AEUV Art. 11 Rn. 29 f.; Nowak, Umweltschutz als grundlegendes Verfassungsziel und dauerhaft Querschnittsaufgabe der Europäischen Union, in ders. (Hrsg.), Konsolidierung und Entwicklungsperspektiven des Europäischen Umweltrechts, 2015, S. 25, 41 f.; Streinz/Kahl EUV/AEUV AEUV Art. 11 Rn. 29 f. 165 Vgl. Streinz/Kahl EUV/AEUV AEUV Art. 11 Rn. 32 f.

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§ 7 Agrarrecht 2. Umweltschutzpolitik

67 Landwirtschaft und Umwelt stehen in einem wechselseitigen Verhältnis.166 Einerseits prägt die Landwirtschaft die Natur und Umwelt in erheblichem Maße und kann auch zu schädlichen Umwelteinwirkungen führen (wie zB Geruchsbelästigungen, Gewässerbelastungen, Bodenerosionen, Reduktion der Biodiversität, Auswirkungen auf den Klimawandel).167 Andererseits ist die Landwirtschaft als Urproduktion auf einen ausgewogenen Naturhaushalt angewiesen, um die Produktionskapazitäten zu erhalten. Umweltschäden können der Landwirtschaft sogar ihre Produktionsgrundlagen entziehen. Wie kein anderer Wirtschaftszweig ist sie selbst von schädlichen Umwelteinwirkungen betroffen, so zB durch Luftverunreinigungen durch Straßenverkehr, durch den Flächenverbrauch für Siedlungen, Industrie und Verkehr oder durch den Klimawandel.168 68 Der enge Sachzusammenhang zwischen Landwirtschaft und Umwelt spiegelt sich auch in der rechtlichen Überschneidung der Agrar- und Umweltpolitik wider, die auch vom Teilgebiet des Agrarumweltrechts169 aufgenommen wird. Auf der einen Seite können und müssen agrarpolitische Maßnahmen, die auf der Grundlage des Art. 43 AEUV ergehen, den Umweltschutz einbeziehen, da dieser gem. Art. 11 AEUV als Querschnittsaufgabe bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen zu berücksichtigen ist. Damit sind die agrarpolitischen Ziele bereits primärrechtlich ökologisiert. Dies hat zur Folge, dass auch umweltschützende Regelungen auf die agrarrechtliche Kompetenznorm gestützt werden können. Der EuGH170 hat in dem Zusammenhang entsprechend postuliert, dass der Umweltschutz als ein Ziel anzusehen ist, das auch Bestandteil der gemeinsamen Agrarpolitik ist. Der Unionsgesetzgeber kann demzufolge auf der Grundlage der Agrarkompetenz beschließen, den Umweltschutz zu fördern und ist nicht auf die Verfolgung landwirtschaftlicher Zwecke beschränkt. 69 Auf der anderen Seite steht allerdings noch der umweltpolitische Kompetenztitel nach Art. 192 AEUV, der im konkreten Fall für entsprechende agrarrelevante Umweltschutzmaßnahmen einschlägig sein könnte. Die Abgrenzung zwischen der Agrarkompetenz und der Umweltschutzkompetenz kann insbesondere vor dem Hintergrund der Verfahrensmodi praktische Bedeutung erlangen. Auch wenn für die Umweltschutzgesetzgebung (nach Art. 192 Abs. 1 AEUV) wie für die Agrargesetzgebung grundsätzlich das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt, ist doch abweichend gem. Art. 192 Abs. 2 AEUV das besondere Gesetzgebungsverfahren festgelegt, bei dem der Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig beschließt. Dies gilt für den Erlass von a) Vorschriften überwiegend steuerlicher Art, b) Maßnahmen, die die Raumordnung, die mengenmäßige Bewirtschaftung der Wasserressourcen oder die Verfügbarkeit dieser Ressourcen mittelbar oder unmittelbar betreffen, die Bodennutzung mit Ausnahme der Abfallbewirtschaftung berühren, c) Maßnahmen, welche die Wahl eines Mitgliedstaates zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren. Aber auch wenn diese Ausnahmen nicht einschlägig sind, ist eine Abgrenzung der Umwelt- und Agrarkompetenz vorzunehmen, da die Ausrichtung und Reichweite der Kompetenz von den jeweiligen Zielen des Politiktitels abhängig sind. 166 SRU (Hrsg.), Sondergutachten 1985, Rn. 10; Heinrichsmeyer/Witzke, Agrarpolitik, Bd. 1, 1991, S. 191 ff. 167 SRU (Hrsg.), Sondergutachten 1985, S. 161 ff., 296 f.; Storm NuR 1986, 8 (10); Schink UPR 1999, 8 (9). 168 S. von Eickstedt, S. 16. 169 Härtel, Agrarumweltrecht, in Koch/Hofmann/Reese, Handbuch Umweltrecht, 5. Aufl. 2018, § 15 Rn. 7 ff. 170 S. EuGH 16.7.2009 – C-428/07, Slg 2009, I-6355, Rn. 29 – Horvath; EuGH 14.10.2010 – C-61/09, Slg 2010, I-9763, Rn. 39 – Niedermair-Schiemann = NuR 2011, 35.

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A. Einordnung in das Gesamtsystem

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Die Wahl der richtigen Rechtsgrundlage durch den Gesetzgeber kann auf erhebliche Ab- 70 grenzungsprobleme stoßen. Sofern Umweltschutznormen einen direkten agrarpolitischen Bezug aufweisen, können sie allein auf die Agrarkompetenz des Art. 43 AEUV gestützt werden. Nach den allgemeinen Regeln für die Wahl der Rechtsgrundlage könnte zugleich darauf abgestellt werden, ob der Agrarrechtsakt im Schwerpunkt eines der agrarpolitischen Ziele verfolgt. Dabei ist jedoch durch die Querschnittsklausel zum Umweltschutz dogmatisch noch nicht geklärt, ob der Umweltschutz im Rahmen der GAP sogar ein gleichberechtigtes Ziel darstellt und damit die Festlegung auf den Schwerpunkt der Regelung entbehrlich geworden ist. Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage können jedenfalls die einzelnen agrarpolitischen Ziele im Lichte des Umweltschutzes ausgelegt werden, wie zB das Ziel „bestmöglicher Einsatz der Produktionsfaktoren“ unter Berücksichtigung ökologischer Mindeststandards zu verstehen.171 Von der Agrarkompetenz abgedeckt ist demnach die Cross Compliance Regelung, mit der der Agrarbeihilfenanspruch von der Erfüllung bestimmter umweltrelevanter Rechtsvorschriften abhängig gemacht wird. Auch für die im Rahmen der 2. Säule geregelte Förderung von Maßnahmen zur Verbesserung der Umwelt in der Landwirtschaft ist die Agrarkompetenz die richtige Rechtsgrundlage, da mit den Agrarumweltmaßnahmen hauptsächlich die landwirtschaftliche Erzeugung gelenkt werden soll.172 Hingegen kommt eher die Umweltschutzkompetenz in Betracht, wenn der Rechtsakt „ge- 71 nerelle Umweltprobleme“ – mit Blick auf Boden, Wasser, Luft – bewältigen soll oder generell auf Naturschutz abzielt.173 Dies gilt selbst dann, wenn der Rechtsakt in erheblichem Maße oder sogar hauptsächlich die landwirtschaftliche Tätigkeit betrifft, so wie dies bspw. bei der Nitratrichtlinie,174 Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie175 und Vogelschutzrichtlinie176 der Fall ist. Bei den Rechtsakten zur Grünen Gentechnik177 wurde zum Teil die Agrarkompetenz herangezogen.178 Die Bezugnahme auf diese Umweltschutznormen im Rahmen des Unionsagrarbeihilfenrechts – wie bei der Cross Compliance Regelung – ist wiederum von der Agrarkompetenz abgedeckt. 3. Energiepolitik Im Rahmen der Energieerzeugung spielt der Landwirt eine zunehmend wichtigere Rolle. 72 Durch den Anbau von Energiepflanzen179 und den Betrieb von Biomasse-, Windkraftoder Fotovoltaikanlagen nimmt der Landwirt die Funktion eines „Energiewirtes“ wahr. Mit der Erschließung dieses neuen Wirtschaftszweiges in der Landwirtschaft ist das Konzept der multifunktionalen Landwirtschaft180 und damit auch das Agrarrecht um diesen Bereich erweitert worden. In der Rolle als Energiewirt ist dem Landwirt eine wichtige Verantwortung im Rahmen der integrierten Klima- und Energiepolitik zugewachsen. Als Erzeuger von Bioenergie – gewonnen aus nachwachsenden Rohstoffen und Biomasse – leistet er einen Beitrag zum aktiven Klimaschutz sowie zur Energieversorgungssicherheit und 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 57. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 58. So im Ergebnis überzeugend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 59. RL 91/676/EWG (Nitratrichtlinie). RL 92/43/EWG (FFH-Richtlinie). RL 79/409/EWG (Vogelschutzrichtlinie). Dazu s. Dederer in Härtel, Kap. 20. S. Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 24. „Energiepflanzen“ sind bspw. Mais, Raps, Getreide, Kartoffel, Zuckerrübe, Futterrübe etc. S. zum Begriff der „multifunktionalen Landwirtschaft“ Härtel in Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, § 31 Rn. 3; Käb AUR-Beilage 2003, Nr. 1, 1, 2. S. auch Grimm/Norer, Rn. 12 ff., der kritisiert, dass der Begriff „multifunktionale Landwirtschaft“ konturenlos bleibt, und eine einheitliche Begriffsbildung versucht.

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§ 7 Agrarrecht

zur Reduktion der Abhängigkeit der Energieversorgung von anderen Staaten. Er ist Teil einer umfassenden Energiewende hin zu einem umwelt- und klimaverträglichen Energiemix und einer dezentralen Energieversorgung geworden. Dieser Wandel vollzieht sich bereits in „Bioenergiedörfern“, die ihren Strom- und Wärmebedarf weitestgehend autark aus Biomasse decken.181 73 Für die Setzung unionsrechtlicher Rahmenbedingungen der Energieerzeugung aus Bioenergie kommt als Kompetenzgrundlage zunächst der – mit dem Lissabon-Vertrag eingeführte – Energietitel Art. 194 AEUV in Betracht. Sofern der Rechtsakt allerdings konkret auf die Förderung erneuerbarer Energien abstellt, ist Art. 194 AEUV nur beschränkt auf die Förderung der technischen (Weiter-)Entwicklung dieser Energien anwendbar. Die wirtschaftliche Förderung des Einsatzes erneuerbarer Energien nach Maßgabe der Richtlinie (EU) 2018/2001 wird zwar vorrangig auf Art. 194 AEUV gestützt, jedoch erscheint kompetenzrechtlich auch eine zumindest partielle Abstützung auf Art. 192 AUEV vertretbar.182 Hintergrund hierfür ist die teilweise Einbeziehung des Agrarsektors. In den Anwendungsbereich der Richtlinie, in dem sie gem. ihres Art. 1 auch die in Art. 2 der Richtlinie legaldefinierten Biokraftstoffe, flüssige Biobrennstoffe und Biomasse-Brennstoffe erfasst.183 Für diese ist die Einführung von Nachhaltigkeitskriterien nach Maßgabe des Art. 29 RL 2018/2001 vorgesehen. Hingegen wurde auch ein Bereich der Förderung erneuerbarer Energien unter anderem auf die Agrarkompetenz gestützt, und zwar im Rahmen der 2. Säule – in der VO 1305/2013 über die Förderung des ländlichen Raums (ELER-Verordnung).184 4. Forstpolitik 74 Nach der deutschen Fachanwaltsordnung gehört das Forstrecht – als agrarspezifisches Verwaltungsrecht – auch zum Agrarrecht. Es stellt sich die Frage, ob der Unionsgesetzgeber forstpolitische Maßnahmen auch auf die Agrarkompetenz stützen kann. Das Urprodukt Holz ist nicht im Anhang I des AEUV aufgeführt, so dass eine die Forstwirtschaft umfassende Unionsgesetzgebung allein auf der Grundlage der Agrarkompetenz nicht in Betracht kommt.185 Allerdings ist zu bedenken, dass die durch Anhang I vorgegebene Begrenzung sich auf landwirtschaftliche Erzeugnisse bezieht und deshalb auch nur für erzeugnisspezifische Maßnahmen relevant sein kann, so insbesondere für Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation.186 Demzufolge können forstwirtschaftliche Maßnahmen dann auf die Agrarkompetenz gestützt werden, wenn sie der Verbesserung der landwirtschaftlichen Struktur bzw. der Förderung des ländlichen Raumes dienen.187 Entscheidend ist also, dass die forstpolitischen Maßnahmen einem agrarpolitischen Ziel zugeordnet werden können. Die EU hat bereits auch einige forstpolitische Maßnahmen auf die Agrarkompetenz gestützt. So sind bspw. im Rahmen der 2. Säule in der VO 1305/2013 (ELER-Verordnung) Fördermöglichkeiten im Forstbereich geregelt, die der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Forstwirtschaft oder der nachhaltigen Bewirt181 Mittlerweile existieren über 147 Bioenergiedörfer in Deutschland, s. zu den Bioenergiedörfern www.wege-zum-bioenergiedorf.de. 182 Vgl. Schwarze/Hirsbrunner EU-Kommentar Art. 194 Rn. 27. Auf die erforderliche Abgrenzung zwischen der Agrarkompetenz und der Umwelt- sowie Harmonisierungskompetenz weist auch Lenz/ Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 23 hin. 183 Auf die erforderliche Abgrenzung zwischen der Agrarkompetenz und der Umwelt- sowie Harmonisierungskompetenz weist auch Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 23 hin. 184 S. zB den Bezug in Erwägungsgrund 18. 185 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 36. 186 So pointiert und überzeugend Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 32. 187 Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 25; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 36.

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A. Einordnung in das Gesamtsystem

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schaftung bewaldeter Flächen (ua Erstaufforstung sowie Waldumweltmaßnahmen) dienen.188 Im 20. Erwägungsgrund der VO 1305/2013 (ELER-Verordnung) heißt es auch: „Die Forstwirtschaft ist ein integraler Bestandteil der ländlichen Entwicklung, und die Unterstützung einer nachhaltigen Flächennutzung sollte die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder und deren multifunktionale Rolle einschließen. …“. Darüber hinaus ist die Forstwirtschaft bei Agroforst189 sogar ein integraler Bestandteil einer nachhaltigen Landwirtschaft. Hier erfolgt der gleichzeitige Anbau von Bäumen bzw. Gehölzkulturen sowie von landwirtschaftlichen Kulturen auf derselben Bewirtschaftungseinheit (Schlag oder Parzelle) aus naturschutzfachlichen Gründen. 5. Rechtsangleichung/Harmonisierung Die Gemeinsame Agrarpolitik hat sich im Laufe der europäischen Integration auch zu 75 einer Rechtsangleichungspolitik entwickelt.190 Dementsprechend bezieht sich mittlerweile ein sehr wesentlicher Bereich der EU-Agrargesetzgebung nach Art. 43 AEUV auf die Rechtsangleichung,191 die für den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und damit für den freien Warenverkehr von besonderer Bedeutung ist.192 Sofern Art. 43 AEUV einschlägig ist, tritt die allgemeine Kompetenz für die Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV als subsidiär zurück.193 Bei der Agrargesetzgebung erstreckt sich die Rechtsangleichung auf den „Schutz von Tie- 76 ren und Pflanzen sowie der tierischen und menschlichen Gesundheit im Rahmen der landwirtschaftlichen Erzeugung und Vermarktung mit den Schwerpunkten Saat- und Pflanzengut, Pflanzenschutz, Tierzucht, Tierschutz, Futtermittel und Veterinärwesen.“194 Die Rechtsangleichung geht also über die Sicherung des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt hinaus. Regelungen zur Lebensmittelsicherheit sowie zur Qualitätssicherung und -förderung in der Landwirtschaft dienen vor allem dem Gesundheitsschutz, Verbraucherschutz und Umweltschutz und damit dem europäischen Gemeinwohl. Dabei sind die Regelungen über verschiedene Rechtsakte verstreut, einige wichtige Qualitäts- und Verbraucherschutzbestimmungen finden sich auch im Verordnungsregime zu den Marktordnungen, zur Strukturpolitik sowie zur Politik des ländlichen Raumes. Darüber hinaus gibt es die Regelungen zum ökologischen Landbau,195 die ebenso zur Qualitätspolitik der Union ge188 Vgl. insbes. Art. 21–27, Art. 34 VO (EU) Nr. 1305/2013 (ELER-Verordnung). 189 Hierzu Eichler forschungsfelder 2/2019, 30 ff.; Bundesamt für Naturschutz, Leitfaden Agroforstsysteme, Möglichkeiten zur naturschutzgerechten Etablierung von Agroforstsystemen, 2011. 190 Dauses/Ludwigs/Norer/Bloch HdBEUWiR G., Rn. 166. 191 Zum Begriff der Rechtsangleichung wird der Begriff Rechtsharmonisierung synonym verwendet, s. Calliess/Ruffert/Korte EUV/AEUV AEUV Art. 114 Rn. 22. 192 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 46. 193 In Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV lautet es nämlich „Soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist, gilt für die Verwirklichung der Ziele des Artikels 26 die nachstehende Regelung.“. 194 Dauses/Ludwigs/Norer/Bloch HdBEUWiR G. Rn. 166 ff. 195 Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates v. 28.6.2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91, ABl. EU 2007 L 189/1, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 967/2008 des Rates v. 29.9.2008, ABl. EU 2008 L 264/1 und durch Verordnung (EG) Nr. 517 des Rates v. 13.5.2013, ABl. EU 2013 L 157/1; Verordnung (EU) 2018/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.2018 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates, ABl. EU 2018 L 150/1. Diese Verordnung tritt ab dem 1.1.2021 in Kraft (Art. 61 S. 2 VO 2018/848). Sie enthält zugleich einige Übergangsbestimmungen. So können gem. Art. 60 VO 2018/848 Erzeugnisse, die nach Maßgabe der VO 834/2007 vor dem 1.1.2021 produziert wurden, weiterhin in Verkehr gebracht werden, bis die Bestände aufgebraucht sind. Zur Systematik des Ökoproduktionsrechts Busse in Härtel, Kap. 30; Härtel ZUR 2008, 233 ff.; Olbrisch/Li in Härtel, Handbook of Agri-Food Law in China, Germany, European Union, Kap. 10, S. 557–579.

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§ 7 Agrarrecht hören. Im Sinne einer besseren Rechtsetzung hat die Europäische Kommission im Dezember 2010 ein Qualitätspaket vorgelegt, mit dem am 21.11.2012 eine Verordnung über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel erlassen wurde (zur vorgeschlagenen Änderungsverordnung im Rahmen der GAP-Reform nach 2020 → Rn. 174).196 Hierdurch wurden verschiedene Verordnungen zur Qualitätspolitik für Agrarerzeugnisse zusammengeführt, wie die Regelungen für Ursprungsbezeichnungen und geografische Angaben, garantierte Spezialitäten sowie zu fakultativen Qualitätsangaben.197 6. Gesundheitsschutz

77 Für die Rechtsharmonisierung im Agrarbereich ist jedoch nicht allein die Agrarkompetenz einschlägig. Sofern spezifische gesundheitspolitische Aspekte eine Rolle spielen, ist die Agrarkompetenz seit dem Amsterdamer Vertrag von der Gesundheitsschutzkompetenz abzugrenzen. Außerdem wurden gerade verbraucherschützende Rechtsakte auch auf verschiedene Rechtsgrundlagen gestützt. 78 Während sich bereits in der Sache die Notwendigkeit der Verbindung zwischen Gesundheitsschutz für Menschen und Landwirtschaft aufdrängt, wurde diese Verknüpfung durch die Einführung der Querschnittsklausel – mit dem Vertrag von Maastricht198 – primärrechtlich verankert. Danach wird bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen „ein hohes Gesundheitsschutzniveau199 sichergestellt“ (Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV). Entsprechende Verpflichtungen enthalten Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 35 S. 2 GRC.200 79 Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde allerdings – als politische Folge der BSE-Krise – die Kompetenz zum Erlass von Gesundheitsschutzmaßnahmen in den Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz aus der Agrarpolitik herausgenommen und der Gesundheitsschutzpolitik zugeführt, sofern die Maßnahmen „unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zum Ziel haben“ (Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV).201 Dabei handelt es sich hier wie bei der Agrarkompetenz um eine geteilte Zuständigkeit, bei der es hauptsächlich um gemeinsame Produktsicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit geht (Art. 4 Abs. 2 lit. k AEUV).202 Ebenso ist das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorgesehen. Die Abgrenzung zur Agrarkompetenz wirft deswegen hinsichtlich des einschlägigen Gesetzgebungsverfahrens kein Problem auf, was vor dem Lissabon-Vertrag anders war, als das Europäische Parlament bei der GAP-Rechtsetzung nur ein Anhörungsrecht hatte.203 Ergehen auf der Grundlage des Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV Gesundheitsschutzmaßnahmen, sind keine strengeren Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten zugelassen. Dies folgt aus dem Umkehrschluss zu Art. 168 Abs. 4 lit. a AEUV, der im Bereich der Maßnahmen für Blut und Organe explizit strengere Maßnahmen der Mitgliedstaaten zulässt. Der Unionsgesetzgeber hat eine Reihe von Rechtsakten204 allein auf der Grundlage des

196 KOM(2010) 733 endg.; Verordnung (EU) Nr. 1151/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.11.2012 über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel. 197 Vgl. Erwägungsgrund 7 des Vorschlags der Kommission, KOM(2010) 733 endg., 14. 198 In der ersten Fassung hieß es lediglich, dass die Erfordernisse „Bestandteil der übrigen Politiken“ (Art. 129 Abs. 1 UAbs. 3 EGV) sind, während die heutige Formulierung in Art. 168 AEUV mit dem Amsterdamer Vertrag eingeführt wurde (s. dazu Streinz/Lurger EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 10). 199 Hervorhebung durch die Verfasserin. 200 Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 9. 201 Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 21. 202 Vgl. Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 18. 203 S. Streinz/Lurger EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 37. 204 Einen guten Überblick bietet Lenz/Borchardt/Fischer EU-Verträge AEUV Art. 168 Rn. 17.

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Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV erlassen,205 aber auch für eine Vielzahl von Rechtsakten weitere Kompetenznormen herangezogen, so etwa die Agrarkompetenz (Art. 43 Abs. 2 AEUV)206 und/oder die allgemeine Harmonisierungs-/Rechtsangleichungskompetenz (Art. 114 AEUV).207 7. Verbraucherschutz Aufgrund der Querschnittsklausel (Art. 12 AEUV, Art. 38 GRC) ist dem Verbraucher- 80 schutz auch bei der Gemeinsamen Agrarpolitik Rechnung zu tragen. Mittlerweile gibt es auch eine größere Zahl an Sekundärrechtsakten, die dem agrarbezogenen Verbraucherschutz dienen.208 Eine Kompetenzgrundlage für den Erlass von Verbraucherschutzgesetzen bildet Art. 169 Abs. 3 AEUV; diese bezieht sich auf Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten. Dabei gehört der Verbraucherschutz zu der geteilten Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 2 lit. f AEUV). Auch wenn die Union Maßnahmen zum Verbraucherschutz beschlossen hat, sind strengere Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten zulässig (Art. 169 Abs. 4 AEUV). Sofern jedoch eine Maßnahme des agrarbezogenen Verbraucherschutzes auch der menschlichen Gesundheit dient, ist Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV lex specialis gegenüber Art. 169 AEUV.209 Dies hat wiederum zur Folge, dass die Mitgliedstaaten keine strengeren gesundheitsspezifischen Schutzvorschriften für tierische und pflanzliche Produkte beibehalten oder ergreifen können.210 8. Tierschutz Tierschutz hat sich zu einem gesellschaftlich bedeutsamen Thema entwickelt, für das sich 81 eine breite Öffentlichkeit interessiert. Dabei spielen Fragen der Ethik und die gemeinsamen Werte der Union eine besondere Rolle.211 Vor allem im Zusammenhang mit der Agrarpolitik entwickelt sich der Tierschutz auch zu einem Verbraucheranliegen. Tierische

205 So zB VO (EG) Nr. 999/2001 (TSE-Verordnung); VO (EG) Nr. 2160/2003 (Bekämpfung von Salmonellen); VO (EG) Nr. 853/2004 (Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs), letzte Änderung durch VO (EU) 2017/1981, ABl. 2017 L 285 v. 1.11.2017, 10 ff. 206 Bspw. VO (EG) Nr. 1760/2000 (Rindfleisch-Etikettierungs-Verordnung), zuletzt geändert durch VO (EU) 2016/429, ABl. L 84 v. 31.3.2016, 1 ff.; VO (EG) Nr. 1831/2003 (Futtermittelzusatzstoff-Verordnung), zuletzt geändert durch VO (EU) 2016/2294, ABl. L 324 v. 10.12.2015, 3 f. – zur Erklärung dieser Doppelabstützung s. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 53; ferner VO (EG) Nr. 396/2005 (Pestizidverordnung), letzte Änderung durch VO (EU) 2019/91, ABl. L 22 v. 24.1.2019, 74 ff. 207 Bspw. auf der Grundlage der Gesundheitsschutz-, Agrar- und Harmonisierungskompetenz: VO (EG) Nr. 178/2002 (Lebensmittel-Basisverordnung); VO (EG) Nr. 852/2004 (Lebensmittelhygiene-Verordnung), letzte Änderung durch VO (EU) Nr. 579/2014, ABl. L 160 v. 29.5.2014, 14 ff.; VO (EG) Nr. 882/2004 (amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz), letzte Änderung durch VO (EU) 2018/455, ABl. L 77 v. 20.3.2018, 4 f., ab 1.1.2020 ersetzt durch die neue Verordnung über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebensund Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel (EU) 2017/625, ABl. L 95 v. 7.4.2017, 1 ff. 208 Dazu s. zB Dauses/Ludwigs/Norer/Bloch HdBEUWiR G., Rn. 173–175. 209 Zum Verhältnis zwischen der Agrarkompetenz (Art. 43 AEUV), der Gesundheitsschutzkompetenz (Art. 168 AEUV) und der Verbraucherschutzkompetenz (Art. 169 AEUV) s. zB Streinz/Lurger EUV/ AEUV AEUV Art. 169 Rn. 24; Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 21, 34; Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 43 Rn. 12. 210 S. Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 34. 211 S. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Strategie der Europäischen Union für den Schutz und das Wohlergehen von Tieren 2012–2015, KOM(2012) 6 endg., 12, sowie Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft, COM(2017) 713 final, 27 f.

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§ 7 Agrarrecht Erzeugnisse dienen in vielfältiger Weise der Ernährung des Menschen und die Verbraucher/innen von (tierischen) Lebensmitteln wollen wissen, wie die Tiere behandelt wurden.212 Der agrarbezogene Tierschutz nimmt im Vergleich zum sonstigen Tierschutz einen besonderen Stellenwert ein, wenn man nur bedenkt, dass EU-weit in landwirtschaftlichen Betrieben etwa 2 Mrd. Vögel (Hühner für die Fleischproduktion, Legehennen, Truthühner, Enten und Gänse) und 325 Mio. Säugetiere (Kühe, Schweine, Schafe etc) gehalten werden.213 Mit dem Lissabon-Vertrag ist in Art. 13 AEUV für den Tierschutz eine Querschnittsklausel aufgenommen worden. Damit wurde an das dem Amsterdamer Vertrag beigefügte Protokoll über den Tierschutz und über das Wohlergehen der Tiere angeknüpft, das als Bestandteil des EG-Vertrages bereits primärrechtlicher Natur war.214 Danach „… tragen die Union und die Mitgliedstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung“. Die tierschutzrechtliche Querschnittsklausel gleicht zwar in ihrer Struktur und ihren Rechtswirkungen den anderen Querschnittsklauseln des Vertrages,215 weist aber auch Besonderheiten auf. Zum einen beschränkt sich die tierschutzrechtliche Querschnittsklausel – im Unterschied zu anderen Querschnittsklauseln – ihrem Wortlaut nach auf bestimmte Politikfelder, nämlich auf die Bereiche Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt.216 Zum anderen sind beim Tierschutz die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe zu berücksichtigen, wodurch der Tierschutz einem „mitgliedstaatlichen Kulturvorbehalt“217 unterliegt. Die tierschutzrechtliche Querschnittsklausel begründet keine Rechtsetzungskompetenz. Deshalb sind tierschutzrechtliche Maßnahmen auf sektorielle Kompetenznormen zu stützen.218 Die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV kann nicht herangezogen werden, weil der Tierschutz kein eigenständiges Ziel der Union darstellt (vgl. Art. 3 EUV).219 Da das Wohlergehen der Tiere weder ein ausdrückliches Ziel der Union noch bei den agrarpolitischen Zielen aufgeführt ist oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz darstellt, ist den Unionsorganen auch ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Rechtsetzung zuzuerkennen.220 Auf der Grundlage der Agrarkompetenz (Art. 43 AEUV) ist bereits eine Reihe von Rechtsakten zum Tierschutz ergangen, die die Haltung, Aufzucht, den Transport und die 212 KOM(2012) 6 endg., 12. 213 Eurostat, Agriculture, forestry and fishery statistics, 2018 edition, S. 51 (https://ec.europa.eu/eurostat/ documents/3217494/9455154/KS-FK-18-001-EN-N.pdf/a9ddd7db-c40c-48c9-8ed5-a8a90f4faa3 f). 214 Streinz/Streinz EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 1. 215 Lenz/Borchardt/Breier EU-Verträge AEUV Art. 13 Rn. 3. 216 Kotzur ist der Ansicht, dass sich ein umfassender Tierschutz nicht in den genannten Bereichen erschöpfe und der Katalog deshalb nicht als abschließend, sondern als exemplarisch zu verstehen sei (Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 2). AA Calliess/Ruffert/Calliess EUV/ AEUV AEUV Art. 13 Rn. 8; Lenz/Borchardt/Breier EU-Verträge AEUV Art. 13 Rn. 5. 217 S. Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 3; kritisch mit Blick auf einen „umfassenden mitgliedstaatlichen Kulturvorbehalt“ Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 9. 218 Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 12. 219 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Nettesheim AEUV Art. 13 Rn. 8; Streinz/Streinz EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 13. 220 So ausdrücklich der EuGH – noch in Bezug auf das Protokoll zum Amsterdamer Vertrag –, was allerdings auf die geltende Rechtslage übertragbar erscheint. EuGH 12.7.2001 – C-189/01, Slg 2001, I-5689, Rn. 71 ff., 80 ff. – Jippes ua/Minister van Landbouw, Naturbeheer en Visserij = NJW 2002, 51 = NVwZ 2001, 1145. Vgl. hierzu auch Streinz/Streinz EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 3; Geiger/ Khan/Kotzur/Kotzur EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 1.

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Schlachtung von Tieren regeln.221 So gibt es eine horizontale Richtlinie zu verschiedenen Aspekten des Wohlergehens landwirtschaftlicher Nutztiere222 und spezifische Rechtsakte zu Anforderungen an den Transport223 und die Schlachtung,224 aber auch zur Haltung von Kälbern,225 Schweinen,226 Legehennen227 und Masthühnern (Broilern).228 Die Unionsrechtsakte zum ökologischen Landbau enthalten hohe Tierschutzstandards für die Rinder-, Schweine- und Geflügelproduktion.229 Sekundärrechtliche Normen zum Tierschutz sind im Hinblick auf das Grundrecht auf Re- 86 ligionsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 GRC bereits Gegenstand der EuGH-Judikatur gewesen. Die Rechtsprechung betrifft die durch religiöse Riten vorgeschriebenen besonderen Schlachtungsmethoden ohne Betäubung. Der EuGH stellt in seinem Urteil vom 28.5.2018230 die Gültigkeit der Regelung fest,231 die vorsieht, dass die Schlachtung von Tieren ohne Betäubung aus religiös vorgeschriebenen Ritualen nur in einem Schlachthof erfolgen darf, der die gesetzlichen technischen Anforderungen232 erfüllt. Der Unionsgesetzgeber habe im 18. Erwägungsgrund der VO Nr. 1099/2009 klargestellt, dass die ausdrückliche Ausnahme von der Verpflichtung zur Betäubung von Tieren vor der Schlachtung nach Art. 4 Abs. 4 VO Nr. 1099/2009 gerade wegen der Religionsfreiheit nach Art. 10 GRC aufgenommen worden sei.233 Es bestehe lediglich die Pflicht zur Durchführung der rituellen Schlachtung in einem zugelassenen Schlachthof. Die Pflicht zur Nutzung zugelassener Schlachthöfe mit technischen Anforderungen gelte allgemein und unterschiedslos für jeden, der Schlachtungen durchführe und habe keine diskriminierende Wirkung.234 Nur in zugelassenen Schlachthöfen sei es entsprechend dem „wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“ möglich, Tieren, die ohne vorherige Betäubung getötet werden (präziser Halsschnitt mit einem scharfen Messer) übermäßige und unnötige Leiden zu ersparen.235 Außerdem diene die Voraussetzung für eine Schlachtung – zugelassener Schlachthof – der Lebensmittelsicherheit und damit dem Ziel der Sicherstellung eines ho221 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 59; Cymutta in Härtel, Kap. 25 – auch mit Blick auf die Umsetzung in das deutsche Recht; ferner in KOM(2012) 6 endg., 2. 222 RL 98/58/EG des Rates v. 20.7.1998 über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere, ABl. L 221 v. 8.8.1998, 23 ff. 223 VO (EG) Nr. 1/2005 (Tiertransport-Verordnung). 224 VO (EG) Nr. 1099/2009 des Rates v. 24.9.2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung, ABl. L 303 v. 18.11.2009, 1 ff. 225 RL 2008/119/EG des Rates v. 18.12.2009 über Mindestanforderungen für den Schutz von Kälbern, ABl. L 10 v. 15.1.2009, 7 ff. 226 RL 2008/120/EG des Rates v. 18.12.2008 über Mindestanforderungen für den Schutz von Schweinen, ABl. L 47 v. 18.2.2009, 5 ff. 227 RL 1999/74/EG des Rates v. 19.7.1999 zur Festlegung von Mindestanforderungen zum Schutz von Legehennen, ABl. L 203 v. 3.8.1999, 53 ff. 228 RL 2007/43/EG des Rates v. 28.6.2007 mit Mindestvorschriften zum Schutz von Masthühnern, ABl. L 182 v. 12.7.2007, 19 ff. 229 Art. 14 f. VO (EG) Nr. 834/2007 (Öko-Verordnung), Art. 7–25 iVm Anh. III, IV VO (EG) Nr. 889/2008; Art. 14 Abs. 1 iVm Anh. II, Teil II, Art. 15 iVm Anh. II, Teil III VO (EU) 2018/848), korrespondierende Durchführungsvorschriften sind bis dato (noch) nicht ergangen (Stand: 6.3.2019). 230 EuGH 29.5.2018 – C-426/16, ECLI:EU:C:2018:335 – Islamisches Opferfest = NVwZ 2018, 1283; sa Schlussanträge GA ECLI:EU:C:2017:926. 231 Art. 4 Abs. 4 imV Art. 2 lit. k Verordnung (EG) Nr. 1099/2009. 232 Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.4.2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs, ABl. 2004 L 139/55. 233 EuGH 29.5.2018 – C-426/16, ECLI:EU:C:2018:335 Rn. 57 – Islamisches Opferfest = NVwZ 2018, 1283. 234 EuGH 29.5.2018 – C-426/16, ECLI:EU:C:2018:335 Rn. 58–60 – Islamisches Opferfest = NVwZ 2018, 1283. 235 Vgl. Erwägungsgründe 43 und 44 der Verordnung Nr. 1099/2009; EuGH 29.5.2018 – C-426/16, ECLI:EU:C:2018:335 Rn. 65 – Islamisches Opferfest = NVwZ 2018, 1283.

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§ 7 Agrarrecht

hen Niveaus für den Schutz der menschlichen Gesundheit.236 Mit der geltenden Regelung in Art. 4 Abs. 4 VO Nr. 1099/2009 wird also eine Balance zwischen der Religionsfreiheit, dem Tierschutz und der menschlichen Gesundheit hergestellt. Erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit der Religionsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 GRC bestehen in Bezug auf ein gänzliches Verbot von rituellen Schlachtungen ohne Betäubung.237 87 Eine ebenso konsequente Entscheidung im Sinne des Tierschutzes und des Verbraucherschutzes zugleich trifft der EuGH in seinem Urteil vom 26.2.2019238 zum EU-Bio-Logo. Im Ausgangsrechtsstreit zum Vorabentscheidungsverfahren beantragte eine Tierschutzorganisation beim Landwirtschaftsministerium ua, die Verwendung des EU-Bio-Logo im Sinne der Öko-Verordnung239 für die Vermarktung von als halal gekennzeichnete Rinderhacksteaks zu verbieten. Halal-Fleisch stammt von Tieren, die ohne vorherige Betäubung geschlachtet wurden. Entgegen den Schlussanträgen des Generalanwalts240 gelangt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Öko-Verordnung (Nr. 834/2007) dahin auszulegen ist, „dass sie die Anbringung des EU-Bio-Logos auf Erzeugnissen, die von Tieren, die ohne vorherige Betäubung einer rituellen Schlachtung unterzogen wurden“241 nicht gestattet.242 Die Öko-Verordnung stelle ein hohes Tierschutzniveau in allen Stadien der Produktion sicher. Laut wissenschaftlicher Studien werde das Tierwohl bei einer Schlachtung mit einer Betäubung am wenigsten beeinträchtigt. Eine rituelle Schlachtung ohne Betäubung sei im Hinblick auf ein hohes Tierschutzniveau nicht gleichwertig zu einer Schlachtung mit Betäubung.243 Zugleich sei es das Ziel der EU-Öko-Verordnung, „das Vertrauen der Verbraucher in als ökologisch/biologisch gekennzeichnete Erzeugnisse zu wahren und zu rechtfertigen“244. Der Verbraucher müsste darauf vertrauen dürfen, dass bei Erzeugnissen mit einem EU-Bio-Logo die höchsten Normen – auch im Bereich des Tierschutzes – eingehalten wurden.245 88 Außerdem werden Tierschutzmaßnahmen durch Landwirte finanziell gefördert – so vor allem aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums. Schließlich ist die Einhaltung des Tierschutzrechts – über Cross Compliance – eine Voraussetzung für die Agrarbeihilfen im Rahmen der 1. Säule. In Fortsetzung des ersten Aktionsplanes für den Schutz und das Wohlergehen von Tieren (2006–2010)246 hatte die Europäische Kommission eine neue Tierschutzstrategie (2012–2015) aufgestellt,247 mit der der Tierschutz in der Europäischen Union weiterentwickelt werden sollte. In seinem 236 EuGH 29.5.2018 – C-426/16, ECLI:EU:C:2018:335 Rn. 66 – Islamisches Opferfest = NVwZ 2018, 1283. 237 Auf der Grundlage des Art. 26 Abs. 2 lit. c VO Nr. 1099/2009 verbieten einigen Mitgliedstaaten rituelle Schlachtungen ohne Betäubung (Dänemark, Slowenien, Schweden), s. hierzu Schlussanträge GA ECLI:EU:C:2017:926 Fn. 6; vgl. auch Deutscher Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst, Rechtliche Vorgaben für das Schlachten von Tieren ohne Betäubung in ausgewählten europäischen Ländern, WD 5 – 3000 – 093/17. 238 EuGH 26.2.2019 – C-497/17, ECLI:EU:C:2019:137 – Oeuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs: kein „EU-Öko-Logo“ für Halal-Fleisch. 239 Art. 25 VO Nr. 834/2007. 240 Schlussanträge GA – ECLI:EU:C:2018:747. 241 Nach Art. 4 Abs. 4 Verordnung Nr. 1099/2009. 242 EuGH 26.2.2019 – C-497/17, ECLI:EU:C:2019:137 Rn. 52 – Oeuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs. 243 EuGH 26.2.2019 – C-497/17, ECLI:EU:C:2019: 137 Rn. 47, 50 – Oeuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs. 244 EuGH 26.2.2019 – C-497/17, ECLI:EU:C:2019:137 Rn. 51 – Oeuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs; 3. Erwägungsgrund der Öko-VO Nr. 834/2007. 245 Vgl. EuGH 26.2.2019 – C-497/17, ECLI:EU:C:2019:137 Rn. 51 – Oeuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs. 246 KOM(2006) 13 endg. 247 KOM(2012) 6 endg.

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A. Einordnung in das Gesamtsystem

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Sonderbericht aus dem Jahr 2018 kommt der Europäische Rechnungshof zu dem Ergebnis, dass in den Mitgliedstaaten in den Jahren 2012–2015 zwar Verbesserungen im Tierschutz erreicht wurden, aber dennoch viele Mängel bei der Einhaltung der Mindeststandards bestehen.248 Zwar hat die Europäische Kommission in der Folgezeit keine weitere Tierschutzstrategie erarbeitet, doch zählt die Förderung eines verstärkten Dialogs über Tierschutzfragen, die auf EU-Ebene zwischen den zuständigen Behörden, Unternehmen, der Zivilgesellschaft und Wissenschaftlern relevant sind, zu ihren Hauptprioritäten.249 Aus diesem Grund hat sie im Jahr 2017 durch Beschluss250 die Expertengruppe „Plattform für den Tierschutz“ gegründet, die sie insbesondere bei der Umsetzung und Anwendung von Tierschutzvorschriften der EU unterstützen und zur Förderung der Entwicklung und Umsetzung freiwilliger Verpflichtungen seitens der Unternehmen zur Verbesserung des Tierschutzes beitragen soll.251 9. Allgemeine Strukturpolitik Zu einem zentralen und wichtigen Bestandteil der GAP hat sich die 2. Säule der GAP – 89 die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes – entwickelt, deren aktuelle maßgeblichen Sekundärrechtsakte auf die Agrarkompetenz gestützt wurden. Einen eigenen – im primärrechtlichen Wortlaut vorzufindenden – Anknüpfungspunkt für struktur- bzw. regionalpolitische Maßnahmen im Rahmen der GAP bietet Art. 39 Abs. 2 lit. a AEUV, wonach bei der Gestaltung der GAP zu berücksichtigen ist „die besondere Eigenart der landwirtschaftlichen Tätigkeit, die sich aus dem sozialen Aufbau der Landwirtschaft und den strukturellen und naturbedingten Unterschieden der verschiedenen landwirtschaftlichen Gebiete ergibt“. Aufgrund der Querschnittsklausel in Art. 175 Abs. 1 S. 2 AEUV hat die Union bei den Politiken – und eben auch bei der GAP – die Ziele der allgemeinen Strukturpolitik (auch Kohäsionspolitik genannt) nach Art. 174 AEUV zu berücksichtigen und zu deren Verwirklichung beizutragen. Dabei verfolgt die Union ihre Politik zur Stärkung ihres wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern (Art. 174 UAbs. 1 AEUV). Diese allgemeine Strukturpolitik dient dazu, „die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern“ (Art. 174 UAbs. 2 AEUV). Besondere Aufmerksamkeit gilt auch unter anderem den „ländlichen Gebieten“ (vgl. Art. 174 UAbs. 3 AEUV). Aufgrund der Querschnittsklausel aber auch des Bezuges auf die ländlichen Gebiete in Art. 174 UAbs. 3 AEUV besteht materiellrechtlich ein erheblicher Überschneidungsbereich zwischen einer integrierten Politik des ländlichen Raumes (2. Säule der GAP) im Rahmen der Agrarkompetenz und regionalpolitischen Maßnahmen zugunsten ländlicher Gebiete als Teil der allgemeinen Strukturpolitik.252 Auch in tatsächlicher Hinsicht besteht eine starke Verbindung zwischen der Landwirtschaft und den ländlichen Räumen und der erforderlichen Strukturpolitik.253 Probleme wie der Beschäftigungsrückgang in ländlichen Gebieten, die Abwanderung junger Menschen, der Abbau der Infrastruktur oder die Veränderung der Siedlungsstrukturen mindern die Attraktivität der ländlichen Räume und tragen so zur verstärkten Landflucht 248 Europäischer Rechnungshof, Tierschutz in der EU: Schließung der Lücke zwischen ehrgeizigen Zielen und praktischer Umsetzung, Sonderbericht Nr. 31/2018. 249 Europäische Kommission, Prioritäten der Kommission – Tierschutz, siehe https://ec.europa.eu/food/an imals/welfare/eu-platform-animal-welfare_en. 250 Beschluss der Kommission v. 24.1.2017 zur Einrichtung der Expertengruppe der Kommission „Plattform für den Tierschutz“, ABl. C 31 v. 31.1.2017, 61 ff. 251 Art. 1 lit. a, b Beschluss der Kommission vom 24.1.2017 zur Einrichtung der Expertengruppe der Kommission „Plattform für den Tierschutz“. 252 Vgl. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 43. 253 S. dazu zB Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 39 Rn. 23.

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§ 7 Agrarrecht

bei. Als Folge droht die Aufgabe der Landwirtschaft, die Nichtbewirtschaftung artenreicher Kulturlandschaften, der Verlust von traditionellen Bewirtschaftungstechniken, Kulturlandschaften und Arbeitsplätzen. Die Landwirtschaft aber braucht diese ländlichen Räume und kann andererseits zu ihrer Anziehungskraft beitragen. Insbesondere vor dem Hintergrund des Leitbildes einer modernen multifunktionalen Landwirtschaft kann festgehalten werden, dass die Landwirtschaft „das wesentliche und prägende Element für den ländlichen Raum254 – als Gegenbegriff zum städtischen Raum – darstellt“ und dementsprechend auch die „gesamte Förderung des ländlichen Raumes“255 (noch) auf die Agrarkompetenz gestützt werden kann. 90 Finanziert wird die Strukturpolitik durch die Strukturfonds, zu denen nach dem Wortlaut des Art. 175 Abs. 1 S. 3 AEUV der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) (Abteilung Ausrichtung), der Europäische Sozialfonds (ESF) und der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gehören. Bis Ende 2006 zählte auch sekundärrechtlich der EAGFL (Abteilung Ausrichtung) zu den Strukturfonds,256 wodurch die Förderung des ländlichen Raumes (wie zB durch die LEADER-Programme) sowohl in die Gemeinsame Agrarpolitik als auch in die allgemeine Strukturpolitik eingebunden war. Seit dem Planungszeitraum 2007–2013 zählten zu den Strukturfonds entgegen dem Wortlaut des Art. 175 Abs. 1 S. 3 AEUV nur noch der EFS und der EFRE.257 Der EAGFL (Abteilung Ausrichtung) wurde zum 1.1.2007 durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) abgelöst.258 Damit ist seit 2007 die ländliche Entwicklung ausschließlich im Bereich der GAP angesiedelt und von Seiten der EU nur noch über den ELER finanziert. Die seit 2013 geltende VO (EG) Nr. 1305/2013 (Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes – ELER-Verordnung) ist allein auf den Landwirtschaftstitel gestützt worden. Die Bezugnahmen auf den EAGFL (Abteilung Ausrichtung) in den primärrechtlichen Bestimmungen zur allgemeinen Strukturpolitik in Art. 175 Abs. 1 AEUV und Art. 178 Abs. 2 AEUV erscheinen insoweit als überholt.259 Allerdings wird der ELER mit den Förderinstrumenten der allgemeinen Strukturpolitik koordiniert,260 um Doppelförderungen auszuschließen und was nach Art. 177 Abs. 1 S. 2 AEUV („Koordinierung der Fonds untereinander“) erforderlich ist.261 10. Weitere Politikfelder 91 Für das europäische Agrarrecht sind noch weitere Rechtsgrundlagen von Bedeutung. Diese sind wiederum von der Agrarkompetenz abzugrenzen oder werden mit der Agrarkompetenz gemeinsam für agrarrelevante Unionsgesetze herangezogen. Hinzuweisen ist hier insbesondere auf den Kompetenztitel zur Gemeinsamen Handelspolitik (Art. 206–207 AEUV), für die die Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten die ausschließliche Zu254 Hervorhebung durch die Verfasserin. 255 Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 38 Rn. 25. 256 Art. 2 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 1260/1999 (Strukturfonds-Verordnung). S. Calliess/Ruffert/Puttler EUV/AEUV AEUV Art. 175 Rn. 4. 257 Art. 1 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 1083/2006 (Allgemeine Verordnung); Calliess/Ruffert/Puttler EUV/ AEUV AEUV Art. 175 Rn. 4. 258 Art. 93 der VO (EG) Nr. 1698/2005 (ELER-Verordnung). Die VO (EG) Nr. 1698/2005 wurde 2013 durch die VO (EU) Nr. 1305/2013 (ELER-Verordnung) aufgehoben. 259 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 43. 260 Ziffer 17 der Begründung sowie Art. 4 Abs. 6 der VO (EU) Nr. 1303/2013 (Allgemeine VO); Calliess/ Ruffert/Puttler EUV/AEUV AEUV Art. 175 Rn. 4. 261 So darf nach Art. 59 Abs. 8 der VO (EU) Nr. 1305/2013 (ELER-VO) für eine aus dem ELER finanzierte Ausgabe nicht gleichzeitig eine Beteiligung aus dem Strukturfonds, dem Kohäsionsfonds oder einem sonstigen „Finanzierungsinstrument“ der EU gewährt werden. S. Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 39 Rn. 29.

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Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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ständigkeit hat (s. Art. 3 Abs. 1 lit. e AEUV). So unterfallen handelspolitische Maßnahmen auch für landwirtschaftliche Produkte dieser ausschließlichen Unionszuständigkeit. In dem Kontext hat der EuGH262 festgestellt, dass für den Abschluss der dem WTO-Abkommen beigefügten Abkommen über die Landwirtschaft die handelspolitische Rechtsgrundlage (Art. 207 AEUV) einschlägig ist, obwohl die im Rahmen dieses Abkommens eingegangenen Verpflichtungen den Erlass interner Durchführungsmaßnahmen auf der Grundlage der Agrarkompetenz (Art. 43 AEUV) einbeziehen. Dies gilt auch für das im Rahmen des WTO-Abkommens abgeschlossene Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen.263 Allerdings können sich im Rahmen der GAP interne Maßnahmen auch auf die Ein- und Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse beziehen, was sich bereits aus Art. 40 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV herleiten lässt.264 Darüber hinaus bestehen mit Blick auf die GAP besondere Abgrenzungsfragen zur Wirtschafts- und Konjunkturpolitik (Art. 120–126 AEUV), Sozialpolitik (Art. 151–161 AEUV), Entwicklungszusammenarbeit (Art. 206–207 AEUV, Art. 214 AEUV), Forschung und technologische Zusammenarbeit (Art. 179–190 AEUV), Betrugsbekämpfung (Art. 325 AEUV) und der mit dem Lissabon-Vertrag neu eingeführten Rechtsgrundlage für das Recht des geistigen Eigentums (Art. 118 AEUV).265

B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts I. Komplexe Ausdifferenzierungen des Agrarrechts Der einschlägige Normenbestand ist durch Agrarjuristen/innen in ganzer Tiefe nur mit er- 92 heblichem Aufwand zu durchdringen. Selbst bei einer Spezialisierung als Agrarjurist/in sind in der Praxis weitere Teilspezialisierungen bzw. Schwerpunktsetzungen notwendig. Denn die Tätigkeit als Agrarjurist/in erfordert nicht nur agrarjuristischen Sachverstand, sondern auch intradisziplinäres wie interdisziplinäres Denken und Arbeiten, das ebenso unter anderem das Zusammenwirken mit Steuerberatern, Agrarökonomen, Biologen oder Architekten – je nach Fallgestaltung – einbezieht. Außerdem existieren entsprechend den verschiedenen Rechtsebenen und den Rechtsmaterien im Agrarbereich verschiedene Akteure, die der Agrarjurist in seinem Schwerpunktbereich kennen sollte, sei es, weil hier ein Austausch oder eine Kooperation sinnvoll sind oder weil etwa einfach die Stellungnahmen von Interesse sein können. In rechtswissenschaftlicher Hinsicht zeigt ein Blick auf die Komplexität, Vielfalt und Verwobenheit der Rechtsquellen wie Akteursstrukturen auf den verschiedenen Ebenen neue Entwicklungen von Governancestrukturen, Rechtsetzungs- sowie Organisationsverbünde mit föderalen Akzenten auf. Die normativen Ausdifferenzierungen des europäischen Agrarrechts erklären sich aus der 93 Sonderstellung der Landwirtschaft gegenüber anderen Wirtschaftszweigen. Dabei ist der Rahmen für die (möglichen) Ausdifferenzierungen zwar im Primärrecht vorgegeben, aber ihre genaue Gestaltung und Entwicklung Folge des Agrarsekundärrechts. Die folgende Analyse zum Agrarwettbewerbsrecht, zur Zwei-Säulen-Struktur und Verwaltung der GAP zeigt dies in concreto auf.

262 EuGH 15.11.1994 – Gutachten 1/94, Slg 1994, I-5267, Rn. 29 – TRIPS-Kompetenz = EuZW 1995, 210. 263 EuGH 15.11.1994 – Gutachten 1/94, Slg 1994, I-5267, Rn. 31 – TRIPS-Kompetenz = EuZW 1995, 210. 264 Zum Ganzen s. Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 43 Rn. 11; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 61–65. 265 Vgl. hierzu Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 38 Rn. 41, 44, 60, 66, 69, 72; Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 43 Rn. 11; Pechstein/Nowak/Häde/Norer Frankfurter Kommentar EUV/GRC/ AEUV Art. 43 Rn. 6.

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§ 7 Agrarrecht

II. Europäisches Agrarwettbewerbsrecht 1. Wettbewerb und Landwirtschaft 94 Eine Gesamtschau des Primär- und Sekundärrechts zur Wettbewerbspolitik macht deutlich, dass sich für die Landwirtschaft ein spezifisches Agrarwettbewerbsrecht entwickelt hat. Das allgemeine Wettbewerbsrecht dient dazu, den Binnenmarkt vor Beschränkungen und Verfälschungen zu schützen.266 Dies bedeutet eine Grundentscheidung für Privatinitiative und Privatautonomie.267 Innerhalb der Grenzen des Rechts sollen die Marktkräfte zu wirtschaftlichen Preisen, zur Produktivität und somit zu Wohlfahrtsgewinnen für die gesamte Bevölkerung führen.268 Das allgemeine Wettbewerbsrecht ist in Art. 101–109 AEUV geregelt und in unternehmens- und staatsbezogene Vorschriften unterteilt. Während das unternehmensbezogene Wettbewerbsrecht die Kontrolle und Begrenzung marktbeherrschender Stellungen und Preisabsprachen im Blick hat, dienen die staatsbezogenen Normen der Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen in der Union durch staatliche Beihilfen. Im Bereich der Landwirtschaft sind als unternehmensbezogene Wettbewerbsregeln die landwirtschaftliche Bereichsausnahme vom Kartellverbot im Sinne des Art. 101 AEUV, insbesondere für Erzeugergemeinschaften, von Interesse. Zum anderen bestehen agrarspezifische Lauterkeitsregeln im Bereich der unlauteren Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette, deren Anwendungsbereich über das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV hinausgehen. Das staatsbezogene Agrarwettbewerbsrecht bezieht sich auf die Rechtmäßigkeit nationaler Agrarmarkt-, Agrarstruktur-, und Agrarumweltbeihilfen. Daneben steht der besondere Komplex der wettbewerbsrechtlichen Behandlung von Agrarbeihilfen der Europäischen Union. 2. Sonderstellung der Landwirtschaft im Wettbewerbsrecht a) Primärrechtliche Ausgestaltung 95 Grundsätzlich sind gem. Art. 38 Abs. 1 AEUV auch die Landwirtschaft und der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen Teil des Binnenmarktes.269 Schon seit Beginn der europäischen Integration wurden die europäischen Agrarmärkte jedoch nicht in vollem Maße dem freien Wettbewerb ausgesetzt.270 Das europäische Agrarmarktrecht war klassischerweise geprägt durch öffentliche Interventionen, die Festsetzung von Garantiepreisen und die flächendeckende Gewährung von Einkommensbeihilfen.271 Das aktuelle unionale Agrarmarktrecht bildet hingegen seinen Schwerpunkt in der Gewährung von Beihilfen und in der Zulassung wettbewerbsrechtlicher Spezifika. Insofern gilt für den Bereich der Landwirtschaft eine Vielzahl von Sonderregelungen. Dies wurzelt in Art. 38 Abs. 2 AEUV, der die grundsätzliche Anwendung der Regeln des Binnenmarktes für die Landwirtschaft normiert, „sofern nicht im Titel Landwirtschaft etwas anderes bestimmt ist“. 96 Ebenso, wie Art. 38 AEUV eine Sonderstellung der Landwirtschaft im Binnenmarkt etabliert, bestimmt Art. 42 Abs. 1 AEUV zur Geltung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik:272 „Das Kapitel über die Wettbewerbsregeln findet auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit die266 Baumgartner/Grabenwarter/Griller/Holoubek/Lienbacher/Potacs, Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht, Bd. 1, 7. Aufl. 2010, S. 171. 267 Dauses/Ludwigs/Müller-Graff HdBEUWiR A. I. Rn. 128. 268 Dauses/Ludwigs/Müller-Graff HdBEUWiR A. I. Rn. 129 f. 269 Dauses/Ludwigs/Norer/Bloch HdBEUWiR G. Rn. 273. 270 Lohse in Härtel, Kap. 9 Rn. 5. 271 Wolffgang in FS W. Hoppe, S. 949, 959 ff. 272 Wolffgang in FS W. Hoppe, S. 949, 963.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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sen nur insoweit Anwendung, als das Europäische Parlament und der Rat dies unter Berücksichtigung der Ziele des Artikels 39 im Rahmen des Artikels 43 Absatz 2 und gemäß dem dort vorgesehenen Verfahren bestimmt.“ Damit wird ein Vorrang der Agrarpolitik gegenüber dem allgemeinen Wettbewerbsrecht festgelegt.273 Eine solche primärrechtliche Bereichsausnahme vom Wettbewerbsrecht existiert nur für den Bereich der Landwirtschaft,274 was ihre Sonderstellung im Bereich des Binnenmarktes unterstreicht. Es gilt die Prämisse, dass die Wettbewerbsregeln im Grundsatz auch für den Bereich der 97 GAP gelten.275 Allerdings ergibt die Besonderheit der landwirtschaftlichen Tätigkeit, ihr sozialer Aufbau und die strukturellen und naturbedingten Unterschiede der verschiedenen landwirtschaftlichen Gebiete, dass den in Art. 39 AUEV genannten agrarpolitischen Zielsetzungen gegenüber dem allgemeinen Wettbewerb der Vorrang eingeräumt werden kann.276 Dabei obliegt es dem Rat und dem Parlament, die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften im Bereich der GAP zu aktivieren.277 b) Sekundärrechtliche Ausgestaltung Von der primärrechtlichen Befugnis, abweichende Bestimmungen vom allgemeinen Wett- 98 bewerbsrecht im Bereich der GAP zu normieren, haben die Unionsorgane mit dem Erlass verschiedener Sekundärrechtsakte Gebrauch gemacht. Die wichtigsten wettbewerbsrechtlichen Spezialvorschriften für den Bereich der Landwirtschaft finden sich hierbei de lege lata in vier Basisverordnungen und einer Richtlinie: 1. Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 („GMO-Verordnung“)278 2. Verordnung (EG) Nr. 1184/2006 des Rates vom 24.7.2006 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen („Agrarwettbewerbsverordnung“)279 3. Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 637/2008 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates („Direktzahlungen-Verordnung“)280 4. Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005, („ELER-Verordnung“).281

273 Immenga/Mestmäcker/Schweizer, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, VIII., B., Rn. 2. 274 Schwarze/Brinker EU-Kommentar AEUV Art. 101 Rn. 14. 275 EuGH 9.9.2003 – C-137/00, Slg 2003, I-7975 Rn. 58 – The Queen/The Competition Commission ua = LRE 47, 1. 276 Immenga/Mestmäcker/Schweizer EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, VIII., B., Rn. 2; EuGH 9.9.2003 – C-137/00, Slg 2003, I-7975 Rn. 58 – The Queen/The Competition Commission ua = LRE 47, 1. 277 Martínez Soria EuZW 2010, 368 ff. 278 ABl. L 347 v. 20.12.2013, 671 ff. 279 ABl. L 214 v. 4.8.2006, 7 ff. 280 ABl. L 347 v. 20.12.2013, 608 ff. 281 ABl. L 347 v. 20.12.2013, 487 ff.

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§ 7 Agrarrecht

Maßgeblich ist des Weiteren die „Richtlinie (EU) 2019/633 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.4.2019 über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette“282 (→ Rn. 110 ff.). 99 Die Agrarwettbewerbsverordnung (VO 1184/2006), die inhaltlich unverändert die VO Nr. 26/1962 ersetzt, legt allgemein die Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln im Bereich der GAP fest. Sie ist anwendbar auf die „Produktion der in Anhang I des Vertrags [des AEUV] aufgeführten Erzeugnisse und den Handel mit diesen“ (Art. 1 VO 1184/2006). Sofern für Erzeugnisse der Anwendungsbereich der GMO-Verordnung (VO 1308/2013) eröffnet ist, gelten auch die dort geregelten speziellen Wettbewerbsvorschriften.283 Hierdurch wird im großen Umfang die Agrarwettbewerbsverordnung verdrängt.284 Die Direktzahlungen- und die ELER-Verordnung enthalten Sonderbestimmungen zur Gewährung von Agrarbeihilfen, die dem allgemeinen Beihilfenrecht (Art. 107–109 AEUV) vorgehen und dieses für den Bereich der Landwirtschaft modifizieren. aa) Agrarkartellrecht (1) Grundsätzliche Geltung des unternehmensbezogenen Wettbewerbsrechts im Agrarsektor 100 Allgemeine wettbewerbsrechtliche Vorschriften für Unternehmen finden sich in den Art. 101–106 AEUV. Art. 101 Abs. 1 AEUV statuiert ein Kartellverbot, wonach „alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“ verboten sind. Des Weiteren verbietet Art. 102 Abs. 1 AEUV „die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.“ 101 Mit Blick auf die Sonderstellung des Agrarsektors im Wettbewerbsrecht285 ist zu klären, inwieweit diese Regelungen auch im Bereich der Landwirtschaft gelten, wie also das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Kartellrecht und der Gemeinsamen Agrarpolitik ausgestaltet ist. Die kartellrechtlichen Vorschriften im Bereich der GAP werden in der, auf Grundlage des Art. 42 AEUV ergangenen, GMO-Verordnung286 und Agrarwettbewerbsverordnung287 geregelt. Dabei konstituieren Art. 206 der GMO-Verordnung und Art. 1 Agrarwettbewerbsverordnung zwar die grundsätzliche Anwendbarkeit der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften auch für den Geltungsbereich der GAP.288 Jedoch normieren Art. 209 und 210 der GMO-Verordnung und Art. 2 Agrarwettbewerbsverordnung eine agrarspezifische Ausnahme vom allgemeinen Kartellverbot des Art. 101 AEUV. Da keine

282 ABl. L 111 v. 25.4.2019, 59 ff.; zum Vorschlag der Kommission COM(2018) 173 final. 283 Art. 209 ff. der VO (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung). 284 Die Agrarwettbewerbsverordnung gilt nur noch für eine Reihe von marktrelevanten Agrarerzeugnissen, wie zB Kartoffeln, Honig, frische Ananas, Kaffee und Kork. Zur früheren inhaltsgleichen Ausgestaltung der Ausnahmen vom Kartellverbot s. Lohse in Härtel, Kap. 9 Rn. 7; Streinz/Härtel EUV/ AEUV AEUV Art. 42 Rn. 15. 285 Erstmals grundlegend in dogmatischer Hinsicht zum Agrarkartellrecht im Mehrebenensystem Lohse in Härtel, Kap. 9. 286 Art. 206, 209, 210 und 222 der VO (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung). 287 Art. 1 und 2 der VO (EG) Nr. 1184/2006 (Agrarwettbewerbsverordnung). 288 Pechstein/Nowak/Häde/Norer Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV Art. 42 Rn. 4.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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Ausnahmen von der Missbrauchsaufsicht und der Fusionskontrolle gemacht werden, gelten diese ohne Sonderregime auch im Agrarsektor.289 (2) Agrarspezifische Bereichsausnahme vom Kartellverbot Von der Geltung des Kartellverbots für Unternehmen begründen die Agrarwettbewerbs- 102 verordnung290 sowie die GMO-Verordnung291 agrarspezifische Bereichsausnahmen. Das Kartellverbot findet nach der GMO-VO keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen, 1. die zur Verwirklichung der Ziele des Art. 39 AEUV notwendig sind (Art. 209 Abs. 1 UAbs. 1 GMO-VO), 2. von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Erzeugerorganisationen (Art. 209 Abs. 1 UAbs. 2 GMO-VO), 3. von Branchenverbänden (Art. 210 GMO-VO) und 4. bei Marktstörungen (Art. 222 GMO-VO). Während früher die Ausnahmetatbestände nach der GMO-Verordnung und der Agrarwettbewerbsverordnung identisch waren, fehlt es nunmehr einer Kohärenz zwischen diesen beiden Sekundärrechtsakten.292 Im Sinne eines wohlgeordneten Agrarrechts sollte diese Kohärenz (wieder) hergestellt werden. Mit Blick auf die erste Ausnahme verlangt die Rechtsprechung in restriktiver Lesart, dass 103 die betreffende wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise zur Verwirklichung aller GAP-Ziele beitragen muss, oder dass alle Ziele zumindest berücksichtigt worden sind.293 Hinsichtlich der Erforderlichkeit der wettbewerbsbeschränkenden Handlung stellt der EuGH darauf ab, ob es keine andere Möglichkeit für die Erreichung der agrarpolitischen Ziele gibt als die fragliche wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise.294 Der Nachweis des Vorliegens dieser Voraussetzung ist in der Praxis indes schwierig. So ist nicht der Einwand von der Hand zu weisen, dass bereits die anderen Rechtsinstrumente der GMO den agrarpolitischen Zielen dienen und für darüber hinausreichende wettbewerbsbeschränkende Abreden kein Raum mehr besteht.295 Der zweite Ausnahmetatbestand von Art. 101 Abs. 1 AEUV bezieht sich gem. Art. 209 104 Abs. 1 UAbs. 2 GMO-VO auf „Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben,296 Erzeugerorganisationen oder Vereinigungen davon. Zulässige Gegenstände der Vereinbarungen etc sind die Erzeugung oder der Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder die Benutzung gemeinschaftli-

289 290 291 292 293

Lohse in Härtel, Kap. 9 Rn. 101, 109. Art. 2 der VO (EG) Nr. 1184/2006 (Agrarwettbewerbsverordnung). Art. 209 Abs. 1, 210 Abs. 1, 222 der VO (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung). Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 42 Rn. 15. EuGH 15.5.1975 – C-71/74, Slg 1975, 563 Rn. 25/26 – Fruit- en Groentenimporthandel und Frubo/ Kommission; EuGH 12.12.1995 – C-399/93, Slg 1995, I-4515 Rn. 25 – Oude Luttikhuis ua/Verenigde Coöperatieve Melkindustrie Coberco; EuG – verb. Rs. T-70/92 und T-71/92, Slg 1997, II-693 Rn. 153 – Florimex und VGB/Kommission; T-217/03 und T-245/03, Slg 2006, II-4987 Rn. 199 – FNCBV ua/ Kommission; GA Wahl SchlA – C-671/15, ECLI:EU:C:2017:281 Rn. 61 – APVE ua. 294 EuGH 16.12.1975 – C-40–48, 50, 54–56, 111, 113, 114/73, Slg 1975, 1663 Rn. 214 f. – Suiker Unie ua/Kommission. 295 Entscheidung der Kommission v. 26.11.1986 über ein Verfahren nach Art. 85 des EWG-Vertrags (IV/ 31.204 – MELDOC), ABl. 1986 L 348/50 Rn. 54; Grabitz/Hilf/Nettesheim/von Rintelen AEUV Art. 42 Rn. 24. 296 Der Begriff „landwirtschaftliche Erzeugerbetrieb“ ist in Anlehnung an den Begriff „Betriebsinhaber“ in Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.12.2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 637/2008 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates, ABl. 2013 L 347/608, zu definieren (vgl. Art. 3 Abs. 3 GMO-VO). Erfasst werden nur Produzenten landwirtschaftlicher Erzeugnisse, nicht aber reine Verarbeitungs- oder Handelsunternehmen.

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 7 Agrarrecht

cher Einrichtungen für die Lagerung, Be- und Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Jene Agrarkartelle dürfen jedoch nicht die Ziele des Art. 39 AEUV gefährden. 105 Mit dem zweiten Ausnahmetatbestand wird ua das sogenannte Genossenschaftsprivileg297 fortgeführt. Klarstellend werden anerkannte Erzeugerorganisationen und deren Vereinigungen ausdrücklich im Kreis der Privilegierten genannt.298 Die Anerkennung richtet sich nach Art. 152 ff. GMO-VO und Art. 156 GMO. Dabei ist hervorzuheben, dass mit der letzten GAP-Reform 2013 die fakultative Anerkennung von Erzeugerorganisationen und Branchenverbänden auf weitere Produktionsbereiche der Agrarwirtschaft ausgeweitet wurde. Auf diese Weise sollen ökonomische Disparitäten zwischen Erzeugern und Handel abgebaut und die Verhandlungsposition des Landwirts gegenüber der Abnehmerseite gestärkt werden.299 Die Marktstellung des Landwirts in der integrierten Wertschöpfungskette weiterhin faktisch wie rechtlich zu stärken, sollte auch bei der nächsten GAP-Reform 2020 ein Ziel sein. 106 Während die Erzeugerorganisationen horizontale Zusammenschlüsse von Erzeugern aus bestimmten Agrarsektoren (Art. 152 Abs. 1 lit. a GMO-VO) bilden, stellen Branchenverbände vertikale Zusammenschlüsse von Vertretern von Wirtschaftszweigen dar, die mit der Erzeugung und mindestens einer der weiteren Stufen der Versorgungskette (Verarbeitung oder Handel, einschließlich Vertrieb) zusammenhängen (Art. 157 Abs. 1 lit. a GMOVO). Ein Branchenverband darf anders als eine Erzeugerorganisation mehrere Sektoren landwirtschaftlicher Erzeugnisse vertreten. Im Gegensatz zu den Erzeugerorganisationen und Vereinigungen dürfen Branchenverbände allerdings nicht selbst erzeugen, verarbeiten, vermarkten (vgl. Art. 158 Abs. 1 lit. d GMO-VO). Andernfalls bestünde die Gefahr von weiten Kartellbildungen im Bereich der Agrar- und Ernährungswirtschaft. Die Freistellung vom Kartellverbot für Branchenverbände hat der Unionsgesetzgeber deshalb in Art. 210 GMO-VO restriktiver ausgestaltet als die Freistellungen für Erzeugerorganisationen nach Art. 209 GMO-VO.300 107 Der zweite Ausnahmetatbestand wurde durch die Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich wie folgt konkretisiert: „Für diese … Ausnahme müssen drei Voraussetzungen zusammen erfüllt sein. Die fraglichen Vereinbarungen müssen Genossenschaften aus nur einem Mitgliedstaat betreffen, sie dürfen nicht die Preise, sondern müssen die Erzeugung oder den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder die Benutzung gemeinschaftlicher Einrichtungen für die Lagerung, Be- oder Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse betreffen, und sie dürfen weder den Wettbewerb ausschließen noch die Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik gefährden.“301 Nunmehr gilt expressis verbis, dass aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen nicht zu einer Preisbindung verpflichten oder den Wettbewerb ausschließen dürfen (vgl. Art. 209 Abs. 1 UAbs. 3 GMO-VO). Mit der Omnibus-Verordnung vom Dezember 2017302 sind die Rechte der anerkannten Erzeugerorganisationen nochmals erweitert worden. So ist in Art. 152 GMO-VO Absatz 1 a eingefügt worden. Danach darf eine anerkannte Erzeugerorganisation abweichend von Art. 101 Abs. 1 297 Busse WUW 2016, 162; Buth in Loewenheim/Meesen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht 5. Teil Rn. 27, 29, 48. 298 Busse AUR 2015, 326. 299 Grds. zur Funktion von Erzeugerorganisation s. GA Wahl SchlA – C-671/15, ECLI:EU:C:2017:281 Rn. 73 – APVE ua; Busse in Fang/Martínez, Landwirtschaft, S. 47, 51. 300 Vgl. Busse ZWeR 2017, 88 (90); ders. in Fang/Martínez, Landwirtschaft, S. 47, 60 f.; von der Groeben/Schwarze/Hatje/van Rijn Unionsrecht AEUV Art. 42 Rn. 4; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Rintelen AEUV Art. 42 Rn. 40. 301 EuGH 12.12.1995 – C-399/93, Slg 1995, I-4515, Rn. 27 – Oude Luttikhuis ua/Verenigde Coöperatieve Melkindustrie Coberco = EuZW 1996, 282; ECLI:EU:C:2017:860 Rn. 66, 67. 302 Verordnung (EU) 2017/2393 vom 13.12.2017, ABl. L 350/15 v. 29.12.2017. Hierzu Mögele/Sitar, AUR 2018, 362; Busse, WuW 2018, 438 (443 f.).

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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AEUV „im Namen ihrer Mitglieder für die gesamte Erzeugung oder einen Teil davon die Erzeugungsplanung übernehmen, die Produktionskosten optimieren, die Erzeugung vermarkten und Verträge über die Lieferung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse aushandeln“. Da sich die Änderungen auf die Befugnisse von Erzeugerorganisationen beziehen, bleiben die Aussagen des Endivien-Urteils des EuGH vom 14.11.2017303 zur Unzulässigkeit der Einbeziehung weiterer Akteure weiterhin eigenständig relevant.304 Im Zuge der GAP-Reform 2013 wurde die Krisenermächtigung der Kommission gem. 108 Art. 222 VO (EU) 1308/2013 eingeführt.305 Danach darf die Kommission in Zeiten „schwerer Ungleichgewichte auf den Märkten“ das allgemeine Kartellverbot gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV aussetzen, und zwar für Vereinbarungen und Beschlüsse von anerkannten Erzeugerorganisationen, ihren Vereinigungen und anerkannten Branchenverbänden. Weitere Voraussetzungen für diese Kartellbefreiung sind, dass Vereinbarungen bzw. Beschlüsse der Agrarorganisationen „nicht das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes unterminieren, strikt darauf abzielen, den betreffenden Sektor zu stabilisieren“ und unter eine oder mehrere der sieben Kategorien der Marktaktivitäten fallen. Zu den sieben Kategorien gehören ua kostenlose Verteilung ihrer Erzeugnisse, Verarbeitung, Lagerung durch private Marktteilnehmer, gemeinsame Absatzförderungsmaßnahmen, Vereinbarungen über Qualitätsanforderungen, der gemeinsame Einkauf von Betriebsmitteln sowie die vorläufige Planung der Produktion. Diese aufgeführten freistellungsfähigen Handlungen werden bereits von den Zielsetzungen für anerkannte Erzeugerorganisationen erfasst und damit implizit vom Kartellverbot freigestellt (vgl. Art. 152 Abs. 1 lit. c GMO-VO). Die Krisenermächtigung gem. Art. 222 GMO-VO geht aber darüber hinaus und ergänzt anderweitige Befreiungen vom Kartellverbot im Sinne der GMO-VO.306 Zusätzliche Freistellungen nach Art. 222 GMO-VO beträfen ua die Bündelungsobergrenzen nach Art. 149, 169, 170, 171 GMO-VO oder die Verbote der Preisbindung sowie des Wettbewerbsausschlusses nach Art. 209 Abs. 1 UAbs. 3 GMO-VO und Restriktionen für anerkannte Branchenverbände nach Art. 210 GMO-VO. Zudem könnte die Zusammenarbeit aller in einem Erzeugnisbereich anerkannten Organisationsformen – Erzeugerorganisationen und Branchenverbände – gestattet werden.307 Bevor die Kommission von der Krisenermächtigung nach Art. 222 Abs. 1 GMO-VO Ge- 109 brauch machen kann, muss sie bereits Notmaßnahmen im Bereich der öffentlichen Intervention oder privaten Lagerhaltung erlassen haben (Art. 222 Abs. 2 GMO-VO). Des Weiteren darf die Befreiung von Art. 101 Abs. 1 AEUV nur auf höchstens sechs Monate befristet sein und durch die Kommission nur einmalig für weitere sechs Monate zugelassen werden (Art. 222 Abs. 3 GMO-VO). Bislang hatte die Kommission auf der Grundlage des Art. 222 Abs. 1 GMO-VO Sonder- 110 freistellungen für den Milchsektor befristet geregelt.308 Mit der Durchführungsverordnung (EU) 2016/559309 gestattete sie „freiwillige gemeinsame Vereinbarungen und gemeinsame Beschlüsse über die Planung der zu erzeugenden Milchmenge zu schließen bzw. zu fas303 EuGH 14.11.2017 – C-671/15, ECLI:EU:C:2017:860 – APVE zu Absprachen der französischen Erzeuger zur Festsetzung von Mindestpreisen für Endivien. 304 Gundel, NZKart 2019, 302 (305). 305 Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung des Europäischen Parlaments, Draft Report v. 5.6.2012, Dok. PE485 v 02-00, S. 258 f. 306 Busse ZWeR 2017, 88 (93). 307 Busse ZWeR 2017, 88 (93 f.). 308 Hierzu Busse DVBl. 2017, 473 (480); ders. ZWeR 2017, 88 (99 ff.). 309 Durchführungsverordnung (EU) 2016/559 der Kommission v. 11.4.2016 zur Genehmigung von Vereinbarungen und Beschlüssen über die Planung der Erzeugung im Sektor Milch und Milcherzeugnisse, ABl. 2016 L 96/20. Eine Verlängerung erfolgte bis 13.4.2017 mit der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1615 der Kommission vom 8.9.2016 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU)

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§ 7 Agrarrecht sen“. Diese Kartellbefreiung wurde durch die Delegierte Verordnung (EU) 2016/558310 auf „Genossenschaften und andere Formen von Erzeugerorganisationen im Sektor Milch und Milcherzeugnisse“ ausgedehnt. bb) Verbote von unlauteren Handelspraktiken

111 Zur Stärkung der wirtschaftlichen Position der Landwirte/innen in der Wertschöpfungskette könnte neben dem Recht der Erzeugerorganisationen auch ein rechtliches Verbotsregime zu unlauteren Handelspraktiken beitragen. Mit der Richtlinie (EU) 2019/633 über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette (UHP-Richtlinie) ist ein Verbotsregime im Sinne einer Mindestharmonisierung geschaffen worden, dh die Mitgliedstaaten dürfen zur Sicherstellung eines höheren Schutzniveaus strengere Vorschriften erlassen (vgl. Art. 9 Abs. 1 UHPRL). Zur Entstehungsgeschichte dieser Richtlinie gehört ua das in 2010 von der Kommission etablierte „Hochrangige Forum für die Verbesserung der Funktionsweise der Lebensmittelversorgungskette“.311 Im Rahmen dieses Forums gab eine Expertenplattform den Anstoß für die Supply Chain Initiative, die freiwillig Codes of Conduct zu fairen Praktiken in den Vertragsbeziehungen entlang der Lebensmittelversorgungskette entwickelt hat.312 Dieses im Rahmen der Selbstverpflichtung der Lebensmittelwirtschaft entstandene Soft Law erfüllte jedoch nicht in Gänze die Erwartungen der Primärerzeuger, da ein anonymer Streitbeilegungsmechanismus und eine wirksame Durchsetzung der Rechte Betroffener fehlten.313 Auch vor diesem Hintergrund forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2016314 die Europäische Kommission auf, einen Vorschlag zu einem wirksamen Rechtsrahmen zu vorzulegen. Vom Vorschlag der Kommission zur UHP-Richtlinie vom 12.4.2018 bis zum Inkrafttreten der Richtlinie am 29.4.2019 bedurfte es nur ein Jahr, ein zügiges Tempo für ein Legislativverfahren. Umzusetzen ist die Richtlinie in das mitgliedstaatliche Recht bis zum 1.5.2021 (Art. 13 Abs. 1 UHPR). Bis zum 1.11.2021 legt die Kommission einen Zwischenbericht über den Stand der Umsetzung und Durchführung dieser Richtlinie vor, und bis zum 1.11.2025 erfolgt eine erste Evaluierung durch die Kommission ggf. verbunden mit Änderungsvorschlägen (vgl. Art. 12 UHPR). 112 Ein neues Rechtsregime zum EU-Lauterkeitsrecht erweist sich als erforderlich, da nicht alle Mitgliedstaaten über ein entsprechendes wirksames Rechtsinstrumentarium verfügen. Auch reicht das bisherige EU-Wettbewerbsrecht nicht aus, um Missbrauchsfälle des Ausnutzens von Verhandlungsmacht von Käufern/Abnehmern (wie zB dem Lebensmitteleinzelhandel aber auch andere Abnehmer wie Molkereien) zulasten unterlegener Vertragspartner (Primärproduzenten/Landwirte) einzudämmen. Zwar regelt Art. 102 AEUV ein

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2016/559 hinsichtlich des für Vereinbarungen und Beschlüsse über die Planung der Erzeugung im Sektor Milch und Milcherzeugnisse zulässigen Zeitraums, ABl. 2016 L 242/17. Gestützt auf Art. 219 Abs. 1 Delegierte Verordnung (EU) 2016/558 der Kommission v. 11.4.2016 zur Genehmigung von Vereinbarungen und Beschlüssen von Genossenschaften und anderen Formen von Erzeugerorganisationen im Sektor Milch und Milcherzeugnisse über die Planung der Erzeugung, ABl. 2016 L 96/18. Beschluss der Kommission v. 30.7.2010, ABl. C 210 v. 3.8.2010, 4; Beschluss der Kommission v. 190.12.2012, ABl. C 396 v. 21.12.2012, 17. https://www.supplychaininitiative.eu/sites/default/files/sci_rules_of_governance_and_operations_-_ger man.pdf; https://www.supplychaininitiative.eu/sites/default/files/entr-2013-00308-00-00-d-tra-00final. pdf (28.7.2019). Busse, Berichte über die Ausschusssitzungen im Rahmen der Frühjahrstagung der DGAR am 26.4.2018 in Harsewinkel (Teil 2, 1.). Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2016 zu unlauteren Handelspraktiken in der Lebensmittelversorgungskette (2015/2065 (INI)).

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und auch den Missbrauch beim Fordern von Preisen und Geschäftsbedingungen (vgl. Art. 102 S. 2 lit. a AEUV „Erzwingung von unangemessenen Einkaufspreisen“). Allerdings bedarf es für die Anwendung des Missbrauchsverbotes des Nachweises einer marktbeherrschenden Stellung der verhandlungsmächtigen (Groß-)Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels, der aber in der Praxis schwer zu führen sein wird.315 Gem. Art. 1 Abs. 1 RL 2019/633 fallen unter unlautere Handelspraktiken „Praktiken, die 113 gröblich von der guten Handelspraxis abweichen, gegen das Gebot von Treu und Glauben und des redlichen Geschäftsverkehrs verstoßen und einem Handelspartner einseitig von einem anderen aufgezwungen werden“ (Art. 1 Abs. 1 UHPR). Hierbei stellt sich ua die Frage, wie das einseitige Aufzwingen von unlauteren Handelspraktiken von einem Vertragspartner auf den anderen („unterlegenen“) Vertragspartner zu verstehen ist. Ähnlich wie bei der kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle nach Art. 102 AEUV besteht das Problem zur Abgrenzung zwischen zulässiger Verhandlungsführung und missbräuchlicher Ausnutzung von Nachfragemacht.316 Eine Orientierung bieten indes die Legaldefinitionen der UGP-Richtlinie317 zu „aggressive Handelspraktiken“ (Art. 8) und zu „unzulässige Beeinflussung“ (Art. 2 lit. j).318 Die weite Fassung des sachlichen Anwendungsbereichs in Art. 1 Abs. 2 UHP-Richtlinie in 114 Bezug auf den Verkauf von allen Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen ist zu begrüßen, da insofern Abgrenzungsprobleme vermieden werden. Angesichts der weiten Auslegung der Agrarkompetenznorm des Art. 43 Abs. 2 AEUV (→ Rn. 63 ff.) wird die Richtlinie von ihr gestützt. Der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie differenziert nach Jahresumsätzen der Lieferanten und der Käufer. Damit knüpft der Rechtsakt an die wesentliche Ursache für unlautere Handelspraktiken in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette an, die in den „erhebliche(n) Ungleichgewichte(n) in Bezug auf die Verhandlungsmacht von Lieferanten und Käufern“ gesehen wird.319 Aber auch Kaskadeneffekte für landwirtschaftliche Erzeuger sollten vermieden werden.320 Denn auch wenn größere Marktteilnehmer in einem bestimmten Teil der Wertschöpfungskette von unlauteren Handelspraktiken betroffen sind, werden die wirtschaftlichen Nachteile regelmäßig an die schwächsten Teilnehmer der Versorgungskette weitergereicht (sog. Kaskadeneffekt).321 Deswegen sollten auch größere/wirtschaftlich stärkere Lieferanten in den Schutzbereich der Richtlinie aufgenommen werden. Dies zugrunde legend gilt die Richtlinie ua,

315 Köhler, Nachfragemacht und unlautere Handelspraktiken im Lebensmitteleinzelhandel, Rechtsgutachten erstellt im Auftrag der Oxfam Deutschland e.V., 2013, S. 13. 316 Vgl. Lettl, Rechtsgutachten zu kartellrechtlichen Fragen der Marktkonzentration am Beispiel Agrarsektor und Lebensmitteleinzelhandel im Auftrag von Oxfam Deutschland, 2017, S. 5. 317 Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken 2005/29/EG (UGP-Richtlinie). 318 Hierzu instruktiv Köhler, Nachfragemacht und unlautere Handelspraktiken im Lebensmitteleinzelhandel, Rechtsgutachten erstellt im Auftrag der Oxfam Deutschland e.V., 2013, S. 29 f. „Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie im konkreten Fall (…) die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Verbrauchers in Bezug auf das Produkt durch Belästigung, Nötigung (…) oder durch unzulässige Beeinflussung (…) erheblich beeinträchtigt (…).“ (Art. 8 UGP-RL). „Unzulässige Beeinflussung“ wird definiert als „die Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher zur Ausübung von Druck (…), in einer Weise, die die Fähigkeit des Verbrauchers zu einer informierten Entscheidung wesentlich einschränkt“ (Art. 2 lit. j UGP-RL). 319 Erwägungsgrund Nr. 1 RL 2019/633. Erwägungsgrund Nr. 14 RL 2019/633 hält fest: „Diese Richtlinie sollte für das Geschäftsgebaren größerer Marktteilnehmer gegenüber Marktteilnehmern mit geringerer Verhandlungsmacht gelten. Die relative Verhandlungsmachte lässt sich (…) anhand des Jahresumsatzes der verschiedenen Marktteilnehmer abschätzen.“ 320 Erwägungsgrund Nr. 9 RL 2019/633. 321 Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABl. C 440 v. 6.12.2018, 165.

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wenn Lieferanten mit einem Jahresumsatz von höchstens 2 Mio. EUR Erzeugnisse an Käufer mit einem Jahresumsatz von mehr als 2 Mio. EUR verkaufen oder n wenn Lieferanten mit einem Jahresumsatz von mehr als 150 Mio. EUR und höchstens 350 Mio. EUR Erzeugnisse an Käufer mit einem Jahresumsatz von mehr als 350 Mio. EUR verkaufen. 115 Im Gegensatz zu Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern ist in der UHP-Richtlinie keine Generalklausel zu unlauteren Handelspraktiken aufgenommen worden. Vielmehr sind verbotene unlautere Handelspraktiken gem. Art. 3 UHPR konkret in Katalogen geregelt worden. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass mindestens diese geregelten unlauteren Handelspraktiken verboten sind. Dabei differenziert der Unionsgesetzgeber zwischen zwei Arten von unlauteren Handelspraktiken in Art. 3 Abs. 1 und 2 UHPR.322 Art. 3 Abs. 1 UHPR regelt Verhaltensformen, die einseitig von einem Handelspartner einem anderen gegenüber auferlegt werden (absolut verbotene Handelspraktiken). Nach Art. 3 Abs. 2 UHPR sollen die aufgeführten Praktiken nur dann zulässig sein, wenn sie zuvor in einem Vertrag vereinbart worden sind (relativ verbotene Handelspraktiken). 116 Der Katalog der absolut verbotenen Handelspraktiken umfasste nach dem ursprünglichen Entwurf der Kommission vom 12.4.2018 nur vier Praktiken,323 sollte laut Beschluss des AGRI-Ausschusses des Europäischen Parlaments vom 1.10.2018 um 40 weitere ausgedehnt werden und enthält nun in seiner gültigen Fassung neun Praktiken bzw. zehn, wenn man die unter lit. a aufgeführten Praktiken einzeln zählt (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a–i RL). Nach Art. 3 Abs. 1 UHPR sind zB folgende unlautere Handelspraktiken verboten: verspätete Zahlung für verderbliche Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse (lit. a), die kurzfristige Stornierung der Bestellung verderblicher Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse (lit. b), die einseitige Änderung der Bedingungen einer Liefervereinbarung durch den Käufer (lit. c.) und die Androhung von Vergeltungsmaßnahmen bei Geltendmachung von Rechten (lit. h). Art. 3 Abs. 2 UHPR führt bedingt erlaubte Handelspraktiken (bzw. relativ verbotene Handelspraktiken) auf. Diese Praktiken sind nur dann erlaubt, wenn sie zuvor „klar und eindeutig“ in der Liefervereinbarung festgelegt worden sind. Dazu gehören zB die Rücksendung nicht verkaufter Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse (lit. a), das Verlangen von Zahlungen für die Listung oder die Lagerung von Erzeugnissen des Lieferanten (lit. b), die Zahlung für Werbung und Vermarktung für Erzeugnisse (lit. d, e). 117 Die effektive Durchsetzung der Verbote unlauterer Handelspraktiken sollen Behörden der Mitgliedstaaten (vgl. Art. 4, 6 UHPR) und Rechtsbehelfe des Betroffenen (Art. 5 UHPR) gewährleisten. Zudem soll eine Beschwerde von Lieferanten bei der Behörde auf Antrag vertraulich behandelt werden (Art. 5 UHPR). Mit dieser Vertraulichkeit soll der „Angstfaktor“ bei der Geltendmachung von Verstößen gegen Verbote zu unlauteren Handelspraktiken überwunden werden.324 Mit „Angstfaktor“ wird die Situation von betroffenen Unternehmen (hier Lieferanten) mit unterlegener Verhandlungsmacht bezeichnet, in der diese bei unlauteren Handelspraktiken aus Angst vor Verlust der Geschäftsbeziehung zu einem Handelspartner auf die Durchsetzung ihrer Rechte verzichten325 („you may win the case, but lose your business“326). Insgesamt ist die Richtlinie zu unlauteren Handelspraktiken in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette rechtspolitisch ein zu begrüßender n

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Glöckner WRP 2019, 824 (826). COM(2018) 173 final, Art. 3 Abs. 1 lit. a–d. Glöckner WRP 2019, 824 (826). Göckler, Angstfaktor und unlautere Handelspraktiken, 2017, S. 90; vgl. auch COM(2013) 37 final, 8. Glöckner WRP 2019, 824 (826).

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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Gesetzgebungsakt mit wichtigen unionsweiten Regelungsansätzen zu den Verboten unlauterer Handelspraktiken und den Durchsetzungsmechanismen. In primärrechtlicher Hinsicht wirft sie allerdings aufgrund des erheblichen Eingriffs in die Vertragsautonomie, die von der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC geschützt wird, Fragen nach der Grundrechtskonformität auf. cc) Agrarbeihilfenrecht (1) Unterscheidung zwischen Unionsbeihilfen, Verbundbeihilfen und staatlichen Beihilfen Neben dem ersten Bereich des Agrarkartellrechts betrifft der zweite große Bereich des 118 Wettbewerbsrechts in Bezug auf die Landwirtschaft das Agrarbeihilfenrecht. Agrarbeihilfen bilden das zentrale Steuerungsinstrument der Agrarpolitik im föderalen Mehrebenensystem. So beanspruchen die meisten landwirtschaftlichen Betriebe – wenngleich in unterschiedlichem Maße – Agrarbeihilfen. In der Systematik des föderalen Agrarbeihilfenrechts ist grundlegend zwischen drei Arten von Beihilfen zu unterscheiden327: 1. Unionsbeihilfen: Diese sind Bestandteil der 1. Säule der GAP und werden durch den Haushalt der EU finanziert. Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Erhalt dieser Beihilfen werden durch das Unionsrecht geregelt. 2. Verbundbeihilfen:328 Diese gehören zur 2. Säule der GAP und sind durch eine Kofinanzierung durch die Union und die Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Die rechtlichen Voraussetzungen für einen Beihilfeanspruch werden von der Union lediglich rahmenrechtlich abgesteckt und von den Mitgliedstaaten dann konkret ausgestaltet. Das erforderliche Zusammenwirken der Union und Mitgliedstaaten im Rahmen der Finanzierung und der Rechtsetzung drückt sich treffend im Begriff „Verbundbeihilfen“ aus. 3. Staatliche Beihilfen: Sie sind ein Instrument der jeweiligen mitgliedstaatlichen Agrarpolitik, werden dementsprechend auch allein von den Mitgliedstaaten finanziert und mit Blick auf die konkreten Vergabevoraussetzungen geregelt. Auch für die Anwendbarkeit des wettbewerblichen Beihilfenrechts der Europäischen Uni- 119 on – Art. 107–109 AEUV – ist die Dreier-Einteilung der Agrarbeihilfen von maßgeblicher Bedeutung, denn das Rechtsregime nach Art. 107–109 AEUV gilt grundsätzlich nur für staatliche Beihilfen.329 Das heißt für den ersten Typus – „Unionsbeihilfen“ – greift dieses Rechtsregime nicht.330 Für den dritten Typus – „staatliche Agrarbeihilfen“ – sind diese wettbewerbsrechtlichen Vorschriften klar heranzuziehen, wobei allerdings in vielfacher Hinsicht Privilegierungen gegenüber den allgemeinen wettbewerbsrechtlichen Vorschriften bestehen.331 Mit Blick auf den zweiten Typus – „Verbundbeihilfen“ – ist die Anwendbarkeit der Art. 107–109 AEUV sehr fraglich. (2) Privilegierung staatlicher Agrarbeihilfen Vom strengen Beihilfenregime der Art. 107–109 AEUV enthält das stark ausdifferenzierte 120 Agrarsekundärrecht verschiedene Ausnahmen für staatliche Agrarbeihilfen: Für landwirtschaftliche Erzeugnisse, die in den Anwendungsbereich der GMO-Verordnung fallen, stellt diese Verordnung im Ausgangspunkt zwar auf eine grundsätzliche Geltung der allge-

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Diese begriffliche Systematisierung geht auf die Autorin zurück. Der Begriff stammt von der Verfasserin. Dauses/Ludwigs/Götz HdBEUWiR H. III. Rn. 20. Vgl. hierzu EuGH 13.10.1982 – C-213-215/81, Slg 1982, I-3583, Rn. 22 – Norddeutsches Vieh- und Fleischkontor ua/Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung; Schwarze/Bittner EU-Kommentar AEUV Art. 42 Rn. 10. 331 Ausführlich dazu s. Belger, S. 120 ff.

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meinen Beihilfenregeln ab,332 regelt dann aber auch hiervon verschiedene Ausnahmen333. Im 176. Erwägungsgrund der GMO-Verordnung hat der Unionsgesetzgeber hierzu folgendes ausgeführt: „… Wenn diese Ausnahmen Anwendung finden, sollte die Kommission jedoch die Möglichkeit haben, ein Inventar der bestehenden, neuen oder geplanten nationalen Beihilfen aufzustellen, den Mitgliedstaaten geeignete Hinweise zu geben und zweckdienliche Maßnahmen vorzuschlagen.“ 121 Zu dem marktordnungsrechtlichen Sonderrecht gehören zB nationale Zahlungen für die Bienenzucht, für die Verteilung von Erzeugnissen an Kinder, für den Zuckersektor in Finnland, für Schalenfrüchte und für die Destillation von Wein in Krisenfällen. Eine weitere Bereichsausnahme zum allgemeinen Beihilfenrecht findet sich in Art. 13 VO (EU) 1307/2013 für die überschaubaren staatlich finanzierten (Direkt)Zahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe. 122 Neben diesen originär agrarrechtlichen Bereichsausnahmen existieren wichtige Rechtsakte für staatliche Agrarbeihilfen, die ihre dogmatische Grundlage im allgemeinen Beihilfenrecht der Art. 107 ff. AEUV haben. So hat die Kommission in der fast 100-seitigen „Rahmenregelung der Europäischen Union für staatliche Beihilfen im Agrar- und Forstsektor und in ländlichen Gebieten 2019–2020“334 ausführlich Prüfkriterien und ihre Ansichten zur Vereinbarkeit der staatlichen Beihilfen mit dem Binnenmarkt gem. Art. 107 Abs. 2 lit. b und Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV aufgestellt. Auf der Grundlage des Art. 108 Abs. 4 AEUV erließ die Kommission zentrale Beihilfenverordnungen für den Agrarsektor. In der sog Agrar-Gruppenfreistellungsverordnung335 hat sie geregelt, unter welchen Voraussetzungen die staatlichen Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 2 oder Abs. 3 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar und von Notifizierungspflicht nach Art. 108 Abs. 3 AEUV freigestellt sind.336 Die Agrar-De-minimis-Verordnung337 bestimmt, dass staatliche Beihilfen an Unternehmen der landwirtschaftlichen Primärerzeugung338, die innerhalb von drei Steuerjahren einen Betrag 25.000 EUR nicht überschreiten (früherer Höchstbetrag: 15.000 EUR), als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden und nicht der Kommission notifiziert werden müssen. (3) Behandlung von Unionsbeihilfen 123 Die soeben behandelten Ausnahmeregelungen für Agrarbeihilfen gelten nur für staatliche, nicht aber für EU-Beihilfen, also insbesondere nicht für die von der EU finanzierten Direktzahlungen der ersten Säule der GAP. Auch die allgemeinen primärrechtlichen Vorschriften der Art. 107–109 AEUV gelten grundsätzlich nur für staatliche Beihilfen.339 Der Grund hierfür ist, dass Unionsbeihilfen „unter dem positiven Vorzeichen eines erwünsch-

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S. Art. 211 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung). Vgl. Art. 211 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung). ABl. 2014 C 204, 1. Verordnung (EU) Nr. 702/2014 der Kommission v. 25.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Arten von Beihilfen im Agrar- und Forstsektor und in ländlichen Gebieten mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Ar. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. 2014 L 193/1. Art. 3 VO Nr. 702/2014. Verordnung (EU) Nr. 1408/2013 der Kommission v. 18.12.2013 über die Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen im Agrarsektor, ABl. 2013 L 352, 9, geändert durch Verordnung (EU) 2019/316 der Kommission v. 21.2.2019, ABl. 2019 L 51, 1. Art. 3 Abs. 3 a VO (EU) Nr. 1408/2013 idF v. 21.2.2019. Danach kann ein Mitgliedstaat beschließen, dass anstatt des Betrages in Höhe von 20.000 EUR der Betrag in Höhe von 25.000 EUR in einem Zeitraum von drei Steuerjahren maßgeblich ist. Dauses/Ludwigs/Götz HdBEUWiR H. III. Rn. 20.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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ten Instruments der Unionspolitik“, während „staatliche Beihilfen unter dem negativen Vorzeichen des (freilich widerlegbaren) Protektionismusverdachts“ stehen.340 Es stellt sich aber die Frage, welche primärrechtlichen Vorschriften für Unionsagrarbeihilfen gelten. Weder die Notifizierungspflicht noch das Durchführungsverbot nach Art. 108 Abs. 3 124 AEUV sind für Unionsbeihilfen anwendbar, da sie auf mitgliedstaatliche Beihilfen zugeschnitten sind. Allerdings ist auch die Europäische Union nach Art. 3 Abs. 1 S. 1 EUV und Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV341 dem Ziel, einen funktionierenden Binnenmarkt ohne Wettbewerbsverzerrungen zu errichten, verpflichtet.342 Dies bedeutet, dass sie sich wettbewerbsverzerrender Mittel enthalten muss. Zur Überwachung der Rechtmäßigkeit der Unionsbeihilfen steht der Kommission die Beihilfenaufsichtsbefugnis – entsprechend nach Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV – zur Verfügung. Für den Agrarsektor sind dabei spezifisch die agrarpolitischen Ziele des Art. 39 AEUV als Rechtmäßigkeitsmaßstab heranzuziehen. Außerdem muss sich nach dem Prinzip „patere legem quam ipse fecisti“ die Union an die Normen halten, die sie gegenüber den Mitgliedstaaten anwendet. Damit dürfen auch Unionsbeihilfen nicht dem Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs und den agrarpolitischen Zielen entgegenlaufen, auch, wenn die Instrumente der Beihilfennotifizierung oder des Durchführungsverbotes nach Art. 108 Abs. 3 AEUV nicht auf sie anwendbar sind.343 Zudem hat der Unionsgesetzgeber bei der Ausgestaltung der Unionsbeihilfen das spezielle Diskriminierungsverbot nach Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV zu beachten. (4) Behandlung von Verbundbeihilfen Da es bei den Verbundbeihilfen im Rahmen der zweiten Säule (ELER) einen Unionsteil 125 und einen staatlichen Teil der Beihilfe gibt, kommt das für staatliche Beihilfen geltende Regime nach Art. 107 ff. AEUV nicht ohne Weiteres zur Anwendung. Solche gemischten Beihilfen könnten auch gemischt qualifiziert werden. Dafür könnte sprechen, dass die Union zwar die Leitlinien für die Programmplanungen der Mitgliedstaaten vorgibt, die konkrete Ausarbeitung von Förderprogrammen und damit die konkrete Programmhoheit hinsichtlich einzelner Beihilfen aber bei den Mitgliedstaaten liegt.344 Dementsprechend wäre der mitgliedstaatliche Teil der Agrarbeihilfen im Rahmen der zweiten Säule der GAP als staatliche Beihilfe zu qualifizieren.345 Aufgrund des überwölbenden unionsrechtlichen Rahmens könnten die „Verbundbeihilfen“ aber auch insgesamt als Unionsbeihilfen zu qualifizieren sein. Hiernach würde es sich auch bei dem finanziellen Beitrag der Mitgliedstaaten zur Finanzierung dieser Beihilfen nicht um eine staatliche Beihilfe handeln.346 Die gemischten Agrarbeihilfen können vielmehr – unabhängig von ihrer Finanzierung – auf der Grundlage des unionalen Agrarsekundärrechts bewilligt werden, das sich auf die Agrarkompetenz des Art. 43 Abs. 2 AEUV stützt.347 Diese rechtliche Lösung hat der Unionsgesetzgeber auch in der ELER-Verordnung (2. Säule der GAP) gewählt,348 indem er klarstellt, dass die wettbewerblichen Rechtsvorschriften der Art. 107 ff. AEUV nicht gelten für die finanzielle Beiträge, die die Mitgliedstaaten im Rahmen der Durchführung der 340 Belger, S. 148. 341 Harings, Subventionen im Marktordnungsrecht in Ehlers/Wolffgang/Schröder (Hrsg.), Subventionen im WTO- und EG-Recht, 2006, S. 113, 127. 342 Ehricke WuW 1993, 818 ff. 343 Belger, S. 149. 344 Belger, S. 134. 345 Martínez Soria EuZW 2010, 368 (370). 346 Schwarze/Bittner EU-Kommentar AEUV Art. 42 Rn. 10; Frenz HB Europarecht, Bd. 6, Kap. 16 § 2 Rn. 2528. 347 Schwarze/Bittner EU-Kommentar AEUV Art. 42 Rn. 10. 348 Vgl. hierzu Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 42 Rn. 14; Frenz HB Europarecht, Bd. 6, 2011, Kap. 16 § 2 Rn. 2528.

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§ 7 Agrarrecht ELER-Verordnung leisten.349 Die nationalen Mittel zur Ko-Finanzierung der Fördermaßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raumes sind also dem Sonderregime der ELERVerordnung unterstellt und unterliegen nicht den allgemeinen beihilfenrechtlichen Normen der Art. 107 ff. AEUV. Sofern allerdings die Mitgliedstaaten zur Förderung des ländlichen Raumes über den Ko-Finanzierungsanteil überschießende Mittel einsetzen, sind die Art. 107 ff. AEUV anwendbar.350   Zwei-Säulen-Struktur der Gemeinsamen Agrarpolitik III. Die   Abbildung 3:     Gemeinsame Agrarpolitik

 

Art. 38 – 44 AEUV

1. Säule – Marktordnungsrecht

2. Säule – Ländliche Entwicklung

EU-Finanzierung durch den EGFL

Kofinanzierung durch den ELER und die Mitgliedstaaten

Marktordnungsrecht im engeren Sinne

Marktordnungsrecht im weiteren Sinne

Recht der ländlichen Entwicklung 

Priorität 1: Wissenstransfer und Innovation



Interventionen







Krisenmaßnahmen

Priorität 2: Wettbewerb, Techniken, nachhaltige Waldbewirtschaftung



Vermarktungsnormen



Priorität 3: Organisation der Nahrungsmittelkette



Priorität 4: Schutz von Ökosystemen



Priorität 5: Ressourceneffizienz und Klimaschutz



Priorität 6: Soziale Teilhabe

GMO VO (VO 1308/2013)

Direktzahlungen

Direktzahlungen-VO (VO 1307/2013)

ELER-VO (VO 1305/2013)

Gemeinsame Vollzugsstrukturen (VO 1306/2013)

 

Agrarpolitik ist durch ihre Zwei-Säulen-Struktur geprägt, die zwar nicht 126 Die Gemeinsame   durch das Primärrecht vorgegeben, sondern durch das Agrarsekundärrecht sukzessive ent  worden ist. Das bedeutet, dass der Unionsgesetzgeber die Säulen-Struktur auch wickelt wieder  aufheben könnte. Politisch ist dies aber gegenwärtig nicht vorgesehen, wie dies bereits im begonnenen Gesetzgebungsprozesse zur Reform der GAP nach 2020 in dem Ent  wurf der Europäischen Kommission zur Neuordnung der GAP zum Ausdruck kommt.   127 Die 1. Säule der GAP bildet das Agrarmarktordnungsrecht und die 2. Säule das Recht des   ländlichen Raumes (früher: Agrarstrukturrecht). Zur 1. Säule gehören Maßnahmen der Agrarmarktpolitik, insbesondere die gemeinsame Agrarmarktordnung und die Direktzah  lungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe. Die 2. Säule bezieht sich auf die Förde  rung des ländlichen Raums. Allerdings erfolgt in sachlich-inhaltlicher Hinsicht keine ganz strikte Abgrenzung zwischen den beiden Säulen, sondern es bestehen Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen den Instrumenten der beiden Säulen.351 So wirken sich etwa marktordnende Maßnahmen auch auf die Struktur des ländlichen Raumes aus und agrarstrukturpolitische Maßnahmen wiederum auf den Agrarmarkt.352 349 350 351 352

Art. 81 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 1305/2013 (ELER-Verordnung). Art. 81 Abs. 1 der VO (EU) Nr. 1305/2013 (ELER-Verordnung). Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 39 Rn. 40–42 a. S. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 6, Kap. 16 § 2 Rn. 2640.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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Die praktische Relevanz der Abgrenzung zwischen der ersten und zweiten Säule liegt je- 128 doch bislang grundsätzlich in der unterschiedlichen Art der Finanzierung. Während die Maßnahmen der ersten Säule aus dem Haushalt der EU finanziert werden, gilt für die 2. Säule das Prinzip der Kofinanzierung, also der gemeinsamen Finanzierung durch die EU und die Mitgliedstaaten. Mittlerweile wurde auch sogar dieser Grundsatz – wenn auch nur vereinzelt – durchbrochen.353 Zum Beispiel werden Sondermaßnahmen zur Marktstützung im Rahmen der ersten Säule von der EU nur kofinanziert. Dabei handelt es sich konkret um Maßnahmen im Falle von Tierseuchen und bei Vertrauensverlust der Verbraucher infolge von Risiken für die menschliche, tierische oder pflanzliche Gesundheit.354 Zur Finanzierung der GAP wurde bereits 1962 der Europäische Ausrichtungs- und Ga- 129 rantiefonds (EAGFL) eingerichtet, aus dessen Abteilung „Garantie“ garantierte Marktstützungen, also Marktordnungsmaßnahmen, und aus der Abteilung „Ausrichtung“ Agrarstrukturmaßnahmen finanziert wurden.355 Mit Wirkung zum 1.1.2007 wurde durch die Agrarfinanzierungsverordnung (EG) 1290/2005356 der EAGFL aufgespalten in: n den Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL), der die vorherige Abteilung Garantie des EAGFL ablöste, und n den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), der die Abteilung „Ausrichtung“ ersetzte.357 Seitdem finanziert der EGFL Maßnahmen der ersten Säule der GAP, also Interventionsmaßnahmen und Direktzahlungen, und der ELER den EU-Anteil für die 2. Säule. Wie der frühere EAGFL sind der EGFL und der ELER Teile des allgemeinen EU-Haushalts und besitzen keine eigene Rechtspersönlichkeit.358 Die beiden Agrar-Fonds werden von der Europäischen Kommission verwaltet. Der EU-Agrarhaushalt 2018 umfasst 55,1 Mrd. EUR. Bei einem Gesamthaushaltsvolumen von 144,8 Mrd. EUR sind dies rund 38% des EU-Haushalts. 40,7 Mrd. EUR davon sind für die Direktzahlungen und 2,5 Mrd. EUR für Agrarmarktmaßnahmen, also die 1. Säule vorgesehen. 11,9 Mrd. EUR sind für die ländliche Entwicklung eingeplant.359

353 Pechstein/Nowak/Häde/Norer Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV Art. 40 Rn. 65. 354 Art. 220 Abs. 1, 5 der VO (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung). 355 Eiden, Die Vorschriften der EU zur Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik in Klein/Pieper/Ress (Hrsg.), Rechtsstaatliche Ordnung Europas, GS für A. Bleckmann, 2007, S. 109 ff.; Krug, Die Finanzierung der GAP, 2008. 356 ABl. L 209 v. 11.8.2005, 1 ff. 357 Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Busse EuR § 25 Rn. 50. 358 Geiger/Khan/Kotzur/Khan EUV/AEUV AEUV Art. 40 Rn. 30. 359 DBV, Situationsbericht 2018/19, S. 109.

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§ 7 Agrarrecht Abbildung 4:

  Quelle: DBV Situationsbericht 2018/2019, S. 110

130 Ein Vergleich mit der Struktur des Agrarhaushalts von 1991 zeigt, dass im Gegensatz zu damals, als 91 % der Haushaltsmittel für Marktstützungen (Exporterstattungen, Lagerhaltung) aufgewendet wurden, heute (Stand 2018) zum einen die 2. Säule mit einem Anteil von 21 % am Agrarhaushalt neben die Marktordnungspolitik getreten ist. Zum anderen wird deutlich, dass im Bereich der ersten Säule die Marktstützungsmaßnahmen fast vollständig durch die Direktzahlungen verdrängt wurden, die heute 74 % des Agrarhaushaltes ausmachen.

IV. Die 1. Säule der GAP – gemeinsame Marktordnung und Direktzahlungen 131 Im Bereich der ersten Säule der GAP kann zwischen dem Marktordnungsrecht im engeren Sinne, das nur Marktstützungsregelungen umfasst und dem Marktordnungsrecht im weiteren Sinne, worunter insbesondere die Direktzahlungen fallen, unterschieden werden. Marktordnungsrechtliche Maßnahmen im engeren Sinne greifen unmittelbar stabilisierend auf die Agrarmärkte ein, wie zum Beispiel Preisgarantien, Interventionskäufe, Lagerhaltung, Erzeugungsbegrenzungen durch Quoten und Außenhandelsregelungen. Während zu Beginn der GAP diese Interventionsmaßnahmen, insbesondere die Preisgarantien, wichtigstes Instrument der GAP waren, was sich auch dadurch zeigte, dass diese Posten fast den gesamten Agrarhaushalt beanspruchten, wurden sie nach der Agenda 2000-Reform immer mehr von den Direktzahlungen abgelöst. Heute spielen Interventionsmaßnahmen nur noch eine untergeordnete Rolle und es gibt Überlegungen, sie vollständig abzuschaffen, da sie sehr kostenintensiv sind und stark in das Marktgeschehen eingreifen.360 Andere Stimmen betonen ihre Wichtigkeit, in Krisensituationen stabilisierend auf die Märkte eingreifen zu können und wollen Interventionsmaßnahmen zumindest als ein Sicherheitsnetz beibehalten.361 Die beiden – aktuell geltenden – zentralen Basisrechtsakte der EU zur ersten Säule bilden n die „GMO-Verordnung“ (VO 1308/2013)362 und n die „Direktzahlungen-Verordnung“ (VO 1307/2013).363 360 361 362 363

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Position des Vereinigten Königreichs. Position des DBV. ABl. L 347 v. 20.12.2013, 671 ff. ABl. L 347 v. 20.12.2013, 608 ff.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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1. Die Gemeinsame Marktorganisation Nach der primären Rechtsnorm des Art. 40 Abs. 1 AEUV (ex. Art. 34 EGV) sind für eine 132 gemeinsame Organisation der Agrarmärkte drei verschiedene Stufen vorgesehen: gemeinsame Wettbewerbsregeln (lit. a), eine bindende Koordinierung der einzelstaatlichen Marktordnungen (lit. b) oder eine europäische Marktordnung (lit. c). Mit letzterer Organisationsform wurde die stärkste Integrationsform für den europäischen Agrarmarkt gewählt, die die einzelstaatlichen Marktordnungen vollständig ersetzt. Für den Inhalt der GMO nennt Art. 40 Abs. 2 AEUV insbesondere Preisregelungen, Beihilfen für die Erzeugung und die Verteilung der verschiedenen Erzeugnisse, Einlagerungs- und Ausgleichsmaßnahmen, gemeinsame Einrichtungen zur Stabilisierung der Ein- oder Ausfuhr. Die ersten Agrarmarktverordnungen erließ der Rat 1962.364 Im Laufe der Zeit entstanden 133 für fast alle Erzeugnissektoren Gemeinsame Marktordnungen in verschiedenen Verordnungen. Das Marktordnungsrecht war aufgrund seiner sektoriellen Einzelverordnungen unübersichtlich und kompliziert. Zuletzt existierten 21 GMO nebeneinander. Im Zuge der EU-Initiative „better regulation“365 sollte auch das Agrarsekundärrecht vereinfacht und transparenter ausgestaltet werden. Dementsprechend führte der europäische Gesetzgeber im Jahre 2007 mit der einheitlichen GMO366 das zersplitterte Marktordnungsrecht, das zuvor in mehr als 50 Ratsverordnungen geregelt war, in eine Verordnung zusammen. Allerdings führte die formelle Zusammenfassung lediglich zu einer technischen, nicht aber inhaltlichen Vereinfachung des gesamten Marktordnungsrechts.367 Diese formelle Kodifikation ist aber ein Grundstein für eine künftige Annäherung an die materielle Kodifikation. Dass für eine materielle Kodifikation im Sinne eines wohlgeordneten Rechts noch erhebliche gesetzgeberische Anstrengungen unternommen werden müssen, zeigt auch die aktuelle Gemeinsame Marktordnung mit der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013.368 Die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 löste die Vorgängerverordnung von 2007 ab. Dabei handelt es sich um ein hoch komplexes Rechtsregime mit 207 Erwägungsgründen, 232 Artikeln und vierzehn Anhängen. Die GMO für Fischereierzeugnisse369 ist auch weiterhin eigenständig geregelt. Dies ist an- 134 gesichts der spezifischen Eigenheiten des Sektors und der daraus begründeten eigenen Fischereipolitik sachgerecht.370

364 Zur historischen Entwicklung der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte s. zB, Calliess/Härtel/ Veit/Busse, S. 3, 15. 365 Mitteilung der Kommission, KOM(2005) 509 endg. v. 19.10.2005. 366 Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates v. 22.10.2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO), ABl. 2007 L 299/1. 367 Vgl. Ziff. 7 Erwägungsgründe VO (EG) Nr. 1234/2007; Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 40 Rn. 16; Schwarze/Bittner EU-Kommentar AEUV Art. 40 Rn. 32. 368 Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.12.2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007, ABl. 2013 L 347/671 (GMO-VO). 369 Verordnung (EU) Nr. 1379/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.12.2013 über die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur, zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1184/2006 und (EG) Nr. 1224/2009 des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 104/2000 des Rates, ABl. 2013 L 354/1. Zu den Instrumenten der GMO gehören die Erzeugergemeinschaften sowie Branchenverbände, die Vermarktungsnormen, die Verbraucherinformation, die Marktuntersuchung und Ausnahmen von der Anwendung der allgemeinen Wettbewerbsregeln nach Art. 101 Abs. 1 AEUV (vgl. Art. 1 Abs. 1 VO 1379/2013). Näher hierzu Streinz/ Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 40 Rn. 72–75. 370 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 40 Rn. 16.

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§ 7 Agrarrecht

135 Für die Verordnung zur GMO, die seit ihrem Erlass in 2013 bereits einigen Änderungen unterzogen wurde, steht dem Rechtsanwender eine konsolidierte Fassung zur Verfügung,371 die jedoch „lediglich eine Dokumentationshilfe“ ist, „für deren Richtigkeit die Organe der Union keine Gewähr übernehmen“.372 Sie gilt für folgende landwirtschaftliche Erzeugnisse:373 Getreide, Reis, Zucker, Trockenfutter, Saatgut, Hopfen, Olivenöl und Tafeloliven, Flachs und Hanf, Obst und Gemüse, Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse, Bananen, Wein, lebende Pflanzen und Waren des Blumenhandels, Rohtabak, Rindfleisch, Milch und Milcherzeugnisse, Schweinefleisch, Schaf- und Ziegenfleisch, Eier, Geflügelfleisch, Ethylalkohol landwirtschaftlichen Ursprungs, Bienenzuchterzeugnisse, Seidenraupen und sonstige Erzeugnisse. Nicht anwendbar ist die GMO-Verordnung zB auf Kaffee und Kartoffeln. 136 Die GMO-Verordnung besteht aus sechs Teilen, die sich wiederum in Titel, Kapitel, Abschnitte und Unterabschnitte gliedern: n Teil I Einleitende Bestimmungen (Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen der Verordnung, Art. 1–7) n Teil II Binnenmarkt (Titel I Marktintervention, Titel II Vorschriften für die Vermarktung und die Erzeugerorganisationen, Art. 8–175) n Teil III Handel mit Drittländern (Art. 176–205) n Teil IV Wettbewerbsvorschriften (Vorschriften für Unternehmen, staatliche Beihilfen, Art. 206–2018)) n Teil V Allgemeine Bestimmungen (ua Marktstörungen/Kriseninstrumente, Datenschutz, Art. 219–226) n Teil VI Befugnisübertragungen, Durchführungsbestimmungen, Übergangs- und Schlussbestimmungen (Art. 227–232). Während die Kernaussagen und die systematische Stellung der Wettbewerbsvorschriften (Teil IV GMO) in der Unionsrechtsordnung bereits oben beim europäischen Agrarwettbewerbsrecht (B. II.) behandelt worden sind, soll sich der Fokus der folgenden Darstellung auf die Instrumente der Marktinterventionen einschließlich möglicher Krisenmaßnahmen, auf die Vermarktungsnormen und den Handel mit Drittländern richten. a) Marktinterventionen aa) Öffentliche Intervention und private Lagerhaltung 137 Die ursprünglichen Marktorganisationen sahen die Preisstützung durch Marktintervention als Hauptinstrument vor. Diese ist aber mit der Einführung der Direktzahlungen (1992) in den Hintergrund getreten ist. Die Funktion der Preisstützung besteht nicht mehr in einem garantierten Absatzweg, sondern ist auf die eines Sicherheitsnetzes reduziert worden.374 Das Sicherheitsnetz greift ein, wenn die Preisentwicklung auf dem Binnenmarkt bzw. Weltmarkt dazu führt, dass den Landwirten selbst mit den Direktzahlungen kein angemessenes Einkommen gewährleistet wird.375 Die Notwendigkeit von Marktinterventionen wird immer noch mit der Sicherung eines angemessenen Lebensstandards der landwirtschaftlichen Bevölkerung begründet.376 Der Ankauf zur öffentlichen Intervention 371 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02013R1308-20180101&from=E N. 372 Dies wird – wie bei allen konsolidierten Fassungen von Unionsrechtsakten – zu Beginn des Dokuments klargestellt. 373 Gem. Art. 1 Abs. 2 iVm Anh. I der VO (EU) Nr. 1308/2013 (GMO-Verordnung). 374 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Priebe AEUV Art. 40 Rn. 20. 375 Streinz/Kopp, 2. Aufl. AEUV Art. 40 Rn. 13. 376 Vgl. 10. Erwägungsgrund VO 1308/2013.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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zu unionshoheitlich festgelegten Preisen und die Gewährung von Beihilfen für die private Lagerhaltung sind allerdings auf bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Unionsursprung beschränkt.377 bb) Produktionsregulierungen Die damalige Agrarüberschussproduktion („Butterberge“, „Weinseen“) mit ihren hohen 138 Kosten für den Gemeinschaftshaushalt war der Anlass für die Einführung von Produktionsregulierungen. Nachdem sich die finanziellen Anreize in Form von Stilllegungs-, Umstellungs- und Aufgabeprämien nicht als ausreichend erwiesen, wurden 1967 die Zuckerquote, 1976 die Pflanzungsrechte im Weinsektor und 1984 die Milchquote eingeführt. Mittlerweile sind die Milchquote (zum 1.4.2015) und die Zuckerquote (zum 1.10.2017) ausgelaufen.378 Im Weinsektor wurde ein neues Genehmigungssystem für Rebpflanzungen für den Zeitraum vom 1.1.2016–31.12.2030 eingeführt.379 Diese Anbauregeln stellen einen Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum nach Art. 17 Abs. 1 S. 1 GRC dar. Sie sind aber geeignet und erforderlich, um verschiedene Gemeinwohlbelange zu fördern. Dazu gehören ua die ökologische Nachhaltigkeit (Art. 11, 191 AEUV) sowie die Ziele der GAP zur Gewährleistung einer angemessenen Lebenshaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung (Art. 39 Abs. 1 lit. b AEUV) und Stabilisierung der Märkte (Art. 39 Abs. 1 lit. c AEUV). cc) Krisenmaßnahmen Zur Abwehr erheblicher Marktstörungen steht der Kommission ein Krisenmechanismus 139 zur Verfügung (vgl. Art. 219–222 VO (EU) Nr. 1308/2013). Die Europäische Kommission ist befugt, delegierte Rechtsakte zu erlassen, um „die erforderlichen Maßnahmen zur Bereinigung dieser Marktsituation zu treffen“.380 Vorausgesetzt werden dafür erstens das Vorliegen drohender erheblicher und dauerhafter Marktstörungen, die durch erhebliche Preisentwicklungen oder andere Umstände hervorgerufen werden, zweitens, dass „andere verfügbare Maßnahmen“ im Rahmen der GMO-VO offenbar unzureichend sind, und drittens die Vereinbarkeit der gewählten Krisenmaßnahmen mit den völkerrechtlichen Abkommen der EU (insbesondere mit dem WTO-Recht). In Fällen unabweisbarer Dringlichkeit darf die Kommission Sofortmaßnahmen zur Beseitigung oder Verhinderung der Marktstörung ergreifen.381 Zum Katalog der Krisenmaßnahmen gehören die nach der GMO-VO typischen Interven- 140 tions- oder Marktstützungsmaßnahmen, die in Umfang und Dauer modifiziert werden dürfen, aber auch die Aussetzung von Einfuhrzöllen sowie die Gewährung von Ausfuhrer-

377 Öffentliche Intervention ua anwendbar für Weichweizen, Hartweizen, Gerste und Mais, Rohreis, Rindfleisch, Butter und Magermilchpulver (Art. 11 VO 1308/2013). Beihilfefähige Erzeugnisse für die private Lagerhaltung: Weißzucker, Olivenöl, Faserflachs, frisches Fleisch von Rindern, Butter aus Kuhmilch, Käse, Magermilchpulver aus Kuhmilch, Schweinefleisch, Schaf- und Ziegenfleisch (Art. 17 VO 1308/2013). 378 Art. 230 Abs. 1 UAbs. 2 lit. b und Art. 124 Abs. 6 lit. f VO (EU) Nr. 1308/2013 379 Art. 61–Art. 72 VO (EU) Nr. 1308/2013; Delegierte Verordnung (EU) 2015/560 der Kommission v. 15.12.2014 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich des Genehmigungssystems für Rebpflanzungen, ABl. 2015 L 93/1; Durchführungsverordnung (EU) 2015/561 der Kommission v. 7.4.2015 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich des Genehmigungssystems für Rebpflanzungen, ABl. 2015 L 93/12. Im Einzelnen s. Härtel, Die alten Pflanzungsrechte und das neue Genehmigungssystem in Härtel, Handbuch Weinrecht, 2014, Kap. 5. 380 Art. 219 Abs. 1 UAbs. 1 VO (EU) Nr. 1308/2013. 381 Art. 219 Abs. 1 UAbs. 2 und 3 VO (EU) Nr. 1308/2013.

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§ 7 Agrarrecht stattungen.382 Eine besondere Ermächtigung der Kommission zum Erlass von Durchführungsakten ist für Marktstützungsmaßnahmen vorgesehen, die im Kontext von Tierseuchen oder Vertrauensverlust der Verbraucher infolge von „Risiken für die menschliche Gesundheit, tierische und pflanzliche Gesundheit“ ergehen.383 Dieser Krisenmechanismus gilt nur für bestimmte tierische Produkte (Rindfleisch, Milch- und Milcherzeugnisse, Schweinefleisch, Schaf- und Ziegenfleisch, Eier und Geflügelfleisch). Darüber hinaus darf die Kommission in Zeiten „schwerer Ungleichgewichte auf den Märkten“ das allgemeine Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 1 AEUV aussetzen, und zwar für Vereinbarungen und Beschlüsse von anerkannten Erzeugerorganisationen und Branchenverbänden.384 Die Finanzierung der Krisenmaßnahmen wird durch eine Agrarkrisenreserve sichergestellt. Diese Reserve speist sich aus jährlichen Kürzungen der Direktzahlungen; nicht genutzte Reservebeträge werden den Direktzahlungsempfängern zugeführt.385 In der Rechtspraxis hat die Kommission bereits in einer Reihe von Fällen den Krisenmechanismus eingesetzt, so zB in Bezug auf die Afrikanische Schweinepest.386 b) Vermarktungsnormen

141 Vermarktungsnormen sollen den Interessen der Erzeuger, der Händler und der Verbraucher dienen.387 Vermarktungsnormen können sich produktspezifisch beziehen auf Klassifizierungskriterien wie Klasseneinteilung (Gewicht, Größe), Handelstyp, Etikettierung, Verpackung, Kriterien wie Aussehen, Konsistenz, Erzeugungsort, Bedingungen für die Beseitigung, Aufbewahrung, den Verkehr und die Verwendung.388 Rechtliche und praktische Relevanz haben die Vermarktungsnormen ua für Olivenöl und Tafeloliven,389 Obst und Gemüse, Bananen, Eier, Geflügelfleisch, Hopfen, Wein.390 Die betroffenen Agrarerzeugnisse dürfen nur dann vermarktet werden, wenn sie den jeweiligen produktspezifischen Vermarktungsnormen entsprechen.391 Dabei gelten die Vermarktungsnormen „unbeschadet“ von „veterinär-, pflanzenschutz- und lebensmittelrechtlichen Vorschriften zur Gewährleistung der Hygiene und Genusstauglichkeit der Erzeugnisse und zum Schutz der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen“ (vgl. Art. 73 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1308/2013). Es 382 383 384 385

386 387 388 389

390 391

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Art. 219 Abs. 1 UAbs. 4 VO (EU) Nr. 1308/2013. Art. 220 VO (EU) Nr. 1308/2013. Art. 222 VO (EU) Nr. 1308/2013. Vgl. Art. 226 VO (EU) Nr. 1308/2013 iVm Art. 25 Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.12.2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates, ABl. 2013 L 347/549. Zur Rechtspraxis siehe Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 40 Rn. 13. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 64 VO (EU) Nr. 1308/2013. Siehe Art. 75 Abs. 3 VO (EU) Nr. 1308/2013. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 29/2012 der Kommission v. 13.1.2012 mit Vermarktungsvorschriften für Olivenöl, ABl. 2012 L 12/14, geändert durch Durchführungsverordnung (EU) Nr. 357/2012 der Kommission v. 24.4.2012 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 29/2012 mit Vermarktungsvorschriften für Olivenöl, ABl. 2012 L 113/5, Verordnung (EU) Nr. 519/2013 der Kommission v. 21.2.2013 zur Anpassung einiger Verordnungen und Beschlüsse in den Bereichen freier Warenverkehr, Freizügigkeit, Niederlassungsrecht und freier Dienstleistungsverkehr, Gesellschaftsrecht, Wettbewerbspolitik, Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Veterinär- und Pflanzenschutzpolitik, Fischerei, Verkehrspolitik, Energie, Steuern, Statistik, Sozialpolitik und Beschäftigung, Umwelt, Zollunion, Außenbeziehungen und Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufgrund des Beitritts Kroatiens, ABl. 2013 L 158/74 und Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1335/2013 der Kommission v. 13.12.2013 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 29/2012 mit Vermarktungsvorschriften für Olivenöl, ABl. 2013 L 335/14. Zum Anwendungsbereich siehe insbesondere Art. 75 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1308/2013; für Wein: Art. 75 Abs. 4 VO (EU) Nr. 1308/2013. Art. 74 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1308/2013.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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könnte deshalb zu Überschneidungen zwischen dem Recht der Vermarktungsnormen nach der GMO und dem allgemeinen Ernährungswirtschafts-/Lebensmittelrecht kommen. Ein Beleg hierfür ist zB die Regelung zur Herkunftskennzeichnung nach Art. 75 Abs. 3 lit. j VO (EU) Nr. 1308/2013. Danach können Vermarktungsnormen den Erzeugungsort und/ oder Ursprungsort des landwirtschaftlichen Produkts in Bezug nehmen. Obligatorische Herkunftskennzeichnungen bestehen aber auch bereits für bestimmte Fleischarten nach sekundärem Lebensmittelrecht.392 Eine spezifische Herkunftskennzeichnung ist – unter dem Kapitel Vermarktungsvorschrif- 142 ten in der GMO-Verordnung 2013– für den Weinsektor geregelt (Art. 92–116). Diese ist insofern fakultativ, als dass der Schutz der Angaben für Wein als Rechtsgut freiwillig beantragt wird. Für die Verwendung von „Ursprungsbezeichnungen“, „geografische Angaben“ und „traditionellen Begriffen“ bei Weinen gelten besondere Anforderungen.393 Gleichwohl hätten die Rechtsvorschriften hierzu im Sinne eines wohlgeordneten Rechts systematisch deutlich besser in die Verordnung (EU) Nr. 1151/2012 über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel gepasst, die den Basisrechtsrahmen für geografische Herkunftsangaben für Nahrungsgüter bildet. Die rechtliche Ausgestaltung von obligatorischen Vermarktungsnormen kann insbesonde- 143 re im Spannungsverhältnis zur Berufsfreiheit (Art. 15 GRC), zur unternehmerischen Freiheit (Art. 16 GRC) und zum Diskriminierungsverbot nach Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV stehen. Dies verdeutlicht beispielsweise das Vorabentscheidungsverfahren in der Rs. Lidl GmbH & Co. KG gegen Freistaat Sachen, auch wenn der EuGH die betreffende Vermarktungsnorm für frisches Geflügelfleisch im Ergebnis für primärrechtskonform hält.394 Vor dem Hintergrund von Nahrungsmittelverschwendung, die gemäß dem Ziel 12.3 der 144 Agenda 2030 (Sustainable Development Goals) entlang der Produktions- und Lieferkette bis 2030 weltweit halbiert werden soll, sind Vermarktungsnormen teilweise zu kritisieren. Entsprechen beispielsweise Obst und Gemüse nicht den genormten Kriterien Aussehen, Form, Farbe oder Größe, dürfen sie nicht in den Handel gelangen. Aus diesem Grunde werden sie bei oder nach der Ernte aussortiert und entsorgt, auch wenn sie die gleiche Ernährungsqualität, Geschmacks- oder Inhaltsstoffe aufweisen wie genormte Lebensmittel. Mit einem gänzlichen Verzicht auf (fakultative) Vermarktungsnormen durch den Lebensmittelhandel wird wohl nicht zu rechnen sein, da einheitliche Größen den Transport und die Verpackung vereinfachen. Zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung bedarf es allerdings in rechtlicher oder politischer Hinsicht weiterer Strategien und Instrumente.

392 Vgl. Art. 26 Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission, ABl. 2011 L 304/18 (sog Lebensmittelinformationsverordnung) und Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1337/2013 der Kommission v. 13.12.2013 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Angabe des Ursprungslandes bzw. Herkunftsortes von frischem, gekühltem oder gefrorenem Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelfleisch, ABl. 2013 L 335/19, dazu s. Härtel in dies., Ernährungswirtschaft, S. 37 (68 f.). 393 Hierzu s. Braun in Härtel, Weinrecht, Kap. 4, S. 146 ff. 394 EuGH 30.6.2016 – C-134/15, ECLI: EU:C:2016:498 Rn. 26 ff. – Lidl; GA Bobeck SchlA – C-134/15, ECLI:EU:C:2016:169, teils kritisch hierzu Drechsler EuR 2016, 691 ff., Streinz/Härtel EUV/AEUV AEUV Art. 40 Rn. 16. Die betreffende Norm verlangt, dass bei frischem Geflügelfleisch in Fertigverpackungen auf der Verpackung oder auf einem daran befestigten Etikett der Gesamtpreis und der Preis je Gewichtseinheit anzubringen ist. Im Gegensatz dazu bedarf es bei anderen Fleischsorten einer solchen Etikettierung nicht.

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§ 7 Agrarrecht c) Handel mit Drittstaaten

145 Mit den marktordnungsrechtlichen Außenhandelsregelungen (Art. 176–205 VO (EU) Nr. 1308/2013) soll ua der Binnenmarkt vor Niedrigpreiserzeugnissen aus Drittländern und vor größeren Schwankungen des Weltmarktes geschützt werden. Die Außenhandelsmaßnahmen der EU dürfen nur im Einklang mit dem WTO-Recht ergehen. Sie erstrecken sich auf Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen, Einfuhrzölle, die Verwaltung der Zollkontingente und Ausfuhrerstattungen. Die Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen (Art. 176–179 GMO) dienen der Überwachung des Außenhandelsverkehrs der EU mit Agrarerzeugnissen. Lizenzen berechtigen und verpflichten zur Einfuhr- bzw. Ausfuhr des betreffenden Erzeugnisses.395 Einfuhrzölle sind nur noch ausnahmsweise für bestimmte Erzeugnisse nach dem WTORecht zulässig. Mit dem WTO-Landwirtschaftsübereinkommen wurden feste Zollkontingente und Zollabgaben festgelegt. Diese sind in das System des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) übernommen worden.396 Bei der Verwaltung der international vereinbarten Zollkontingente muss sichergestellt werden, dass keiner der betreffenden Wirtschaftsteilnehmer diskriminiert wird (vgl. Art. 184 Abs. 2 VO (EU) Nr. 1308/2013). Das komplexe System des Verfahrens zur Zuteilung von Zollkontingenten und der Nutzung von Lizenzen hat in der Vergangenheit bereits zu einer Reihe von Rechtsstreitigkeiten vor der europäischen Gerichtsbarkeit geführt.397 Ausnahmsweise darf die Europäische Kommission unter strengen Voraussetzungen besondere Schutzmaßnahmen gegen Einfuhren in die Union ergreifen.398 Ebenso nur noch ausnahmsweise dürfen seit der GAP-Reform von 2013 Ausfuhrerstattungen für bestimmte Agrarerzeugnisse gewährt werden, und zwar nur im Zusammenhang mit dem Krisenmanagement – im Fall schwerer Krisen, die den Markt betreffen (vgl. Art. 196 Abs. 1 iVm Art. 219 Abs. 1 oder Art. 221 VO (EU) Nr. 1308/2013). Abgesehen von diesem möglichen Ausnahmefall gewährt die EU keine Beihilfen für Agrarexporte mehr.399 Zurückzuführen ist der Wegfall der Erstattung auf die politische Einigung der WTO im Jahre 2005 im Zuge der Doha-Runde.400 Auf der 10. WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2015 in Nairobi wurde die Einigung401 erzielt, dass direkte Agrarexportsubventionen weltweit abgeschafft werden, wobei den Entwicklungsländern längere Übergangsfristen eingeräumt wurden.

395 Vgl. Art. 1 lit. a Delegierte Verordnung (EU) 2016/1237 der Kommission v. 18.5.2016, ABl. 2016 L 206/1; sa Erwägungsgrund Nr. 8 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1239 der Kommission v. 18.5.2016, ABl. 2016 L 206/44. Die Rechtsgrundlagen für den Erlass einer delegierten Verordnung und Durchführungsverordnung über Ein- und Ausfuhrlizenzen bilden Art. 177 iVm Art. 227 und Art. 178 VO (EU) Nr. 1308/2013. Art. 7 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 376/2008 der Kommission v. 23.4.2008 mit gemeinsamen Durchführungsvorschriften für Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen sowie Vorausfestsetzungsbescheinigungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse, ABl. 2008 L 114/3 (sog Agrarlizenzverordnung). 396 Dieses beruht auf dem Internationalen Überkommen über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Kodierung von Waren, BGBl. 1986 I 1068. 397 Busse AUR 2015, 326; Lenz/Borchardt/Busse EU-Verträge AEUV Art. 40 Rn. 39 ff. mit Rechtsprechungsnachweisen, sa Schwarze/Bittner EU-Kommentar AEUV Art. 40 Rn. 26 ff. 398 Vgl. Art. 194 VO (EU) Nr. 1308/2013 iVm Verordnung (EU) 2015/478 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2015 über eine gemeinsame Einfuhrregelung, ABl. 2015 L 83/16 und Verordnung (EU) 2015/755 des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung der Einfuhren aus bestimmten Drittländern, ABl. 2015 L 123/33. Die WTO-rechtliche Grundlage für besondere Schutzmaßnahmen ergibt sich insbesondere aus Art. 5 WTO-Landwirtschaftsübereinkommen. 399 http://www.europarl.europa.eu/atyourservice/de/displayFtu.html?ftuId=FTU_5.2.7.html (Stand: 2.5.2017). 400 Ministerial Declaration, Document WT/MIN(05)/December, 22.12.2005. 401 World Trade Organization, Document WT/MIN(15)/W/47, 19.12.2015.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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2. Direktzahlungen Die flächenbezogenen Direktzahlungen bilden gegenwärtig das zentrale und ausgabenintensivste Steuerungsinstrument der GAP. Die Grundvoraussetzungen für den Anspruch landwirtschaftlicher Betriebe hierauf sind in der Direktzahlungen-Verordnung geregelt. Eingeführt wurden die direkten Einkommensbeihilfen mit der MacSharry-Reform 1992. Im Zuge der darauffolgenden Agrarreformen (2000, 2003, 2008, 2013) wurde die rechtliche Ausgestaltung der Direktzahlungen weiterentwickelt. Nach aktueller Rechtsstruktur und -systematik der Direktzahlungen bestehen vier Förderelemente mit unterschiedlichen Förderhöhen402: a) Basisprämie (pro ha landwirtschaftlicher Fläche) mit Bindung an Cross Compliance, b) Greeningprämie, c) Umverteilungsprämie und d) Junglandwirtezuschlag. Bei der Mittelverteilung auf die Elemente der Direktzahlungen sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, 30 % ihrer nationalen Obergrenze für die Greeningprämie403 und 70 % für die Basisprämie (abzüglich etwaiger Beträge für Zusatzzahlungen an Junglandwirte oder für Gebiete mit besonderen Nachteilen)404 aufzuwenden. Die Gewährung einer Umverteilungsprämie durch die Mitgliedstaaten ist fakultativ, die des Junglandwirtezuschlages ist hingegen wiederum obligatorisch. Ein durch die Agrarreform 2014–2020 neu eingeführtes Förderelement ist die Ökologisierungskomponente (Greening) als zusätzliche Zahlung an Betriebsinhaber, die dem Klimaund Umweltschutz förderliche Landbewirtschaftungsmethoden einhalten.405 Beim Greening muss der Betriebsinhaber zusätzliche agrarökologische Anforderungen erfüllen, die über das Cross Compliance-Fachrecht hinausgehen. Das von Cross Compliance in Bezug genommene Fachrecht muss sowieso jeder landwirtschaftliche Betriebsinhaber einhalten, unabhängig davon, ob er Direktzahlungen in Anspruch nimmt oder nicht.406 Die Rechtsfolge von Cross Compliance besteht darin, dass er sich einem strengen Kontroll- und Sanktionssystem der Agrarverwaltung unterwirft.407 Im Vergleich dazu ist das Greening eine zusätzliche Fördervoraussetzung. Verstöße gegen Greening-Anforderungen führen zu Kürzungen der Ökologisierungszahlung und seit 2017 zu weiteren Sanktionen.408 Zu den weiteren Neuerungen durch die GAP-Reform 2014–2020 gehörte, dass grundsätzlich nur noch aktive Betriebsinhaber einen Anspruch auf Direktzahlungen haben sollten (vgl. Art. 9 VO 1307/2013). Diese Voraussetzung wurde geschaffen, da in der Vergangenheit eine Reihe von Unternehmen Direktzahlungen erhielten, deren Hauptgeschäftstätigkeit nichtlandwirtschaftlicher Art ist. Auf eine unionsrechtliche Definition konnte man sich im Gesetzgebungsverfahren nicht verständigen. So obliegt es den Mitgliedstaaten, den Begriff des aktiven Landwirts weiter zu konkretisieren, insbesondere festzulegen, welche Mindesttätigkeit der Betriebsinhaber ausüben muss. Nach der sog Omnibus-Verordnung zur Vereinfachung der GAP vom 13.12.2017409 können die Mitgliedstaaten sogar ganz auf die Unterscheidung zwischen aktiven und nicht-aktiven Landwirt verzichten. 402 Siehe hierzu Deutscher Bauernverband (Hrsg.), Situationsbericht 2018/19, S. 123; Krüger/Haarstrich AUR 2015, 129 ff. 403 Art. 47 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1307/2013. 404 Europäische Kommission, Memo 13/621. 405 Vgl. dazu Art. 43 ff. VO (EU) Nr. 1307/2013. 406 Busse DVBl. 2015, 337 (339). 407 Zum InVeKos s. Art. 5 ff. Delegierte VO (EU) Nr. 640/2014; zum Kontrollsystem und zu den Verwaltungssanktionen im Rahmen der Cross Compliance s. Art. 37–41 Delegierte VO (EU) Nr. 640/2014. 408 Vgl. Art. 24 ff. Delegierte VO (EU) Nr. 640/2014. 409 Verordnung (EU) 2017/2393 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.12.2017 zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1305/2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), (EU) Nr. 1306/2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik, (EU) Nr. 1307/2013 mit Vorschriften über Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftli-

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§ 7 Agrarrecht

150 Die Rechtsnatur der Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebsinhaber ist differenziert zu beurteilen. De lege lata weisen die Direktzahlungen einen Mischcharakter auf. Hinsichtlich der über das Agrarumwelt-Fachrecht hinausgehenden Greening-Anforderungen stellen die Direktzahlungen ein Entgelt für die Erbringung von Public Goods dar.410 Mit Blick auf die Erfüllung des obligatorischen Fachrechts – Cross Compliance – sind sie als Beihilfe zu qualifizieren, die zugleich als Kompensation für Eingriffe in das landwirtschaftliche Eigentum fungiert, das durch das Eigentumsgrundrecht nach Art. 17 Abs. 1 GRC geschützt ist.

V. Die 2. Säule der GAP – die Förderung des ländlichen Raums 151 Die 2. Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik erstreckt sich auf die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums. Dabei stellt sich die Frage, wie der Begriff „ländlicher Raum“ zu definieren ist bzw. ob er überhaupt exakt definierbar ist. Im Unionsrecht selbst findet sich keine Definition. Für das Beihilfenrecht der zweiten Säulen der GAP bedarf es allerdings eine Konkretisierung des Begriffs. Noch vor rund 50 Jahren war der ländliche Räum ein relativ homogener Raumtyp, der durch die besondere Rolle der Landwirtschaft und eine geringe Bevölkerungsdichte charakterisiert werden konnte.411 In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch der dominant agrarisch geprägte ländliche Raum hin zu sehr heterogenen, vielfältigen ländlichen Räumen entwickelt.412 Aus diesem Grunde kann heute nicht mehr von einer Dichotomie „städtisch“ und „ländlich“ die Rede sein. Die Übergänge sind vielmehr oft fließend.413 Allerdings lassen sich noch typische Erkennungsmerkmale des ländlichen Raumes ausmachen, wie bspw. eine relativ geringe Bevölkerungsdichte, kleingemeindliche Siedlungsstruktur, gewisser Anteil an Agrarbevölkerung und – wenngleich die Dominanz der Landwirtschaft zurückgegangen ist – ein immer noch naturnaher von der Landwirt- und Forstwirtschaft geprägter Siedlungs- und Landschaftsraum.414 Einen funktionellen Definitionsansatz kennt auch die Europäische Charta für den ländlichen Raum des Europarates.415 Eine Anknüpfung an die Bevölkerungsdichte nimmt die OECD bei ihrer Typologie urban-rural vor, die ebenso die EU zugrunde legt.416 Angesichts einer fehlenden eindeutigen Definition des ländlichen Raums ist den Mitgliedstaaten im Rahmen des Förderrechts zur zweiten Säule ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Begriffsbestimmung einzuräumen.417 152 Ein wichtiges politisches Ziel der Europäischen Union, aber auch in Deutschland, sind die regionale Konvergenz und die Herstellung annähernd gleichwertiger Lebensverhältnisse.418 Dementsprechend soll ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ländlichen und urbanen Räumen erhalten werden. Im föderalen Deutschland erfordert die ländliche Ent-

410 411 412 413 414 415 416 417 418

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cher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik, (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und (EU) Nr. 652/2014 mit Bestimmungen für die Verwaltung der Ausgaben in den Bereichen Lebensmittelkette, Tiergesundheit und Tierschutz sowie Pflanzengesundheit und Pflanzenvermehrungsmaterial, ABl. 2017 L 350/15, in Kraft seit 1.1.2018. Vgl. hierzu Krüger/List AUR 2017, 41 ff. Belger, S. 115; Härtel in Rentenbank, S. 41 (63 f.); im Ergebnis auch Martínez in Niedobitek Europarecht § 6 Rn. 121; aA Dänicke AUR 2015, 335 (339). Weingarten in Friedel/Spindler, S. 93. Norer, S. 562. Weingarten in Friedel/Spindler, S. 93; Norer, S. 564 mwN. Vgl. Norer, S. 564 f. Vgl. Art. 2 European Charter for Rural Areas, Parliamentary Assembly Recommondation 1296 (1996). http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Urban-rural_typology (Stand: 15.5.2017). Calliess/Ruffert/Martínez EUV/AEUV AEUV Art. 38 Rn. 44. Weingarten in Friedel/Spindler, S. 93, 94.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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wicklung eine enge Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Landkreisen, Städten und Gemeinden. Die Bundesregierung verfolgt dabei einen „ressortübergreifenden, integrativen Ansatz zur Stärkung der ländlichen Räume“.419 Der Zweck der 2. Säule der GAP ist es, die Vitalität der ländlichen Räume zu stärken, die 153 mit der Landwirtschaft eng verbunden sind.420 Probleme wie der Beschäftigungsrückgang in ländlichen Gebieten, die Abwanderung junger Menschen, der Abbau der Infrastruktur oder die Veränderung der Siedlungsstrukturen mindern die Attraktivität der ländlichen Räume und tragen so zur verstärkten Landflucht bei. Als Folge droht die Aufgabe der Landwirtschaft, die Nichtbewirtschaftung artenreicher Kulturlandschaften, der Verlust von traditionellen Bewirtschaftungstechniken, Kulturlandschaften und Arbeitsplätzen. Die Landwirtschaft aber braucht diese ländlichen Räume und kann andererseits zu ihrer Anziehungskraft beitragen. Daher wurde schon 1988 mit den ersten Reformen der GAP auch die ländliche Entwicklung in die Agrarpolitik einbezogen. Mit der Agenda 2000 wurde sie formell als eigenständige 2. Säule aufgewertet. In Konkretisierung der „Strategie Europa 2020“421 verfolgt die 2. Säule der GAP derzeit 154 folgende Ziele: a) Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft, b) Gewährleistung der nachhaltigen Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und Klimaschutz und c) Erreichung einer ausgewogenen räumlichen Entwicklung der ländlichen Wirtschaft und der ländlichen Gemeinschaften, einschließlich der Schaffung und des Erhalts von Arbeitsplätzen.422 Für die Erreichung dieser Ziele hat der Unionsgesetzgeber sechs Prioritäten festgelegt423: 1. Wissenstransfer und Innovation; 2. Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe, Förderung innovativer landwirtschaftlicher Techniken und der nachhaltigen Waldbewirtschaftung; 3. Förderung einer Organisation der Nahrungsmittelkette, einschließlich der Verarbeitung und Vermarktung von Agrarerzeugnissen, des Tierschutzes und des Risikomanagements; 4. Schutz und Verbesserung von Ökosystemen; 5. Verbesserung der Ressourceneffizienz und Übergang zu einer kohlenstoffarmen sowie klimaresistenten Wirtschaft; 6. Verbesserung der sozialen Teilhabe, Armutsbekämpfung und die wirtschaftliche Entwicklung des ländlichen Raums. Die Prioritäten bilden zugleich den Maßstab für die vielfältigen Fördermaßnahmen.424 Die möglichen Fördermaßnahmen425 betreffen zB die Teilnahme von Landwirten an Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse einschließlich Zertifizierungssystemen; die Gründung von Erzeugergemeinschaften und -organisationen; den ökologischen Landbau sowie eine Reihe von Agrarumwelt- und Klimaschutzmaßnahmen. Des Weiteren gibt es die Förderung im Rahmen von LEADER (Liaison entre actions développement de l’économie rurale).426 Während bei der ELER-Förderung grundsätzlich ein sektoraler „top down“-Ansatz ver- 155 folgt wird, in denen die staatlichen Akteure Maßnahmen entwickeln und anbieten, verfolgen die LEADER-Programme einen multisektoralen, gebietsbezogenen „bottom up“-Ansatz.427 Hierzu schließen sich unterschiedliche Akteure aus dem privaten und öffentlichen Sektor einer Region zusammen, um gemeinsam regionale Entwicklungsprojekte zu erarbeiten und umzusetzen. Die staatlichen Einheiten fördern diese Regionalprojekte in mate419 420 421 422 423 424 425 426 427

Agrarpolitischer Bericht 2011 der Bundesregierung, BT-Drs. 17/5810, 8, Anm. 75. Vgl. ua Erwägungsgründe 3 und 4 sowie Art. 4 der VO (EU) Nr. 1305/2013 (ELER-Verordnung). KOM(2010) 2020 endg. Art. 4 und Erwägungsgrund Nr. 2 VO (EU) Nr. 1305/2013. Art. 5 VO (EU) Nr. 1305/2013. Vgl. Art. 13 und Anh. VI VO (EU) Nr. 1305/2013. Art. 13-40 VO (EU) Nr. 1305/2013. Art. 42-44 VO (EU) Nr. 1305/2013. Swoboda in Härtel Handbuch Föderalismus § 50 Rn. 12; Härtel in dies. Handbuch Föderalismus § 48 Rn. 9 ff.

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§ 7 Agrarrecht

rieller Hinsicht mit den kofinanzierten Mitteln der zweiten Säule und in immaterieller Hinsicht über Koordination und Organisation. 156 LEADER steht für „Liaison entre actions de développement de l’économie rurale“ (Verbindung von Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft). Hierunter fallen Projekte, die über regionale, öffentlich-private Partnerschaften lokale Entwicklungsstrategien durchführen und einem oder mehreren der erstgenannten drei Schwerpunkte dienen. Dazu schließen sich private und öffentliche Akteure einer Region, zB aus der Fachplanung, den Kommunen, privaten Trägern, der Wirtschaft oder der Bürgerschaft zu sogenannten „lokalen Arbeitsgruppen“ (LARs) zusammen. Sie erarbeiten ein regionales Entwicklungskonzept mit konkreten Projekten. Diese Entwicklungskonzepte werden in Deutschland in einem bundesweiten Wettbewerb ausgewählt und gefördert. Durch die Gruppenbildung und Vernetzung von Akteuren verschiedenster Bereiche auf lokaler Ebene sollen der Zusammenhalt und die Zusammenarbeit in der Region bewirkt werden. So kann eine koordinierte Gemeinschaftsleistung erbracht werden, die keiner der einzelnen Akteure allein hätte bewältigen können. Akteure, die sonst nicht miteinander in Verbindung kämen, wirken so gemeinsam bei der Entwicklung ihrer Region mit.428 Inhaltliche und methodische Unterstützung bietet in Deutschland die Deutsche Vernetzungsstelle (DVS). Sie koordiniert und organisiert, zB durch Beratung über Organisationsaufbau oder Anregungen durch Informationen zu Projekten anderer Regionen.429 Durch den regionalen Ansatz wird das klassische föderale Mehrebenensystem der europäischen Agrarverwaltung (EU – Bund – Länder) um eine vierte, die regionale, Ebene ergänzt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um staatliche Akteure, sondern um Zusammenschlüsse überwiegend privater Akteure nach dem Motto „Bürger gestalten ihre Heimat“. Durch diesen endogenen Ansatz (Erarbeitung der Entwicklungsprogramme aus der Bürgerschaft heraus) wird ein nichthoheitliches Element einbezogen, so dass die LEADER-Programme als Form des nichthoheitlichen Föderalismus charakterisiert werden können.430 157 Für die Anwendung und Finanzierung der Fördermaßnahmen im Rahmen der zweiten Säule bedurfte es einer komplexen Programmplanung gemäß Art. 6–12 VO (EU) Nr. 1305/2013. Zuerst wurde auf Unionsebene der „Gemeinsame Strategische Rahmen“ (GSR) festgelegt. Der GSR bestimmt die strategischen Leitgrundsätze, um den Planungsprozess und die sektorale sowie territoriale Koordinierung der Unionsinteressen im Rahmen der ESI-Fonds mit anderen relevanten Unionsstrategien in Einklang mit den Zielen der Europa-2020-Strategie zu bringen. Auf der zweiten Stufe des Planungsprozesses stand die Ausarbeitung der (fondsübergreifenden) Partnerschaftsvereinbarung durch jeden Mitgliedstaat im Dialog mit der Kommission für den Zeitraum 2014–2020. Auf der dritten Stufe wurden die Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums von den Mitgliedstaaten erarbeitet und der Kommission zur Genehmigung vorgelegt. Die Kommission genehmigte nach Prüfung die Entwicklungsprogramme in Form eines Durchführungsrechtsaktes; das gleiche gilt für Änderungen der Programme. Ein Entwicklungsprogramm muss ua enthalten: eine Bedarfsanalyse hinsichtlich der Prioritäten, eine Beschreibung der Strategie und der ausgewählten Fördermaßnahmen, einen Finanzplan sowie Angaben zur Umsetzung.

428 Swoboda in Härtel Handbuch Föderalismus § 50 Rn. 51. 429 Zur DVS s. Swoboda in Härtel Handbuch Föderalismus § 50 Rn. 17 ff., 53 ff. 430 Zur Analyse dieser neuen Erscheinung des Föderalismus s. Härtel in dies. Handbuch Föderalismus § 51.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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VI. Verwaltungsvollzug des europäischen Agrarrechts 1. Organisationsstrukturen Die agrarrechtlichen Steuerungsinstrumente der 1. und 2. Säule der GAP bedürfen für ihre 158 praktische Wirksamkeit eines effektiven Vollzugs in den Mitgliedstaaten. Wie im Allgemeinen gilt für das Unionsagrarrecht im Besonderen das Regel-Ausnahme-Verhältnis von mitgliedstaatlichem und unionseigenem Vollzug. Grundsätzlich sind die Mitgliedstaaten für den Vollzug des Unionsrechts zuständig (indirekter Verwaltungsvollzug)431, in föderalen Mitgliedstaaten (wie Deutschland, Österreich, Belgien) die Bundesländer bzw. die Regionen. Allerdings gibt es auch Bereiche, die zum Eigenverwaltungsrecht der Union432 gehören, wie insbesondere die Verantwortung der Europäischen Kommission zur Verwaltung der Fonds zur Finanzierung der Agrarausgaben (EGFL und ELER) oder die Beschlüsse der Kommission über die Eintragung des Rechts geografischer Angaben und Ursprungsbezeichnungen. Eine zunehmende Ausprägung hat das Unionsverwaltungsrecht433 im Agrarsektor erfahren. Das bedeutet der Unionsgesetzgeber trifft in beachtlichem Maße Vorgaben für die Aufgaben der mitgliedstaatlichen Verwaltungen und die Art und Weise ihrer Erledigung. So regelt das Agrarsekundärrecht für die Mitgliedstaaten Einzelheiten für die Durchführung von Antrags-, Verfahrens-, Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen und Anforderungen an die Ausübung der mitgliedstaatlichen Organisationsgewalt.434 Darüber hinaus ist der Agrarvollzug durch einen Verwaltungsverbund geprägt, der die unionale und mitgliedstaatliche Verwaltungsebene miteinander verzahnt. Im Agrarförderrecht der 1. und 2. Säule der GAP treten im Verhältnis zu den Marktbetei- 159 ligten (Landwirte, Unternehmen etc) die zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten auf. Sie erlassen gegenüber dem Begünstigen den Bewilligungsbescheid. Entstehende Rechtsstreitigkeiten in diesem Verhältnis sind deshalb vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zu führen. Dieser indirekte Vollzug durch die Mitgliedstaaten ist allerdings durch das Unionsagrarrecht überformt. So mussten die Mitgliedstaaten Zahlstellen einrichten, die für die Auszahlung der Fördermittel an die Empfänger zuständig sind.435 Die Europäische Kommission erstattet den Zahlstellen in monatlichen Überweisungen die getätigten Ausgaben.436 Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten eine bescheinigende Stelle einzurichten, die zu der Richtigkeit, Vollständigkeit und Genauigkeit der Rechnungen der Zahlstellen eine Stellungnahme abgibt.437 2. Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem (InVeKoS) Im Allgemeinen sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, im Rahmen der GAP alle notwendi- 160 gen Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie sonstigen Maßnahmen zu erlassen, um einen wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union vor unberechtigter Agrarförderung zu gewährleisten.438 Eine besondere Pflicht der Mitgliedstaaten bezieht sich auf die Einrichtung eines Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems (InveKos).439 Das unionsweite InveKos wurde mit der MacSharry-Reform 1992 eingeführt. Erstmals wurde hierdurch ein einheitlicher Rahmen für einen effektiven Vollzug des Agrarförderrechts in 431 432 433 434 435 436 437 438 439

Streinz/Kopp EUV/AEUV, 3. Aufl. AEUV Art. 40 Rn. 78. Von Danwitz, EuVerwR, S. 315 ff. Von Danwitz, EuVerwR, S. 667 ff. Dauses/Ludwigs/Norer/Bloch HdBEUWiR G. Rn. 257 ff. Art. 7 Abs. 1, 2 VO (EU) Nr. 1306/2013. Art. 17, 18 VO (EU) Nr. 1306/2013. Art. 9 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1306/2013. Art. 58 VO (EU) Nr. 1306/2013. Art. 67 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1306/2013.

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allen Mitgliedstaaten geschaffen.440 Mit der Fischler-Reform 2003 wurde es erweitert und im Zuge weiterer Rechtsänderungen verfeinert. De lege lata gilt das integrierte System für die Direktzahlungen der 1. Säule und für Agrarumwelt- und Klimaschutzförderungen sowie für Tierschutzzahlungen im Rahmen der zweiten Säule sowie für die Einhaltung der Cross Compliance.441 161 Das InveKos umfasst Bestimmungen zum Verwaltungsverfahrensrecht und Vorgaben zu durchzuführenden Kontrollen. In Bezug auf das Verwaltungsverfahrensrecht regelt es Einzelheiten zum Antragsverfahren, Aspekte der Flächen- und Tieridentifizierung und die Rückabwicklung von zu Unrecht geleisteten Zahlungen. Zudem hat es ein Sanktionssystem für Falschangaben zu Förderanträgen etabliert. Mit Blick auf die Kontrollen durch die Mitgliedstaaten werden laufende Verwaltungskontrollen und Vor-Ort-Kontrollen (mittels Stichproben) verlangt, wobei die Mitgliedstaaten Letztere auch mittels Fernerkundung und globalem Satellitennavigationssystem (GNSS) durchführen können. 162 Die verschiedenen Elemente fasst Art. 68 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1306/2013 wie folgt zusammen: a) eine elektronische Datenbank, b) ein System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen, c) ein System zur Identifizierung und Registrierung von Zahlungsansprüchen, d) Beihilfe- und Zahlungsansprüche, e) ein integriertes Kontrollsystem und f) ein einheitliches System zur Erfassung jedes Begünstigten, der einen Beihilfe- oder Zahlungsantrag stellt. 3. Cross Compliance 163 Das InVeKos gilt auch für die Verwaltung und Kontrolle der Einhaltung der Cross Compliance durch die Agrarbeihilfenempfänger.442 Das Instrument „Cross Compliance“443 wurde mit der Agenda 2000 zunächst als fakultativ eingeführt und mit der Fischler-Reform 2003 als obligatorisch verbindlich etabliert. Mit ihm wird die Gewährung von Agrarbeihilfen an die Einhaltung einer Reihe von Vorschriften aus den Bereichen Gesundheit von Mensch und Tier, Umweltschutz, Tierschutz und Lebensmittelsicherheit geknüpft.444 Die Verknüpfung des Agrarbeihilfenrechts mit diesen Belangen ist mit Blick auf die primärrechtlichen Querschnittsklauseln zum Verbraucherschutz, Umweltschutz, Tierschutz nur konsequent und dient damit auch der Kohärenz zwischen den verschiedenen Unionspolitiken im Lichte eines „wohlgeordneten Rechts“.445 164 Die Cross Compliance-Anforderungen gelten für die flächenbezogenen produktionsentkoppelten Direktzahlungen aus der 1. Säule und für Agrarförderungen aus der 2. Säule446 440 Krüger in Härtel, Kap. 6 Rn. 80. 441 Vgl. Art. 67 Abs. 2 VO (EU) Nr. 1306/2013 iVm Anh. I der VO (EU) Nr. 1307/2013 und Art. 21 Abs. 1 lit. a, b und Art. 28–31, Art. 33, 34 VO (EU) Nr. 1305/2013; Art. 67 Abs. 3 VO (EU) Nr. 1306/2013. 442 Art. 67 Abs. 3, 96 der VO (EU) Nr. 1306/2013. 443 Zu diesem Instrument s. zB Krüger in Härtel, Kap. 6 Rn. 168–224; Dänicke, Energiepflanzenanbau, S. 282 ff.; Klinck, Agrarumweltrecht, S. 42 ff.; Meyer-Bolte, Cross Compliance; Queisner, Umweltgerechte Landwirtschaft, S. 201 ff. 444 Vgl. dazu Art. 96 ff. der VO (EU) Nr. 1306/2013. S. auch Neumann in Härtel, Kap. 21 Rn. 100. 445 Zum wohlgeordneten Recht s. Härtel Handbuch Europäische Rechtsetzung § 2. 446 Art. 92 VO1306/2013 ordnet für folgende Zahlungen aus der 2. Säule iSd Art. 21 Abs. 1 a und b, Art. 28–31, Art. 33 und 34 VO 1305/2013 Cross Compliance an: für die Aufforstung von Wäldern und Einrichtung von Agrarforstsystemen (Art. 21 Abs. 1 lit. a und b), Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen (Art. 28 ), ökologischen Landbau (Art. 29), im Rahmen von Natura 2000 und der Wasserrahmenrichtlinie (Art. 30), für aus naturbedingten oder anderen spezifischen Gründen benachteiligte Ge-

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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der GAP (vgl. Art. 91 ff. iVm Anhang VO 1306/2013). Zu den Cross Compliance-Verpflichtungen gehören zum einen die Grundanforderungen an die Betriebsführung gemäß den im Anhang II VO 1306/2013 aufgeführten 13 EU-Rechtsakten. Diese Rechtsakte sind zwar für den Betriebsinhaber auch außerhalb des Agrarförderungsrechts verbindlich, durch die Koppelung an die Direktzahlungen werden aber eine weitergehende Sanktionsmöglichkeit bei Nichteinhaltung durch Kürzung der Prämien sowie strengere Kontrollmechanismen geschaffen und so die Durchsetzung des Fachrechts gesteigert. Damit erzielt die Cross Compliance eine über das EU-Agrarbeihilfenrecht hinausgehende Steuerungswirkung. Die verschiedensten einschlägigen Sachbereiche sind zunehmend in einem Verbund zu sehen, der für die Prägung eines weiten Begriffs des Agrarrechts spricht. Exemplarisch von dem zu beachtenden EU-Fachrecht sind die Nitratrichtlinie 165 (RL 91/676/EWG), Vogelschutzrichtlinie (RL 2009/147/EG), Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (RL 92/43/EWG) und die Lebensmittel-Basisverordnung (VO (EG) Nr. 178/2002) zu nennen. Die in Anhang II VO 1306/2013 in Bezug genommenen Unionsrechtsakte zu den Grundanforderungen an die Betriebsführung gelten in der zuletzt in Kraft getretenen Fassung und speziell im Fall von Richtlinien so, wie sie von den Mitgliedstaaten umgesetzt wurden (Art. 93 Abs. 2 VO 1306/2013). Mit letzterer Regelung hat der Unionsgesetzgeber klargestellt, dass dem Landwirt als Zahlungsempfänger keine Nachteile erwachsen, wenn sein Mitgliedstaat eine EU-Richtlinie defizitär umgesetzt hat und er sich nur an das unionswidrige Umsetzungsrecht gehalten hat. Diese Problematik wurde beispielsweise bei der fehlerhaften Umsetzung der Nitratrichtlinie in einer Reihe von Mitgliedstaaten virulent.447 Zum anderen umfassen die Cross Compliance-Verpflichtungen die Erhaltung von Flächen 166 in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand. Die Standards hierzu werden auf nationaler Ebene anhand unionsrechtlicher Vorgaben aufgestellt (Art. 93 Abs. 1 und Art. 94 VO 1306/2013). Die Mindestanforderungen zum guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand müssen sich beziehen auf: den Schutz des Bodens vor Erosion, den Erhalt der organischen Substanz im Boden, den Erhalt der Bodenstruktur, die landwirtschaftspflegerische Instandhaltung der Flächen, den Gewässerschutz und die Wasserbewirtschaftung (vgl. Anhang II VO 1306/2013). Das Agrarförderrecht hat durch diese Regelung einen bedeutsamen Impuls zur Bodenschutzgesetzgebung in den Mitgliedstaaten gegeben, in einigen Staaten gar zum ersten Bodenschutzrecht geführt.448 Angesichts der gescheiterten EU-Bodenrahmenrichtlinie sind die bodenschützenden Vorgaben im Agrarförderrecht von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Zur Umsetzung der Regeln zur „Erhaltung von Flächen in einem guten landwirtschaftli- 167 chen und ökologischen Zustand“ haben die Mitgliedstaaten ein weites Ermessen. Von großer Bedeutung für die Mitgliedstaaten war dabei, nicht zu strenge Anforderungen an die Einhaltung der Verpflichtungen vorzugeben, aus Rücksicht auf die Fördermöglichkeiten der 2. Säule: Fördertatbestände können nur solche sein, die nicht sowieso schon verpflichtend von jedem Direktzahlungsempfänger einzuhalten sind. Zu hohe Anforderungen würden dem Staat die Fördermöglichkeiten gegenüber seinen Landwirten nehmen und diese gegenüber Betrieben in anderen Staaten benachteiligen. In Deutschland wurden die

biete (Art. 31), Tierschutz (Art. 33), Waldumwelt- und Klimadienstleistungen und Erhaltung der Wälder (Art. 34). 447 Vgl. EuGH 14.3.2002 – C-161/00, Slg 2002, I-2753 – Kommission/Deutschland; EuGH 2.10.2003 – C-322/00, Slg 2003, I-11267 – Kommission/Niederlande; EuGH 21.6.2018 – C-543/16, ECLI:EU:C:2018:481 – Kommission/Deutschland. Zum Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen defizitärer Umsetzung der Nitratrichtlinie s. Härtel NuR 2019, 289 ff. 448 Vgl. Dänicke AUR 2015, 335 (337).

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Vorgaben zum Erhalt der Flächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand in der Agrarzahlungen-VerpflichtungsVO umgesetzt.449 168 Die Sanktionierung von Verstößen gegen Cross Compliance-Verpflichtungen hat der Agrargesetzgeber unter Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausgestaltet. Je nach Schwere, Ausmaß, Dauer und Häufigkeit des Verstoßes durch den Landwirt gegen die Cross Compliance-Verpflichtungen werden die Direktzahlungen entsprechend abgestuft gekürzt oder ganz ausgeschlossen.450 Die konkrete Bewertung des Verstoßes im Einzelfall hat die zuständige nationale Behörde vorzunehmen, die sie der Kommission in einem Kontrollbericht mitteilt und dabei den Verstoß als leicht, mittel oder schwer einzustufen hat. Mit dem sog Frühwarnsystem, das die Mitgliedstaaten seit der Agrarreform 2013 einrichten können, wird der Begünstigte bei geringfügigen Rechtsverstößen erst einmal verwarnt und nur dann, wenn er keine Abhilfe schafft, eine Sanktion verhängt.451 169 Über die Sanktionen des Agrarbeihilfenrechts hinaus können bei Verstößen gegen die einschlägigen Cross Compliance-Vorschriften die Sanktionen des jeweiligen Fachrechts oder sogar des allgemeinen Strafrechts zum Zuge kommen.452 Diese „Doppelsanktionierung“ von Verstößen ist die notwendige Folge der Verknüpfung von Agrarbeihilfenrecht und Fachrecht und damit eines wohlgeordneten Agrarrechts. 4. Kontrolle der mitgliedstaatlichen Behörden durch die EU-Kommission 170 Mit Blick auf eine effektive Durchsetzung der Unionsinteressen wird der mitgliedstaatliche Vollzug durch ein ausdifferenziertes System des arbeitsteiligen Vollzugs mit der Europäischen Kommission im Verwaltungsverbund überlagert. Dieses System besteht aus Beobachtungselementen, wie Informationspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission, der Schaffung von Informationsdatenbanken und Vor-Ort-Kontrollen durch die Kommission sowie Berichtigungselementen, also Formen der Steuerung durch die Kommission bei Rechtsverstößen.453 171 Im Gegensatz zu hierarchischen Verwaltungsstrukturen in den Mitgliedstaaten besitzt die Kommission kein allgemeines Weisungsrecht gegenüber den nationalen Behörden. Als Hüterin der Verträge kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, das allerdings langwierig sein kann. Im Agrarförderrecht hat sich indes im Sinne der Effektivität und Effizienz der Kontrolle das Rechnungsabschlussverfahren herausgebildet.454 Die Rechtsgrundlagen hierfür bilden Art. 47–57 VO (EU) Nr. 1306/2013. In dem Verfahren kann die Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten Berichtigungen oder Anlastungen aussprechen, die finanzielle Rückerstattungen der Mitgliedstaaten und damit Sanktionen zur Folge haben. Das Rechnungsabschlussverfahren beginnt damit, dass die mitgliedstaatlichen Zahlstellen der Kommission zwecks Überprüfung ihre Jahresabschlussrechnungen übermitteln. Die Kommission prüft die Vollständigkeit, Genauigkeit und sachliche Richtigkeit der vorgelegten Jahresabschlüsse, aber auch die Rechtmäßigkeit der Agrarförderung. Im Rahmen des letzten Rechnungsabschlussverfahrens in 2019 forderte die Europäische

449 Ermächtigungsgrundlage für den Erlass in § 4 Abs. 1, 4 des Agrarzahlungen-Verpflichtungsgesetzes. 450 Art. 91 Abs. 1, 97, 99 der VO (EU) Nr. 1306/2013; Delegierte VO (EU) Nr. 640/2014. 451 Vgl. Art. 99 Abs. 2 Abs. 2 UAbs. 2 VO (EU) Nr. 1306/2013; Art. 39 Abs. 3 Delegierte VO (EU) Nr. 640/2014; zu weiteren Freistellungen von Sanktionen bei geringfügigen Rechtsverstößen vgl. Krüger/List AUR 2017, 41 (43 f.) 452 S. zB Hedtmann EuR 2002, 122 (129 ff.) 453 Vgl. Meyer-Bolte, Cross Compliance, S. 215. S. ua Art. 47 ff., 102 VO (EU) Nr. 1306/2013. 454 Ausführlich Streinz/Kopp EUV/AEUV, 3. Aufl. AEUV Art. 40 Rn. 123 ff.

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B. Fundamente, Ausprägungen und Spezifika des Agrarrechts

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Kommission von 13 Mitgliedstaaten (darunter auch Deutschland) Rückerstattungen aus Mitteln der ersten und zweiten Säule der GAP.455 5. Transparenz der Agrarbeihilfen Im Zuge der „Europäischen Transparenzinitiative“456 aus dem Jahre 2006 sollte der Infor- 172 mationszugang des europäischen Steuerzahlers über die Verwendung von EU-Geldern verbessert werden.457 Während bis zu diesem Zeitpunkt bereits einige Mitgliedstaaten458 Informationen über die Begünstigten öffentlich zugänglich gemacht hatten – allerdings in sehr unterschiedlich ausgeprägten Maße –, wurden durch neues EU-Verordnungsrecht (2007/08)459 nunmehr alle Mitgliedstaaten verpflichtet, Informationen über die Agrarbeihilfenempfänger (Name, Wohn- oder Betriebsort und Höhe der Agrarsubvention) im Internet zu veröffentlichen.460 Betroffene Landwirte in Deutschland hatten daraufhin vor verschiedenen Verwaltungsgerichten beantragt, die Veröffentlichung ihrer Daten im Internet zu untersagen. Die Mehrzahl der deutschen Verwaltungsgerichte vertrat die Ansicht, dass die Schaffung von Transparenz bei der Verwendung von EU-Geldern ein überragend wichtiges Ziel sei, und hat deshalb die Anträge der Landwirte abgelehnt.461 Hingegen sah das Verwaltungsgericht Wiesbaden in der Internetveröffentlichung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das europäische Grundrecht auf Datenschutz.462 Es hatte deshalb mit Beschluss vom 27.2.2009 beim Europäischen Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Gültigkeit der maßgeblichen EU-Rechtsvorschriften463 eingereicht. Der EuGH erklärte in seinem Urteil vom 9.11.2010464 die diesbezüglichen EU-Rechtsnor- 173 men für teilweise ungültig. Nach seiner Ansicht verletzten sie die betroffenen natürlichen Personen in ihrem Grundrecht auf Achtung ihres Privatlebens im Allgemeinen (Art. 7 GRC) und in ihrem Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten im Besonderen (Art. 8 GRC), da sie unverhältnismäßig seien. Zwar hätten die Steuerzahler in einer demokratischen Gesellschaft einen Anspruch darauf, über die Verwendung der öffentlichen Fi455 Durchführungsbeschluss (EU) 2019/265 der Kommission v. 12.2.2019 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgabe von der Finanzierung durch die Europäische Union, ABl. 2019 L 44/14. 456 S. dazu das von der Europäischen Kommission am 3.5.2006 vorgelegte Grünbuch Europäische Transparenzinitiative KOM(2006) 194 endg. 457 Grundsätzlich zur Finanzöffentlichkeit s. Wollenschläger AöR 135 (2010), 363 ff. 458 Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Irland, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden, Slowenien und das Vereinigte Königreich (s. KOM(2006) 194 endg., 14). 459 Die grundsätzliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Veröffentlichung der Informationen über die Agrarbeihilfenempfänger erfolgte in Art. 44 a Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates v. 21.6.2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik, ABl. 2005 L 209/1, eingefügt durch die Verordnung (EG) Nr. 1437/2007 des Rates v. 26.11.2007 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1290/2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik, ABl. 2007 L 322/1. Die Konkretisierung hierzu traf die Kommission in der Verordnung (EG) Nr. 259/2008 der Kommission v. 18.3.2008 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates hinsichtlich der Veröffentlichung von Informationen über die Empfänger von Mitteln aus dem Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), ABl. 2008 L 76/28. 460 Belger, S. 183. 461 OVG Münster NWVBl. 2009, 358; OVG Schleswig NordÖR 2009, 414; VGH Mannheim VBl.BW 2010, 35; VGH Kassel 9.6.2009 – 10 B 1559/09. Vgl. dazu Guckelberger EuZW 2010, 946 f.; Wollenschläger AöR 135 (2010), 363 (374 f.). 462 VG Wiesbaden 27.2.2009 – 6 K 1045/08 u.6 K 1352/08; Norer AUR 2009, 241 ff. 463 Art. 44 a VO (EG) Nr. 1290/2005. 464 EuGH verb. C-92/09 und C-93/09, Slg 2010, I-11063 – Volker und Markus Schecke GbR und Hartmut Eifert/Land Hessen. Zur Kritik an dem Urteil aus Sicht der Grundrechtsdogmatik s. Guckelberger EuZW 2011, 126.

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nanzmittel informiert zu werden. Dazu sei es aber nicht erforderlich, die personenbezogenen Daten aller natürlichen Personen (als Agrarbeihilfenempfänger) zu veröffentlichen, ohne nach einschlägigen Kriterien wie Dauer, Häufigkeit sowie Art und Umfang der Beihilfen zu unterscheiden. Sofern Agrarbeihilfeempfänger juristische Personen seien und für sie der Grundrechtsschutz nach Art. 7 und 8 GRC greife, sei die Veröffentlichungspflicht hingegen nach Ansicht des EuGH gerechtfertigt. 174 Infolge des EuGH-Urteils wurde die Regelung zur Transparenz der Agrarbeihilfen geändert.465 Weiterhin sind zwar die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Veröffentlichung der Agrarbeihilfen neben den juristischen Personen auch natürliche Personen einzubeziehen, jedoch sind die einzelnen Fördermaßnahmen differenzierter als bisher auszuweisen und zu erläutern. Des Weiteren wird mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit der Rechtsvorschriften die Pflicht zur Veröffentlichung der Namen natürlicher Personen eingeschränkt. Hierfür wurde ein Schwellenwert hinsichtlich der Höhe der Agrarbeihilfen festgelegt, unterhalb dessen der Name des Begünstigten nicht veröffentlicht wird. Unter Rückgriff auf die Kleinerzeugerregelung466 soll dieser mindestens 500 EUR und höchstens 1.250 EUR betragen. Angesichts der Intensität des Grundrechtseingriffs durch die Veröffentlichung im Internet ist die Höhe des Schwellenwertes jedoch zu gering angesetzt, um eine Balance zwischen dem Ziel der Regelung und dem Grundrechtseingriff annehmen zu können. Vielmehr wäre hierfür ein erheblich höherer Schwellenwert notwendig. Es wäre selbst fraglich, ob der De-Minimis-Wert in Höhe von 25.000 EUR für einen Zeitraum von drei Steuerjahren, wie er für die Anwendbarkeit des EU-Beihilfenrechts für nationale Agrarbeihilfen besteht,467 ausreichend wäre. Demzufolge bestehen auch an der neuen Transparenzregelung verfassungsrechtliche Zweifel.468

C. Aktuelle Entwicklung und Ausblick I. Die Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020 175 Die Gemeinsame Agrarpolitik erlebte in den letzten beiden Dekaden vier große Reformen, die Agenda 2000, die Fischler-Reform von 2003, den Health Check 2008 und die GAPReform 2013. Im Zuge der nächsten mehrjährigen Finanzplanung von 2021–2027 wird die GAP erneut reformiert. 1. Der mehrjährige Finanzrahmen für 2021–2027 176 Die Verhandlungen zu dem mehrjährigen Finanzrahmen der EU haben sich in der Vergangenheit angesichts unterschiedlicher Interessenlagen stets als problematisch erwiesen. Bei dem anstehenden Finanzrahmen kommt erschwerend hinzu, dass einerseits der Brexit künftig pro Jahr einen Finanzrückgang von ca. 12 Mrd. EUR für den EU-Haushalt zur Folge hat und andererseits kostenintensive Herausforderungen für die EU im Raum stehen (wie Terrorismusbekämpfung, Schutz der EU-Außengrenzen, Stärkung von Forschung 465 Vgl. Art. 111 und 112 VO (EU) Nr. 1306/2013 iVm Art. 57–62 DurchführungsVO (EU) Nr. 908/2014 sowie Art. 119 Verordnung (EU) Nr. 508/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 über den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 2328/2003, (EG) Nr. 861/2006, (EG) Nr. 1198/2006 und (EG) Nr. 791/2007 des Rates und der Verordnung (EU) Nr. 1255/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2014 L 149/1. 466 Gemäß Art. 63 VO (EU) Nr. 1307/2013. 467 S. Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 1408/2013 der Kommission v. 18.12.2013 über die Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen im Agrarsektor, ABl. 2013 L 352/9. 468 Andere Kritikpunkte hinsichtlich der Verfassungskonformität werden vom DBV vorgetragen, s. AGRA-EUROPE 23/15, Länderberichte 10 f.

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C. Aktuelle Entwicklung und Ausblick

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und Innovation).469 Der Vorschlag der Kommission zum mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027470 sieht GAP-Mittel in Höhe von insgesamt 365 Mrd. EUR vor; dies entspricht rund ein Drittel des gesamten EU-Haushaltes. Im Vergleich zum vorherigen Finanzrahmen werden die Agrarmittel insgesamt um 5% und bei den Direktzahlungen um 3,9% gekürzt. Die Kürzungen der ELER-Mittel für die 2. Säule fallen erheblich höher aus (zB für Deutschland um 15,3%), sollen und können allerdings durch eine höhere nationale Kofinanzierung kompensiert werden.471 2. Folgenabschätzung, öffentliche Konsultation, Mitteilung der Kommission Besondere Phänomene des Sekundärrechts zur GAP sind seine Dynamik und Komplexität. 177 Auf dem Weg zu einem wohlgeordneten Unionsagrarrecht stellt die Folgenabschätzung (Impact Assessment) ein zentrales Instrument der EU dar. Folgenabschätzung stellt ein Instrument dar, das die Notwendigkeit von Rechtsnormen, ihre Wirksamkeit, Effizienz und Kohärenz überprüft.472 Neben den möglichen Kosten einer Regelung für die öffentlichen Haushalte, für die Privatwirtschaft und die Betroffenen werden die gesellschaftspolitischen Auswirkungen ermittelt. Die Folgenabschätzung kann in drei unterschiedlichen Stadien der Rechtsetzung erfolgen: 1. Als prospektive Folgenabschätzung (ex-ante-Bewertung) bezieht sie sich auf noch im Planungsstadium befindliche Maßnahmen, für die noch kein konkreter Rechtsaktentwurf vorliegt. Sie dient dazu, im Vorfeld des Entwurfs alternative Lösungsmöglichkeiten auf ihre Folgen hin zu bewerten. 2. Als begleitende Folgenabschätzung (ex-ante-Bewertung) erstreckt sie sich – ebenfalls als vorausschauendes Verfahren – auf einen bereits vorgelegten Entwurf. 3. Als retrospektive Folgenabschätzung (ex-post-Bewertung) zielt sie auf eine Bewährungsprüfung in Form eines Praxistests der geltenden und angewendeten Rechtsnormen.473 Eine retrospektive Folgenabschätzung/ex-post-Bewertung der geltenden GAP-Instrumente 178 ist sekundärrechtlich spezifisch vorgesehen. Explizit verlangt Art. 110 VO (EU) 1306/2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem (sog Horizontal-VO)474 eine Überwachung und Bewertung der GAP. Zu messen ist die Leistung GAP insbesondere zu den Direktzahlungen, Marktstützungsmaßnahmen und den Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums. Die Kommission überwachte die GAP-Maßnahmen anhand der Berichtserstattung der Mitgliedstaaten. Dabei ist die Leistung der GAPMaßnahmen anhand folgender Ziele zu messen: „a) rentable Nahrungsmittelerzeugung mit Schwerpunkt auf die landwirtschaftlichen Einkommen, der Produktivität in der Landwirtschaft und der Preisstabilität; b) nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen sowie Klimaschutzmaßnahmen mit dem Schwerpunkt auf den Treibhausgasemissionen, der biologischen Vielfalt sowie Boden und Wasser, c) ausgewogene räumliche Entwicklung mit Schwerpunkt auf Beschäftigung, Wachstum und Armutsbekämpfung im

469 Mögele/Rusu Der Landkreis 2018, 731. 470 Mitteilung der Kommission „Ein moderner Haushalt für eine Union, die schützt, stärkt und verteidigt, Mehrjähriger Finanzrahmen 2021–2027“, COM(2018) 321 final. 471 Mögele/Rusu Der Landkreis 2018, 731. 472 Vgl. Härtel Handbuch Europäische Rechtsetzung, S. 334 ff. 473 Zu den Begrifflichkeiten vgl. Hofmann ZG (1999), 44 (46) Fn. 5; Lange ZG (2001), 268 (270); Karpen AöR 124 (1999), 400 (407). 474 Des Weiteren besteht als Grundlage die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 834/2014 der Kommission v. 22.7.2014 mit Vorschriften für die Anwendung des gemeinsamen Überwachungs- und Bewertungsrahmens der Gemeinsamen Agrarpolitik.

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§ 7 Agrarrecht

ländlichen Raum“.475 Den ersten Evaluierungsbericht zur GAP 2014–2020 soll die Kommission dem Europäischen Parlament und Rat bis zum 31.12.2018 und den zweiten bis zum 31.12.2021 vorlegen.476 179 Elemente einer prospektiven Folgenabschätzung/ex-ante-Bewertung – im Vorfeld zu den Verordnungsentwürfen – weist bereits das Papier „Inception Impact Assessment“ der Kommission vom 2.2.2017 auf, in dem sie kurz fünf Reformoptionen beschrieben hatte:477 Nach Option 1 wird das GAP-Sekundärrecht grundsätzlich beibehalten; Änderungen erfolgen allein zur Vereinfachung im Zusammenhang mit der Omnibus-Verordnung.478 Option 2 wäre eine vollständige Abschaffung der GAP, die allerdings unrealistisch und primärrechtswidrig ist. Die Prüfung dient der Verdeutlichung des ökonomischen, sozialen und ökologischen Wertes der EU-Agrarpolitik. Option 3 fokussiert sich auf mitgliedstaatliche/regionale Programme, deren Schwerpunkt auf Förderung des Risikomanagements landwirtschaftlicher Betriebe und der ländlichen Entwicklung liegt. Option 4 richtet sich auf eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Einkommen durch Flächenzahlungen und Risikomanagement, wobei Umwelt-/Klimaschutz besser mit der fachlichen Praxis verbunden wird. Zudem setzt man auf Anreize für Technologien und Innovationen zur Vereinfachung der Landwirtschaft. Option 5 sieht eine Umverteilung der Unterstützung von größeren zu kleineren und umweltfreundlicheren Agrarunternehmen vor. Diese Option wäre mit einer Deckelung der Direktzahlungen und strikteren Umweltanforderungen an die Landwirtschaft verbunden. Vergleichbare verschiedene Szenarien wurden bereits im Rahmen der letzten GAP-Reform 2013 diskutiert.479 180 Entsprechend dem demokratischen Beteiligungsgrundsatz nach Art. 11 EUV führte die Europäische Kommission im Frühjahr 2017 eine dreimonatige öffentliche Konsultation zur „Modernisierung und Vereinfachung der Gemeinsamen Agrarpolitik“ durch480. Zu dem Fragenkatalog der Kommission gingen 322.000 Kommentare ein. Von den etwa 21.400 teilnehmenden EU-Landwirten waren es rund 10.000 aus Deutschland. Über die „Living-Kampagne“ der Umweltverbände wurden von ca. 258.000 Bürgerinnen und Bürgern Antworten eingereicht.481 Es wurden 1.417 Positionspapiere übermittelt.482 Laut Auswertung der Konsultation sollen zu den Prioritäten der GAP-Reform gehören: die Regelung der Direktzahlungen, Stärkung der Landwirte in der Wertschöpfungskette sowie der Beitrag der Landwirtschaft zum Klima- und Umweltschutz.483 Die Kommission sah diese Befragung auch als Beitrag zur Folgenabschätzung.484 Im Konsultationsprozess erfolgte des Weiteren ein strukturierter Dialog mit Interessensträgern, fanden Sachverständi475 Art. 110 Abs. 2 VO (EU) Nr. 1306/2013. 476 Art. 10 Abs. 5 VO (EU) Nr. 1306/2013. 477 Europäische Kommission, AGRI.DDG1.C.1 „Agricultural Policy Analysis and Perspectives“ 2017/ AGRI/001, 2.2.2017. 478 Siehe nunmehr Verordnung (EU) 2017/2393, ABl. 2017 L 350/15. 479 Vgl. ua Härtel, Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU nach 2013, S. 41 ff. mwN; grundlegend kritisch Isermeyer in Härtel, Nachhaltigkeit, Energiewende, Klimawandel, Welternährung, S. 587 ff.; ders., Visionen für die Agrarpolitik, 2016. 480 Die öffentliche Konsultation endete am 2.5.2017. 481 Vgl. AGRA-EUROPE 29/17, Konsultation: Berufsstand sieht Forderung nach „starker“ GAP bestätigt, EU-Nachrichten 6. 482 Europäische Kommission, Factual summary – Online public consultation „Modernising and Simplifying the Common Agricultural Policy (CAP)”, Mai 2017, S. 2, https://ec.europa.eu/agriculture/sites/agri culture/files/consultations/cap-modernising/factual_report_public_consultation_modernising_and_sim plifying_the_cap_final.pdf (10.3.2019). 483 Ecorys, Modernising and Simplifying the Common Agricultural Policy. Presentation of the results of the Open Public Consultation, Juli 2017, https://ec.europa.eu/agriculture/sites/agriculture/files/events/ 2017/cap-have-your-say/170701-chartier-cronin.pdf (10.3.2019). 484 https://ec.europa.eu/agriculture/consultations/cap-modernising/2017_de (10.3.2019).

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genworkshops statt und wurden Stellungnahmen der REFIT-Plattform, des Ausschusses der Regionen, des Wirtschafts- und Sozialausschusses und der nationalen Parlamente abgegeben.485 Die grundsätzlichen Vorstellungen für die strategische und inhaltliche Ausrichtung der 181 künftigen GAP stellte die Kommission in der Mitteilung „Ernährung und Landwirtschaft“ vom 29.11.2017486 vor. Auf dieser Grundlage erarbeitete die Kommission die konkreten Legislativvorschläge, die im Folgenden zusammengefasst werden. 3. Die GAP-Legislativvorschläge der Europäischen Kommission a) Die drei Verordnungsentwürfe in rechtstechnischer Perspektive Konkrete Gesetzesentwürfe zur Reform der GAP nach 2020 unterbreitete die Europäische 182 Kommission am 1.6.2018. Mit beigefügter Folgenabschätzung,487 auch die des Ausschusses für Regulierungskontrolle (Regulatory Scrutiny Board Opion),488 hat sie drei Verordnungen vorgeschlagen: 1. „Verordnung über die GAP-Strategiepläne“: Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften für die Unterstützung der von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik zu erstellenden und durch den Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) zu finanzierenden Strategiepläne (GAP-Strategiepläne) und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EU) Nr. 1307/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates489; 2. „Horizontale GAP-Verordnung“: Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Finanzierung, Verwaltung und Überwachung der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013490; 3. „Änderungsverordnung“: Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse, (EU) Nr. 1151/2012 über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, (EU) 251/2014 über die Begriffsbestimmung, Beschreibung, Aufmachung und Etikettierung von aromatisierten Weinerzeugnissen sowie den Schutz geografischer Angaben für aromatisierter Weinerzeugnisse, der Verordnung (EU) Nr. 228/2013 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zugunsten der Regionen äußerster Randlage der Union und der Verordnung (EU) Nr. 229/2013 über Sondermaßnahmen im Bereich der Landwirtschaft der kleineren Inseln des Ägäischen Meeres.491 Alle drei Verordnungsvorschläge beginnen mit derselben zusammenfassenden Begründung zur angestrebten Gesamtreform der GAP und zu den neuen Regelungen der Verordnungen. Darüber hinaus weist selbstverständlich jede der drei Verordnungsentwürfe eigene Erwägungsgründe auf. Rechtstechnisch weist der Vorschlag zur Verordnung über die GAP-Strategiepläne den vorteilhaften kodifizierenden Ansatz der Zusammenführung von bisher zwei Verordnungen auf. Die bislang in zwei Verordnungen getrennten Rechtsregime zu den Direktzahlungen (1. Säule) und zur Förderung des ländlichen Raums (2. Säu485 486 487 488 489 490 491

COM(2018) 392 final, 6. COM(2017) 713 final. Zur begleitenden Folgenabschätzung in COM(2018) 393 final, 7 f. Dieser Ausschuss ist bei der Europäischen Kommission angesiedelt. COM(2018) 392 final. COM(2018) 393 final. COM(2018) 394 final/2.

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§ 7 Agrarrecht le) werden nunmehr in einer Verordnung geregelt. Im Sinne eines wohlgeordneten Rechts ist dies von Vorteil. Zur Schaffung eines gesamten kodifizierten Gesetzgebungsakt zur GAP – wie bereits vorgeschlagen wurde 492 – ist es allerdings nicht gekommen. Die Verordnung zur Gemeinsamen Marktordnung (EU) Nr. 1308/2013 bleibt separat bestehen. Konsequent ist es deshalb, auch weiterhin eine eigenständige Horizontale GAP-Verordnung zu erlassen, die für die 1. Säule im Hinblick auf die Direktzahlungen und GMO-Maßnahmen sowie für die 2. Säule gilt. Zu kritisieren ist in rechtstechnischer Hinsicht, dass nach wie vor die Regelungen zu den geografischen Herkunftsangaben für Weinerzeugnisse in der GMO-Verordnung verankert bleiben und nicht in die Verordnung (EU) Nr. 1151/2012 überführt werden. Des Weiteren fehlt es bislang in den Reformvorschlägen an der erforderlichen Herstellung der Kohärenz zwischen der Regelung zu den agrarspezifischen Ausnahmen vom allgemeinen Kartellverbot des Art. 101 AEUV nach Art. 209 f. GMO-Verordnung (Nr. 1308/2013) und nach der Agrarwettbewerbsverordnung (Nr. 1184/2006). Im Hinblick auf das WTO-Recht, das grundsätzlich Ausfuhrsubventionen verbietet, ist es konsequent, die Unionsvorschriften hierzu zu streichen.493 b) Ziele der GAP-Reform

183 Mit ihren GAP-Legislativvorschlägen verfolgt die Kommission fünf Kernanliegen494: n Erstens soll die GAP vereinfacht und modernisiert werden. n Zweitens soll ein stärkerer Beitrag zu den Umwelt- und Klimazielen der EU geleistet werden. n Drittens geht es um eine fairere Verteilung der Direktzahlungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Empfängern. n Viertens soll die GAP an Zielen und Ergebnissen und weniger als jetzt an Vorschriften, Kontrollen und Sanktionen ausgerichtet werden. n Fünftens soll ein neues Umsetzungsmodell eingeführt werden mit dem Ziel, eine sachgerechtere Aufgabenverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Agrarpolitik sicherzustellen. Hierdurch soll in stärkerem Maße dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung getragen werden. 184 Die Verordnung über die GAP-Strategiepläne erstreckt sich gemäß Art. 5 auf die finanzielle Unterstützung aus dem EGFL und dem ELER auf die nachhaltige Entwicklung in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung sowie in ländlichen Gebieten. Mit der beiderseitigen rechtlichen Nennung von Landwirtschaft und Ernährung wird auch die Bezeichnung des Rechtsgebietes Agrar- und Ernährungs(wirtschafts)recht begrifflich bestätigt. 185 Mit der neuen Zielformulierung werden die Bezüge zu den Sustainable Development Goals (SDGs) hergestellt, die in der von den Vereinten Nationen am 25.9.2015 verabschiedeten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung aufgeführt sind. Dies hebt die Kommission auch in ihrem Reflexionspapier „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Europa bis 2030“ hervor.495 Für das Recht auf Nahrung und die damit verbundene Agrarpolitik ist das Ziel 2 mit seinen Unterzielen von zentraler Bedeutung. Bis 2030 will die Weltgemeinschaft „den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.“ Die Bekämpfung des Hungers in der Welt spielt für die Förderpolitik der Landwirtschaft in der EU hier keine Rolle. Relevant 492 Härtel in Rentenbank, S. 41 (66 f.) 493 Bei den zu streichenden Vorschriften handelt es sich um Art. 196–204 VO 1308/2013, vgl. Erwägungsgrund Nr. 26 der „Änderungsverordnung“, COM(2018) 394 final/2. 494 Zusammenfassung von Mögele/Rusu Der Landkreis 2018, 731; Europäische Kommission – Factsheet, EU-Haushalt: die Gemeinsame Agrarpolitik in der Zeit nach 2020, 1.6.2018. 495 COM(2019) 22 final, 22–24.

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ist und bleibt aber auch für die EU die Ernährungssicherheit, bessere Ernährung und die Förderung der nachhaltigen Landwirtschaft, die sich in den neuen sekundärrechtlichen GAP-Zielen wiederfinden. Konkretisierende Bedeutungen erlangen diesbezüglich insbesondere das Unterziel 2.4 zur Nachhaltigkeit der Systeme der Nahrungsmittelproduktion und das Unterziel 2.5 zur genetischen Vielfalt. Zudem fordert Unterziel 12.3 bis 2030 die weltweite Nahrungsmittelverschwendung zu halbieren und die entlang der Produktionsund Lieferkette entstehenden Nahrungsmittelverluste zu verringern. Auch diese Unterziele der SDGs finden sich nunmehr im Sekundärrecht wieder. Die längst überfällige sekundärrechtlich systematische und den aktuellen Herausforderun- 186 gen adäquate Formulierung von Zielen der GAP erfolgt nun in ausführlicher Weise. Dabei orientieren sie sich an die SDGs der Vereinten Nationen und halten sich zugleich an den primärrechtlichen Rahmen zu den GAP-Zielen des Art. 39 AEUV und die Querschnittsklauseln Umweltschutz, Verbraucherschutz und Tierschutz. Die drei allgemeinen und neun spezifischen Ziele der GAP in Art. 5 und 6 der Strategiepläne-VO spiegeln zugleich in grundsätzlicher Weise den dreidimensionalen Ansatz des Nachhaltigkeitsprinzips wider, der sich auf die Ökonomie, Ökologie und das Soziale bezieht. Der ökonomischen Dimension ist das erste allgemeine Ziel zuzuordnen – die Förderung 187 eines intelligenten, krisenfesten und diversifizierten Agrarsektors, der Ernährungssicherheit gewährleistet (Art. 5 lit. a). Die spezifischen Ziele hierzu sind gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. a–c: a) Förderung tragfähiger landwirtschaftlicher Einkommen sowie der Krisenfestigkeit in der ganzen Union zur Verbesserung der Ernährungssicherheit, b) Verstärkung der Ausrichtung auf den Markt und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, auch durch einen stärkeren Schwerpunkt auf Forschung, Technologie und Digitalisierung, c) Verbesserung der Position der Landwirte in der Wertschöpfungskette. Der Begriff der Ernährungssicherheit (Food Security) als Bestandteil des universellen Men- 188 schenrechts auf Nahrung496 wurde im Abschlussbericht des Welternährungsgipfels von 1996497 definiert und ebenso von der EU-Kommission in ihrer Mitteilung zum EU-Politikrahmen für Ernährungssicherheit in 2010498 und vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung von 2011499 zugrunde gelegt. Danach bedeutet Ernährungssicherheit, dass „alle Menschen zu jeder Zeit physischen und wirtschaftlichen Zugang zu ausreichender, gesundheitlich unbedenklicher und nährstoffreicher Nahrung, um ihre Ernährungsbedürfnisse und Nahrungsmittelpräferenzen für ein aktives und gesundes Leben befriedigen zu können“. Diese Definition findet sich im Wesentlichen ebenso im Erwägungsgrund Nr. 17 S. 1 der Strategiepläne-Verordnung. Auch wenn gegenwärtig grundsätzlich die Ernährungssicherheit in der EU gewährleistet wird, bleibt sie eine beachtliche Aufgabe im Kontext der Folgen des Klimawandels und möglicher Katastrophen. Die Angewiesenheit der Gewährleistung einer Ernährungssicherung auf eine nachhaltige Landwirtschaft mit intak-

496 Art. 11 UN-Sozialpakt. Hierzu ua Kommer, Menschenrechte wider den Hunger, 2016; Härtel, Ein (Menschen)Recht auf Nahrung?, in FS Hufen, S. 24 ff.; dies., The Right to Food in Härtel/Budzinowski, Food Security, Food Safety, Food Quality, 2016, S. 15 ff.. 497 Welternährungsgipfel 1996 – „Rome Declaration on World Food Security“, http://www.fao.org/docre p/003//w361e/w3613e00. 498 COM(2010) 127 final – Mitteilung der Kommission „EU-Politikrahmen zur Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Verbesserung der Ernährungssicherheit“. 499 Entschließung des Europäischen Parlaments v. 18.1.2011 zur Anerkennung der Landwirtschaft als Sektor von strategischer Bedeutung für die Ernährungssicherheit (2010/2112 (INI)), ABl. C 136 E/8 v. 11.5.2012, unter R. 4.

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§ 7 Agrarrecht ten Ökosystemen gebietet zugleich eine Verknüpfung der GAP mit effektiven Umweltund Klimaschutzmaßnahmen. Die ökologische Nachhaltigkeitsdimension verkörpert das zweite allgemeine Ziel – die Stärkung von Umweltpflege und Klimaschutz (Art. 5 lit. b). Die spezifischen Ziele hierzu bilden gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. d–f: a) Beitrag zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel sowie zu nachhaltiger Energie, b) Förderung der nachhaltigen Entwicklung und der effizienten Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen wie Wasser, Boden und Luft, c) Beitrag zum Schutz der Biodiversität, Verbesserung von Ökosystemleistungen und Erhaltung von Lebensräumen und Landschaften. Die soziale Dimension betrifft das dritte allgemeine Ziel – die Stärkung des sozioökonomischen Gefüges in ländlichen Gebieten (Art. 5 lit. c). Die spezifischen Ziele hierzu lauten gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. g–h: a) Steigerung der Attraktivität Junglandwirte und Erleichterung der Unternehmensentwicklung in ländlichen Gebieten, b) Förderung von Beschäftigung, Wachstum, sozialer Inklusion sowie der lokalen Entwicklung in ländlichen Gebieten, einschließlich Biowirtschaft und nachhaltige Forstwirtschaft, c) Verbesserung der Art und Weise, wie die Landwirtschaft in der EU gesellschaftlichen Erwartungen in den Bereichen Ernährung und Gesundheit, einschließlich in Bezug auf sichere, nahrhafte und nachhaltige Lebensmittel, Lebensmittelabfälle sowie Tierschutz gerecht wird. Die hier aufgezeigte Zuordnung der spezifischen Ziele zu den allgemeinen Zielen ist nicht starr zu verstehen, sondern impliziert zugleich die Erkenntnis, dass spezifische Ziele auch in konkretisierender Beziehung zu den jeweiligen anderen allgemeinen Zielen stehen können. Dies belegt zum Beispiel das spezifische Ziel nach Art. 6 Abs. 1 lit. i, das nicht nur die soziale Dimension, sondern auch die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit betriff. Ein Querschnittsziel, das in alle Zielbereiche hineinwirkt, besteht in der Modernisierung des Agrarsektors durch Förderung und Weitergabe von Wissen, Innovation – und nunmehr neu explizit – Digitalisierung in der Landwirtschaft und in ländlichen Gebieten und Förderung von deren Verbreitung (Art. 5 S. 2 Strategiepläne-VO). c) Direktzahlungen (1. Säule)

193 Die Zwei-Säulen-Struktur der GAP wird beibehalten, auch wenn die Direktzahlungen und die Förderung des ländlichen Raums nunmehr in einer Verordnung geregelt werden. Die Direktzahlungen werden auch weiterhin das Hauptinstrument der GAP darstellen. Dabei können die Mitgliedstaaten zwischen zwei Formen von Direktzahlungen wählen. Entweder gewähren sie eine flächenbezogene produktionsentkoppelte Zahlung je Hektar in Form einer „Einkommensgrundstützung für Nachhaltigkeit“500 oder eine „gekoppelte Einkommensstützung“ (max. 10% oder im Einzelfall max. 13% plus 2% für Eiweißpflanzen).501 Hinzu kommt die bekannte Junglandwirteprämie (mind. 2 % der Direktzahlungsmittel).502 Daneben kann den Landwirten eine zusätzliche Prämie für die Ein-

500 Art. 17 ff. Strategiepläne-VO. 501 Art. 29 ff. Strategiepläne-VO. 502 Art. 27 iVm Art. 86 Abs. 4 Strategiepläne-VO.

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haltung von fakultativen Regelungen für Klima und Umwelt („Öko-Regelung“) gewährt werden.503 Das agrarische Distributionssystem, das auch Gegenstand der letzten GAP-Reformen war, 194 soll nach dem Entwurf der Kommission geändert werden. Dies betrifft die Mittelverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und die Mittelverteilung an landwirtschaftlichen Betriebsinhaber. Die Höhe der Direktzahlungen je Hektar sollen zwischen den Mitgliedstaaten weiter angeglichen werden.504 Für die Mittelverteilung an die Betriebsinhaber schlägt die Kommission eine Kombination von Degression und Kappung von.505 Die Direktzahlungen über 60.000 EUR sollen größenabhängig ausgestaltet werden. Gekürzt werden Direktzahlungen von 60.000 EUR bis 75.000 EUR um 25%, von 75.000 EUR bis 90.000 EUR um 50%, von 90.000 EUR bis 100.000 EUR um 75%. Die Obergrenze für Direktzahlungen liegt bei 100.000 EUR. Bei der Anwendung dieser Kürzungsmaßstabstäbe sollen die Mitgliedstaaten für die Berechnung der Höhe der Direktzahlungen die gezahlten Löhne und den Wert der Arbeitskräfte einbeziehen. Darüber hinaus soll die in Deutschland eingeführte Umverteilungsprämie für alle Mitgliedstaaten gelten.506 Im Hinblick auf eine verpflichtende Obergrenze der Direktzahlungen hat im Rahmen der österreichischen Ratspräsidentschaft ein Großteil der Ratsmitglieder eine freiwillige Ausgestaltung verlangt.507 d) Neue Umweltarchitektur Die geltende Umweltarchitektur mit den drei Elementen – Cross Compliance, Greening, 195 (freiwillige) Agrar- und Umweltmaßnahmen – soll geändert werden. Das Greening soll mit dem Cross Compliance-System verbunden werden. Hieraus entsteht ein neues Konstrukt – die sog „Ökokonditionalität“508. Im Vergleich zur geltenden Rechtslage werden die Direktzahlungen damit an eine „erweiterte Konditionalität“ geknüpft sein. Die Cross Compliance-Anforderungen werden gesteigert und um bisherige Greening-Bedingungen erweitert.509 Eingeführt werden soll zudem im Rahmen der obligatorischen Ökokonditionalität als neues Instrument das Nährstoffmanagement (Betriebsnachhaltigkeitsinstrument für Nährstoffe)510. Bislang lehnten Tschechien, Lettland und Deutschland im Agrarministerrat solche Nährstoffbilanzen ab; diese würden den Verwaltungsaufwand für Landwirte erheblich erhöhen. Eine neue Ökoprämie im Rahmen der 1. Säule soll es für freiwillige, einjährige flächenbezogene Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen geben (Eco-Schemes). Zusätzlich sollen zugleich im Rahmen der 2. Säule die Förderungen für freiwillige, mehrjährige Agrarumwelt- und Klimamaßnahmen511 fortbestehen, die allerdings vereinfacht werden sollen. Bei beiden Ökoprämien müssen die einzuhaltenden Anforderungen über die obligatorische „Ökokonditionalität“ hinausgehen. e) Ländlicher Raum (2. Säule) Die 2. Säule der GAP soll in ihren inhaltlichen Fördergrundstrukturen bestehen bleiben. 196 Detailänderungen betreffen ua die Ersetzung der Ziele sowie Prioritäten durch acht Inter503 Art. 28 Strategiepläne-VO. 504 Mittelzuweisungen an die Mitgliedstaaten für Direktzahlungen gemäß Art. 81 Abs. 1 UAbs. 1 iVm Anhang IV Strategiepläne-VO. 505 Art. 15 Strategiepläne-VO. 506 Vgl. Art. 26 Strategiepläne-VO. 507 Sachstandsbericht der österreichischen Ratspräsidentschaft zur GAP-Reform. 508 Art. 11 und 12 iVm Anh. III Strategiepläne-VO. 509 DBV, Situationsbericht 2018/19, S. 118. 510 Art. 12 Abs. 3, Anh. III GLÖZ 5 Strategiepläne-VO. 511 Art. 65 Strategiepläne-VO.

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§ 7 Agrarrecht ventionskategorien512 zur Entwicklung des ländlichen Raums; wie zB die Umwelt-, Klimaund andere Bewirtschaftungsverpflichtungen, naturbedingte Benachteiligungen, Investitionen, Niederlassung von Junglandwirten und Existenzgründungen, Risikomanagementinstrumente und Wissensaustauch. Von den ELER-Mitteln müssen die Mitgliedstaaten 5 % für LEADER und 30% für umwelt- und klimabezogene Maßnahmen ausgeben513. Die Höchstgrenze für die fakultative einmalige Förderung von Junglandwirten wird von 30.000 EUR auf 100.000 EUR aufgestockt.514 Hinzu kommt die obligatorische Prämie für Junglandwirte aus der 1. Säule. Im Hinblick auf Einkommensschwankungen, die teilweise aufgrund extremer Wetterereignisse (Dürre, Hochwasser) und sanitärer sowie phytosanitärer Krisen (wie zB Schweinepest) bedingt sind, werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, Instrumente zum Risikomanagement wie förderfähige Versicherungen zu schaffen.515 Eine wesentliche Änderung betrifft den verfahrensrechtlichen Teil zur Aufstellung der ELER-Förderbedingungen. Die bisherigen „Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums“ werden durch GAP-Strategiepläne ersetzt, die alle Maßnahmen im Rahmen der GAP der 1. und 2. Säule umfassen. f) Neues „Umsetzungsmodell“: GAP-Strategiepläne der Mitgliedstaaten

197 Die Kommission schlägt ein neues Umsetzungsmodell der GAP vor, mit dem der Schwerpunkt der Regelkonformität auf Leistung der landwirtschaftlichen Betriebe zu verlagert werden soll. Die GAP soll ergebnisorientiert ausgerichtet sein. Die Union legt die allgemeinen Parameter (wie die Ziele der GAP, anzuwendende Fördermaßnahmen und grundlegende Anforderungen) fest und die Mitgliedstaaten tragen die Verantwortung dafür, wie sie die Ziele erreichen und die entsprechenden Zielwerte einhalten. Die Mitgliedstaaten können den Bedingungen vor Ort besser Rechnung tragen und die Förderung effektiv ausgestalten. Hierdurch wird nach Ansicht der Kommission die Subsidiarität gestärkt.516 198 Das zentrale Rechtsinstrument für das Umsetzungsmodell bildet der GAP-Strategieplan,517 den jeder Mitgliedstaat erarbeitet und beide Säulen der GAP umfasst. Auf der Grundlage einer SWOT- und Bedarfsanalyse518 erstellen die Mitgliedstaaten eine Interventionsstrategie mit quantitativen Zielwerten und Etappenzielen. Die Zielwerte werden anhand von unionsrechtlichen Ergebnisindikatoren519 bestimmt. Zur Erreichung dieser Zielwerte legen die Mitgliedstaaten die Interventionen (Direktzahlungen und ELER-Förderung) fest. Zudem haben sie eine strategische Umweltverträglichkeitsprüfung (SUP) durchzuführen.520 In verfahrensrechtlicher Hinsicht wird für die Erstellung des GAP-Strategieplans eine Beteiligung der zuständigen Umwelt- und Klimabehörden und der „Partner“ verlangt.521 Zu den „Partnern“/der „Partnerschaft“ gehören mindestens (a) zuständige Behörden, (b) Wirtschafts- und Sozialpartner, (c) Einrichtungen, die die Zivilgesellschaft vertreten, und ggf. Einrichtungen, die für die Förderung von sozialer Inklusion, der Grundreche, der Gleichstellung der Geschlechter und der Nichtdiskriminierung verantwortlich sind. Eben-

512 513 514 515 516 517 518

Art. 64 Strategiepläne-VO. Art. 86 Abs. 2 Strategiepläne-VO. Art. 69 Strategiepläne-VO. Erwägungsgrund Nr. 80, Art. 70 Strategiepläne-VO. Erwägungsgrund Nr. 2 Strategiepläne-VO. Art. 91 ff. Strategiepläne-VO. Art. 103 Abs. 2 und Art. 96 Strategiepläne-VO. SWOT-Analyse – englisches Akronym für Strength (Stärken), Weakness (Schwächen), Opportunities (Chancen) und Threats (Risiken); hierauf bezieht sich auch explizit Art. 103 Abs. 2 UAbs. 3 Strategiepläne-VO. 519 Anh. I der Strategiepläne-VO. 520 Vgl. Art. 95 Abs. 2 lit. a Strategiepläne-VO. 521 Art. 94 Strategiepläne-VO.

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C. Aktuelle Entwicklung und Ausblick

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so ist eine Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission vorgesehen. Jeder GAP-Strategieplan bedarf der Genehmigung durch die Kommission (im Wege eines Durchführungsbeschlusses). Für die Verwaltung des GAP-Strategieplanes benennt der Mitgliedstaat eine Verwaltungsbehörde. Eine Subdelegation auf zwischengeschaltete Stellen, einschließlich lokale Behörden, ist hinsichtlich der Verwaltung der Intervention möglich. Fortbestehen sollen die Grundstrukturen der bisherigen Zahlstellen, Koordinierungsstellen, zuständigen Behörden, bescheinigenden Stellen sowie das Integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und das System zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen. Zur Überwachung des GAP-Strategieplanes ist ein „Begleitausschuss“ einzurichten. Er 199 soll sich aus Vertretern der zuständigen Behörden und zwischengeschalteten Stellen sowie von Vertretern der Partner zusammensetzen. Zur Förderung von Innovation und des Wissenstransfers werden „nationale GAP-Netze“ und ein „europäisches Netz“ eingerichtet. Das „nationale GAP-Netz“ vernetzt Organisationen und Behörden, Berater, Forscher und andere Innovationsakteure im Bereich der Landwirtschaft und ländlicher Entwicklung. Das europäische Netz wiederum besteht aus den nationalen Netzen, Organisationen und Behörden. Die Kommission richtet zudem eine „Europäische Innovationspartnerschaft für Produktivität und Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft“ ein. Zum neuen Umsetzungsmodell gehört auch die Umsetzung des Strategieplanes und deren Überprüfung durch die Mitgliedstaaten und die Kommission. Das folgende Schaubild verdeutlicht die Abläufe des neuen Umsetzungsmodells. Abbildung 5: Das neue Umsetzungsmodell (Quelle: Europäischer Rechnungshof, ABl. 2019 Nr. L 41/6 v. 1.2.2019)

Quelle(XURSlLVFKHU5HFKQXQJVKRI$%O1U/Y

In Bezug auf das neue Umsetzungsmodell werden aber auch Bedenken erhoben. So wird 200 die Vereinfachung der GAP angezweifelt. Die Architektur der GAP wird durch das neue System der Strategiepläne noch komplexer und verursacht möglicherweise einen hohen Bürokratieaufwand für die Mitgliedstaaten, Kommission und für die Landwirte selbst. Bei 522 523 524 525 526 527 528

Art. 106 Abs. 6 und 7 Strategiepläne-VO. Art. 110 Abs. 1 und 3 Strategiepläne-VO. Art. 111 Strategiepläne-VO. Gemäß Art. 94 Abs. 3 Strategiepläne-VO. Art. 113 Abs. 1 Strategiepläne-VO. Art. 113 Abs. 2 Strategiepläne-VO. Art. 114 Strategiepläne-VO.

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

551

7

§ 7 Agrarrecht der Genehmigung der Strategiepläne muss die Kommission auf die Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen achten. Unklar ist beim Umsetzungsmodell außerdem das Verhältnis zwischen Inputs und Outputs sowie zwischen Ergebnissen und Auswirkungen.529

II. Ausblick 201 Bislang hat sich das Agrarrecht der Europäischen Union im Wesentlichen bewährt. Als Ausdruck der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) konnte das Ziel der Versorgung der europäischen Bevölkerung mit guten wie sicheren Nahrungsmitteln bisher in jedem Jahr erreicht werden, wobei das europäische Agrarsystem zugleich in die agrarischen Weltmärkte eingebunden ist. Auch die Ziele der sozialen Sicherung der europäischen Bauern und die Stärkung der ländlichen Regionen stehen weiterhin auf der politisch-rechtlichen Agenda der Europäischen Union und werden auch durch Reformen weiterentwickelt. Das europäische Agrarrecht hat in den letzten Jahrzehnten und insbesondere nach der Erweiterung der EU um die mittel-und osteuropäischen Staaten des Weiteren seinen genuinen Beitrag zur europäischen Integration geleistet. Die Mitgliedstaaten und die europäische Ebene bleiben im föderalen Mehrebenensystem durch das europäische Agrarrecht verbunden. Mit der Reform der GAP 2020 stellt sich auch das Agrarrecht im Binnenverhältnis der EU neu auf, um zukunftsfähig zu sein, auch unter ökologisch nachhaltigen und klimatischen Anforderungen. 202 Mit zunehmender Einbettung in die Globalisierung und in die weltweiten Problemstrukturen im Agrarbereich und seinen verschiedenen Kontexten müssen aber zusätzliche Antworten gefunden werden530 – die Konzentration auf die Binnenentwicklung der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union im Agrarbereich insgesamt wird über die bestehende globale Organisation von Lebensmittelsicherheit hinaus in the long run kaum reichen. Zu konstatieren ist bereits jetzt eine Fülle von Problemen: n Neue (Agrar-)Technologien531 – insbesondere neue Züchtungstechnologie wie CRISPR/Cas532 und die gesamte Bandbreite neuer landwirtschaftlicher Digitaltechnogien,533 n die neue internationale Arbeitsteilung, veränderte Anbau- und Handelsströme, erheblich wachsender Wettbewerbsdruck auf den globalen Agrarmärkten, n Agrargüter als Anlage- und Spekulationsobjekte auf den Finanzmärkten, n „Landgrabbing“, n sich erheblich verändernde Strukturen im Rohstoff- und Energiesektor mit den Anforderungen an eine (von der FAO geforderte) „energy-smart“-Landwirtschaft, n neue Anforderungen im Umwelt- und Klimabereich, n die wachsende Verstädterung, insbesondere durch die Großstädte und Mega-Cities (in den Städten lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung, mit ansteigender Tendenz) und n entsprechenden Unterentwicklungsfolgen in ländlichen Räumen sowie

529 Zur Kritik ua Rechnungshof, Stellungnahme Nr. 7/2018 (gem. Art. 322 Abs. 1 lit. a AEuV) zu den Vorschlägen der Kommission für Verordnungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik für die Zeit nach 2020, ABl. 2019 C 41/1 v. 1.2.2019. 530 Härtel, Vom Klimawandel bis zur Welternährung – zentrale Weltprobleme Rechtsintegration und Zukunftsgesellschaft in ders. (Hrsg.), Nachhaltigkeit, Energiewende, Klimawandel, Welternährung, 2014, § 1, S. 13 ff. 531 Ein wichtiges Problem in diesem Zusammenhang ist das der Patentierbarkeit s. Petrack, Patentierbarkeit im Agrarsektor, 2016. 532 Hierzu EuGH 25.7.2018 – C-528/16, ECLI:EU:2018:583; Schlussanträge – ECLI:EU:C:2018:20; Spranger, NJW 2018, 2929 ff. 533 Härtel, Agrarrecht 4.0 – Digitale Revolution in der Landwirtschaft, in Frenz (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0, 2019.

552

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

C. Aktuelle Entwicklung und Ausblick

7

die demografische Entwicklung der Weltbevölkerung: Jede Sekunde werden drei neue ‚Erdenbürger‘ geboren, bis 2050, so die Prognosen, werden auf der Erde 9,3 Mrd. Menschen leben.534 Das primäre Ziel der Sicherung ausreichender Nahrungsmittel für die Weltbevölkerung – eines der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen – steht dringend zur Lösung an: Rund 800 Mio. Menschen leiden an Hunger, rund 2 Mrd. an Unterernährung (hidden hunger).535 Hier sind die Ausweitung und Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion, die Etablierung einer ländlichen und landwirtschaftlichen Infrastruktur und bessere Verteilungsmechanismen gefordert, aber auch darauf bezogene rechtliche Regelungen. Problemorientierte Lösungsansätze bieten in Zukunft die Digitalisierung der Landwirtschaft als Agrar 4.0 und darauf aufbauend das Agrar-Digitalrecht.536 Big Data-Analysen, Künstliche Intelligenz (KI), Blockchain, Internet der Dinge (IoT) und weitere algorithmisierte Digitaltechnologien können hier ebenso eingesetzt werden wie Smartphone-Apps und Drohnen. Bereits in der Gegenwart werden solche Techniken ua in afrikanischen Ländern wie Sambia, Liberia und Elfenbeinküste eingesetzt. Fortschritte ergeben sich auch durch nachhaltige Anbauweisen in der Perspektive integrierter Bioökonomie537 und durch den neuen Ansatz der Biointelligenz538 als grundlegende Transformation im Sinne einer biointelligenten Gesamtwertschöpfung. Die wachsende Erkenntnis, in der „Einen Welt“ zu leben und als Weltgemeinschaft jen- 203 seits der tradierten Nationalstaaten539 aufeinander angewiesen zu sein, führt zu neuen Verantwortungszuschreibungen, denen das Recht in seinen Ausprägungen als soft law und hard law folgt. Daneben existieren weitere Regelungsstrukturen, so die regulierte Selbstregulierung, freiwillige Selbstbindungen und kooperative Vereinbarungen, beispielsweise im Rahmen von Corporate Social Responsibility (CSR) und Corporate Digital Responsibility (CDR). Das Europäische Agrarrecht steht wegen seiner grundlegenden Beziehung zur europäischen (und weltweiten) Agrarproduktion und der multifunktionalen Landwirtschaft angesichts der Hunger- und Nahrungsmittelsituation, aber auch wegen der Energiefragen, der (möglichen) Konkurrenz von „Tank oder Teller“ im Anbau von n

534 Datenlage auf der Homepage der „Deutschen Stiftung Weltbevölkerung“ (DSW) – das Bevölkerungswachstum wird dabei vor allem in den Entwicklungsländern stattfinden, was die Nahrungsmittelproblematik verschärft. 535 S. Welthungerindex/Welthungerhilfe v. 5.7.2018; Weingärtner/Trentmann, Handbuch Welternährung, hrsg. v. d. Deutschen Welthungerhilfe eV, 2011, S. 15; zur Gesamtproblematik s. Gottwald/Fischler (Hrsg.), Ernährung sichern weltweit. Ökosoziale Gestaltungsperspektiven. Bericht an die Global Marshall Plan Initiative, 2007; Hahlbrock, Kann unsere Erde die Menschheit noch ernähren?. Bevölkerungsexplosion – Umwelt – Gentechnik, 2007; Beiträge in: Krieg um Nahrung? Internationale Politik, 11/ 2008; Hirn, Der Kampf ums Brot. Warum die Lebensmittel immer knapper und teurer werden, 2009; Bommert, Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, 2009; Reichholf, Der Tanz um das Goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas, 3. Aufl. 2011; Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2011. Hunger im Überfluss. Neue Strategien gegen Unterernährung und Armut, 2011; von Braun, Welternährung und Nachhaltigkeit, 2015; Anschütz, Welternährung im 21. Jahrhundert, 2015; Gerten, Wasser: Knappheit, Klimawandel, Welternährung, 2018; Europäische Kommission, Bericht der Kommission zum weltweiten Stand der Produktionsausweitung relevanter Nahrungs- und Futtermittelpflanzen, COM(2019) 142 final. 536 Hierzu Härtel, NuR 2019/Heft 9 2019, 577. 537 Grefe, Global Gardening: Bioökonomie – Neuer Raubbau oder Wirtschaftsform der Zukunft?, 2016, Dachverband Agrarforschung eV (Hrsg.), Bioökonomie, 2016. 538 Fraunhofer Gesellschaft, Biointelligenz – eine neue Perspektive für nachhaltige industrielle Wertschöpfung, 2019. 539 Albrow, Abschied vom Nationalstaat, 1998; Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998; Leibfried/Zürn (Hrsg.), Transformation des Staates?, 2006; Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter, 2002/2009; Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht. Sonderheft, Rechtstheorie, 2008; Rittberger (Hrsg.), Wer regiert die Welt mit welchem Recht? Beiträge zur Global Governance-Forschung, 2008.

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

553

7

§ 7 Agrarrecht Energiepflanzen/Biomasse, der Biodiversitätsproblematik, des Rückgangs fruchtbarer Böden oder der Folgen des Klimawandels vor erneuten großen Problematiken. Nicht nur Wissenschaft, Technik und Politik, sondern auch das Recht und insbesondere das Agrarrecht sind zur Kreativität und Innovation bei der Suche nach neuen problemadäquaten Regelungsstrukturen im globalen Kontext aufgerufen.540 „Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang“.541 Das Europäische Agrarrecht steht vor der Herausforderung der Mitwirkung an der Entwicklung einer regelungsoffenen weltweiten Agrarproduktion542 und der Etablierung einer dritten globalen Kulturordnung des Agrarrechts.

204 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

EuGH

15.5.1975

C-71/74

Slg 1975, I-563

Fruit-en Groentenimporthandel und Frubo/ Kommission

EuGH

5.7.1973

C-1/73

Slg 1973, I-723

Westzucker

EuGH

16.12.1975 C-40–48, 50, 54–56, 111, 113, 114/73

Slg 1975, I-1663

Suiker Unie ua/ Kommission

EuGH

1.2.1978

Slg 1978, I-169

Lührs/Hauptzollamt HamburgJonas

EuGH

17.12.1981 C-197-200, 243, Slg 1981, 245/80 I-3211

Ludwigshafener Walzmühle

EuGH

13.10.1982 C-213–215/81

Slg 1982, I-3583

Norddeutsches Vieh- und Fleischkontor ua/ Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung

EuGH

29.2.1984

C-77/83

Slg 1984, I-1257

CILFIT

EuGH

26.3.1987

C-45/86

Slg 1987, 1493

EuGH

23.2.1988

C-68/86

Slg 1988, I-855

C-78/77

Fundstellen

NJW 1976, 470

NJW 1982, 2722

NJW 1987, 3073 Hormone

NJW 1989, 1425

540 Voigt, Weltrecht – entsteht eine „dritte Rechtsordnung“?, in Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht. Sonderheft, Rechtstheorie, 2008, S. 357 ff.; Emmerich-Fritsche, Der Paradigmenwechsel vom Völkerrecht zum Weltrecht – ein Beitrag zur Erweiterung des föderalen Mehrebenensystems in Härtel, Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, 2012, Bd. 4, § 105. 541 Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Energie und Politik im Anthropozän. Mit Texten von Crutzen, Davis, Mastrandrea, Schneider, Sloterdijk, 2011. 542 Zu den einzelnen Problematiken des Agrarbereichs in der Globalisierung s. Weltentwicklungsbericht 2008: Agrarwirtschaft für Entwicklung (The International Bank for Reconstruction and Development/The World Bank), 2008; Kommer, Menschenrechte wider den Hunger, 2016; McKeon (Hrsg.), Food Security Governance, 2015; Härtel, Handbook of Agri-Food Law in China, Germany, European Union: Food Security, Food Safety, Sustainable Use of Resources in Agriculture, 2018.

554

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

23.2.1988

C-131/86

Slg 1988, I-905

Legehennen

EuR 1988, 294

EuGH

21.9.1988

C-267/86

Slg 1988, I-4769

Van Eycke/Aktiengesellschaft ASPA

EuGH

11.7.1989

C-265/87

Slg 1989, I-2237

Schräder/Hauptzollamt Gronau

EuGH

16.11.1989 C-131/87

Slg 1989, I-3743

EuGH

21.2.1990

Rs. 267-285/88

Slg 1990, I-435

EuGH

17.3.1993

C-155/91

Slg 1993, I-939

NJW 1993, 3188

EuGH

5.10.1994

C-280/93

Slg 1994, I-4973

NVwZ 1995, 575

EuGH

15.11.1994 Gutachten 1/94

Slg 1994, I-5267

TRIPS-Kompetenz

EuZW 1995, 210

EuGH

14.2.1995

C-350/88

Slg 1990, I-395

Delacre/Kommission

ZfRV 1991, 34

EuGH

12.12.1995 C-399/93

Slg 1995, I-4515

Oude Luttikhuis ua/Verenigde Coöperatieve Melkindustrie Coberco

EuZW 1996, 282

EuGH

26.3.1996

C-271/94

Slg 1996, I-1689

EuZW 1996, 416

EuGH

25.2.1999

C-164, 165/97

Slg 1999, I-1139

NuR 2000, 148 = ZUR 1999, 223

EuGH

30.3.2000

C-266/97 P

Slg 2000, I-2135

VBA/VGB ua

EuGH

12.7.2001

C-189/01

Slg 2001, I-5689

Jippes ua/Minister NJW 2002, 51 = van Landbouw, NVwZ 2001, 1145 Naturbeheer en Visserij

EuGH

9.10.2001

C-377/98

Slg 2001, I-7079

EuGH

14.3.2002

C-161/00

Slg 2002, I-2753

Kommission/ Deutschland

EuGH

19.9.2002

C-336/00

Slg 2002, I-7699

Huber

EWS 2003, 83

EuGH

10.12.2002 C-491/01

Slg 2002, I-11453

British American Tabacco

DVBl. 2003, 414

EuGH

9.9.2003

Slg 2003, I-7975

The Queen/The Competition Commission ua

LRE 47, 1

C-137/00

HFR 1990, 218 NJW 1990, 2925

Wuidart ua

NJW 2002, 2455

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

555

7

7

§ 7 Agrarrecht Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

EuGH

2.10.2003

C-322/00

Slg 2003, I-11267

Kommission/ Niederlande

EuGH

30.6.2005

C-295/03 P

Slg 2005, I-5673

Alessandrini/ Kommission

EuGH

26.1.2006

C-533/03

Slg 2006, I-1025

EuGH

7.9.2006

C-310/04

Slg 2006, I-7285

Ministero dell’Economia e delle Finanze, Agenzia delle Entrate/FCE Bank plc

EuGH

2.7.2009

C-343/07

Slg 2009, I-5491

Bavaria

EuGH

16.7.2009

C-428/07

Slg 2009, I-6355

Horvath

EuGH

14.10.2010 C-61/09

Slg 2010, I-9763

Niedermair-Schie- NuR 2011, 35 mann

EuGH

9.11.2010

C-92, 93/09

Slg 2010, I-11063

Schecke und Eifert

EuZW 2010, 939 = NuR 2010, 862

EuGH

14.3.2013

C-545/11

ECLI:EU:C:2 013:169

Agrargenossenschaft Neuzelle

EuZW 2013, 228 = GRUR 2013, 182

EuGH

30.6.2016

C-134/15

ECLI:EU:C:2 016:498

Lidl

EuGH

26.2.2018

C-497/17

ECLI:EU:C:2 019:137

Oeuvre d’assistance aux bêtes d’abattoirs

EuGH

29.5.2018

C-426/16

ECLI:EU:C:2 018:335

Islamisches Opferfest

EuGH

21.6.2018

C-543/16

ECLI:EU:C:2 018:481

Kommission/ Deutschland

EuG

14.5.1997

T-70, 71/92

Slg 1997, II-693

Florimex und VGB/Kommission

BVerfG

14.10.2008 1 BvF 4/05

BVerfGE 122, 1

Gewährung von NVwZ-RR 2009, Agrarmarktbeihil- 655; DÖV 2009, 253 fen

VG Frankfurt (Oder)

28.9.2011

556

6 K 255/10

Fundstellen

HFR 2006, 415 = UR 2006, 654

Vorlagebeschluss Modulation

Härtel https://doi.org/10.5771/9783748900238-463 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

EuZW 2010, 40 = LMuR 2009, 204

NVwZ 2018, 1283

§ 8 Lebensmittelrecht Jörg Gundel A. Zielsetzung und Gegenstand des europäischen Lebensmittelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Lebensmittelsektor im EU-Recht . . II. Abgrenzungen zu verwandten Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Lebensmittelrecht als Gegenstand des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundfreiheiten und der Binnenmarkt für Lebensmittel . . . . . 2. Rechtfertigungsmöglichkeiten für nationale Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesundheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . b) Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . c) Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Primärrecht und Sekundärrecht . . . II. Rechtssetzung und Vollzug im europäischen Lebensmittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsgrundlagen der EULebensmittelgesetzgebung . . . . . . . . . 2. Die Phasen der Harmonisierung . . . a) Die produktbezogen-sektorale Harmonisierung der ersten Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „Neue Strategie“ und ihre Umsetzung im Lebensmittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Zäsur durch die BSE-Krise und die folgende Neuordnung 3. Die primärrechtlichen Vorgaben für den EU-Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . 4. Rechtssetzungsinstrumente und Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Form der LebensmittelGesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Durchführungsrechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einzelfallentscheidungen . . . . . . . d) Nicht verbindliche Rechtsakte 5. EU-Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die EU-Kommission, ihre Dienststellen und Ausschüsse . . b) Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) III. Die einzelnen Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lebensmittelbezeichnung, -etikettierung und -werbung . . . . . . . . . . . . . . a) Die Harmonisierung der Etikettierungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Regulierung der Lebensmittelwerbung, insbes. durch die Health-Claims-VO . . . . . . . . . c) Die primärrechtlichen Prüfungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . .

1 1 3 5 5 5 14 14 17 20 21 24 24 30 30 31 32 35 39 39 41 44 45 46 46 48 53 54

2. Lebensmittelsicherheit . . . . . . . . . . . . . a) Die allgemeinen Vorgaben der BasisVO und konkretisierendes Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das EU-Zulassungsverfahren als neues Instrument . . . . . . . . . . . . aa) Novel Food . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gentechnisch veränderte Lebensmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Lebensmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Lebensmittelzusatzstoffe und Lebensmittelbedarfsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Wirkung der Zulassung: Nationale Schutzklauseln . . . . . c) Lebensmittelhygienerecht . . . . . . aa) Die Neuordnung durch das Lebensmittelhygienepaket . . . . . bb) Die Selbstkontroll-Verantwortung der Unternehmen . . . . . . . . cc) Konkretisierungsspielräume zwischen Lebensmittelunternehmen und Kontrollbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Lebensmittel-Überwachung . . . a) Verantwortung von Lebensmittelunternehmen und nationalen Überwachungsbehörden . . . . . . . b) Die Koordination durch das EU-Schnellwarnsystem . . . . . . . . . c) Eigene Maßnahmen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Kontrolle der nationalen Kontrolleure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Lebensmittel-Außenhandel der EU und seine völkerrechtlichen Rahmenvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das autonome EU-Recht . . . . . . . . . . . a) Die grundsätzliche Geltung der EU-Lebensmittelstandards . . . . . b) Die Sonderregelungen für die Kontrollen bei der Einfuhr und Kontrollen in Drittstaaten . . . . . . 2. Das WTO-Recht als Rahmen des internationalen Lebensmittelhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationale Standardisierungsforen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

60 60 62 63 65 69 72 74 75 75 78

82 84 84 88 91 93 95 95 95 96 100 104 106 108

54 57 58

Gundel https://doi.org/10.5771/9783748900238-557 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

557

8

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§ 8 Lebensmittelrecht Verordnung (EG) Nr. 258/97 des EP und des Rates v. 27.1.1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten, ABl. EG 1997 L 268/1. Verordnung (EU) 2015/2283 des EP und des Rates v. 25.11.2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der VO (EU) Nr. 1169/2011 des EP und des Rates und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 258/97 des EP und des Rates, ABl. EU 2015 L 327/1. Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des EP und des Rates v. 25.10.2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (...), ABl. EU 2011 L 304/18. Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des EP und des Rates v. 20.12.2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel, ABl. EU 2006 L 404/9, berichtigt ABl. EU 2007 L 12/3. Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des EP und des Rates v. 22.9.2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. EU 2003 L 268/1. Richtlinie 2002/46/EG des EP und des Rates v. 10.6.2002 „zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel“, ABl. EG 2002 L 183/51. Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 des EP und des Rates v. 20.12.2006 über den Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen sowie bestimmten anderen Stoffen zu Lebensmitteln, ABl. EU 2006 L 404/26. Verordnung (EG) Nr. 1332/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über Lebensmittelenzyme (...), ABl. EU 2008 L 354/7. Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über Lebensmittelzusatzstoffe, ABl. EU 2008 L 354/16. Verordnung (EG) Nr. 1334/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften zur Verwendung in und auf Lebensmitteln (...), ABl. EU 2008 L 354/34. Verordnung (EG) Nr. 1331/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über ein einheitliches Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe, -enzyme und -aromen, ABl. EU 2008 L 354/1. Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 über Lebensmittelhygiene, ABl. EU 2004 L 139/1, berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 226/3. Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs, ABl. EU 2004 L 139/55, berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 226/22. Verordnung (EG) Nr. 854/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 mit besonderen Verfahrensvorschriften für die amtliche Überwachung von zum menschlichen Verzehr bestimmten Erzeugnissen tierischen Ursprungs, ABl. EU 2004 L 139/206, berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 226/83. Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz, ABl. EU 2004 L 165/1; berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 191/1. Verordnung (EU) 2017/625 des EP und des Rates v. 15.3.2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel (…) (Verordnung über amtliche Kontrollen), ABl. EU 2017 L 95/1.

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§ 8 Lebensmittelrecht

A. Zielsetzung und Gegenstand des europäischen Lebensmittelrechts I. Der Lebensmittelsektor im EU-Recht 1 Das Lebensmittelrecht gehört zu den klassischen Referenzgebieten des Europarechts, das schon früh durch Sekundärrecht und Rechtsprechung intensiv ausgestaltet wurde;1 Im Vordergrund stand dabei zunächst die Etablierung des Binnenmarkts für Lebensmittel, dessen Entstehung durch die divergierenden nationalen Regelungen behindert wurde. Eine neue Wendung hat das Gebiet dann durch die Lebensmittelkrisen der 1990er-Jahre – allen voran die BSE-Krise (dazu insbes. → Rn. 32) – genommen, die zu einer umfassenden und bis heute nicht abgeschlossenen Neuordnung des Sektors geführt haben; schließlich fordert heute die rasche Entwicklung der Lebensmitteltechnologie den EU-Gesetzgeber zu neuen Regelungen heraus (dazu insbes. → Rn. 62 ff.). Die zentralen Ziele des europäischen Lebensmittelrechts sind damit schon schlaglichtartig erfasst: Verfolgt wird auf der einen Seite die Zielsetzung eines europäischen Binnenmarktes für Lebensmittel, in dem die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten Lebensmittel grundsätzlich auch in den anderen Mitgliedstaaten verkehrsfähig sein sollen; auf der anderen Seite soll das EU-Recht die Ziele von Gesundheits- und Verbraucherschutz auch unter den Bedingungen dieses Binnenmarktes sichern. Deutlich wird dieses Spannungsfeld in Art. 114 Abs. 3 AEUV dokumentiert, der – nicht nur, aber auch im Lebensmittelsektor – bei der Binnenmarkt-Harmonisierung ein hohes Schutzniveau „in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz“ vorgibt; auf sekundärrechtlicher Ebene definiert Art. 5 der LebensmittelbasisVO, der im Jahr 2002 erlassenen EU-Rahmenverordnung für das europäische Lebensmittelrecht (näher zu Entstehung und Inhalt → Rn. 32),2 die Ziele ebenfalls in dieser Gegenüberstellung3. 2 Der Regelungsgegenstand des europäischen Lebensmittelrechts sind „Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden“ – so die Legaldefinition in Art. 2 BasisVO4. Diese Rahmenverordnung schließt aus der Definition (und damit aus ihrem Anwendungsbe-

1 S. dazu Streinz in FS Welsch, 2010, S. 55, 58 f. mit der Feststellung, dass der bekannte Schätzwert von 80 % EU-geprägter Gesetzgebung, dessen Korrektheit in jüngerer Zeit in der Literatur diskutiert wurde (s. einerseits Töller ZParl 2008, 3 ff.; andererseits Hoppe EuZW 2009, 168 f.), jedenfalls im Lebensmittelsektor zutreffe; s. auch Schmidt am Busch, S. 118 („einer der regelungsintensivsten Bereiche des europäischen Gemeinschaftsrechts“); von einer sogar zu 98 % harmonisierten Gesetzgebung spricht das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen „A fitness check of the food chain – State of play and next steps“, SWD (2013) 516 final v. 5.12.2013, 3. 2 VO (EG) Nr. 178/2002 des EP und des Rates v. 28.1.2002 „zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit“, ABl. EG 2002 L 31/1; im Anschluss an ihren Erlass wurde auch das deutsche Lebensmittelrecht neu gefasst, s. das Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen. kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (Lebens- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB) v. 1.9.2005, BGBl. I 2618, nun geltend in der Fassung der Neubekanntmachung v. 22.8.2011, BGBl. I 1770. 3 Art. 5 Abs. 1 BasisVO für die zu schützenden Allgemeininteressen, Abs. 2 für die Herstellung des Binnenmarktes; kritisch dazu van der Meulen EFFL 2010, 83 ff., der eine eigenständige Würdigung der Interessen der Lebensmittelunternehmen vermisst; sie werden allerdings bereits durch die Binnenmarkt-Grundfreiheiten erfasst und zudem durch den EU-grundrechtlichen Schutz der wirtschaftlichen Betätigung abgedeckt. 4 Im weitesten Sinn gehören dazu auch Gegenstände, die mit Lebensmitteln verwechselt werden können und deren Vertrieb aus diesem Grund unzulässig ist, s. dazu die RL 87/357/EWG des Rates v. 25.6.1987 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Gesundheit oder die Sicherheit der Verbraucher gefährden, ABl. EG 1987 L 192/49; in Deutschland umgesetzt in § 5 Abs. 2 Nr. 2 LFGB; dazu Pitzer, LMuR 2015, 41 ff.; VG Freiburg 30.11.2015 – 2 K 2759/15, LMuR 2016, 80 m. Bespr. Plaßmann, S. 47 ff.

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A. Zielsetzung und Gegenstand des europäischen Lebensmittelrechts

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reich) allerdings eine Reihe von Bereichen aus, die im weiteren Umgriff dennoch diesem Sektor angehören, sekundärrechtlich aber besonderen Regelungen unterworfen wurden: Das gilt zB für die Regelungen zu Futtermitteln,5 die seit der BSE-Krise verstärkter Aufmerksamkeit unterliegen,6 dasselbe gilt für Lebensmittelbedarfsgegenstände – also Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen7 (s. auch noch → Rn. 73), deren Inhaltsstoffe in die Lebensmittelkette eingehen können. Beide Bereiche müssen mit erfasst werden, wenn das europäische Lebensmittelrecht die seit der BSE-Krise im Vordergrund stehende Zielsetzung der Lebensmittelsicherheit erreichen soll. Dem Lebensmittelrecht im weiteren Sinne ist auch die Regulierung der Genussmittel zuzuordnen, was v.a. für die Bestimmungen zur Eindämmung des Tabakkonsums relevant ist (zu den Kompetenzfragen → Rn. 24 f., 57, zur Grundrechtsproblematik → Rn. 57).8

II. Abgrenzungen zu verwandten Bereichen Bei der Abgrenzung zu verwandten Regelungsbereichen kommt eine zentrale Rolle der 3 Grenzziehung zum Arzneimittelrecht zu: Für diesen Sektor gelten zwar die gleichen Bestimmungen des Primärrechts und weitestgehend auch dieselben Rechtsgrundlagen für den Erlass von Sekundärrecht (zu den Rechtsgrundlagen → Rn. 24 ff.); aufgrund des unterschiedlichen Gefahrenpotenzials beider Produktgruppen unterscheiden sich die Regelungen jedoch in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung erheblich. So gilt im Arzneimittelrecht das Verbotsprinzip, nach dem Arzneimittel grundsätzlich der Zulassung unterliegen (Janda → § 9 Rn. 35 ff.),9 während im Lebensmittelrecht als Ausgangspunkt weiterhin der Grundsatz der Zulassungsfreiheit gilt; ähnlich gelten für den Arzneimittelsektor strikte Werberegulierungen bis hin zum grundsätzlichen Werbeverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel,10 während die Lebensmittelwerbung grundsätzlich den allgemein geltenden Werberegeln unterliegt. Die Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln und die Zuordnung einzelner Produkte sind daher ein zentrales Dauerthema der Fachdiskussion (Janda →§ 9 Rn. 25 ff.),11 auch wenn sich die grundsätzlichen Unterschiede zwischenzeitlich dadurch abgeschwächt haben, dass das Sekundärrecht bei „arzneimittelnahen“ Lebensmitteln wie den Nahrungsergänzungsmitteln ähnliche Zulassungsmechanismen vorsieht (→ Rn. 69 ff.) und auch die gesundheitsbezogene Lebensmittelwerbung nunmehr strikt reguliert ist (zur VO (EG) Nr. 1924/2006 (Health-Claims-VO) → Rn. 57). 5 S. ua die VO (EG) Nr. 1831/2003 des EP und des Rates v. 22.9.2003 über Zusatzstoffe zur Verwendung in der Tierernährung, ABl. EU 2003 L 268/29 (dazu Klemm StoffR 2004 (202 ff.); eine umfassende Neuregelung ist durch die VO (EG) Nr. 767/2009 des EP und des Rates v. 13.7.2009 über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Futtermitteln (...), ABl. EU 2009 L 229/1, erfolgt; dazu ScholtenVerheijen/Tychon EFFL 2010, 156 ff.; Trunk EFFL 2009, 130 ff. 6 S. zu diesem „from farm to fork“-Ansatz („vom Feld bis auf den Tisch“) wohl erstmals das Grünbuch „Allgemeine Grundsätze des Lebensmittelrechts in der Europäischen Union”, KOM(97) 176 endg. v. 3.4.1997, VI; dazu Streinz ZLR 1998, 145 (166 ff.). 7 S. die VO (EG) Nr. 1935/2004 des EP und des Rates v. 27.10.2004 über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, und zur Aufhebung der Richtlinien 80/590/EG und 89/109/EG, ABl. EU 2004 L 338/4. 8 Zum Ganzen auch Pauling, Probleme produktbezogener Gesundheitspolitik, 2008. 9 S. auch die Beiträge in Marauhn/Ruppel (Hrsg.), Vom Arzneimittel zum Lebensmittel? Zur Abgrenzung von Arznei- und Lebensmitteln im europäischen und deutschen Recht, 2009; zuletzt zur umstrittenen Einordnung von E-Zigaretten zB Diekmann ZLR 2012, 197 ff. 10 S. Art. 88 RL 2001/83/EG des EP und des Rates v. 6.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, ABl. EG 2001 L 311/67; zur Reichweite s. zB EuGH 5.5.2011 – C-316/09, Slg 2011, I-3249 – Sharp u. Dohme. 11 Zum Parallelproblem der Abgrenzung zwischen Futtermitteln und Tierarzneimitteln s. zuletzt die Empfehlung 2011/25/EU der Kommission v. 14.1.2011 zur Festlegung von Leitlinien für die Unterscheidung zwischen Einzelfuttermitteln, Futtermittelzusatzstoffen, Biozid-Produkten und Tierarzneimitteln, ABl. EU 2011 L 11/75.

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§ 8 Lebensmittelrecht

Auch unabhängig von dieser Abgrenzungsfrage gibt es vielfältige Überschneidungen zwischen beiden Bereichen, etwa in der Frage der Höchstmengen von Tierarzneimittel-Rückständen in Lebensmitteln.12 4 Die Übergänge zum Agrarrecht (Härtel → § 7) sind wiederum fließend, weil sich in diesem Sektor vielfach Bestimmungen zur Verbesserung der Produktions- und Produktqualität finden, die indirekt auch dem Lebensmittel-Verbraucher zugutekommen.13 Auch die Regelungen für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln14 stehen an der Grenzlinie zwischen Agrar- und Lebensmittelrecht; zugleich ist hier ebenso wie bei den Regelungen zu gentechnisch veränderten Organismen (GVOs) (dazu → Rn. 65 ff.) eine Schnittstelle zum Umweltrecht gegeben. Das Verhältnis zum EU-Chemikalienrecht, das heute in der REACH-Verordnung15 zusammengefasst ist, wird in dieser Verordnung differenziert geregelt.16

B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts I. Das Lebensmittelrecht als Gegenstand des Primärrechts 1. Die Grundfreiheiten und der Binnenmarkt für Lebensmittel 5 Den Ausgangspunkt der Entwicklung des EU-Lebensmittelrechts bilden die Grundfreiheiten und insbesondere die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34–36 AEUV) als ihr Flaggschiff: Zahlreiche Leitentscheidungen der EuGH-Rechtsprechung zum freien Warenverkehr sind aus lebensmittelrechtlichen Sachverhalten hervorgegangen. Tatsächlich ist das Lebensmittelrecht seit den 1970er Jahren der zentrale Schauplatz für die Entwicklung der Dogmatik dieser Grundfreiheit gewesen: Die grundlegende Dassonville-Entscheidung17 zur Bestimmung ihrer Reichweite als Beschränkungsverbot entstammt ebenso diesem Sektor wie die fünf Jahre später ergangene, ebenso weichenstellende Komplementär-Entscheidung im Fall „Cassis de Dijon“,18 mit der die Möglichkeit der Rechtfertigung nicht diskriminierender Regelungen durch zusätzliche, in Art. 36 AEUV nicht aufgeführte Motive wie den Verbraucherschutz eröffnet wurde. 6 Von der Freiheit des Warenverkehrs erfasst werden alle Lebensmittel, die in anderen Mitgliedstaaten „rechtmäßig hergestellt und/oder in den Verkehr gebracht“19 worden sind;

12 S. dazu die VO (EG) Nr. 470/2009 des EP und des Rates v. 6.5.2009 über die Schaffung eines Gemeinschaftsverfahrens für die Festsetzung von Höchstmengen für Rückstände pharmakologisch wirksamer Stoffe in Lebensmitteln tierischen Ursprungs (...), ABl. EU 2009 L 152/11. 13 Von der Zugehörigkeit zum Lebensmittelrecht nur „im weiteren Sinn“ sprechen insoweit Dauses/ Ludwigs/Hagenmeyer/Teufer HdBEUWiR C IV. Rn. 5 f.; zur gewachsenen Bedeutung der Qualitätsorientierung im Rahmen der Agrarpolitik s. Gencarelli RDUE 2009, 633 ff. 14 RL 91/414/EG des Rates v. 15.7.1991 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, ABl. EG 1991 L 230/1; nun abgelöst durch die VO (EG) Nr. 1107/2009 des EP und des Rates v. 21.10.2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, ABl. EU 2009 L 309/1; dazu zB Kireeva/Black EFFL 2011, 174 ff. 15 VO (EG) Nr. 1907/2006 des EP und des Rates v. 18.12.2006 „zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur (...)“, ABl. EU 2006 L 396/1. 16 S. dazu Voß StoffR 2010, 25 ff.: Registrierung und Zulassung als Kernelemente der REACH-VO gelten für Lebensmittel und Vorprodukte nicht, andere Bestimmungen sind dagegen auch insoweit anwendbar. 17 EuGH 11.7.1974 – Rs. 8/74, Slg 1974, 837 – Dassonville. 18 EuGH 20.2.1979 – Rs. 120/78, Slg 1979, 649 – Rewe – „Cassis de Dijon“. 19 So zB EuGH 28.1.2010 – C-333/08, Slg 2010, I-757, Rn. 77 – Kommission/Frankreich = ZLR 2010, 429 mAnm Streinz; EuGH 5.2.2004 – C-24/00, Slg 2004, I-1277, Rn. 60 (Hervorhebung nicht im Original) – Kommission/Frankreich.

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B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts

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die damit eröffnete Alternative wird häufig übersehen (→ Rn. 12),20 was auch damit zu erklären ist, dass der EuGH (in Fällen, in denen es auf die exakte Formulierung nicht ankam) diese Voraussetzungen kumulativ genannt hat.21 Die alternative Geltung der Kriterien bedeutet nicht nur, dass auch in Drittstaaten hergestellte und in einem anderen Mitgliedstaat in Verkehr gebrachte Lebensmittel den Binnenmarkt-Garantien unterfallen22 – das würde sich schon aus Art. 28 Abs. 2 AEUV ergeben –, sondern auch, dass die in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten Lebensmittel in diesem Ursprungsmitgliedstaat nicht im Verkehr gewesen und dort auch nicht verkehrsfähig sein müssen: Dass bereits die rechtmäßige Herstellung in einem Mitgliedstaat den Zugang zum Binnenmarkt eröffnet, kann dann relevant werden, wenn das Recht des Ursprungsstaats geringere Anforderungen an Lebensmittel stellt, die für den Export bestimmt sind; diese Konstellation wird zwar eher selten sein, ist aber durchaus nicht nur eine theoretische Konstruktion.23 Der Kreis der nationalen lebensmittelrechtlichen Maßnahmen oder Regelungen, die auf- 7 grund der Weichenstellung zur Reichweite der Warenverkehrsfreiheit am Maßstab des Art. 34 AEUV zu messen sind, ist denkbar weit gezogen: Er reicht von Normvorgaben für den Inhalt24 und die Verpackung von Lebensmitteln (zu nationalen Flaschen- und Dosenpfandregelungen s. → Rn. 20)25 über Bezeichnungs-26 und Etikettierungsvorschriften27 (→ Rn. 17; zur Harmonisierung der Vorgaben s. mwN → Rn. 54 ff.) und die Vergabe staatlicher Gütezeichen28 (zur Problematik der Herkunftskennzeichnungen s. → Rn. 19 u. 59) bis hin zu staatlichen Kampagnen zugunsten „einheimischer“ Lebensmittel29 oder zur Unterlassung staatlichen Einschreitens gegen private Blockademaßnahmen gegenüber Le-

20 S. dazu zB den Hinweis bei Streinz in Everling/Roth (Hrsg.), Mindestharmonisierung im Binnenmarkt, 1997, S. 9, 11; konsequent stellt auch § 54 LFGB auf die Herstellung oder das Inverkehrbringen in einem anderen Mitgliedstaat ab. 21 S. statt vieler EuGH 2.12.2004 – C-41/02, Slg 2004, I-11375, Rn. 41 – Kommission/Niederlande: „rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht ...“; EuGH 5.4.2001 – C-123/00, Slg 2001, I-2795, Rn. 18 – Bellamy; EuGH 16.11.2000 – C-217/99, Slg 2000, I-10251, Rn. 16 – Kommission/ Belgien = ZLR 2001, 540 mAnm Lorz. 22 Auf diese Fallgruppe abstellend González Vaqué JTDE 1999, 230 (231). 23 Für einen solchen Fall s. EuGH 20.4.1983 – Rs. 59/82, Slg 1983, 1217 (Mindestalkoholgehalt von Wermutwein) – Schutzverband/Weinvertriebs GmbH; auch das italienische Verbot von Teigwaren aus Weichweizen (dazu sogleich Fn. 32) galt nicht für Exportware, s. EuGH 14.7.1988 – Rs. 407/85, Slg 1988, 4233, Rn. 3 – Drei Glocken. 24 Zum Verbot von Teigwaren aus Weichweizen: EuGH 14.7.1988 – Rs. 407/85, Slg 1988, 4233 – Drei Glocken = ZLR 1988, 615 mAnm Gündisch; Mindestfettgehalt von Käse: EuGH 11.10.1990 – C-196/89, Slg 1990, I-3647 – Nespoli u. Crippa; Höchstsalzgehalt von Brot: EuGH 14.7.1994 – C-17/93, Slg 1994, I-3537 – Van der Veldt; EuGH 13.3.1997 – C-358/95, Slg 1997, I-1431 – Morellato; nochmals EuGH 5.4.2001 – C-123/00, Slg 2001, I-2795 – Bellamy = ZLR 2001, 551 mAnm Dittmann; Verbot koffeinhaltiger Energiegetränke: EuGH 19.6.2003 – C-420/01, Slg 2003, I-6445 – Kommission/Italien. 25 S. zur Vorgabe würfelförmiger Verpackung für Margarine (anstelle der in Deutschland üblichen Rundform) in Belgien EuGH 10.12.1982 – Rs. 261/81, Slg 1982, 3961 – Walter Rau = EuR 1983, 168 mAnm Rabe. 26 S. Fn. 65. 27 S. hier nur EuGH 3.6.1999 – C-33/97, Slg 1999, I-3175 – Colim; EuGH 16.11.2000 – C-217/99, Slg 2000, I-10251 – Kommission/Belgien = ZLR 2001, 540 mAnm Lorz. 28 EuGH 5.11.2002 – C-325/00, Slg 2002, I-9977 – Kommission/Deutschland – „CMA-Gütezeichen“ = EuZW 2003, 23 mAnm Leible = ZLR 2002, 708 mAnm Ohler. 29 Dazu allgemein EuGH 24.11.1982 – Rs. 249/81, Slg 1982, 4005 – Kommission/Irland – „buy Irish“ = EuR 1983, 337 mAnm Rabe; speziell im Lebensmittelsektor ist über solche Aktivitäten vor allem aus Italien berichtet worden, s. zB FAZ Nr. 280 v. 29.11.2008, 8; FAZ Nr. 47 v. 25.2.2009, 12 mit der Überschrift „Italiens Protektionismus fängt in der Küche an“.

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bensmittelimporten:30 All diese Handlungen oder Unterlassungen sind als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Freiheit des Lebensmittel-Binnenmarktes zu qualifizieren. Vor allem in den 1980er-Jahren ist es hier zu Leitentscheidungen über nationale Inhaltsvorgaben von hohem politischen Mobilisierungspotential gekommen – wie etwa zum deutschen Reinheitsgebot für Bier31 oder seinem italienischen Gegenstück für Teigwaren, das allein die Verwendung von Hartweizengrieß erlaubte.32 8 Eine eigene Fallgruppe bilden im Anschluss an die Keck-Rechtsprechung zu den sog Verkaufsmodalitäten33 v.a. die nationalen Werberegulierungen für Lebensmittel, soweit die Werbung nicht auf dem Produkt oder seiner Verpackung selbst angebracht ist:34 Nur wenn eine solche physische Verbindung mit dem beworbenen Produkt besteht, gilt weiter der Prüfungsmaßstab der Dassonville-Formel, andernfalls wirkt die Freiheit des Warenverkehrs in Bezug auf solche Maßnahmen „nur noch“ als weit verstandenes Diskriminierungsverbot, das die rechtliche oder tatsächliche Schlechterstellung ausländischer Waren weiterhin erfasst, diskriminierungsfrei wirkende „reine“ Beschränkungen des Absatzes aber nicht mehr einbezieht. Auch diese Rechtsprechungslinie hat im Lebensmittelsektor markante Anwendungsfälle gefunden, die teils auch die mit den unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben verbundenen Abgrenzungsprobleme verdeutlicht haben.35 9 Allerdings ist die Bedeutung der Zuordnung zu einer der Fallgruppen in jüngerer Zeit gesunken, nachdem in der Rechtsprechung eine Tendenz zur Absenkung der Anforderungen an die Annahme einer faktischen Diskriminierung festzustellen ist, die ebenfalls zuerst durch eine Entscheidung aus dem Lebensmittelsektor – die TK Heimdienst-Entscheidung aus dem Jahr 200036 – erkennbar wurde: So waren Regelungen mit Vorgaben für Verkaufsstellen für bestimmte Produkte, die ebenfalls die physischen Eigenschaften des Pro30 Solche gewalttätigen Blockadeaktionen der einheimischen Wettbewerber hatten sich in Frankreich zur staatlich geduldeten unguten Tradition entwickelt; betroffen waren zunächst Agrarimporte aus Italien, nach dem Beitritt auch aus Spanien; die Verurteilung der staatlichen Untätigkeit in diesen auch als „Erdbeerkrieg“ bekannt gewordenen Auseinandersetzungen erfolgte schließlich durch EuGH 9.12.1997 – C-265/95, Slg 1997, I-6959 – Kommission/Frankreich = EuZW 1998, 84 mAnm Meier = EuR 1998, 47 mAnm Schwarze; dazu auch Muylle 23 ELRev. (1998), 467 ff.; Jarvis 35 CMLRev. (1998), 1371 ff.; Szczekalla DVBl. 1998, 219 ff.; Dubouis RFDA 1998, 120 ff.; Meurer EWS 1998, 196 ff.; Kühling NJW 1999, 403 f.; Leidenmühler wbl. 2000, 245 ff. 31 Dazu EuGH 12.3.1987 – Rs. 178/84, Slg 1987, 1227 = NJW 1987, 1133 mAnm Moench, S. 1109 – Kommission/Deutschland = JZ 1987, 981 mAnm Hohmann S. 959 ff. = ZLR 1987, 326 mAnm Zipfel, S. 337 ff. u. Anm. Gündisch, S. 347 ff.; dazu auch Dauses ZLR 1987, 243 ff.; Rabe EuR 1987, 253 ff.; Schweitzer/Streinz JA 1987, 358 ff.; dies. RIW 1984, 39 ff.; Mögele RIW 1983, 676 ff.; Mutke RIW 1984, 206 f.; im Rückblick Horst ZLR 2016, 165 ff.; parallel dazu für das griechische Reinheitsgebot EuGH 12.3.1987 – Rs. 176/84, Slg 1987, 1193 – Kommission/Griechenland. 32 Zu diesem Verbot von Teigwaren aus Weichweizen: EuGH 14.7.1988 – Rs. 407/85, Slg 1988, 4233 – Drei Glocken = ZLR 1988, 615 mAnm Gündisch; EuGH 14.7.1988 – Rs. 90/86, Slg 1988, 4285 – Zoni. 33 EuGH 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91, Slg 1993, I-6097 – Keck und Mithouard; zu einer Bilanz nach einem Jahrzehnt Keck-Rechtsprechung s. Connor 54 ICLQ (2005), 127 ff. 34 EuGH 6.7.1995 – C-470/93, Slg 1995, I-1923 – Mars = ZLR 1995, 416 mAnm v. Jagow; dazu Streinz/ Leible ZIP 1995, 1236 ff. 35 S. insbes. neben der recht eindeutig gelagerten Mars-Entscheidung (Fn. 34) noch EuGH 14.9.2006 – verb. Rs. C-158/04 u. C-159/04, Slg 2007, I-8135 – Alfa Vita Vassilopoulos ua = JA 2007, 479 mAnm Gundel (für die Anwendung der Dassonville-Formel auf Vorgaben für die Produktionsstätte); zu diesem Fall auch Kingreen EWS 2006, 488 ff.; Tryfonidou 34 LIEI (2007), 167 ff.; für die Annahme einer Verkaufsmodalität in einem ähnlichen Fall zuvor dagegen EuGH 18.9.2003 – C-416/00, Slg 2003, I-9343 – Morellato (dazu A. Rigaux Europe 11/2003, 7 ff.); zu einem weiteren Grenzfall EuGH 24.11.2005 – C-366/04, Slg 2005, I-10139, Rn. 29 f. – Georg Schwarz (Verbot des Automatenverkaufs unverpackter Kaugummis, das hier als produktbezogene Regelung eingestuft wurde). 36 EuGH 13.1.2000 – C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn. 33 – TK Heimdienst = EuZW 2000, 309 mAnm Gundel = ÖZW 2001, 15 mAnm Pauger/Siml (dort zum Verbot des ambulanten Handels mit Lebensmitteln, wenn nicht zugleich im Absatzgebiet eine feste Verkaufsstelle betrieben wurde); zu dieser Entscheidung auch de Grove-Valdeyron RevMC 2000, 461 ff.; Spaventa 37 CMLRev. (2000), 1267 ff.

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dukts nicht berühren und damit nur dem Diskriminierungsverbot der Keck-Rechtsprechung unterfallen, zunächst als weder rechtlich noch tatsächlich diskriminierend und damit nun außerhalb der Warenverkehrsfreiheit stehend angesehen worden;37 in der Folge wurde dann aber eine faktische Diskriminierung der ausländischen Produktion durch Beschränkungen des ambulanten Verkaufs oder des Fernabsatzes angenommen.38 Auch in Anwendung der Keck-Prüfungsformel verbleiben die nationalen Regelungen damit im Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit und bedürfen wie zuvor der Rechtfertigung. Noch nicht abschließend geklärt ist im Rahmen der Keck-Rechtsprechung, unter welchen 10 Voraussetzungen nationale Werbeverbote oder -beschränkungen als faktisch diskriminierend einzustufen sind, so dass auch hier der Warenverkehr weiter betroffen wäre: Eine solche stärkere Wirkung auf Einfuhren wird anzunehmen sein, wenn durch das Werbeverbot bestehende, auf die nationale Produktion ausgerichtete Konsumgewohnheiten der Bevölkerung zementiert werden.39 Wo diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, ist eine faktische Diskriminierung durch eine für alle Marktteilnehmer geltende Werbebeschränkung allerdings schwerer zu erkennen.40 Entsprechend der bereits erwähnten Absenkung der Voraussetzungen für die Annahme einer solchen Diskriminierung findet sich in der jüngeren Rechtsprechung aber auch hier die Aussage, dass ein unterschiedslos geltendes absolutes Verbot der Werbung mit den Merkmalen eines Lebensmittels Einfuhren stärker behindere und damit weiter der Garantie des freien Warenverkehrs unterfalle.41 Rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Ausfuhr iSd Art. 35 AEUV treten zwar 11 insgesamt schon deshalb seltener auf, weil in diesem Bereich auch bei produktbezogenen Regelungen nicht die Dassonville-Formel gilt, sondern nach zwar umstrittener, aber doch gefestigter Rechtsprechung nur Regeln des Herkunftsstaates erfasst werden, die spezifische Regelungen für die Ausfuhr treffen („Groenveld-Formel“);42 dieser schmale Anwendungsbereich wurde zwar in der jüngeren Rechtsprechung erweitert,43 er bleibt aber weiterhin enger als im Fall des Art. 34 AEUV. Auch hier bietet der Lebensmittelsektor Bei-

37 EuGH 14.12.1995 – C-387/93, Slg 1995, I-4663, Rn. 36 ff. – Banchero = EuZW 1996, 437 (Konzessionspflicht für Tabak-Verkaufsstellen); EuGH 29.6.1995 – C-391/92, Slg 1995, I-1621 – Kommission/ Griechenland (Apothekenpflicht für Säuglingsmilch); dazu Capelli RevMC 1996, 678 ff. 38 So für den ambulanten Verkauf die TK-Heimdienst-Entscheidung (Fn. 36), im Anschluss daran für den Versandhandel mit Arzneimitteln EuGH 11.12.2003 – C-322/01, Slg 2003, I-14887, Rn. 66 ff. – DocMorris = ZESAR 2004, 89 m. krit. Anm. Kingreen; zum österreichischen Verbot des Versandhandels mit Nahrungsergänzungsmitteln EuGH 28.10.2004 – C-497/03 – Kommission/Österreich (nicht in der Slg); dazu Berg/Schallenberg ÖJZ 2004, 281 ff.; Köck/Schmitt wbl. 2006, 454 ff. 39 So der Ansatz in EuGH 8.3.2001 – C-405/98, Slg 2001, I-1795, Rn. 21 – Gourmet International = EuZW 2001, 251 mAnm Leible: „... bei Erzeugnissen (...), deren Genuss mit herkömmlichen gesellschaftlichen Übungen sowie örtlichen Sitten und Gebräuchen verbunden ist,“ sei ein Totalverbot von Verbraucherwerbung geeignet, eingeführte Waren stärker zu behindern, weil der Verbraucher mit den inländischen Erzeugnissen „unwillkürlich besser vertraut“ sei. 40 Bejaht hat EuGH 11.5.1999 – C-255/97, Slg 1999, I-2835, Rn. 17 ff., 25 ff. – Pfeiffer/Löwa = EuZW 1999, 439 auch eine faktische Diskriminierung durch Regelungen, die „die Durchführung einer gemeinschaftsweit einheitlichen Werbekonzeption... beeinträchtigen“ (Rn. 20); dazu Rüffler wbl. 1999, 297 ff. 41 So EuGH 15.7.2004 – C-239/02, Slg 2004, I-7007, Rn. 53 – Douwe Egberts = ZLR 2004, 600 mAnm Knopp/Grieb unter Verweis auf die Gourmet International-Entscheidung (Fn. 39), aber ohne Wiederholung der dort beschriebenen zusätzlichen Voraussetzungen. 42 EuGH 8.11.1979 – Rs. 15/79, Slg 1979, 3409, Rn. 7 – Groenveld; seitdem st. Rspr., s. zB EuGH 24.1.1991 – C-339/89, Slg 1991, I-107, Rn. 14 – Alsthom Atlantique; kritisch dazu Roth ZHR 159 (1995), 78 ff. 43 S. EuGH 16.12.2008 – C-205/07, Slg 2008, I-9947 – Gysbrechts = JA 2009, 558 ff. mAnm Gundel; im Ergebnis gilt nun auch hier wie im Bereich der Keck-Rechtsprechung ein weites Diskriminierungsverbot, das auch Regelungen einbezieht, die Ausfuhren faktisch diskriminieren.

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spiele;44 zugleich ist dies auch der einzige Bereich, in dem die Rechtsprechung solche Ausfuhrhindernisse in jüngerer Zeit in nennenswertem Umfang zugelassen hat: So hat der EuGH nationale Regelungen, die zur Qualitätssicherung von Produkten mit geographischer Herkunftsangabe deren vollständige Verarbeitung in der Herkunftsregion verlangen, als durch Art. 36 AEUV gerechtfertigt akzeptiert.45 Beschränkungen für den LebensmittelBinnenmarkt können sich schließlich aus der Existenz nationaler Handelsmonopole ergeben, die in Art. 37 AEUV eine eigene Regelung gefunden haben; danach wird die Existenz solcher Monopole nicht grundsätzlich in Frage gestellt, jedoch ihre Umformung zum Ausschluss von Diskriminierungen in den Absatz- und Versorgungsbedingungen gefordert;46 Beschränkungen, die nicht unmittelbar mit der Existenzweise und Funktion des Monopols verbunden sind, sind allerdings nicht an dieser Bestimmung, sondern an Art. 34 AEUV zu messen.47 12 Aus der Freiheit des Warenverkehrs ergeben sich nicht nur Anforderungen an das materielle Lebensmittelrecht der Mitgliedstaaten, sondern auch an das Verfahrensrecht: So können auch die Belange des Gesundheitsschutzes mitgliedstaatliche Verbote mit Erlaubnisvorbehalt nur dann rechtfertigen, wenn die Erlaubnis in einem leicht zugänglichen Verfahren erlangt werden kann.48 Soweit das nationale Recht zwingende Vorgaben für die Zusammensetzung eines Produkts vorsieht, so muss die Anerkennung gleichwertiger Produkte aus anderen Mitgliedstaaten möglich sein. Soweit hierbei nur der Verbraucherschutz betroffen ist, ist hier eine normative Gleichwertigkeitsklausel ohne gesondertes Zulassungsverfahren geboten;49 der Gesundheitsschutz kann dagegen einen präventiven Zulassungsvorbehalt rechtfertigen, der aber den erwähnten Verfahrensanforderungen genügen muss. Auf diese Anforderungen der EuGH-Rechtsprechung ist die deutsche Regelung in 44 S. EuGH 16.3.1977 – Rs. 68/76, Slg 1977, 515 – Kommission/Frankreich – zur Einführung einer Ausfuhrgenehmigung für Kartoffeln nach einer europaweiten Missernte; zu diesem Fall Schermers in FS Doehring, S. 883, 885 ff. 45 S. EuGH 20.5.2003 – C-108/01, Slg 2003, I-5121 – Consorzio del Prosciutto di Parma (Verarbeitung von Parmaschinken in der Region); EuGH 16.5.2000 – C-388/95, Slg 2000, I-3126 – Belgien/Spanien = ZLR 2000, 573 mAnm Müller (Abfüllung von Rioja-Wein in der Region), dazu Spaventa 38 CMLRev (2001), 211 ff.; anders zuvor noch zur gleichen Regelung im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens: EuGH 9.6.1992 – C-47/90, Slg 1992, I-3669 – Delhaize; ein Ausfuhrverbot für Korinthen hat EuGH 3.3.2011 – C-161/09, Slg 2011, I-915 – Kakavetsos-Fragkopoulos AE – dann aber aufgrund der konkreten Ausgestaltung als unverhältnismäßig eingestuft. 46 Dazu aus jüngerer Zeit EuGH 31.5.2005 – C-438/02, Slg 2005, I-4551 – Hanner – zum schwedischen Apothekenmonopol; EuGH 23.10.1997 – C-189/95, Slg 1997, I-5909 – Franzén = EuZW 1998, 55 zum schwedischen Einzelhandelsmonopol für Alkohol; dazu Castillo de la Torre wbl. 1998, 13 ff.; Berrod/Ligné RMUE 2/1997, 81 ff.; zur Umformung des deutschen Branntweinmonopols s. Everling in FS Jaenicke, S. 745 ff. 47 Dazu zuletzt EuGH 5.6.2007 – C-170/04, Slg 2007, I-4071 – Rosengren = EuZW 2007, 401 mAnm Winkelmüller/Kessler = DVBl. 2007, 894 mAnm Glaser S. 975 ff. zum Verbot der privaten Einfuhr von Alkohol nach Schweden; EuGH 26.4.2012 – C-456/19, JZ 2012, 740 – ANETT – mAnm Purnhagen zur Einfuhr von Tabakerzeugnissen nach Spanien (dazu auch A. Rigaux Euope 6/2012, 18 f.); ebenso zuvor schon EuGH 23.10.1997 – C-189/95, Slg 1997, I-5909, Rn. 67 ff. – Franzén. 48 So zu den Anforderungen der Warenverkehrsfreiheit an mitgliedstaatliche Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe EuGH 5.2.2004 – C-95/01, Slg 2004, I-1333, Rn. 35 – Greenham und Abel = ZLR 2004, 193 mAnm Streinz: „Dieses Verfahren muss leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abgeschlossen werden können; wenn es zu einer Ablehnung führt, muss die Ablehnungsentscheidung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens angefochten werden können.“ Dazu auch Jarvis 41 CMLRev. (2004), 1395 ff.; wiederholt in EuGH 29.4.2010 – C-446/08, Slg 2010, I-3973 – Solgar Vitamin’s France = EuZW 2010, 506 mAnm Meyer u. Anm. Dupont-Lassalle Europe 6/2010, 16 f.; für Verarbeitungshilfsstoffe EuGH 28.1.2010 – C-333/08, Slg 2010, I-757, Rn. 80 ff. – Kommission/Frankreich = ZLR 2010, 429 mAnm Streinz. 49 S. EuGH 22.10.1998 – C-184/96, Slg 1998, I-6197, Rn. 28 – Kommission/Frankreich – foie gras = ZLR 1999, 139 mAnm Horst = RIDPC 1999, 849 mAnm Bonomo; dazu auch Mattera RMUE 4/1998, 113 ff.; zuvor schon zur Forderung der Kommission nach Einfügung von Gleichwertigkeitsklauseln in die nationale Gesetzgebung v. Borries/Petschke DVBl. 1996, 1343 ff.

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§ 54 LFGB ausgerichtet, der die Einfuhr von Lebensmitteln aus anderen Mitgliedstaaten auch bei Abweichungen von deutschen Produktstandards zulässt; soweit diese Abweichungen allerdings gesundheitsschützende Regelungen betreffen, muss eine Zulassung im Weg der Allgemeinverfügung auf Antrag des ersten Einführers erfolgen, die zu erteilen ist, wenn nicht „zwingende Gründe des Gesundheitsschutzes“ entgegenstehen (§ 54 Abs. 3 S. 3 LFGB);50 als Ziellinie für die Entscheidung ist eine Frist von 90 Tagen vorgegeben. Die Abweichungen vom innerstaatlichen Lebensmittelrecht sind angemessen kenntlich zu machen, soweit dies zum Verbraucherschutz erforderlich ist (§ 54 Abs. 4 LFGB) (zu Informationspflichten als vorrangigem Instrument zur Beschränkung des Warenverkehrs aus Verbraucherschutzgründen s. → Rn. 17 f.).51 Im Vergleich zum Verbot der mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen hat das Verbot dis- 13 kriminierender Abgabenbelastungen gem. Art. 110 AEUV im Lebensmittelsektor nur eine geringe Rolle gespielt: Zum Tragen gekommen ist es bei indirekt diskriminierenden Abgaben auf eingeführte alkoholische Getränke,52 daneben auch bei der Einbeziehung eingeführter Produkte in die Vermarktungsabgaben zur Finanzierung inländischer Absatzfonds.53 2. Rechtfertigungsmöglichkeiten für nationale Eingriffe a) Gesundheitsschutz Der Text der primärrechtlichen Prüfungsmaßstäbe für nationale Beschränkungen des Wa- 14 renverkehrs im heutigen Art. 36 AEUV ist über die Jahrzehnte und die verschiedenen Vertragsrevisionen hinweg unverändert geblieben, jedoch haben sich in seinem Umfeld erhebliche Entwicklungen vollzogen: Als wichtigste Veränderung von Bedeutung für den Lebensmittelsektor ist die Entwicklung des Vorsorgeprinzips54 anzusehen, das zunächst dem Umweltrecht zugeordnet wurde (und weiterhin auch nur in diesem Bereich durch Art. 191 Abs. 2 AEUV ausdrücklich primärrechtlich normiert ist), das im Umfeld der BSE-Krise aber gerade für das Lebensmittelrecht Bedeutung gewonnen hat55 (zur Neuausrichtung des Sekundärrechts → Rn. 31) und vom EuGH als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-

50 Zu der mit Wirkung zum 1.1.1993 eingeführten Vorgängerbestimmung des § 47 a LMGB s. Rathke ZLR 1993, 337 ff. 51 Solche Vorgaben sind auch aus Verbraucherschutzgründen möglich, s. nur EuGH 22.10.1998 – C-184/96, Slg 1998, I-6197, Rn. 28 – Kommission/Frankreich – foie gras. 52 S. zB EuGH 27.2.1980 – Rs. 168/79, Slg 1980, 347 – Kommission/Frankreich; EuGH 27.2.1980 – Rs. 171/78, Slg 1980, 447 – Kommission/Dänemark; EuGH 15.3.1983 – Rs. 319/81, Slg 1983, 601 – Kommission/Italien; EuGH 12.7.1983 – Rs. 170/78, Slg 1983, 2265 – Kommission/Großbritannien; EuGH 9.7.1987 – Rs. 356/85, Slg 1987, 3299 – Kommission/Belgien; in diesem Bereich sind schließlich die Richtlinien RL 92/83/EWG des Rates v. 19.10.1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchssteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke, ABl. EG 1992 L 316/21 und RL 92/84/EWG des Rates v. 19.10.1992 über die Annäherung der Verbrauchssteuersätze auf Alkohol und alkoholische Getränke, ABl. EG 1992 L 316/29, ergangen, die den Mitgliedstaaten aber immer noch einen weiten Spielraum lassen, den diese diskriminierungsfrei nutzen müssen; dazu zB EuGH 17.6.1999 – C-166/98, Slg 1999, I-3791 – Socridis = EWS 1999, 275. 53 S. zum deutschen Absatzfondsgesetz EuGH 27.10.1993 – C-72/92, Slg 1993, I-5509 – Scharbatke = EuZW 1994, 62; zum belgischen Absatzfonds für die Landwirtschaft EuGH 16.12.1992 – C-144/91, Slg 1992, I-6613 – Demoor; zu einer portugiesischen Abgabe auf Milchprodukte zur Förderung der einheimischen Produktion EuGH 17.9.1997 – C-347/95, Slg 1997, I-4911 – UCAL; zur Behandlung solcher parafiskalischer Abgaben s. auch noch Götz in FS Friauf, S. 37 ff.; Nussbaum DVBl. 1994, 1174 ff. 54 Zu seiner Entwicklung umfassend B. Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, 2009; speziell für das Lebensmittelrecht zB Szajkowska 47 CMLRev. (2010), 173 ff.; de Sadeleer in Mahieu/Merten-Lentz (éds.), Sécurité alimentaire, 2013, S. 307 ff. 55 S. auch Streinz in Woodman/Klippel (eds.), Risk and the Law, 2009, S. 53 ff.; Szajkowska 47 CMLRev. (2010), 173 ff.; die zentrale sekundärrechtliche Normierung findet sich nun in Art. 7 BasisVO.

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§ 8 Lebensmittelrecht

Rechts anerkannt wurde.56 Ein stärker textorientierter Begründungsstrang führt über den Schutz der menschlichen Gesundheit als Ziel der EU-Umweltpolitik (Art. 191 Abs. 1, 2. Spiegelstr. AEUV) und die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV sowie die allgemeine Verpflichtung auf den Gesundheitsschutz in Art. 168 AEUV.57 15 Dieses Prinzip erweitert in gewisser Weise als Gegenpol zum binnenmarktrechtlichen Herkunftslandsprinzip den Spielraum der Mitgliedstaaten für Eingriffe zum Schutz der Gesundheit, der dadurch allerdings auch nicht grenzenlos wird.58 Deutlich werden Reichweite und Grenzen unter dem Einfluss des Vorsorgeprinzips an einer Reihe von Entscheidungen aus jüngerer Zeit, die nationale Regelungen zum Verbot von – zB mit Vitaminen – angereicherten Nahrungsmitteln betreffen, wenn für die Anreicherung kein Ernährungsbedürfnis besteht: Hier hat der EuGH die Mitgliedstaaten nicht auf die Prüfung beschränkt, ob das Nahrungsmittel für sich genommen als gesundheitsgefährdend anzusehen ist, sondern unter Verweis auf den Vorsorgegrundsatz auch die Gefahr einer gesundheitsgefährdenden Überdosierung durch die Kombination mit anderen Lebensmitteln ausreichen lassen. Eine solche Gefahr muss aber in Bezug auf das konkrete Lebensmittel und den konkreten Stoff zumindest möglich erscheinen;59 ein pauschales Verbot aller nicht „nötigen“ Anreicherungen kann auf diesem Weg nicht gerechtfertigt werden.60 16 Schon vor der expliziten Anerkennung des Vorsorgegrundsatzes hat der EuGH den Mitgliedstaaten unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes einen weiten Beurteilungsspielraum zugestanden, der zB auch nationale Werbebeschränkungen oder -verbote für legale, aber gesundheitsgefährdende Lebensmittel erlauben kann.61 Anerkannt ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch, dass die Beschränkung auf weniger weitgehende Maßnahmen in anderen Mitgliedstaaten für sich allein nicht die Unzulässigkeit schärferer nationaler Maßnahmen begründen kann, auch wenn das Fehlen entsprechender Regelungen in allen oder nahezu allen anderen Mitgliedstaaten ein relevanter Gesichtspunkt sein kann.62 Die damit auf Primärrechtsebene grundsätzlich akzeptierten Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Systemen können aber wiederum den EU-Gesetzgeber auf den Plan rufen und sein Eingreifen rechtfertigen.63

56 So ausdrücklich EuG 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00 ua, Slg 2002, II-4945, Rn. 184 – Artegodan ua/ Kommission; EuG 28.1.2003 – T-147/00, Slg 2003, II-85, Rn. 52 – Les Laboratoires Servier/Kommission; EuG, 21.10.2003 – T-392/02, Slg 2003, II-4555, Rn. 121 – Solvay Pharmaceuticals/Kommission. 57 S. dafür EuGH 22.12.2010 – C-77/09, Slg 2010, I-13533, Rn. 71 – Gowan Comércio Internacional; dazu Alemanno 48 CMLRev. (2011), 1329 ff. 58 S. zB EuGH 28.1.2010 – C-333/08, Slg 2010, I-757 – Kommission/Frankreich = ZLR 2010, 429 mAnm Streinz; dazu A. Rigaux Europe 3/2010, 19 f. 59 Deutlich EuGH 5.2.2004 – C-24/00, Slg 2004, I-1277, Rn. 56 – Kommission/Frankreich: „Allerdings darf die Risikobewertung nicht auf rein hypothetische Erwägungen gestützt werden.“ Wortgleich EuGH 2.12.2004 – C-41/02, Slg 2004, I-11375, Rn. 52 – Kommission/Niederlande. 60 S. EuGH 5.2.2004 – C-24/00, Slg 2004, I-1277 – Kommission/Frankreich; EuGH 23.9.2003 – C-192/01, Slg 2003, I-9693 – Kommission/Dänemark = ZLR 2004, 58 mAnm Streinz; EuGH 5.2.2004 – C-270/02, Slg 2004, I-1559 – Kommission/Italien; EuGH 2.12.2004 – C-41/02, Slg 2004, I-11375 – Kommission/Niederlande; ebenso EFTA-Gerichtshof 5.4.2001 – E 3/00, Report of the EFTA Court 2000-2001, S. 73 – EFTA-Überwachungsbehörde/Norwegen = ZLR 2001, 697 mAnm Schroeter = EuZW 2001, 573 mAnm Lübbig/Pitschas. 61 So zur Alkoholwerbung EuGH 13.7.2004 – C-429/02, Slg 2004, I-6613 – Bacardi France; EuGH 13.7.2004 – C-262/02, Slg 2004, I-6569 – Kommission/Frankreich; dazu Gundel EWS 2004, 398 ff.; Stuyck 42 CMLRev. (2005), 783 ff.; zuvor bereits EuGH 8.3.2001 – C-405/98, Slg 2001, I-1795 – Gourmet International = EuZW 2001, 251 mAnm Leible = ZLR 2001, 405 mAnm Streinz; EuGH 25.7.1991 – C-1/90 ua, Slg 1991, I-4151 – Aragonesa de Publicidad = EuZW 1991, 630. 62 EuGH 28.1.2010 – C-333/08, Slg 2010, I-757, Rn. 105 – Kommission/Frankreich = ZLR 2010, 429 mAnm Streinz. 63 S. dazu am Bsp. des Streits um die EU-Kompetenz für den Erlass der Tabakwerbe-RL Geiger EWS 1/2005, I („Die erste Seite“); Gundel EWS 2004, 398 (401 f.); ders. EuR 2007, 251 (254).

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b) Verbraucherschutz Der Verbraucherschutz als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Frei- 17 heit des Warenverkehrs trägt von vornherein deutlich weniger weit als der Gesundheitsschutz: Zunächst kann er nur Regelungen rechtfertigen, die unterschiedslos für inländische wie ausländische Erzeugnisse gelten;64 zudem ist es regelmäßig nicht erforderlich, diesen Schutz durch verbindliche Produktstandards oder Verbote sicherzustellen, vielmehr reichen Regelungen zur Gewährleistung der Information des Verbrauchers über die Produkteigenschaften aus. Ebenso können bestimmte Gattungsbezeichnungen nicht den Produkten vorbehalten werden, die den – wiederum durch das nationale Lebensmittelrecht vorgeprägten – nationalen Verbrauchererwartungen an ein Lebensmittel entsprechen,65 wenn die Pflicht zur Angabe der Inhaltsstoffe genügt, um eine Täuschung des Verbrauchers zu verhindern; die Verwendung einer anderen Verkehrsbezeichnung kann nur verlangt werden, wenn ein Erzeugnis „nach seiner Zusammensetzung oder Herstellungsweise so stark von den in der Gemeinschaft unter dieser Bezeichnung allgemein bekannten Waren abweicht, dass es nicht mehr der gleichen Kategorie zugerechnet werden kann“.66 Auch diese sogenannte „Etikettierungs-Rechtsprechung“ des EuGH, die im Rahmen der 18 Verhältnismäßigkeitsprüfung Informationspflichten als mildere und gleichermaßen wirksame Eingriffe in die Freiheit des Warenverkehrs einordnet, hat ihren Ursprung im Lebensmittelrecht. Sie ist zugleich verbunden mit der Diskussion um das „Verbraucherleitbild“, das der EuGH in diesem Rahmen zugrundelegt67 (zur Frage, ob dieses Leitbild auch für den EU-Harmonisierungsgesetzgeber gilt → Rn. 59): Denn es lässt sich nicht leugnen, dass der Schutz von unaufmerksamen Verbrauchern so im Ergebnis verringert wird;68 wenn diese Verbraucherkategorie als Maßstab zugrundezulegen wäre, müsste die mildere Alternativmaßnahme als im Vergleich zum Verbot weniger wirksames Mittel qualifiziert werden, während der Maßstab des „aufmerksamen“ oder „verständigen“ Verbrauchers eine gewisse Quote von (Ent-)Täuschungen des Konsumenten hinnimmt. Diese Rechtsprechung hat neben Zustimmung freilich auch scharfe Kritik gefunden, weil sie die Verwässe-

64 S. dazu die Leitentscheidung EuGH 17.6.1981 – Rs. 113/80, Slg 1981, 1625 – Kommission/Irland – „foreign“/irische Souvenirs = RIW 1981, 696. 65 S. für einen solchen Fall – die Zulassung der Bezeichnung „Aceto“ allein für Wein- und nicht für Obstessig – EuGH 26.6.1980 – Rs. 788/79, Slg 1980, 2071 – Gilli und Andrés – Obstessig I = EuR 1981, 43 mAnm Meier; EuGH 9.12.1981 – Rs. 193/80, Slg 1981, 3019 – Kommission/Italien – Obstessig II = NJW 1982, 1212; schließlich – nachdem der italienische Gesetzgeber die neue Gattungsbezeichnung „agro“ geschaffen und „aceto“ weiterhin für Weinessig reserviert hatte – nochmals EuGH 15.10.1985 – Rs. 281/83, Slg 1985, 3397 – Kommission/Italien – Obstessig III; zum deutschen Versuch, die Begriffe „Sekt“ und „Weinbrand“ inländischen Produkten vorzubehalten, s. EuGH 20.2.1975 – Rs. 12/74, Slg 1975, 181 – Kommission/Deutschland – und dazu Matthies in FS Schiedermair, S. 391, 400 ff.; Beier GRUR Int. 1977, 1 ff. 66 So gleichlautend EuGH 16.1.2003 – C-12/00, Slg 2003, I-459, Rn. 85 – Kommission/Spanien = RIDPC 2003, 1515 mAnm Spagnuolo; EuGH 16.1.2003 – C-14/00, Slg 2003, I-513, Rn. 80 – Kommission/ Italien; EuGH 22.10.1998 – C-184/96, Slg 1998, I-6197, Rn. 23 – Kommission/Frankreich – foie gras = ZLR 1999, 139 mAnm Horst, jeweils unter Bezug auf EuGH 12.3.1988 – Rs. 286/86, Slg 1988, 4907, Rn. 13 – Deserbais; s. auch die Mitteilung der Kommission über die Verkehrsbezeichnung von Lebensmitteln v. 15.10.1991, ABl. EG 1991 C 270/2 sowie die sekundärrechtliche Regelung in Art. 17 Abs. 2 – 3 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Lebensmittelinfomations-VO, zuvor Art. 5 Abs. 1 RL 2000/13/EG). 67 Dazu zB von Heydebrand u. d. Lasa 16 ELRev. (1991), 391 ff.; in jüngerer Zeit González Vaqué RDUE 2004, 69 ff. 68 S. EuGH 26.10.1995 – C-51/94, Slg 1995, I-3599, Rn. 34 – Kommission/Deutschland – Sauce béarnaise – zum Verweis auf das Zutatenverzeichnis anstelle der Änderung der Verkehrsbezeichnung: „Zwar werden die Verbraucher möglicherweise in Einzelfällen irregeführt, jedoch ist diese Gefahr gering und kann folglich das durch die streitigen Anforderungen begründete Hemmnis für den freien Warenverkehr nicht rechtfertigen.“.

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rung nationaler Qualitätsstandards für Lebensmittel bewirke;69 auf den Rechtfertigungsgrund des Gesundheitsschutzes – also auf Konstellationen, in denen der Irrtum gesundheitliche Gefahren zur Folge hätte – lässt sich diese Auflockerung zugunsten des Binnenmarktes von vornherein nicht übertragen.70 19 Besondere Probleme wirft die Rechtfertigung staatlicher Regelungen auf, die eine Pflicht zur Herkunftskennzeichnung vorsehen oder die nationale Herkunft von Produkten positiv hervorheben. Nationale Bestimmungen zur obligatorischen Herkunftskennzeichnung hat der Gerichtshof im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten für unzulässig erklärt,71 wofür den Ausschlag gegeben haben dürfte, dass solche Kennzeichnungen als Anknüpfungspunkt für Kampagnen zugunsten nationaler Produkte genutzt werden können;72 in Bezug auf Rindfleisch ist eine solche Pflicht dann aber unter dem Eindruck der BSE-Krise sogar Bestandteil des Sekundärrechts geworden (→ Rn. 56).73 In Bezug auf die positive Hervorhebung der Herkunft ist geklärt, dass von den Mitgliedstaaten vergebene Qualitätssiegel nicht nationalen Produkten vorbehalten bleiben, sondern auch Lebensmitteln aus anderen Mitgliedstaaten offenstehen müssen, die die objektiven Qualitätsanforderungen erfüllen.74 Problematisch sind unter diesem Gesichtspunkt regionale Siegel75 oder andere Formen der Hervorhebung der regionalen Herkunft von Lebensmitteln durch staatliche Stellen:76 Tat69 S. MacMaoláin 26 ELRev. (2001), 413 ff. im Anschluss an von Heydebrand u. d. Lasa 16 ELRev. (1991), 391 ff. und Brouwer 25 CMLRev. (1988), 237 ff. Man wird dieser Kritik entgegenhalten müssen, dass es stets nur um Lebensmittel geht, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt wurden; die Gefahr, dass das Lebensmittelrecht des Herkunftsstaats angemessene Qualitätsstandards systematisch unterschreitet, ist aber nicht höher als die Gefahr, dass sich hinter den Qualitätsstandards des Importstaats auch protektionistische Motive verbergen. 70 S. zB EuGH 24.10.2002 – C-121/00, Slg 2002, I-9193 – Walter Hahn – zu einem nationalen NullGrenzwert für bakterielle Verunreinigungen; dazu Berrod Europe 12/2002, 10 f.; Rn. 52 der Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed führen hier zu Recht aus, dass die Verbraucherinformation in solchen Fragen keine gleichwertige Alternative darstellt; s. auch Streinz in FS Köhler, S. 745, 750. 71 So EuGH 25.4.1985 – Rs. 207/83, Slg 1985, 1205 – Kommission/Großbritannien = NJW 1986, 656 im Anschluss an EuGH 17.6.1981 – Rs. 113/80, Slg 1981, 1625 – Kommission/Irland – „foreign“/irische Souvenirs = RIW 1981, 696; anders als in diesem ersten Fall unterschied die Regelung zwar nicht nach der Herkunft der Ware, so dass der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund des Verbraucherschutzes zur Verfügung stand (dazu Gundel Jura 2001, 79 (82 f.), jedoch konnte der EuGH kein legitimes Interesse an einer zwingenden Herkunftsangabe feststellen; ebenso dann EuGH 16.7.2015 – C-95/14, EuZW 2015, 873 – UNIC – mAnm Gundel, Rn. 44; dazu Rigaux Europe 10/2015, 23 f. 72 Aufschlussreich dafür aus neuerer Zeit der Beschluss 2010/147/EU der Kommission v. 8.3.2010, ABl. EU 2010 L 58/20, zu einem von Griechenland vorgelegten Entwurf eines Erlasses zur Herkunftskennzeichnung von Milcherzeugnissen beim Verkauf an den Endverbraucher, nach dem (nur) nicht aus Griechenland stammende Milch als „Made in EU“ gekennzeichnet werden musste: Die griechischen Behörden hatten dazu in erfrischender Offenheit mitgeteilt, die Kennzeichnung sei zur vollständigen Information der Verbraucher und „zur Sicherung der Interessen griechischer Milch erzeugender Betriebe“ erforderlich, s. Erwägungsgrund 8 des Beschlusses. 73 Art. 5 Abs. 2 und 5 der VO (EG) Nr. 1760/2000 des EP und des Rates v. 17.7.2000 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern und über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie zur Aufhebung der VO Nr. 820/97, ABl. EG 2000 L 204/1. 74 Zur französischen Qualitätsbezeichnung „montagne“ s. EuGH 7.5.1997 – verb. C-321-24/94, Slg 1997, I-2343 – Pistre ua; zum deutschen CMA-Gütezeichen EuGH 5.11.2002 – C-325/00, Slg 2002, I-9977 – Kommission/Deutschland = EuZW 2003, 23 mAnm Leible = ZLR 2002, 708 mAnm Ohler; dazu auch Korte/Oschmann NJW 2003, 1766 ff.; Obergfell/Hertel EuLF 2003, 121 ff.; Jarvis 40 CMLRev. (2003), 715 ff. 75 S. zB zu französischen Gütezeichen für regionale Produkte EuGH 6.3.2003 – C-6/02, Slg 2003, I-2389 – Kommission/Frankreich; zum „Wallonischen Qualitätszeichen“ EuGH 17.6.2004 – C-255/03 – Kommission/Belgien (nicht in der Slg). 76 Zu diesem Problemfeld s. Y. Becker EuR 2002, 418 ff.; Shuibhne in Craufurd Smith (ed.), Culture and European Union Law, 2004, S. 81 ff., Gencarelli RDUE 2005, 761 (775 ff.); sowie die Beiträge in Marauhn (Hrsg.), Staatliche Förderung für regionale Produkte: Protektionismus oder Umwelt- und Verbraucherschutz?, 2004, insbes. Heselhaus, S. 127 ff. und Kühling S. 267 ff.; weiter insbes. unter Umweltschutzaspekten Hilson 33 ELRev. (2008), 194 ff.

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B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts

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sächlich erscheinen solche Maßnahmen binnenmarktrechtlich nur akzeptabel, wenn sie sich auf bestimmte Produkte beziehen, die tatsächlich besondere Eigenschaften aufweisen, nicht aber in Form der staatlichen Förderung einer generellen Präferenz zugunsten einheimisch-regionaler Produkte.77 Konsequent wird die zuerst genannte Konstellation heute auch durch EU-Recht in Form der Verordnung zum Schutz geographischer Herkunftsangaben78 positiv geregelt. Das Sekundärrecht in Form der LebensmittelinformationsVO (s. näher → Rn. 54 ff.)79 stellt nun hohe Anforderungen an die Begründung zusätzlicher nationaler Herkunftskennzeichnungspflichten80 (s. auch noch → Rn. 56 zu den in der Verordnung selbst enthaltenen Kennzeichnungsvorgaben); dennoch hat die Kommission, der solche Regelungen zu notifizieren sind81 entsprechende Regelungen Frankreichs und Italiens in jüngerer Zeit unbeanstandet gelassen;82 die französische Regelung zur verbindlichen Herkunftskennzeichnung für Milch liegt nun dem EuGH zur Prüfung vor.83 c) Umweltschutz Der Umweltschutz hat als Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen des Warenverkehrs 20 mit Lebensmitteln bisher nur eine beschränkte Rolle gespielt; immerhin ist dieses Motiv aber erstmals in einem lebensmittelrechtlichen Sachverhalt als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen des freien Warenverkehrs anerkannt worden;84 die Umweltbelastung durch Lebensmittelverpackungen ist auch später als zulässiges Motiv für Beschränkungen des Warenverkehrs anerkannt worden.85 In jüngerer Zeit stellt sich die Frage, ob staatliche Kampagnen zugunsten regionaler Produkte unter dem Gesichtspunkt der vermiedenen (klimaschädlichen) Transporte als durch Umweltaspekte gerechtfertigt angesehen werden können (dazu schon → Rn. 19). 77 Auch die in jüngerer Zeit häufig angeführten Umwelt- und Klimaschutzargumente gegen weite Transportstrecken können solche Maßnahmen nicht rechtfertigen, zumal damit nur ein – nicht notwendig ausschlaggebender – Teil der „Klimabilanz“ des jeweiligen Produkts erfasst wird; s. dazu Hilson 33 ELRev. (2008), 194 ff.; eine Werbung Privater mit der lokalen Herkunft bleibt davon unberührt. 78 S. zunächst die VO (EWG) Nr. 2081/92 des Rates v. 14.7.1992 zum Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, ABl. EG 1992 L 208/1, später abgelöst durch die gleichnamige VO (EG) Nr. 510/2006 des Rates v. 20.3.2006, ABl. 2006 L 93/12; dazu und auch zu den Hintergründen der Neufassung s. zB Knaak in Sosnitza, S. 113 ff.; Gonzalez Vaqué RDUE 2006, 795 ff.; monographisch Léon Ramirez, Der Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel nach der Verordnung (EG) Nr. 510/2006, 2007. 79 VO (EU) Nr. 1169/2011 des EP und des Rates v. 25.10.2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (...), ABl. EU 2011 L 304/18. 80 Art. 39 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 79); zu den Anforderungen s. zB Gundel ZLR 2016, 750 ff. am Bsp. einer verpflichtenden Tierwohlkennzeichnung für Fleisch. 81 Art. 44 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 79); diese Notifikationspflicht geht als Spezialregelung der allgemeinen Notifikationspflicht nach der RL (EU) 2015/11535 vor. 82 Das französische Décret No 2016-1137 v. 19.8.2016, relatif à l’indication de l’origine du lait et du lait et des viandes utilisés en tant qu’ingrédient, JORF No 194 v. 21.8.2016, sieht die verpflichtende Herkunftsbezeichnung für Milch sowie für Milch und Fleisch in (in Frankreich) verarbeiteten Lebensmitteln vor, s. Coutrelis/Rihouey-Robini EFFL 2027, 57 f.; Treuil EFFL 2016, 486 ff.; die italienische Regelung beschränkte sich zunächst auf Milch und (ebenfalls nur in Italien hergestellte) Milchprodukte; zu beiden Regelungen s. Klaus ZLR 2017, 277 ff. Italien hat im Anschluss auch noch Regelungen zu verarbeiteten Tomaten, Weizen, Nudeln und Reis erlassen, s. Pisanello/Brunori EFFL 2017, 526 ff.; González Vaqué EFFL 2018, 304 (308). 83 Auf Vorlage des französischen Conseil d’Etat anhängige Rechtssache C-458/18 – Groupe Lactalis. 84 EuGH 20.9.1988 – Rs. 302/86, Slg 1988, 4607 – Kommission/Dänemark = NVwZ 1989, 849 m. Bespr. Schutt/Steffens RIW 1989, 447 ff.; Rengeling/Heinz JuS 1990, 613 ff. 85 S. zum deutschen Dosenpfand EuGH 14.12.2004 – C-463/01, Slg 2004, I-11705 – Kommission/ Deutschland = EWS 2005, 22; EuGH 14.12.2004 – C-309/02, Slg 2004, I-11763 – Radlberger u. Spitz = EWS 2005, 28; dazu zB Stumpf ZLR 2005, 47 ff.; s. später noch die Kommissionsmitteilung „Getränkeverpackungen, Pfandsysteme und freier Warenverkehr“, ABl. EU 2009 C 107/1.

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§ 8 Lebensmittelrecht 3. Primärrecht und Sekundärrecht

21 Die Regelungszuständigkeit der Mitgliedstaaten wird allerdings weitgehend verdrängt, sobald Sekundärrecht vorliegt, was im Lebensmittelsektor inzwischen auf breiter Fläche der Fall ist (zu den verschiedenen Phasen der Harmonisierung → Rn. 30 ff.). Gegenüber seinen Vorgaben ist nach st. Rspr. eine Berufung auf Art. 36 AEUV ausgeschlossen;86 nationale Gestaltungsspielräume bestehen nur noch, soweit das Sekundärrecht selbst sie einräumt, indem es etwa den Mitgliedstaaten verschiedene Gestaltungsoptionen eröffnet oder nur eine Mindestharmonisierung vornimmt,87 oder wenn die Voraussetzungen für ein „opting out“ gem. Art. 114 AEUV88 gegeben sind. Allerdings wirft die Frage, ob das Sekundärrecht, das bestimmte Vorgaben macht, auch für innerstaatliche Sachverhalte eine abschließende Regelung enthält und damit weitergehende nationale Regelungen ausschließt, gelegentlich schwierige Auslegungsfragen auf; bei dieser Prüfung sind regelmäßig das hohe Gewicht, das das EU-Recht dem Gesundheitsschutz zumisst, und die fortbestehende Verantwortung der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zu berücksichtigen89 (zu Streitpunkten aus jüngerer Zeit → Rn. 85 f.). Im Übrigen steht der nationale Gesetzgeber auch in den Bereichen unter der präventiven Kontrolle der EU-Kommission, in denen noch keine sekundärrechtliche Harmonisierung erfolgt ist: Neue Regelungsvorhaben, die Handelshemmnisse begründen würden, müssen nach der Informationsverfahrens-Richtlinie (RL (EU) 2015/1535)90 vor ihrem Erlass der Kommission mitgeteilt werden, die inhaltliche Bedenken geltendmachen91 oder den Aufschub der geplanten Regelung verlangen kann, wenn zu der betreffenden Frage ein Rechtsakt auf EU-Ebene vorbereitet wird. 86 St. Rspr., s. zB EuGH 25.3.1999 – C-112/97, Slg 1999, I-1821, Rn. 54 – Kommission/Italien; aus der Literatur s. Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen, 1994; Schlösser, Die Sperrwirkung sekundären Gemeinschaftsrechts, 2002. 87 Insoweit ist bei divergierender Nutzung der Spielräume durch die Mitgliedstaaten deren marktspaltende Wirkung weiter an Art. 34 AEUV zu messen, s. zB EuGH 20.6.1991 – C-39/90, Slg 1991, I-3069 – Denkavit; EuGH 14.7.1994 – C-17/93, Slg 1994, I-3537 – Van der Veldt; EuGH 12.10.2000 – C-3/99, Slg 2000, I-8749 – Cidrerie Ruwet = ZLR 2000, 920 mAnm v. Jagow/Welsch; EuGH 16.1.2003 – C-12/00, Slg 2003, I-459 – Kommission/Spanien = RIDPC 2003, 1515 mAnm Spagnuolo; EuGH 16.1.2003 – C-14/00, Slg 2003, I-513 – Kommission/Italien. 88 Für Bsp. aus dem Lebensmittelsektor s. EuGH 20.3.2003 – C-3/00, Slg 2003, I-2643 – Dänemark/ Kommission = EuZW 2003, 334 mAnm Gundel = ZLR 2003, 315 mAnm Leible; Kommissionsentscheidung 2008/448/EG v. 23.5.2008 zu den von Dänemark mitgeteilten einzelstaatlichen Bestimmungen über den Zusatz von Nitriten zu bestimmten Fleischerzeugnissen, ABl. EU 2008 L 157/98, verlängert durch Beschluss 2010/561/EU v. 25.5.2010, ABl. EU 2010 L 247/55; erneut durch den Beschluss (EU) 2015/826 v. 22.5.2015, ABl. EU 2015 L 130/10 und zuletzt durch den Beschluss (EU) 2018/702 v. 8.5.2018, ABl. EU 2018 L 118/7; zum Zeitraum bis zur Genehmigung durch die Kommission s. EuGH 1.6.1999 – C-319/97, Slg 1999, I-3143 – Antoine Kortas = ZLR 1999, 612 mAnm Epiney. 89 Dazu zB EuGH 25.2.2010 – C-562/08, Slg 2010, I-1391, Rn. 30 ff. – Müller Fleisch-GmbH = NVwZ 2010, 629: EU-Sekundärrecht, das die BSE-Testung aller mehr als 30 Monate alten Rinder vorgibt, steht nach der Auslegung des EuGH einer nationalen Regelung nicht entgegen, die weitergehend eine Testung aller mehr als 24 Monate alten Rinder verlangt. 90 RL (EU) 2015/1535 des EP und des Rates v. 9.9.2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft, ABl. EU 2015 L 241/1. Die ursprüngliche RL 83/189/EWG des Rates v. 28.3.1983 „über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften“, ABl. EG 1983 L 109/8, galt nicht für Lebensmittel, sie wurde aber durch die RL 88/182/EWG des Rates v. 22.23.1988, ABl. EG 1988 L 81/75, auf diesen Bereich ausgeweitet. Die Regelung wurde nach mehrfachen Änderungen vollständig neu gefasst durch die RL 98/34/EG des EP und des Rates v. 22.6.1998, ABl. EG 1998 L 204/37, die durch die nun geltende Fassung abgelöst wurde; zum System der RL s. Gundel JuS 1999, 1171 (1174); Herlitz RDUE 2008, 403 ff. Ohne diese Meldung erlassene Vorschriften können vom Mitgliedstaat (und selbst von privaten Klägern, etwa Wettbewerbern) nicht durchgesetzt werden, s. EuGH 30.4.1996 – C-194/94, Slg 1996, I-2201 – CIA Security = EuZW 1996, 379 mAnm Fronia; EuGH 26.9.2000 – C-443/98, Slg 2000, I-7535 – Unilever Italia = EuZW 2001, 153; dazu Gundel EuZW 2001, 143 ff. 91 Der notifizierende Mitgliedstaat muss zu solchen Bedenken der Kommission oder anderer Mitgliedstaaten Stellung nehmen, eine verbindliche Entscheidung erfolgt allerdings nicht; nach einem dennoch er-

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Auch das Phänomen der Inländerdiskriminierung hat im Lebensmittelsektor prominente 22 Anwendungsfälle und Diskussionsfelder gefunden: Nachdem die Warenverkehrsfreiheit weder für innerstaatliche Sachverhalte92 noch für Direktimporte aus Drittstaaten gilt,93 ist insoweit weiter uneingeschränkt das nationale Recht maßgeblich, solange kein Sekundärrecht besteht. Diese Grenzen des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten werden allerdings gelegentlich durch die Praxis des EuGH verunklart, die vom nationalen Gericht vorgelegte Grundfreiheiten-Frage zu beantworten und ihre Entscheidungserheblichkeit zugleich dem vorlegenden Gericht (bzw. dem nationalen Recht) zu überlassen;94 dass damit nur eine Antwort gegeben wird, deren Bedeutung für den konkreten Streitfall vollständig vom nationalen Recht abhängt, wird nicht immer klar ausgesprochen.95 Gerade im teils emotional besetzten Lebensmittelsektor, in dem Produktanforderungen gelegentlich zu Fragen der nationalen Identität überhöht werden, kann es hier leicht zu Konflikten kommen, weil der nationale Gesetzgeber häufiger an den innerstaatlichen Standards festhält, statt die Inländerdiskriminierung durch eine freiwillige Anpassung zu beseitigen.96 Dabei kann es dazu kommen, dass die – vom EU-Recht nicht erfasste und damit insofern zulässige – Aufrechterhaltung der nationalen Vorgaben von den nationalen Gerichten als unverhältnismäßiger Eingriff in die (nationale) Berufsfreiheit qualifiziert wird.97 Allerdings ist dieses Ergebnis nicht automatisch vorgegeben, weil nicht ausgeschlossen ist, dass auch die auf Inlandssachverhalte beschränkte Aufrechterhaltung der nationalen Regelung noch als sinnvoll und gerechtfertigt angesehen werden kann.98

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folgten Erlass kann die Kommission nur das reguläre Vertragsverletzungsverfahren einleiten, s. EuGH 15.2.2001 – C-230/99, Slg 2001, I-1169 – Kommission/Frankreich. S. statt vieler EuGH 5.12.2000 C-448/98, Slg 2000, I-10663, Rn. 21 – Guimont; EuGH 14.7.1988 – Rs. 407/85, Slg 1988, 4233, Rn. 25 – Drei Glocken = ZLR 1988, 615 mAnm Gündisch; anders wohl nur EuGH 4.10.2007 – C-457/05, Slg 2007, I-8075 – Schutzverband der Spirituosenindustrie/Diageo Deutschland = EuR 2008, 242 m. krit. Anm. Gundel. So war die Regelung zum Mindestalkoholgehalt für Likör, die EuGH 20.2.1979 – Rs. 120/78, Slg 1979, 649 – Rewe („Cassis de Dijon“) als gemeinschaftsrechtswidrig verworfen hatte, auf Direktimporte aus Drittstaaten weiter anwendbar, s. BGH, 28.2.1985 – I ZR 7/83 RIW 1985, 588 = WRP 1985, 406 mAnm Meier S. 482 f.; Drittlandswaren, die zunächt in andere Mitgliedstaaten eingeführt wurden, nehmen dagegen am Binnenmarkt teil, s. bereits Art. 28 Abs. 2 AEUV und als Echo dazu § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 LFGB. S. zB EuGH 5.12.2000 – C-448/98, Slg 2000, I-10663, Rn. 18 ff. – Guimont = ZLR 2001, 120 mAnm Meier (dazu A. Rigaux Europe 2/2001, 17 ff.; Pallaro RIDPC 2001, 95 ff.) im Anschluss an die PistreEntscheidung EuGH 7.5.1997 – verb. Rs. C-321–324/94, Slg 1997, I-2343 – Pistre; zu ihr Simon/ Lagondet Europe 7/1997, 7 ff.; Weyer EuR 1998, 435 ff.; Tagaras in Mélanges Waelbroeck, 1999, Vol. 2, S. 1499, 1503 ff. S. EuGH 5.12.2000 – C-448/98, Slg 2000, I-10663, Rn. 23 – Guimont: Eine Antwort könne dem nationalen Gericht „von Nutzen sein, wenn sein nationales Recht … vorschriebe, dass einem inländischen Erzeuger die gleichen Rechte zustehen, die dem Erzeuger eines anderen Mitgliedstaats in der gleichen Lage kraft Gemeinschaftsrechts zustünden.“ Der Sache nach ebenso, aber wesentlich weniger explizit in einem anderen Inlandssachverhalt EuGH 13.1.2000 – C-254/98, Slg 2000, I-151, Rn. 11 ff. – TK Heimdienst = EuZW 2000, 309 mAnm Gundel = ÖZW 2001, 15 mAnm Pauger/Siml. So im Fall der Hartweizen-Vorgabe für Pasta: Corte costituzionale, 30.12.1997 – No 443, RIDPC 1998, 246 mAnm Ninatti, S. 215 ff. = Riv. Dir. Int. 1998, 530; dazu auch della Chà Diritto del commercio internazionale 2002, 145 (161); Rn. 81 ff. der Schlussanträge von GA Léger zu EuGH 13.11.2003 – C-294/01, Slg 2003, I-13429 – Granarolo SpA. So zum Reinheitsgebot für Bier (s. Fn. 31) BVerwG 24.2.2005 – 3 C 5.04, BVerwGE 123, 82 = ZLR 2005, 459 mAnm Chotjewitz, S. 467 u. Anm. Winzek, S. 473. S. für einen frühen Vorgänger auch BVerfG 16.1.1980 – 1 BvR 249/79, BVerfGE 53, 135 = NJW 1980, 1511 = ZLR 1980, 167, wo der durch den EuGH zu Art. 28 EGV entwickelte Grundsatz des Vorrangs der Etikettierung gegenüber verbraucherschützenden Verkehrsverboten auf Art. 12 GG übertragen wird. Zu den verschiedenen Gesichtspunkten s. Gundel DVBl. 2007, 269 (274 ff.); früher schon Streinz ZLR 1990, 487 ff.

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23 Durch das EU-Recht erfasst werden diese Sachverhalte erst, sobald Sekundärrecht erlassen wird, das die Beschränkung auf grenzüberschreitende Sachverhalte regelmäßig99 nicht kennt, sondern flächendeckend gilt. Dies hängt im Einzelfall aber von der Auslegung des Sekundärrechts ab: So erscheint es zweifelhaft, ob der Verweis auf die Regeln der Warenverkehrsfreiheit in Art. 14 Abs. 9 BasisVO so verstanden werden kann, dass auf dem Weg über das Sekundärrecht Art. 34 AEUV in Fragen der Lebensmittelsicherheit auch in rein innerstaatlichen Fällen anwendbar wird. Der BGH ist diesen Weg in einer jüngeren Entscheidung zu einer umstrittenen Regelung des deutschen Lebensmittelrechts allerdings gegangen100 und hat die in diesem Fall bestehende Inländerdiskriminierung101 durch diese – überdehnte – Interpretation des Sekundärrechts radikal ausgemerzt; tatsächlich ist der EuGH später für diesen Sachverhalt inhaltlich zum gleichen Ergebnis gekommen, hat sich hierfür aber auf andere Bestimmungen der BasisVO gestützt, die keinen grenzüberschreitenden Bezug voraussetzen102.

II. Rechtssetzung und Vollzug im europäischen Lebensmittelrecht 1. Die Rechtsgrundlagen der EU-Lebensmittelgesetzgebung 24 Die bloße Anwendung der nicht Lebensmittel-spezifischen Grundfreiheiten kann allerdings weder zur Entstehung eines eigenen Rechtsgebiets noch zur Entstehung eines Lebensmittel-Binnenmarkts in den Fällen führen, in denen die Mitgliedstaaten sich erfolgreich auf Gründe des Gesundheits- oder Verbraucherschutzes berufen: Insoweit ist die Harmonisierung durch den EU-Gesetzgeber gefordert. Die zentrale Kompetenznorm für das Europäische Lebensmittelrecht ist konsequent die Binnenmarkt-Harmonisierungskompetenz des Art. 114 AEUV (bisher Art. 95 EGV): Denn unterschiedliche Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich können zum einen zu Hindernissen für den freien Warenverkehr im Binnenmarkt werden, zum anderen können sie wettbewerbsverzerrende Wirkungen entfalten – beide Gesichtspunkte eröffnen dem EU-Gesetzgeber diese Rechtsgrundlage.103 Art. 114 Abs. 3 AEUV stellt dabei klar, dass ein Tätigwerden des EU-Gesetzgebers auf dieser Basis nicht allein der Öffnung der Märkte dient, sondern zugleich einem „hohen Schutzniveau“ in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Ver-

99 Dazu EuGH 12.12.2006 – C-380/03, Slg 2006, I-11573, Rn. 149 – Deutschland/Parlament und Rat – Tabakwerbung II; im Fall der Mindestharmonisierung bleibt dem Mitgliedstaat die Möglichkeit, weitergehende Anforderungen vorzusehen, die in Bezug auf eingeführte Waren allerdings weiter an Art. 34 AEUV zu messen sind, s. dazu bereits Fn. 87. 100 BGH 15.7.2010 – I ZR 99/09 ZLR 2011, 212 m. krit. Anm. Rathke; kritisch auch Kraft DLR 2011, 126 ff.; zurückhaltender Stallberg LMuR 2011, 1 (4); im Anschluss an den BGH zB VG Magdeburg, 26.3.2012 – 1 A 164/10, LMuR 2012, 120; offenlassend BVerwG 1.3.2012 – 3 C 15.11 ZLR 2012, 505, 516 mAnm Sachs; zur weiteren Rezeption in der Rspr. s. Guttau ZLR 2015, 780 ff. 101 Dass die betroffene Zulassungspflicht für Lebensmittelzusatzstoffe gem. §§ 2 Abs. 3, 6 Abs. 1, 68 LFGB, die dem Antragsteller die Beweislast für die Unschädlichkeit aufbürdet, den aus Art. 34 AEUV abgeleiteten Verfahrensanforderungen nicht entsprach, war dabei folgerichtig; jedoch gelten diese Anforderungen für sich genommen nur für Lebensmittel, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt wurden. 102 EuGH 19.1.2017 Es. – C-282/15, EuZW 2017, 268 mAnm Riemer – Queisser Pharma = ZLR 2017, 209 mAnm Gundel auf Vorlage von VG Braunschweig 27.5.2015 – 5 A 67/13, LMuR 2015, 142; parallel dazu hat BVerfG 15.12.2016 – 2 BvR 221/11 ZLR 2017, 472 mAnm Streinz das Urteil des BGH (Fn. 100) wegen Verstoßes gegen die Vorlagepflicht aufgehoben. 103 Zur Reichweite der Binnenmarkt-Kompetenz s. insbes. EuGH 12.12.2006 – C-380/03, Slg 2006, I-11573 – Deutschland/Parlament und Rat – Tabakwerbung II = EuZW 2007, 46 mAnm Stein = EuR 2007, 230 mAnm Gundel = ZLR 2007, 337 mAnm Schroeder/Lechner.

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braucherschutz verpflichtet ist.104 Nach zwischenzeitlich ständiger Rechtsprechung kann die Binnenmarktkompetenz bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen auch dann genutzt werden, wenn die Regelung im Schwerpunkt durch den Schutz der Gesundheit motiviert ist – was zB bei Regelungen im Bereich der Lebensmittelsicherheit regelmäßig anzunehmen ist (Zu den zahlreichen sekundärrechtlichen Genehmigungsvorbehalten aus jüngerer Zeit → Rn. 63 ff. - „Verbotsprinzip“). Dabei kann die Binnenmarkt-Harmonisierung im Einzelfall auch das Verbot von Produk- 25 ten beinhalten;105 in Teilen der deutschen Literatur wird dies – wohl unter dem Eindruck der kontroversen Diskussion um das Tabakwerbeverbot – zwar verneint,106 doch wird dabei nicht berücksichtigt, dass ein EU-weites Verbot zwar tatsächlich den Markt für ein bestimmtes Produkt „schließt“ und damit seine Absatzbedingungen tatsächlich evident verschlechtert, zugleich aber – im Vergleich zum Vorzustand divergierender nationaler Regelungen – dennoch eine Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarktes bewirkt: Abzustellen ist also nicht auf eine Verbesserung der Marktchancen für ein bestimmtes Produkt, sondern auf die Funktionsverbesserung des Binnenmarktes insgesamt.107 Auch das Subsidiaritätsprinzip ist auf die Ausübung der Kompetenz aus Art. 114 AEUV zwar anwendbar; wenn die speziellen Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt sind, werden sich aber auch aus diesem Grundsatz regelmäßig keine Hindernisse mehr für die Kompetenzausübung ergeben.108 Neben dieser seit langem genutzten Rechtsgrundlage für die Schaffung des Lebensmittel- 26 Binnenmarkts steht die ebenfalls einschlägige Kompetenznorm für die Agrarpolitik, die sich heute in Art. 43 Abs. 2 AEUV findet (zuvor Art. 37 EGV): Sie ist nach der EuGHRechtsprechung die speziellere und damit allein einschlägige Rechtsgrundlage „für jede Regelung über die Erzeugung und den Verkauf der im Anhang II des EG-Vertrages [nun Anhang I des AEUV] genannten landwirtschaftlichen Erzeugnisse“, die zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik beiträgt;109 die Erfassung von nicht zu den landwirtschaftlichen Erzeugnissen gehörenden Lebensmitteln ist dabei unschädlich, 104 Vor allem in lebensmittelrechtlichen Beiträgen ist die Vorstellung verbreitet, dass der Binnenmarkt-Gesetzgeber nur auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in diesen Bereichen tätig werden dürfe, s. Natterer in Schroeder (Hrsg.) Europarecht als Mehrebenensystem, 2008, S. 159, 162 f.; Schroeder DVBl. 2002, 213 ff.; ders. ZÖR 68 (2013), 225 ff.; ders./Kostenzer EuR 2013, 389 ff.; in der Rechtsprechung haben diese Anforderungen an den Gesetzgeber bisher aber, soweit ersichtlich, kein Echo gefunden. 105 S. EuGH 14.12.2004 – C-210/03, Slg 2004, I-11893, Rn. 34 – Swedish Match ua = ZLR 2005, 381 mAnm Flury; EuGH 14.12.2004 – C-434/02, Slg 2004, I-11825, Rn. 35 – Arnold André = ZLR 2005, 368 mAnm Flury (EU-weites Verbot von Snus); dazu auch Streinz ZLR 2005, 427 ff. nachdrücklich EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 33 – Alliance for Natural Health ua: „Je nach den Umständen können diese geeigneten Maßnahmen darin bestehen, dass alle Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die Vermarktung des oder der betreffenden Erzeugnisse zu genehmigen, an eine solche Verpflichtung zur Genehmigung bestimmte Bedingungen zu knüpfen oder sogar die Vermarktung eines oder einiger Erzeugnisse vorläufig oder endgültig zu verbieten.“ (Hervorhebung durch Verf.); zuletzt EuGH 4.5.2016 – C-547/14, ZLR 2016, 643 mAnm Dalby, Rn. 116 ff. – Philip Morris Brands ua (Verbot bestimmter aromatisierter Tabakerzeugnisse). 106 S. zB Kahl in FS Spellenberg, S. 697, 709 f. (allerdings ohne Erwähnung der abweichenden Rspr.); Oppermann/Classen/Nettesheim/Classen EuR § 32 Rn. 9. 107 Prägnant dazu Weatherill ERCL 2006, 90 (107): „There is nothing illogical nor constitutionally problematic in advancing the free movement of goods (generally) by prohibiting the marketing of a particular product or group of products. Unsafe goods may be outlawed under Article 95.“ Zur Frage der Produktverbote durch Binnenmarkt-Sekundärrecht s. auch Wyatt in Dougan/Currie (eds.), 50 Years of the European Treaties, 2009, S. 93, 98 ff. 108 S. EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 103 ff. – Alliance for Natural Health ua = ZLR 2005, 591 mAnm Schroeter. 109 So EuGH 4.4.2000 – C-269/97, Slg 2000, I-2257, Rn. 47 – Kommission/Rat – im Anschluss an EuGH 5.5.1998 – C-180/96, Slg 1998, I-2265, Rn. 133 – Großbritannien/Kommission = EuZW 1998, 431.

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wenn der betroffene Rechtsakt jedenfalls im wesentlichen auf landwirtschaftliche Erzeugnisse Anwendung findet.110 Nachdem Rindfleisch zu diesen Erzeugnissen gehört, wurden insbesondere die Maßnahmen zur BSE-Bekämpfung auf diese Rechtsgrundlage gestützt111 – was zur Folge hatte, dass diese Rechtsakte entsprechend der damals geltenden Fassung der Agrarkompetenz allein durch den Rat nach bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments erlassen wurden. 27 Diese vor allem aus der Sicht des Europäischen Parlaments unbefriedigende Kompetenzlage hat sich dann durch die Spezialregelung des heutigen Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV (Art. 152 Abs. 4 EGV) geändert, die im Gefolge der BSE-Krise durch den Vertrag von Amsterdam eingefügt wurde: Sie deckt die Maßnahmen in den Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz ab, „die unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zum Ziel haben“ und sieht hierfür das Verfahren der Mitentscheidung – das heutige ordentliche Gesetzgebungsverfahren – vor. Diese Rechtsgrundlage verdrängt damit als speziellere Norm die bisher genutzte Agrarkompetenz; auf ihrer Grundlage sind seitdem die Rechtsakte zur BSE-Bekämpfung,112 aber auch zum Lebensmittelhygienerecht ergangen, wobei allerdings zumeist auch weitere Rechtsgrundlagen mit herangezogen wurden.113 28 Für spezifisch auf den Lebensmittelhandel mit Drittstaaten ausgerichtete Rechtsakte ist schließlich die Außenhandelskompetenz (Art. 207 AEUV, zuvor Art. 133 EGV) einschlägig.114 In manchen Fällen – etwa beim Erlass der LebensmittelbasisVO115 – wurden auch alle vier Rechtsgrundlagen kombiniert genutzt. Diese Mehrfachabstützung wirft Probleme auf, soweit die verschiedenen Rechtsgrundlagen unterschiedliche Rechtssetzungsverfahren vorsehen; im Ergebnis setzen sich hier dann die Voraussetzungen der „anspruchsvollsten“ Rechtsgrundlage durch, so dass eine fehlerhafte zusätzliche Heranziehung schwächerer 110 So EuGH 2.7.2009 – C-343/07, Slg 2009, I-5491, Rn. 50 f. – Bavaria NV ua – im Anschluss an EuGH 5.5.1998 – C-180/96, Slg 1998, I-2265, Rn. 134 – Großbritannien/Kommission; EuGH 16.11.1989 – C-11/88, Slg 1989, 3799, Rn. 15 – Kommission/Rat. 111 S. insbes. EuGH 4.4.2000 – C-269/97, Slg 2000, I-2257 – Kommission/Rat – zur Rechtsgrundlage der ersten RindfleischetikettierungsVO, die die Kommission auf Art. 95 und 37 EGV stützen wollte, während der Rat die Regelung ausschließlich nach Art. 37 EGV beschlossen hatte und hierin durch den EuGH bestätigt wurde. Auch Regelungen zu Lebensmittelkontrollen wurden allein auf diese Grundlage gestützt, s. zB die RL 97/78/EG des Rates v. 18.12.1997 zur Festlegung von Grundregeln für die Veterinärkontrollen von aus Drittländern in die Gemeinschaft eingeführten Erzeugnissen, ABl. EG 1998 L 24/9. 112 S. insbes. die allein auf Art. 152 Abs. 4 EGV gestützte VO (EG) Nr. 999/2001 des EP und des Rates v. 22.5.2001 mit Vorschriften zur Verhütung, Kontrolle und Tilgung bestimmter transmissibler spongioformer Enzephalopathien, ABl. EG 2001 L 147/1; weiter zB die auf Art. 37 und 152 EGV gestützte VO (EG) Nr. 1760/2000 des EP und des Rates zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern und über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie zur Aufhebung der VO Nr. 820/97, ABl. EG 2000 L 204/1. 113 Die begrenzte Reichweite des Art. 168 Abs. 4 AEUV ergibt sich aus dem Erfordernis eines „unmittelbaren“ Bezugs zum Gesundheitsschutz, s. dazu am Beispiel der Mischfuttermittel-RL (RL 2002/2/EG, Fn. 175) Gundel EWS 2006, 65 (70). 114 S. zB den auf Art. 133 EGV gestützten Abschluss des Abkommens EG-USA über den Handel mit Wein, ABl. EU 2006 L 87/1 (dazu Romano Rec. Dalloz 2006, 906 ff.), oder des Abkommens EG-Ungarn über den gegenseitigen Schutz und die gegenseitige Kontrolle von Weinnamen, ABl. EG 1993 L 337/93, dazu EuGH 12.5.2005 – C-347/03, Slg 2005, I-3785 – Regione autonoma Friuli-Venezia Giulia; weiter die VO (EG) Nr. 733/2008 des Rates v. 15.7.2008 über die Einfuhrbedingungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl, ABl. EU 2008 L 201/1. 115 VO (EG) Nr. 178/2002 des EP und des Rates v. 28.1.2002 „zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit“, ABl. EG 2002 L 31/1; s. weiter zB den ebenfalls auf die Art. 37, 95, 133 und 152 Abs. 4 EGV gestützten Beschluss des Rates v. 17.11.2003 über den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Codex-Alimentarius-Kommission, ABl. EU 2003 L 309/14.

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Rechtsgrundlagen sich auf die Gültigkeit des Rechtsakts nicht auswirkt.116 Auch nationale Abweichungen sind nur im Anwendungsbereich des Art. 114 AEUV vorgesehen (→ Rn. 21);117 ein „opting out“ des Mitgliedstaats ist dann nur in Bezug auf die Bestimmungen eines Rechtsakts möglich, die sich entweder schon bei seinem Erlass118 oder zumindest nachträglich ausschließlich dieser Rechtsgrundlage zuordnen lassen.119 Alle bisher genutzten Rechtsgrundlagen120 haben mit dem Vertrag von Lissabon weitge- 29 hend unverändert ihren Platz im AEUV gefunden: Aus Art. 95 EGV wurde Art. 114 AEUV, Art. 37 EGV wurde zu Art. 43 AEUV, selbst die Sonderregelung des Art. 152 EGV bleibt als Art. 168 AEUV erhalten, obwohl der wesentliche Unterschied zum bisherigen Art. 37 EGV entfallen ist: Mit der Bestimmung war für einen Teilbereich dem Drängen des Europäischen Parlaments auf stärkere Beteiligung im Bereich der Agrarpolitik nachgegeben worden, denn Art. 152 EGV sah anders als Art. 37 EGV das Verfahren der Mitentscheidung vor. Mit dem Vertrag von Lissabon wird auch im Bereich der Agrarpolitik das in den meisten Bereichen maßgebliche ordentliche Gesetzgebungsverfahren anwendbar.121 2. Die Phasen der Harmonisierung a) Die produktbezogen-sektorale Harmonisierung der ersten Phase Die Harmonisierung des EU-Lebensmittelrechts setzt bereits in den 1970er-Jahren ein;122 30 neben den schon damals erarbeiteten horizontalen, produktübergreifend geltenden Richtlinien123 (dazu noch → Rn. 54 ff.), finden sich in dieser ersten Phase auch zahlreiche Rege116 So insbes. EuGH 10.12.2002 – C-491/01, Slg 2002, I-11453, Rn. 93 ff. – BAT = EuR 2003, 80 mAnm Gundel für den Fall einer unzutreffenden zusätzlichen Abstützung auf die Außenhandels- neben der Binnenmarktkompetenz. 117 Gegenüber den auf Art. 152 Abs. 4 EGV gestützten BSE-Regelungen war damit ein opting out unzulässig, so zu Recht Schmidt am Busch, S. 115. 118 Der EU-Gesetzgeber trägt diesem Problem in jüngerer Zeit tatsächlich durch eine solche explizite Zuordnung Rechnung, s. zB die RL 2009/28/EG des EP und des Rates v. 23.4.2009 „zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG“, ABl. EU 2009 L 140/16, die im Wesentlichen auf die Umweltkompetenz, in Bezug auf einzelne, in der Richtlinie aufgeführte Bestimmungen aber auf die Binnenmarktkompetenz gestützt wurde. Zuvor ebenso die VO (EG) Nr. 842/2006 des EP und des Rates v. 17.5.2006 „über bestimmte fluorierte Treibhausgase“, ABl. EU 2006 L 161/1; RL 2006/66/EG des EP und des Rates v. 6.9.2006 „über Batterien und Akkumulatoren sowie Altbatterien und Altakkumulatoren und zur Aufhebung der RL 91/157/EWG“, ABl. EU 2006 L 266/1; kritisch dazu Höhler/ Lafuente ZUR 2007, 71 ff.; s. weiter die VO (EG) Nr. 1102/2008 des EP und des Rates v. 22.10.2008 „über das Verbot der Ausfuhr von metallischem Quecksilber und bestimmten Quecksilberverbindungen und –gemischen und die sichere Lagerung von metallischem Quecksilber“, ABl. EU 2008 L 304/75 (Umweltkompetenz, für bestimmte Regelungen Außenhandelskompetenz). 119 Dazu Gundel JuS 1999, 1171 (1173); Ludwigs ZG 2010, 222 (229); für eine Anwendbarkeit auf den gesamten Rechtsakt dagegen Frenz/Kane NuR 2010, 464 (468 f.); Heselhaus NVwZ 1999, 1190 (1192) – jeweils zum Parallelproblem des Art. 193 AEUV. 120 Zu den Rechtsgrundlagen des EU-Lebensmittelrechts s. im Überblick Schulze/Zuleeg/Kadelbach/ Streinz EuR § 24 Rn. 26 ff. 121 S. dazu Bianchi RTDE 2004, 71 (87 ff.). 122 S. zu dieser ersten Phase der Harmonisierung Eckert ZLR 1984, 1 ff. (113 ff.). 123 S. die RL 76/893/EWG des Rates v. 23.11.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Materialen und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, ABl. EG 1976 L 340/19; RL 76/895/EWG des Rates v. 23.11.1976 über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in Obst und Gemüse, ABl. 1976 L 340/26 (zu dieser Maßnahmenwelle des Jahres 1976 s. Eckert ZLR 1977, 103 ff.); weiter die erste Fassung der RL über diätetische Lebensmittel, RL 77/94/EWG des Rates v. 22.12.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, ABl. EG 1977 L 26/55, und die erste Fassung der Kennzeichnungs-Richtlinie, RL 79/112/EWG des Rates v. 18.12.1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür, ABl. EG 1979 L 33/1.

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§ 8 Lebensmittelrecht lungen zur produktbezogen-sektoralen („vertikalen“)124 Harmonisierung.125 Vielfach konnten dabei aber im Detail nur Formelkompromisse oder Regelungen erreicht werden, die einer „gespaltenen Harmonisierung“ gleichkamen,126 weil für verschiedene Mitgliedstaaten unterschiedliche Standards zugelassen wurden: Beispiele, die die Rechtsprechung beschäftigt haben, sind die Zulassung besonderer Füllmengen in einzelnen Mitgliedstaaten durch die RL 75/106/EWG,127 oder der „Schokoladenkrieg“ um die Zulässigkeit der Beifügung von Pflanzenfett in Schokolade: Die RL 73/241/EWG128 hatte diesen Punkt offengelassen und einer späteren Regelung vorbehalten; die in der Folge entstehende Spaltung zwischen den Mitgliedstaaten129 konnte erst zwei Jahrzehnte später – nachdem schon Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstößen gegen die Warenverkehrsfreiheit eingeleitet waren130 – durch eine Neufassung der Richtlinie bereinigt werden.131 Selbst diese Regelung konnte den Konflikt nicht endgültig beilegen, weil der Streit nun auf der Ebene der zulässigen Bezeichnungen weitergeführt wurde.132 b) Die „Neue Strategie“ und ihre Umsetzung im Lebensmittelrecht

31 Der Strategiewechsel in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre spiegelt die allgemeine Neuausrichtung der Binnenmarkt-Harmonisierung in dieser Zeit wieder: Auf eine produktbezogene Harmonisierung sollte nun verzichtet werden,133 stattdessen sollte insoweit der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nationaler Produktstandards nach dem Her-

124 Die Bezeichnung beruht darauf, dass hier ein bestimmtes Lebensmittel von seiner Produktion bis zur Vermarktung geregelt wird. 125 Für Bsp. s. die RL 74/409/EWG des Rates v. 24.7.1974 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend Honig, ABl. EG 1974 L 221/10 (abgelöst durch RL 2001/110/EG des Rates, ABl. EG 2002 L 10/47); RL 77/436/EWG des Rates v. 27.6.1977 über Kaffee-Extrakte und Zichorien-Extrakte, ABl. EG 1977 L 172/20; RL 79/693/EWG des Rates v. 24.7.1979 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Konfitüren, Gelees, Marmeladen und Maronencreme, ABl. EG 1979 L 205/5 (abgelöst durch die RL 2001/113/EG des Rates v. 20.12.2001, ABl. EG L 2002 L 10/67); zur Schokoladen-Richtlinie (RL 73/241/EWG) s. sogleich Fn. 128. 126 S. auch Eckert ZLR 1984, 113 (120 f.); im Hintergrund stand das auf der Grundlage des damaligen Art. 100 EWGV geltende Einstimmigkeitserfordernis. 127 RL 75/106/EWG des Rates v. 19.12.1974 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Abfüllung bestimmter Flüssigkeiten nach Volumen in Fertigpackungen, ABl. EG 1975 L 42/1; dazu EuGH 4.10.2007 – C-457/05, Slg 2007, I-8075 – Schutzverband der Spirituosenindustrie/Diageo Deutschland = EuR 2008, 242 mAnm Gundel = EuZW 2007, 730 mAnm Leible = ZLR 2007, 719 mAnm Rabe. 128 Art. 14 Abs. 2 lit. a S. 2 der RL 73/241/EWG des Rates v. 24.7.1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für zur Ernährung bestimmte Kakao- und Schokoladeerzeugnisse, ABl. EG 1973 L 228/23. 129 Zu dem daraus resultierenden „Schokoladenkrieg“ zwischen den (nach damaligem Stand) sieben Mitgliedstaaten, die den Zusatz zuließen, und den acht Verbotsstaaten s. ausführlich Fournier/Richard RMUE 3/1997, 119 ff.; FAZ Nr. 247 v. 24.10.1997, S. 20; rückblickend Schrauwen in Obradovic/ Lavranos (eds.), Interface between EU Law and National Law, 2007, S. 104, 114 ff. 130 EuGH 16.1.2003 – C-12/00, Slg 2003, I-459 – Kommission/Spanien = RIDPC 2003, 1515 mAnm Spagnuolo; EuGH 16.1.2003 – C-14/00, Slg 2003, I-513 – Kommission/Italien; dazu Klaus DLR 2003, 365 ff. 131 RL 2000/36/EG des EP und des Rates v. 23.6.2000 über Kakao- und Schokoladeerzeugnisse für die menschliche Ernährung, ABl. EG 2000 L 197/19; erlaubt ist danach nun ein Zusatz von 5 % Pflanzenfett. 132 Zu dieser Neuauflage des Schokoladenstreits s. EuGH 25.11.2010 – C-47/09, Slg 2010, I-12083 – Kommission/Italien – „cioccolato puro“ = ZLR 2011, 77 mAnm Gorny; dazu auch Capelli/Klaus EFFL 2011, 88 ff. 133 Kritisch zu dem Verzicht auf diese „Rezepturgesetzgebung“ Brouwer 25 CMLRev. (1988), 237 ff.; bereits vorhandene Produktregelungen wurden allerdings auch in der Folge weitergeführt, s. zur Schokoladen-Richtlinie Fn. 128; weiter zB die RL 1999/4/EG des EP und des Rates v. 22.2.1999 über Kaffeeund Zichorien-Extrakte, ABl. EG L 66/26 (Ersatz der RL 77/436/EWG, s. Fn. 125).

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B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts kunftslandsprinzip gelten (bereits → Rn. 12),134 während die weitere Harmonisierung sich auf übergreifende Fragen konzentrieren sollte (horizontale Harmonisierung).135 Beispiele aus dieser Phase bilden etwa die Zusatzstoff-Rahmen-RL (RL 89/107/EWG),136 die Neufassung der Diät-RL (RL 89/398/EWG),137 die Richtlinie über tiefgefrorene Lebensmittel (RL 89/108/EWG)138 oder die NährwertkennzeichnungsRL (RL 90/496/EWG),139 weiter die 1989 erlassene erste RL über die Lebensmittelaufsicht (RL 89/397/EWG)140 (s. noch → Rn. 87, 92 ff.) und die im Jahr 1993 ergangene erste allgemeine LebensmittelhygieneRL141 (näher zu diesem Bereich → Rn. 75 ff.). Dass es auch bei dieser abstrakter gehaltenen Harmonisierung miteinander unvereinbare Positionen der Mitgliedstaaten gab und Formelkompromisse teils unvermeidbar waren, zeigt der langjährige Streit um die maßgebliche Methode der Feststellung des (zur Verkehrsuntauglichkeit führenden) Geschlechtsgeruchs männlicher Schweine: Die RL 64/433/EWG in der durch die RL 91/497/EWG geänderten Fassung142 verwies hierfür – nachdem eine Einigung auf einen einheitlichen Standard nicht möglich war – auf das Herkunftslandsprinzip; die Anwendung durch die deutschen Behörden vertraute dennoch bei der Kontrolle von Importen allein auf die eigenen Standards, was der Bundesrepublik nach einer Verurteilung im Vertragsverletzungsverfahren143 auch erhebliche Staatshaftungsansprüche von Herstellern aus anderen Mitgliedstaaten eingetragen hat.144 Schließlich bereitete die Kommission zu Beginn der 1990er Jahre die Kodifizierung eines allgemeinen Teils des europäischen Lebensmittelrechts vor;145 doch wurde dieses Vorhaben durch den Ausbruch der BSE-Krise überlagert und in der Folge erst Jahre später und in stark veränderter Form mit dem Erlass der LebensmittelbasisVO verwirklicht. 134 S. zum damaligen Stand auch Streinz ZLR 1993, 31 ff. 135 S. dazu speziell zum Lebensmittelsektor die Mitteilung „Vollendung des Binnenmarktes: Das gemeinschaftliche Lebensmittelrecht“, KOM(85) 603 endg. v. 8.11.1985, und die Mitteilung „über den freien Verkehr mit Lebensmitteln innerhalb der Gemeinschaft“, ABl. EG 1989 C 271/1. 136 RL 89/107/EWG des Rates v. 21.12.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen, ABl. EG 1989 L 40/27; aufgehoben durch die VO (EG) Nr. 1333/2008. 137 RL 89/398/EWG des Rates v. 3.5.1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, ABl. EG 1989 L 186/27 (zuvor schon RL 77/94/EWG des Rates v. 22.12.1976, Fn. 123); abgelöst durch die gleichnamige RL 2009/39/EG des EP und des Rates v. 6.5.2009, ABl. EU 2009 L 124/21 (Fn. 161). 138 RL 89/108/EWG des Rates v. 21.12.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über tiefgefrorene Lerbensmittel, ABl. EG 1989 L 40/34. 139 RL 90/496/EWG des Rates v. 24.9.1990 über die Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln, ABl. EG 1990 L 276/40; abgelöst durch die VO (EU) Nr. 1169/2011. 140 RL 89/397/EWG des Rates v. 14.6.1989 über die amtliche Lebensmittelüberwachung, ABl. EG 1989 L 186/23; zu ihr Gorny ZLR 1990, 115 ff.; aufgehoben durch die VO (EG) Nr. 882/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 „über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittelund Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz“, ABl. EU 2004 L 165/1 (KontrollVO). 141 RL 93/43/EWG des Rates v. 14.6.1993 über Lebensmittelhygiene, ABl. EG 1993 L 175/1, abgelöst durch die VO (EG) Nr. 852/2004. 142 Art. 6 Abs. 1 lit. b iii der RL 64/433/EWG des Rates v. 26.6.1964 über die gesundheitlichen Bedingungen für die Gewinnung und das Inverkehrbringen von frischem Fleisch in der Fassung der RL 91/497/EWG des Rates v. 29.7.1991 zur Änderung und Kodifizierung der RL 64/433/EWG (...), ABl. EG 1991 L 268/69. 143 EuGH 12.11.1998 – C-102/96, Slg 1998, I-6871 – Kommission/Deutschland = ZLR 1998, 648. 144 S. EuGH 24.3.2009 – C-445/06, Slg 2009, I-2119 – Danske Slagterier/Bundesrepublik Deutschland = ZLR 2009, 438 mAnm Gundel = EWS 2009, 176 mAnm T. Würtenberger auf Vorlage des BGH (dazu auch Simon/Rigaux Europe 5/2009, 5 ff.) im Anschluss daran BGH 4.6.2009 – III ZR 144/05 ZLR 2009, 464; schließlich hat die Abschlussentscheidung BGH 12.12.1013 – III ZR 102/12 ZLR 2014, mAnm Gundel die Klage jedoch abgewiesen. 145 Zu diesen Ansätzen s. im Rückblick Streinz ZLR 1998, 145 (146 f.); zum damaligen Diskussionsstand auch Eckert ZLR 1992, 305 ff.

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§ 8 Lebensmittelrecht c) Die Zäsur durch die BSE-Krise und die folgende Neuordnung

32 Zu einer Zäsur, deren Auswirkungen sich selbst im Primärrecht niedergeschlagen haben (zur Schaffung der speziellen Rechtsgrundlage des Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV (Art. 152 Abs. 4 EGV) → Rn. 27), haben die BSE-Krise146 und der spätere Skandal um die Belastung belgischer Lebensmittel durch dioxinverseuchtes Mischfutter147 geführt. Im Gefolge dieser Krisen, deren Handhabung durch die EU allgemein als unzureichend empfunden wurde,148 wurde das EU-Lebensmittelrecht zum Risikoverwaltungsrecht umgestaltet. Eine wichtige Zwischenstation dieses Prozesses bildet das von der Kommission im Jahr 2000 vorgelegte Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit;149 zu den dort vorgesehenen Maßnahmen gehörte auch die Schaffung eines „allgemeinen Teils“ des europäischen Lebensmittelrechts, womit die bereits in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre verfolgte Idee wiederaufgenommen wurde. Das Ergebnis war im Jahr 2002 der Erlass der LebensmittelbasisVO, deren Bestimmungen in mehreren Schritten bis zum 1.1.2007 Geltung erlangten;150 die Verordnung betont den Vorsorgegrundsatz (Art. 7 BasisVO), definiert den damit verbundenen Vorgang der Riskoanalyse mit der grundsätzlichen Trennung zwischen Risikobewertung und Risikomanagement (Art. 6 BasisVO)151, – und normiert auch besondere Instrumente der Krisenvorsorge wie den Grundsatz der Rückverfolgbarkeit (Art. 18 BasisVO), der im Krisenfall die raschere Ermittlung der unmittelbaren Gefahrenquelle ermöglichen soll (dazu mwN → Rn. 60). Weiter enthält die BasisVO die Grundlagen der durch sie gegründeten Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA, Art. 22–49 BasisVO; dazu ausführlich → Rn. 48 ff.) und des EU-Schnellwarnsystems für unsichere Lebensmittel (RASFF, Art. 50–52 BasisVO; dazu → Rn. 88 ff.). 33 In der Folgezeit ist eine starke Zunahme der Regulierung auf EU-Ebene mit der Formulierung von Normierungsansprüchen auf EU-Ebene festzustellen, mit denen der Gesetzgeber teils auch auf neue technologische Entwicklungen reagierte; kennzeichnend hierfür sind 146 Zu den insoweit ergriffenen Maßnahmen s. Petit Europe 10/2001, S. 5 ff.; Vincent 10 EPL (2004), 499 ff.; monographisch Baule, BSE-Bekämpfung als Problem des Europarechts, 2003; Mayer, Gesundheitsschutz in der Europäischen Gemeinschaft am Beispiel von BSE, 2004. 147 S. dazu die Kommissions-Entscheidung 99/368/EG v. 4.6.1999 „über Schutzmaßnahmen in bezug auf die Dioxinkontamination von für die menschliche Ernährung oder die Tierfütterung bestimmten Erzeugnissen, ABl. EG 1999 L 310/62; s. auch Schmitter JTDE 2000, 97 (101 f.); de Grove-Valdeyron RevMC 1999, 700 ff. 148 Entschiedene Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung von BSE wurden erst ab 1996 ergriffen, obwohl Verdachtsmomente schon seit Anfang der 1990er-Jahre vorlagen; ein vom Europäischen Parlament eingesetzter Untersuchungsausschuss hat hier Versäumnisse der Kommission festgehalten; zu seinen Ergebnissen s. die Parlamentsentschließung v. 19.2.1997, ABl. EG 1997 C 85/61; zu diesem Ausschuss Beckedorf EuR 1997, 237 ff.; Blanquet RevMC 1998, 457 ff. Das EuG hat Haftungsansprüche gegen die EU schließlich allerdings wegen fehlenden Kausalbezugs verneint, s. für Klagen der Angehörigen von Opfern der Creutzfeld-Jakob-Krankheit EuG 13.12.2006 – T-138/03, Slg 2006, II-4923 – R. ua/Rat und Kommission, bestätigt durch EuGH 4.10.2007 – Rs. 100/07 P, Slg 2007, I-136* (abgek. Veröff.); für Klagen von Tierzüchtern aus zunächst nicht betroffenen Mitgliedstaaten EuG 13.12.2006 – T-304/01, Slg 2006, II-4857 – Pérez ua/Rat und Kommission; zu beiden Entscheidungen s. Meisse Europe 2/2007, 13 f.; zu den Haftungsfragen auch Wakefield 27 ELRev. (2002), 426 ff. 149 KOM(1999) 719 endg. v. 12.1.2000 (der im Anhang enthaltene Aktionsplan Lebensmittelsicherheit führt 84 „vorrangige Maßnahmen“ auf); dazu zB Horst/Mrohs ZLR 2000, 125 ff.; vorangegangen war das Grünbuch „Allgemeine Grundsätze des Lebensmittelrechts in der Europäischen Union”, KOM(97) 176 endg. v. 3.4.1997; zu ihm Streinz ZLR 1998, 145 ff.; Semail EFLR 1997, 353 ff. 150 Die Art. 11–12 und 14–20 galten ab 1.1.2005 (Art. 65 BasisVO), die Art. 4–10 erst ab 1.1.2007 (Art. 4 Abs. 3 BasisVO). 151 Institutionell schlägt sich dies in der BasisVO mit der Ausgliederung der Risikobewertung aus der Kommission und der Zuweisung an die neu geschaffene EU-Lebensmittelbehörde EFSA nieder, s. dazu → Rn. 48 ff.; die Schlussfolgerungen aus der Bewertung und ihre administrative Umsetzung durch Risikomanagement und Risikokommunikation bleiben dagegen auf EU-Ebene Aufgabe der Kommission, s. noch → Rn. 84 ff.

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der Erlass der Novel Food-VO aus dem Jahr 1997152 (dazu noch → Rn. 63 ff.), die in ihrer ersten Fassung auch die Zulassung von Lebensmitteln aus gentechnisch veränderten Organismen regelte, oder der Richtlinie über mit ionisierenden Strahlen behandelte Lebensmittel.153 Ihr folgte eine Reihe weiterer Harmonisierungsregelungen zur Produktzulassung, mit denen zentralisierte Zulassungsvorbehalte geschaffen wurden (dazu → Rn. 69 ff.)154 Die Verantwortung für die notwendigen Durchführungsmaßnahmen insbes. zur Zulassung von Stoffen und Produkten obliegt in großem Umfang der Kommission, was der EuGH auch grundsätzlich gebilligt hat;155 allerdings bedeutete die Abarbeitung dieses Arbeitsprogramms für die Kommission auch eine Herausforderung, die nicht immer reibungslos bewältigt werden konnte.156 Zugleich erfolgte in dieser Zeit die Überarbeitung der Regelungen zur Lebensmittelaufsicht, die eine EU-weite Systematisierung der – weiter durch die Mitgliedstaaten ausgeübten – Kontrollen bewirkt (→ Rn. 84 ff.). Deregulierungsansätze sind demgegenüber nur vereinzelt anzutreffen; zu nennen sind et- 34 wa die Abschaffung der verbindlichen Vorgabe bestimmter Füllmengen für einzelne Produkte157 und ihre Ersetzung durch die Verpflichtung zur Angabe des Preises je Einheit oder die Aufhebung der Normvorgaben für bestimmte Agrarprodukte;158 auch solche bescheidenen Maßnahmen zur Reduzierung formaler Vorgaben, die der populären Kritik an europäischer Regulierungswut159 Rechnung zu tragen versuchen, sind von den Marktbeteiligten aber durchaus kritisch aufgenommen worden.160 Auch der jüngste in diese Richtung gehende Schritt der Straffung des Systems der bisherigen Diät-RL (RL 2009/39/ EG)161 war der Kritik als unnötige Infragestellung einer bewährten Regulierung ausge152 VO (EG) Nr. 258/97 des EP und des Rates v. 27.1.1997 „über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten“, ABl. EG 1997 L 268/1. 153 RL 1999/2/EG des EP und des Rates v. 22.2.1999 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über mit ionisierenden Strahlen behandelte Lebensmittel und Lebensmittelbestandteile, ABl. EG 1999 L 66/16; dazu Dederer ZLR 1999, 437 ff. (695 ff.). 154 S. auch Schmidt am Busch, S. 139 ff. 155 S. EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451 – Alliance for Natural Health ua = ZLR 2005, 591 mAnm Schroeter; EuGH 6.12.2005 – C-66/04, Slg 2005, I-10553 – Großbritannien/Rat und Parlament = JZ 2006, 358 mAnm Ohler. 156 S. zum Beispiel der Nahrungsergänzungsmittel Rn. 2 der Schlussanträge von Generalanwalt Jääskinen v. 17.12.2009 zu EuGH 29.4.2010 – C-446/08, Slg 2010, I-3973 – Solgar Vitamin’s. France: Die vom Gesetzgeber angestrebte vollständige Harmonisierung „bleibt indessen in der Praxis unvollendet, da die Kommission die erforderlichen Durchführungsvorschriften nicht erlassen hat. Diese Situation führt zu Rechtsunsicherheit für die betroffenen Unternehmen und schafft Schwierigkeiten für die zuständigen Behörden bei Anwendung und Umsetzung.“ Die betroffenen Durchführungsvorschriften fehlen in diesem Fall bis heute, → Rn. 69. 157 RL 2007/45/EG des EP und des Rates v. 5.9.2007 zur Festlegung von Nennfüllmengen für Erzeugnisse in Fertigverpackungen, zur Aufhebung der Richtlinien 75/106/EWG und 80/232/EWG des Rates und zur Änderung der Richtlinie 76/211/EWG des Rates, ABl. EU 2007 L 247/17. 158 S. die Aufhebung zahlreicher Qualitätsnormen, ua der VO (EWG) Nr. 1677/88 der Kommission v. 15.6.1988 zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken, ABl. EG 1988 L 150/21, durch die VO (EG) Nr. 1221/2008 der Kommission v. 5.12.2008 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1580/2007 mit Durchführungsbestimmungen zu den Verordnungen (EG) Nr. 2200/96, (EG), Nr. 2201/96 und (EG) Nr. 1182/2007 des Rates im Sektor Obst und Gemüse hinsichtlich der Vermarktungsnormen, ABl. EU 2008 L 336/1; kritisch zum selektiven Charakter der Deregulierung Tobler in FS Richli, S. 591 ff. 159 S. dazu FAZ Nr. 205 v. 2.9.2008, S. 19: Die Regelung der zulässigen Gurkenkrümmung fehle „in keiner Tirade gegen die Regulierungswut weltfremder Eurokraten“. 160 So der berechtigte Hinweis bei Streinz in FS Welsch, 2010, S. 55, 62; zur Kritik der Verbraucherschutzverbände an der Abschaffung der genormten Füllmengen (Fn. 157) s. Grossarth FAZ Nr. 63 v. 16.3.2010, S. 20; zum Widerstand der Lebensmittelunternehmen gegen die Aufhebung der Gemüsenormen s. FAZ Nr. 205 v. 2.9.2008, S. 19. 161 VO (EU) Nr. 609/2013 des EP und des Rates v. 12.6.2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernähung und zur Aufhebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der Richtlinie 2009/39/EG des EP

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§ 8 Lebensmittelrecht setzt.162 Derzeit werden die EU-Rechtsakte im Lebensmittelsektor allerdings einer Effektivitätsprüfung im Rahmen des REFIT-Evaluationsprogramms der Kommission unterzogen,163 die auch schon zu ersten Änderungsvorschlägen geführt hat;164 angesichts des fortgeschrittenen Harmonisierungsstands ist dieses Feld als eines der ersten für diese Prüfung ausgewählt worden.165 3. Die primärrechtlichen Vorgaben für den EU-Gesetzgeber

35 Zu den durch den EU-Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des europäischen Lebensmittelrechts zu beachtenden primärrechtlichen Vorgaben gehört insbesondere der Vorsorgegrundsatz (s. bereits → Rn. 14).166 Weiter wird in Art. 114 AEUV ein hohes Niveau von Gesundheits- und Verbraucherschutz vorgegeben; die im Zuge der Vertragsrevisionen gestärkte Bedeutung des Verbraucherschutzes wird heute durch die eigene Kompetenzgrundlage in Art. 169 AEUV, die Querschnittsklausel in Art. 12 AEUV und die Verankerung in Art. 38 GRC167 deutlich. Auf der Gegenseite stehen die Grundfreiheiten, die vom EU-Gesetzgeber jedenfalls insoweit zu beachten sind, als er nationale Grenzziehungen nachzeichnet oder übernimmt (zur Reichweite der Grundfreiheiten s. → Rn. 36), vor allem aber der Grundrechtsschutz der Unternehmen (nun Art. 16 GRC),168 der den EU-Gesetzgeber stets bindet. Insoweit kann auch der Gesundheitsschutz selbst nach den Erfahrungen der BSEKrise nicht jede Maßnahme des EU-Gesetzgebers rechtfertigen, die in die Grundrechte betroffener Unternehmen eingreift. Exemplarisch steht hierfür der Fall der Mischfuttermittel-Richtlinie:169 Sie wurde nach der Krise durch die Verpflichtung der Unternehmen verschärft, die Zusammensetzung ihrer Futtermittel vollständig zu veröffentlichen, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass diese Zusammensetzung ein wesentliches und schutzwürdiges Geschäftsgeheimnis der Unternehmen darstellt. Der EuGH hat diese Pflicht zur Preisgabe an die Öffentlichkeit, die neben der Verpflichtung zur Information der Behörden bestand, zu Recht als unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte der Hersteller beanstandet.170 36 Anders als die Grundrechte können die Grundfreiheiten und insbesondere die Freiheit des Warenverkehrs nur in bestimmten Konstellationen als Grenze und Maßstab für den EU-

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und des Rates sowie der Verordnungen (EG) Nr. Nr. 41/2009 und (EG) Nr. 953/2009 des Rates und der Kommission, ABl. 2013 L 181/35. Dazu Meisterernst EFFL 2011, 315 ff. S. zum Vorgehen das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen „A fitness check of the food chain – State of play and next steps“, SWD (2013) 516 final v. 5.12.2013; zur nun vorliegenden Evaluation der LebensmittelbasisVO s. das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen „The REFIT evaluation of General Food Law“, SWD (2018) 38 final v. 15.1.2018. S. zur LebensmittelbasisVO den Kommissionsvorschlag für eine VO über die Transparenz und Nachhaltigkeit der EU-Risikobewertung im Bereich der Lebensmittelkette (…), KOM(2018) 179 final v. 11.4.2018; skeptisch dazu Horst, 2018, 431 ff. S. dazu Bartl EFFL 2015, 84 ff. Für ein Bsp. aus neuerer Zeit s. die RL 2011/8/EU der Kommission v. 28.1.2011 zur Änderung der RL 2002/72/EG hinsichtlich der Beschränkung der Verwendung von Bisphenol A in Säuglingsflaschen aus Kunststoff, ABl. EU 2011 L 26/11; dazu Osterath DLR 2011, 154 ff.; Fox/Versluis/van Asselt European Journal of Risk Regulation 2011, 21 ff. Dazu zB Mörsdorf JZ 2010, 759 ff. Zur Reichweite der unternehmerischen Freiheit des Art. 16 GRCh und zur Abgrenzung von der Berufsfreiheit nach Art. 15 GRCh s. Gundel ZHR 180 (2016), 323 ff. RL 2002/2/EG des EP und des Rates v. 28.1.2002 zur Änderung der RL 79/373/EWG des Rates über den Verkehr mit Mischfuttermitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 91/357/EWG der Kommission, ABl. EG 2002 L 63/23. EuGH 6.12.2005 – verb. Rs. C-453/03 ua, Slg 2005, I-10423 – ABNA = EWS 2006, 73; dazu Gundel EWS 2006, 65 ff.; Streinz in FS Merten, S. 395, 403 ff.; bestätigend EuGH 8.11.2007 – C-421/06, Slg 2007, I-152* (abgek. Veröff.) – Fratelli Martini = EuR 2009, 241 mAnm Germelmann.

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Gesetzgeber im Lebensmittelsektor herangezogen werden: Zwar gelten sie auch für Maßnahmen der EU-Organe; jedoch gilt dies nur, soweit sie tatsächlich einen Eingriff in den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Diese Wirkung war etwa im Fall des Exportverbots für britisches Rindfleisch während der BSE-Krise171 oder des sekundärrechtlichen Verkehrsverbots für das in Schweden zugelassene Snus in den anderen Mitgliedstaaten172 zu bejahen; auch können selbst formal einheitlich geltende EU-Regeln Binnenmarkthindernisse aufstellen, wenn sie bewirken, dass Produkte in anderen Mitgliedsstaaten nicht unverändert vermarktet werden können. Das ist zB bei Etikettierungsregeln, die eine Beschriftung in der Landessprache des Vermarktungsstaats verlangen, der Fall (dazu noch → Rn. 55). Im Übrigen können aber Regelungen wie Produktstandards, die EU-weit einheitlich gelten, den Warenaustausch im Binnenmarkt grundsätzlich nicht beeinträchtigen, auch wenn sie den Handlungsspielraum der Marktteilnehmer einschränken;173 nur in Ausnahmefällen wird man einer solchen EU-einheitlich geltenden Regelung dennoch eine marktabschottende, „binnenmarkt-spaltende“ Wirkung zusprechen können174 (dazu bereits → Rn. 10). Vereinzelte Entscheidungen des EuGH haben eine solche Beeinträchtigung dennoch vorschnell angenommen175 oder sogar ganz auf diesen Zusammenhang verzichtet, indem auch die inländische Produktion eines Mitgliedstaats dem Schutz des Art. 34 AEUV unterstellt wurde.176 Im Ergebnis ist die danach unzutreffende Berufung auf die Grundfreiheiten in solchen Fäl- 37 len freilich unschädlich, da sich die Maßnahmen des Unionsgesetzgebers in jedem Fall an den EU-Grundrechten – zB an der unternehmerischen Freiheit der Lebensmittelunterneh-

171 Dazu EuGH 5.5.1998 – C-180/96, Slg 1998, I-2265– Großbritannien/Kommission = EuZW 1998, 431; der EuGH ist auf den gerügten Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit in Rn. 63 des Urteils allerdings nur vage eingegangen; zur Entscheidung Thompson 5 EPL (1999), 437 ff. 172 Verbot durch Art. 8 der RL 2001/37/EG des EP und des Rates v. 5.6.2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen, ABl. EG 2001 L 194/26, bzw. nun Art. 17 der RL 2014/40/EU des EP und des Rates v. 3.4.2014, ABl. EU 2014 L 127/1; dazu EuGH 14.12.2004 – C-210/03, Slg 2004, I-11893 – Swedish Match ua = ZLR 2005, 381 mAnm Flury; EuGH 14.12.2004 – C-434/02, Slg 2004, I-11825 – Arnold André = ZLR 2005, 368 mAnm Flury, und nochmals EuGH 22.11.2018 – C-151/17 – Swedish Match; dazu Bassani Europe 1/2019, 13 f. 173 Zutreffend zu einer mitgliedstaatlichen Umsetzungsmaßnahme EuGH5.4.2004 C-123/00 (Bellamy), Slg 2004, I-2795, Rn. 21 = ZLR 2004, 551 mAnm Dittmann: „... eine nationale Bestimmung, die eine Gemeinschaftsnorm ordnungsgemäß umsetzt, mit der die nationalen Regelungen [...] durch genau abgegrenzte Handlungen harmonisiert werden, [stellt] keine gegen Art. 28 EG verstoßende Beschränkung des freien Verkehrs dar.“. 174 Angenommen wird eine solche Wirkung in der Literatur häufiger bei Werbeverboten durch den EUGesetzgeber, so zB v. Danwitz ZLR 2005, 201, 208 ff. (210): Gemeinschaftsregelungen, die die Werbetätigkeit der Unternehmen beschränken, seien „ganz generell“ am Maßstab der Warenverkehrsfreiheit zu messen. Tatsächlich wird man aber auch hier verlangen müssen, dass in Bezug auf den konkreten Bereich verfestigte nationale Verbrauchsgewohnheiten existieren, deren „Aufbrechen“ durch Werbung zugunsten ausländischer Produkte die Regelung verhindert, so auch der Ansatz von EuGH 8.3.2001 – C-405/98, Slg 2001, I-1795, Rn. 21 – Gourmet International = EuZW 2001, 251 mAnm Leible; weitergehend aber EuGH 15.7.2004 – C-239/02, Slg 2004, I-7007, Rn. 53 – Douwe Egberts = ZLR 2004, 600 mAnm Knopp/Grieb. 175 Nicht überzeugend insoweit zur Nahrungsergänzungsmittel-RL (RL 2002/46/EG) EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 49 – Alliance for Natural Health ua = ZLR 2005, 591 mAnm Schroeter: „... dadurch, dass sie in der Gemeinschaft den Verkehr mit Nahrungsergänzungsmitteln untersagen, die nicht in den Positivlisten aufgeführte Vitamine oder Mineralstoffe enthalten, sind diese Bestimmungen geeignet, den freien Verkehr von Nahrungsergänzungsmitteln innerhalb der Gemeinschaft zu beschränken.“ 176 Als solchen „Ausreißer“ wird man die „Baileys Minis“-Entscheidung des EuGH einstufen müssen, s. EuGH 4.10.2007 – C-457/05, Slg 2007, I-8075 – Schutzverband der Spirituosenindustrie/Diageo Deutschland = EuR 2008, 242 m. krit. Anm. Gundel: Richtigerweise wäre die dortige Regelung am EU-rechtlichen Gleichheitssatz zu messen, dazu sogleich bei Fn. 178.

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men (→ Rn. 35)177 – messen lassen müssen. So dürfte zB aus dem seit langem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannten unionsrechtlichen Gleichheitssatz178 abzuleiten sein, dass eine „gespaltene Harmonisierung“ durch den Unionsgesetzgeber, die in einzelnen Mitgliedstaaten Vermarktungs- oder Produktionsformen von Lebensmitteln zulässt, die sie in anderen Mitgliedstaaten verbietet, nur als befristetete Übergangsregel, aber nicht als dauerhafte Regelung gerechtfertigt werden kann, wenn nicht fortbestehende Unterschiede im Ausnahmefall die unterschiedliche Regelung rechtfertigen;179 auf Dauer angelegte Sonderregeln für einzelne Mitgliedstaaten sind daher nur dann als „bestandssicher“ einzustufen, wenn sie primärrechtlich abgesichert sind.180 38 In der Literatur wird verschiedentlich als widersprüchlich kritisiert, dass die EuGH-Rechtsprechung gegenüber dem EU-Gesetzgeber großzügigere Maßstäbe anlege als bei der Prüfung nationaler Maßnahmen.181 Tatsächlich kann sich dieser Eindruck auch bei manchen Entscheidungen im Lebensmittelsektor durchaus aufdrängen (zur Health-Claims-VO → Rn. 57);182 allerdings lässt sich eine solche unterschiedliche Schärfe der Kontrolle dadurch rechtfertigen, dass EU-einheitliche Regelungen – selbst wenn sie inhaltlich nationalen Eingriffen entsprechen – jedenfalls insoweit weniger schwerwiegende Belastungen enthalten, als sie europaweit gelten und damit der belastende marktspaltende Effekt der mitgliedstaatlichen Regulierung entfällt (Zur parallelen Frage der Anwendbarkeit des für die Grundfreiheiten entwickelten Verbraucherleitbilds (→ Rn. 18) auf den EU-Gesetzgeber s. → Rn. 58). Hinzu kommt, dass der EU-Gesetzgeber nicht in gleicher Weise dem Verdacht protektionistischer Zielsetzungen ausgesetzt ist.183 Ein Beispiel hierfür bietet die unterschiedliche Bewertung nationaler (→ Rn. 19) und unionsrechtlicher (→ Rn. 56 ff.) Regelungen zur verbindlichen Herkunftskennzeichnung. 4. Rechtssetzungsinstrumente und Handlungsformen a) Die Form der Lebensmittel-Gesetzgebung 39 Die Harmonisierung des Lebensmittelrechts der Mitgliedstaaten fand bis zum Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte fast ausschließlich durch Richtlinien statt, was schon dadurch zu erklären war, dass die vor allem genutzte Rechtsgrundlage des Art. 100 177 Das gilt zB für die häufig an der Warenverkehrsfreiheit geprüften Werbebeschränkungen, s. schon früh für das Weinbezeichnungsrecht als Beschränkung der Berufsfreiheit EuGH 8.10.1986 – Rs. 234/85, Slg 1986, 2897 – Franz Keller = NJW 1987, 568. 178 S. bereits EuGH 19.6.1977 – Rs. 117/76 ua, Slg 1977, 1753, Rn. 7 – Ruckdeschel; EuGH 19.10.1977 – Rs. 124/76 ua, Slg 1977, 1795, Rn. 14/17 – Moulins Pont-à-Mousson; dazu und zur weiteren Entwicklung s. zB Sattler in FS Rauschning, S. 251 ff.; Kischel EuGRZ 1997, 1 ff. 179 So im Ergebnis zu Recht, allerdings unter Berufung auf die Freiheit des Warenverkehrs: EuGH 4.10.2007 – C-457/05, Slg 2007, I-8075 – Schutzverband der Spirituosenindustrie/Diageo Deutschland; dazu Gundel EuR 2008, 248 (252 ff.). 180 So für die Vermarktung von Snus in Schweden Art. 151 Abs. 1 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (...), ABl. EG 1994 L 1/1, iVm Abschnitt X von Anhang XV. 181 So zB Streinz Europarecht, 10. A. 2016, Rn. 783; ders. in FS Welsch, 2010, S. 55 (63 f.); Reich in FS Bull, 2011, S. 259, 277 f. 182 Symptomatisch EuGH 23.1.2003 – C-221/00, Slg 2003, I-1007 – Kommission/Österreich – mit der Beanstandung einer nationalen Regelung zur Genehmigungsbedürftigkeit von gesundheitsbezogenen Werbeaussagen als unverhältnismäßig – also des Regimes, das heute die Health-Claims-VO EU-weit vorsieht; zu dieser Diskrepanz Schroeter ZLR 2005, 191 (198); s. auch Hüttebräuker WRP 2004, 188 (197). Zu den reduzierten Anforderungen an den EU-Gesetzgeber s. auch noch EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 47 ff., 52 – Alliance for Natural Health ua: Ein Eingriff des EU-Gesetzgebers in die Grundfreiheiten sei nur bei offensichtlicher Ungeeignetheit als unverhältnismäßig einzustufen (allerdings lag in diesem Fall ein solcher Eingriff wohl gar nicht vor, s. Fn. 175). 183 S. dazu Gundel GewArch 2016, 176 (181); ders. ZHR 180 (2016), 323 (349).

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B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts EWGV (später Art. 94 EGV, nun Art. 115 AEUV) nur diese Handlungsform vorsah.184 Aber auch nach der Erweiterung der Handlungsinstrumente durch Art. 100 a EWGV (nun Art. 114 AEUV) blieb die Richtlinie absolut vorherrschend. Dieser Befund hat sich durch die Neuordnung des EU-Lebensmittelrechts nach der BSE-Krise allerdings grundsätzlich geändert: Im Bereich des Lebensmittelrechts hat der EU-Gesetzgeber das Instrument der umsetzungsbedürftigen Richtlinie zugunsten der unmittelbar anwendbaren Verordnung weitestgehend aufgegeben;185 auch bei der Neufassung bestehender Rechtsakte wird nun grundsätzlich von der Richtlinien- auf die Verordnungsform umgestellt186 (s. auch zur Ablösung der Etikettierungs-Richtlinie (RL 2000/13/EG) durch die Lebensmittelinformations-Verordnung (VO 1169/2001, → Rn. 54); nur vereinzelt wird die bisherige Rechtsform beibehalten.187 Dieser Wechsel konnte vor dem Hintergrund des bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Vorrangs der Richtlinie in Frage gestellt werden (zur Health-Claims-VO → Rn. 57),188 auch wenn zumindest im Bereich der Lebensmittelsicherheit die Effektivitätsvorteile dieses Instruments die Wahl im Ergebnis rechtfertigen konnten;189 überlegen ist die Verordnungsform auch in den immer häufigeren Fällen, in denen zentralisierte Zulassungs- oder Genehmigungsverfahren vorgesehen werden (s. die Beispiele → Rn. 63 ff.). Der Wechsel der Handlungsform beschränkt sich jedoch nicht auf diese Bereiche, sondern hat auch weniger sicherheitsrelevante Bereiche wie etwa die Lebensmittelwerbung erfasst; auch insoweit erscheint die Entwicklung aber angesichts des fortgeschrittenen Harmonisierungsstandes im Lebensmittelsektor konsequent, weil der mit der Richtlinie verbundene Vorteil der Einbettung der Unionsvorgaben in das von den Rechtsanwendern vor allem wahrgenommene jeweilige nationale Regelwerk190 in dieser Situation nicht mehr zum Tragen kommt.191 Die bisherige Rangfolge der Instrumente ist

184 Auf die Rechtsform der Verordnung konnte damit nur zurückgegriffen werden, wenn statt der Binnenmarkt- die Agrarkompetenz einschlägig war. 185 Kritisch zu diesem Wechsel der Rechtsform s. (im Vorfeld der BasisVO); v. Danwitz ZLR 2001, 209 (219); Streinz ZLR 2000, 803 (806 f.); positiver nun für die Bereiche Lebensmittelkontrolle und Lebensmittelhygiene ders. in FS Welsch, 2010, S. 55, 66. 186 S. zB die VO (EG) Nr. 396/2005 des EP und des Rates v. 23.2.2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in oder auf Lebens- und Futtermitteln pflanzlichen und tierischen Ursprungs und zur Änderung der RL 91/414/EWG des Rates, ABl. EU 2005 L 70/1. 187 So bei der RL 2009/39/EG des EP und des Rates v. 6.5.2009 über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, ABl. EU 2009 L 124/21 (Ablösung der gleichnamigen RL 89/398/EWG des Rates v. 3.5.1989, s. o. Fn. 137), nun aber ebenfalls ersetzt durch die VO (EU) Nr. 609/2013 (Fn. 161), oder der RL 2011/91/EU des EP und des Rates v. 13.12.2011 über Angaben oder Marken, mit denen sich das Los, zum dem ein Lebensmittel gehört, feststellen lässt, ABl. 2011 L 334/1 (Ablösung der gleichnamigen RL 89/396/EWG des Rates v. 14.6.1989, ABl. EG 1989 L 186/21). 188 Subsidiaritätsprotokoll zum Vertrag von Amsterdam, darauf abstellend zB zum Entwurf der HealthClaims-VO Hüttebräuker WRP 2004, 188 (195); Sosnitza ZLR 2004, 1 (17). 189 Angesprochen wird der Wechsel der Rechtsform in den Begründungen der Rechtsakte nur selten; für eine solche Ausnahme s. den 3. Erwägungsgrund der VO (EG) Nr. 396/2005 des EP und des Rates über Höchstgehalte an Pestizidrückständen (Fn. 186): „Eine Verordnung zur Festsetzung von Rückstandshöchstgehalten braucht nicht in einzelstaatliches Recht umgesetzt zu werden. Sie ist daher das geeignetste Rechtsinstrument (...), da ihre präzisen Vorschriften gemeinschaftsweit zu ein und demselben Zeitpunkt und nach ein und demselben Verfahren angewendet werden und insofern eine effizientere Verwendung nationaler Ressourcen gestatten.“ S. auch den 4. Erwägungsgrund der VO (EU) Nr. 10/2011 der Kommission v. 14.1.2011 über Materialien und Gegenstände aus Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, ABl. EU 2011 L 12/1 (Ablösung der gleichnamigen RL 2002/72/EG der Kommission v. 6.8.2002, ABl. EG 2002 L 220/18): Hier wird angeführt, dass die Richtlinie und ihre Änderungen bisher ohne größere Anpassung in nationales Recht umgesetzt worden seien, die Umsetzungsdauer aber das „Innovationstempo“ verlangsame. 190 Dazu zB Wunderlich/Pickartz EuR 2014, 659 (663 f.). 191 S. auch Gundel EuZW 2018, 739 (740).

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§ 8 Lebensmittelrecht

mit der Neufassung des Subsidiaritätsprotokolls durch den Vertrag von Lissabon nun ohnehin entfallen,192 so dass hierauf gestützte Argumente heute ins Leere gehen.193 40 Mit dem Wechsel zur Handlungsform der Verordnung entfallen zwar die Probleme mit nicht oder unzureichend umgesetzten Richtlinien, die auch im EU-Lebensmittelrecht immer wieder aufgetreten sind.194 Allerdings ähneln die nun in der Form von Verordnungen erlassenen Regelungen nach ihrem inhaltlichen Konkretisierungsgrad durchaus den bisher erlassenen Richtlinien; typisch ist hier eine Mischform geworden, die man als eine Art von Rahmenverordnung bezeichnen kann (zum Beispiel des EU-Hygienepakets s. noch → Rn. 77),195 so dass statt der bisherigen Richtlinien-Umsetzungsgesetze nun nationale Verordnungs-Durchführungsgesetze notwendig werden (zum Beispiel des EU-Hygienepakets s. → Rn. 77).196 Die Lesbarkeit des nationalen Rechts wird durch diese Lösung nicht unerheblich beeinträchtigt, da der vollständige Regelungsrahmen sich erst aus der Zusammenschau der Rechtsakte ergibt. b) Die Durchführungsrechtssetzung 41 Seit langem wird das EU-Lebensmittelrecht in großem Umfang von Durchführungsregelungen der Kommission geprägt, die bis zur Neuordnung durch den Vertrag von Lissabon im Komitologieverfahren (s. auch noch → Rn. 66 f.)197 erlassen wurden; als einheitlich zuständiger Ratsausschuss wurde schon 1969 der Ständige Lebensmittelausschuss geschaffen (→ Rn. 47).198 Solche Zuständigkeitsübertragungen sind nach der schon in den 1970er Jahren geprägten EuGH-Rechtsprechung199 zulässig, solange die wesentlichen Entscheidungen weiter durch den EU-Gesetzgeber betroffen werden200 und die der Kommission übertragene Befugnis hinreichend begrenzt und nach objektiven Entscheidungskriteri-

192 S. Fn. 188; dazu zB Ladenburger ZEuS 2011, 389 (396 ff.) mit Verweis auf die nun auch in Art. 296 AEUV dokumentierte Wahlfreiheit; s. auch Streinz in FS Welsch, 2010, S. 55, 66 f. 193 Dennoch weiterhin für einen grundsätzlichen Vorrang der Richtlinie plädierend Wunderlich/Pickartz EuR 2014, 659 ff. 194 S. für solche Fälle zB EuGH 1.6.1999 – C-319/97, Slg 1999, I-3143 – Antoine Kortas = ZLR 1999, 612 mAnm Epiney; EuGH 6.9.2000 – C-443/98, Slg 2000, I-7535 – Unilever Italia = EuZW 2001, 153 mAnm Gundel S. 143 ff.; EuGH 24.3.2009 – C-445/06, Slg 2009, I-2119 – Danske Slagterier/ Bundesrepublik Deutschland = ZLR 2009, 438 mAnm Gundel = EWS 2009, 176 mAnm T. Würtenberger. 195 Zum offenen Charakter der BasisVO s. zB Streinz in Meyer/Streinz (Hrsg.), LFGB/BasisVO/HCVO, 2. A. 2012, Einführung Rn. 85 f.; s. etwa die in Art. 4 Abs. 3 BasisVO vorgesehene, für Verordnungen untypische Pflicht der Mitgliedstaaten zur Anpassung ihrer Rechtsetzung an die Grundsätze der Art. 5–10 BasisVO bis zum 1.1.2007. 196 Zum inzwischen nicht mehr seltenen Phänomen nationaler Durchführungsgesetzgebung zu EU-Verordnungen s. Král 33 ELRev. (2008), 243 ff.; zur Möglichkeit der impliziten Ermächtigung der Mitgliedstaaten zur Verordnungsergänzung s. EuGH 12.4.2018 – C-541/16, EuZW 2018, 735 mAnm Gundel – Kommission/Dänemark. 197 S. zur Anwendung des Komitologieverfahrens im EU-Lebensmittelrecht instruktiv Loosen EFFL 2007, 91 ff.; s. insbes. zur Änderung oder Ergänzung von Positivlisten zugelassener Stoffe im Komitologieverfahren EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 77 ff. – Alliance for Natural Health ua = ZLR 2005, 591 mAnm Schroeter. 198 Beschluss 69/414/EWG des Rates v. 13.11.1969 über die Einsetzung eines Ständigen Lebensmittelausschusses, ABl. 1969 L 291/9; aufgehoben durch Art. 62 Abs. 4 der BasisVO. 199 Grundlegend EuGH 17.12.1970 – Rs. 25/70, Slg 1970, 1161 – Köster = EuR 1971, 145 mAnm Ehlermann, S. 250 ff.; EuGH 15.12.1970 – Rs. 41/69, Slg 1970, 661, Rn. 59 ff. – ACF Chemiefarma. 200 Zu dieser Abgrenzung insbes. im Lebensmittelsektor s. Gundel ZLR 2014, 143 (149 ff.); s. auch EuGH 5.9.2012 – C-355/10, Rn. 64 ff., 77 – Parlament/Rat, wonach die Wesentlichkeit einer Regelung auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Grundrechtsrelevanz zu beurteilen ist; dazu Chamon 50 CMLRev. (2013), 849 ff.

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en auszuüben ist.201 Die Bedeutung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse rechtfertigte in vielen Fällen die Anwendung des im Jahr 2006 neu geschaffenen Regelungsverfahrens mit Kontrolle,202 das auch dem Europäischen Parlament als Mitgesetzgeber auf Sekundärrechtsebene Kontrollbefugnisse über die Durchführungsrechtssetzung einräumte; zahlreiche Rechtsgrundlagen im Lebensmittel-Sekundärrecht wurden im Anschluss konsequent auf dieses Verfahren umgestellt.203 Hier ist nun nach der Reform der abgeleiteten EU-Rechtssetzung durch den Vertrag von 42 Lissabon eine erneute Anpassung notwendig geworden, weil dieses Regelungsverfahren mit Kontrolle durch die Reform abgelöst wurde: Funktional entspricht es der neuen Kategorie der delegierten Rechtsakte gem. Art. 290 AEUV, über deren Erlass durch die Kommission das Europäische Parlament und der Rat nebeneinander wachen, ohne dabei aber über das die Rechtssetzung begleitende Kontrollinstrument der bisherigen Ausschüsse zu verfügen.204 Diese sind nur noch für die daneben bestehende Kategorie der Durchführungsrechtsakte der Kommission gem. Art. 291 AEUV vorgesehen, die nach der Neuregelung der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten unterliegen; konsequent ist in der Neufassung des nun auf Art. 291 Abs. 3 AEUV gestützten Komitologie-„Beschlusses“ (nun in Verordnungsform)205 das Regelungsverfahren mit Kontrolle nicht mehr vorgesehen (zu den Konsequenzen des neuen Systems für die EU-rechtlichen Zulassungsverfahren, zB für gentechnisch veränderte Lebensmittel, → Rn. 66 f.). Das neue System ist unmittelbar allerdings nur auf Sekundärrechtsakte anwendbar, die 43 nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erlassen werden: Hier muss der EU-Gesetzgeber nun jeweils eindeutig festlegen, ob er eine Ermächtigung den delegierten oder den Durchführungsrechtsakten zuordnet206 (→ Rn. 54); die Einzelheiten der Abgrenzung sind

201 S. Rn. 6 des Köster-Urteils (Fn. 199); seitdem st. Rspr. Für eine Anwendung dieser Vorgaben auf den Lebensmittelsektor s. zB EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 90 ff. – Alliance for Natural Health ua = ZLR 2005, 591 mAnm Schroeter. 202 Art. 5 a des Beschlusses 1999/468/EG des Rates idF durch Beschluss 2006/512/EG des Rates v. 17.7.2006, ABl. EU 2006 L 200/11; zu dieser Reform zB Fuhrmann DÖV 2007, 464 (466 ff.); Schusterschitz EuBl. 2006, 176 ff.; Bradley in FS Bieber, S. 286 ff. 203 S. zB die VO (EG) Nr. 298/2008 des EP und des Rates v. 11.3.2008 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1829/2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel im Hinblick auf die der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl. EU 2008 L 97/64; VO (EG) Nr. 1137/2008 des EP und des Rates v. 22.10.2008 zur Anpassung einiger Rechtsakte, für die das Verfahren des Art. 251 des Vertrages gilt, an den Beschluss 1999/468/EG des Rates in Bezug auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle (Erster Teil), ABl. EU 2008 L 311/1; VO (EG) Nr. 219/2009 des EP und des Rates v. 11.3.2009 zur Anpassung einiger Rechtsakte, für die das Verfahren des Art. 251 des Vertrages gilt, an den Beschluss 1999/468/EG des Rates in Bezug auf das Regelungsverfahren mit Kontrolle (Zweiter Teil), ABl. EU 2009 L 87/109. 204 Die in Art. 290 Abs. 2 AEUV abschließend aufgeführten Instrumente des Widerrufs der Ermächtigung bzw. des Widerspruchs gegen den Kommissions-Rechtsakt wirken dagegen nur reaktiv; im Lebensmittelsektor hat das Parlament vom Instrument des Widerspruchs bereits erfolgreich Gebrauch gemacht, s. die Entschliessung P7_TA (2014)0218 v. 12.3.2014 zur (voreilig veröffentlichen) Delegierten VO (EU) Nr. 1363/2013 der Kommission v. 21.8.2013 zur Änderung der VO (EU) Nr. 1169 (…) in Hinblick auf die Begriffsbestimmung für „technisch hergestellte Nanomaterialien“, ABl. EU 2013 L 343/26; dazu Gundel ZLR 2014, 264 (271 f.). 205 VO (EU) Nr. 182/2011 des EP und des Rates v. 16.2.2011 „zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren“, ABl. EU 2011 L 55/13; dazu Gundel in Häde/Nowak/Pechstein Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 291 Rn. 15 ff. 206 Einer der ersten Sekundärrechtsakte mit neuem System, der sowohl Ermächtigungen für delegierte wie für Durchführungsrechtsakte enthielt, war die LebensmittelinformationsVO, s. zB Art. 9 Abs. 3, 4 der VO (EU) Nr. 1169/2011.

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§ 8 Lebensmittelrecht noch nicht abschließend geklärt,207 allerdings ist erkennbar, dass die gerade im EU-Lebensmittelrecht häufig eingesetzte Regelungstechnik der Ermächtigung der Kommission zur Änderung von Anhängen des Sekundärrechtsakts (s. für Beispiele → Rn. 69 ff.) den delegierten Rechtsakten gem. Art. 290 AEUV zuzuordnen ist, weil hier ein im Gesetzgebungsverfahren ergangener Rechtsakt geändert wird. Die Umstellung des bereits geltenden Rechts wird erst allmählich durch Anpassung der Sekundärrechtsakte erfolgen.208 Als weitere Neuerung des Vertrags von Lissabon für die abgeleitete Rechtssetzung kommt hinzu, dass die von der Kommission erlassenen Regelungen – anders als das im Gesetzgebungsverfahren ergehende Sekundärrecht – nun gem. Art. 263 Abs. 4, 3. Alt. AEUV auch durch nicht individuell betroffene Einzelne angegriffen werden können;209 Angesichts der intensiven Rechtssetzungstätigkeit der Kommission im Lebensmittelsektor ist nicht verwunderlich, dass die ersten Rechtsprechungsfälle diesen Bereich betrafen.210 c) Einzelfallentscheidungen

44 Der Vollzug des europäischen Lebensmittelrechts obliegt zwar grundsätzlich den mitgliedstaatlichen Behörden (siehe dazu im Rahmen der Lebensmittelaufsicht noch → Rn. 84 ff.). Dennoch sind verbindliche Einzelfallentscheidungen – nach der Terminologie des Art. 288 Abs. 4 AEUV nun Beschlüsse – der Kommission heute vielfach im Sekundärrecht vorgesehen; entsprechende Entscheidungszuständigkeiten können ihr auch auf der Grundlage von Binnenmarktharmonisierungs-Rechtsakten gem. Art. 114 AEUV zugewiesen werden.211 Solche Maßnahmen können im (freilich seltenen) Einzelfall im Durchgriff sogar auf einzelne Betriebe zielen, die etwa den Bestimmungen des EU-Hygienerechts nicht genügen212 (→ Rn. 92); teils ist der Kommission auch die Entscheidung über Genehmigungsanträge in Einzelfällen zugewiesen; so etwa bei der Zulassung neuartiger Lebensmittel nach der 207 Für einen Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers bei der Zuordnung EuGH 18.3.2014 – Rs. 427/12, Rn. 39 – Kommission/Rat und Parlament; dazu Garçon StoffR 2014, 46 ff.; Michel Europe 5/2014, 18; Gundel ZLR 2014, 264 (267 f.); speziell zur Praxis im Lebensmittelsektor s. Karsten in Tauschinsky/Weiß (eds.), The Legislative Choice Between Delegated and Implementing Acts, 2018, S. 93 ff.; allgemein Gundel in Häde/Nowak/Pechstein Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 290 Rn. 14 ff. 208 Art. 13 der Komitologie-VO (Fn. 205) hat die Verfahren bei der Durchführungsrechtssetzung auf das neue Recht umgestellt, dabei aber das Regelungsverfahren mit Kontrolle ausgenommen: Art. 5 a des Komitologie-Beschlusses von 2006 (Fn. 202) gilt gem. Art. 12 der VO ausdrücklich fort, soweit bestehendes Sekundärrecht auf ihn verweist. Auch aus der Perspektive des Europäischen Parlaments besteht hier – anders als nach der Einführung des Regelungsverfahrens mit Kontrolle – nicht notwendig Eile, weil seine Interessen durch die fortgeltende Anwendbarkeit dieses Verfahrens gewahrt sind. 209 S. zur Reichweite EuG 6.9.2011 – T-18/10, Slg 2011, II-5599 – Inuit Tapiriit Kanatami ua/Rat und Parlament = EWS 2012, 90 m. Bespr. Gundel, S. 65 ff. = EuZW 2012, 395 m. Bespr. Everling, S. 376 ff.;.bestätigt durch EuGH 30.10.2013 – C-583/11 P EuZW 2014, 22 m. Bespr. Streinz. 210 Die erste nach der neuen dritten Alternative des Art. 263 Abs. 4 AEUV als zulässig behandelte Klage betraf die Nicht-Listung eines Stoffes als zulässiger Bestandteil von Lebensmittelbedarfsgegenständen aus Kunststoff durch die Kommission, s. EuG 25.10.2011 – T-262/10, Slg 2011, II-7697 – Microban/ Kommission = EWS 2012, 95; dazu Gundel EWS 2012, 65 (69 f.); González Vaqué/Romero Melchor EFFL 2012, 312 ff.; Peers/Costa 8 EUConstLRev. (2012) 82 (88 ff.); s. weiter EuG 12.6.2015 – T-296/12, ZLR 2015, 6 mAnm Gundel – Health Manufacturers’ Association ua/Kommission; ob die neue Klagemöglichkeit auch für die textlich nicht angepasste Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV gilt, hat der EuGH bisher offengelassen, s. EuGH 23.11.2017 – verb. Rs. C-596/15 u. C-597/15 P, ZLR 2018, 32 mAnm Gundel – Bionorica und Diapharm/Kommission. 211 S. EuGH 9.8.1994 – C-359/92, Slg 1994, I-3681 – Deutschland/Rat = EuZW 1994, 627 mAnm Micklitz; weiter EuGH 6.12.2005 – C-66/04, Slg 2005, I-10553, Rn. 49 – Großbritannien/Rat und Parlament = JZ 2006, 358 mAnm Ohler; dagegen allerdings zeitweise ein beachtlicher Teil der deutschen Literatur, s. insbes. v. Borries in FS Everling Bd. 1, S. 127 ff.; im Anschluss daran Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1997, S. 122 ff.; Wahl/Groß DVBl. 1998, 2 ff.; später noch Caspar DVBl. 2002, 1437 (1444); Schmidt am Busch, S. 143 ff. 212 S. Art. 56 VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 403).

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Novel-Food-VO (→ Rn. 63 f.) oder bei der Zulassung gesundheitsbezogener Werbeaussagen („Health Claims“), die die Kommission allerdings dennoch in Verordnungsform vornimmt (→ Rn. 57). Vielfach handelt es sich aber auch um an einzelne Mitgliedstaaten gerichtete Genehmigungsentscheidungen – etwa die Billigung nationaler Abweichungen oder Schutzmaßnahmen –, die aus Sicht der Marktbeteiligten als normative Rechtsakte wirken. d) Nicht verbindliche Rechtsakte Von der Kategorie der Empfehlungen macht die Kommission vor allem im Bereich der Le- 45 bensmittelaufsicht intensiven Gebrauch.213 Daneben bestehen auch in erheblichem Umfang „unbenannte“ und formal ebenfalls nicht verbindliche, für die Vollzugspraxis aber dennoch bedeutende Handlungen der EU-Kommission: So liegen inzwischen in großer Zahl Kommissionsleitlinien214 und -Mitteilungen zur Auslegung des Primär- und Sekundärrechts im Lebensmittelsektor vor215 (zur Health Claims-VO → Rn. 57). Diese Instrumente entfalten zwar keine rechtlich verbindliche Wirkung, weshalb sie von der Kommission auch ohne besondere Ermächtigung erlassen werden können;216 trotz dieser fehlenden rechtlichen Bindungswirkung sind sie aber geeignet, den nationalen Vollzug faktisch zu steuern. Die gerichtliche Überprüfbarkeit solcher Maßnahmen im Wege der Nichtigkeitsklage kann in Ausnahmefällen dennoch eröffnet sein:217 Gegen im Amtsblatt (Teil C) veröffentlichte Leitlinien, die den vermeintlichen Inhalt des EU-Rechts unzutreffend wiedergaben, hat der EuGH in der Vergangenheit Nichtigkeitsklagen der Mitgliedstaaten218 zugelassen; das EuG hat diese Rechtsprechung in jüngerer Zeit weitergeführt,219 und der Gerichtshof hat diesen Ausnahme-Vorbehalt zuletzt auch auf die Kategorie der Empfehlungen übertragen220. Auf nichtförmliche Einzelfall-Stellungnahmen wie etwa Warnungen (zur Weitergabe von Warnungen im EU-Schnellwarnsystem RASFF → Rn. 88 ff.) lässt sich 213 S. zB die Empfehlung (EU) 2015/1381 der Kommission v. 10.8.2015 für eine Überwachung von Arsen in Lebensmitteln, ABl. EU 2015 L 213/9; Empfehlung (EU) 2015/682 der Kommission v. 29.4.2015 zum Monitoring von Perchlorat in Lebensmitteln, ABl, EU 2015 L 111/32; Empfehlung 2012/154/EU der Kommission v. 15.3.2012 zum Monitoring von Mutterkorn-Alkaloiden in Futtermitteln und Lebensmitteln, ABl. EU 2012 L 77/20; Empfehlung 2010/307/EU der Kommission v. 2.6.2010 zur Überwachung des Acrylamidgehalts in Lebensmitteln, ABl. EU 2010 L 137/4; Empfehlung 2011/516/EU der Kommission v. 23.8.2011 zur Reduzierung des Anteils von Dioxinen, Furanen und PCB in Futtermitteln und Lebensmitteln, ABl. EU 2011 L 218/23; Empfehlung 2004/787/EG der Kommission v. 4.10.2004 für eine technische Anleitung für Probenahme und Nachweis von genetisch veränderten Organismen und von aus gentechnisch veränderten Organismen hergestelltem Material als Produkte oder in Produkten im Kontext der Verordnung (EG) Nr. 1830/2003, ABl. EU 2004 L 348/18. 214 S. allgemein zum rechtlichen Status solcher Kommissionsdokumente Gundel in Häde/Nowak/ Pechstein Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 110 ff. 215 S. dazu im Überblick Schübel-Pfister ZLR 2004, 403 ff. Ein erstes prominentes Bsp. bildet die Kommissionsmitteilung zu den Konsequenzen der Cassis de Dijon-Entscheidung ABl. 1980 C 256/2; für Bsp. aus jüngerer Zeit s. die „Leitlinien für die Anwendung der Art. 11, 12, 16, 17, 18, 19 und 20 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (...)“ v. 20.12.2004; zur Health Claims-VO „Guidance on the implementation of Regulation No 1924/2004 on nutrition and health claims made on foods“ v. 14.12.2007; dazu Meisterernst WRP 2008, 755 (757 f.). 216 Das gilt unverändert auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, anders zu Unrecht Weiß EWS 2010, 257 ff., der die Reform der abgeleiteten Rechtssetzung in Art. 291/292 AEUV unzutreffend auch auf solche nicht bindenden Maßnahmen bezieht. 217 S. die Nachw. bei Gundel in Häde/Nowak/Pechstein Frankfurter Kommentar zu EUV/GRC/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 116 ff. 218 Für den Einzelnen stellte sich das Problem bisher nicht, weil die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit von vornherein nicht erfüllt war; dieses Hindernis entfällt zwar nun mit der dritten Alternative des Art. 263 Abs. 4 AEUV (s. Fn. 210), die Hürde der unmittelbaren Betroffenheit gilt aber auch dort. 219 EuG 20.5.2010 – T-258/06, Slg 2010, II-2027 – Deutschland/Kommission = VergabeR 2010, 593 mAnm Braun. 220 EuGH 20.2.2018 – C-16/16 P, EuR 2018, 593 mAnm Gundel, Rn. 29 – Belgien/Kommission.

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§ 8 Lebensmittelrecht diese Rechtsprechung freilich nicht ausweiten; hier kommt weiterhin nur Sekundärrechtsschutz in Form von Schadensersatzklagen nach Art. 268, 340 Abs. 2 AEUV in Betracht (→ Rn. 52). 5. EU-Institutionen a) Die EU-Kommission, ihre Dienststellen und Ausschüsse

46 Bereits im Rahmen der Handlungsformen ist deutlich geworden, dass der Kommission die zentrale Rolle bei der Ausgestaltung des EU-Lebensmittelrechts unterhalb der Gesetzgebungsebene zukommt: Sie erlässt die Durchführungsrechtsakte, erteilt in den zentralisierten Zulassungsverfahren Genehmigungen und steuert durch Empfehlungen und Mitteilungen darüber hinaus den Vollzug in den Mitgliedstaaten, der grundsätzlich weiter den nationalen Behörden obliegt. Innerhalb der Kommission liegen die Zuständigkeiten vor allem bei der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit („DG SANTE“); ihr ist auch das Lebensmittel- und Veterinäramt der Kommission (LVA, bzw. Food and Veterinary Office – FVO)221 zugeordnet, das nach seinem Sitz auch als Dubliner Behörde bezeichnet wird, rechtlich allerdings keine Eigenständigkeit besitzt. Die von der Kommission gegründete Exekutivagentur222 für Verbraucherschutz, Lebensmittel, Landwirtschaft und Gesundheitswesen223 verfügt über eigene Rechtspersönlichkeit; ihr obliegt zB die Verwaltung des Programms zur Finanzierung von Schulungen zur Lebensmittelsicherheit in den Mitgliedstaaten.224 47 Zur wissenschaftlichen Unterstützung der Kommission hatte diese bereits 1974 den wissenschaftlichen Lebensmittelausschuss geschaffen;225 in der Folgezeit kamen weitere Parallelausschüsse zu Nachbarbereichen wie Futtermitteln und Tiergesundheit hinzu, so dass schließlich im Jahr 1997 auch unter dem Eindruck der BSE-Krise eine Neuordnung226 und

221 Zu ihm zB Mögele ZLR 1998, 177 (186 ff.); Streinz/Fuchs ZLR 2002, 169 (190); Schroeder ZLR 2009, 531 (538 f.); David, Inspektionen im Europäischen Verwaltungsrecht, 2003, S. 69 ff.; zu den Inspektionsberichten s. http://ec.europa.eu/food/fvo. 222 Zu Status und Funktion der Exekutivagenturen s. Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Gundel EuR § 3 Rn. 41 f. 223 Zunächst errichtet durch den Beschluss 2004/858/EG der Kommission v. 15.12.2004 „zur Einrichtung einer als ‚Exekutivagentur für das Gesundheitsprogramm’ bezeichneten Exekutivagentur für die Verwaltung der Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit gem. der VO (EG) Nr. 58/2003 des Rates“, ABl. EU 2004 L 369/73; später ersetzt durch den Durchführungsbeschluss 2013/770/EU der Kommission v. 17.12.2013 „zur Einrichtung der Exekutivagentur für Verbraucher, Gesundheit und Lebensmittel (...)“, ABl. 2013 L 341/69; der Durchführungsbeschluss 2014/927/EU der Kommission v. 17.12.2014, ABl. 2014 L 363/183 hat schließlich die Landwirtschaft hinzugefügt. 224 S. zum Start dieses Programms die Kommissionsmitteilung „Bessere Schulung für sicherere Lebensmittel“, KOM(2006) 519 endg. v. 20.9.2006; s. weiter den derzeit geltenden Durchführungsbeschluss der Kommission v. 17.5.2018 über die Finanzierung des Arbeitsprogramms 2018 zur Schulung in den Bereichen Lebens- und Futtermittelsicherheit, Tiergesundheit, Tierschutz und Pflanzengesundheit im Rahmen des Programms ‚Bessere Schulung für sicherere Lebensmittel’, ABl. EU 2018 C 171/2. 225 Kommissionsbeschluss 74/234/EG v. 16.4.1974 zur Einsetzung eines wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses, ABl. EG 1974 L 136/1; später ersetzt durch den Kommissionsbeschluss 95/273/EG v. 6.7.1995, ABl. EG 1995 L 167/22; zur Pflicht der Mitgliedstaaten zur Unterstützung des Ausschusses s. die RL 93/5/EWG des Rates v. 25.2.1993 über die Unterstützung der Kommission und die Mitwirkung der Mitgliedstaaten bei der wissenschaftlichen Prüfung von Lebensmittelfragen, ABl. EG 1993 L 52/18 (zur Rechtsbereinigung aufgehoben durch die RL (EU) 2015/254 des EP und des Rates v. 11.2.2015 zur Aufhebung der RL 93/5/EWG (…), ABl. EU 2015 L 43/1). 226 Kommissionsbeschluss 97/579/EG v. 23.7.1997 zur Einsetzung der Wissenschaftlichen Ausschüsse im Bereich der Verbrauchergesundheit und der Lebensmittelsicherheit, ABl. EG 1997 L 237/18, aufgehoben durch den Beschluss 2004/210/EG der Kommission v. 3.3.2004 zur Einsetzung wissenschaftlicher Ausschüsse im Bereich Verbrauchersicherheit, öffentliche Gesundheit und Umwelt, ABl. EU 2004 L 66/45.

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verbesserte Koordination227 der zwischenzeitlich bestehenden 6 Ausschüsse beschlossen wurde.228 Die Aufgaben dieser wissenschaftlichen Ausschüsse sind dann mit der Gründung der EFSA (zu ihr sogleich → Rn. 48 f.) gem. Art. 62 Abs. 1 BasisVO auf diese EUAgentur übergegangen (s. auch Erwägungsgrund 45 der BasisVO und zu den Regelungen im Rahmen der EFSA noch → Rn. 49). Die daneben bestehenden, durch Vertreter der Mitgliedstaaten besetzten Ständigen Ausschüsse im Rahmen der Komitologie-Rechtsetzung (zum Ständigen Lebensmittelausschuss → Rn. 41) wurden durch den mit der BasisVO geschaffenen Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit (Art. 58–59 der VO) abgelöst; entsprechend dem nun verfolgten übergreifenden Ansatz wurden in diesem Ausschuss die zuvor bestehenden Ausschüsse (Lebensmittel/Futtermittel/Veterinär, s. Art. 62 Abs. 2 BasisVO) zusammengeführt. b) Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) Mit eigener Rechtspersönlichkeit versehen ist die im Rahmen der Reform des EU-Lebens- 48 mittelrechts gegründete229 Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority – EFSA);230 als ihr Sitz wurde Parma bestimmt.231 Diese unabhängige EU-Agentur, deren Aufgaben und Struktur in Art. 22–49 BasisVO geregelt sind, hat die Aufgabe, die von der Kommission zu verantwortenden Entscheidungen gutachterlich vorzubereiten und zu begleiten; eigene Entscheidungsbefugnisse wurden ihr bewusst nicht übertragen, um eine Trennung zwischen (wissenschaftlicher) Risikobewertung und (politisch-administrativem) Risikomanagement zu gewährleisten.232 Als Organe der Behörde sieht die BasisVO neben dem Geschäftsführenden Direktor einen 49 Verwaltungsrat vor, dessen Mitglieder durch Rat und Parlament aus einer von der Kommission erstellten Liste233 ausgewählt werden (Art. 25 BasisVO); er ist wiederum für die Ernennung des Geschäftsführenden Direktors aus einer von der Kommission zu erstellenden Bewerberliste zuständig und erlässt auch die internen Regeln und das Arbeitsprogramm der Behörde; daneben besteht ein mit Vertretern der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten besetzter Beirat (Art. 27 BasisVO). Eine zentrale Rolle spielen die in Art. 28 BasisVO geregelten, durch einen zentralen Wissenschaftlichen Ausschuss koordi-

227 Kommissionsbeschluss 97/404/EG v. 10.6.1997 zur Einsetzung eines wissenschaftlichen Lenkungsausschusses, ABl. EG 1997 L 169/85. 228 Dazu ausführlich Knipschild ZLR 2000, 693 ff.; für einen Überblick zum Zeitpunkt der Neuordnung s. auch Trenkle ZLR 1997, 687 ff.; zur Rolle der wissenschaftlichen Ausschüsse auch Schlacke, Risikoentscheidungen im europäischen Lebensmittelrecht, 1998, S. 211 ff. 229 Kapitel III (Art. 22–49) der VO (EG) Nr. 178/2002 des EP und des Rates v. 28.1.2002 „zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit“, ABl. EG 2002 L 31/1. 230 Zu ihr s. die Beiträge in Alemanno/Gabbi (eds.), Foundations of EU Food Law and Policy: Ten Years of the European Food Safety Authority, 2014; Pintado in Mahieu/Merten-Lentz (éds.), Sécurité alimentaire, 2013, S. 147 ff.; zuvor im Überblick Kánska 29 ELRev. (2004), 711 ff., Klaus in Sosnitza, S. 45 ff., sowie die Beiträge in Blanquet/de Grove-Valdeyron (éds.), La création de l’autorité européenne de sécurité des aliments, 2005; für eine Bilanz nach fünf Jahren des Bestehens s. Alemanno RDUE 2007, 585 ff.; s. weiter Horst in FS Welsch, 2010, S. 47 ff.; Geslain-Lanéelle in Revet/Vidal (éds.), Annales de la Régulation, Vol. 2, 2009, S. 305 ff.; Smith/Terry/Detken EFFL 2012, 111 ff.; monographisch Gabbi, L’Autorità europea per la sicurezza alimentare, 2009. 231 Einvernehmlicher Beschluss der auf Ebene der Staats- und Regierungschefs vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten v. 13.12.2003, ABl. EU 2004 L 29/15, Art. 1 lit. b; zu den praktischen Nachteilen dieses Standorts, der über keinen internationalen Flughafen verfügt, s. Przyrembel DLR 2008, 409 (410 f.). 232 Dazu zB Gabbi EFFL 2007, 126 ff. 233 S. dazu den Aufruf zur Interessenbekundung für die Mitgliedschaft im Verwaltungsrat der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, ABl. EU 2006 C 210/47.

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§ 8 Lebensmittelrecht

nierten Wissenschaftlichen Gremien („Panels“), die sich bestimmten Sachgebieten widmen.234 Sie sind mit unabhängigen Wissenschaftlern zu besetzen,235 wobei diese Unabhängigkeit insbesondere auch gegenüber der „beaufsichtigten“ Industrie gesichert sein muss;236 die bei sektoralen Regulierungsbehörden allgemein bestehende Gefahr der „regulatory capture“ 237 durch die Entstehung von Verbindungen zu den in diesem Bereich aktiven Unternehmen gilt aber auch für das hauptamtliche Personal der EFSA.238 Zugleich ist auch die Unabhängigkeit gegenüber den politischen Entscheidungsträgern zu wahren, was insbesondere bei politisch nicht erwünschten Gutachten-Ergebnissen zum Tragen kommt;239 diese institutionell verfestigte Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Begutachtung ist einer der wesentlichen Erträge der Reform des EU-Lebensmittelrechts nach der BSE-Krise. 50 Gutachten der Behörde können gem. Art. 29 BasisVO nicht nur von der Kommission, sondern auch durch das Europäische Parlament oder die Mitgliedstaaten angefordert werden;240 die Behörde kann zudem auch in eigener Initiative Untersuchungen anstellen und ist ausdrücklich mit der Aufgabe betraut, möglichen künftigen Risiken für die Lebensmittelsicherheit nachzuspüren.241 Zugleich soll die Agentur gem. Art. 36 BasisVO die Vernetzung der in ihrem Aufgabenbereich tätigen, von den Mitgliedstaaten zu benennenden nationalen Behörden und Organisationen fördern, um den Informationsaustausch und die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Beteiligten zu erleichtern.242 Gutachten, Stellungnahmen und andere Dokumente der EFSA sind gem. Art. 38 BasisVO grundsätzlich zu veröffentlichen; nach Art. 40 BasisVO soll die Behörde in ihrem Zuständigkeitsbereich 234 Anzahl und Aufgabengebiete sind in Art. 28 Abs. 4 BasisVO festgelegt, können aber durch die Kommission an die technische und wissenschaftliche Entwicklung angepasst werden, s. dafür die VO (EG) Nr. 202/2008 der Kommission v. 4.3.2008 zur Änderung der VO (EG) Nr. 178/2002 hinsichtlich Anzahl und Bezeichnung der Wissenschaftlichen Gremien der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, ABl. EU 2008 L 60/17. 235 S. näher den Beschluss des EFSA-Verwaltungsrats v. 15.3.2012 „concerning the establishment and operations of the Scentific Committee, Scientific Panels and of their Working Groups”, verfügbar unter www.efsa.europa.eu/en/keydocs/docs/paneloperation.pdf. Zur Problematik der Rekrutierung unabhängigen Sachverstands und ihrer Handhabung durch die EFSA s. Gabbi European Journal of Risk Regulation 2011, 213 ff. = ders. in Salvatore (ed.), Le Agenzie dell’Unione Europea, 2011, S. 129 ff.; kritisch zur Zurückhaltung bei der Berufung von Experten aus der Industrie Horst in FS Welsch, 2010, S. 47, 50. 236 Art. 37 Abs. 2 BasisVO sieht hier die jährliche Abgabe einer Interessenerklärung vor, in der mögliche Beeinträchtigungen der Unabhängigkeit aufzuführen sind; für eine Klage, mit der inzident (in der Sache erfolglos) das Gutachten eines Ausschusses (hier der Arzneimittelagentur EMEA) wegen vermeintlicher Befangenheit angegriffen wurde, s. EuG 9.9.2010 – T-74/08, Slg 2010, II-4661, Rn. 86 ff. – Now Pharm AG/Kommission; für eine (erfolgreiche) entsprechende Beanstandung gegenüber der Autorité française de sécurité sanitaire des aliments (AFSSA) s. Conseil d’Etat (fr.), 11.2.2011 – Sté Aquatrium, RJEP 8/2011, 20 mAnm Friboulet. 237 Zum Begriff zB Basedow N&R 2007, 133. 238 S. die Empfehlung des Europäischen Ombudsmanns an die EFSA v. 14.12.2011 zur Beschwerde 0775/2010/ANA zum Fall eines unmittelbaren Wechsels einer EFSA-Abteilungsleiterin zu einem Biotechnologie-Unternehmen („Drehtür-Effekt“). 239 Dazu mit Beispielen Horst in FS Welsch, 2010, S. 47, 51. 240 Zum Verfahren s. die auf Art. 29 Abs. 6 BasisVO beruhende VO (EG) Nr. 1304/2003 der Kommission v. 11.6.2003 „über das von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit bei den an sie gerichteten Ersuchen um wissenschaftliche Gutachten anzuwendende Verfahren“, ABl. EU 2003 L 185/6. Aufträge durch nationale Gerichte sind dagegen ausgeschlossen, so EuGH 9.6.2005 – C-211/03 ua, Slg 2005, I-5141, Rn. 89 ff. – HLH Warenvertrieb und Orthica = ZLR 2005, 435. 241 Art. 34 BasisVO; dazu Kocharov EFFL 2010, 144 ff. 242 S. zu den Einzelheiten, insbes. den Anforderungen an die von den Mitgliedstaaten zu benennenden nationalen Institutionen, die VO (EG) Nr. 2230/2004 der Kommission v. 23.12.2004 „zur Festlegung der Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) Nr. 178/2002 des EP und des Rates betreffend das Netz der Organisationen, die in Bereichen tätig sind, auf die sich der Auftrag der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit erstreckt“, ABl. EU 2004 L 379/64.

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auch eine eigene aktive Informationspolitik betreiben. Derzeit noch im Gesetzgebungsverfahren befindet sich ein Kommissionsvorschlag für eine Änderung der LebensmittelbasisVO, mit der die Transparenz der Arbeit von EFSA weiter erhöht werden soll.243 Eine eigene Regelung wurde in Art. 30 BasisVO für den Fall divergierender wissenschaftli- 51 cher Bewertungen durch die EFSA und andere EU-Behörden oder nationale Stellen getroffen:244 Hier soll in einer Form von Abgleichsverfahren durch Austausch und Vervollständigung der Datengrundlagen nach Möglichkeit eine gemeinsame Bewertung erreicht werden. Wenn dies nicht möglich ist, sind die strittig gebliebenen Fragen in einem gemeinsam erstellten Papier zu bezeichnen; ein Letztentscheidungsrecht in solchen strittigen Punkten kommt der EFSA damit nicht zu.245 Weitergehende Wirkungen begründen die Stellungnahmen der EFSA aber teils bereits in den einzelnen Zulassungsregelungen des Sekundärrechts, nach denen die EU-Kommission Abweichungen von der Bewertung durch die EFSA begründen muss (→ Rn. 65, → Rn. 57);246 auch soweit eine solche Rechtfertigungslast nicht ausdrücklich normiert wurde, ist der Einschätzung der mit unabhängigem Sachverstand ausgestatteten Behörde aber besondere faktische Autorität zuzusprechen.247 Da und soweit die EFSA selbst keine verbindlichen Entscheidungen trifft, sondern nur Be- 52 ratungsfunktionen erfüllt, ist gegen ihre Handlungen kein Primärrechtsschutz248 eröffnet; daran ändert auch der durch den Vertrag von Lissabon eingefügte Art. 263 Abs. 5 AEUV nichts, der nun zwar ausdrücklich auch die EU-Agenturen als mögliche Beklagte benennt,249 aber die Erfüllung der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage voraussetzt. 250 Damit sind zwar Nichtigkeitsklagen in Bezug auf Entscheidungen im allgemeinen Verwaltungsbetrieb der EFSA – etwa über die Vergabe öffentlicher Aufträ-

243 Kommissionsvorschlag für eine VO über die Transparenz und Nachhaltigkeit der EU-Risikobewertung im Bereich der Lebensmittelkette (…), KOM(2018) 179 final v. 11.4.2018; skeptisch dazu Horst, S. 431 ff. 244 Zu diesem Verfahren s. O’Rourke EFFL 2007, 197 ff.; für ein Bsp. einer Divergenz zwischen dem deutschen Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und der EFSA zu den Risiken einer (in Deutschland gem. § 18 LFGB verbotenen) Verfütterung von Mischfutter mit Anteilen tierischer Fette s. VG Münster, 8.8.2007 – 6 K 1923/05 (juris); OVG Münster 24.6.2010 – 13 A 2775/07, LRE 61, 75, Rn. 47, 56 f.; BVerwG 28.9.2011 – 3 C 26/10, LMuR 2011, 140 (nur Ls.), Rn. 17; das Abstimmungsverfahren zwischen den Behörden war auch im Zeitpunkt der Revisionsentscheidung nicht abgeschlossen. 245 Dazu Alemanno in Vos (ed.), European Risk Governance, 2008, S. 37, 49 f. 246 So Art. 7 VO (EG) Nr. 1829/2003 für gentechnisch veränderte Lebensmittel; ebenso Art. 17 Abs. 1 S. 2 VO (EG) Nr. 1924/2006 (Health-Claims-VO). 247 S. Alemanno in Vos (ed.), European Risk Governance, 2008, S. 37, 51 f. 248 Die Rechtsschutzgarantie gegen Handeln der öffentlichen Gewalt gilt zwar auch im EU-Recht (s. Art. 47 GRC), anders als nach deutschem Verständnis bedeutet dies aber nicht notwendig auch die Gewährleistung von Primärrechtsschutz; dazu Ehlers/Gundel EU-Grundrechte § 27 Rn. 21, 51; ders. Jura 2008, 288 (292 ff.); zum Sekundärrechtsschutz s. sogleich bei Fn. 256. 249 Ebenso schon vor Inkrafttreten des Reformvertrags EuG 8.10.2008 – T-411/06, Slg 2008, II-2771 – Sogelma/AER = EuR 2009, 369 mAnm Gundel; bestätigend EuG 2.3.2010 – T-70/05, Slg 2010, II-313, Rn. 61 ff. – Evropaïki Dynamiki/EMSA. 250 In früheren Fällen hatte die EFSA sich vor dem EuG darauf berufen, dass sie als Beklagte einer Nichtigkeitsklage mangels Nennung in Art. 230 EGV nicht in Betracht komme, s. EuG 17.6.2008 – T-311/06, Slg 2008, II-88* (abgek. Veröff.), Rn. 24 f., 68 – FMC Chemical ua/EFSA; EuG 17.6.2008 – T-397/06, Slg 2008, II-90* (abgek. Veröff.), Rn. 23 f., 60 – Dow AgroSciences/EFSA; das EuG konnte in diesen Fällen die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen gegen eine Agentur noch offenlassen, weil die von der EFSA im Rahmen der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln erstatteten Gutachten nicht als verbindliche Entscheidung zu qualifizieren und damit kein tauglicher Klagegegenstand waren, dazu Michel Europe 8/2008, 13 f.; Gabbi European Journal of Consumer Law 2009, 171 (177 ff.); zur EFSA als Klagegegner s. auch MacMaoláin in Alemanno/Gabbi (eds.), Foundations of EU Food Law and Policy, 2014, S. 221 ff.

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§ 8 Lebensmittelrecht ge251 oder die Gewährung des Zugangs zu Dokumenten der Agentur252 – zulässig; insbesondere die gutachterlichen Stellungnahmen der EFSA können damit aber nicht unmittelbar angegriffen werden, sondern sind nur der Inzidentkontrolle im Rahmen von Nichtigkeitsklagen gegen Entscheidungen der Kommission zugänglich, in die sie eingeflossen sind.253 Damit unterscheidet sich die Lage der EFSA zB von der Situation der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA)254 (s. auch Janda → § 9 Rn. 38 ff.), die zwar grundsätzlich ebenfalls nur die Entscheidungen der Kommission fachlich vorbereitet, der in einzelnen Bereichen aber durchaus eigene Entscheidungszuständigkeiten eingeräumt sind, deren Ausübung mit der Nichtigkeitsklage kontrolliert werden kann.255 In Bezug auf die EFSA bleibt neben der inzidenten Kontrolle dagegen vor allem die Möglichkeit von Sekundärrechtsschutz im Form von Schadenersatzklagen;256 sie wird in Art. 47 Abs. 2 der BasisVO ausdrücklich anerkannt.257

III. Die einzelnen Bereiche 53 Der seit den 1960er Jahren entstandene und fortentwickelte Bestand des Sekundär- und Tertiärrechts im Lebensmittelsektor kann und soll hier nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt werden; stattdessen werden die wesentlichen Felder und Funktionen der EU-Rechtssetzung beleuchtet. Die Kommissionsmitteilung von 1985 hat insoweit systematisierend den auch unter der Herrschaft der „neuen Strategie“ bestehenden Harmonisierungsbedarf den Bereichen Gesundheitsschutz, Unterrichtung der Verbraucher und ihr Schutz in nicht gesundheitlichen Bereichen, lauterer Wettbewerb und Amtliche Überwachung zugeordnet.258 An dieser Einteilung orientiert sich in leicht modifizierter Form auch die folgende Darstellung in den großen Feldern (→ Rn. 54 ff.) Verbraucherschutz/Verbraucherinformation, (→ Rn. 60 ff.) Lebensmittelsicherheit und (→ Rn. 84 ff.) Überwachung.259

251 Für einen solchen Fall s. EuG 12.12.2012 – T-457/07, Rn. 24 – Evropaïki Dynamiki/EFSA. 252 S. dafür EuG 13.9.2013 – T-214/11 – Clientearth und PAN Europe/EFSA (aufgehoben durch EuGH 16.7.2015 – C-615/13 P); dazu Dupont-Lassalle Europe 11/2013, 17. 253 S. Gundel EuR 2009, 383 (391); offen Saurer DVBl. 2009, 1021 (1025 ff.); für eine solche inzidente Überprüfung der Stellungnahme des zuständigen Ausschusses der Europäischen Arzneimittelagentur s. schon Fn. 236 und weiter zB EuG 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00 ua, Slg 2002, II-4945, Rn. 9, 197 – Artegodan ua/Kommission. 254 S. zu ihr die VO (EG) Nr. 726/2004 des EP und des Rates v. 21.3.2004 „zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur“, ABl. EU 2004 L 136/1; für einen Vergleich beider Agenturen s. Krapohl 10 EPL (2004), 518 ff. 255 Für ein Bsp. s. EuG 14.12.2011 – T-52/09, Slg 2011, II-8133 – Nycomed Danmark ApS/EMA. 256 Zur Tendenz der Rspr., die Schutzlücken des Primärechtsschutzes mit der Haftungsklage des Art. 268, 340 Abs. 2 AEUV zu schließen und diese so zum Äquivalent einer allgemeinen Leistungsklage umzugestalten, s. Haratsch in FS Scheuing, S. 79, 84 ff. 257 Die Bestimmung ist Art. 340 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 288 Abs. 2 EGV) nachgebildet; s. dazu EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 88 – Alliance for Natural Health ua = EuZW 2005, 598; Kańska 29 ELRev. (2004), 711 (725). 258 Mitteilung „Vollendung des Binnenmarktes: Das gemeinschaftliche Lebensmittelrecht“ (Fn. 135), Rn. 9. 259 Eine ähnliche Grobeinteilung findet sich bei Schmidt am Busch, S. 123 ff.

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1. Lebensmittelbezeichnung, -etikettierung und -werbung a) Die Harmonisierung der Etikettierungsvorgaben Die Anforderungen an die Lebensmittelkennzeichnung wurden bereits früh Gegenstand 54 sekundärrechtlicher (Teil-)Harmonisierung;260 das war schon deshalb folgerichtig, weil hier einerseits zahlreiche nationale Disparitäten die Herstellung des Binnenmarktes beeinträchtigten (s. die Nachw. insbes. zu den Streitigkeiten um Verkehrsbezeichnungen → Rn. 17), andererseits die Verbraucherinformation nach der seit Ende der 1970er-Jahre etablierten EuGH-Rechtsprechung als das vorrangige Instrument zur Sicherung des Verbraucherschutzes anzusehen war (zu dieser „Etikettierungsrechtsprechung“ des EuGH → Rn. 18). Der Bereich wurde nun durch die Lebensmittelinformations-VO (LMIV)261 nochmals neu geordnet, die das zuvor geltende Recht ab Dezember 2014 abgelöst hat; auch in diesem Bereich wurde damit der Wechsel von der Richtlinie zur Verordnung vollzogen (→ Rn. 39 f.); in verschiedenen Feldern hängt die tatsächliche Geltung der Vorgaben allerdings vom Erlass von Durchführungsrechtsakten durch die Kommission ab (→ Rn. 56). Vorgesehen sind hier Regelungen zur verpflichtenden Nährwertkennzeichnung262 und auch Bestimmungen zur verpflichtenden Herkunftskennzeichnung von Lebensmitteln, deren umfassende Einführung aber unter dem Vorbehalt einer Folgenabschätzung steht263 (zur Problematik s. schon → Rn. 19 und → Rn. 56). Weitere spezielle Regelungen enthalten die VO (EG) Nr. 110/2008 zur Bezeichnung und Etikettierung von Spirituosen264 und die VO (EU) 2018/848 zur Kennzeichnung ökologischer Erzeugnisse.265 Ein spezifisches Problem des EU-Binnenmarktes stellen die Anforderungen an die Sprache 55 der Etikettierung dar, die Gegenstand häufiger Auseinandersetzungen waren. Nationale Regelungen in diesem Bereich stellen Eingriffe in die Freiheit des Warenverkehrs dar, die aus Gründen des Gesundheits- oder Verbraucherschutzes gerechtfertigt werden können, wenn sie zur Sicherstellung der Information tatsächlich erforderlich sind;266 derselbe Maßstab gilt hier auch für das Sekundärrecht (→ Rn. 36). Der Text der ersten Harmonisie260 Zunächst RL 79/112/EWG des Rates v. 18.12.1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür, ABl. EG 1979 L 33/1, abgelöst durch die RL 2000/13/EG des EP und des Rates v. 20.3.2000 „zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür“, ABl. EU 2000 L 109/29; zur Entwicklung der EU-Gesetzgebung in diesem Bereich s. auch MacMaoláin 45 CMLRev. (2008), 1147 ff. 261 VO (EU) Nr. 1169/2011 des EP und des Rates v. 25.10.2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (...), ABl. EU 2011 L 304/18; dazu Loosen ZLR 2011, 443 ff.; Dévény, EFFL 2011, 210 ff.; Gehrmann ZLR 2012, 161 ff.; Körber/Buch ZLR 2013, 425 ff. (509 ff.); Domeier LMuR 2014, 22 5 ff. 262 Art. 29 ff. VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 261). 263 Art. 26 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 261). 264 VO (EG) Nr. 110/2008 des EP und des Rates v. 15.1.2008 zur Begriffsbestimmung, Aufmachung und Etikettierung von Spirituosen sowie zum Schutz geografischer Angaben für Spitituosen und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 1576/89, ABl. EU 2008 L 39/16; für einen Anwendungsfall s. OLG Frankfurt 25.3.2010 – 6 U 219/09 ZLR 2010, 458 mAnm v. Jagow. 265 VO (EU) 2018/848 des EP und des Rates v. 30.5.2018 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 834/2007 des Rates, ABl. 2018 L 150/1; erstmals fanden sich entsprechende Regelungen in der VO (EWG) Nr. 2092/91 des Rates v. 24.6.1991 über den ökologischen Landbau und die entsprechende Kennzeichnung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und Lebensmittel, ABl. EG 1991 L 198/1, ersetzt durch die nun aufgehobene VO (EG) Nr. 834/2007 des Rates v. 28.6.2007, ABl. EU 2007 L 189/1; dazu EuGH 14.7.2005 – C-135/03, Slg 2005, I-6909 – Kommission/Spanien = ZLR 2005, 695 mAnm v. Jagow; EuGH 14.7.2005 – C-107/04, Slg 2005, I-7137 – Comité Andaluz de Agricultura Ecológica = ZLR 2005, 706 mAnm v. Jagow. 266 S. dazu besonders weitgehend Cour de cassation (fr.), ch. crim., 14.11.2000 – Strafverfahren gegen O’Rourke ua, JCP 2001 II No 10525 mAnm Dreyer = ZEuP 2003, 635 mAnm Micklitz: Die Strafbar-

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rungsrichtlinie hatte hier zunächst nur die Abfassung in einer für den Verbraucher im Vermarktungsstaat „leicht verständlichen Sprache“ verlangt267 – die nicht notwendig auch die Amtssprache dieses Staates sein muss268 – und alternativ auch die Unterrichtung „durch andere Maßnahmen“ wie Piktogramme zugelassen; die vage gehaltene Regelung hat in auf die Verteidigung ihrer Sprache bedachten Mitgliedstaaten zu der Befürchtung geführt, dass sich als „leicht verständlich“ schließlich das Englische durchsetzen werde.269 Mit der Neufassung der Richtlinie im Jahr 2000 wurde dann ergänzend festgehalten, dass der Vermarktungsstaat die Verwendung einer oder mehrerer EU-Amtssprachen verlangen könne,270 jedoch „unter Beachtung der Bestimmungen des EG-Vertrages“. Diese Lösung ist – allerdings unter Fortfall des Bezugs auf das Primärrecht – bei der Neufassung durch die Lebensmittelinformations-VO beibehalten worden.271 56 Besondere Probleme wirft auch die Pflicht zur Herkunftskennzeichnung auf: Hierbei handelt es sich tatsächlich um eine Regelung, die trotz einheitlicher Geltung marktspaltend wirken kann; zudem kann die verpflichtende Angabe dazu genutzt werden, dem Verbraucher den Kauf „nationaler“ Produkte nahezulegen. Mitgliedstaatliche Regelungen zu einer verpflichtenden Herkunftskennzeichnung hat der Gerichtshof wohl vor diesem Hintergrund für unzulässig erklärt (→ Rn. 19). Nach dem bisher geltenden EU-Kennzeichnungsrecht erfolgten Herkunftsangaben bei Lebensmitteln grundsätzlich freiwillig; erforderlich war die Angabe nur, soweit ihr Fehlen den Verbraucher in die Irre führen würde,272 er also aufgrund der Gegebenheiten von einer unzutreffenden Herkunft273 ausgehen würde. Gesondert geregelte Ausnahmen von dieser Freiwilligkeit für einzelne Lebensmittel bestanden seit langem; sie galten und gelten für Agrarprodukte wie Obst und Gemüse, Honig, Olivenöl etc,274 für andere Produkte wie zB Milch aber nicht. In Bezug auf Rindfleisch ist eine solche Pflicht zur Herkunftskennzeichnung dann unter dem Eindruck der BSE-Krise Bestandteil des Sekundärrechts geworden.275 In der LebensmittelinformationsVO ist die Erstreckung auf unverarbeitetes (verpacktes) Schweine-, Schaf-, Ziegen- und

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keit des Vertriebs eingeführter Textilien ohne Pflegehinweise in der Landessprache sei durch Gründe des Verbraucherschutzes gerechtfertigt. Art. 14 RL 79/112/EWG (Fn. 260). So die Schlussfolgerung von EuGH 12.9.2000 – C-366/98, Slg 2000, I-6579 – Geffroy = EuZW 2001, 16 mAnm Bachmann = Rec. Dalloz – droit des affaires 2001, 1458 mAnm Pontier = ZLR 2000, 899; s. auch noch EuGH 18.6.1991 – C-369/89, Slg 1991, I-2971 – Piageme I; EuGH 12.10.1995 – C-85/94, Slg 1995, I-2955 – Piageme II = EuZW 1996, 14 mAnm Schilling; zur Entwicklung der Rspr. s. auch Candela Soriano CDE 2002, 9 ff. So zB deutlich Pontier, Droit de la langue française, 1997, S. 54 f.; Frangi RIDE 2003, 135 (136 f.). Zu dieser Neuregelung in Art. 16 Abs. 2 der RL 2000/13/EG (Fn. 260) s. Herrmann/Kraus ZLR 2001, 679 ff. Art. 15 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 261); dazu zB Karsten ZLR 2013, 41 ff.; VG Bremen 16.7.2017 – 5 K 1460/16, LMuR 2017, 151 (unzulässiger Vertrieb von ausschließlich in polnischer Sprache etikettierten Lebensmitteln in Deutschland). Art. 3 Abs. 1 Nr. 8 RL 2000/13/EG (Fn. 260). Zu den praktischen Schwierigkeiten der Herkunftsbestimmung bei Lebensmitteln, die nicht ausschliesslich auf dem Territorium eines Staates erzeugt wurden, s. die anhängige Rechtssache C-686/17 (Vorlagebeschluss BGH 21.9.2017 – I ZR 74/16 ZLR 2018, 90); dazu Kiefer ZLR 2018, 15 ff. Die Rechtsgrundlagen dieser jeweils seit längerem bestehenden Verpflichtungen sind in jüngerer Zeit teils neu gefaßt worden, s. für Obst und Gemüse Art. 6 der DurchführungsVO (EU) Nr. 543/2011 der Kommission v. 7.6.2011 (...), ABl. EU 2011 L 157/1; für Olivenöl Art. 4 der DurchführungsVO (EU) Nr. 29/2012 der Kommission v. 13.1.2012 mit Vermarktungsvorschriften für Olivenöl, ABl. EU 2012 L 12/14; für Honig Art. 2 der RL 2001/110/EG des Rates v. 20.12.2001 über Honig, ABl. EG 2002 L 10/47; für Fisch Art. 35 der VO (EU) Nr. 1379/2013 des EP und des Rates v. 11.12.2013 über die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur, ABl. EU 2013 L 354/1 (Angabe des Fanggebiets); zu den früheren Fundstellen s. zB Kirchsteiger-Meier/Wick ZLR 2014, 438 (445). Art. 5 Abs. 2 und 5 der VO (EG) Nr. 1760/2000 des EP und des Rates v. 17.7.2000 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Rindern und über die Etikettierung von

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Geflügelfleisch verbindlich vorgesehen,276 aber vom Erlass eines zwischenzeitlich ergangenen Durchführungsrechtsakts der Kommission abhängig gemacht worden.277 Ebenfalls zwingend vorgesehen ist die Angabe der Herkunft der primären Zutat eines Lebensmittels, wenn die Herkunft des Lebensmitttels angegeben wird und die Herkunft der Zutat sich hiervon unterscheidet;278 auch hier hat die Kommission die erforderliche Durchführungsverordnung nun erlassen.279 Für andere Lebensmittel wie zB Milch oder Zutaten in verarbeiteten Lebensmitteln, also zB verarbeitetes Fleisch, enthält die LebensmittelinformationsVO einen Berichtsauftrag an die Kommission,280 auf dessen Grundlage dann über die Ausweitung entschieden werden sollte. Diese Berichte281 sind allerdings im Ergebnis negativ ausgefallen, wofür die Kommission zum einen auf die hohen Kosten der Erfassung, zum anderen auf die Gefahren der Anstachelung eines „Lebensmittel-Nationalismus“282 abgestellt hat.283 Eine Ausweitung der Kennzeichnungspflicht auf europäischer Ebene wird es also in näherer Zukunft voraussichtlich nicht geben; allerdings haben im Anschluss an diesen Befund mehrere Mitgliedstaaten mit stillschweigender Duldung der Kommission nationale Herkunftskennzeichnungsregeln erlassen, deren Vereinbarkeit mit den Vorgaben der LebensmittelinformationsVO zweifelhaft ist (→ Rn. 19).284 b) Die Regulierung der Lebensmittelwerbung, insbes. durch die Health-Claims-VO Die Etikettierungs- und Werbevorgaben des EU-Lebensmittelrechts waren zunächst vor 57 allem durch das Motiv des Verbraucherschutzes bestimmt; später sind verstärkt Werbere-

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Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen sowie zur Aufhebung der VO Nr. 820/97, ABl. EG 2000 L 204/1. Art. 26 Abs. 2 lit. b VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 261); der 31. Erwägungsgrund der VO verweist hierfür auf die durch die Rindfleischetikettierung ausgelöste „Erwartungshaltung der Verbraucher“; zur Frage der Vereinbarkeit mit den Binnenmarkt-Grundsätzen s. Böhm, Die verpflichtende Herkunftskennzeichnung nach der LMIV, S. 280 ff.; Gundel GewArch 2016, 176 (181). DurchführungsVO (EU) Nr. 1337/2013 der Kommission v. 13.12.2013 mit Durchführungsbestimmungen zur VO (EU) Nr. 1169/2011 (…) hinsichtlich der Angabe des Ursprungslands bzw. Herkunftsorts von frischem, gekühltem oder gefrorenen Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelfleisch, ABl. EU 2013 L 335/19; zu ihren Vorgaben auch Carreño EJRR 2014, 213 ff.; Teufer ZLR 2015, 15 (30 ff.); Steiner/Weigel ZLR 2015, 428 ff. Art. 26 Abs. 3 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 261). DurchführungsVO (EU) 2018/775 der Kommission v. 28.5.2018 mit den Einzelheiten zur Anwendung von Art. 26 Abs. 3 der VO (EU) Nr. 1169/2011 (…) hinsichtlich der Vorschriften für die Angabe des Ursprungslands oder Herkunftsorts der primären Zutat eines Lebensmittels, ABl. EU 2018 L 131/8. Die Regelung gilt ab dem 1.2.2020, zu ihr Grube/Unland ZLR 2018, 741 f.; Kiontke ZLR 2018, 502 ff.; González Vaqué EFFL 2018, 304 (308 ff.). Art. 26 Abs. 5 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 261). Bericht der Kommission über die obligatorische Angabe des Ursprungslands oder des Herkunftsorts im Falle von Milch, von Milch, die als Zutat in Milchprodukten verwendet wird, und von anderen Fleischsorten als Rind-, Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelfleisch, KOM(2015) 205 endg. v. 20.5.2015; Bericht der Kommission über die obligatorische Angabe des Ursprungslands oder Herkunftsorts bei unverarbeiteten Lebensmitteln, Erzeugnissen aus einer Zutat und Zutaten, die über 50 % eines Lebensmittels ausmachen, KOM(2015) 204 endg. v. 20.5.2015. KOM(2015) 204 endg. (Fn. 281), 9 f.: Es bestehe die Gefahr einer „Nationalisierung der Lebensmittellieferkette“, da fast die Hälfte der Verbraucher angegeben habe, Erzeugnissen aus dem eigenen Land den Vorzug zu geben, und die Hersteller hierauf bei der Auswahl ihrer Rohstoffe reagieren würden; knapper KOM(2015) 205 endg. (Fn. 281), 10: „Renationalisierung des Binnenmarktes“; zu diesem insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten virulenten „consumer ethnocentrism“ s. eindringlich Hojnik 49 CMLRev. (2012), 291 ff.; s. auch dies. WiRO 2012, 329 ff. Dass diese Befürchtungen einen realen Hintergrund haben, zeigt auch eine in der Presse berichtete Zielangabe des damaligen französischen Staatspräsidenten Hollande, s. FAZ Nr. 47 v. 25.2.2013, S. 19 („Hollande fordert Herkunftsnachweis für Fleischgerichte“); als wörtliches Zitat wird hier wiedergegeben: „Bis zum Ende des Jahres werden wir es schaffen, nur noch französisches Fleisch in den Fertiggerichten zu haben.“ Maßstab ist Art. 39 Abs. 2 VO (EU) Nr. 1169/2011 (Fn. 261).

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§ 8 Lebensmittelrecht gulierungen aus Gründen des Gesundheitsschutzes hinzugetreten. Zwischen beiden Motiven oszilliert die Regelung von gesundheitsbezogenen (Werbe-)Aussagen in Bezug auf Lebensmittel, den sog „Health claims“. Sie sind inzwischen einem eigenständigen und sehr intensiven Regime auf EU-Ebene unterworfen: Die auf die Binnenmarktkompetenz des heutigen Art. 114 AEUV gestützte285 VO (EG) Nr. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel286 stellt gem. Art. 10 Abs. 1 der VO gesundheitsbezogene Werbeaussagen genehmigungspflichtig287 und sieht für die Erteilung einer solchen Genehmigung ein aufwendiges mehrstufiges Verfahren288 unter Einbeziehung der Mitgliedstaaten und der EFSA289 vor; materiell setzt die Erteilung der Genehmigung durch die Kommission einen Wirksamkeitsnachweis voraus.290 Die Entscheidung über die Aufnahme in die Liste zugelassener Angaben ergeht nach der Kommissionspraxis in Verordnungsform;291 gegenüber einer Ablehnung der Zulassung können die betroffenen Unternehmen damit gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV zwar nicht als Adressaten einer Entscheidung,292 aber als individuell und unmittelbar betroffene Dritte den Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage des Art. 263 Abs. 4 (2. Alternative) AEUV nutzen;293 zusätzlich steht ihnen nun auch die durch den Vertrag von Lissabon geschaffene dritte Alternative des Art. 263 Abs. 4 AEUV zur Verfügung (→ Rn. 43). Dieses Instrument ist auch schon zum Einsatz gekommen, weil auch hier das anspruchvolle Regelungsprogramm des Sekundärrechts die Kommission überfordert hat: Die in Art. 13 der VO (EG) Nr. 1924/2006 vorgesehene Liste der allgemein zugelassenen Angaben, die bis zum 31.1.2010 erlassen werden sollte, wurde mit erheblicher Verspätung und nur unvollständig erlassen,294 wogegen betroffene Unternehmen eine nach den neuen Bestimmungen zulässige, allerdings in der Sache erfolg285 Kompetenzrechtliche Bedenken finden sich in Bezug auf den Vorschlag bei Sosnitza ZLR 2004, 1 (18 f.); Hüttebräuker WRP 2004, 188 (193 ff.); in jüngerer Zeit speziell zum absoluten Verbot gesundheitsbezogener Werbeaussagen für Alkohol gem. Art. 4 Abs. 3 der VO Maaßen/Schoene ZLR 2011, 709 ff. in Anknüpfung an das erste Tabakwerbungs-Urteil des EuGH (Fn. 300). 286 VO (EG) Nr. 1924/2006 des EP und des Rates v. 20.12.2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel, ABl. EU 2006 L 404/9, berichtigt ABl. EU 2007 L 12/3. 287 Die Wirkung des neuen Regimes hat sich allerdings durch großzügige Übergangsfristen für zuvor rechtmäßig verwendete Aussagen erheblich verzögert, s. dazu Loosen in FS Welsch, 2010, S. 279 ff. 288 Aus der umfangreichen Literatur s. zB Greifeneder, Nährwert- und Gesundheitsbezogene Angaben bei Lebensmitteln in Deutschland und Europa, 2009; Rempe, Verbraucherschutz durch die HealthClaims-Verordnung, 2009; Kostuch, Die wissenschaftliche Absicherung von Werbeaussagen nach LFGB, HWG und Verordnung (EG) Nr. 1924/2006, 2010. 289 Speziell zur Rolle der EFSA s. Meisterernst in Leible (Hrsg.), Verbraucherschutz durch Information im Lebensmittelrecht, 2010, S. 61 ff. 290 S. näher die VO (EG) Nr. 353/2008 der Kommission v. 18.4.2008 zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen für Anträge auf Zulassung gesundheitsbezogener Angaben gem. Art. 15 der VO (EG) Nr. 1924/2006, ABl. EU 2008 L 109/11. 291 Für auf dieser Grundlage getroffene Entscheidungen der Kommission zur Zulassung einzelner Werbeaussagen bzw. ihrer Versagung s. zB VO (EU) Nr. 382/2010 v. 5.5.2010, ABl. EU 2010 L 113/1; VO (EU) Nr. 383/2010 v. 5.5.2010, ABl. EU 2010 L 113/4; VO (EU) Nr. 384/2010 v. 5.5.2010, ABl. EU 2010 L 113/6;. 292 Der Wortlaut der Bestimmungen legt allerdings im Fall von Einzelanträgen nach Art. 17 die Rechtsform der Entscheidung (nun: Beschluss) nahe, s. dazu Streinz in Leible (Fn. 289), S. 69, 78 f. 293 Zum Rechtsschutz s. ausführlich Streinz in Leible (Fn. 289), S. 69 ff.; Delewski LMuR 2009, 41 ff. (80 ff.); für Klagen von Antragstellern s. EuG 30.4.2014 – T-17/12, ZLR 2014, 472 – Hagenmeyer u. Hahn/Kommission – mAnm Meisterernst (der Klageschriftsatz, mit dem auch die Wahl der Verordnungsform als fehlerhaft beanstandet wurde, ist veröffentlicht bei Teufer/Hagenmeyer/Hahn EFFL 2012, 28 ff.); EuG 16.3.2016 – T-100/15, ZLR 2016, 477 – Dextro Energy/Kommission – mAnm Seehafer, bestätigt durch EuGH 8.6.2017 – C-296/16 P ZLR 2017, 574 mAnm Kurzai = WRP 2017, 927 mAnm Meisterernst. 294 VO (EU) Nr. 432/2012 der Kommission v. 16.5.2012 zur Festlegung einer Liste zulässiger anderer gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel, ABl. EU 2012 L 136/1; dazu Coppens EFFL 2012, 162 ff.; Hahn/Hagenmeyer ZLR 2013, 4 ff.; Loosen/Hagenmeyer/Hahn in FS Horst, S. 125 ff.; Ullrich/Schikorra LMuR 2013, 7 ff.

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lose Nichtigkeitsklage erhoben haben.295 Vollständig ist der Rahmen bis heute nicht, weil die Beurteilung der Angaben zu pflanzlichen Wirkstoffen („Botanicals“) bisher ungelöste Probleme aufwirft.296 Ob der sehr strikte Rahmen der Health-Claims-VO297 auch für eher banale Behauptungen etwa über die „Bekömmlichkeit“ eines Lebensmittels gilt und ob die Regelung bei Bejahung dieser Frage noch als verhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit der betroffenen Hersteller und Händler angesehen werden kann, war umstritten und ist Gegenstand von Vorlagen deutscher Gerichte an den EuGH geworden, der die Bedenken allerdings nicht geteilt hat.298 c) Die primärrechtlichen Prüfungsmaßstäbe Einen Schritt weiter als die Genehmigungspflicht gehen spezifisch auf bestimmte Produkte 58 bezogene Werbebeschränkungen oder Werbeverbote; hier ist eine Legitimierung allein durch Verbraucherschutz-Motive regelmäßig kaum vorstellbar, so dass solche Regelungen letztlich nur durch Gründe des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt werden können.299 Ein Musterbeispiel für die in solchen Konstellationen aufeinanderstoßenden Positionen bildet der Streit um die Werbeverbote der Tabakwerberichtlinie:300 Die Zulässigkeit solcher Maßnahmen war vor allem in der deutschen Literatur heftig umstritten, wobei sowohl kompetenzrechtliche (zur Reichweite des Art. 114 AEUV s. schon → Rn. 24 f.) als auch grundrechtliche Bedenken geltend gemacht wurden. In der Rechtsprechung ist allerdings geklärt, dass nicht nur die Mitgliedstaaten bei Maßnahmen des Gesundheitsschutzes über erheblichen Spielraum verfügen (s. dazu im Rahmen des Warenverkehrs → Rn. 14 ff.), dessen divergierende Nutzung die Harmonisierungskompetenz des Art. 114 AEUV aktivieren kann (s. zur Kompetenz → Rn. 24 f.): Auch der EU-Gesetzgeber verfügt angesichts der Bedeutung des Rechtsguts Gesundheit über einen weitreichenden Handlungsspiel295 EuG 12.6.2015 – T-296/12 ZLR 2015, 635 – Health Food Manufacturers’ Association ua/Kommission – mAnm Gundel. 296 Eine auf diesen Bereich gerichtete Untätigkeitsklage wurde als wegen fehlender Betroffenheit der Kläger unzulässig zurückgewiesen, s. EuGH 23.11.2017 – verb. Rs. C-596/15 u. C-597/15 P, ZLR 2018, 32 – Bionorica und Diapharm/Kommission – mAnm Gundel; die Problematik liegt darin, dass der geforderte Wirkungsnachweis (s. bei Fn. 289) hier häufig nicht möglich ist, ein Verbot dieser etablierten Angaben aber auch unangemessen erscheint. 297 S. stellvertretend für die im Gesetzgebungsverfahren geäußerte Kritik Hüttebräuker WRP 2004, 188 ff.; Sosnitza ZLR 2004, 1 ff.; Haratsch ZEuS 2004, 559 ff. 298 S. zum Verbot von Health Claims für alkoholische Getränke in Art. 4 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 1924/2006, dem auch diese Aussage unterfällt: EuGH 6.9.2012 – C-544/10, EuZW 2012, 828 – Deutsches Weintor eG – mAnm Riemer = ZLR 2012, 602 mAnm Gorny/Meier = LMuR 2012, 245 mAnm Leible/Schäfer auf Vorlage von BVerwG 23.9.2010 – 3 C 36/09 ZLR 2011, 103 mAnm Koch; die parallel als C-51/11 – Schutzverband der Spirituosenindustrie/Sonnthurn Vertriebs GmbH – anhängige Vorlage des BGH 13.1.2011 – I ZR 22/09 ZLR 2011, 226 mAnm Sosnitza hat der BGH im Anschluss zurückgenommen; zur Übernahme des Ergebnisses dann BGH 17.5.2018 – I ZR 252/16, WRP 2018, 1461 = ZLR 2019, 109 mAnm Voß. 299 S. dafür zB die Einschränkungen der Werbung für Säuglingsnahrung durch Art. 7 und 8 der RL 91/321/EWG der Kommission v. 14.5.1991 über Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung, ABl. EG 1991 L 175/35 (später kodifiziert in der RL 2006/141/EG der Kommission v. 22.12.2006, ABl. EU 2006 L 401/1), die insbes. Werbung verbieten, die vom Stillen abhalten könnte; dazu Mettke ZLR 1995, 635 ff.; Sosnitza ZLR 1997, 519 ff. 300 Zunächst RL 98/43/EG des EP und des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. EG 1998 L 213/9, nach Aufhebung durch EuGH5.10.2000 – C-376/98 (Deutschland/Rat und Parlament), Slg 2000, I-8419 = JZ 2001, 32 mAnm Götz = EuZW 2000, 694 mAnm B. Wägenbaur; dann im zweiten Anlauf die gleichnamige RL 2003/33/EG des EP und des Rates v. 26.5.2003, ABl. EU 2003 L 152/16, gebilligt durch EuGH 12.12.2006 – C-380/03, Slg 2006, I-11573 – Deutschland/Parlament und Rat – Tabakwerbung II = EuZW 2007, 46 mAnm Stein = EuR 2007, 230 mAnm Gundel = ZLR 2007, 337 mAnm Schroeder/Lechner.

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raum, der auch weitgehende Werbeverbote für legale, aber gesundheitsschädliche Produkte umfassen kann.301 Der in solchen Regelungen liegende Eingriff in die durch Art. 16 GRC geschützte unternehmerische Freiheit wird regelmäßig gerechtfertigt sein.302 Auch der Schutz von Werbeaussagen durch die Meinungsfreiheit gem. Art. 10 EMRK bzw. nun auch Art. 11 GRC steht dem nicht entgegen, da der hierdurch vermittelte Schutz nach der übereinstimmenden Rechtsprechung von EGMR303 und EuGH304 entsprechend dem geringen Beitrag solcher Werbeaussagen zur öffentlichen Meinungsbildung nur schwach ausgeprägt ist.305 59 Soweit Werbe- oder Etikettierungsvorgaben des EU-Gesetzgebers sich nur auf Gründe des Verbraucherschutzes stützen können, gewinnt die Diskussion um das zugrundezulegende „Verbraucherleitbild“, also die typischerweise zugrundezulegende Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft des Verbrauchers für Informationen, zentrale Bedeutung. Hierbei ist die Lage bei Maßnahmen des EU-Gesetzgebers allerdings zu unterscheiden von der Parallelkonstellation bei nationalen Beschränkungen, die sich als Integrationshemmnisse im Binnenmarkt auswirken: In diesem Bereich der nationalen Eingriffe wendet der EuGH bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung das Leitbild des „verständigen Verbrauchers“ an (→ Rn. 18).306 Das bedeutet aber nicht von vornherein, dass auch der EU-Gesetzgeber bei seinen Maßnahmen diesen Maßstab zugrunde legen müsste:307 Der EuGH hat zwar auch bei der Auslegung von Sekundärrecht in diesem Punkt schon auf die zu den Grundfreiheiten ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen;308 soweit der EU-Gesetzgeber aber explizit einen intensiveren Schutzstandard verankert (→ Rn. 57),309 ist insoweit bei der Prüfung 301 Zu solchen Überlegungen s. Alemanno/Garde 50 CMLRev. (2013), 1745 ff.; Bartlett/Garde 38 ELRev. (2013), 498 ff.; bei der jüngsten Revision der Bestimmungen für Fernsehwerbung durch die RL (EU) 2018/1808 des EP und des Rates v. 14.11.2018 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste im Hinblick auf sich verändernde Marktbedingungen, ABl. EU 2018 L 303/69, wurden diese Bestrebungen allerdings nicht aufgenommen, s. dazu Gundel ZUM 2019, 131 (135). 302 S. EuGH 17.12.2015 – C-157/14, ZLR 2016, 46 – Neptune Distribution – mAnm v. Jagow; zu Etikettierungsvorgaben als Eingriff in Art. 16 GRC s. auch EuGH 30.6.2016 – C-134/15, LMuR 2016, 240, Rn. 26 ff. – Lidl = EuR 2016, 691 mAnm Drechsler. 303 Selbst das (über die Richtlinie hinausgehende) Verbot der sog indirekten „Tabakwerbung“ im redaktionellen Teil von Presseerzeugnissen hat der EGMR als zulässige Beschränkung des Art. 10 EMRK unbeanstandet gelassen, s. EGMR (5. Sektion) 5.3.2009 – Hachette Filipacchi Presse Automobile ua ./. Frankreich, §§ 44 ff.; EGMR (5. Sektion) 5.3.2009 – Sté de Conception de Presse et d’Edition ua ./. Frankreich, §§ 54 ff. = Légipresse 2009 III, 127 mAnm Gras. 304 Dazu EuGH 25.3.2004 – C-71/02, Slg 2004, I-3025, Rn. 51 – Karner = EWS 2004, 220 = EuZW 2004, 439 und EuGH 23.10.2003 – C-245/01, Slg 2003, I-2489, Rn. 73 – RTL Television, im Anschluss an die Rspr. des EGMR; weiter EuGH 17.12.2015 – C-157/14, ZLR 2016, 46 – Neptune Distribution – mAnm v. Jagow, Rn. 63 ff. mit ausdrücklichem Verweis auf den durch Art. 52 Abs. 3 GRC geforderten Gleichlauf von Art. 11 GRC mit Art. 10 EMRK; ebenso EuGH 4.5.2016 – C-547/14, ZLR 2016, 643 – Philip Morris Brands – mAnm Dalby, Rn. 147 ff.; aA Mand JZ 2010, 337 (341), der unter Berufung auf eine ältere EGMR-Entscheidung die EuGH-Rechtsprechung als restriktiver ansieht; die Tabakwerbungs-Entscheidungen des EGMR (Fn. 303) werden dabei allerdings nicht berücksichtigt. 305 Im Ergebnis dürften das Schutzniveau der Art. 16 und 11 GRC hier übereinstimmen, s. die parallele Prüfung in EuGH 17.12.2015 – C-157/14, ZLR 2016, 46 mAnm – Neptune Distribution – v. Jagow, Rn. 63 ff.; s. auch Gundel ZHR 180 (2016), 323 (356 f.). 306 S. zB EuGH 6.7.1995 – C-470/93, Slg 1995, I-1923, Rn. 24 – Mars; EuGH 26.10.1995 – C-51/94, Slg 1995, I-3599, Rn. 34 – Kommission/Deutschland – Sauce béarnaise. 307 Ähnlich Durner in VVDStRL 70 (2011), 398 (415 f.), der in den Verbraucherschutzbestrebungen des EU-Gesetzgebers eine „paternalistische Akzentverschiebung“ gegenüber der Binnenmarkt-Rechtsprechung kritisiert, zugleich aber festhält, dass der Gesetzgeber sich „bislang im Rahmen der primärrechtlichen Spielräume“ halte. 308 S. insbes. EuGH 16.7.1998 – C-210/96, Slg 1998, I-4657, Rn. 27 ff. – Gut Springenheide = EuZW 1998, 526 mAnm Leible; dazu auch Reese WRP 1998, 1035 ff.; Rüffler wbl. 1998, 381 ff. 309 Das dürfte zB im Fall der Health-Claims-VO geschehen sein.

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der Verhältnismäßigkeit der entsprechenden Eingriffe in die Unternehmensrechte zu berücksichtigen, dass seine Regelungen EU-weit gelten und daher regelmäßig nicht marktabschottend wirken. Damit entfällt nicht nur eine Beschränkung der Grundfreiheiten; auch der stattdessen zu prüfende Eingriff in die Grundrechte der Lebensmittel-Unternehmen ist hierdurch tendenziell weniger schwerwiegend.310 2. Lebensmittelsicherheit a) Die allgemeinen Vorgaben der BasisVO und konkretisierendes Sekundärrecht Die allgemeinen Vorgaben für die Lebensmittelsicherheit finden sich ebenfalls in der Basis- 60 VO: Hier ist generell festgehalten, dass gesundheitsschädliche oder zum Verzehr ungeeignete Lebensmittel311 (→ Rn. 86) nicht in Verkehr gebracht werden dürfen (Art. 14 BasisVO). Die Verantwortung für die Einhaltung der Anforderungen wird an erster Stelle den Lebensmittelunternehmen312 zugewiesen (Art. 17 Abs. 1 BasisVO):313 Sie sind verpflichtet, „auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen in den ihrer Kontrolle unterstehenden Unternehmen“ dafür zu sorgen, „dass die Lebensmittel oder Futtermittel die Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen, die für ihre Tätigkeit gelten“, und die Einhaltung dieser Anforderungen zu überprüfen.314 Erst an zweiter Stelle wird dann die Aufsichts- und Überwachungspflicht der Mitgliedstaaten angeführt (Art. 17 Abs. 2 BasisVO; zur Überwachung s. noch → Rn. 84 ff.) Auf die Problematik der Vielzahl von Produktions- und Vertriebsstufen reagieren die Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit von Produkten und Vorprodukten (Art. 18 BasisVO),315 die in zahlreichen Spezialregelungen wiederholt werden (→ Rn. 65 ff.).316 Schließlich werden die Lebensmittelunternehmen auch verpflichtet, im Fall erkannter oder vermuteter Verstöße gegen die Lebensmittelsicherheit die betroffenen Produkte aktiv „vom Markt zu nehmen“ und die zuständigen Behörden zu unterrichten (Art. 19 BasisVO; zur Frage des abschließenden Charakters dieser Regelung s. noch Rn. 85 f.). Diese allgemeinen Vorgaben werden konkretisiert durch gefahrenspezifische, in ihrem je- 61 weiligen Bereich teils aber ihrerseits wieder generalklauselartig ausgestaltete Regelungen:

310 311 312 313

Ähnlich Leible, Anm. EuZW 1998, 528. Beide Gruppen werden in Art. 14 BasisVO als „nicht sichere“ Lebensmittel zusammengefasst. S. die Definition in Art. 3 Nr. 2 BasisVO. S. dazu Simon, Kooperative Risikoverwaltung im neuen Lebensmittelrecht, 2007, S. 200 ff.; s. auch Gericke ZLR 2006, 267 ff.; Krell ZLR 2005, 351 ff. 314 Das gilt auch für die Stufe des Einzelhandels, s. EuGH 13.11.2014 – C-443/13, ZLR 2015, 62 – Reindl – mAnm Weyland; dazu auch Michl EJRR 2015, 151 ff.; Lotta EFFL 2015, 227 ff. 315 Dazu zB Bertrand RevMC 2004, 394 ff.; Pedrot (dir.), Traçabilité et responsabilité, 2003. Die nach Art. 18 Abs. 5 BasisVO vorgesehenen Durchführungsregelungen hat die Kommission zunächst nicht erlassen, stattdessen erfolgte eine Konkretisierung durch Leitlinien v. 20.12.2004, dazu auch die Pressemitteilung IP/05/113 v. 31.1.2005 (hier wird zB die Aufbewahrungsdauer von Unterlagen für regelmäßig 5 Jahre vorgesehen); unzutreffend Hohmann StoffR 2005, 273 (275), der diese Leitlinien den ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften des deutschen Rechts gleichsetzt; schließlich wurde für einen Teilbereich die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 931/2011 der Kommission v. 19.9.2011 über die mit der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 festgelegten Rückverfolgbarkeitsanforderungen an Lebensmittel tierischen Ursprungs, ABl. EU 2011 L 242/2, erlassen. 316 VO (EG) Nr. 1830/2003 des EP und des Rates v. 22.9.2003 „über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von genetisch veränderten Organismen und über die Rückverfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebens- und Futtermitteln (..)“, ABl. EU 2003 L 268/24; für Lebensmittelbedarfsgegenstände Art. 17 VO (EG) Nr. 1935/2004 (Fn. 7); für Raucharomen Art. 13 der VO (EG) Nr. 2065/2003 des EP und des Rates v. 10.11.2003 über Raucharomen zur tatsächlichen oder beabsichtigten Verwendung in oder auf Lebensmitteln, ABl. EU 2003 L 309/1.

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§ 8 Lebensmittelrecht Ein Beispiel bildet die Regelung der VO (EWG) Nr. 315/93317 zu gesundheitsschädlichen Stoffen, die sich als Rückstände der Gewinnung, Fertigung, Verarbeitung, Zubereitung oder Behandlung in Lebensmitteln finden (sog Kontaminanten).318 Nach der allgemeinen Regelung in Art. 2 Abs. 2 der VO sind Kontaminanten auf so niedrige Werte zu begrenzen, wie sie durch „gute Praxis“ auf den einzelnen Herstellungs- und Verarbeitungsstufen „sinnvoll erreicht werden können“. Auf der Grundlage der Ermächtigung in Art. 2 Abs. 3 der VO ist eine Reihe von Kommissionsverordnungen zur Festlegung von Grenzwerten319 ergangen; nur soweit solche normativen Standards nicht vorliegen, ist auf die Generalklausel zurückzugreifen.320 b) Das EU-Zulassungsverfahren als neues Instrument

62 In den meisten Bereichen gilt weiterhin die im Lebensmittelsektor traditionell bestehende Zulassungsfreiheit nach dem Missbrauchsprinzip, nach dem in Verkehr gebrachte Lebensmittel zwar den einschlägigen materiellen Vorgaben entsprechen müssen, die Beurteilung aber zunächst eigenverantwortlich durch das Unternehmen getroffen wird, während nach dem das Arzneimittelrecht beherrschenden Verbotsprinzip (s. dazu knapp → Rn. 3; näher Janda → § 9 Rn. 35 ff.) das Inverkehrbringen grundsätzlich einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterworfen ist. In verschiedenen Bereichen des EU-Lebensmittelrechts ist nunmehr aber eine vorherige Zulassung durch die EU-Kommission vorgesehen, so dass in der Literatur verschiedentlich ein flächendeckender Übergang zum Verbotsprinzip befürchtet wird;321 andere Stimmen bewerten diese Entwicklung des regulatorischen Rahmens dagegen als notwendige Folge der Entwicklung der Lebensmitteltechnologie.322 In jedem Fall ergeben sich aus der bereichsbezogenen Einführung von Zulassungsvorbehalten Abgrenzungsprobleme zu zulassungsfreien Innovationen im Lebensmittelsektor.323 Als Motiv der

317 VO (EG) Nr. 315/93 des Rates v. 8.2.1993 zur Festlegung von gemeinschaftlichen Verfahren zur Kontrolle von Kontaminanten in Lebensmitteln, ABl. EG 1993 L 37/1; zu dieser Regelung Töpner ZLR 1993, 75 (81 ff.). 318 S. die Definition in Art. 1 Abs. 1 VO (EG) Nr. 315/93 (Fn. 317). 319 S. insbes. die VO (EG) Nr. 1881/2006 der Kommission v. 19.12.2006 zur Festsetzung der Höchstgehalte für bestimmte Kontaminanten in Lebensmitteln, ABl. EU 2006 L 215/4, geändert ua durch die VO (EU) 2015/1006 der Kommission v. 25.6.2015 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1881/2006 hinsichtlich der Höchstgehalte für anorganisches Arsen in Lebensmitteln, ABl. EU 2015 L 161/14; VO (EU) der Kommission v. 25.6.2015 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1881/2006 hinsichtlich der Höchstgehalte für Blei in bestimmten Lebensmitteln, ABl. EU 2015 L 161/9; VO (EU) Nr. 488/2014 der Kommission v. 12.5.2014 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1881/2006 bezüglich der Höchstgehalte für Cadmium in Lebensmitteln, ABl. EU 2014 L 138/75. 320 Für einen solchen Fall s. VGH Mannheim 28.1.2010 – 9 S 2466/09, LRE 60, 289 = DVBl. 2010, 735 (nur Ls.) zum (nicht fixierten) Grenzwert für Ethylcarbamat in Steinobstbränden; zuvor BGH 13.7.2000 – III ZR 131/99, NVwZ-RR 2000, 744 = LRE 39, 282 (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe in Traubenkernöl); diese Minimierungspflicht gilt auch für das beim Braten oder Fritieren von Lebensmitteln entstehende Acrylamid, s. dazu Galle-Hoffmann/Hogeback ZLR 2003, 693 (702 ff.); s. dazu nun die VO (EU) 2017/2158 der Kommission v. 20.11.2017 zur Festlegung von Minimierungsmaßnahmen und Richtwerten für die Senkung des Acrylamidgehalts in Lebensmitteln, ABl. EU 2017 L 304/24. 321 So zB Schroeter ZLR 2005, 191 ff. (197: „gleichsam routinemäßiger Rückgriff auf das Verbotsprinzip“); v. Jagow ZLR 2007, 479 ff. 322 So insbes. Kraft /Grugel/Preußendorff ZLR 2008, 321 ff. 323 S. dazu am Bsp. der sog Bakteriophagen, dh Virenpräparaten, die gezielt zur Bekämpfung des Befalls von Lebensmitteln mit bestimmten Bakterienstämmen eingesetzt werden können, v. Jagow in FS Welsch, 2010, S. 111 ff.; ders./Teufer ZLR 2007, 25 ff.: Möglich ist die Einordnung als zulassungspflichtiger Lebensmittelzusatzstoff, als zulassungspflichtige Dekontaminante nach dem LebensmittelHygienerecht (Art. 3 Abs. 2 der VO Nr. 853/2004) oder als zulassungsfreier Verarbeitungshilfsstoff; für einen anderen Zweifelsfall s. OVG Lüneburg, 5.8.2010 – 13 ME 85/10 ZLR 2010, 769 mAnm Weck.

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Regelungen ist regelmäßig der vorbeugende Gesundheitsschutz festzustellen, vereinzelt aber auch Erwägungen des Verbraucherschutzes (Health Claims-VO →Rn. 57).324 aa) Novel Food Zulassungsbedürftig sind „neuartige Lebensmittel“ nach der sog Novel Food-VO aus dem 63 Jahr 1997;325 der Zulassungspflicht nach dieser Verordnung unterfallen nach der Ausgliederung der zunächst auch von ihr erfassten gentechnisch veränderten Lebensmittel im Jahr 2003 (dazu sogleich → Rn. 65 ff.) nur noch „konventionelle“ neuartige Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, deren Gebrauch vor dem Inkrafttreten der Verordnung am 15.5.1997 auf dem Territorium der EU nicht üblich war.326 Dabei leuchtet der Ansatz zunächst ein, dass herkömmliche Lebensmittel im Zweifel unbedenklich sind; dennoch haftet der Grenzziehung etwas Zufälliges an: Wenn sich vor diesem Stichtag keine nennenswerte Verbreitung in der EU feststellen lässt, unterlagen auch solche Lebensmittel einem langwierigen zweistufigen Zulassungsverfahren zwischen Mitgliedstaat und Kommission, die in anderen Weltregionen als herkömmlich etabliert sind.327 Die Ausgestaltung des Verfahrens in der VO (EG) Nr. 258/97 bewirkte zudem, dass eine 64 schließlich erfolgte Zulassung nur zugunsten des konkret geprüften Produkts und nur zugunsten des antragstellenden Unternehmens wirkt, an das die Entscheidung der Kommission gerichtet war;328 dasselbe gilt auch für eine Ablehnung der Zulassung, die so nicht zulasten weiterer Anträge anderer Unternehmen wirken kann und auch nicht die spätere Feststellung ausschließt, dass abweichend von den Prämissen einer Kommissionsentscheidung tatsächlich kein neuartiges Lebensmittel vorliegt.329 Ein von der Kommission im Jahr 2008 vorgelegter Vorschlag zur Reform330 dieses bisher sehr langwierigen Zulassungsverfahrens ist schließlich im Frühjahr 2011 im Gesetzgebungsverfahren geschei-

324 Kraft/Grugel/Preußendorff ZLR 2008, 321, 324 mit Verweis v.a. auf die Health Claims-VO. 325 VO (EG) Nr. 258/97 des EP und des Rates v. 27.1.1997 „über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten“, ABl. EG 1997 L 268/1; zu ihr statt vieler Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, 2001; ders. ZLR 2003, 543 ff.; Streinz (Hrsg.), Neuartige Lebensmittel – Problemaufriß und Lösungsansätze, 1999; ders. ZLR 1998, 19 ff.; Cozigou RMUE 2/1997, 67 ff. 326 Zu dieser Voraussetzung s. EuGH 9.6.2005 – C-211/03 ua, Slg 2005, I-5141, Rn. 80 ff. – HLH Warenvertrieb und Orthica = ZLR 2005, 435; EuGH 15.1.2009 – C-383/07, Slg 2009, I-115 – M-K Europa GmbH = ZLR 2009, 233 mAnm Gerstberger; für Bsp. aus der nationalen Rechtsprechung s. OVG Lüneburg 9.10.2001 – 11 MB 2745/01 ZLR 2002, 115 mAnm Preuß (Untersagung des Verkaufs von Nonifrucht-Traubensaft); BGH 22.11.2007 – I ZR 77/05 RIW 2008, 471 (Wettbewerbsverstoß durch Vertrieb nicht zugelassenen Luo Han Guo-Fruchtextrakts); zur Anwendung durch die deutschen Gerichte auch Hegele ZLR 2010, 317 ff. 327 Kritisch dazu Gerstberger ZLR 2011, 425 (430 ff.); die Freistellung für erfahrungsgemäß unbedenkliche Lebensmittel in Art. 1 Abs. 2 lit. e der VO wird durch EuGH 15.1.2009 – C-383/07, Slg 2009, I-115, Rn. 36 ff. – M-K Europa GmbH – auf Erfahrungen im EU-Gebiet beschränkt. 328 S. für Bsp. Beschluss 2011/80/EU der Kommission v. 4.2.2011 zur Genehmigung des Inverkehrbringens eines Peptiderzeugnisses aus Fisch (Sardinops sagax) als neuartige Lebensmittelzutat (...), ABl. EU 2011 L 31/48; Beschluss 2011/494/EU der Kommission v. 5.8.2011 zur Genehmigung des Inverkehrbringens phosphatierter Maisstärke als neuartige Lebensmittelzutat (...), ABl. EU 2011 L 204/23. 329 So EuGH 14.4.2011 – C-327/09, Slg 2011, I-2897 – Mensch und Natur AG/Freistaat Bayern = ZLR 2011, 339 mAnm Meisterernst auf Vorlage durch BayVGH 1.7.2009 – 9 BV 09.743, ZLR 2011, 334; ebenso zuvor VG München 13.5.2004 – M 4 K 03.4528, LMuR 2005, 48 (Zulassung des Vertriebs von Stevia rebaudiana Bertoni als Süßungsmittel trotz einer Ablehnung der Zulassung durch die Kommission gegenüber einem anderen Antragsteller, da es bereits zuvor in Europa vertrieben worden sei und der Verordnung damit nicht unterfalle); dazu Gerstberger StoffR 2004, 279 ff.; Beutgen ZLR 2004, 749 ff. 330 Vorschlag für eine Verordnung des EP und des Rates über neuartige Lebensmittel (...), KOM(2007) 872 endg. v. 14.1.2008; zu ihm Gerstberger ZLR 2008, 175 ff.; Haber/v. Rymon Lipinsky DLR 2008, 212 ff.

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§ 8 Lebensmittelrecht tert.331 Ein neuer Anlauf hat dann im Jahr 2015 doch zum Erlaß der neuen Novel-FoodVO (VO (EU) 2015/2283)332 geführt; mit ihr wurde das Zulassungsverfahren modernisiert, insbesondere die Integration der EFSA vorgenommen, die nun als Gutachterin in die Entscheidung über den bei der Kommission zu stellenden Antrag einbezogen ist, und auch ein vereinfachtes Verfahren für traditionelle Lebensmittel aus Drittstaaten vorgesehen. Vor allem aber wurde eine Unionsliste der zugelassenen Lebensmittel geschaffen, in der bestehende und neu erteilte Zulassungen verzeichnet sind.333 Unter den in der Liste aufgeführten Voraussetzungen können diese Lebensmittel nun grundsätzlich von jedermann334 in den Verkehr gebracht werden. bb) Gentechnisch veränderte Lebensmittel

65 Auch die nun gesondert durch die VO (EG) Nr. 1829/2003335 erfassten Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus ihnen hergestellt sind,336 bedürfen der Zulassung,337 die von der Genehmigung der Freisetzung zu unterscheiden ist.338 Im Rahmen dieses Zulassungsverfahrens, in dem für die wissenschaftliche Beurteilung wiederum die EFSA verantwortlich ist,339 ist ein EU-Referenzlabor einzubeziehen, dessen Ein331 Dazu kritisch A. H. Meyer DLR 2011, 197; zum Stolperstein war dabei die kontrovers diskutierte Frage einer Regelung zur Zulassungsbedürftigkeit (und -fähigkeit) von Lebensmitteln geworden, die aus geklonten Tieren oder deren Nachkommen gewonnen werden; zu den Positionen in dieser Kontroverse s. Grube in Sosnitza (Hrsg.), Lebensmittel zwischen Technik und Ethik, 2011, S. 27 ff.; Weimer European Journal of Risk Regulation 2010, 31 ff. 332 VO (EU) 2015/2283 des EP und des Rates v. 25.11.2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der VO (EU) Nr. 1169/2011 des EP und des Rates und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 258/97 des EP und des Rates, ABl. EU 2015 L 327/1; dazu Ballke ZLR 2018, 4 ff.; Kostenzer LMuR 2017, 189 ff.; Reinhart/Reinhart StoffR 2016, 300 ff.; noch zum Kommissionsvorschlag Delewski/Grube/Karsten LMuR 2014, 125 ff.; Ballke ZLR 2014, 412 ff. = EFFL 2014, 285 ff. 333 Art. 6 und 8 der VO (EU) 2015/2283; dazu Haber/Aurich EFFL 2018, 403 ff.; s. DurchführungsVO (EU) 2017/2470 v. 20.12.2017, ABl. EU 2017 L, ersetzt durch die DurchführungsVO (EU) 2018/1023 v. 23.7.2018 zur Berichtigung der DurchführungsVO (EU) 2017/2470, ABl. EU 2018 L 187/1. 334 Eine fünfjährige Schutzfrist zugunsten des Antragstellers ist in Art. 26–27 der VO (EU) 2015/2283 vorgesehen, wenn die Zulassung auf geschützten wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Daten des Antragstellers beruht; für ein Beispiel s. die DurchführungsVO (EU) 2018/1633 der Kommission v. 30.10.2018 zur Genehmigung des Inverkehrbringens von raffiniertem Shrimps-Peptid-Konzentrat als neuartiges Lebensmittel (…), ABl. EU 2018 L 272/29. 335 VO (EG) Nr. 1829/2003 des EP und des Rates v. 22.9.2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. EU 2003 L 268/1. 336 Diese feine Unterscheidung hat eine entscheidende Rolle für die Einordnung von Honig gespielt, in dem Pollenspuren von gentechnisch verändertem Mais nachzuweisen waren, s. dazu Fn. 355. 337 Zu den Einzelheiten des Antrags s. die VO (EG) Nr. 641/2004 der Kommission v. 6.4.2004 mit Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) Nr. 1829/2003 des EP und des Rates hinsichtlich des Antrags auf Zulassung neuer genetisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel, der Meldung bestehender Erzeugnisse und des zufälligen oder technisch unvermeidbaren Vorhandenseins genetisch veränderten Materials, zu dem die Risikobewertung befürwortend ausgefallen ist, ABl. EU 2004 L 102/14, geändert durch die DurchführungsVO (EU) Nr. 503/2013 der Kommission v. 3.4.2013 über Anträge auf Zulassung genetisch veränderter Lebens- und Futtermittel gemäß der VO (EG) Nr. 1829/2003 (…), ABl. EU 2013 L 157/1; s. für ein Beispiel die Kommissionsentscheidung 2008/933/EG v. 4.12.2008 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Erzeugnissen, die genetisch veränderte Sojabohnen der Sorte MON89788 enthalten, aus ihnen bestehen oder aus ihnen gewonnen werden (...), ABl. EU 2008 L 333/7. 338 Diese erste Stufe der Freisetzung zB im Rahmen der Pflanzenproduktion richtet sich nach der FreisetzungsRL (RL 2001/18/EG des EP und des Rates v. 12.3.2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der RL 90/220/EWG des Rates, ABl. EG 2001 L 106/1); insoweit gehört die Materie nicht dem Lebensmittelrecht an; s. zu diesem Feld zuletzt EuGH 25.7.2018 – C-528/16, EuZW 2018, 778 – Confédération paysanne – m. Bespr. Seitz, S. 757 ff. = ZLR 2018, 637 mAnm Voigt; dazu auch Faltus ZUR 2018, 524 ff.; Kahrmann/ Leggewie EuRUP 2018, 497 ff.; Spranger NJW 2018, 2929 ff. 339 Art. 6 und 18 VO (EG) Nr. 1829/2003 (Fn. 335); zur Rolle der EFSA auf diesem Feld s. Brosset in Blanquet/de Grove-Valdeyron (éds.), La création de l’autorité européenne de sécurité des aliments,

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satz auch zur Ausräumung von Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten dienen soll.340 Art. 28 der Verordnung sieht ein Gemeinschaftsregister vor; Lebensmittel, die zugelassene GVOs enthalten oder aus ihnen hergestellt wurden, sind als solche zu kennzeichnen;341 auch die Rückverfolgbarkeit wird durch eine gesonderte Regelung sichergestellt.342 Der Einsatz oder die Vermarktung von einmal zugelassenen Lebens- oder Futtermitteln kann von den Mitgliedstaaten oder der EU-Kommission nur untersagt werden, wenn sie „wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt.“343 Die umfangreichen Maßnahmen haben nicht verhindern können, dass dieser Sektor zu 66 den politisch sensibelsten Bereichen des EU-Lebensmittelrechts gehört, was auch durch die zahlreichen nationalen Abweichungsanträge nach Art. 114 AEUV in diesem Bereich344 (zur Abweichungsmöglichkeit nach Art. 114 AEUV → Rn. 21) dokumentiert wird. Genehmigungsverfahren ziehen sich auch vor dem Hintergrund der politischen Kontroversen um den Einsatz der Gentechnik über lange Zeit hin; als regelmäßiger Ablauf hatte sich etabliert, dass eine Stellungnahme des im Komitologie-Verfahren beteiligten Ständigen Ausschusses für die Lebensmittelkette unterblieb, so dass die Entscheidung zunächst auf den Rat überging.345 Da dieser im Anschluss ebenfalls nicht in der Lage war, mit qualifizierter Mehrheit zu einer Entscheidung für oder gegen die Zulassung zu gelangen, fiel die endgültige Entscheidung an die Kommission zurück,346 die eine Zulassung aussprechen musste, wenn sich keine belastbaren Hinweise auf Gefahren ergeben haben; die in der VO

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2005, S. 101 ff.; Poli in Alemanno/Gabbi (eds.), Foundations of EU Food Law and Policy, 2014, S. 111 ff. Art. 32 VO (EG) Nr. 1829/2003 (Fn. 335); s. auch die VO (EG) Nr. 1981/2006 der Kommission v. 22.12.2006 mit Durchführungsbestimmungen zu Art. 32 der VO (EG) Nr. 1829/2003 des EP und des Rates über das gemeinschaftliche Referenzlaboratorium für gentechnisch veränderte Organismen, ABl. EU 2006 L 368/99, geändert durch die DurchführungsVO (EU) Nr. 120/2014 der Kommission v. 7.2.2014, ABl. EU 2014 L 39/46. Art. 12 VO (EG) Nr. 1829/2003 (Fn. 335); dazu Girnau ZLR 2004, 343 ff.; MacMaoláin 28 ELRev. (2003), 865 ff.; Andersen EFFL 2010, 136 ff.; zur zuvor geltenden Regelung im Rahmen der NovelFood-VO s. Dederer EWS 1999, 247 ff. VO (EG) Nr. 1830/2003 (Fn. 316); zu den Voraussetzungen s. OVG Bln-Bbg, 31.7.2008 – 5 S 60.07, OVGE 29, 105: Lebensmittelhersteller müssen die Abnehmer von (zugelassenen) gentechnisch veränderten Produkten nicht verdachtsunabhängig, sondern nur im Fall einer Gefahr den Behörden nennen. Art. 34 VO (EG) Nr. 1829/2003 (Fn. 335); dazu EuGH 13.9.2017 – C-111/17, EWS 2017, 289, Rn. 26 ff. – Fidenato; dazu Roset Europe 11/2017, 50 f. (zu einem italienischen Verbot für den Anbau einer von der Kommission zugelassenen genetisch veränderten Maissorte) im Anschluss an EuGH 8.9.2011 – verb. Rs. C-58/10–68/10, Slg 2011, I-7763 – Monsanto SAS ua= EuZW 2011, 789 mAnm Stallberg. Für den Anbau hat zwischenzeitlich die RL (EU) 2015/412 des EP und des Rates v. 11.3.2015 zur Änderung der RL 2001/18/EG zu der den Mitgliedstaaten eingeräumten Möglichkeit, den Anbau von Gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken oder zu untersagen, ABl. EU 2015 L 68/1, den Mitgliedstaaten weitere Spielräume eröffnet, das gilt aber explizit nur für den Anbau; dazu Brosset, CDE 2015, 651 ff.; Dederer in Möstl (Hrsg.) Europäisierung des Lebensmittelrechts, 2017, S. 45, 51 ff.; Dobbs 54 CMLRev. (2017), 1093 ff.; Salvi EFFL 2016, 201 ff. S. etwa die Kommissionsentscheidung 2006/255/EG v. 14.3.2006 über die einzelstaatlichen Bestimmungen mit der Verpflichtung, in Supermärkten genetisch veränderte Lebensmittel in eigens dafür bestimmten Regalen getrennt von den nicht genetisch veränderten Produkten unterzubringen, welche die Republik Zypern gem. Art. 95 Abs. 5 EGV mitgeteilt hat, ABl. EU 2006 L 92/12; zumeist betreffen die Abweichungsanträge allerdings die FreisetzungsRL 2001/18/EG (Fn. 337), s. für solche Fälle EuGH 13.9.2007 – C-439/05 P u. C-454/05 P, Slg 2007, I-7141 – Land Oberösterreich und Österreich/ Kommission; EuG 9.12.2010 – T-69/08, Slg 2010, II-5629 – Polen/Kommission. So das Verfahren nach Art. 5 Komitologie-Beschluss. S. zB die Schilderung dieses regelmäßigen Ablaufs in EuG 11.4.2011 – T-482/10, Slg 2011, II-89* (abgek. Veröff.), Rn. 4 ff. – Département du Gers/Kommission; weiter zB den Kommissionsbeschluss 2010/141/EG v. 2.3.2010, ABl. EU 2010 L 55/78 (zu einem Antrag aus dem Jahr 2004).

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(EG) Nr. 1829/2003 angedeutete Möglichkeit, eine Genehmigung auch aus anderen Erwägungen zu versagen, hat die Kommission bisher nicht ausgelotet.347 67 Die Neuregelung des Verfahrens der Durchführungsrechtsetzung durch die im März 2011 erlassene Komitologie-Verordnung348 (s. bereits → Rn. 41 ff.)hat diese Abläufe erheblich verändert349: Danach fällt der Übergang der Entscheidungszuständigkeit auf den Rat weg; nach dem neuen Prüfverfahren gem. Art. 5 der VO, das auch in bestehenden Rechtsakten das bisher angewandte Verfahren nach Art. 5 Komitologie-Beschluss ersetzt (→ Rn. 43),350 kann die Kommission die Zulassung nicht mehr aussprechen, wenn keine (positive) Stellungnahme des Ausschusses vorliegt;351 sie kann binnen zwei Monaten einen veränderten Entwurf erneut vorlegen oder in Bezug auf den nicht gebilligten Entwurf binnen eines Monats den Berufungsausschuss anrufen.352 Die Problematik der Entscheidungsunfähigkeit der Mitgliedstaaten hat sich nun allerdings in den Berufungsausschuss verlagert, so dass die Entscheidung doch wieder an die Kommission zurückfallen kann;353 ein Änderungsvorschlag der Kommission zur Komitologie-Verordnung, der eine Beschlussfassung im Berufungsausschuss erleichtern soll, wurde bisher nicht geltendes Recht.354 68 Zunehmend wird in diesem Bereich zum Problem, dass auch geringe Spuren von gentechnisch veränderten Organismen in konventionellen Lebens- oder Futtermitteln die Zulassungspflicht auslösen,355 was für die betroffenen Produkte letztlich einem Verkehrsverbot gleichkommt; eine Toleranzgrenze sieht die Verordnung nur für die Kennzeichnungspflicht, nicht aber für das Zulassungserfordernis gentechnisch veränderter Lebensmittel vor.356 Dieses „Nulltoleranz-Prinzip“ kann damit bereits durch verbesserte Analyseverfah-

347 Pignataro RDUE 2011, 361 (370). 348 VO (EU) Nr. 182/2011 des EP und des Rates v. 16.2.2011 „zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren“, ABl. EU 2011 L 55/13. 349 Verfahren, mit denen der Ausschuss bereits vor Inkrafttreten der neuen Komitologie-Verordnung am 1.3.2011 befasst war, werden nach den alten Regelungen zu Ende geführt, s. Art. 14 Komitologie-VO (Fn. 348); für ein Bsp. s. den Kommissionsbeschluss 2011/894/EU v. 22.12.2011 über die Zulassung des Inverkehrbringens von Erzeugnissen, die genetisch veränderten Mais (...) enthalten (…), ABl. EU 2011 L 344/64, der ausweislich Rn. 13 f. der Erwägungsgründe nach „altem Muster“ (keine Stellungnahme des Ausschusses, keine Mehrheit im Rat) ergangen ist. 350 S. Art. 13 Komitologie-VO (Fn. 348); diese automatische Umstellung gilt allerdings nicht für das Regelungsverfahren mit Kontrolle, s. Art. 12 Komitologie-VO. 351 S. zu diesen Veränderungen in Bezug auf die VO (EG) Nr. 1829/2003 Pignataro RDUE 2011, 361 (368 ff.). 352 Art. 5 Abs. 3 u. 4 Komitologie-VO (Fn. 348); zu den Veränderungen s. Greiner, Die Refom der Komitologie durch den Vertrag von Lissabon, 2018, S. 12 ff., 173 ff. 353 S. Greiner, Die Refom der Komitologie durch den Vertrag von Lissabon, 2018, S. 174 ff. 354 Vorschlag für eine VO zur Änderung der VO (EU) Nr. 182/2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren, COM(2017) 85 final v. 14.2.2017. 355 So für Honig mit Pollenspuren von MON 810 EuGH 6.9.2011 – C-442/09, Slg 2011, I-7419 – Bablok = ZLR 2011, 730 mAnm Gorny/Meier auf die Vorlage von BayVGH 26.10.2009 – 22 BV 08.1968, ZUR 2010, 97 = NuR 2010, 68 (Vorinstanz: VG Augsburg 30.5.2008 – 7 K 07.276 DVBl. 2008, 992 = ZUR 2008, 538); dazu auch Palme NVwZ 2011, 1434 ff.; Teufer EFFL 2011, 328 ff.; Paal StoffR 2011, 214 ff.; Petit RAE 2011, 615 ff. 356 Nach Art. 12 Abs. 2 u. 3 VO (EG) Nr. 1829/2003 (Fn. 334) ist ein Anteil bis zu 0,9 % nicht kennzeichnungspflichtig, wenn er zufällig oder technisch nicht zu vermeiden war, so dass der Hersteller die Vornahme entsprechender Maßnahmen nachweisen muss; dazu Girnau in FS Welsch, 2010, S. 237 ff. Eine Übertragung dieser Grenze auf die Zulassungspflicht hat EuGH 6.9.2011 – C-442/09, Slg 2011, I-7419 – Bablok = ZLR 2011, 730 mAnm Gorny/Meier, Rn. 103 ff. in konsequenter systematischer Auslegung der VO abgelehnt.

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ren greifen, die nun schon den Nachweis geringer Spuren erlauben.357 Für Futter- und Lebensmittel aus Drittstaaten, in denen der Einsatz der grünen Gentechnik bereits stärker verbreitet ist, kann sich diese weitgehende Zulassungspflicht als Importverbot auswirken, was wiederum zu Handelskonflikten führen kann (Zum WTO-rechtlichen Rahmen des europäischen Lebensmittelrechts, in dem Fragen der Gentechnik schon bisher eine erhebliche Rolle gespielt haben → Rn. 100 ff.); für importierte Futtermittel hat die EU-Kommission auf diese Situation bereits mit dem Erlass einer Durchführungsverordnung358 reagiert, die einen „technischen Grenzwert“ von 0,1 % einführt und damit im Ergebnis die Einfuhr geringfügig verunreinigter Produkte ermöglicht.359 cc) Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Lebensmittel Auch für den Einsatz noch nicht zugelassener Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungser- 69 gänzungsmitteln, die den Arzneimitteln nahestehen (→ Rn. 3; Janda → § 9 Rn. 25 ff.),360 gilt nach der RL 2002/46/EG361 im Ergebnis eine Genehmigungspflicht:362 Hier hat der EU-Gesetzgeber das Regelungssystem einer Positivliste von Stoffen gewählt; diese muss auf Antrag durch eine von der Kommission im Komitologieverfahren getroffene Regelung ergänzt werden, bevor ein bisher nicht gelisteter Stoff verwendet werden darf. In Bezug auf die Ausgestaltung dieses Listungsverfahrens und die Reichweite der Entscheidungsfreiheit der Kommission ist die Richtlinie nur knapp durch primärrechtskonforme Interpretation einer Aufhebung entgangen363, während der Generalanwalt insbesondere eine zu weitgehende Verlagerung der Verantwortung auf die Kommission beanstandet hatte.364 Das weitere Schicksal der Richtlinie macht die faktischen Grenzen eines umfassenden Regelungsanspruchs des EU-Lebensmittelrechts deutlich: So sind vor allem die in Art. 5 der 357 S. dazu am Beispiel von GVO-Spuren in kanadischen Leinsaaten, die im Jahr 2009 aufgrund verfeinerter Untersuchungsmethoden nachweisbar wurden, Wiemers/Sonder ZLR 2010, 567 ff.; s. auch VG Hannover 1.10.2008 – 11 A 4732/07, NuR 2009, 67. 358 VO (EG) Nr. 619/2011 der Kommission v. 24.6.2011 zur Festlegung der Probenahme- und Analyseverfahren für die amtliche Untersuchung von Futtermitteln im Hinblick auf genetisch veränderte Ausgangserzeugnisse, für die ein Zulassungsverfahren anhängig ist oder die Zulassung ausläuft, ABl. EU 2011 L 166/9. 359 Zu den Zweifeln an der Zulässigkeit einer solchen Lockerung der sekundärrechtlich fixierten Maßstäbe durch Durchführungsrechtsakte s. Palme NVwZ 2011, 1434 (1437). 360 Zur Abgrenzung s. auch Delewski, Nahrungsergänzungsmittel im Europäischen Wirtschafts- und Verwaltungsraum, 2003, S. 211 ff.; Streit in FS Welsch, 2010, S. 305, 307 ff. 361 RL 2002/46/EG des EP und des Rates v. 10.6.2002 „zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel“, ABl. EG L 183/51 (geändert durch die VO (EG) Nr. 1170/2009 der Kommission v. 30.11.2009 zur Änderung der RL 2002/46/EG und der VO (EG) Nr. 1925/2006 hinsichtlich der Listen von Vitaminen und Mineralstoffen sowie ihrer Aufbereitungsformen, die Lebensmitteln zugesetzt bzw. bei der Herstellung von Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden dürfen, ABl. EU 2009 L 314/36); zu ihr Kügel/Delewski EuZW 2002, 549 ff.; Delewski, Nahrungsergänzungsmittel im Europäischen Wirtschafts- und Verwaltungsraum, 2003, S. 265 ff.; ders. in FS Welsch, 2010, S. 295 ff. 362 Der Zulassungsvorbehalt bezieht sich allerdings nur auf Stoffe, die in isolierter Form zugesetzt werden, also nicht auf die Verwendung von Zutaten, die die Stoffe als natürlichen Bestandteil enthalten; für letzteres gelten weiter die allgemeinen Regeln, s. dazu Paal/Rehmann StoffR 2010, 82 ff. 363 S. EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 81 ff. – Alliance for Natural Health ua = ZLR 2005, 591 mAnm Schroeter = DCSI 2005, 437 mAnm Capelli/Klaus, zunächst zum Verfahren: Hier sei die Sicherstellung einer in transparenter Weise und angemessener Frist ergehenden Entscheidung durch Bestimmungen in der Richtlinie „sicher wünschenswert“, doch sei die Kommission hierzu schon durch den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verpflichtet; weiter Rn. 90 ff. zur Reichweite der Delegation und den Entscheidungsmaßstäben der Kommission, die sich zwar aus den Erwägungsgründen erschließen, aber „besser in den eigentlichen Bestimmungen der Richtlinie hätten enthalten sein sollen“ (Rn. 92). 364 Rn. 68 ff. der Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed v. 5.4.2005; kritisch zur abweichenden Bewertung durch den EuGH K. Faßbender EuZW 2005, 682 ff.; s. auch Herr ZLR 2005, 331 ff.

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Richtlinie vorgesehenen Durchführungsregelungen der Kommission zur Bestimmung der zulässigen Höchstmengen für zugelassene Stoffe bisher nicht erlassen worden, so dass die fortbestehenden Bestimmungen der Mitgliedstaaten weiter an den Vorgaben der Warenverkehrsfreiheit zu messen sind.365 70 Weitgehend parallel ist die Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitaminen oder Mineralstoffen geregelt: Auch hier sieht die einige Jahre später (nun schon in Verordnungsform) erlassene VO (EG) Nr. 1925/2006366 eine Positivliste vor; die Verwendung nicht aufgenommener Vitamine oder Mineralstoffe ist danach unzulässig,367 ebenso die Überschreitung festzusetzender Höchstmengen. Bei der Entscheidung über die Listung hat die Kommission die „betroffenen Gruppen“ – genannt werden Lebensmittelindustrie und Verbraucherverbände – zu konsultieren und die Stellungnahme der EFSA zu berücksichtigen.368 Allerdings konnten die Mitgliedstaaten in der bis Januar 2014 andauernden Übergangszeit weiterhin – in dem vom Primärrecht gesetzten Rahmen – die Zusetzung nicht aufgenommener Stoffe erlauben bzw. die bestehenden Bestimmungen zum Verbot solcher Stoffe weiter anwenden; für die vorgesehene Festlegung von Höchstmengen gilt diese nationale Zuständigkeit ohne zeitliche Begrenzung bis zum Erlass der entsprechenden Durchführungsregeln. 71 Die Verordnung beschränkt sich allerdings nicht auf diese Zulassungslösung für Vitamine und Mineralstoffe, sondern enthält darüber hinaus in Art. 8 der VO eine allgemeine Regelung zum Einsatz anderer Stoffe, die noch keinem EU-rechtlichen Zulassungsvorbehalt unterworfen sind:369 Die Verwendung solcher Stoffe kann im Fall von Gesundheitsgefahren von der Kommission durch Aufnahme in eine Negativliste370 untersagt werden; stattdessen ist auch die Aufnahme in eine Untersuchungsliste371 möglich, wenn zwar gesundheitliche Bedenken bestehen, eine Klärung aber weitere Untersuchungen erfordert; in diesem Fall soll dann die Kommission binnen 4 Jahren nach Aufnahme auf der Grundlage der Bewertung durch die EFSA eine abschließende Entscheidung treffen (→ Rn. 51).372 Auch dieses Verfahren scheint bisher aber nur selten zur Anwendung gekommen zu sein.373 Daneben werden in diesem noch nicht harmonisierten Bereich die Mitgliedstaaten 365 Dazu EuGH 29.4.2010 – C-446/08, Slg 2010, I-3973 – Solgar Vitamin’s France = EuZW 2010, 506 mAnm Meyer; s. auch Coutrelis/Mathias EFFL 2011, 218 ff.; nochmals EuGH 27.4.2017 – C-672/15, EuZW 2017, 576 mAnm Riemer – Noria Distribution = ZLR 2017, 494 mAnm Loosen; dazu Daniel Europe 6/2017, 23 f.; Jan 45 LIEI (2018), 311 ff.; Schroeder ZLR 2018, 302 ff.; Weatherill 43 ELRev. (2018), 224 ff.; s. auch Meisterernst/Gebhart/Rothe-Dietrich ZLR 2018, 163 ff. 366 VO (EG) Nr. 1925/2006 des EP und des Rates v. 20.12.2006 über den Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen sowie bestimmten anderen Stoffen zu Lebensmitteln, ABl. EU 2006 L 404/26 (geändert durch die VO (EG) Nr. 1170/2009, s. Fn. 361); dazu zB Teufer ZLR 2007, 577 ff.; Meyer in FS Doepner, S. 257 ff.; Kireeva/O’Connor EFFL 2011, 104 ff. 367 Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1925/2006 (Fn. 366) iVm mit Anhang I und II. 368 Art. 3 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1925/2006 (Fn. 366). 369 Ausführlich zu dieser Regelung Gerstberger ZLR 2008, 559 ff.; s. auch Teufer ZLR 2007, 577 (591 f.); Reese/Stallberg ZLR 2009, 137 ff.; als „andere Stoffe“ werden gem. Art. 2 Abs. 2 der VO alle Stoffe erfasst, die „eine ernährungsbezogene oder physiologische Wirkung“ haben. 370 Art. 8 iVm Anhang III VO (EG) Nr. 1925/2006 (Fn. 366); zu den Voraussetzungen s. nun näher die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 307/2012 der Kommission v. 11.4.2012 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften für die Anwendung von Art. 8 der VO (EG) Nr. 1925/2006 (...), ABl. EU 2012 L 102/2; zur Unterscheidung von Positiv- und Negativlistensystemen s. Gerstberger/Krabichler LMuR 2006, 5 (14 f.). 371 Anhang III, Teil C der VO (EG) Nr. 1925/2006 (Fn. 366). 372 Auch hier ist die Stellungnahme der EFSA zwar nicht bindend, aber doch zu berücksichtigen; zum Verfahren näher Gerstberger ZLR 2008, 559 (572 ff.). 373 Art. 9 der VO (EG) Nr. 1925/2006 (Fn. 366) sieht die Veröffentlichung der aktualisierten Anhänge und weiterer Informationen in einem Register vor, das für Anhang III bisher einen Verbots- und einen Untersuchungseintrag enthält; s. http://ec.europa/eu/food/sites/food/files/safety/docs/labelling-nutrition _minerals-comm_reg_en.pdf.

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nach Art. 11 Abs. 2 lit. b und Art. 12 der VO verpflichtet, eigene neue Verbotsregeln vor ihrem Erlass der Kommission zu melden, die binnen 6 Monaten eine Entscheidung zur Zulässigkeit der Regelung treffen muss.374 dd) Lebensmittelzusatzstoffe und Lebensmittelbedarfsgegenstände Eine weitere Zulassungsregelung wurde mit der VO (EG) Nr. 2065/2003375 für die Zulas- 72 sung von Raucharomen für Lebensmittel getroffen: Hier muss der Betroffene die Zulassung des Primärprodukts bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats beantragen; über die Zulassung entscheidet die Kommission nach Stellungnahme der EFSA, indem sie das Produkt entweder durch Verordnung in die in der Verordnung vorgesehene Positivliste aufnimmt oder die Aufnahme durch an den Antragsteller gerichtete Entscheidung (bzw. nun Beschluss) ablehnt;376 der Erlass dieser Regelung hat dem EuGH Gelegenheit gegeben, die Zulässigkeit der Schaffung solcher Verfahren auf der Grundlage der Binnenmarkt-Kompetenz und der Betrauung der Kommission mit den Durchführungsentscheidungen zu bestätigen377 (zur Reichweite des Art. 114 AEUV s. schon → Rn. 24 f., 44). Eine Durchführungsverordnung mit der Liste der zugelassenen Substanzen hat die Kommission schließlich im Dezember 2013 erlassen378. Weitere Zulassungsvorbehalte finden sich heute in dem im Dezember 2008 erlassenen Regelungspaket von vier Verordnungen (sog Food Improvement Agents Package – FIAP),379 das die sog Lebensmittelzusatzstoffe, die wie etwa Konservierungsmittel dem Lebensmittel aus technologischen Gründen hinzugefügt werden,380 sowie Enzyme381 und Aromen382 betrifft; sie fanden sich teils allerdings auch schon in den durch das Paket abgelösten Vorgänger-Richtlinien. Auch hier wurde das Modell der Positivliste gewählt383 und ein einheitliches Zulassungsverfahren geschaffen.384 Zugleich sollen die bereits in der EU zugelassenen Zusatzstoffe einer systemati-

374 Für ein Bsp. s. die Entscheidung 2008/864/EG der Kommission v. 30.7.2008 über einen Verordnungsentwurf der Tschechischen Republik zur Festlegung der Anforderungen an Nahrungsergänzungsmittel und an die Anreicherung von Lebensmitteln, ABl. EU 2008 L 307/4. 375 VO (EG) Nr. 2065/2003 des EP und des Rates v. 10.11.2003 über Raucharomen zur tatsächlichen oder beabsichtigten Verwendung in oder auf Lebensmitteln, ABl. EU 2003 L 309/1. 376 Art. 9 Abs. 2 VO (EG) Nr. 2065/2003 (Fn. 375). 377 EuGH 6.12.2005 – C-66/04, Slg 2005, I-10553 – Großbritannien/Rat und Parlament = JZ 2006, 358 mAnm Ohler. 378 DurchführungsVO (EU) Nr. 1321/2013 der Kommission v. 10.12.2013 zur Festlegung der Unionsliste zugelassener Primärprodukte für die Herstellung von Raucharomen zur Verwendung als solche in oder auf Lebensmitteln und/oder für die Produktion daraus hergestellter Raucharomen, ABl. EU 2013 L 353/54. 379 Zu diesem Paket und zu den aufgehobenen Vorgänger-Richtlinien s. Barwig StoffR 2008, 269 ff.; Holtorf/Sachs EFFL 2010, 173 ff. 380 VO (EG) Nr. 1333/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über Lebensmittelzusatzstoffe, ABl. EU 2008 L 354/16; s. im Anschluss daran die VO (EU) Nr. 1129/2011 der Kommission v. 11.11.2011 zur Änderung des Anhangs II der VO (EG) Nr. 1333/2008 des EP und des Rates im Hinblick auf eine Liste der Lebensmittelzusatzstoffe der Europäischen Union, ABl. EU 2011 L 295/1. 381 VO (EG) Nr. 1332/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über Lebensmittelenzyme (...), ABl. EU 2008 L 354/7. 382 VO (EG) Nr. 1334/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften zur Verwendung in und auf Lebensmitteln (...), ABl. EU 2008 L 354/34. 383 Art. 4 der VO 1333/2008 (Fn. 380), Art. 4 der VO (EG) Nr. 1334/2008 (Fn. 382). 384 VO (EG) Nr. 1331/2008 des EP und des Rates v. 16.12.2008 über ein einheitliches Zulassungsverfahren für Lebensmittelzusatzstoffe, -enzyme und -aromen, ABl. EU 2008 L 354/1; ergänzend die VO (EU) Nr. 234/2011 der Kommission v. 10.3.2011 zur Durchführung dieser VO, ABl. EU 2011 L 64/15.

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schen Neubewertung unterzogen werden, um die Einbeziehung neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermöglichen.385 73 Die Realisierung desselben Systems ist für Lebensmittelbedarfsgegenstände in der VO (EG) Nr. 1935/2004386 angelegt: Auch hier ist die Erstellung von Positivlisten für bestimmte Produktgruppen vorgesehen,387 nach deren Aufstellung weitere Stoffe nur noch auf Antrag der Liste hinzugefügt und damit ebenfalls zugelassen werden können.388 Im Blickpunkt standen dabei vor allem die sog „intelligenten“ oder „aktiven“ Verpackungsmaterialien, die entweder Veränderungen des Lebensmittels anzeigen oder auf solche Veränderungen sogar aktiv durch Freisetzung von Stoffen reagieren;389 für sie wurde inzwischen eine entsprechende Regelung in Angriff genommen.390 ee) Die Wirkung der Zulassung: Nationale Schutzklauseln 74 Als positive Wirkung dieser zentralen Zulassungsregimes ist zumindest festzuhalten, dass entsprechende Binnenmarkthindernisse durch unterschiedliche nationale Regelungen beseitigt werden; das wird programmatisch in Art. 14 Abs. 7 BasisVO festgehalten, wonach „Lebensmittel, die spezifischen Bestimmungen der Gemeinschaft zur Lebensmittelsicherheit entsprechen, [...] hinsichtlich der durch diese Bestimmungen abgedeckten Aspekte als sicher“ gelten. Jedoch gilt diese Wirkung nur mit Vorbehalten, die wiederum programmatisch in Art. 14 Abs. 8 BasisVO fixiert werden, wonach die zuständigen Behörden dennoch Maßnahmen treffen können, wenn der begründete Verdacht des Vorliegens eines „unsicheren“ Lebensmittels (zur Definition → Rn. 60, s. auch → Rn. 86) vorliegt. Entsprechende Eilmaßnahmen der Mitgliedstaaten ermöglicht generalklauselhaft Art. 54 BasisVO, wonach die Mitgliedstaaten von ihnen getroffene Schutzmaßnahmen der Kommission zu melden haben; der EuGH hat dies dahin interpretiert, dass diese Meldung spätestens gleichzeitig mit der Maßnahme erfolgen muss.391 Auch die verschiedenen Zulassungsregeln machen deutlich, dass das Vorliegen einer Zulassung nur begrenzten Schutz gegen mitgliedstaatliche Eingriffe bietet: Die im Sekundärrecht systematisch enthaltenen Schutzklauseln ermöglichen es den Mitgliedstaaten, auch genehmigte Stoffe bei Vorliegen neuer Erkenntnisse vorläufig zu verbieten.392 Dieser Vorbehalt dürfte angesichts des Gewichts der Belange des Gesundheitsschutzes auch legitim sein; zudem ist über solche Maßnah385 S. dazu die auf der Grundlage von Art. 32 der VO (EG) Nr. 1333/2008 (Fn. 380) erlassene VO (EU) Nr. 257/2010 der Kommission v. 25.3.2010 zur Aufstellung eines Programms zur Neubewertung zugelassener Lebensmittelzusatzstoffe gem. der VO (EG) Nr. 1333/2008, ABl. EU 2010 L 80/19. 386 VO (EG) Nr. 1935/2004 des EP und des Rates v. 27.10.2004 über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, und zur Aufhebung der Richtlinien 80/590/EG und 89/109/EG, ABl. EU 2004 L 338/4; zu diesem Aspekt s. Eggers/Beyerlein StoffR 2004, 275 (277 f.). 387 Sog Einzelmaßnahmen gem. Art. 5 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1935/2004 (Fn. 3826, s. zB die VO (EU) Nr. 10/2011 der Kommission v. 14.1.2011 über Materialien und Gegenstände aus Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, ABl. EU 2011 L 12/1, geändert durch die VO (EU) 2016/1416 der Kommission v. 24.8.2016, ABl, EU 2016 L 230/22; für ein weiteres Bsp. s. sogleich in Fn. 390. 388 Art. 8, 9 VO (EG) Nr. 1935/2004 (Fn. 386). 389 Zu den Einsatzfeldern dieser neuen Technologien s. Eggers/Beyerlein StoffR 2005, 155 ff. (275 ff.). 390 Die Erstellung einer Gemeinschaftsliste zugelassener Stoffe ist hier nun in der VO (EG) Nr. 450/2009 der Kommission v. 29.5.2009 über aktive und intelligente Materialen und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen, ABl. EU 2009 L 135/3, vorgesehen. 391 EuGH 8.9.2011 – verb. Rs. C-58/10–C-68/10, Slg 2011, I-7763, Rn. 73 – Monsanto. 392 S. Art. 12 Novel Food-VO (Fn. 324) und dazu EuGH 9.9.2003 – C-236/01, Slg 2003, I-8105 – Monsanto Agricoltura Italia – mAnm Bernard Europe 11/2003, 20 f.; Art. 34 VO (EG) Nr. 1829/2003 (Fn. 335) und dazu Poli in Tridimas/Nebbia (eds.) European Union Law for the Twenty-First Century, 2004, Vol. 2, S. 121 ff.; Art. 12 RL 2002/46/EG (Fn. 361); Art. 13 VO (EG) Nr. 1925/2006 (Fn. 366); übergreifend dazu Berends/Carreño 30 ELRev. (2005), 386 (390 ff.).

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men regelmäßig auch die Kommission zu informieren, die abschließend über die Berechtigung der Schutzmaßnahme entscheidet. Soweit die spezielleren Rechtsakte dabei ergänzend auf das Verfahren gem. Art. 54 BasisVO verweisen,393 sind auch dessen Verfahrensanforderungen einzuhalten. c) Lebensmittelhygienerecht aa) Die Neuordnung durch das Lebensmittelhygienepaket Ein weiteres zentrales Feld der Lebensmittelsicherheit ist das Hygienerecht. Auch hier 75 setzten die Aktivitäten des EU-Gesetzgebers in Teilbereichen – dh vor allem bei den Lebensmitteln aus tierischer Erzeugung394 – schon früh ein; eine übergreifende Rahmenregelung wurde Anfang der 1990er Jahre mit der Lebensmittelhygiene-Richtlinie erlassen.395 Auch diesen in 30 Jahren gewachsenen Bestand des EU-Hygienerechts hat der EU-Gesetzgeber im Rahmen der Neuordnung des EU-Lebensmittelrechts nach der BSE-Krise neu gefasst und hierfür im Jahr 2004 das sog EU-Hygienepaket396 erlassen. Dieses Paket, dessen Inhalt überwiegend mit Wirkung zum 1.1.2006 in den Mitgliedstaaten verbindlich geworden ist, besteht im wesentlichen aus drei Sekundärrechts-Verordnungen: Der VO (EG) Nr. 852/2004,397 die die allgemein geltenden Anforderungen an die Lebensmittelhygiene enthält und in Anlehnung an die Lebensmittelbasisverordnung auch als „HygieneBasisVO“398 bezeichnet wird, der VO (EG) Nr. 853/2004399 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs und der VO (EG) Nr. 854/2004400 mit besonderen Verfahrensvorschriften für die amtliche Überwachung dieser Lebensmittel.401 Parallel dazu wurde die VO (EG) Nr. 882/2004, die sog KontrollVO,402 erlassen, die wiederum alle Lebensmittel erfasst und auch nicht nur für den Hygienesektor gilt (s. auch → Rn. 87,

393 So zB Art. 34 VO 1829/2003 (Fn. 335); dazu EuGH 8.9.2011 – verb. Rs. C-58/10–C-68/10, Slg 2011, I-7763, Rn. 69 ff. – Monsanto. 394 S. zB die RL 64/433/EWG des Rates v. 26.6.1964 zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit frischem Fleisch, ABl. EG 1964 S. 2012, oder die RL 71/118/EWG des Rates v. 15.2.1971 zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim Handelsverkehr mit frischem Geflügelfleisch, ABl. EG 1971 L 55/23. 395 RL 93/43/EWG des Rates v. 14.6.1993 über Lebensmittelhygiene, ABl. EG 1993 L 175/1; zu ihr Gorny ZLR 1993, 567 ff. 396 S. dazu im Überblick Stähle StoffR 2004, 88 ff.; dies. ZLR 2004, 742 ff.; Bronowicka/Laechelin/ Pischetsrieder/Franke DLR 2006, 185 ff.; ausführlich Wiemers ZLR 2006, 245 ff.; Simon, Kooperative Risikoverwaltung im neuen Lebensmittelrecht, 2007, S. 47 ff. 397 VO (EG) Nr. 852/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 über Lebensmittelhygiene, ABl. EU 2004 L 139/1, berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 226/3. 398 S. zB Simon (Fn. 396), S. 49, 56. 399 VO (EG) Nr. 853/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs, ABl. EU 2004 L 139/55, berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 226/22. 400 VO (EG) Nr. 854/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 mit besonderen Verfahrensvorschriften für die amtliche Überwachung von zum menschlichen Verzehr bestimmten Erzeugnissen tierischen Ursprungs, ABl. EU 2004 L 139/206, berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 226/83. 401 Ergänzend tritt zu dieser Gruppe von Verordnungen die Anfang 2005 erlassene VO (EG) Nr. 183/2005 des EP und des Rates v. 12.1.2005 mit Vorschriften für die Futtermittelhygiene, ABl. EU 2005 L 35/1, hinzu, die die in der HygieneBasisVO normierten Instrumente weitgehend auf den Futtermittelsektor überträgt. Der Vollständigkeit halber zu erwähnen ist die RL 2004/41/EG des EP und des Rates v. 21.4.2004 zur Aufhebung bestimmter Richtlinien über Lebensmittelhygiene und Hygienevorschriften für die Herstellung und das Inverkehrbringen von bestimmten, zum menschlichen Verzehr bestimmten Erzeugnissen tierischen Ursprungs (…), ABl. EU 2004 L 157/33, berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 195/12. 402 VO (EG) Nr. 882/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz, ABl. EU 2004 L 165/1; berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 191/1.

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92 ff.), dort aber besondere Bedeutung hat; sie wird nun zum 14.12.2019 durch die neugefasste KontrollVO – VO (EU) 2017/625 (→ Rn. 87) – abgelöst. 76 Dieses Regelungspaket des EU-Gesetzgebers wird durch ein eigenes Paket von Durchführungsverordnungen der Kommission aus dem Jahr 2005 vervollständigt;403 hierzu gehört neben der VO (EG) Nr. 2076/2005,404 die die Anwendung verschiedener Anforderungen des Pakets auf den 1.1.2010 verschoben hat,405 vor allem die VO (EG) Nr. 2073/2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel,406 die exakte Grenzwerte festsetzt und Vorgaben für Probenahmen und Untersuchungen macht. Hinzu kommen von der Kommission erstellte Leitfäden407 zu den einzelnen Verordnungen des EU-Gesetzgebers, die als formal unverbindliche Dokumente die Auslegung und Anwendung des neuen Rechts in den Mitgliedstaaten erleichtern sollen (Zur rechtlichen Einordnung dieser Instrumente → Rn. 45). 77 Die Verordnungen des Hygienepakets lassen den Mitgliedstaaten verschiedentlich ausdrücklich die Möglichkeit der näheren Ausgestaltung408 oder erlauben ihnen Abweichungen, sofern dadurch die Ziele der Verordnungen nicht gefährdet werden.409 Teils finden sich sogar in einer für EG-Verordnungen untypischen Weise Regelungsaufträge an die Mitgliedstaaten: So ist zB die direkte Abgabe kleiner Mengen von Fleisch, Geflügel oder Wild an den Endverbraucher oder örtliche Einzelhandelsunternehmen nach Art. 1 Abs. 3 lit. c–e der VO (EG) Nr. 853/2004 vom Geltungsbereich dieser Verordnung ausgenom403 VO (EG) Nr. 2073/2005 der Kommission v. 15.11.2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel, ABl. EU 2005 L 338/1; VO (EG) Nr. 2074/2005 der Kommission v. 5.12.2005 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften (...), ABl. EU 2005 L 338/27; VO (EG) Nr. 2075/2005 der Kommission v. 5.12.2005 mit spezifischen Vorschriften für die amtlichen Fleischuntersuchungen auf Trichinen, ABl. EU 2005 L 338/60 (ersetzt durch die DurchführungsVO (EU) Nr. 2015/1375 der Kommission v. 10.8.2015, ABl. EU 2015 L 212/7). 404 VO (EG) Nr. 2076/2005 der Kommission v. 5.12.2005 zur Festlegung von Übergangsregelungen für die Durchführung der Verordnungen (EG) Nr. 853/2004 (...), ABl. EU 2005 L 338/83; dazu Simon (Fn. 396), S. 64 ff. 405 Die Regelung wurde später durch die VO (EG) Nr. 1162/2009 der Kommission v. 30.11.2009, ABl. EU 2009 L 314/10, abgelöst, die die Übergangszeit für einzelne Regelungen bis zum 31.12.2013 ausdehnte; die daran anschließende VO (EU) Nr. 1079/2013 der Kommission v. 31.10.2013, ABl. EU 2013 L 292/10, verlängerte die Übergangszeiten dann bis Ende 2016. 406 Dazu zB Verdure EFFL 2008, 172 ff. 407 Leitfaden für die Durchführung bestimmter Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 über Lebensmittelhygiene v. 21.12.2005; Leitfaden für die Umsetzung einzelner Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs v. 21.12.2005; Entwurf eines Leitfadens für die Umsetzung von HACCP-gestützten Verfahren und zur Erleichterung der Umsetzung der HACCP-Grundsätze in bestimmten Lebensmittelunternehmen (2005); Leitlinie für amtliche Kontrollen nach VO (EG) Nr. 882/2004 über die Probenahme und mikrobiologische Untersuchung von Lebensmitteln v. 13.11.2006. Die derzeit vorliegenden Leitfäden sind verfügbar unter http:// ec.europa.eu/food/safety/biosafety/food_hygiene/guidance_en; eine Veröffentlichung im ABl. erfolgt nur vereinzelt, s. zuletzt die Bekanntmachung der Kommission mit dem Leitfaden zur Eindämmung mikrobiologischer Risiken durch gute Hygiene bei der Primärproduktion von frischem Obst und Gemüse, ABl. EU 2017 C 163/1; Bekanntmachung der Kommission zur Umsetzung von Managementsystemen für Lebensmittelsicherheit unter Berücksichtigung der PRPs und auf die HACCP-Grundsätze gestützten Verfahren einschließlich Vereinfachung und Flexibilisierung bei der Umsetzung in bestimmten Lebensmittelunternehmen, ABl. EU 2016 C 278/1. 408 S. auch das in Art. 26 VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 342) enthaltene Wahlrecht der Mitgliedstaaten bei der Sicherstellung der Finanzierung von Kontrollen, dazu Lühmann ZLR 2006, 601 (612 ff.). 409 So kann Anhang II der HygienebasisVO, der die allgemeinen Vorschriften für alle Lebensmittelunternehmer enthält, durch die Mitgliedstaaten „angepasst“ – dh von ihm abgewichen werden –, um zB die weitere Anwendung traditioneller Methoden zu ermöglichen, die in Widerspruch zu technischen Anforderungen des Anhangs stehen, Art. 13 Abs. 3–7 VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397); jedoch ist die beabsichtigte Änderung der Kommission zu notifizieren und kann von ihr abgelehnt werden. S. dazu auch das Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen: Wie einzelne Flexibilitätsbestimmungen des Hygienepakets zu verstehen sind – Leitlinien für die zuständigen Behörden, SEK(2010) 968 endg. v. 12.8.2010.

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men, Art. 1 Abs. 4 verlangt dann aber von den Mitgliedstaaten den Erlass von Regelungen, die die Erreichung der Ziele der Verordnung auch in diesen Fällen sicherstellen410 – womit insoweit eine zweistufige Gesetzgebung vorliegt, wie sie für das bisher gewählte Instrument der Richtlinie charakteristisch ist. Ähnlich wie im Fall der LebensmittelBasisVO (s. allgemein → Rn. 40; zu Streitfragen in Bezug auf die BasisVO noch → Rn. 85 f.) sind die Verordnungen des Hygienepakets damit auf Ergänzung durch den nationalen Gesetzgeber angelegt, so dass tatsächlich ein „Mischwesen“ aus Verordnung und Richtlinie entstanden ist;411 der Wechsel des Instruments – von der umsetzungsbedürftigen Richtlinie zur unmittelbar geltenden Verordnung – hat sich nicht ganz bruchlos verwirklichen lassen. bb) Die Selbstkontroll-Verantwortung der Unternehmen An erster Stelle der Verantwortungskette stehen die Lebensmittelunternehmen (dazu be- 78 reits → Rn. 60); ihre Verantwortung, die bereits in Art. 17 Abs. 1 BasisVO festgehalten ist, wird durch die Bestimmungen der VO (EG) Nr. 852/2004 für den – weit definierten412 – Hygienesektor wiederholt413 und weiter präzisiert: Sie werden zu systematischer Selbstkontrolle verpflichtet, müssen eigene Analysen und Pläne zur Identifikation und Überwachung der „kritischen Punkte“ beim Umgang mit Lebensmitteln – von der Herstellung über die Verarbeitung, Verpackung, Lagerung bis zum Transport und Verkauf – aufstellen (Hazard Analysis and Critical Control Point; sog HACCP-Konzept).414 Dieses Konzept wurde inhaltlich bereits durch die Vorgänger-Richtlinie (RL 93/43/EWG)415 etabliert; nun werden alle Betriebe der Lebensmittelkette explizit zur Anwendung HACCP-gestützter Konzepte und vor allem zur Dokumentation ihrer Anwendung verpflichtet.416 Das zweite bereits in der RL 93/43/EWG verankerte Instrument sind die Leitlinien für 79 eine gute Hygienepraxis in den einzelnen Bereichen, deren Ausarbeitung in den verschiedenen Branchen der Lebensmittelwirtschaft durch die Mitgliedstaaten unterstützt werden soll.417 Auch die in Art. 8 Abs. 1 VO (EG) Nr. 852/2004 ausdrücklich als solche angesprochene „Lebensmittelwirtschaft“ – eine nähere Definition fehlt – wird durch das Sekundärrecht in die Pflicht genommen: Sie soll die in Art. 7 der VO vorgesehenen „einzelstaatlichen Leitlinien für eine gute Hygienepraxis und für die Anwendung der HACCP-Grundsätze“ ausarbeiten, was gem. Art. 8 Abs. 2 lit. a VO (EG) Nr. 852/2004 im Benehmen mit anderen Beteiligten wie zuständigen Behörden und Verbraucherverbänden erfolgen soll. Die auf diesem Weg erarbeiteten Leitlinien sind wiederum für die Lebensmittelunternehmen explizit nicht verbindlich, sondern können von ihnen „auf freiwilliger Basis berück-

410 In Deutschland wurde dieser Auftrag „umgesetzt“ durch die VO über Anforderungen an die Hygiene beim Herstellen, Behandeln und Inverkehrbringen von Lebensmitteln (Lebensmittelhygiene-Verordnung – LMHV), BGBl. 2007 I, S. 1816, und durch die Verordnung über Anforderungen an die Hygiene beim Herstellen, Behandeln und Inverkehrbringen von bestimmten Lebensmitteln tierischen Ursprungs (Tierische Lebensmittelhygiene-Verordnung – Tier-LMHV), BGBl. 2007 I 1828. 411 Zu diesem Befund auch Zellner ZLR 2007, 295 (296): „Richtlinie im Kleide der Rechtsverordnung“. 412 S. Art. 2 Abs. 1 lit. a der VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397). 413 Art. 1 Abs. 1 lit. a VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397): „Die Hauptverantwortung für die Sicherheit eines Lebensmittels liegt beim Lebensmittelunternehmer.“ 414 S. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397); zu diesem Konzept zB Untermann DLR 1997, 277 ff.; Bronowicka/Laechelin/Pischetsrieder/Franke DLR 2006, 185 (187 ff.); Simon (Fn. 396), S. 50 ff. 415 RL 93/43/EWG des Rates v. 14.6.1993 über Lebensmittelhygiene, ABl. EG 1993 L 175/1. 416 S. Art. 5 Abs. 1 VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397); dazu zB Untermann/Hartig DLR 2005, 133 ff.; Huhle/Buckenmayer DLR 2005, 497 ff.; ausgenommen bleibt nach Art. 5 Abs. 3 der VO allein die Urproduktion. 417 Art. 8 VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397).

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sichtigt“ werden.418 Trotz dieser begrenzten Wirkung sind solche Regelwerke von den Mitgliedstaaten gem. Art. 8 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 852/2004 auf die Einhaltung des Verfahrens, auf ihre Durchführbarkeit und ihre Eignung als Leitlinien „für die ordnungsgemäße Anwendung der Art. 3, 4 und 5 in den betreffenden Sektoren und für die betreffenden Lebensmittel“ zu prüfen; nach einem positiven Abschluss dieser Prüfung sind sie der Kommission gem. Art. 8 Abs. 4 der VO zu melden. 80 Diese im Sekundärrecht vorgesehene Überprüfung der Leitlinien durch die Mitgliedstaaten bestätigt, dass diesen Texten trotz ihrer Unverbindlichkeit eine maßgebliche Konkretisierungs- und Orientierungsfunktion zukommt: Unternehmen, die ihre Betriebsabläufe an ihnen ausrichten, wird man nicht vorhalten können, dass sie kein auf HACCP-Grundsätzen beruhendes Verfahren verwenden. Es kann dann nur darauf ankommen, ob sie diese von ihnen gewählten Leitlinien auch tatsächlich kontinuierlich und ordnungsgemäß anwenden; tatsächlich sieht das Sekundärrecht eine solche „Schutzschild-Funktion“ der Leitlinien ausdrücklich vor.419 81 Das Instrument ist auf der Ebene der Mitgliedstaaten zwischenzeitlich auch breit genutzt worden: Das von der EU-Kommission geführte Register der nationalen Leitlinien weist allein für Deutschland 73 solcher Leitlinien für die verschiedensten Lebensmittelbranchen nach.420 Die Übertragung dieses Mechanismus auf die EU-Ebene, die in Art. 9 VO (EG) Nr. 852/2004 vorgesehen ist, ist dagegen bisher nur mit Verzögerungen erfolgt: Die Kommission hat auch für die Erarbeitung solcher Leitlinien auf EU-Ebene einen Leitfaden veröffentlicht,421 bisher wurden aber nur für wenige Bereiche solche Gemeinschaftsleitfäden durch die Verbände der europäischen Lebensmittelwirtschaft vorgelegt und nach Prüfung durch den Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit durch Hinweis im EU-Amtsblatt422 publik gemacht.423 Einzelne Leitlinien liegen auch im Futtermittelsektor vor,424 für den das Sekundärrecht in diesem Bereich dieselben Mechanismen wie die VO (EG) Nr. 852/2004 vorsieht.425 418 So Art. 7 UAbs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397), s. auch Art. 3 Abs. 6 der VO. 419 S. Art. 4 Abs. 5 S. 2 der VO (EG) Nr. 854/2004 (Fn. 400) zum Prüfungsmaßstab der amtlichen Überwachung: „Wendet ein Lebensmittelunternehmer gemäß Art. 5 der VO (EG) Nr. 852/2004 die in den Leitlinien zur Anwendung der HACCP-Grundsätze angegebenen Verfahren an, anstatt eigene spezifische Verfahren festzulegen, so ist die ordnungsgemäße Anwendung dieser Leitlinien zu prüfen“. Ähnlich, aber weniger explizit Art. 10 Abs. 2 lit. d der VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 402). 420 Register of national guides to good hygiene practice (Stand: 28.2.2019), verfügbar unter https://webga te.ec.europa.eu/dyna/hygienelegislation; das Register ist in Art. 8 Abs. 4 S. 2 VO (EG) Nr. 852/2004 vorgesehen. 421 Guidelines for the development of Community guides to good practice for hygiene or for the application of the HACCP principles, in accordance with Art. 9 of Regulation (EC) No 852/2004 on the hygiene of foodstuffs and Art. 22 of Regulation (EC) No 183/2005 laying down requirements for feed hygiene, nur in englischer Sprache verfügbar unter https://ec.europa.eu/food/sites/food/files/safety/docs /biosafety_fh_legis_guidelines_good_practice_en.pdf. 422 Art. 9 Abs. 5 VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 397) sieht die Veröffentlichung von Titel und Fundstellen solcher Leitlinien auf Gemeinschaftsebene in Teil C des ABl. EU vor. 423 Leitfaden für gute Herstellungspraxis für „flüssige, konzentrierte, gefrorene und getrocknete Eiprodukte“ und Gemeinschaftsleitfaden für gute Hygienepraxis und die Anwendung der HACCP-Grundsätze bei der Herstellung von natürlichen Wursthüllen, beide in ABl. EU 2012 C 8/29; Gemeinschaftsleitfaden für gute Hygienepraxis maßgeblich für Großmarktveranstaltungen in der Europäischen Union und Europäischer Leitfaden für gute Hygienepraxis für Sammlung, Lagerung, Handel und Transport von Getreide, Ölsaaten und Eiweißpflanzen, beide in ABl. EU 2010 C 206/3. 424 S. den in ABl. EU 2007 C 64/17 veröffentlichten Hinweis auf drei solcher Leitlinien (für die industrielle Herstellung von Mischfuttermitteln, die Herstellung von Futtermittelzusatzstoffen und von Heimtierfuttermitteln), weitere in ABl. EU 2010 C 206/3 (Heimtierfuttermittel und Futtermittel-Ausgangserzeugnisse). 425 VO (EG) Nr. 183/2005 des EP und des Rates v. 12.1.2005 mit Vorschriften für die Futtermittelhygiene, ABl. EU 2005 L 35/1, s. Art. 6–7 der VO für HACCP, Art. 20–22 für die Leitlinien.

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cc) Konkretisierungsspielräume zwischen Lebensmittelunternehmen und Kontrollbehörden Kennzeichnend für die Neuordnung der Hygiene-Vorgaben ist die Flexibilisierung der An- 82 forderungen:426 Es werden also zB nicht mehr bestimmte bauliche Maßnahmen, sondern nur das Erreichen eines bestimmten Ergebnisses verlangt.427 Der Kommissionsleitfaden zur HygienebasisVO428 macht dies mit einem Beispiel deutlich: Wenn im Anhang zu dieser Verordnung als Hygienevorgabe gemacht werde, dass „genügend“ Waschgelegenheiten zur Verfügung stehen, könne dies je nach konkreter Situation ganz unterschiedliche Zahlenvorgaben zur Folge haben; die Ermittlung der notwendigen Vorkehrungen sei zunächst Aufgabe der Unternehmen, wobei ihnen ein „Ermessensspielraum“ belassen sei. Die Nutzung dieses Spielraums und seine Verteidigung gegenüber den Behörden kann allerdings vor allem Kleinunternehmen vor erhebliche Probleme stellen.429 Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunderlich, dass nationale Gerichte in jüngerer Zeit 83 das Vorabentscheidungsverfahren teils zur Vorlage von sehr kleinteiligen Fragen an den EuGH genutzt haben – so zu den Anforderungen an Selbstbedienungstheken für Backwaren430 oder den konkreten Vorgaben für Personal-Handwaschbecken in Gastronomiebetrieben.431 Der EuGH hat diese Ebene in seinen Antworten freilich seinerseits konsequent nicht betreten, sondern darauf hingewiesen, dass das HACCP-Konzept die Ermittlung konkreter Gefahrenpunkte und die Vornahme entsprechender Maßnahmen grundsätzlich dem Lebensmittelunternehmen überträgt und die nationalen Aufsichtsbehörden zwar unter Bewertung der getroffenen Maßnahmen konkrete Anforderungen stellen können, diese sich aber aus dem Vollzug im Einzelfall ergeben und nicht schon generalisierend in der Gesetzgebung enthalten sind.432

426 S. den Kommissionsleitfaden zur VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 407), Pt. 4, S. 8: „Werden in den Anhängen der Verordnung die Ausdrücke „erforderlichenfalls“, „geeignet“, „angemessen“ oder „ausreichend“ verwendet, so obliegt es in erster Linie dem Lebensmittelunternehmer, darüber zu entscheiden, ob eine Anforderung erforderlich, geeignet, angemessen oder ausreichend ist, um die Ziele der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 zu erreichen.“ 427 So lassen die Texte häufig „gleichwertige“ Maßnahmen zu, deren Auswahl zunächst in der Hand der Unternehmen liegt; zur damit verbundenen Rechtsunsicherheit s. Simon (Fn. 396), S. 202 f.; van der Meulen/Gregor ZLR 2007, 265 (276, 292), werten diese Flexibilisierung als Machtzuwachs der Exekutive, die im ersten Zugriff über die konkrete Erfüllung der Anforderungen entscheidet. 428 Leitfaden zur VO (EG) Nr. 852/2004 (Fn. 407), Pt. 7, S. 11. 429 Ein diese Bedenken aufnehmender Vorschlag der Kommission zur Freistellung von Kleinstbetrieben von der HACCP-Pflicht wurde nicht zu geltendem Recht, KOM(2007) 90 endg. v. 6.3.2007. Die berichteten Umsetzungsprobleme für Klein- und Kleinstunternehmen scheinen aber zumindest nicht schwerwiegend, s. die Kommissionsmitteilung über die Erfahrungen mit der Anwendung der Hygieneverordnungen (EG) Nr. 852/2004, (EG) Nr. 853/2004 und (EG) Nr. 854/2004, KOM(2009) 403 endg. v. 28.7.2009, insbes. S. 6 f., 13; das ursprüngliche Freistellungsvorhaben wird hier nicht mehr aufgegriffen. 430 EuGH 6.10.2011 – C-382/10, Slg 2011, I-9295 – Erich Albrecht ua/ Landeshauptmann von Wien = ZLR 2011, 755 mAnm Hartwig; s. dazu auch Kraus EWS 2011, 89 ff.; ders./Voß ZLR 2010, 410 ff.; für einen ähnlichen Fall aus der deutschen Rechtsprechung s. VGH Mannheim 21.12.2010 – 9 S 2343/10, GewArch 2011, 255. 431 EuGH 6.10.2011 – C-381/10, Slg 2011, I-9281 – Astrid Preissl/Landeshauptmann von Wien. 432 S. EuGH 6.10.2011 – C-382/10, Slg 2011, I-9295, Rn. 19 ff. – Erich Albrecht ua/ Landeshauptmann von Wien; EuGH 6.10.2011 – C-381/10, Slg 2011, I-9281, Rn. 28 ff. – Astrid Preissl/Landeshauptmann von Wien.

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§ 8 Lebensmittelrecht 3. Die Lebensmittel-Überwachung a) Verantwortung von Lebensmittelunternehmen und nationalen Überwachungsbehörden

84 Die Überwachung der Einhaltung der lebensmittelrechtlichen Vorgaben erfolgt grundsätzlich im allgemeinen Rahmen des dezentralen Vollzugs des Unionsrechts:433 Sie bleibt damit im Ausgangspunkt Aufgabe der Mitgliedstaaten, was Art. 17 Abs. 2 BasisVO bestätigt. Die BasisVO enthält daher vor allem Instrumente, die die Koordination der nationalen Lebensmittelaufsicht und die Handlungsfähigkeit der EU im Fall grenzüberschreitender Gefahren sicherstellen sollen: Das gilt für das Schnellwarnsystem RASFF (Art. 50–52 BasisVO → Rn. 88 ff.), das Mitgliedstaaten, Kommission und EFSA verbindet, aber auch für die Befugnis der Kommission zum Erlass von Eilmaßnahmen (Art. 53 BasisVO → Rn. 91),434 zur Erstellung eines allgemeinen Plans für das Krisenmanagement (Art. 55 BasisVO)435 und zur Bildung von Krisenstäben (Art. 56 BasisVO).436 85 Für die Lebensmittelüberwachung durch die nationalen Behörden enthält die BasisVO ebenfalls Vorgaben, wobei sich hier die Frage des Verhältnisses zur Eigenverantwortung der Unternehmen stellt, denen die BasisVO ebenfalls Pflichten wie etwa die Meldung möglicherweise gesundheitsgefährdender Produkte nach Art. 19 Abs. 4 BasisVO (Lebensmittel) bzw. Art. 20 Abs. 3 BasisVO (Futtermittel) auferlegt. Hier ist in jüngerer Zeit mehrfach streitig geworden, ob die BasisVO als vollharmonisierte Regelung zu verstehen ist, die weitergehende nationale Maßnahmen oder Vorgaben verbietet: Das gilt zB für die im Vergleich zu Art. 19 BasisVO weitergehende Meldepflicht des Unternehmens gem. § 44 Abs. 4 LFGB,437 die auch vom Unternehmen (noch) nicht in Verkehr gebrachte vorschriftswidrige Lebensmittel erfasst,438 oder die Meldepflicht zu Untersuchungsergebnissen mit „unerwünschten Stoffen“ gem. § 44 Abs. 4 a LFGB.439 Eine parallele Frage stellte sich in Bezug auf die Warnung oder Information der Öffentlichkeit durch die Behörden, die Art. 10 der BasisVO bei Gesundheitsgefahren zwingend vorsieht und die § 40 LFGB darüber hinaus auch bei nicht gesundheitsgefährdenden, aber verkehrsuntauglichen Lebensmitteln ermöglicht. 86 Regelmäßig wird dies von der Auslegung der jeweils betroffenen Bestimmung abhängen;440 eine umfassende Vollharmonisierung wird man der BasisVO jedenfalls nicht ent-

433 Dazu Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Gundel EuR § 3 Rn. 101 ff. 434 Dazu zB Knipschild in Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 87, 100 ff.; Berends/Carreño 30 ELRev. (2005), 386 (396 ff.). 435 S. den Beschluss 2004/478/EG der Kommission v. 29.4.2004 zur Erstellung eines allgemeinen Plans für das Krisenmanagement im Bereich der Lebens- und Futtermittelsicherheit, ABl. EU 2004 L 160/100, nun abgelöst durch den gleichnamigen Durchführungsbeschluss (EU) 2019/300 der Kommission v. 19.2.2019, ABl. EU 2019 L 50/55. 436 S. auch die Art. 12 ff. des Durchführungsbeschlusses (EU) 2019/300 (Fn. 435). 437 Die erweiterte Meldepflicht wurde als Reaktion auf die sog Gammelfleischkrise durch das Gesetz zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften v. 29.6.2009, BGBl. 2009 I 1659, eingefügt. 438 Dazu – jeweils eine abschließende Regelung durch EU-Recht annehmend – Radermacher in FS Welsch, 2010, S. 159 ff.; Sperlich ZLR 2010, 59 (63 ff.); Meyer in Meyer/Streinz (Hrsg.), LFGB/ BasisVO/HCVO, 2. A. 2012, § 44 LFGB Rn. 25 f. 439 Eingefügt durch das zweite Gesetz zur Änderung des LFGB v. 27.7.2011, BGBl. I 1608, in Reaktion auf erneute Dioxinfunde in Lebensmitteln im Januar 2011; zur Regelung s. zB Rathke LMuR 2011, 93 ff.; einen Verstoß gegen die BasisVO annehmend Meyer in Meyer/Streinz (Hrsg.), LFGB/BasisVO/ HCVO, 2. A. 2012, § 44 LFGB Rn. 34 f.; anders VG Aachen 8.12.2017 – 7 K 1859/17, LMuR 2018, 165; kritisch dazu Meisterernst/Eberlein LMuR 2018, 137 ff. 440 Dabei dürfte die gegen die erweiterten Meldepflichten geltendgemachte Wettbewerbsverzerrung (so Radermacher in FS Welsch, 2010, S. 159 ff.) gegenüber Unternehmen anderer Mitgliedstaaten eher marginal sein und den Erlass der BasisVO kaum bestimmt haben.

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nehmen können,441 nachdem sie gerade in den Bereichen, die keine unmittelbaren Gesundheitsgefahren betreffen, nur sehr offen gehaltene Regelungen vorsieht.442 Auch in Bezug auf die in Art. 10 BasisVO geregelten Warn- und Informationspflichten läßt sich aus der europarechtlich vorgegebenen Warnpflicht im Gefahrenfall nicht den Umkehrschluss ziehen, dass bei „nur“ genussuntauglichen (zB ekelerregenden) Lebensmitteln ein Informationsverbot bestünde und der Erlass weitergehender nationaler Regelungen gesperrt wäre;443 der Gerichtshof hat diese zuvor in der deutschen Literatur stark vertretene Argumentation444 nicht akzeptiert.445 Es ist auch kein Sachgrund ersichtlich, weshalb das Sekundärrecht den Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen in Bezug auf Lebensmittel untersagen sollte, die auch die BasisVO als für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet und damit auch bei fehlender Gesundheitsgefahr als „nicht sicher“ und damit nicht verkehrsfähig446 einordnet;447 umgekehrt würde man sich fragen müssen, ob die Regelung im Fall einer solchen Interpretation als „Warnverbot“ mit den primärrechtlichen Vorgaben eines hohen Verbraucherschutzniveaus (→ Rn. 24 u. 35)448 vereinbar wäre. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung allerdings auch ausgesprochen, dass solche nationalen Regelungen in den Anwendungsbereich der LebensmittelbasisVO fallen,449 womit auch der EU-Grundrechtsschutz eröffnet wird.450 Während die BasisVO entsprechend ihrem Zweck nur sehr allgemeine Regelungen ent- 87 hält, macht das daneben ergangene Sekundärrecht teils sehr detaillierte Verfahrensvorgaben: Das gilt vor allem für die VO (EG) Nr. 882/2004 (KontrollVO),451 die die zuvor geltende RL 89/397/EWG452 abgelöst hat. So regelt zB Art. 11 der VO das Recht des Lebensmittelherstellers auf die eigene Untersuchung einer Zweit- oder Gegenprobe bei einer Pro441 So aber wohl zuerst (allerdings beschränkt auf die Lebensmittelsicherheit) Meisterernst in FS Doepner, S. 245, 247 ff.; im Anschluss verallgemeinernd F. Becker ZLR 2011, 391 (402): „Vollharmonisierung im Anwendungsbereich der gesamten Verordnung“; F. Becker/Ambrock LMuR 2012, 35 (36 f.). 442 So zur parallelen Frage der Zulässigkeit einer Rücknahmeanordnung gem. § 39 LFGB bei nicht gesundheitsgefährdenden, aber verbrauchertäuschenden Lebensmitteln OVG Münster 8.8.2008 – 13 B 1022/08, DVBl. 2008, 1262 (1263). 443 § 40 Abs. 1 S. 2 LFGB geht von diesem nicht abschließenden Charakter aus; zustimmend Schoch ZLR 2010, 121 (135); Seemann, Behördliche Produktinformation im europäischen und deutschen Lebensmittelrecht, 2008, S. 171 f.; dagegen Grube LMuR 2011, 21 (22 f.); Voit LMuR 2012, 9 ff. 444 Als (in Deutschland) zu diesem Zeitpunkt herrschende Meinung eingeschätzt bei Schoch NVwZ 2012, 1497 (1503); umfassende Aufbereitung des Meinungsstandes bei Pache ZLR 2013, 139 (145 ff.). 445 EuGH 11.4.2013 – C-636/11, NJW 2013, 1725 – Berger Fleisch/Freistaat Bayern – mAnm F. Becker/ Merschmann = ZLR 2013, 294 mAnm Gundel auf Vorlage von LG München I 5.12.2011 – 15 O 9353/09, LMuR 2012, 32 mAnm F. Becker/Ambrock. 446 Als „nicht sicher“ und damit nicht verkehrsfähig (Art. 14 Abs. 1 BasisVO) ordnet die BasisVO sowohl gesundheitsschädliche (Art. 14 Abs. 2 lit. a) als auch zum Verzehr ungeeignete (Art. 14 Abs. 2 lit. b) Lebensmittel ein. 447 Das Argument einer Wettbewerbsverzerrung im Binnenmarkt (so F. Becker ZLR 2011, 391 (401 f.)) greift hier nicht, da das Produkt schon nach EU-Recht nicht verkehrsfähig ist; es bleibt das Argument, dass die Bevölkerung gegenüber ernsthaften Warnungen „abgestumpft“ und deren Effekt verschlissen werde, so zB Grube LMuR 2011, 21 (22); F. Becker ZLR 2011, 391 (402); ders./Ambrock LMuR 2012, 35 (37); Michl/Meyer ZLR 2012, 557 (562 f.). 448 Ähnlich Pache ZLR 2013, 139 (149 f.). 449 Rn. 31 ff. des Urteils (Fn. 445) unter Verweis auf Art. 17 BasisVO. 450 Zu dieser Konsequenz Gundel ZLR 2013, 303 (308 ff.); BVerfG 21.3.2018 – 1 BvF 1/13, NVwZ 2018, 1056 mAnm Wiemers = ZLR 2018, 523 mAnm Hufen hat dazu wiederum festgehalten, dass dies eine Kontrolle am Maßstab der nationalen Grundrechte nicht ausschließt; zu dieser Perspektive einer Doppelkontrolle s. bereits Kingreen JZ 2013, 801 (806 ff.); Gundel ZLR 2013, 662 (669 f.). 451 VO (EG) Nr. 882/2004 des EP und des Rates v. 29.4.2004 „über amtliche Kontrollen zur Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz“, ABl. EU 2004 L 165/1; berichtigte Fassung in ABl. EU 2004 L 191/1; dazu Preuß ZLR 2005, 225 ff. 452 S. Fn. 140.

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§ 8 Lebensmittelrecht benahme durch die amtliche Lebensmittelüberwachung;453 eine Verletzung dieses Rechts kann unter dem Aspekt der Gewährleistung eines fairen Verfahrens zum Verwertungsverbot für die Ergebnisse der amtlichen Probe führen.454 Art. 54 KontrollVO enthält eine eigenständige Rechtsgrundlage für Maßnahmen der zuständigen nationalen Behörde im Fall der Feststellung von Verstößen.455 Auf der Grundlage von Art. 63 der KontrollVO456 hat die Kommission die Amtshilfe zwischen den nationalen Behörden geregelt457. Mit Wirkung zum 14.12.2019 wird die bisherige Verordnung durch die neue KontrollVO (EU) 2017/625458 ersetzt; sie soll einen unionsweit einheitlichen Vollzug sicherstellen und zugleich die Effektivität der Aufsicht verbessern; auch hier hängt ein genaueres Bild allerdings vom Erlass einer großen Zahl von delegierten bzw. Durchführungsrechtsakten durch die Kommission ab.459 Vor allem unter dem Eindruck des Pferdefleischskandals des Jahrs 2013,460 der nicht zu Gesundheitsgefahren führte, das Verbrauchervertrauen in die Lebensmittelwirtschaft aber stark beeinträchtigte, hat der EU-Gesetzgeber hier nun besonderes Augenmerk auf die Bekämpfung von Lebensmittelbetrug („food fraud“) gelegt. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, hierzu regelmäßige Kontrollen durchzuführen461 und angemessene Sanktionen vorzusehen.462 453 Künftig Art. 35 VO (EU) 2017/625 (Fn. 458); in Deutschland umgesetzt durch § 43 LFGB; problematisch war hier lange Zeit, dass die Gegenprobe am Ort der Probenahme (und damit regelmäßig auf der Handelsstufe) verbleibt, eine Verpflichtung zur Information des Herstellers aber nicht normiert war; OVG Münster 8.8.2008 – 13 B 1022/08, DVBl. 2008, 1262 (1265) = ZLR 2008, 738 mAnm Weck sieht die Vorgaben dennoch als gewahrt an, wenn die Behörde den Hersteller tatsächlich informiert hat; bei fehlender Information liegt dagegen ein Verstoß gegen EU-Recht vor, s. OVG Münster 29.10.2008 – 13 B 1317/08, ZLR 2009, 370 mAnm Zechmeister; zwischenzeitlich sieht § 7 der VO über die Zulassung privater Gegenprobensachverständiger und über Regelungen für amtliche Gegenproben (...) v. 11.8.2009, BGBl. I 2852, eine entsprechende Informationspflicht vor; dazu Oelrichs/ Schroeter in FS Welsch, 2010, S. 215, 223 ff.; Bergmann/Mayr, ebda., S. 227 ff. 454 S. zur Herleitung von Beweisverwertungsverboten aus diesem Gesichtspunkt EuGH 10.4.2003 – C-276/01, Slg 2003, I-3735, Rn. 72 ff. – Steffensen = EuZW 2003, 666 mAnm Schaller; dazu auch Mariatte Europe 6/2003, 14 f.; bestätigend EuGH 19.5.2009 – C-166/08, Slg 2009, I-4253 – Guido Weber = ZLR 2009, 600 mAnm Dannecker; s. auch Oelrichs/Schroeter in FS Welsch, 2010, S. 215 ff.; skeptisch Baumann ZLR 2010, 517 ff. 455 Künftig Art. 138 VO (EU) 2017/625 (Fn. 458). S. zum Charakter als Befugnisnorm zB Möstl in ders. (Hrsg.), Rechtsdurchsetzung im Lebensmittelrecht, 2018, S. 47, 53 ff.; zum Verhältnis zur nationalen Befugnisnorm in § 39 LFGB s. Joh/Krämer/Teufer ZLR 2010, 243 ff., die eine weitgehende Verdrängung der nationalen Regelung annehmen; ebenso Zechmeister ZLR 2018, 624 ff.; VGH Mannheim 16.6.2014 – 9 S 1273/13, GewArch 2014, 494 = ZLR 2015, 95 mAnm Mittelstein; OVG Lüneburg 28.10.2013 – 13 ME 132/13, NVwZ 2014, 798 = ZLR 2014, 218 mAnm Weck; dazu auch Busse ZLR 2015, 302 ff.; VG Würzburg 17.9.2018 – W 8 K 17.1208, LMuR 2019, 29 mAnm Wallau; VG Berlin 14.3.2018 – VG 14 K 328.16, LMuR 2018, 155; einschränkend Preuß ZLR 2011, 47 ff.; VG Regensburg 10.9.2015 – Rn. 5 S 15.1265, LMuR 2016, 74 (77); offen lassend OVG Hamburg 5.9.2011 – 5 Bs 139/11 ZLR 2011, 764 mAnm Mittelstein = GewArch 2011, 500: Der in § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB vorgesehene gesetzliche Sofortvollzug greife unabhängig davon, ob die Maßnahme auf § 39 LFGB oder Art. 54 KontrollVO zu stützen sei. 456 Künftig Art. 102 ff. VO (EU) 2017/625 (Fn. 458). 457 Durchführungsbeschluss (EU) 2015/1918 der Kommission v. 22.10.2015 zur Einrichtung des Systems für Amtshilfe und Zusammenarbeit („AAC-System“) gemäß der VO (EG) Nr. 882/2004 (…), ABl. EU 2015 L 280/331. 458 VO (EU) 2017/625 des EP und des Rates v. 15.3.2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel (…) (Verordnung über amtliche Kontrollen), ABl. EU 2017 L 95/1. dazu Groß ZLR 2018, 763 ff.; Menditto/ Anniballi/Auricchio/De Medici/Stacchini EFFL 2017, 406 ff. 459 S. Groß ZLR 2018, 763 (767), der die Zahl von 189 entsprechenden Rechtsgrundlagen nennt. 460 S. dazu S. van der Meulen ua EFFL 2015, 2 ff.; Barnard/O’Connor 76 Cambridge Law Journal (2017) 116 ff.; Jack 24 EPL (2018), 147 ff. 461 Art. 9 Abs. 2 VO (EU) 2017/625 (Fn. 458). 462 Art. 139 VO (EU) 2017/625 (Fn. 458); dazu Wallau/Raffael LMuR 2018, 8 ff.; Schneiderhan ZLR 2018, 336 ff.

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b) Die Koordination durch das EU-Schnellwarnsystem Die Koordination der nationalen Aufsichtsbehörden im Fall akuter Gefahren erfolgt über 88 das EU-Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel (Rapid Alert System for Food and Feed – RASFF), dessen Grundlagen sich nun in Art. 50–52 der BasisVO finden:463 Nach Art. 50 Abs. 2 BasisVO haben die Mitgliedstaaten bzw. die von ihnen errichteten Kontaktstellen464 „Informationen über das Vorhandensein eines ernsten unmittelbaren oder mittelbaren Risikos für die menschliche Gesundheit“, das von Lebensmitteln oder Futtermitteln ausgeht, unverzüglich der Kommission zuzuleiten. Sie leitet die Informationen an die anderen Mitgliedstaaten und auch an die EFSA weiter; diese Mitgliedstaaten haben ihrerseits die Kommission über die von ihnen im Anschluss getroffenen Maßnahmen zu unterrichten. Für die Regelung der Einzelheiten insbes. zu „spezifischen Bedingungen und Verfahren für die Weiterleitung von Meldungen“ sieht Art. 50 BasisVO den Erlass von Durchführungsregeln durch die Kommission vor, der allerdings erst sehr spät erfolgt ist.465 Im Rahmen dieses sternförmigen Informationsnetzwerks werden heute vier große Kategorien von Nachrichten unterschieden: Warnmeldungen (Alert notifications), die auf dem Markt befindliche Waren betreffen und unverzügliche Maßnahmen der Empfängerstaaten verlangen, Informationsmeldungen (Information notifications) zu Waren, die keine Eilmaßnahmen der Empfangsstaaten erfordern, Grenzzurückweisungen (Border rejections) zur Zurückweisung von Waren an der EU-Außengrenze, und schließlich die Gruppe der sonstigen Nachrichten (News notifications) mit Informationen, die für die Beteiligten des Netzes von Interesse sein können.466 Die über das Schnellwarnsystem verbreiteten Meldungen467 sind auch in der öffentlichen 89 Internet-Datenbank des Systems einsehbar,468 die allerdings den Handelsnamen der Produkte und die Namen der betroffenen Unternehmen nicht erkennen lässt; diese Anonymisierung wird damit gerechtfertigt, dass zu diesem Zeitpunkt die erforderlichen behördlichen Maßnahmen bereits getroffen sind, so dass detailliertere Informationen nicht durch 463 Dazu Rodríguez Fuentes,EFFL 2017, 121 ff.; monographisch Thies, Das europäische Schnellwarnsystem für Lebensmittel, 2017; zuvor erfolgte der Informationsaustausch im Rahmen des allgemeinen Schnellwarnsystems RAPEX (Rapid Exchange of Information System) nach der ProduktsicherheitsRL 92/59/EWG, das außerhalb des Lebensmittelsektors weiter Anwendung findet (seine Grundlagen finden sich nun in Art. 10–12 der RL 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 3.12.2001 über die allgemeine Produktsicherheit, ABl. EG 2002 L 11/4, die die RL 92/59/EWG abgelöst hat; s. zur Neufassung der RL zB Fluck/Sechting DVBl. 2004, 1392 ff.); zu den in die 1970erJahre zurückreichenden, zunächst ohne formale Rechtsgrundlage operierenden Vorgängersystemen s. Bánáti/Klaus EFFL 2010, 10 (11 ff.). 464 In Deutschland ist dies das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), § 1 Nr. 1 a der VO zur Übertragung von Befugnissen auf das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit v. 21.2.2003, BGBl. 2003 I 244. Die Einzelheiten der Kooperation mit den Landesbehörden – jedes Bundesland hat eine „Kontaktstelle“ zu benennen – sind in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift für die Durchführung des Schnellwarnsystems für Lebensmittel, Lebensmittelbedarfsgegenstände und Futtermittel (AVV Schnellwarnsystem – AVV SWS) v. 8.9.2016, GMBl. 2016 Nr. 39, S. 770, geregelt. 465 VO (EU) Nr. 16/2011 der Kommission v. 10.1.2011 mit Durchführungsbestimmungen für das Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel, ABl. EU 2011 L 6/7; das RAPEX-System (Fn. 463) verfügte wesentlich früher über einen solchen Rahmen, s. die Kommissionsentscheidung 2004/418/EG v. 29.4.2004 „zur Festlegung von Leitlinien für die Verwaltung des gemeinschaftlichen Systems zum raschen Informationsaustausch (RAPEX) und für Meldungen gem. Art. 11 der RL 2001/95/EG“, ABl. EU 2004 L 151/86, später ersetzt durch die Kommissionsentscheidung 2010/15/EU v. 16.12.2009, ABl. EU 2010 L 22/1; dazu Klindt in FS Dauses, 2014, S. 181 ff. 466 Weitere Unterkategorien bilden die Folgemeldungen, mit denen weitere Entwicklungen zu bereits eingegebenen Meldungen verbreitetet werden, und die Rücknahmemeldung, mit der eine ursprüngliche Meldung durch den meldenden Mitgliedstaat zurückgenommen wird. 467 Der Jahresbericht für 2017 berichtet von immerhin 942 Warnmeldungen und 1588 Meldungen zur Zurückweisung an der Außengrenze. 468 S. http://ec.europa.eu/food/safety/rasff.

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die Belange des Verbraucher- oder Gesundheitschutzes zu rechtfertigen wären. Diese eingeschränkte Form der Veröffentlichung auf der EU-Ebene ist auch deshalb konsequent, weil die Verantwortung für die einzelnen konkreten Maßnahmen im Regelfall bei den die Warnung empfangenden Mitgliedstaaten liegt:469 Das Recht und die Pflicht dieser Mitgliedstaaten zur Information der Öffentlichkeit ergibt sich EU-rechtlich aus Art. 10 BasisVO (s. bereits → Rn. 86), in Deutschland aus § 40 LFGB. Nach der Struktur des Systems beschränkt sich die Rolle der EU-Kommission damit im Regelfall auf die Funktion einer Kommunikationszentrale, die die eingehenden Informationen weiterverteilt und konkrete Schutzmaßnahmen dem dezentralen Vollzug durch die Mitgliedstaaten überlässt. 90 Primärrechtsschutz gegen die Weiterleitung solcher Informationen durch die Kommission auf dem Weg über die Nichtigkeitsklage des Art. 263 AEUV scheidet aufgrund des fehlenden Regelungscharakters dieser Handlungen aus470 (s. auch dazu, dass die Rechtsschutzgarantie des EU-Rechts nicht notwendig Primärrechtsschutz umfasst, → Rn. 52). Betroffene Unternehmen können aber ggf. gegen die eine Warnmeldung abgebenden nationalen Stellen nach nationalem Prozessrecht vorgehen.471 Daneben kommen im Fall der Verbreitung fehlerhafter Informationen Haftungsansprüche gegen die EU472 oder die Mitgliedstaaten473 in Betracht, deren Voraussetzungen unter der Herrschaft des Vorsorgegrundsatzes allerdings nur in seltenen Fällen erfüllt sein werden474 (zum Rang des Vorsorgegrundsatzes s. auch → Rn. 14 f.). c) Eigene Maßnahmen der Kommission 91 Die Kommission ist rechtlich allerdings nicht auf die Funktion der bloßen Weiterleitung von Warnungen beschränkt: Gem. Art. 53 BasisVO kann sie auch selbst EU-weit wirkende Sofortmaßnahmen erlassen. Tatsächlich liegt der Vollzug allerdings dennoch ganz überwiegend in der Hand der Mitgliedstaaten; die gem. Art. 53 BasisVO „zentral“ erlassenen Entscheidungen betreffen fast ausschließlich Einfuhren aus Drittstaaten475 (zu den Ein469 Aufgrund dieser Verantwortung des Empfangsstaats kann ein Unternehmen auch nicht schon die Abgabe einer Warnmeldung mit dem Argument angreifen, dass damit ein ungerechtfertigter Ansehensverlust bewirkt werde: Die Entscheidung über eine Veröffentlichung wird erst durch den Empfangsstaat getroffen, der durch die Information erst in die Lage versetzt wird, eine verantwortliche Entscheidung zu treffen, s. dazu VGH München 14.11.2007 – 25 CE 07.2990, DLR 2008, 294 mAnm Gundel, S. 355; OVG Lüneburg 27.11.2007 – 11 ME 455/07 ZLR 2008, 249 mAnm Kraft S. 257 ff. = StoffR 2008, 94. 470 S. Gundel ZLR 2008, 159 (165); Schroeder ZLR 2009, 531 (544); EuG 29.10.2009 – T-212/06, Slg 2009, II-4073 – Bowland/Kommission = ZLR 2010, 71 mAnm Gundel konnte über die Frage nicht entscheiden, weil die dort zunächst erhobene Nichtigkeitsklage wieder zurückgenommen wurde. 471 S. für Deutschland VGH München 14.11.2007 – 25 CE 07.2990, DLR 2008, 294 mAnm Gundel, S. 355; offenlassend VGH Mannheim 16.11.2015 – 9 S 1749/15, LMuR 2016, 32 (33); VGH München 22.8.2013 – 9 CE 13.1698, BayVBl. 2014, 343 = StoffR 2014, 232; OVG Lüneburg 27.11.2007 – 11 ME 455/07, ZLR 2008, 249 mAnm Kraft, S. 257 ff. = StoffR 2008, 94; dazu auch Voit ZLR 2008, 516 ff.; Zellmeister/van der Schoot ZLR 2008, 583 ff.; wie der BayVGH für eine ähnliche Konstellation – das Amtshilfe-Ersuchen an einen anderen Mitgliedstaat – auch BFH, 21.7.2009 – VII R 52/08, DStR 2009, 2148 = BB 2009, 2463 mAnm Geuenich: Die Maßnahme ist kein bloßes Verwaltungsinternum, sondern kann mit der Leistungsklage angegriffen werden. 472 S. zu einem Fall, in dem die Kommission noch auf der Grundlage der RL 92/59/EWG (Fn. 455) eine Warnung der isländischen Behörden an die mitgliedstaatlichen Verwaltungen weitergegeben hatte, EuG 10.3.2004 – T-177/02, Slg 2004, II-827 – Malagutti-Verzinhet SA/Kommission = EuZW 2004, 444; danach trifft die Kommission im Rahmen der Weitergabe der Informationen keine Pflicht zur vertieften Überprüfung. Zu dieser Entscheidung González Vaqué RDUE 2004, 797 ff.; Moelle StoffR 2004, 237 ff.; Heußner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007, S. 197 ff., 425 ff. 473 Zur Frage der Verantwortungsverteilung zwischen EU und mitgliedstaatlichen Stellen unter diesem Gesichtspunkt s. Gundel ZLR 2008, 159 ff. 474 S. näher Gundel ZLR 2008, 159 (169 f.). 475 S. dazu Simpson EFFL 2012, 181 ff.

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fuhrkontrollen s. → Rn. 96 ff.), die auf diese Weise nicht auf den Binnenmarkt gelangen. Insoweit bilden die einschlägigen Entscheidungen die verschiedenen Lebensmittelkrisen ab, soweit sie ihren Ursprung außerhalb der EU haben;476 neben konventionellen Gefahrenquellen betreffen diese Maßnahmen häufig auch in der EU nicht zugelassene gentechnisch veränderte Lebensmittel477 (zum Zulassungserfordernis s. → Rn. 65 ff.). Der Kommission steht hierbei nicht nur die Möglichkeit von Verkehrsverboten zur Verfü- 92 gung: Sie kann auf dieser Grundlage auch präzise Kontrollpflichten der Mitgliedstaaten in Bezug auf festgestellte Gefahrenlagen anordnen und so den Verwaltungsvollzug des EULebensmittelrechts intensiv steuern478 (dazu → Rn. 97). In Einzelfällen sind auch Maßnahmen der Kommission zur Unterbindung des Vertriebs von in der EU hergestellten Lebensmitteln möglich, wenn die grundsätzlich für den Vollzug zuständigen nationalen Behörden nicht bereit oder in der Lage sind, Verstöße abzustellen; Rechtsgrundlage hierfür ist Art. 56 KontrollVO iVm Art. 53 BasisVO.479 Umgekehrt kann die Kommission auch Mitgliedstaaten, die aus ihrer Sicht zu weitgehende Schutzmaßnahmen gegen vermeintlich gefährliche Einfuhren aus anderen Staaten getroffen haben, durch Entscheidung gem. Art. 54 BasisVO zur Korrektur verpflichten.480 d) Die Kontrolle der nationalen Kontrolleure Das Sekundärrecht nimmt mit der KontrollVO481 auch die mitgliedstaatlichen Behörden 93 systematisch in die Pflicht: Danach müssen die Mitgliedstaaten integrierte mehrjährige Kontrollpläne entwickeln und der Kommission vorlegen.482 Darüber hinaus führt die

476 S. zB zur Melamin-Belastung chinesischer Milchprodukte die Kommissionsentscheidung 2008/921/EG v. 9.12.2008, ABl. EU 2008 L 331/19 (dazu Alemanno RDUE 2010, 527/541 ff.); zur Strahlenbelastung japanischer Lebensmittel nach dem Reaktorunfall von Fukushima die Kommissions-Durchführungsverordnung (EU) Nr. 297/2011 v. 25.3.2011 zum Erlass von Sondervorschriften für die Einfuhr von Lebens- und Futtermitteln, deren Ursprung oder Herkunft Japan ist, nach dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima, ABl. EU 2011 L 80/5 (ersetzt durch die DurchführungsVO Nr. 961/2011 v. 7.7.2011, ABl. EU 2011 L 180/39); zum mutmaßlichen Auslöser der EHEC-Epidemie des Frühsommers 2011 s. den Durchführungsbeschluss 2011/402/EU v. 6.7.2011 über Sofortmaßnahmen hinsichtlich Bockshornkleesamen sowie bestimmter Samen und Bohnen aus Ägypten, ABl. EU 2011 L 179/10. 477 S. zB die Kommissionsentscheidung 2006/601/EG v. 5.9.2006 über Dringlichkeitsmaßnahmen hinsichtlich des nicht zugelassenen gentechnisch veränderten Organismus „LL Reis 601“ in Reiserzeugnissen, ABl. EU 2006 L 244/27; oder den Durchführungsbeschluss 2011/884/EU der Kommission v. 22.12.2011 über Sofortmaßnahmen hinsichtlich nicht zugelassenem genetisch veränderten Reis in Reiserzeugnissen mit Ursprung in China (...), ABl. EU 2011 L 343/140. 478 S. zB die Kommissionsentscheidung 2006/236/EG v. 21.3.2006 „über Sondervorschriften für die Einfuhr von zum Verzehr bestimmten Fischereierzeugnissen aus Indonesien“, ABl. EU 2006 L 83/16, zur Kontrolle der Höchstgehalte von Schwermetallen (aufgehoben durch Beschluss v. 16.4.2010, ABl. EU 2010 L 97/16), weiter den Kommissionsbeschluss 2010/220/EU v. 16.4.2010 „über Sofortmaßnahmen für aus Indonesien eingeführte Sendungen mit zum menschlichen Verzehr bestimmten Zuchtfischereierzeugnissen“, ABl. EU 2010 L 97/17: Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Prüfung von mindestens 20 % der Einfuhren auf Rückstände bestimmter Tierarzneimittel und zur regelmäßigen Meldung der Ergebnisse, nachdem bei einem Kontrollbesuch der Kommission im Ursprungsstaat Mängel des dortigen Kontrollsystems festgestellt worden waren. 479 Für ein solches Bsp. s. die Kommissionsentscheidung 2006/694/EG v. 13.10.2006 „zum Verbot des Inverkehrbringens des in einer Molkerei im Vereinigten Königreich hergestellten Frischkäses“, ABl. EU 2006 L 283/59; zu diesem Fall s. auch EuG 29.10.2009 – T-212/06, Slg 2009, II-4073 – Bowland/ Kommission = ZLR 2010, 71 mAnm Gundel. 480 S. für ein Bsp. die Kommissionsentscheidung 2009/726/EG v. 24.9.2009 „betreffend von Frankreich ergriffene Schutzmaßnahmen gegen das Verbringen von Milch und Milcherzeugnissen aus Betrieben, in denen ein Fall der klassischen Traberkrankheit nachgewiesen wurde, auf sein Territorium“, ABl. EU 2009 L 258/27. 481 VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 402). 482 Art. 41–43 VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 402), künftig Art. 109 ff. der VO (EU) 2017/625 (Fn. 458); s. auch die auf Art. 44 der VO gestützte Kommissionsentscheidung 2008/654/EG v. 24.7.2008 über Leit-

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Kommission selbst483 gem. Art. 45 der KontrollVO Überprüfungen in den Mitgliedstaaten durch, die explizit dazu dienen, die Umsetzung dieser nationalen Kontrollpläne und generell „die Arbeitsweise und Organisation der nationalen Behörden zu kontrollieren“ (Art. 45 Abs. 2 lit. b KontrollVO); nach Art. 45 Abs. 5 KontrollVO treffen die Mitgliedstaaten angemessene Folgemaßnahmen in Reaktion auf die Überprüfungen484. Die Missachtung dieser Verpflichtungen kann im Vertragsverletzungsverfahren sanktioniert werden.485 94 Ebenfalls in der KontrollVO geregelt ist der Status der sog EU-Referenzlaboratorien für Lebens- und Futtermittel sowie Tiergesundheit;486 es handelt sich dabei um nationale Stellen, die EU-weit für ein bestimmtes Fachgebiet zuständig sind und die Arbeit der von den Mitgliedstaaten zu benennenden nationalen Referenzlaboratorien487 in diesem Bereich koordinieren, um EU-weit einheitliche Untersuchungsstandards sicherzustellen; die EU beteiligt sich im Gegenzug an der Finanzierung dieser Einrichtungen.488

IV. Der Lebensmittel-Außenhandel der EU und seine völkerrechtlichen Rahmenvorgaben 1. Das autonome EU-Recht a) Die grundsätzliche Geltung der EU-Lebensmittelstandards 95 Das EU-Lebensmittelrecht gilt nicht nur für den EU-Binnenmarkt und die dort hergestellten und in Verkehr gebrachten Lebensmittel, sondern erfasst auch aus Nicht-Mitgliedstaaten eingeführte Produkte (zu den speziellen Kontrollvorgaben → Rn. 96 ff.) und die Ausfuhren in diese Drittstaaten. Dieser Geltungsbereich ist grundsätzlich in der BasisVO niedergelegt489, ( weshalb der Erlass dieser Verordnung konsequent auch auf die Außenhandelskompetenz gestützt wurde (→ Rn. 28): Nach Art. 11 BasisVO gelten für Einfuhren die einschlägigen Bestimmungen des EU-Lebensmittelrechts oder von der EU als gleichwertig anerkannte Bestimmungen, soweit nicht ein Abkommen mit dem Ausfuhrland besondere

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linien zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Erstellung des Jahresberichts über den einzigen integrierten mehrjährigen nationalen Kontrollplan, ABl. EU 2008 L 214/56. In der Praxis sind diese Inspektionen Aufgabe der sog „Dubliner Behörde“ (Fn. 221); zu den Inspektionsberichten s. http://ec.europa.eu/food/fvo; s. auch schon als Vorgängerregelung die RL 93/99/EWG des Rates v. 29.10.1993 über zusätzliche Maßnahmen im Bereich der amtlichen Lebensmittelüberwachung, ABl. EG 1993 L 290/14. Künftig Art. 116 ff. der VO (EU) 2017/625 (Fn. 458). S. zB für eine Verurteilung wegen unzureichender Personalausstattung der nationalen Kontrollbehörden: EuGH 23.4.2009 – C-331/07, Slg 2009, I-60* (abgek. Veröff.) – Kommission/Griechenland. Art. 32 VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 402) mit Auflistung in Anhang VII; die Liste kann von der Kommission ergänzt werden, s. zB die VO (EU) Nr. 87/2011 der Kommission v. 2.2.2011 zur Benennung des EU-Referenzlaboratoriums für Bienengesundheit (...), ABl. EU 2011 L 29/1; künftig Art. 92 der VO (EU) 2017/625 (Fn. 458). Art. 33 VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 402), künftig Art. 100 der VO (EU) 2017/625 (Fn. 458). S. zunächst die VO (EG) Nr. 1754/2006 der Kommission v. 28.11.2006 „über die Modalitäten für die Gewährung der Finanzhilfe der Gemeinschaft an die Gemeinschaftsreferenzlaboratorien für Futtermittel, Lebensmittel und den Bereich Tiergesundheit“, ABl. EU 2006 L 331/8; abgelöst durch die VO (EU) Nr. 926/2011 der Kommission v. 12.9.2011 für die Zwecke der Entscheidung 2009/470/EG des Rates hinsichtlich einer Finanzhilfe der Union für die EU-Referenzlaboratorien im Bereich Futtermittel und Lebensmittel sowie Tiergesundheit“, ABl. EU 2011 L 241/2. Grds. ist die Beiziehung dieser Kompetenz aber nicht erforderlich, wenn Produktstandards fixiert werden, die auch für auszuführende Produkte gelten, s. dazu EuGH 10.12.2002 – C-491/01, Slg 2002, I-11453, Rn. 96 ff. – BAT/Secretary of State = EuR 2003, 80 mAnm Gundel (TabakproduktRL); dasselbe gilt für die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen eingeführter Lebensmittel, s. EuGH 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 u. 155/04, Slg 2005, I-6451, Rn. 94 f. – Alliance for Natural Health ua = ZLR 2005, 591 mAnm Schroeter in Abgrenzung von EuGH 30.5.2002 – C-296/00, Slg 2002, I-4657 – Expo Casa Manta.

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Regelungen trifft. Auch Lebensmittel-Ausfuhren aus der EU müssen nach Art. 12 der BasisVO diesen Standards genügen, wenn nicht das Bestimmungsland andere Regelungen verlangt oder zulässt; gesundheitsschädliche Lebensmittel dürfen auch in diesem Fall nicht exportiert werden. Weiter spricht Art. 13 BasisVO eine Selbstverpflichtung der EU zur Mitwirkung auf internationaler Ebene aus. b) Die Sonderregelungen für die Kontrollen bei der Einfuhr und Kontrollen in Drittstaaten Während die materiellen Anforderungen des EU-Lebensmittelrechts grundsätzlich ohne 96 Weiteres auch für eingeführte Lebensmittel gelten, sind für die Lebensmittelkontrolle Anpassungen notwendig, da die in den Mitgliedstaaten mögliche Kontrolle am Produktionsort in diesem Fall nicht ohne weiteres durchführbar ist. Dabei hat sich entsprechend der unterschiedlichen Gefährdungslage490 ein unterschiedliches Regime für Lebens- und Futtermittel tierischen Ursprungs und sonstige Lebensmittel entwickelt: Spezifische Kontrollvorgaben bestanden zunächst nur für Lebensmittel tierischen Ursprungs491 und beschränkten sich auf Veterinäraspekte.492 Für die erste Gruppe sind seit längerem systematische Kontrollen an dafür vorgesehenen Grenzkontrollstellen vorgesehen;493 auch hat der EU-Gesetzgeber der Vermeidung der Einschleppung von Tierseuchen große Aufmerksamkeit gewidmet.494 Im zweiten Bereich bestanden dagegen Lücken;495 erst die KontrollVO hat dann einen übergreifenden Rahmen geschaffen. Für nicht-tierische Lebensmittel enthält Art. 15 KontrollVO dabei weiterhin flexiblere Vorgaben,496 allerdings bietet Art. 15 Abs. 5 die Rechtsgrundlage für die Normierung verstärkter Kontrollen für von der Kommission identifizierte Problemfelder, die inzwischen mit Erlass der KommissionsVO (EG)

490 S. auch im Rahmen des Hygienepakets die besondere Regelung für Lebensmittel tierischer Herkunft in der der VO (EG) Nr. 853/2004 (Fn. 399). 491 RL 97/78/EG des Rates v. 18.12.1997 zur Festlegung von Grundregeln für die Veterinärkontrollen von aus Drittländern in die Gemeinschaft eingeführten Erzeugnissen, ABl. EG 1998 L 24/9; zuvor RL 90/675/EWG des Rates v. 10.12.1990 zur Festlegung von Grundregeln für die Veterinärkontrollen von aus Drittländern in die Gemeinschaft eingeführten Erzeugnissen, ABl. EG 1990 L 373/1; für ein Anwendungsbeispiel s. OVG Bremen 4.4.2003 – 1 B 131/03, NordÖR 2003, 253 (vorläufiger Rechtsschutz): Lebensmittel, bei deren Einfuhr Rückstände gesundheitsschädlicher Antibiotika festgestellt wurden, können nicht zur freiwilligen Wiederausfuhr in den Herkunftsstaat freigegeben werden, sondern sind zu vernichten; ebenso dann im Hauptsacheverfahren OVG Bremen 25.10.2005 – 1 A 60/04, GewArch 2007, 32 = NordÖR 2006, 116, bestätigt durch BVerwG 11.7.2006 – 3 B 50.06 ZLR 2006, 709 mAnm Weidner = NVwZ-RR 2006, 798. 492 So der Befund in Erwägungsgrund 25 der VO (EG) Nr. 882/2004 (Fn. 402). 493 RL 97/78/EG des Rates v. 18.12.1997 zur Festlegung von Grundregeln für die Veterinärkontrollen von aus Drittländern in die Gemeinschaft eingeführten Erzeugnissen, ABl. EG 1998 L 24/9. 494 S. bereits RL 72/462/EWG des Rates v. 12.12.1972 zur Regelung viehseuchenrechtlicher und gesundheitlicher Fragen bei der Einfuhr von Rindern und Schweinen und von frischem Fleisch aus Drittländern, ABl. 1972 L 302/28; später RL 2002/99/EG des Rates v. 16.12.2002 zur Festlegung von tierseuchenrechtlichen Vorschriften für das Herstellen, die Verarbeitung, den Vertrieb und die Einfuhr von Lebensmitteln tierischen Ursprungs, ABl. EU 2003 L 18/11; auf dieser Grundlage gilt derzeit die VO (EG) Nr. 206/2010 der Kommission v. 12.3.2010 zur Erstellung von Listen der Drittländer, Gebiete und Teile davon, aus denen das Verbringen bestimmter Tiere und bestimmten frischen Fleisches in die EU zulässig ist, und zur Festlegung der diesbezüglichen Veterinärbescheinigungen, ABl. EU 2010 L 73/1. 495 Dazu zB Reichenbach ZLR 1999, 555 (573). 496 Für Lebensmittel tierischen Ursprungs verweist Art. 14 Abs. 1 KontrollVO auf die fortgeltende RL 97/78/EG (Fn. 491).

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Nr. 669/2009497 genutzt wurde. Die künftig geltende KontrollVO – VO (EU) 2017/625 – regelt auch diesen Sektor intensiv498. 97 Grundsätzlich muss bei Einfuhren aus Drittstaaten nach den allgemeinen Vorgaben der KontrollVO gewährleistet sein, dass die Kommission die Regelungen und Vorkehrungen des Drittstaats zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit überprüfen kann.499 Art. 46 der KontrollVO sieht auch ausdrücklich amtliche Kontrollen durch die Kommission in Drittländern500 vor, um „die Übereinstimmung der Rechtsvorschriften und Systeme der Drittländer mit dem gemeinschaftlichen Futtermittel- und Lebensmittelrecht (...) bzw. die Gleichwertigkeit dieser Rechtsvorschriften und Systeme zu überprüfen.“ Gemäß Art. 23 der KontrollVO kann die Kommission entsprechende Prüfungsverfahren des Drittstaats als den EU-Anforderungen entsprechend „genehmigen“,501 wodurch Einfuhrkontrollen durch die mitgliedstaatlichen Behörden zwar nicht ausgeschlossen werden, aber doch in ihrer Häufigkeit vermindert werden sollen.502 98 Die Kontrollen durch die Mitgliedstaaten bei der Einfuhr ergänzen dieses System; ihre Existenz macht die Bemühungen um die als effektiver erachteten Kontrollen durch den Drittstaat bei der Produktion nicht überflüssig.503 Unabhängig davon kann die Kommission spezifische Kontrollanordnungen auf der Grundlage von Art. 53 BasisVO treffen (s. bereits → Rn. 91 f.), wenn neue Erkenntnisse zur Situation im Drittstaat solche Sofortmaßnahmen geboten erscheinen lassen. Haftungsansprüche von Lebensmittelhändlern und Importeuren sind insbesondere nach unerwarteten Änderungen des Einfuhrregimes, die zumeist auf neue Erkenntnisse über die Produktionsbedingungen im betroffenen Drittstaat reagierten, zwar immer wieder geltend gemacht worden; jedoch sind solche Klagen bisher stets erfolglos geblieben, weil angesichts der Bedeutung des Rechtsguts Gesundheit auch rasch und ohne Übergangsregelung greifende Maßnahmen als zulässig angesehen wurden und die EU-Organe auch keine konkreten Vertrauenstatbestände in Bezug auf die Fortgeltung der Einfuhrbedingungen gesetzt hatten.504

497 VO (EG) Nr. 669/2009 der Kommission v. 24.7.2009 zur Durchführung der VO (EG) Nr. 882/2004 des EP und des Rates im Hinblick auf verstärkte amtliche Kontrollen bei der Einfuhr bestimmter Futtermittel und Lebensmittel nicht tierischen Ursprungs, ABl. EU 2009 L 194/11 (geändert durch DurchführungsVO Nr. 799/2011 der Kommission v. 9.8.2011, ABl. EU 2011 L 205/15). 498 Art. 44 ff. der VO (EU) 2017/625 (Fn. 458). 499 Art. 47 KontrollVO; im Fall unzureichender Informationen durch den Drittstaat sieht Abs. 4 vor, dass von der Kommission nur „von Fall zu Fall streng befristete spezielle Einfuhrbedingungen festgelegt werden.“ In besonders problematischen Feldern ist die aktive Mitwirkung des Drittstaats sogar zwingende Voraussetzung für die Zulässigkeit der Einfuhr, s. für ein Beispiel EuG 9.7.2009 – T-238/07, Slg 2009, II-117* (abgek. Veröff.) – Ristic/Kommission. 500 Künftig Art. 120 der VO (EU) 2017/625 (Fn. 458); zu solchen extraterritorialen Inspektionen der EU im Lebensmittelsektor s. Meyer/Reiling ArchVR 55 (2017), 414 (417 ff.). 501 Für einen solchen Fall s. die Kommissionsentscheidung 2008/47/EG v. 20.12.2007 zur Genehmigung der Prüfungen, die die Vereinigten Staaten von Amerika vor der Ausfuhr von Erdnüssen und daraus hergestellten Erzeugnissen zur Feststellung des Aflatoxingehalts durchführen, ABl. EU 2008 L 11/12. 502 Art. 23 Abs. 2 KontrollVO; künftig Art. 73 der VO (EU) 2017/625 (Fn. 458); dem entspricht die allgemeine Vorgabe des Art. 16 Abs. 2 KontrollVO, nach der die Häufigkeit der Einfuhrkontrollen am Risiko auszurichten ist, das durch die Kontrollen im Herkunftsstaat entsprechend gemindert wird; so verfügt zB Art. 4 der Kommissionsentscheidung 2008/47/EG (Fn. 501) in Konsequenz der Genehmigung, dass die Häufigkeit der Einfuhrkontrollen „deutlich verringert“ wird. 503 So in Bezug auf Fischeinfuhren EuG 9.7.2009 – T-238/07, Slg 2009, II-117* (abgek. Veröff.), Rn. 66 ff. – Ristic/Kommission – im Anschluss an EuGH 9.10.1997 – C-183/95, Slg 1997, I-4315, Rn. 38 ff. – Affish BV; EuG 15.9.1998 – T-136/95, Slg 1998, II-3301, Rn. 49 f. – Infrisa/Kommission. 504 S. EuG 9.7.2009 – T-238/07, Slg 2009, II-117* (abgek. Veröff.) – Ristic/Kommission; EuG 23.10.2001 – T-155/99, Slg 2001, II-3143 – Dieckmann & Hansen/Kommission; EuG 15.9.1998 – T-136/95, Slg 1998, II-3301 – Infrisa/Kommission, bestätigt durch EuGH 14.10.1999 – C-437/98 P, Slg 1999, I-7145.

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Gesondert geregelt ist schließlich die Einfuhr von Lebensmitteln aus ökologischer Erzeu- 99 gung:505 Ihre Vermarktung unter dieser Spezifikation in der EU ist nur zulässig, wenn der Herkunftsstaat den Produktions- und Kontrollvorschriften der EU gleichwertige Standards anwendet und dies von der Kommission durch die Aufnahme des Staats in die Liste anerkannter Herkunftsstaaten bestätigt wird. Auch hier ist vor der Aufnahme eine VorOrt-Prüfung durch die Kommission vorgesehen.506 2. Das WTO-Recht als Rahmen des internationalen Lebensmittelhandels Die von der EU zu beachtenden internationalen Standards setzt vor allem das WTO- 100 Recht, dem auch die Ein- und Ausfuhr von Lebensmitteln unterfällt;507 einschlägig sind hier seit der Neuordnung durch das WTO-Abkommen von 1994, das die EU ebenso wie die Mitgliedstaaten ratifiziert hat, speziell das Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS-Abkommen)508 und das Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (TBT-Abkommen).509 Dabei begegnen hier auf der Ebene des Welthandelsrechts die Abwägungsfragen zwischen Handelsfreiheit und Gesundheits- oder Verbraucherschutz wieder, die innerhalb des EU-Binnenmarktes in Anwendung der Grundfreiheiten entschieden werden; nur der innerhalb der EU bestehende Lösungsweg einer verbindlichen Harmonisierung bietet sich in diesem Rahmen nicht (zur Anleihe beim Codex Alimentarius und anderen internationalen Normungsgremien → Rn. 104). Mit dem WTO-Abkommen hat das Welthandelsrecht zugleich die Instrumente einer effektiven Streitschlichtung gewonnen; das Regelwerk trägt dennoch weiter den Charakter eines zwischenstaatlichen Abkommens ohne unmittelbare Wirkungen für den Einzelnen (dazu noch → Rn. 103). Gewicht für das EU-Lebensmittelrecht haben dabei vor allem die Bestimmungen des SPS- 101 Abkommens gewonnen, das in seinem Anwendungsbereich die allgemeineren Maßstäbe des GATT-Vertrags verdrängt:510 Sie waren Maßstab in den langwierigen WTO-Streitigkeiten um die Zulässigkeit der Einfuhrverbote für Hormonfleisch511 und genetisch veränderte Lebensmittel.512 Soweit die Union hier unterlegen ist, beruhte dieses Ergebnis allerdings vor allem darauf, dass wissenschaftlich begründete Einwände gegen die Unbedenk505 S. dazu die VO (EG) Nr. 1235/2008 der Kommission v. 8.12.2008 mit Durchführungsvorschriften zur VO (EG) Nr. 834/2007 des Rates hinsichtlich der Regelung der Einfuhren von ökologischen/biologischen Erzeugnissen aus Drittländern, ABl. EU 2008 L 334/25. 506 Art. 33 Abs. 2 VO (EG) Nr. 834/2007 (Fn. 265); s. für ein Bsp. die DurchführungsVO (EU) Nr. 126/2012 der Kommission v. 14.2.2012 zur Änderung (...) der Verordnung (EG) Nr. 1235/2008 hinsichtlich der Sonderregelung für die Einfuhr von ökologischen/biologischen Erzeugnissen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, ABl. EU 2012 L 41/5. 507 Dazu aus Anlass des WTO-Abkommens Eckert ZLR 1995, 363 ff.; Streinz in UTR-Jb. 1996, 435 ff.; Ritter EuZW 1997, 133 ff.; aus jüngerer Zeit s. Alemanno, Trade in Food: Regulatory and Judicial Approaches in the EC and the WTO, 2007; Mahieu, Le droit de la société de l’alimentation, 2007, S. 145 ff.; Herrmann ZLR 2013, 128 ff. 508 Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures, ABl. EG 1994 L 336/40. 509 Agreement on Technical Barriers to Trade, ABl. EG 1994 L 336/86. 510 Gem. Art. 2 Abs. 4 SPS-Abkommen gelten mit dem SPS vereinbare Maßnahmen auch als mit dem GATT, insbes. Art. XX (b) GATT-Vertrag vereinbar. 511 Zu diesem Streit, dessen Anfänge in die 1980er-Jahre zurückreichen (zur Vorgeschichte Meng RIW 1989, 544 ff.), s. Appellate Body 16.1.1998 – WT/DS26/AB/R u. WT/DS48/AB/R – EC – Measures Concerning Meat and Meat Products, abgedr. in EuZW 1998, 157; dazu Eggers EuZW 1998, 147 ff.; Godt EWS 1998, 202 ff.; Slotboom 36 CMLRev. (1999), 471 ff.; Blin RTDE 1999, 42 ff.; zur weiteren Entwicklung zB Du 59 ICLQ (2010), 441 ff.; Hervé RevMC 2009, 246 ff. 512 S. DSB 21.11.2006 – WT/DS/291/R, WT/DS/292/R, WT/DS/293/R – EC – Measures Affecting the Approval and Marketing of Biotech Products; dazu Sander/Sasdi EuZW 2006, 140 ff.; Ghérari RevMC 2006, 654 ff.; Stoll EuZW 2007, 471 f.; Krell-Zbinden ZLR 2007, 125 ff.; Poli 32 ELRev. (2007), 705 ff.; im Vorfeld Krenzler/MacGregor 5 EFAR (2000), 287 ff.; s. auch Pollack/Shaffer, When Cooperation Fails: The International Law and Politics of Genetically Modified Food, 2009.

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lichkeit der Einfuhren nicht vorgetragen werden konnten. Den WTO-Mitgliedern wird dagegen nicht das Recht abgesprochen, ihre Schutzstandards selbst zu definieren und dabei auch höhere Sicherheitsstandards zu setzen als andere Vertragsstaaten;513 nur Inkohärenzen in der Fixierung der Standards sind unzulässig.514 Auch dem Vorsorgegrundsatz kann Rechnung getragen werden, weil das SPS-Abkommen bei unzureichender Beweislage vorübergehende Maßnahmen erlaubt, allerdings weitere Bemühungen um Aufklärung fordert.515 Eine Diskrepanz wird allerdings weiter darin gesehen, dass die EU beansprucht, im Rahmen des Risikomanagements neben der (wissenschaftlich bestimmten) Risikobewertung auch den Einfluss „anderer berücksichtigenswerter Faktoren“516 zuzulassen – wofür soziale, wirtschaftliche oder ethische Erwägungen aufgeführt werden517 –, während nach der Praxis der WTO-Organe eine allein hierauf gegründete Ablehnung nicht zulässig ist.518 Allerdings erscheint offen, ob hiermit tatsächlich abweichende Ergebnisse EU-rechtlich legitimiert werden könnten – denn auch nach EU-Recht setzt das Risikomanagement die vorgelagerte Risikobewertung voraus519 (zur Grenze des Vorsorgegrundsatzes s. auch → Rn. 15). 102 Auch die weiteren Abkommen des WTO-Vertragswerks können im Einzelfall Bedeutung für das EU-Lebensmittelrecht gewinnen. Das gilt für das TBT-Abkommen, auch wenn es gegenüber dem SPS-Abkommen grundsätzlich zurücktritt;520 es kann aber zB betroffen sein, wenn die EU aus Gründen des Verbraucherschutzes die Verwendung bestimmter Bezeichnungen einschränkenden Voraussetzungen unterwirft521 und dadurch Einfuhren aus anderen Vertragsstaaten behindert; auch das TRIPs-Abkommen hat schon eine Rolle gespielt und schließlich zu einer Anpassung der EU-Verordnung zum Schutz geographischer Herkunftsangaben in Bezug auf Drittstaatsprodukte geführt.522 103 Wird ein Verstoß von EU- oder mitgliedstaatlichem Lebensmittelrecht gegen WTO-Recht festgestellt, kann dies von vornherein nur zugunsten der aus anderen WTO-Vertragsstaaten stammenden Einfuhren wirken, wodurch sich das Problem einer WTO-induzierten Inländerdiskriminierung ergeben kann523 (zur Parallelfrage der EU-Inländerdiskriminierung → Rn. 22). Ein unmittelbarer Durchgriff der WTO-rechtlichen Anforderungen wird allerdings auch insoweit dadurch verhindert, dass die EuGH-Rechtsprechung dem WTORecht auch nach dem förmlichen Beitritt der EU zum WTO-Abkommen grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung in der EU-Rechtsordnung zubilligt.524 513 514 515 516 517 518 519 520 521

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So ausdrücklich Art. 3 Abs. 2 SPS-Abkommen. Art. 5 Abs. 5 SPS-Abkommen. Art. 5 Abs. 7 SPS; dazu zB Noiville JDI 2000, 295 ff. So Art. 3 Nr. 12 BasisVO, parallel Art. 6 Abs. 3 BasisVO. So zB Borczak RDUE 2009, 275 (282 f.). S. dazu zB Bossis RGDIP 2003, 693 ff.; für eine stärkere Berücksichtigung der öffentlichen Meinung im Importstaat auch im Rahmen des SPS-Abkommens allerdings Foster 11 JIEL (2008), 427 ff. Ähnlich Szajkowska 47 CMLRev. (2010), 173 (186 ff.). Art. 1 Abs. 5 TBT-Abkommen. S. Appellate Body 26.9.2002 – WT/DS231/AB/R – EC – Trade Description of Sardines (zu einer EGVerordnung, die eine Vermarktung als Sardinen nur für in Mittelmeer und Atlantik, nicht aber für im Pazifik heimische Sardinenarten zuließ); dazu Herrmann ZLR 2002, 794 ff.; ders. ZLR 2002, 537 ff.; Muñoz RDUE 2003, 457 ff.; Howse LIEI 2002, 247 ff.; Mathis LIEI 2002, 335 ff. S. DSB 15.3.2005 WT/DS290/R – EC – Protection of Trademarks and Geographical Indications for Agricultural Products and Foodstuffs; zur Neufassung durch die VO (EG) Nr. 510/2006 des Rates v. 20.3.2006, ABl. 2006 L 93/12, und ihren Hintergründen s. zB Knaak in Sosnitza, S. 113 ff.; Gonzalez Vaqué RDUE 2006, 795 ff. Dazu Weiß EuR 1999, 499 ff.; Wetzig ZLR 2000, 11 (23 ff.). So die Weichenstellung durch EuGH 23.11.1999 – C-149/96 Slg 1999, I-8395 – Portugal/Rat = EuR 2000, 62 mAnm Hilf/Schorkopf; dazu auch Zonnekeyn 25 ELRev. (2000), 293 ff.; Berrod RTDE 2000, 419 ff.; weiter EuGH 1.3.2005 – C-377/02, Slg 2005, I-1465 – Van Parys = EuZW 2005, 214 mAnm Steinbach, S. 331 ff.; dazu auch Berg/Beck RIW 2005, 401 ff.; s. insbes. zur Schadenersatzkla-

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B. Entwicklung und Stand des europäischen Lebensmittelrechts

8

3. Internationale Standardisierungsforen Das WTO-Recht unterscheidet sich vom EU-Recht erheblich dadurch, dass es selbst keine 104 harmonisierten materiellen Standards setzen kann, die zur Beseitigung von Handelshemmnissen beitragen könnten; diese Rolle kann aber zumindest partiell von anderen internationalen Normungsgremien übernommen werden. Erhebliche Bedeutung hat dabei im Gefolge des WTO-Rechts die Codex-Alimentarius-Kommission (CAK)525 gewonnen, die 1963 als gemeinsame Einrichtung von FAO und WHO gegründet wurde: Die unter der Verantwortung dieser Kommission526 erarbeiteten Codex-Standards erlangen verbindliche Wirkung zwar nur für Staaten, die sie ausdrücklich annehmen;527 andere CAK-Dokumente wie die Leitlinien sind von vornherein nicht als verbindliche Rechtsakte konzipiert. Unabhängig von dieser stark eingeschränkten förmlichen Verbindlichkeit haben ihre Festlegungen aber erhebliche faktische Wirkung.528 Diese Wirkung hat nun deutlich dadurch an Gewicht gewonnen, dass das SPS-Abkommen auf die Berücksichtigung dieser internationalen Normung Bezug nimmt:529 Staatliche Maßnahmen, die ihr Vorbild umsetzen, gelten als WTO-konform. Ein Vertragsstaat, der von diesen Leitbildern durch die Wahl schärferer Standards abweicht, muss hierfür eine wissenschaftliche Begründung anführen können;530 auch sind abweichende Regelungen der WTO zu notifizieren.531 Im Rahmen des TBT-Abkommens können die Codex Alimentarius-Standards ebenfalls als Leitbilder herangezogen werden; sie haben hier allerdings nicht dieselbe starke Vermutungswirkung.532 Angesichts der auf diese Weise gestiegenen Bedeutung der internationalen Standardset- 105 zung auf der einen Seite und des durch die immer intensivere sekundärrechtliche Abdeckung des Lebensmittelsektors bewirkten Kompetenzübergangs auf die EU auf der anderen Seite ist naheliegend, dass auch die Mitwirkung an dieser Standardsetzung auf die EU übergeht. So nimmt die EU, die seit 1991 Mitglied der FAO ist,533 an den Beratungen der Codex-Alimentarius-Kommission seit 2003 als vollwertiges Mitglied534 neben ihren Mit-

525

526 527 528 529 530 531 532 533

534

ge eines Fleischhandelsunternehmens, das sich durch das Einfuhrverbot für Hormonfleisch (Fn. 511) geschädigt sah, EuGH 30.9.2003 – C-93/02 P, Slg 2003, I-10497 – Biret International. www.codexalimentarius.net; dazu Coutrelis/Caussanel EFFL 2017, 212 ff.; Schulze Icking/Winter ZLR 2015, 275 ff.; Merkle, Der Codex alimentarius der FAO und WHO, 1994; Wetzig, Einfluss der EG und der WTO auf das Lebensmittelrecht, 2000; Ferraud-Ciandet JDI 2009, 1181 ff.; aus der älteren Literatur insbes. Eckert ZLR 1984, 1 ff. (113 ff.). Die Kommission selbst tagt nur in zweijährigem Rhythmus; die Normierungsarbeit wird von den durch die Kommission eingesetzten Ausschüssen geleistet; s. zu den Strukturen näher Ferraud-Ciandet JDI 2009, 1181 (1188 ff.). S. zB Streinz in UTR-Jb. 1996, 435 (449 f.), auch zu zugelassenen Formen der eingeschränkten Annahme; die Annahme kann zudem jederzeit geändert oder zurückgenommen werden. Die Aufnahme eines erarbeiteten Standards in den Codex Alimentarius erfolgt unabhängig von der Zahl förmlicher Annahmeerklärungen durch die Mitgliedstaaten, s. Eckert ZLR 1985, 1 (15). S. Art. 3 SPS-Abkommen, sowie die ausdrückliche Bezugnahme auf die CAK in Anhang A 1. lit. a des Abkommens; dazu Sander ZEuS 2000, 335 ff.; Romi RJE 2001, 201 ff.; zuletzt Fontanelli 60 ICLQ (2011), 895 ff. Art. 3 Abs. 3 SPS-Abkommen. Anhang B Nr. 5 des SPS-Abkommens. S. Art. 2 Abs. 2 und 4 TBT-Abkommen; zum Unterschied Streinz in UTR-Jb. 1996, 435 (445). S. den Vorschlag der Kommission für einen Ratsbeschluss zum Beitritt, ABl. EG 1991 C 292/8 (gestützt auf die damaligen Art. 43, 113 und 235 EGV; der Ratsbeschluss selbst ist nicht im ABl. veröffentlicht); zu diesem Beitritt, der erst durch eine Änderung der FAO-Satzung möglich wurde, s. Schwob RTDE 1993, 1 ff.; Tavares de Pinho RevMC 1993, 656 ff.; Marchisio Riv. dir. int. 1993, 321 ff.; zur weiteren Entwicklung Pedersen in Wouters/Hoffmeister/Ruys (eds.), The United Nations and the European Union: An Ever Stronger Partnership, 2006, S. 63 ff.; zu den EU-internen Abstimmungspflichten über die Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten s. EuGH 19.3.1996 – C-25/98, Slg 1996, I-1469 = EuZW 1996, 592 – Kommission/Rat. Beschluss des Rates v. 17.11.2003 über den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Codex-Alimentarius-Kommission, ABl. EU 2003 L 309/14 (gestützt auf Art. 37, 95, 133 und 152 Abs. 4 EGV);

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627

8

§ 8 Lebensmittelrecht gliedstaaten535 teil. Ebenfalls im Rahmen der FAO wurde das Pflanzenschutzabkommen erarbeitet; auch diesem Vertrag ist die EU beigetreten,536 nachdem eine Änderung des Abkommens ihr diese Möglichkeit eröffnet hatte. Bei der Weltorganisation für Tiergesundheit (Office internationale des Epizooties – OIE, bzw. heute gebräuchlicher World Organisation for Animal Health) nimmt die EU-Kommission Beobachterstatus ein.537 Auch die im Rahmen dieser Abkommen erarbeiteten Leitlinien werden vom SPS-Abkommen in Bezug genommen und erlangen auf diese Weise durch das WTO-Recht erhöhte Verbindlichkeit. Eine interessante Klärung ist zur Internationalen Organisation für Rebe und Wein (Organisation Internationale de la Vigne et du Vin – OIV) erfolgt, in der zahlreiche EUMitgliedstaaten vertreten sind538, in der die Union aber trotz der weitgehenden Harmonisierung des Weinrechts weder Mitglied ist539 noch Beobachterstatus besitzt: Hier hat der Gerichtshof Art. 218 Abs. 9 AEUV dahin ausgelegt, dass der Rat verbindliche Vorgaben für das Abstimmungsverhalten der Mitgliedstaaten in den Gremien der Organisation machen kann540. Die Lösung ermöglicht eine effektive Vertretung der Unionsposition auf internationaler Ebene; selbstverständlich ist sie aber nicht, weil die Bestimmung von der Festlegung der Standpunkte spricht, die „im Namen der Union“ in diesen Gremien zu vertreten seien, was nahelegt, dass die Union dort auch aus eigenem Recht präsent sein müsste.

C. Ausblick 106 Das Lebensmittelrecht hat sich in den Jahrzehnten seit Gründung der EWG zu einem wichtigen Referenzgebiet des Binnenmarktverwaltungsrechts entwickelt, in dem sich die Chancen ebenso wie die Risiken des EU-Binnenmarktes exemplarisch zeigen: Die Verwirklichung der Warenverkehrsfreiheit ermöglicht eine größere Vielfalt des Angebots und ein verbraucherfreundliches Preisniveau, auf der anderen Seite kann die grenzüberschreitende Produktion die Gefahren für die Lebensmittelsicherheit auch erhöhen. Im Vordergrund des Interesses standen in der ersten Zeit des Binnenmarktes allerdings die erheblichen Hindernisse durch national ausgerichtete Verbrauchererwartungen, die wiederum durch das jeweilige nationale Lebensmittelrecht vorgeprägt werden. Die emotionale Besetzung des Feldes, in dem einzelne Lebensmittel zu Symbolen der nationalen Identität werden, und die Nähe zum Agrarsektor, in dem die Interessen der jeweils einheimischen

535 536 537 538 539

540

628

zuvor bestand nur ein Beobachterstatus; zur Mitwirkung der EU s. auch Pedersen (Fn. 533), S. 63, 82 ff.; Poli 10 ELJ (2004), 613 ff. Die Koordination wird geregelt in der Vereinbarung zwischen Rat und Kommission über die Vorbereitung von Codex-Alimentarius-Sitzungen, -Erklärungen und die Ausübung von Abstimmungsrechten, Anhang III des Beschlusses v. 17.11.2003 (Fn. 534), ABl. EU 2003 L 309/18. S. den Beschluss des Rates v. 19.7.2004 zur Genehmigung des Beitritts der Europäischen Gemeinschaft zum Internationalen Pflanzenschutzabkommen, revidiert und angenommen auf der 29. Tagung der FAO-Konferenz von November 1997 durch Entschließung Nr. 12/97, ABl. EU 2004 L 267/39. Zur Zusammenarbeit s. die Absichtserklärung zwischen der Europäischen Kommission und der Weltorganisation für Tiergesundheit über ihre allgemeinen Beziehungen, ABl. EU 2011 C 241/1. S. zum Mitgliederstand www.oiv.int/oiv/info/demembresobservateurs; zu den Mitgliedern zählt auch Deutschland, s. BGBl. 2002 II 2733. Die Kommission hatte einen Beitritt vorgeschlagen, s. die Kommissionsempfehlung an den Rat zur Ermächtigung der Kommission, mit der Internationalen Organisation für Rebe und Wein (OIV) Verhandlungen über die Bedingungen und Modalitäten des Beitritts der Europäischen Gemeinschaft aufzunehmen und zu führen, KOM(2008) 577 endg. v. 26.9.2008; eine Mehrheit im Rat fand sich hierfür aber nicht, s. Rn. 34 der Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón zur Rs. C-399/12 (Fn. 540). EuGH 7.10.2014 – C-399/12, EuR 2015, 735 – Deutschland/Rat – mAnm Jung; dazu auch Konstadinides 21 EPL (2015), 679 ff.; Govaere in Essays in Honour of Marc Maresceau, 2014, S. 225 ff.

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen

8

Landwirtschaft um ihre Verwirklichung streiten541 (→ Rn. 19 (nationale bzw. regionale Gütesiegel)), mögen die Heftigkeit der in den 1980er-Jahren ausgetragenen Streitigkeiten um Verkehrsbezeichnungen und zulässige Inhaltsstoffe (→ Rn. 7 u. 16) erklären. Vor dem Hintergrund der späteren Geschehnisse um die BSE-Krise und der seitdem erfolgten Entwicklungen wirken diese Auseinandersetzungen allerdings wie ein vergangenes Idyll; die neuen Gefährdungen haben deutlich gemacht, dass das Lebensmittelrecht auch im EUBinnenmarkt eine starke sicherheitsrechtliche Komponente hat. Der EU-Gesetzgeber hat sich dieser Gefahren vor allem unter dem Eindruck der BSE-Krise 107 intensiv angenommen; hierfür stehen neben der LebensmittelBasisVO zahlreiche weitere Rechtsakte, die die gesamte Nahrungsmittelkette erfassen. Es wäre allerdings unzutreffend, die intensive EU-Gesetzgebung der jüngeren Zeit auf die Reaktion auf einzelne Krisen zu reduzieren; sie zeichnet vielmehr die immer stärkere Technisierung und Industrialisierung der Lebensmittelproduktion nach, die durch diese Normierungen zugleich nochmals vorangetrieben wird. In vielen Punkten dürfte diese Entwicklung eine unausweichliche Reaktion auf den technischen Fortschritt und seine Risiken sein, denen sich auch der nationale Gesetzgeber stellen müsste, wenn diese Aufgabe nicht im Lebensmittel-Binnenmarkt auf die EU übergegangen wäre. Dass ein gewisses Risiko der administrativen Selbstüberforderung besteht, zeigt sich aber daran, dass die ehrgeizige Neuordnung des Sektors bisher an vielen Stellen und insbesondere im Bereich der Durchführungs-Rechtssetzung der Kommission unvollendet oder unvollständig geblieben ist;542 vor diesem Hintergrund kann die Notwendigkeit mancher Normierungen wie etwa der Genehmigungsbedürftigkeit von Werbeaussagen durchaus hinterfragt werden. 108

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

EuGH

11.7.1974

Rs. 8/74

Slg 1974, 837

Dassonville

EuGH

20.2.1979

Rs. 120/78

Slg 1979, 649

Rewe – „Cassis de Dijon“

EuGH

26.6.1980

Rs. 788/79

Slg 1980, 2071

Gilli und Andrés – Obstessig I

EuR 1981, 43 mAnm Meier

EuGH

10.12.1982 Rs. 261/81

Slg 1982, 3961

Walter Rau

EuR 1983, 168 mAnm Rabe

EuGH

20.4.1983

Rs. 59/82

Slg 1983, 1217

Schutzverband/ Weinvertriebs GmbH

EuGH

25.4.1985

Rs. 207/83

Slg 1985, 1205

Kommission/ Großbritannien

Fundstellen

NJW 1986, 656

541 Für Bsp. dieser Interessenkonflikte s. Fn. 30 („Erdbeerkrieg“). 542 S. zum Beispiel der Nahrungsergänzungsmittel die Schlussanträge von GA Jääskinen v. 17.12.2009 zur C-446/08, Rn. 2 – Solgar Vitamin’s. France, Fn. 156.

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629

8

§ 8 Lebensmittelrecht Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

12.3.1987

Rs. 178/84

Slg 1987, 1227

Kommission/ Deutschland

NJW 1987, 1133 mAnm Moench S. 1109 = JZ 1987, 981 mAnm Hohmann S. 959 f. = ZLR 1987, 326 mAnm Zipfel S. 337 f. u. Anm. Gündisch S. 347 ff.

EuGH

14.7.1988

Rs. 407/85

Slg 1988, 4233

Drei Glocken

ZLR 1988, 615 mAnm Gündisch

EuGH

6.7.1995

C-470/93

Slg 1995, I-1923

Mars

ZLR 1995, 416 mAnm v. Jagow

EuGH

12.10.1995 C-85/94

Slg 1995, I-2955

Piageme II

EuZW 1996, 14 mAnm Schilling

EuGH

26.10.1995 C-51/94

Slg 1995, I-3599

Kommission/ Deutschland – Sauce béarnaise

EuGH

7.5.1997

verb. Rs. C-321-24/94

Slg 1997, I-2343

Pistre ua

EuGH

9.12.1997

C-265/95

Slg 1997, I-6959

Kommission/ Frankreich – „Erdbeerkrieg“

EuZW 1998, 84 mAnm Meier = EuR 1998, 47 mAnm Schwarze

EuGH

22.10.1998 C-184/96

Slg 1998, I-6197

Kommission/ Frankreich – foie gras

ZLR 1999, 139 mAnm Horst

EuGH

13.1.2000

C-254/98

Slg 2000, I-151

TK Heimdienst

EuZW 2000, 309 mAnm Gundel = ÖZW 2001, 15 mAnm Pauger/Siml

EuGH

12.9.2000

C-366/98

Slg 2000, I-6579

Geffroy

EuZW 2001, 16 mAnm Bachmann = Rec. Dalloz – droit des affaires 2001, 1458 mAnm Pontier = ZLR 2000, 899

EuGH

5.12.2000

C-448/98

Slg 2000, I-10663

Guimont

ZLR 2001, 120 mAnm Meier

EuGH

12.10.2000 C-3/99

Slg 2000, I-8749

Cidrerie Ruwet

ZLR 2000, 920 mAnm v. Jagow/ Welsch

EuGH

8.3.2001

C-405/98

Slg 2001, I-1795

Gourmet International

EuZW 2001, 251 mAnm Leible

EuGH

5.11.2002

C-325/00

Slg 2002, I-9977

Kommission/ Deutschland – „CMA-Gütezeichen“

EuZW 2003, 23 mAnm Leible = ZLR 2002, 708 mAnm Ohler

630

Gundel https://doi.org/10.5771/9783748900238-557 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

10.4.2003

C-276/01

Slg 2003, I-3735

Steffensen

EuZW 2003, 666 mAnm Schaller

EuGH

20.3.2003

C-3/00

Slg 2003, I-2643

Dänemark/ Kommission

EuZW 2003, 334 mAnm Gundel = ZLR 2003, 315 mAnm Leible

EuGH

5.2.2004

C-95/01

Slg 2004, I-1333

Greenham und Abel

ZLR 2004, 193 mAnm Streinz

EuG

10.3.2004

T-177/02

Slg 2004, II-827

Malagutti-Verzin- EuZW 2004, 444 het SA/Kommission

EuGH

15.7.2004

C-239/02

Slg 2004, I-7007

Douwe Egberts

EuGH

12.7.2005

verb. Rs. C-154/04 u. 155/04

Slg 2005, I-6451

Alliance for Natu- ZLR 2005, 591 ral Health ua mAnm Schroeter

EuGH

6.12.2005

C-66/04

Slg 2005, I-10553

Großbritannien/R JZ 2006, 358 mAnm at u. Parlament Ohler

EuGH

14.9.2006

verb. C-158/04 u. C-159/04

Slg 2007, I-8135

Alfa Vita Vassilopoulos ua

JA 2007, 479 mAnm Gundel

EuGH

12.12.2006 C-380/03

Slg 2006, I-11573

Deutschland/ Parlament und Rat – Tabakwerbung II

EuZW 2007, 46 mAnm Stein = EuR 2007, 230 mAnm Gundel = ZLR 2007, 337 mAnm Schroeder/Lechner

EuGH

4.10.2007

C-457/05

Slg 2007, I-8075

Schutzverband der Spirituosenindustrie/Diageo Deutschland

EuR 2008, 242 mAnm Gundel = EuZW 2007, 730 mAnm Leible = ZLR 2007, 719 mAnm Rabe

EuGH

24.3.2009

C-445/06

Slg 2009, I-2119

Danske Slagterier/ ZLR 2009, 438 Bundesrepublik mAnm Gundel = Deutschland EWS 2009, 176 mAnm T. Würtenberger

EuGH

28.1.2010

C-333/08

Slg 2010, I-757

Kommission/ Frankreich

ZLR 2010, 429 mAnm Streinz

EuGH

29.4.2010

C-446/08

Slg 2010, I-3973

Solgar Vitamin’s. France

EuZW 2010, 506 mAnm Meyer

EuGH

25.2.2010

C-562/08

Slg 2010, I-1391

Müller FleischGmbH

NVwZ 2010, 629

EuGH

25.11.2010 C-47/09

Slg 2010, I-12083

Kommission/Itali- ZLR 2011, 77 en – „cioccolato mAnm Gorny puro“

ZLR 2004, 600 mAnm Knopp/Grieb

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631

8

8

§ 8 Lebensmittelrecht Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

14.4.2011

C-327/09

Slg 2011, I-2897

Mensch und Natur AG/Freistaat Bayern

ZLR 2011, 339 mAnm Meisterernst

EuGH

6.9.2011

C-442/09

Slg 2011, I-7419

Bablok

ZLR 2011, 730 mAnm Gorny/Meier

EuGH

8.9.2011

verb. C-58/10 bis C-68/10

Slg 2011, I-7763

Monsanto

EuZW 2011, 789 mAnm Stallberg

EuGH

11.4.2013

C-636/11

Berger Fleisch

NJW 2013, 1725 mAnm Becker/ Merschmann = ZLR 2013, 294 mAnm Gundel

EuGH

16.7.2015

C-95/14

UNIC

EuZW 2015, 873 mAnm Gundel

EuGH

19.1.2017

C-282/15

Queisser Pharma

EuZW 2017, 268 mAnm Riemer = ZLR 2017, 209 mAnm Gundel

EuGH

27.4.2017

C-672/15

Noria Distribution

EuZW 2017, 576 mAnm Riemer = ZLR 2017, 494 mAnm Loosen

EuGH

13.9.2017

C-111/16

Fidenato

EWS 2017, 289

EuGH

25.7.2018

C-528/16

Confédération paysanne

EuZW 2018, 778 mBespr Seitz S. 757 ff. = ZLR 2018, 637 mAnm Voigt

632

Gundel https://doi.org/10.5771/9783748900238-557 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 9 Arzneimittelrecht Constanze Janda A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. (Rechts-)Politische Einordnung . . . . . . . . IV. Einordnung ins Gesamtsystem . . . . . . . . . B. Gegenstandsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Arzneimittelrechtliche Kompetenzen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwirklichung des Binnenmarkts, Art. 26 ff. AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus, Art. 168 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausgestaltung des Gesundheitswesens und der sozialen Sicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriff des Arzneimittels . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktions- und Präsentationsarzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zu Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmitteln . . . . . . . 3. Abgrenzung zu Kosmetika . . . . . . . . . 4. Abgrenzung zu Medizinprodukten III. Herstellung von Arzneimitteln . . . . . . . . . IV. Genehmigung des Inverkehrbringens . . 1. Abgrenzung der Verfahrensarten . . 2. Die European Medicines Agency . . 3. Zentralisiertes Verfahren . . . . . . . . . . . a) Anwendungsbereich des zentralisierten Verfahrens . . . . . . . . . . . . . b) Materielle Anforderungen für die Genehmigung des Inverkehrbringens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Klinische Prüfung von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anforderungen an die klinische Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Spezielle Vorgaben für Kinderarzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausnahmen vom Erfordernis der klinischen Prüfung . . . . . . . . d) Gang des Verfahrens . . . . . . . . . . . 4. Dezentrales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfahren der gegenseitigen Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Genehmigung von Generika . . . . . . . a) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . b) Patentrechtliche Fragen . . . . . . . . c) Verkürztes Genehmigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 3 15 20 22 22 23 26 33 35 39 41 49 52 58 61 63 64 70 71 73 79 80 83 87 92 100 106 108 112 115 119

d) Drittanfechtungsrecht . . . . . . . . . . 7. Genehmigungsverfahren für orphan drugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Pharmakovigilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Abgabe von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . 1. Etikettierung und Packungsbeilage 2. Verschreibungspflicht . . . . . . . . . . . . . . 3. Genehmigungsfreie Abgabe von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Compassionate Use . . . . . . . . . . . . b) Off-label Use . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anforderungen an den Vertrieb von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Großhandelsgenehmigung . . . . . b) Zulässigkeit von Apothekenmonopolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grenzüberschreitender Versandhandel mit Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Parallelimport von Arzneimitteln . . a) Genehmigungserfordernisse beim Parallelimport . . . . . . . . . . . . aa) Verkürztes Genehmigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anforderungen an den Nachweis der Identität . . . . . . . . . . . . . . b) Wettbewerbsrechtliche Aspekte der Behinderung des Parallelimports . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zulässigkeit von Lieferkontingenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zulässigkeit dualer Preisgestaltungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . c) Markenrechtliche Probleme des Parallelimports . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sekundärrechtliche Vorgaben bb) Primärrechtliche Vorgaben . . . . 6. Vorgaben für die Arzneimittelwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Sozialrechtliche Bezüge des Arzneimittelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Preisbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erstattungsfähigkeit in den Systemen öffentlicher Gesundheitsfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Festbeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rabattverträge der Krankenkassen C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

124 125 132 138 139 141 145 145 149 150 150 151 156 162 165 167 170 174 175 181 186 187 198 201 213 215 221 229 234 239 242

Literatur: Bauroth, Thilo, Staatliche Interventionen, duale Preissysteme und europäisches Kartellrecht – Wie weit kann die pharmazeutische Industrie bei der Beschränkung des Parallelhandels gehen?, PharmR 2005, 386; Collatz, Brigitte, Handbuch der EU-Zulassung, Aulendorf 1998; Deutsch, Erwin/Spickhoff, Andreas, Medizinrecht, 7. Aufl. Berlin 2014; Dieners, Peter/ Reese, Ulrich, Handbuch des Pharmarechts, München 2010; Doepner, Ulf, Der europäische Arzneimittelbegriff in der Rechtsprechung des EuGH, PharmR 2018, 116; Friese, Brigitte/ Jentges, Barbara/Muazzam, Usfeya, Guide to Drug Regulatory Affairs, Aulendorf 2007; Fuhrmann, Stefan/Klein, Bodo/Fleischfresser, Andreas (Hrsg.), Arzneimittelrecht, Handbuch

Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 9 Arzneimittelrecht für die pharmazeutische Rechtspraxis, 2. Aufl. Baden-Baden 2014; Gassner, Ulrich M., Unterlagenschutz im Europäischen Arzneimittelrecht, GRUR Int 2004, 983; Hanika, Heinrich, Europäisches Arzneimittelrecht, MedR 2000, 63; Heinemann, Antje-Katrin, Die rechtlichen Rahmenbedingungen bei Parallelimporten von Arzneimitteln, PharmR 2001, 180; Janda, Constanze, Medizinrecht, 3. Aufl. Konstanz 2016; Jansen, Scarlett, Der Schutz der Patienten und Probanden bei klinischen Prüfungen nach den geplanten Neuerungen im Arzneimittelrecht, MedR 2016, 417; Koenig, Christian/Engelmann, Christina, Das Festbetragsurteil des EuGH: endlich Klarheit über den gemeinschaftsrechtlichen Unternehmensbegriff in der Sozialversicherung?, EuZW 2004, 682; Koenig, Christian/Engelmann, Christina/Sander, Claude, Parallelhandelsbeschränkungen im Arzneimittelbereich und die Freiheit des Warenverkehrs, GRUR Int 2001, 919; Koenig, Christian/Müller, Eva-Maria, 5 Jahre EMEA – Ein Zwischenruf auf die gemeinschaftlichen Zulassungsverfahren für Arzneimittel, PharmR 2000, 148; Krapf, Erwin/ Lange, Barbara, Staatliche Interventionen, duale Preissysteme und europäisches Kartellrecht – Teil 1, PharmR 2005, 255; Teil 2, PharmR 2005, 321; Lorenz, Martin, Das gemeinschaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, Baden-Baden 2006; Meier, Alexander/v. Czettritz, Peter/Gabriel, Marc/Kaufmann, Marcel, Pharmarecht, München 2014; Nitz, Gerhard/Kluckert, Sebastian, Europarechtliche Aspekte der Arzneimittel-Preisregulierung, MedR 2016, 591; Ratzel, Rudolf/ Luxenburger, Bernd (Hrsg.), Handbuch Medizinrecht, 3. Aufl. Bonn 2015; Reich, Norbert, Parallelimporte von Arzneimitteln nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1984, 2000; Sander, Gerald G., Rechtsfragen des Arzneimittelhandels im Internet, PharmR 2002, 269; Schelling, Nicola, Nationale Preis- und Erstattungsvorschriften und grenzüberschreitender Parallelhandel mit Arzneimitteln, Baden-Baden 2008; Schmidt am Busch, Birgit, Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, Tübingen 2007; Schwarze, Jürgen/Becker, Ulrich (Hrsg.); Arzneimittel im Europäischen Binnenmarkt, EuR Beiheft 2/2007, Baden-Baden 2007; Shorthose, Sally (Hrsg.), Guide to EU Pharmaceutical Regulatory Law, Alphen aan den Rijn 2010; Steinbeck, Anja, Was ist ein Arzneimittel?; MedR 2009, 145; Sträter, Burkhart/Natz, Alexander, Rabattverträge zwischen Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmen, PharmR 2007, 7; Terbille, Michael (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 2. Aufl. München 2013; Wagner, Susanne A., Europäisches Zulassungssystem für Arzneimittel und Parallelhandel, Stuttgart 2000; Winter, Barbara, Die Verwirklichung des Binnenmarktes für Arzneimittel, Berlin 2004; Wulff, Agnes, Dermatikum, Medizinprodukt oder Kosmetikum? Rechtsrahmen und Abgrenzung der jeweiligen Produktkategorie, PharmR 2015, 52; Zipfel, Walter/Rathke, Kurt-Dietrich, Lebensmittelrecht, Loseblattsammlung, 169. EL, München 2018. Vorschriften Sekundärrecht: Richtlinie 89/105/EWG des Rates vom 21.12.1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme, ABl. L 40 v. 11.2.1989, 8. Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14.6.1993 über Medizinprodukte, ABl. L 169 v. 12.7.1993, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 540/95 der Kommission vom 10.3.1995 zur Festlegung der Bestimmungen für die Mitteilung von vermuteten unerwarteten, nicht schwerwiegenden Nebenwirkungen, die innerhalb oder außerhalb der Gemeinschaft festgestellt werden, ABl. L 55 v. 11.3.1995, 5. Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. L 18 v. 22.1.2000, 1. Verordnung (EG) Nr. 847/2000 der Kommission vom 27.4.2000 zur Festlegung von Bestimmungen für die Anwendung der Kriterien für die Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. L 103, 5. Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, ABl. L 311 v. 28.11.2001, 67. Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Er-

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A. Einleitung

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richtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 31 v. 1.2.2002, 1. Richtlinie 2002/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10.6.2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel, ABl. L 183 v. 12.7.2002, 51 ff. Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl. L 136 v. 30.4.2004, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Kinderarzneimittel, ABl. L 378 v. 27.12.2006, 1. Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.5.2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel, ABl. L 152 v. 16.6.2009, 1. Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.11.2009 über kosmetische Mittel, ABl. L 342 v. 22.12.2009, 59. Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, ABl. L 88 v. 4.4.2011, 45. Verordnung (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG, ABl. L 158 v. 27.5.2014, 1. Durchführungsverordnung (EU) 2017/556 der Kommission vom 24.3.2017 über die Einzelheiten der Inspektionsverfahren hinsichtlich der guten klinischen Praxis gemäß der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 80 v. 25.3.2017, 7. Verordnung (EU) Nr. 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates, ABl. L 117 v. 5.5.2017, 1. Delegierte Verordnung (EU) 2017/1569 der Kommission vom 23.5.2017 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates durch die Festlegung von Grundsätzen und Leitlinien für die Gute Herstellungspraxis bei Prüfpräparaten, die zur Anwendung beim Menschen bestimmt sind, und der Einzelheiten von Inspektionen, ABl. L 238 v. 16.9.2017, 12. Richtlinie (EU) 2017/1572 der Kommission vom 15.9.2017 zur Ergänzung der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Grundsätze und Leitlinien der Guten Herstellungspraxis für Humanarzneimittel, ABl. L 238 v. 16.9.2017, 44.

A. Einleitung I. Allgemeine Einführung Der Arzneimittelsektor ist mit einem Jahresumsatz von 275,6 Mrd. EUR in der Europä- 1 ischen Union1 ein herausragender Wirtschaftszweig. Ursprünglich als gewöhnliche Waren und Güter aufgefasst und keiner systematischen Regelung unterworfen,2 sind die Herstellung von und der Handel mit Arzneimitteln in der Bundesrepublik erstmals 1961 mit dem Arzneimittelgesetz (AMG) kodifiziert worden.3 Dessen Vorgaben waren zunächst vom freien Arzneimittelverkehr mit allenfalls nachträglichen behördlichen Kontrollen bei Anzeichen für Gefahren geprägt.

1 Angabe für das Jahr 2017, Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, Pharma-Daten 2018, S. 42. 2 Shorthose/Smillie in Shorthose, S. 3. 3 Zur Entstehungsgeschichte Fleischfresser/Fuhrmann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 1 Rn. 2.

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2 Dieser Ansatz ist durch den Contergan/Thalidomid-Skandal in den 1950er- und 1960erJahren erschüttert worden. Die Einnahme des Schlafmittels Contergan durch schwangere Frauen hatte schwere Schäden und Missbildungen bei deren Neugeborenen ausgelöst.4 Dies führte nicht nur zu der medizinischen Erkenntnis, dass die Medikation bei schwangeren Frauen Einfluss auf das ungeborene Kind haben kann, sondern veranlasste den Gesetzgeber zu einer umfassenden Neuausrichtung des AMG. Das Gesetz ordnete nunmehr an, dass Arzneimittel vor ihrem Inverkehrbringen umfassend auf ihre Sicherheit zu prüfen und auch nach der Marktfreigabe streng zu überwachen waren. Die Neuregelung war bereits von europarechtlichen Vorgaben getragen.5

II. Historischer Kontext 3 Der Grundstein für das europäische Arzneimittelrecht wurde mit der Richtlinie 65/65/EWG6 gelegt. Diese zielte auf die Förderung der Forschung und Entwicklung und eine Erleichterung des Handels mit Arzneimitteln in den Mitgliedstaaten. Dazu sollten, freilich unter Berücksichtigung der Interessen des öffentlichen Gesundheitsschutzes und der Verbrauchersicherheit, 7 die tragenden Konzepte und Verfahren des nationalen Arzneimittelrechts harmonisiert werden. 4 Als Arzneimittel galten nach Art. 1 Nr. 2 RL 65/65/EWG alle Stoffe und Stoffzubereitungen, die als Mittel zur Heilung oder Verhütung von Krankheiten bezeichnet werden oder die zur Anwendung am oder im Körper bestimmt sind, um Krankheiten zu diagnostizieren oder die Körperfunktionen wiederherzustellen, zu verbessern oder zu beeinflussen. Die Definition knüpfte also nicht nur an die tatsächliche Eignung und Bestimmung eines Stoffes an, sondern auch an seine Präsentation im Warenverkehr.8 5 Sämtliche Arzneimittel sollten gem. Art. 3 RL 65/65/EWG erst nach behördlicher Genehmigung in Verkehr gebracht werden, deren Erteilung Angelegenheit der Mitgliedstaaten war. Viele Mitgliedstaaten waren dadurch erstmals zum Erlass von Regelungen zur Arzneimittelzulassung veranlasst.9 Die für die Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit erforderlichen Unterlagen sind durch die Richtlinie einheitlich vorgegeben worden. Gleichwohl wurden im nationalen Recht gründende Unterschiede, etwa bei der Einstufung von Stoffen als Arznei- oder Lebensmittel, zunächst nicht angetastet. 6 Die sogenannte Prüfrichtlinie 75/318/EWG10 hat eine Harmonisierung der wissenschaftlich-technischen Anforderungen an die pharmakologische und klinische Prüfung von Arzneimitteln herbeigeführt, mit der die therapeutische Wirksamkeit von Arzneimitteln in Relation zu ihrem Schädigungspotenzial bestimmt werden sollte. 7 Mit der Richtlinie 75/319/EWG11 sind die Anforderungen an die nach nationalem Recht zu durchlaufenden Genehmigungsverfahren weiter präzisiert und vereinheitlicht worden. Namentlich waren Sachverständige beizuziehen und es wurden Anforderungen an die 4 LG Aachen JZ 1971, 507 (Contergan-Beschluss). Dazu Deutsch/Spickhoff, Rn. 1543. 5 Ausführlich Plagemann/Forch DVBl. 1979, 254. 6 Richtlinie 65/65/EWG des Rates v. 26.1.1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten, ABl. 22 v. 9.2.1965, 369. 7 Collatz, S. 26. 8 Hanika MedR 2000, 63 (64). 9 Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 4; Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 13. 10 Richtlinie 75/318/EWG des Rates v. 20.5.1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die analytischen, toxikologisch-pharmakologischen und ärztlichen oder klinischen Vorschriften und Nachweise über Versuche mit Arzneimittelspezialitäten, ABl. L 147 v. 9.6.1975, 1. 11 Zweite Richtlinie 75/319/EWG des Rates v. 20.5.1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten, ABl. L 147 v. 9.6.1975, 13.

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A. Einleitung Hersteller von Arzneimitteln etabliert. Erstmals wurden Maßnahmen zur Erleichterung des europaweiten Handels getroffen: wer ein in einem Mitgliedstaat zugelassenes Arzneimittel in anderen Mitgliedstaaten in Verkehr bringen wollte, konnte hierfür im Rahmen des Mehrstaatenverfahrens eine Genehmigung durch den Ausschuss für Arzneispezialitäten beantragen, der sich aus Vertretern der Kommission und der Mitgliedstaaten zusammensetzte.12 Zwar waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der eigenen Entscheidungsfindung die Entscheidung anderer Mitgliedstaaten über die Marktzulassung eines Arzneimittels zu berücksichtigen. Eine Rechtspflicht zur gegenseitigen Anerkennung war damit jedoch nicht begründet; auch faktisch erfolgte sie nur selten.13 Die Richtlinie 87/22/EWG14 etablierte schließlich ein eigenes europäisches Zulassungsverfahren für Arzneimittel, die in technologisch hochwertigen Verfahren, namentlich der Biotechnologie, hergestellt werden. Nach diesem Konzertierungsverfahren15 waren weiterhin die nationalen Behörden für die Zulassung der Arzneimittel zuständig, hatten aber vor deren Erteilung den Ausschuss für Arzneispezialitäten anzurufen. Damit sollten – wenngleich das Votum des Ausschusses nicht verbindlich war – divergierende Entscheidungen der nationalen Zulassungsbehörden vermieden werden.16 Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Europäisierung des Arzneimittelrechts mit dem Erlass der Verordnung VO (EWG) Nr. 2309/93.17 Mit dieser ist die Europäische Arzneimittelagentur (EMEA) geschaffen und in Weiterentwicklung des Konzertierungsverfahrens18 ein einheitliches europäisches Zulassungsverfahren etabliert worden (zentralisiertes Verfahren).19 Angesichts der bis dahin bestehenden alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der daraus folgenden – auch kulturell bedingten – Unterschiede im Umgang mit und in der Bewertung von Arzneimitteln war die Etablierung dieses Verfahrens umstritten. Die Auseinandersetzung resultierte in dem Kompromiss, das zentralisierte Verfahren nicht generell für alle Arzneimittel, sondern nur für diejenigen vorzusehen, deren Entwicklung und europaweite Zulassung von besonderem Interesse ist, weil sich der Vertrieb in lediglich vereinzelten Mitgliedstaaten nicht lohnt – namentlich für biotechnologische Arzneimittel und Arzneimittel mit neuartigen Wirkstoffen.20 Zugleich wurden Mechanismen der Pharmakovigilanz geschaffen, die eine Überwachung der auf dem Markt befindlichen, im zentralisierten Verfahren zugelassenen Arzneimittel ermöglichten. Zugleich ist durch die Richtlinie 93/39/EWG21 das Mehrstaatenverfahren fortentwickelt worden. Dieses war für alle Arzneimittel vorgesehen, die nicht zwingend dem zentralisierten Verfahren unterlagen. Die Mitgliedstaaten sollten die Zulassungsentscheidungen ande12 Dazu Collatz, S. 29; Plagemann/Forch DVBl. 1979, 254 (258); Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (150). 13 Ausführlich Lorenz, S. 53. 14 Richtlinie 87/22/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der einzelstaatlichen Maßnahmen betreffend das Inverkehrbringen technologisch hochwertiger Arzneimittel, insbes. aus der Biotechnologie, ABl. L 15 v. 17.1.1987, 38. 15 Collatz, S. 30; Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 26. 16 Lorenz, S. 55. 17 Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 des Rates v. 22.7.1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABl. L 214 v. 24.8.1993, 1. 18 Richtlinie 87/22/EWG ist durch Richtlinie 93/41/EWG aufgehoben worden. Die Zulassung biotechnologischer Arzneimittel richtete sich damit allein nach der VO (EWG) Nr. 2309/93. 19 Ausführlich zur damals geltenden Rechtslage Collatz, S. 42 ff.; Wagner, S. 169 ff. 20 Dazu Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 12 f.; Lorenz, S. 57 ff. 21 Richtlinie 93/39/EWG des Rates vom 14.6.1993 zur Änderung der Richtlinien 65/65/EWG, 75/318/EWG und 75/319/EWG betreffend Arzneimittel, ABl. L 214 v. 24.8.1993, 22.

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rer Mitgliedstaaten anerkennen. Jedoch war ihnen ein Vetorecht für den Fall eingeräumt, dass die Genehmigung des Arzneimittels nach Auffassung der nach nationalem Recht zuständigen Behörden wegen Bedenken hinsichtlich seiner Qualität, Wirksamkeit oder Sicherheit zu einer Gefährdung der öffentlichen Gesundheit führt. Die Geltendmachung des Vetorechts setzte ein Vermittlungsverfahren im neu eingesetzten Ausschuss für Arzneispezialitäten der EMEA in Gang, welches mit einer Entscheidung der Kommission mit Zustimmung des Rates über das Inverkehrbringen des Arzneimittels abschloss. 12 Neben dem zentralisierten und dem Mehrstaatenverfahren existierten weiterhin die nach nationalem Recht durchzuführenden, freilich auf das Gebiet eines Mitgliedstaats beschränkten Zulassungsverfahren, die jedoch nur dann attraktiv waren, wenn ein Arzneimittel ausschließlich in diesem Mitgliedstaat in Verkehr gebracht werden sollte. 13 Die als Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel bezeichnete RL 2001/83/EG22 hat im Jahr 2001 schließlich eine Konsolidierung des bis dahin zersplitterten europäischen Arzneimittelrechts bewirkt. In diesem haben alle zuvor geltenden Einzelrichtlinien Eingang gefunden. Er bleibt weiterhin dem Gedanken der Verbrauchersicherheit verpflichtet, ermöglicht aber zugleich das europaweite Inverkehrbringen von Arzneimitteln und dient damit der Verwirklichung des Binnenmarktes.23 Neben der Definition des Arzneimittelbegriffs (Art. 1) statuiert der Kodex die Anforderungen an das nationalrechtliche Verfahren zur Genehmigung des Inverkehrbringens (Art. 6 ff.), regelt das dezentralisierte Verfahren und das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (Art. 28 ff.) und vereinheitlicht die Anforderungen an Herstellung und Import von Arzneimitteln (Art. 40 ff.). Zudem werden Vorgaben zu Werbung (Art. 86 ff.), Pharmakovigilanz (Art. 101 ff.) sowie zur Überwachung und Sanktionierung der Hersteller (Art. 111 ff.) etabliert. Der im Gemeinschaftskodex hergestellte Rechtszustand ist inhaltlich wie strukturell nahezu identisch im deutschen AMG wiedergegeben.24 14 Die VO (EWG) Nr. 2309/93 ist schließlich durch VO (EG) Nr. 726/200425 abgelöst worden. Diese hat den verbindlichen Anwendungsbereich des zentralisierten Verfahrens erweitert und regelt die Aufgaben und die Organisation der nunmehr als European Medicines Agency (EMA) bezeichneten Europäischen Arzneimittelagentur.

III. (Rechts-)Politische Einordnung 15 Arzneimittel sind keine gewöhnlichen Waren, deren Verkehr dem Wirken des freien Marktes überlassen werden kann. Es ist sicherzustellen, dass jederzeit der Bedarf der Bevölkerung an Arzneimitteln nach dem aktuellen Stand der medizinischen Forschung gedeckt werden kann.26 Die Gesetze von Angebot und Nachfrage allein vermögen diese bedarfsdeckende Vorhaltung nicht zu gewährleisten, haben doch insbes. Patienten, die an seltenen Erkrankungen leiden, keine hinreichende Nachfragemacht, um ein ausreichendes Angebot an wirksamen und qualitativ hochwertigen Medikamenten zu angemessenen Preisen zu erzielen. 16 Zudem gehen von der unkontrollierten – missbräuchlichen, fehlerhaften oder unkritischen – Anwendung von Arzneimitteln erhebliche Gefahren aus, unabhängig davon, ob diese im 22 Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, ABl. L 311 v. 28.11.2001, 67. 23 Fleischfresser/Fuhrmann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 1 Rn. 24. 24 Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 12. 25 Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 31.3.2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl. L 136 v. 30.4.2004, 1 ff. 26 Deutsch/Spickhoff, Rn. 1531; Plagemann/Forch DVBl. 1979, 254 (258).

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A. Einleitung

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Wege der Selbstmedikation oder auf ärztliche Verordnung hin erfolgt.27 Es sind daher Regelungen erforderlich, die den Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten. Strenge Anforderungen an Herstellung, Werbung oder Vertrieb von Arzneimitteln können sich indes als Handelshemmnis erweisen. Andererseits können Staaten sich zur Absenkung der Sicherheitsstandards (race to the bottom) veranlasst sehen, um die Ansiedlung pharmazeutischer Unternehmen zu fördern. Das europäische Arzneimittelrecht stellt über die Harmonisierung der Herstellungsvoraus- 17 setzungen und durch vereinheitlichte Anforderungen an das Inverkehrbringen das Funktionieren des Binnenmarktes sicher. Denn nur mit einheitlichen Standards, die auch die Sicherheit und den Schutz der Verbraucher hinreichend berücksichtigen, können gleiche Wettbewerbsbedingungen erreicht werden.28 Zugleich stärkt die erleichterte Verkehrsfähigkeit von Arzneimitteln im Binnenmarkt die Konkurrenzfähigkeit europäischer Arzneimittelhersteller gegenüber den US-amerikanischen und japanischen Wettbewerbern.29 Eine weitere Besonderheit des pharmazeutischen Sektors resultiert daraus, dass Arzneimit- 18 tel regelmäßig nicht als Waren in einer Zweierbeziehung zwischen Anbieter und Konsumenten gehandelt werden. Vielmehr wird der Erwerb eines Arzneimittels oftmals nicht vom Willen des Verbrauchers, sondern durch eine ärztliche Verordnung (Rezept) ausgelöst. Der Verbraucher verfügt in den wenigsten Fällen über hinreichende Informationen, um eine eigene Entscheidung über den Erwerb eines bestimmten Arzneimittels zu treffen: typischerweise kennt er weder seinen eigenen Bedarf genau, noch hat er einen Überblick über das am Markt befindliche Angebot.30 Auch die Kosten des Arzneimittels trägt der Verbraucher im Regelfall nicht selbst. Nahezu 19 die gesamte Bevölkerung ist über ein soziales Sicherungssystem für den Fall der Krankheit abgesichert, dessen Träger auch die Arzneimittelkosten übernehmen. Der freien Preisbildung sind durch komplexe Preisbildungsmechanismen Grenzen gesetzt, die vor allem der Stabilisierung der Ausgaben des öffentlichen Gesundheitssystems Rechnung tragen.31

IV. Einordnung ins Gesamtsystem Das Arzneimittelrecht tangiert zahlreiche Wirtschaftszweige: neben der pharmazeutischen 20 und chemischen Industrie sind Transportunternehmen, Großhändler, Apotheken und Drogerien involviert. Von erheblicher Bedeutung ist die Forschung und Entwicklung an Hochschulen, Forschungsinstituten und Kliniken.32 Die rechtlichen Regelungen verbinden folglich vielfältige Ebenen des Wirtschaftsrechts: 21 wettbewerbsrechtlich relevante Maßnahmen zur Regulierung des Handels und Vertriebs sind vom Arzneimittelrecht ebenso erfasst wie das Kartellrecht, das Patent- oder Markenrecht sowie Regelungen zur Konsumentensicherheit. Die wirtschaftsrechtlichen Aspekte werden durch das Sozialrecht flankiert. Da zudem erhebliche Mengen von Arzneimittelwirkstoffen durch Abwässer bei der Herstellung und bei der Anwendung durch den Verbraucher in das Grundwasser gelangen, kommt nicht zuletzt dem Umweltrecht eine erhebliche Bedeutung zu.33 27 28 29 30 31 32 33

Plagemann/Forch DVBl. 1979, 254 (259). Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 13; Rengeling Europäisches Stoffrecht § 10 Rn. 4. Lorenz, S. 34. Schelling, S. 17; Lorenz, S. 35; Plagemann/Forch DVBl. 1979, 254 (259); Winter, S. 16. Wagner, S. 47; Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (11); Krapf/Lange PharmR 2005, 321 (330). Hanika MedR 2000, 63 (63). Das Umweltrecht kann im Rahmen dieser Darstellung nicht berücksichtigt werden. Ausführlich Kern DVBl. 2005, 154; zum europäischen Umweltrecht Wegener in Wegener (Hrsg.), Europäische Querschnittpolitiken (EnzEuR Bd. 8) → Bd. 8 § 3 (passim).

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§ 9 Arzneimittelrecht

B. Gegenstandsbeschreibung I. Arzneimittelrechtliche Kompetenzen der EU 22 Eine explizite Kompetenz zur Regelung des Arzneimittelrechts ist der Union nicht eingeräumt. 1. Verwirklichung des Binnenmarkts, Art. 26 ff. AEUV 23 Arzneimittel sind Waren, deren freier Verkehr in Art. 34 AEUV als Grundfreiheit geschützt ist.34 Indes bedarf der Handel mit Arzneimitteln umfassender Regulierung, weisen diese doch ein Missbrauchspotenzial auf und können selbst bei bestimmungsgemäßem Gebrauch gesundheitsschädigende Wirkungen haben. Zudem ist sicherzustellen, dass Arzneimittel vom Verbraucher nur erworben und angewandt werden, wenn dies durch eine bestimmte Indikation vorgegeben ist.35 Ihr freier Handel in einem Raum ohne Binnengrenzen (Art. 26 Abs. 2 AEUV) ist vor diesem Hintergrund kaum zu verantworten. 24 Die Warenverkehrsfreiheit besteht nicht schrankenlos. Art. 36 AEUV erlaubt Beschränkungen des freien Warenverkehrs, wenn und soweit dies zum Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen erforderlich ist. Entsprechende Maßnahmen der Mitgliedstaaten laufen der Warenverkehrsfreiheit folglich nicht zuwider, wenn sie erforderlich und verhältnismäßig sind.36 25 Um den Binnenmarkt nicht unnötigen Hemmnissen auszusetzen, ermöglicht das Primärrecht mit Art. 114 AEUV eine Angleichung der nationalrechtlichen Rahmenbedingungen, die eine Beschränkung des freien Handels aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit rechtfertigen. Diese Norm erlaubt eine unionsweit einheitliche Definition des Arzneimittelbegriffs,37 nicht aber die Schaffung eines einheitlichen europäischen Systems der Marktzulassung von Arzneimitteln. Denn die Einräumung von Verwaltungskompetenzen für die Organe der Union geht weit über die Harmonisierung nationalen Rechts hinaus, welche auf eine einheitliche Rechtsanwendung und Administration durch die Mitgliedstaaten selbst ausgerichtet ist.38 2. Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus, Art. 168 AEUV 26 Vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon existierte keine spezifische Norm, die der EU die Befugnis zur Regulierung des Arzneimittelmarktes einräumte. Für die gleichwohl rege normsetzende Tätigkeit hat der Gemeinschaftsgesetzgeber auf Art. 308 EG (jetzt Art. 352 AEUV) zurückgegriffen, welcher unter Wahrung des Erfordernisses der Einstimmigkeit trotz fehlender Kompetenz den Erlass von Unionsrecht ermöglicht, wenn dies erforderlich ist, um die Ziele der Union zu verwirklichen. Insbesondere die Etablierung des europä-

34 Vgl. nur Lorenz, S. 31; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Streinz EuR § 24 Rn. 86; Dauses/Ludwigs/Streinz/ Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 2; Wagner, S. 47. 35 Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 1. 36 EuGH 17.12.1981– C-272/80, ECLI:EU:C:1981:312 – Frans-Nederlandse Maatschappij; EuGH 14.7.1983, Rs. 174/82, ECLI:EU:C:1983:213 – Sandoz; EuGH 30.11.1983 – C-227/82, ECLI:EU:C:1983:354 – van Bennekom; EuGH 27.5.1986 – C-87/85, ECLI:EU:C:1986:215 – Legia und Cophalux; EuGH 23.9.2003 – C-192/01, ECLI:EU:C:2003:492 – Kommission/Dänemark; EuGH 1.4.2004 – C-112/02, ECLI:EU:C:2004:208 – Kohlpharma; EuGH 29.4.2004 – C-387/99, ECLI:EU:C:2004:235 – Kommission/Deutschland; EuGH 15.7.2004 – C-443/02, ECLI:EU:C:2004:453 – Schreiber. 37 Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 3. 38 Ausführlich Lorenz, S. 100 f.; Schmidt am Busch, S. 284 f.

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Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Gegenstandsbeschreibung ischen Zulassungsverfahrens für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ist unter Rückgriff auf diese Norm vorgenommen worden.39 Mit dem Vertrag von Lissabon sind die gesundheitspolitischen Handlungsbefugnisse der Union erheblich ausgeweitet worden.40 Nach Art. 6 S. 1 lit. a) AEUV kann die Union die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit unterstützen, koordinieren und ergänzen. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Angelegenheiten des Gesundheitsschutzes wird dadurch jedoch nicht tangiert, Art. 2 Abs. 5 AEUV. Der Schutz der Gesundheit ist überdies in Art. 168 Abs. 1 S. 1 AEUV als Querschnittsaufgabe41 definiert: Alle Unionspolitiken und -maßnahmen sind diesem Ziel verpflichtet. Auch diese Norm vermittelt der Union keine eigene Kompetenz, ermächtigt diese aber zur Ergänzung und Unterstützung der nationalstaatlichen Politik und der Förderung der Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten. Rat und Parlament sind nach Art. 168 Abs. 4 lit. c AEUV berechtigt, im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens Maßnahmen zu treffen, um Mindeststandards für die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten zu etablieren. Diese Materie unterliegt folglich der geteilten Zuständigkeit,42 sodass die Mitgliedstaaten gem. Art. 2 Abs. 2 AEUV nur dann zur Regelung befugt sind, wenn und soweit die Union von ihrer Kompetenz keinen Gebrauch gemacht hat. Die Einfügung dieser Kompetenznorm hat das Arzneimittelrecht aus seiner Einbettung in die Binnenmarktkompetenz aus Art. 114 AEUV herausgelöst. Sie erlaubt eine explizit den Sicherheitsinteressen der Verbraucher entsprechende europäische Rechtssetzung, die Vorrang vor den Interessen des freien Warenverkehrs hat.43 Art. 168 Abs. 4 AEUV ist strikt auf die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln beschränkt, sodass auf seiner Grundlage die Anforderungen an die Überprüfung und Überwachung der Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln präzisiert werden können. Der Fokus ist folglich auf Maßnahmen zur Prävention und Gefahrenabwehr gerichtet.44 Ebenso sind die Regelung der europäischen Zulassungsverfahren sowie die Struktur und Organisation der EMA dieser Kompetenznorm zuzuordnen, dh nicht nur die Sicherheitsstandards selbst, sondern auch deren administrative Einordnung unterliegen der geteilten Zuständigkeit.45 Maßnahmen zur Förderung der Forschung und Entwicklung neuartiger Arzneimittel sowie die Kontrolle des Arzneimittelmarktes unterliegen demgegenüber der Binnenmarktkompetenz nach Art. 114 AEUV.46 Diese räumt den Organen der EU weiterreichende Be-

39 Ausführlich Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (150); Winter, S. 100 f. Zweifelnd Dauses/Ludwigs/ Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 3. 40 Zur Entwicklung Streinz/Lurger EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 13 ff. 41 Schmidt am Busch, S. 17; Streinz/Lurger EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 33. Zur Rechtsnatur der Querschnittsklausel Kment EuR 2007, 275 (276); zur europäischen Gesundheitspolitik ausführlich Wallrabenstein in Wegener (Hrsg.), Europäische Querschnittpolitiken (EnzEuR Bd. 8) → Bd. 8 § 8 (passim). 42 Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 18; Streinz/Lurger EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 49. 43 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schmidt am Busch EU AEUV Art. 168 Rn. 42 und 114; Calliess/Ruffert/ Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 22 und 31. 44 Wagner, S. 48; Calliess/Ruffert/Kingreen EUV/AEUV AEUV Art. 168 Rn. 1; Grabitz/Hilf/Nettesheim/ Schmidt am Busch EU AEUV Art. 168 Rn. 8; Frenz/Götzkes MedR 2010, 613 (614). 45 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schmidt am Busch EU AEUV Art. 168 Rn. 61 f. 46 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schmidt am Busch EU AEUV Art. 168 Rn. 58 und 104 und 110 f.; Nitz/ Kluckert MedR 2016, 591 (593).

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fugnisse ein, da im Binnenmarkt namentlich kein dem Art. 168 Abs. 5 AEUV vergleichbares Harmonisierungsverbot besteht. 32 Die Abgrenzung zwischen beiden Ermächtigungsnormen richtet sich danach, ob die Sicherheit der Arzneimittel selbst – dann Art. 168 AEUV – oder das Funktionieren des Binnenmarktes, zB durch den Abbau von Hemmnissen für den freien Warenverkehr – dann Art. 114 AEUV – im Vordergrund steht. Die Wahrnehmung der Binnenmarktkompetenz darf weder das Harmonisierungsverbot aus Art. 168 Abs. 5 AEUV noch die Zuständigkeitsgarantie der Mitgliedstaaten aus Art. 168 Abs. 7 AEUV (dazu → Rn. 33) unterlaufen.47 3. Ausgestaltung des Gesundheitswesens und der sozialen Sicherungssysteme 33 Die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Gesundheitspolitik, die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung bleibt nach Art. 168 Abs. 7 AEUV explizit unangetastet.48 Dem entspricht Art. 153 Abs. 4 AEUV, der den Mitgliedstaaten ebenfalls die ausschließliche Kompetenz für die Systeme sozialer Sicherheit einräumt und namentlich solche unionsrechtlichen Maßnahmen ausschließt, die geeignet sind, deren finanzielle Stabilität zu gefährden. Die Mitgliedstaaten sind damit allein verantwortlich für die Ausgestaltung ihrer Krankenversicherungssysteme, ihrer Organisation und Finanzierung sowie der Art und des Umfangs der Leistungsgewährung und damit auch die Entscheidung darüber, welche Medikamente im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren sind. 34 Trotz ihrer weitreichenden Gestaltungsfreiheit sind die Mitgliedstaaten an die Vorgaben des Primärrechts gebunden.49 Die Regelungen des nationalen Sozialrechts dürfen folglich den Binnenmarkt und die Ausübung der Grundfreiheiten nicht beeinträchtigen.

II. Begriff des Arzneimittels 35 Die Abgrenzung der Arzneimittel von anderen Waren und Gütern, insbes. Nahrungsmitteln und Kosmetika, ist entscheidend für deren Verkehrsfähigkeit, beeinflusst aber auch die Zulässigkeit von Werbung oder die Modalitäten der Preisbildung.50 Die Unterscheidung ist im Einzelfall schwierig.51 36 Als Arzneimittel gilt nach Art. 1 Nr. 2 RL 2001/83/EG jeder Stoff oder jede Stoffzusammensetzung, die zur Heilung oder Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt ist (lit. a) oder die im bzw. am menschlichen Körper verwendet werden oder einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren, zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen (lit. b). Ob die in Rede ste-

47 EuGH 5.10.2000 – C-376/98, ECLI:EU:C:2000:544 – Deutschland/Parlament und Rat – sowie EuGH 12.12.2006 – C-380/03, ECLI:EU:C:2006:772 – Deutschland/Parlament und Rat – zur Tabakwerbung. 48 Dies entspricht der st. Rspr. EuGH 7.2.1984 – C-238/82, ECLI:EU:C:1984:45 – Duphar; EuGH 4.10.1991 – C-349/87, ECLI:EU:C:1991:372 – Paraschi; EuGH 17.6.1997 – C-70/95, ECLI:EU:C:1997:301 – Sodemare; EuGH 22.4.2010 – C-62/09, ECLI:EU:C:2010:219 – Association of the British Pharmaceutical Industry. 49 EuGH 28.4.1998 – C-120/95, ECLI:EU:C:1998:167 – Decker; EuGH 28.4.1998 – C-158/96, ECLI:EU:C:1998:171 – Kohll. 50 Steinbeck MedR 2009, 145 (145); Deutsch/Spickhoff, Rn. 1602; Wulff PharmR 2015, 52 (53); Doepner PharmR 2018, 116 (116). 51 Die Rechtsfragen von Herstellung, Zulassung und Vertrieb von Tierarzneimitteln bleiben im Rahmen dieser Darstellung außer Betracht.

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B. Gegenstandsbeschreibung

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hende Substanz für sich genommen oder erst in Verbindung mit anderen Stoffen vermischt oder als Trägersubstanz für andere Stoffe verwendet werden soll, ist irrelevant.52 Der Arzneimittelbegriff reicht jedoch nicht so weit, dass jedweder Stoff, der die körperli- 37 chen Funktionen beeinflusst, darunter zu fassen wäre. Zwingend erforderlich ist die Eignung, die menschliche Gesundheit mittelbar oder unmittelbar zu fördern. Die Stoffe müssen damit zwar nicht zwingend einen Bezug zu einer – zu verhütenden oder zu heilenden – Erkrankung aufweisen; ein gewisser, der Gesundheit zuträglicher Einfluss ist aber unverzichtbar.53 Stoffe, die die physiologischen Funktionen vornehmlich durch das Hervorrufen eines Rauschzustands beeinflussen und die Gesundheit zu schädigen geeignet sind, erfüllen nicht die Kriterien des Arzneimittelbegriffs.54 Zu diesen Stoffen zählen gem. Art. 1 Nr. 3 RL 2001/83/EG nicht nur chemische Elemente 38 und Verbindungen, die in der Alltagssprache als Medikament bezeichnet werden. Einbezogen sind auch Stoffe, die aus dem menschlichen Körper gewonnen werden, bspw. Blut oder Plasma, desgleichen Stoffe tierischer Natur. Hierzu zählen wiederum Blut und Bluterzeugnisse oder Organe, aber auch ganze Tiere (Blutegel) oder Mikroorganismen. Auch Pflanzen(teile) oder deren Extrakte sind Arzneimittel. 1. Funktions- und Präsentationsarzneimittel Ein Arzneimittel ist folglich entweder nach seiner Bezeichnung (Präsentationsarzneimittel) 39 – unabhängig von jedweder pharmakologischer Wirkung!55 – oder nach seiner objektiven56 Funktion (Funktionsarzneimittel) als solches zu definieren.57 Dass auch therapeutisch zweifelhafte oder unwirksame Stoffe dem Arzneimittelrecht unterworfen sind, dient dem Schutz des Verbrauchers, der diese aus Unkenntnis möglicherweise einem tatsächlich geeigneten Arzneimittel vorzieht.58 Der therapeutische Bezug ist aber bei Funktions- wie auch bei Präsentationsarzneimitteln unerlässlich.59 Der Anwendungsbereich des Gemeinschaftskodex ist nur bei gewerblich oder industriell 40 zubereiteten Arzneimitteln eröffnet. Individuell in Apotheken hergestellte Zubereitungen, die zur unmittelbaren Abgabe an Patienten bestimmt sind, werden nicht erfasst, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Nr. 1, 2 RL 2001/83/EG.60 Die Begriffe dürfen nicht zu eng ausgelegt werden, um dem Schutzzweck des Arzneimittelkodex Rechnung zu tragen. Industrielle Ver52 EuGH 20.3.1986 – C-35/85, ECLI:EU:C:1986:143 – Tissier; EuGH 9.6.2005 – C-211/03, ECLI:EU:C:2005:370 – HLH Warenvertrieb und Orthica. 53 Dettling/Böhnke PharmR 2014, 342 (344 f.) plädieren für eine weitere Auslegung idS, dass alle objektiv oder subjektiv „nützlichen“ Veränderungen der Körperfunktion hinreichen, um den Arzneimittelbegriff zu erfüllen; für eine Ausweitung auch Doepner PharmR 2018, 116 (121 f.). 54 EuGH 10.7.2014 – C-358/13, ECLI:EU:C:2014:2060 – D. 55 EuGH 30.11.1983 – C-227/82, ECLI:EU:C:1983:354 – van Bennekom; EuGH 16.4.1991 – C-112/89, ECLI:EU:C:1991:147 – Upjohn; EuGH 28.10.1992 – C-219/91, ECLI:EU:C:1992:414 – Ter Voort; EuGH 15.11.2007 – C-319/05, ECLI:EU:C:2007:678 – Knoblauchkapsel. Dazu auch Steinbeck MedR 2009, 145 (146): „Anscheinsarzneimittel“; Wagner, S. 65; Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 14; Wulff PharmR 2015, 52 (56); Meier/v. Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, S. 19. 56 Wulff PharmR 2015, 52 (52 f.). Nach dem AMG 1961 kam es noch auf die dem Stoff vom Hersteller zugemessene Funktion an, Fuhrmann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 2 Rn. 2. 57 EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 21.3.1991 – C-60/89, ECLI:EU:C:1991:138 – Monteil und Samanni; EuGH 16.4.1991 – C-112/89, ECLI:EU:C:1991:147 – Upjohn. 58 Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 75; Lorenz, S. 69 f.; Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (154). 59 EuGH 10.7.2014 – C-358/13, ECLI:EU:C:2014:2060 – D.; kritisch Dettling/Böhnke PharmR 2014, 342 (346). 60 EuGH 26.10.2016 – C-276/15, ECLI:EU:C:2016:801 – Hecht Pharma – für die Herstellung von Weihrauch-Extrakt-Kapseln im Umfang von bis zu 100 Packungen pro Tag, die nach nationalem Recht vom Zulassungserfordernis ausgenommen ist.

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§ 9 Arzneimittelrecht fahren sind nach der Rechtsprechung des EuGH dadurch gekennzeichnet, dass bedeutende Mengen von Arzneimitteln in einer standardisierten Abfolge von mechanischen oder chemischen Operationen hergestellt werden.61 2. Abgrenzung zu Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmitteln

41 Stoffe und Substanzen, die nicht die im Arzneimittelkodex genannten Voraussetzungen erfüllen, sind einer abweichenden Einstufung durch das nationale Recht zugänglich. Trotz der Begriffsbestimmung in Art. 1 Nr. 2 RL 2001/83/EG ist es also nicht ausgeschlossen, dass eine Substanz in einem Mitgliedstaat als Arzneimittel, in einem anderen aber bspw. als Nahrungsmittel qualifiziert wird.62 42 Als problematisch erweist sich insbes. die Einordnung sogenannter dual use-Produkte, die – sei es generell, sei es in bestimmten Dosierungen – sowohl den funktionalen Arzneimittel- als auch den Lebensmittelbegriff erfüllen. Dies trifft namentlich auf Nahrungsergänzungsmittel zu.63 Die Mitgliedstaaten stellten bei der Abgrenzung in der Regel auf die empfohlene Tagesdosis für Vitamine und Mineralstoffe ab. Die Unterschiede in der Ausfüllung des mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraums64 führten zu Beschränkungen des freien Binnenhandels, wenn ein in einem Mitgliedstaat frei erhältliches Nahrungsergänzungsmittel in einem anderen Mitgliedstaat wegen Überschreitung der empfohlenen Tagesdosis als Arzneimittel eingestuft wurde und damit der Zulassung bedurfte.65 43 In der Lebensmittel-Rahmen-Verordnung VO (EG) Nr. 178/200266 ist der Lebensmittelbegriff einheitlich definiert (dazu ausführlich Gundel → § 8 Rn. 3). Lebensmittel sind nach Art. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 178/2002 alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind, in einem unverarbeiteten oder (teilweise) verarbeiteten Zustand vom Menschen aufgenommen zu werden oder von denen dies nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann. Zwar erfüllen auch Arzneimittel diese Kriterien, sind sie doch ebenfalls zur Aufnahme durch den Menschen bestimmt. Lebensmittel- und Arzneimitteleigenschaft eines Stoffes oder einer Stoffzubereitung schließen sich indes nach Art. 1 Abs. 3 lit. d VO (EG) Nr. 178/2002 gegenseitig aus. Die Richtlinie 2001/83/EG ist insofern lex specialis, als vom Vorliegen eines Lebensmittels auszugehen ist, solange die Arzneimitteleigenschaft nicht festgestellt worden ist.67 61 EuGH 16.7.2015 – C-544/13, ECLI:EU:C:2015:481 – Abcur – für die Herstellung eines Arzneimittels im Umfang von ca. 130.000 Packungen jährlich auf Vorrat und für den Verkauf im Großhandel. 62 EuGH 14.7.1983 – C-174/82, ECLI:EU:C:1983:213 – Sandoz; EuGH 20.3.1986 – C-35/85, ECLI:EU:C:1986:143 – Tissier; EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 29.4.2004 – C-150/00, ECLI:EU:C:2004:237 – Kommission/Österreich; EuGH 29.4.2004 – C-387/99, ECLI:EU:C:2004:235 – Kommission/Deutschland; EuGH 9.6.2005 – C-211/03, ECLI:EU:C:2005:370 – HLH Warenvertrieb und Orthica; EuGH 15.11.2007 – C-319/05, ECLI:EU:C:2007:678 – Knoblauchkapsel. 63 Doepner/Hüttebräuker ZLR 2004, 429 (429). Als problematisch konnte sich auch die Abgrenzung zwischen Humanarzneimitteln und Tierkosmetika erweisen, vgl. BVerwGE 97, 132 zu Eutersalben. 64 EuGH 30.11.1983 – C-227/82, ECLI:EU:C:1983:354 – van Bennekom; EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 28.10.1992 – C-219/91, ECLI:EU:C:1992:414 – Ter Voort; EuGH 20.5.1992 – C-290/90, ECLI:EU:C:1992:227 – Prevor; EuGH 23.9.2003 – C-192/01, ECLI:EU:C:2003:492 – Kommission/Dänemark. 65 EuGH 14.7.1983 – C-174/82, ECLI:EU:C:1983:213 – Sandoz; EuGH 30.11.1983 – C-227/82, ECLI:EU:C:1983:354 – van Bennekom; EuGH 29.4.2004 – C-387/99, ECLI:EU:C:2004:23551 – Kommission/Deutschland; EuGH 29.4.2004 – C-150/00, ECLI:EU:C:2004:237 – Kommission/Österreich. 66 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 31 v. 1.2.2002, 1. 67 Köhler GRUR 2002, 844 (845); Fuhrmann in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 2 Rn. 21; Doepner/ Hüttebräuker ZLR 2004, 429 (446).

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B. Gegenstandsbeschreibung

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Weitere Merkmale sind aus der RL 2002/46/EG68 herzuleiten.69 Diese harmonisiert die zu- 44 lässigen Dosen, Aufmachung und Kennzeichnung von Nahrungsergänzungsmitteln. Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 RL 2002/46/EG beschränkt den Anwendungsbereich der Richtlinie auf solche Nahrungsergänzungsmittel, die als Lebensmittel, nicht aber als Arzneimittel in Verkehr gebracht werden und nimmt insoweit Bezug auf die Termini des Arzneimittelkodex und der Lebensmittel-Rahmen-Verordnung. Art. 2 lit. a RL 2002/46/EG präzisiert jedoch, dass Nahrungsergänzungsmittel die „normale Ernährung zu ergänzen“ bestimmt sind und in dosierter Form, also als Tabletten, Kapseln oder Ampullen verabreicht werden. Die äußere Aufmachung eines Stoffes ist für die Abgrenzung folglich nicht entscheidend, wohl aber seine Funktion: Ein Arzneimittel liegt vor, wenn eine normale Ernährung nicht möglich ist und die verabreichten Stoffe dem Ausgleich damit verbundener Mangelerscheinungen dienen.70 Die Abgrenzung zwischen Lebens- und Arzneimitteln muss daher auch Bezug auf den körperlichen Normalzustand nehmen.71 Dafür spricht auch RL 1999/21/EG.72 Diätetische Lebensmittel dienen nach Art. 1 Abs. 2 45 lit. b) RL 1999/21/EG der krankheitsbezogenen Ernährung unter ärztlicher Aufsicht. Sie dürfen gem. Art. 4 Abs. 3 RL 1999/21/EG nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einem ausdrücklichen Hinweis auf diese spezifische Funktion und mögliche Gesundheitsschädigungen bei bestimmungswidriger Anwendung versehen sind. Obwohl die Einnahme diätetischer Lebensmittel, von einem Arzt begleitet, der diätetischen Behandlung eines Patienten dient, gelten diese weiterhin als Lebensmittel iSd VO (EG) Nr. 178/2002, sofern und solange der Ernährungszweck im Vordergrund steht.73 Für die Unterscheidung von Lebensmitteln und Funktionsarzneimitteln sind daher die in 46 Art. 1 Nr. 2 RL 2003/81/EG verankerten Kriterien maßgeblich. Beeinflusst die Einnahme oder Verwendung eines Stoffes bei bestimmungsgemäßem Gebrauch also die Körperfunktion, liegt ein Funktionsarzneimittel vor.74 Die physiologische Wirkung vermag für sich genommen jedoch nicht die Arzneimitteleigenschaft zu begründen. Denn auch Nahrungsmittel wirken auf den menschlichen Organismus ein und lösen Stoffwechselprozesse aus.75 Auch der Umstand, dass von dem Stoff bei normalem Gebrauch eine Gesundheitsgefährdung ausgehen kann, ist kein hinreichendes Kriterium. Arzneimittel müssen vielmehr nach dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse pharmakologische, immunologische oder metabolische Eigenschaften aufweisen, welche die Gesundheit wiederherstellen, bessern oder in anderer Weise nennenswert beeinflussen können.76 68 Richtlinie 2002/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 10.6.2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel, ABl. L 183 v. 12.7.2002, 51 ff. 69 EuGH 9.6.2005 – C-211/03, ECLI:EU:C:2005:370 – HLH Warenvertrieb und Orthica. 70 Lorenz, S. 84; Deutsch/Spickhoff, Rn. 1592; Meier/v. Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, S. 23; aA Köhler GRUR 2002, 844 (850), der auf die Präsentation des Produkts durch den Hersteller abstellt. 71 Doepner/Hüttebräuker ZLR 2004, 429 (436 f.); so wohl auch Zipfel/Rathke Lebensmittelrecht Art. 2 VO (EWG) 178/2002, Rn. 77. Dies ist jedoch nicht das einzige Kriterium, da zB Verhütungsmittel auch beim gesunden Menschen zur Anwendung kommen und gleichwohl als Arzneimittel eingestuft werden können, vgl. den Hinweis bei EuGH 16.4.1991 – C-112/89, ECLI:EU:C:1991:147 – Upjohn. 72 Richtlinie 1999/21/EG der Kommission v. 25.3.1999 über diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, ABl. L 91 v. 7.4.1999, 29. 73 Zipfel/Rathke Lebensmittelrecht Art. 2 VO (EWG) 178/2002 Rn. 68 a. 74 EuGH 16.4.1991 – C-112/89, ECLI:EU:C:1991:147 – Upjohn; EuGH 29.4.2004 – C-150/00, ECLI:EU:C:2004:237 – Kommission/Österreich; EuGH 15.11.2007 – C-319/05, ECLI:EU:C:2007:678 – Knoblauchkapsel; EuGH 15.1.2009 – C-140/07, ECLI:EU:C:2009:5 – Red Rice; EuGH 30.4.2009 – C-27/08, ECLI:EU:C:2009:278 – BIOS Naturprodukte. 75 Lorenz, S. 80; Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 61; Köhler GRUR 2002, 844 (848); Müller EuZW 2009, 603 (605); Steinbeck MedR 2009, 145 (145); Zipfel/Rathke Lebensmittelrecht Art. 2 VO (EWG) 178/2002 Rn. 69 f. 76 EuGH 29.4.2004 – C-150/00, ECLI:EU:C:2004:237 – Kommission/Österreich; EuGH 15.11.2007 – C-319/05, ECLI:EU:C:2007:678 – Knoblauchkapsel; EuGH 30.4.2009 – C-27/08,

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§ 9 Arzneimittelrecht

47 Die Unterscheidung zwischen Lebens- und Arzneimitteln muss zudem im Rahmen einer Gesamtbetrachtung77 die Darreichungsform des Stoffes,78 seine Verbreitung und Bekanntheit, die Erwartungen der Verbraucher, seine typischen Anwendungsmodalitäten79 und sein Risikopotenzial berücksichtigen.80 Letzteres bemisst sich auch danach, in welcher Dosierung die Aufnahme des Stoffs unbedenklich ist bzw. welche Gefahren bei Überschreitung der empfohlenen Dosis drohen.81 48 In Zweifelsfällen ordnet Art. 2 Abs. 2 RL 2001/83/EG die Geltung des strengeren Arzneimittelrechts an. Dies setzt jedoch voraus, dass ein Stoff oder eine Stoffzubereitung sowohl als Arzneimittel als auch als anderes Erzeugnis eingeordnet werden kann. Der Arzneimittelbegriff muss also in jedem Fall erfüllt sein, damit die Zweifelsregelung greift.82 Es handelt sich daher genau genommen nicht um eine echte Zweifelsregelung. Vielmehr statuiert die Norm den Vorrang des Arzneimittelrechts.83 3. Abgrenzung zu Kosmetika 49 Überschneidungen können sich auch zwischen Arzneimitteln und Kosmetika ergeben. Gem. Art. 2 Abs. 1 lit. a) VO (EG) Nr. 1223/200984 sind kosmetische Mittel definiert als Stoffe85 oder Gemische, die dazu bestimmt sind, äußerlich mit den Teilen des menschlichen Körpers, den Zähnen oder den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen. Sie müssen ausschließlich, zumindest aber überwiegend dazu dienen, den Körper zu reinigen, zu parfümieren, im Aussehen zu verändern, zu schützen, in gutem Zustand zu halten oder den Körpergeruch zu beeinflussen. 50 Bei der Abgrenzung zu den Arzneimitteln gilt das Prinzip der Spezialität: ein Stoff kann nicht gleichzeitig Arzneimittel und Kosmetikum sein.86 Zwar können auch kosmetische Mittel der Erhaltung der Gesundheit dienen. Jedoch stehen bei ihnen ästhetische Zwecke im Vordergrund.87 Maßgeblich ist – ebenso wie bei der Abgrenzung von Arznei- und Lebensmitteln –, dass Arzneimittel sich so auf den menschlichen Organismus auswirken,

77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

ECLI:EU:C:2009:278 – BIOS Naturprodukte. Die übrigen Abgrenzungskriterien haben durch diese Schwerpunktsetzung jedoch nicht ihre Bedeutung eingebüßt, vgl. Steinbeck MedR 2009, 145 (147); kritisch Zipfel/Rathke Lebensmittelrecht Art. 2 VO (EWG) 178/2002 Rn. 75 ff. Köhler GRUR 2002, 844 (846 f.); Müller EuZW 2009, 603 (604). EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 9.6.2005 – C-211/03, ECLI:EU:C:2005:370 – HLH Warenvertrieb und Orthica. Nach Doepner/Hüttebräuker ZLR 2004, 429 (438) handelt es sich dabei lediglich um „Füllwörter ohne realen tatbestandlichen Bezug“. EuGH 9.6.2005 – C-211/03, ECLI:EU:C:2005:370 – HLH Warenvertrieb und Orthica; EuGH 15.11.2007 – C-319/05, ECLI:EU:C:2007:678 – Knoblauchkapsel. EuGH 29.4.2004 – C-387/99, ECLI:EU:C:2004:235 – Kommission/Deutschland; EuGH 29.4.2004 – C-150/00, ECLI:EU:C:2004:237 – Kommission/Österreich. Stephan in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 2 Rn. 63 ff.; Steinbeck MedR 2009, 145 (148); Doepner/ Hüttebräuker ZLR 2004, 429 (451 f.); Zipfel/Rathke Lebensmittelrecht Art. 2 VO (EWG) 178/2002 Rn. 84aa. Dazu auch EuGH 15.1.2009 – C-140/07, ECLI:EU:C:2009:5 – Red Rice. Müller EuZW 2009, 603 (605); Müller NVwZ 2009, 425 (426). Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.11.2009 über kosmetische Mittel, ABl. L 342 v. 22.12.2009, 59. Bei „Stoffen“ handelt es sich ausschließlich um chemische Elemente, nicht aber um Gegenstände. Farbige Motivkontaktlinsen sind daher keine Kosmetika, EuGH 3.9.2015 – C-321/14, ECLI:EU:C:2015:540 – Colena AG/Karnevalservice Bastian GmbH. EuGH 16.4.1991 – C-112/89, ECLI:EU:C:1991:147 – Upjohn; EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 21.3.1991 – C-60/89, ECLI:EU:C:1991:138 – Monteil und Samanni. Janda, S. 238.

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dass dessen Funktionen in nennenswertem Umfang verändert werden.88 Die Beurteilung der physiologischen Wirkung ist wiederum durch die allgemeine Verkehrsauffassung zu ergänzen, bei der die Aufmachung des Produkts, die Angaben des Herstellers und die darauf gestützten Erwartungen der Konsumenten zu berücksichtigen sind.89 Mit Wirkung vom 26.5.2020 wird der in Art. 2 VO (EG) 1223/2009 enthaltenen Legalde- 51 finition des Kosmetikums ein neuer Abs. 4 hinzugefügt. Danach kann die Kommission auf Ersuchen eines Mitgliedstaats oder auf eigene Initiative erforderliche Maßnahmen ergreifen, um zu bestimmen, ob ein einzelnes Produkt oder eine spezielle Gruppe von Produkten als „kosmetisches Mittel” gelten oder nicht. Damit wird in Zweifelsfällen eine unionsweit einheitliche Abgrenzung ermöglicht. 4. Abgrenzung zu Medizinprodukten Medizinprodukte können ebenso wie Arzneimittel innerlich oder äußerlich am Menschen angewandt werden, sind aber anders als diese durch eine physikalische Wirkweise gekennzeichnet.90 Diese Art der Wirkung bildet das wesentliche Abgrenzungskriterium, Art. 1 Abs. 5 lit. c) RL 93/42/EWG.91 Mit Wirkung vom 26.5.2020 wird die Richtlinie durch die VO (EU) 2017/74592 abgelöst.93 Darin wird die Begriffsbestimmung neu gefasst, nicht zuletzt um den medizintechnischen Entwicklungen Rechnung zu tragen, die immer häufiger eine Kombination von Medizinprodukten und Arzneimitteln hervorbringen – beispielsweise Implantate, die Arzneimittel dosiert in den Körper abgeben. Die Anforderungen an das Inverkehrbringen solcher Erzeugnisse sind entweder nach der neuen Medizinprodukte-VO oder nach Maßgabe des Arzneimittelkodex zu bestimmen, 10. Erwägungsgrund VO (EU) 2017/745. Damit soll sichergestellt werden, dass die Sicherheits- und Leistungsanforderungen den Anforderungen der Medizinprodukte-VO genügen. Die medizinische Wirksamkeit wird dagegen entsprechend den Vorgaben des Arzneimittelkodex geprüft.94 Die Abgrenzung zwischen Medizinprodukt und Arzneimittel richtet sich jedoch weiterhin nach der Wirkweise, vgl. Art. 1 Abs. 6 lit. b) VO (EU) 2017/745. Bei Medizinprodukten wird die Wirkung nicht durch pharmakologische oder immunologische Mittel oder durch Einwirkung auf den Metabolismus erreicht, wiewohl diese zu dessen Unterstützung beitragen können, Art. 2 Nr. 1 S. 1 VO (EU) 2017/745. Art. 2 Abs. 2 RL 2001/83/EG ordnet in Zweifelsfällen die Geltung der Richtlinie an. Die Abgrenzungsschwierigkeiten können dazu führen, dass ein und dasselbe Präparat in einem Mitgliedstaat als Arzneimittel, in einem anderen dagegen als Medizinprodukt eingestuft wird. Wiewohl beide Begriffe im Verhältnis der Alternativität zueinander stehen, also in ein und demselben Mitgliedstaat ein Präparat niemals gleichzeitig Arzneimittel und

88 EuGH 16.4.1991 – C-112/89, ECLI:EU:C:1991:147 – Upjohn – für ein Medikament gegen Bluthochdruck, welches als Nebenwirkung das Wachstum der Körperbehaarung fördert; EuGH 6.9.2012 – C-308/11, ECLI:EU:C:2012:548 – Chemische Fabrik Kreussler & Co. GmbH – für eine Mundspüllösung. 89 Deutsch/Spickhoff, Rn. 1595; Wulff PharmR 2015, 52 (55). 90 Janda, S. 239; Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 2 Rn. 127; Schmidt am Busch, S. 313; Meier/v. Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, S. 25; Wulff PharmR 2015, 52 (56 f.); Friese/ Jentges/Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 38. 91 Richtlinie 93/42/EWG des Rates v. 14.6.1993 über Medizinprodukte, ABl. L 169 v. 12.7.1993, 1 ff. 92 Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.4.2017 über Medizinprodukte, ABl. L 117, 1. 93 Ausführlich Graf PharmR 2016, 486; Graf PharmR 2017, 57; Hill MPR 2017, 109; Lippert MedR 2017, 614; Köbler, GuP 2018, 132. 94 Lippert MedR 2017, 614 (617).

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§ 9 Arzneimittelrecht

Medizinprodukt sein kann,95 läuft es dem Unionsrecht nicht zuwider, wenn die Behörden verschiedener Mitgliedstaaten zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Angesichts fehlender Harmonisierung ist dies nach Auffassung des EuGH hinzunehmen.96 56 Ab 2020 sieht die Medizinprodukte-VO ein gesondertes Verfahren zur Klärung konkreter Abgrenzungsschwierigkeiten vor. Nach Art. 4 VO (EU) 2017/745 bestimmt die Kommission auf ein „hinreichend begründetes Ersuchen eines Mitgliedstaats“, ob ein Medizinprodukt oder Zubehör eines Medizinprodukts vorliegt. Vorher hat sie die nach Art. 103 VO (EU) 2017/745 einzurichtende „Koordinierungsgruppe Medizinprodukte“ anzuhören, in welche die Mitgliedstaaten je einen ausgewiesenen Experten mit hinreichender Fachkompetenz und Erfahrung auf dem Gebiet der Medizinprodukte und der in-vitro-Diagnostik entsenden. 57 Das Inverkehrbringen von Medizinprodukten bedarf keiner Zulassung, ist jedoch insoweit der Regulierung unterworfen, als ihr technisches Funktionieren durch den Erwerb eines CE-Kennzeichens nachzuweisen ist, Art. 11 RL 93/42/EWG, Art. 20 VO (EU) 2017/745.97

III. Herstellung von Arzneimitteln 58 Die Regulierung der Herstellungsvoraussetzungen von Arzneimitteln dient dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, indem der Hersteller den Nachweis erbringt, dass er zur ordnungsgemäßen und zuverlässigen Produktion von Arzneimitteln in der Lage ist. Nach Art. 40 Abs. 1 RL 2001/83/EG sind die Mitgliedstaaten gehalten, die Arzneimittelherstellung an eine entsprechende Erlaubnis zu binden. Diese Herstellungserlaubnis wirkt nur auf dem Gebiet des Mitgliedstaats, der sie erteilt hat und berechtigt ihren Inhaber nicht zur Herstellung von Arzneimitteln in anderen Mitgliedstaaten. Sie ist folglich rein nationalrechtlicher Natur und kein transnationaler Verwaltungsakt.98 59 Die nationalrechtlichen Vorgaben zur Genehmigungserteilung werden durch das Unionsrecht nicht harmonisiert.99 Art. 40 ff. RL 2001/83/EG statuieren lediglich Mindeststandards, die nicht unterschritten werden dürfen. Damit soll ein race to the bottom verhindert werden, mit dem die Kosten der Arzneimittelproduktion durch vergleichsweise geringe Anforderungen an die Qualität und Sicherheit der Herstellungsprozeduren missbräuchlich niedrig gehalten werden. Nach Art. 41 RL 2001/83/EG muss der Hersteller über geeignete und ausreichende Betriebsräume, technische Ausrüstungen und Kontrollmöglichkeiten verfügen, um den im nationalen Recht etablierten Anforderungen an die Herstellung und Lagerung von Arzneimitteln zu genügen. Er muss ferner den personellen Anforderungen genügen und über mindestens eine sachkundige Person iSv Art. 48, 49 RL 2001/83/EG verfügen, die eine akademische Ausbildung in der Pharmazie, Medizin, Veterinärmedizin, Chemie, pharmazeutischen Chemie und Technologie oder Biologie abgeschlossen hat. Zudem muss der Hersteller nach Art. 46 lit. f. RL 2001/83/EG die Grundsätze guter Herstellungspraxis einhalten. Diese sind in der VO (EU) 536/2014100

95 EuGH 25.10.2018 – C-527/17, ECLI:EU:C:2018:867 – Paclitaxel, R. 31. 96 EuGH 3.10.2013 – C-109/12, ECLI:EU:C:2013:626 – Laboratoires Lyocentre; kritisch Doepner PharmR 2018, 116 (117). 97 Eingehend Schmidt am Busch, S. 318 f. 98 Roth EuR Beiheft 2/2007, 9, 12. Zu Begriff und Rechtsnatur des transnationalen Verwaltungsakts ausführlich Ruffert Verw 34 (2001) 453. 99 Schmidt am Busch, S. 275. 100 VO (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl. 2016 L 311, 25.

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niedergelegt und durch ein umfassendes System von Inspektionen und Qualitätssicherungsmaßnahmen zu überwachen (good manufacturing practice). Ob die nationalrechtlichen Anforderungen an die Herstellung eines Arzneimittels erfüllt 60 sind, wird gem. Art. 8 Abs. 3 lit. h RL 2001/83/EG im Verfahren über die Genehmigung des Inverkehrbringens des Arzneimittels berücksichtigt. Dies gilt nach Art. 8 Abs. 1 VO (EG) 726/2004 auch im Rahmen des zentralisierten Zulassungsverfahrens.

IV. Genehmigung des Inverkehrbringens Das Inverkehrbringen von Arzneimitteln setzt nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2001/83/EG 61 sowie Art. 3 VO (EG) Nr. 726/2004 eine Genehmigung voraus.101 Das europäische Arzneimittelrecht statuiert folglich ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt.102 Während mit der Herstellungserlaubnis die Kompetenz und Zuverlässigkeit des pharmazeutischen Unternehmers festgestellt wird, bezieht sich die Genehmigung für das Inverkehrbringen auf ein konkretes Arzneimittel, dessen Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit vorab einer Überprüfung unterzogen wird. Die Genehmigung stellt nicht nur eine formelle, sondern eine materielle Voraussetzung für das Inverkehrbringen dar.103 Die Voraussetzungen des Inverkehrbringens sind seit den 1960er-Jahren weitgehend har- 62 monisiert. Damit ist der gemeinschaftsweite Handel mit Arzneimitteln erleichtert worden, denn Unterschiede in der Bewertung der Genehmigungspflicht für einzelne Substanzen sind damit ebenso aufgehoben wie unterschiedliche Anforderungen für die Erteilung der Genehmigung. Nicht zuletzt sind die pharmazeutischen Unternehmen durch die Zentralisierung des Genehmigungsverfahrens bzw. dessen „Moderation“ auf Unionsebene von der Last befreit, sich zeit- und kostenintensiv um einzelstaatliche Zulassungen in allen Mitgliedstaaten zu bemühen, um ein Arzneimittel dort in Verkehr bringen zu können.104 Es bleibt ihnen jedoch unbenommen, eine rein nationalrechtliche Zulassung zu beantragen, wenn ein Arzneimittel ausschließlich auf dem Territorium eines Mitgliedstaats vertrieben werden soll. In diesem Fall kommt allein das im nationalen Recht dieses Staates vorgesehene Verfahren zur Anwendung.105

101 Homöopathische, anthroposophische und traditionelle pflanzliche Arzneimittel bedürfen keiner Genehmigung, sondern sind lediglich zu registrieren, bevor sie in Verkehr gebracht werden dürfen. Die Anforderungen sind in Art. 13 ff. und Art. 16 a ff. RL 2001/83/EG präzisiert. Dazu ausführlich Mulder in Shorthose, S. 383 ff. 102 Wagner, S. 67; Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 3; Kaufmann PharmR 2015, 473 (473). 103 Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 2. 104 Janda, S. 241 f.; Shorthose/Smillie in Shorthose, S. 5. 105 EuG 26.11.2002 – T-74/00, ECLI:EU:T:2006:286 – Artegodan/Kommission; dazu auch Shorthose/ Smillie in Shorthose, S. 66; Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 58; Friese in Dieners/ Reese § 5 Rn. 4 ff.

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§ 9 Arzneimittelrecht 1. Abgrenzung der Verfahrensarten

63 Die verschiedenen Genehmigungsverfahren lassen sich vereinfacht wie folgt voneinander abgrenzen: Verfahrensart

Kriterium

Antragstellung bei

Zentralisiertes Verfahren

Inverkehrbringen des Arzneimittels nur in einzelnen Mitgliedstaaten ist unwirtschaftlich oder das Arzneimittel muss aus Gründen des öffentlichen Interesses in allen Mitgliedstaaten verfügbar sein

EMA

Dezentrales Verfahren

erstmalige Zulassung, die gleichzeitig in mehreren Mitgliedstaaten beantragt wird, in denen das Arzneimittel in Verkehr gebracht werden soll

Mitgliedstaaten

Verfahren der gegenseitigen Anerkennung

bereits erfolgte Zulassung in einem Mitgliedstaat, die auf andere Mitgliedstaaten ausgedehnt werden soll, weil das Arzneimittel dort ebenfalls in Verkehr gebracht werden soll

Mitgliedstaaten

Nationalrechtliches Verfahren

Inverkehrbringen des Arzneimittels auch langfristig nur in einem einzelnen Mitgliedstaat vorgesehen

Mitgliedstaat

2. Die European Medicines Agency 64 Sowohl das zentralisierte Verfahren als auch das dezentralisierte und das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung werden über die 1995 etablierte European Medicines Agency (EMA) abgewickelt. Die Errichtung der EMA und die Zuweisung ihrer Kompetenzen stützte sich – mangels einer expliziten Ermächtigungsnorm – auf Art. 308 EGV (jetzt Art. 352 AEUV).106 Die EMA selbst trifft keine Entscheidung über die Genehmigung des Inverkehrbringens: Das zentralisierte Verfahren wird von der Kommission, die sonstigen Verfahren werden von den nach nationalem Recht zuständigen Behörden beschieden.107 65 Gem. Art. 71 VO (EG) Nr. 726/2004 hat die EMA den Status einer juristischen Person. Sie ist daher in allen Mitgliedstaaten rechts- und geschäftsfähig,108 kann folglich Vermögen veräußern und erwerben und ist parteifähig in Gerichtsverfahren. 66 Gesetzlicher Vertreter der EMA ist der Verwaltungsdirektor, Art. 64 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004. Er wird für einen Zeitraum von fünf Jahren vom Verwaltungsrat benannt. Dem Verwaltungsdirektor obliegen die laufende Verwaltung ebenso wie die Koordinierung der Arbeit der wissenschaftlichen Ausschüsse (dazu → Rn. 69), der Entwurf des Haushaltsplans oder die Personalangelegenheiten der Agentur. 67 Der Verwaltungsrat setzt sich gem. Art. 65 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004 aus einem Vertreter jedes Mitgliedstaats, zwei Vertretern der Kommission und zwei Vertretern des Europäischen Parlaments, zwei Patientenvertretern sowie je einem Vertreter von Ärzteund Tierärzteorganisationen zusammen. Der Verwaltungsrat trägt die Budgetverantwortung. Er genehmigt zudem das jährliche Arbeitsprogramm der EMA und kann Regeln über deren wissenschaftliche Dienstleistungen oder die Information der Öffentlichkeit erlassen, Art. 66 VO (EG) Nr. 726/2004. 106 Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 34; Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (151); Winter, S. 120; Friese/ Jentges/Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 49 f. 107 Shorthose/Smillie in Shorthose, S. 24; Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 13 bezeichnet die EMA als „Bündelungsinstanz“. 108 Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (150).

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Zu den wesentlichen Aufgaben der EMA zählen die Koordinierung der wissenschaftlichen 68 Bewertung von Arzneimitteln, die Überwachung der Einhaltung der Grundsätze guter Herstellungs- und klinischer Praxis und die Beratung der Mitgliedstaaten, Art. 57 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004. Ihr obliegt ferner die Überwachung der Arzneimittelsicherheit im Rahmen eines Pharmakovigilanz-Netzwerks, Art. 57 Abs. 1 lit. c VO (EG) Nr. 726/2004. Zu diesem Zweck stellt die Behörde eine Datenbank bereit, die sämtliche Informationen zu Wechsel- und Nebenwirkungen der Arzneimittel erfasst und damit den raschen Zugriff und die Weitergabe aller notwendigen Informationen erlaubt. Zugleich vereinigt die EMA ein Netzwerk von Wissenschaftlern, auf deren Expertise sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Organe der EU zurückgreifen können.109 Innerhalb der EMA sind sechs wissenschaftliche Ausschüsse gebildet worden, die sich 69 fachspezifischen Fragen widmen:110 n der Ausschuss für Humanarzneimittel, Art. 5 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004 n der Ausschuss für Tierarzneimittel, Art. 30 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004 n der Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden, Art. 4 Abs. 1 VO (EG) Nr. 141/2000 n der Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel, Art. 16 h Abs. 1 RL 2004/24/EG n der Pädiatrieausschuss, Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1901/2006 n der Ausschuss für Arzneimittel für neue Therapien, Art. 20 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1394/2007. Ihre Mitglieder werden von den Mitgliedstaaten benannt. Sie fungieren als Vertreter der nach nationalem Recht zuständigen Behörden, Art. 61 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004.111 3. Zentralisiertes Verfahren Aus Sicht der Hersteller ist das zentralisierte Verfahren besonders attraktiv: Die auf euro- 70 päischer Ebene getroffene Entscheidung wirkt gem. Art. 13 VO (EG) Nr. 726/2004 unmittelbar in allen Mitgliedstaaten und erlaubt das unionsweite Inverkehrbringen des Arzneimittels, ohne ein Zulassungsverfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten zu durchlaufen.112 a) Anwendungsbereich des zentralisierten Verfahrens Gem. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004 iVm dem Anhang der Verordnung ist dieses 71 Verfahren in sachlicher Hinsicht zwingend113 für Arzneimittel, n die in biotechnologischen Verfahren hergestellt werden, n bei denen neuartige Therapien zum Einsatz kommen, namentlich Stammzellen oder biotechnologisch erzeugte Gewebe,114 n die in der Tiermedizin als Leistungssteigerungsmittel eingesetzt werden, n die einen neuen Wirkstoff beinhalten115 und der Behandlung von Krebs, Diabetes, Viruserkrankungen, fortschreitenden Erkrankungen des Nervensystems – bspw. Alzhei-

109 Shorthose/Smillie in Shorthose, S. 17. 110 Ausführlich zur Zusammensetzung und zu den Aufgaben der einzelnen Ausschüsse Friese in Dieners/ Reese § 5 Rn. 49 ff.; Shorthose/Smillie in Shorthose, S. 18 ff. 111 Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 64 ff.; Friese/Jentges/Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 54. 112 Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (14); Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 20. 113 Vgl. den Anhang zu VO (EG) 726/2004. 114 Ausführlich zu diesen neuartigen Therapien Müller StoffR 2011, 61. 115 Dabei handelt es sich um chemische, biologische oder radioaktive Substanzen einschließlich ihrer Ableitungen oder Verbindungen sowie molekulare Strukturen, die vorher noch nicht als Arzneimittel zugelassen waren oder von einer ursprünglich zugelassenen Substanz abweichen, Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 69.

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mer, Parkinson oder Multipler Sklerose – sowie Immunschwächen wie AIDS oder Leukämie dienen116 oder n der Behandlung lebensbedrohender oder chronisch verlaufender seltener Leiden dienen, an denen weniger als fünf von 10.000 Menschen erkranken.117 72 Die Aufzählung ist abschließend. Fakultativ können pharmazeutische Hersteller gem. Art. 3 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004 das zentralisierte Verfahren für solche Arzneimittel durchlaufen, n die einen neuen Wirkstoff enthalten, der bei Inkrafttreten der Verordnung in keinem der EU-Mitgliedstaaten zugelassen war, n die in therapeutischer, wissenschaftlicher oder technischer Hinsicht eine bedeutende Innovation gegenüber den etablierten Arzneimitteln darstellen oder n deren Zulassung auf Gemeinschaftsebene dem Interesse der Patienten oder der Tiergesundheit dient. Die Hersteller dieser Arzneimittel können stattdessen aber auch eine nationalrechtliche Zulassung oder eine Genehmigung für das Inverkehrbringen in mehreren Mitgliedstaaten im dezentralisierten Verfahren oder im Wege der gegenseitigen Anerkennung beantragen. Ihnen ist insofern Wahlfreiheit eingeräumt.118 b) Materielle Anforderungen für die Genehmigung des Inverkehrbringens 73

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Die Voraussetzungen der Arzneimittelzulassung sind nicht positiv formuliert. Vielmehr gibt Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004 vor, in welchen Fällen die Genehmigung für das Inverkehrbringen zu versagen ist. Nach dieser Norm müssen die vom Antragsteller einzureichenden Unterlagen die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels belegen. Erbringt der Antragsteller diesen Nachweis nicht angemessen oder nicht ausreichend, wird die Genehmigung versagt. Gleiches gilt, wenn die Antragsunterlagen unvollständig oder unrichtig sind. Nach dem 14. Erwägungsgrund der VO (EG) Nr. 726/2004 sollen die in der RL 2001/83/EG verankerten Kriterien der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit auf alle in der Union zugelassenen Arzneimittel einheitlich Anwendung finden. Da diese Begriffe in der Arzneimittelverordnung keine eigene Definition erfahren haben, ist auf die näheren Bestimmungen des Arzneimittelkodex zurückzugreifen, um die Versagungsgründe im zentralisierten Verfahren zu klären. Gem. Art. 26 Abs. 1 RL 2001/83/EG wird die Genehmigung für das Inverkehrbringen nicht erteilt, wenn das Arzneimittel ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweist, wenn seine therapeutische Wirksamkeit vom Antragsteller nicht hinreichend begründet worden ist oder wenn das Arzneimittel tatsächlich – quantitativ oder qualitativ – anders zusammengesetzt ist als in den Antragsunterlagen angegeben. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis beschreibt nach Art. 1 Nr. 28 RL 2001/83/EG die Relation zwischen den positiven therapeutischen Wirkungen, die das Arzneimittel im Hinblick auf seine Qualität, Sicherheit oder Wirksamkeit im Vergleich zu seiner Gefahr für die Gesundheit des Patienten, die öffentliche Gesundheit oder unerwünschte Auswirkungen auf die Umwelt119 aufweist. Es ist folglich abzuwägen, ob die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch des Arzneimittels eintretenden Nebenwirkungen vertretbar sind. In die Einschät116 Janda, S. 243; ausführlich Friese/Jentges/Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 169 ff. 117 Sogenannte Orphan Drugs, s. VO (EG) 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. L 18, 1. 118 Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 41. 119 Die Umweltschädlichkeit (Ökotoxizität) bildet jedoch keinen Versagungsgrund für die Marktzulassung, dazu ausführlich Kern DVBl. 2005, 153 (154 f.).

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zung hat auch der Umstand einzufließen, ob das Arzneimittel verschreibungspflichtig ist und folglich unter ärztlicher Kontrolle und Anweisung oder als nichtverschreibungspflichtiges Arzneimittel zur Selbstmedikation abgegeben werden kann.120 Die therapeutische Wirksamkeit fehlt gem. Art. 116 UAbs. 1 S. 2 RL 2001/83/EG, wenn 77 feststeht, dass mit dem Arzneimittel für die vorgesehenen Indikationen121 keinerlei therapeutische Erfolge erzielt werden können. Die von den Antragsunterlagen abweichende Zusammensetzung des Arzneimittels, die 78 eine Versagung der Genehmigung erlaubt, bezieht sich nicht nur auf die pharmakologisch wirksamen Inhaltsstoffe, sondern schließt Hilfsstoffe wie Aromen, Farbstoffe, Konservierungsmittel oder die Bestandteile zur Herstellung der äußeren Form (Kapseln, Umhüllungen) ein.122 c) Klinische Prüfung von Arzneimitteln Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln werden in klinischen Studien un- 79 tersucht. Sie schließen sich an Labor- und Tierversuche an und dienen dem Nachweis der Wirkung des Arzneimittels im menschlichen Organismus. Das Studiendesign, -protokoll und die Studienergebnisse sind den Antragsunterlagen im Genehmigungsverfahren zur Marktzulassung beizufügen. aa) Anforderungen an die klinische Prüfung Die Voraussetzungen für und die Anforderungen an die Durchführung klinischer Studien 80 sind mit der VO (EU) 536/2014123 vereinheitlicht worden.124 Damit wird ein race to the bottom in den Sicherheitsstandards zulasten der Studienteilnehmer vermieden. Denn aus Sicht der Mitgliedstaaten ist es im Interesse ihrer Profilierung als Standort für Wissenschaft und Forschung attraktiv, wenn auf ihrem Territorium möglichst viele klinische Studien durchgeführt werden. Besonders hohe Auflagen in einzelnen Staaten würden die ohnehin immensen Kosten der Studien erhöhen und könnten pharmazeutische Unternehmen dazu veranlassen, ihre Forschungsaktivitäten in Staaten mit geringem Schutzniveau zu verlagern. Diesen Effekt verhindern die unionsrechtlichen Vorgaben. Nach Art. 3 VO (EU) 536/2014 darf eine klinische Prüfung nur durchgeführt werden, 81 wenn die Rechte, die Sicherheit, die Würde und das Wohl der Probanden und Patienten im Rahmen der Prüfung geschützt werden und Vorrang vor allen sonstigen Interessen haben. Die absehbaren Risiken der Studienteilnahme müssen daher im Verhältnis zum erwarteten therapeutischen Nutzen des Arzneimittels vertretbar sein. Zudem muss die Prüfung so konzipiert sein, dass sie geeignet ist, zuverlässige und belastbare Daten zu liefern. Art. 28 Abs. 1 lit. e) VO (EU) 536/2014 verlangt darüber hinaus, dass die Studienteilnahme mit wenig Schmerzen, Beschwerden, Angst und allen anderen vorhersehbaren Risiken für die Prüfungsteilnehmer verbunden ist. Ob dies der Fall ist, muss von den Verantwortlichen regelmäßig überwacht werden.125

120 121 122 123

Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 26. Lorenz, S. 168. Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 31. VO (EU) Nr. 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl. 2016 Nr. L 311, 25. 124 Vgl. dazu den Überblick bei Dienemann/Wachenhausen PharmR 2014, 452; Jansen MedR 2016, 417 ff.; Lippert MedR 2016, 773 ff. 125 Ausführlich zu den Dokumentationsanforderungen Friese/Jentges/Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 239 ff.

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82 Studienteilnehmer bzw. im Falle der Einwilligungsunfähigkeit oder Minderjährigkeit deren gesetzliche Vertreter sind umfassend und detailliert über das Ziel der klinischen Prüfung, die erwarteten Wirkungen des Arzneimittels und die mit dessen Anwendung einhergehenden Risiken und Nebenwirkungen aufzuklären, Art. 28 ff. VO (EU) 536/2014. Ihnen muss jederzeit das Recht zum Abbruch der Studienteilnahme ohne Angabe von Gründen eingeräumt sein, Art. 28 Abs. 3 VO (EU) 536/2014. Der dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechende Prüfplan muss überdies vor Beginn der Studie von einer unabhängigen Ethikkommission zustimmend bewertet und von der nach nationalem Recht zuständigen Behörde genehmigt worden sein, Art. 4 VO (EU) 536/2014.126 bb) Spezielle Vorgaben für Kinderarzneimittel 83 Wirksamkeit und Sicherheit sind auch vor dem Inverkehrbringen von Kinderarzneimitteln nachzuweisen. Entsprechende Regelungen sind mit der VO (EG) Nr. 1901/2006127 etabliert worden. Zuvor waren Kinder in vielen Fällen im Rahmen des off-label use (→ Rn. 149) mit Arzneimitteln behandelt worden, die lediglich zur Anwendung an Erwachsenen zugelassen und ausschließlich an diesen getestet worden waren.128 Um den damit einhergehenden Gefahren durch unzureichende Dosierung oder eine vom erwachsenen Körper unterschiedliche Aufnahme und Wirkung des Medikaments im kindlichen Körper vorzubeugen, sind seither die klinischen Prüfungen auch für pädiatrische Arzneimittel Standard. 84 Die Schwierigkeiten für die Durchführung derartiger Studien liegen auf der Hand: Zum einen werden sich nur selten Probanden und Patienten in hinreichender Zahl rekrutieren lassen, die einen statistisch validen Rückschluss auf Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels erlauben. Zum anderen können Kinder selbst nicht in ihre Studienteilnahme einwilligen. Die Einwilligung der Sorgeberechtigten129 ist aber gerade in emotional schwierigen Situationen wie der schweren oder gar tödlichen Erkrankung des eigenen Kindes womöglich nur schwer zu erhalten. Für die Teilnahme minderjähriger Patienten und Probanden an Arzneimittelstudien gibt Art. 32 VO (EU) 536/2014 vor, dass deren gesetzliche Vertreter nach umfassender Aufklärung ihre Einwilligung erteilt haben und dass auch dem Kind bzw. Jugendlichen entsprechend seinem Verständnis und Entwicklungsstand alle Informationen über die Risiken und Vorteile der Studie vermittelt werden. Ihr Selbstbestimmungsrecht ist zu „respektieren“,130 dh selbst im Falle der Einwilligung der gesetzlichen Vertreter darf der Minderjährige die Teilnahme an der klinischen Studie verweigern oder jederzeit abbrechen. Schließlich muss die Studienteilname einen direkten individuellen Nutzen für den minderjährigen Patienten selbst oder aber einen Nutzen für die Gruppe von Patienten mit sich bringen, der der Minderjährige angehört. Dieser Nutzen muss die Risiken und Belastungen überwiegen, dh im Vergleich zur Standardbehandlung seiner Erkrankung darf die klinische Prüfung mit einem lediglich minimalen Risiko und minimalen Belastungen einhergehen, 32 Abs. 1 lit. g) VO (EU) 536/2014.

126 Detailliert Shorthose in Shorthose, S. 127 ff.; Deutsch/Spickhoff, Rn. 1688 ff. 127 Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über Kinderarzneimittel, ABl. L 378 v. 27.12.2006, 1. 128 Nach Schätzungen sind weniger als die Hälfte der bei Kindern angewandten Arzneimittel für Kinder zugelassen, Shorthose/Evans in Shorthose, S. 281; Litz, Off-Label-Use von Arzneimitteln – von der Produkt- zur Dienstleistungssicherheit, S. 131. 129 Umfassend Brückner, Das medizinische Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger, Marburg 2014 (passim). 130 Kritisch zu dieser Formulierung, da sie das Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen relativiere, Jansen MedR 2016, 417 (420).

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Um einen Anreiz für die Forschung und Entwicklung von Kinderarzneimitteln zu setzen, 85 ist in Art. 30 VO (EG) Nr. 1901/2006 eine spezielle Genehmigung für die pädiatrische Verwendung etabliert worden.131 Weitere Anreize sind in Art. 36 ff. VO (EG) Nr. 1901/2006 vorgesehen. Diese reichen von einer Verlängerung der patentrechtlichen Schutzfristen bis zur Gewährung von Forschungsbeihilfen. Klinische Studien mit Kindern dürfen erst durchgeführt werden, wenn die Phase-1-Studien 86 mit Erwachsenen abgeschlossen sind.132 Zudem ist dem Pädiatrischen Ausschuss der EMA ein detaillierter Prüfplan vorzulegen. Dieser muss ua erkennen lassen, wie den spezifischen Bedürfnissen von Kindern im Rahmen der Studie Rechnung getragen wird. Der Pädiatrische Ausschuss prüft lediglich das vorgelegte Forschungskonzept. Über die Marktzulassung des Medikaments entscheidet die Kommission nach einer Bewertung durch den Ausschuss für Humanarzneimittel, Art. 7 ff. VO (EG) Nr. 1901/2006. cc) Ausnahmen vom Erfordernis der klinischen Prüfung Unter den Voraussetzungen der Art. 10 ff. RL 2001/83/EG kann im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens von einer klinischen Prüfung eines Arzneimittels abgesehen und die Prüfberichte anderer Arzneimittelstudien beigezogen werden. Dies setzt voraus, dass mit den bereits vorhandenen Daten exakt das gleiche Ergebnis bewiesen werden kann, welches Gegenstand einer neuerlich durchzuführenden Studie wäre. Solche Doppelstudien sind nicht zuletzt aus ethischen Gründen zu vermeiden.133 Da es sich um Ausnahmen vom Gebot der Vollzulassung handelt, müssen sämtliche für die einzelnen Verfahrensarten enumerierten Voraussetzungen vorliegen.134 Ein solches verkürztes Verfahren kommt bei der Zulassung eines Generikums (→ Rn. 108 ff.) eines Referenzarzneimittels zur Anwendung, das seit mindestens acht Jahren für das Inverkehrbringen genehmigt ist, Art. 10 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2001/83/EG. Gleiches gilt nach Art. 10 a RL 2001/83/EG, wenn die Wirkstoffe des Arzneimittels seit mindestens zehn Jahren innerhalb der EU allgemein medizinisch verwendet werden, ihre Wirksamkeit anerkannt und ihre Sicherheit nachgewiesen ist. Die mit der Entwicklung solcher Arzneimittel einhergehende Innovation ist daher beschränkt und bezieht sich vor allem auf die Erweiterung der bislang angezeigten Indikationen.135 Statt eigener klinischer Prüfungen muss der Antragsteller in diesen Fällen nur noch einschlägige wissenschaftliche Veröffentlichungen vorlegen, die vollumfänglich und ohne Zweifel136 Aufschluss über die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit des Wirkstoffes geben. Die Anforderungen an diese sogenannte bibliografische Zulassung137 werden in Teil II des Anhangs I der Richtlinie präzisiert. Die Beurteilung der allgemeinen Verwendung der Wirkstoffe muss daher sowohl den zeitlichen Rahmen über mindestens ein Jahrzehnt138 als auch die quantitativen Ausmaße der Anwendung und deren wissenschaftliche Bewertung berücksichtigen. 131 Shorthose/Evans in Shorthose, S. 294. 132 Das Medikament muss also bereits an 10–15 gesunden Probanden getestet worden sein. Zu den Studienphasen Janda, S. 246; Meier/v. Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, S. 37 ff.; Friese/Jentges/ Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 721 ff. 133 Hiemstra in Shorthose, S. 214. Dazu auch EuGH 29.4.2004 – C-106/01, ECLI:EU:C:2004:245 – Novartis Pharmaceuticals; EuGH 18.6.2009 – C-527/07, ECLI:EU:C:2009:379 – Generics. 134 Ambrosius in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 165. 135 Schraitle in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 132. 136 EuGH 5.10.1995 – C-440/93, ECLI:EU:C:1995:307 – Scotia Pharmaceuticals. 137 Gassner GRUR Int 2004, 983 (985). 138 Seit dem erstmaligen nachgewiesenen systematischen Gebrauch der Substanz zu medizinischen Zwecken, Hiemstra in Shorthose, S. 217.

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91 Entbehrlich sind neuerliche Studien auch in den Fällen, in denen der Inhaber der Genehmigung zum Inverkehrbringen eines Arzneimittels seine Einwilligung in die Verwendung seiner Studiendaten durch einen Dritten erteilt, Art. 10 c RL 2001/83/EG. Voraussetzung ist wiederum die Identität der Zusammensetzung in qualitativer und quantitativer Hinsicht sowie der Darreichungsform. d) Gang des Verfahrens 92 Antragsberechtigt im zentralisierten Verfahren sind sowohl natürliche als auch juristische Personen oder Personenverbände, 139 die ihre Niederlassung in einem EU-Mitgliedstaat haben, Art. 2 UAbs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004. 93 Für die einzureichenden Antragsunterlagen verweist Art. 6 VO (EG) Nr. 726/2004 auf den Arzneimittelkodex. Nach Art. 8 Abs. 3 RL 2001/83/EG hat der Hersteller neben dem Namen, unter dem das Arzneimittel europaweit vertrieben werden soll,140 Angaben über die Zusammensetzung des Arzneimittels, das Herstellungsverfahren, Indikation und Darreichungsform, Gegenanzeigen und Nebenwirkungen zu machen. Er hat ferner die Ergebnisse pharmazeutischer, vorklinischer und klinischer Studien vorzulegen, in denen das Arzneimittel auf seine Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit geprüft worden ist. 94 Der Ausschuss für Humanarzneimittel erstellt innerhalb von 210 Tagen nach der Antragstellung ein Gutachten, in dem die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels anhand der vom Antragsteller eingereichten Unterlagen begutachtet werden, Art. 6, 12 VO (EG) 726/2004. Der Antragsteller ist nach Art. 9 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004 berechtigt, binnen 15 Tagen um Überprüfung des Gutachtens zu ersuchen.141 Die Überprüfung der Entscheidung wird wiederum durch den Ausschuss für Humanarzneimittel vorgenommen, was zu Zweifeln an der Neutralität des Widerspruchsverfahrens und der Forderung nach Etablierung einer unabhängigen Rechtsmittelinstanz geführt hat.142 95 Zur endgültigen Entscheidung über die Erteilung oder Verweigerung der Zulassung ist die Kommission berufen, Art. 10 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004. Die Entscheidung ist gem. Art. 13 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004 „für die gesamte Gemeinschaft gültig“. Die nach nationalem Recht zuständigen Behörden treffen demzufolge keine eigene Entscheidung.143 Vielmehr handelt es sich bei der im zentralisierten Verfahren erteilten Genehmigung oder deren Versagung um einen Beschluss iSv Art. 288 Abs. 4 AEUV.144 96 Die Genehmigung wird im Amtsblatt der EU veröffentlicht, das Medikament wird in das Europäische Arzneimittelregister aufgenommen, Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004. Dem Inhaber ist damit das Inverkehrbringen des Arzneimittels in allen Mitgliedstaaten zu gleichen Bedingungen gestattet. Dementsprechend hat ihre Versagung ein gemeinschaftsweites Verbot des Inverkehrbringens dieses Arzneimittels zur Folge, Art. 12 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004. 97 In den EWR-Staaten entfaltet die zentralisierte Zulassung keine Wirkung, obwohl Vertreter dieser Staaten im Ausschuss für Humanarzneimittel vertreten sind. Es bedarf vielmehr

139 Lorenz, S. 148. 140 Zu den Anforderungen an die Arzneimittelbezeichnung ausführlich König/Müller PharmR 2000, 148 (154 f.). 141 Im Einzelnen zu den Verfahrensphasen Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 80 ff. 142 Vgl. nur Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (152). 143 Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (14); Lippert in Ratzel/Luxenburger § 31 Rn. 75. 144 Entsprechend zur Rechtslage nach Art. 249 EG („Entscheidung“) Winter, S. 96 f., sowie Blattner PharmR 2002, 277 (277).

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einer Umsetzung der Kommissionsentscheidung durch die nach nationalem Recht zuständigen Behörden.145 Die Geltungsdauer der Genehmigung erstreckt sich zunächst auf fünf Jahre; sie kann auf 98 Antrag verlängert werden. Der Entscheidung über die Verlängerung der Genehmigung geht eine erneute Bewertung des Arzneimittels im Hinblick auf seine Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit voraus, Art. 14 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004. Wird das Arzneimittel nicht innerhalb von drei Jahren nach Erteilung der Genehmigung in Verkehr gebracht, führt dies gem. Art. 14 Abs. 5 VO (EG) Nr. 726/2004 zum Erlöschen der Genehmigung. Ist die Genehmigung versagt worden, ist dem pharmazeutischen Unternehmer der Weg zu 99 den nationalen Behörden versperrt. Es ist daher selbst beim fakultativ durchgeführten zentralisierten Verfahren nicht möglich, dort einen neuerlichen Zulassungsantrag zu stellen.146 Dem Antragsteller steht jedoch der Klageweg zum Gericht erster Instanz (EuG) offen, Art. 263, 256 AEUV.147 4. Dezentrales Verfahren Das dezentrale Verfahren achtet die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Zulassung von Arzneimitteln, trägt aber zugleich den Interessen des Binnenmarktes Rechnung. Unterschiede in der nationalrechtlichen Beurteilung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen werden im Rahmen unionsrechtlich geregelter Konfliktlösungsregeln moderiert und ausgeglichen, sodass die einzelstaatlichen Verwaltungsverfahren im Mehrebenensystem verknüpft sind.148 Im dezentralen Verfahren stellt der pharmazeutische Unternehmer einen Antrag auf Genehmigung des Inverkehrbringens bei der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates. Diese hat ein eigenständiges Prüfungsrecht.149 Am Ende des Verfahrens steht folglich eine einzelstaatliche Entscheidung, die freilich durch die im Arzneimittelkodex harmonisierten Anforderungen an den Zulassungsantrag und an den Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit determiniert ist. Die Entscheidung der nationalen Behörde ist auf das Territorium ihres Staates begrenzt. Soll das Arzneimittel europaweit auf den Markt gebracht werden, muss die Genehmigung folglich auch im dezentralen Verfahren gleichzeitig in mehreren Mitgliedstaaten beantragt werden.150 Das Verfahren ist aber im Interesse der Erleichterung des gemeinschaftsweiten Inverkehrbringens vereinfacht. Zwar sind in allen Mitgliedstaaten Antragsunterlagen einzureichen. Der Antragsteller bestimmt jedoch einen Mitgliedstaat als Referenzmitgliedstaat und ersucht diesen um Erstellung eines Beurteilungsberichts. Dieser ist von den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen, Art. 28 Abs. 3, Abs. 4 RL 2001/83/EG. Ist einer der beteiligten Staaten der Auffassung, dass die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen des Arzneimittels nicht vorliegen, darf er den Beurteilungsbericht ablehnen.151 Die Anerkennung des Beurteilungsberichts bewirkt die Erlaubnis zum Inverkehrbringen des Arzneimittels in allen beteiligten Staaten. Um zu vermeiden, dass das dezentrale Verfahren als Möglichkeit zum Unterlaufen höherer Sicherheitsstandards außerhalb des Referenzstaats (race to the bottom) genutzt

145 146 147 148 149 150 151

Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 77. Kleist PharmaR 1998, 192 (194); Lorenz, S. 154; Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (151). Janda, S. 244. Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 10. Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 4. Janda, S. 244; Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (15). EuGH 14.3.2018 – C-557/16, ECLI:C:EU:2018:181 – Korkein hallinto-oikeus / Astellas Pharma.

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wird,152 sind den beteiligten Mitgliedstaaten Interventionsmöglichkeiten eingeräumt. Erkennt ein Mitgliedstaat die Zulassungsentscheidung des Referenzmitgliedstaats nicht an, kann er seine Bedenken – die sich ausschließlich auf Gründe potenziell schwerwiegender Gefahren für die Gesundheit stützen dürfen153 – innerhalb von 90 Tagen geltend machen, Art. 29 Abs. 1 RL 2001/83/EG. 105 Innerhalb weiterer 60 Tage sollen die am Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten unter Vermittlung einer Koordinierungsgruppe154 eine Einigung darüber treffen, welche Maßnahmen den vorgetragenen Bedenken abhelfen können. Kommt die Einigung nicht zustande, ist die EMA zu informieren. Diese ersucht den Ausschuss für Humanarzneimittel um eine Stellungnahme, auf deren Grundlage die Kommission eine endgültige Entscheidung trifft, Art. 29 Abs. 4, 34 Abs. 1 RL 2001/83/EG. Die Entscheidung der Kommission ist verbindlich: Alle beteiligten Mitgliedstaaten einschließlich des Referenzmitgliedstaats haben diese durch Erteilung der verweigerten bzw. Widerruf der zu Unrecht erteilten Zulassung binnen 30 Tagen umzusetzen, Art. 34 Abs. 3 RL 2001/38/EG. Bis dahin darf der Hersteller auf Antrag das Arzneimittel zumindest in den Mitgliedstaaten in Verkehr bringen, die keine Bedenken gegen dessen Zulassung geltend gemacht haben, Art. 29 Abs. 3, Abs. 6 RL 2001/83/EG. 5. Verfahren der gegenseitigen Anerkennung 106 Während im dezentralisierten Verfahren gleichzeitig in mehreren Staaten eine Genehmigung für das Inverkehrbringen beantragt wird, dient das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung dazu, eine bereits erteilte einzelstaatliche Genehmigung durch einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten anzuerkennen.155 Beide Verfahren folgen weitgehend identischen Regeln.156 Im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung fungiert der Staat der Erstzulassung als Referenzstaat, dessen Beurteilungsbericht von den anderen Mitgliedstaaten zustimmend zu bewerten ist, Art. 28 Abs. 2 RL 2001/83/EG. 107 Die gegenseitige Anerkennung der nationalen Zulassungsentscheidungen ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Cassis de Dijon-Rechtsprechung des EuGH geboten: Danach darf der Vertrieb eines in einem Mitgliedstaat zulässigerweise auf dem Markt befindlichen Produkts in anderen Mitgliedstaaten nicht unterbunden werden, selbst wenn das nationale Recht unterschiedliche Anforderungen an die Herstellung des Produkts stellt.157 Wäre also für die Verkehrsfähigkeit eines in einem Mitgliedstaat genehmigten Arzneimittels in anderen Mitgliedstaaten ein vollständiges Verfahren mit dem Risiko abweichender Entscheidungen zu durchlaufen, würde die Warenverkehrsfreiheit verletzt. Art. 36 AEUV erlaubt Beschränkungen des freien Warenverkehrs jedoch nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, namentlich zum Schutz des Lebens und der Gesundheit. Angesichts des wegen der harmonisierten Versagungsgründe für die Verkehrsgenehmigung ein-

152 Koenig/Müller PharmR 2000, 148 (156). 153 Vgl. auch EuG 26.11.2002 – T-74/00, ECLI:EU:T:2006:286 – Artegodan/Kommission; Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (17); Lorenz, S. 300; dazu ausführlich Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 51. 154 Diese setzt sich aus je einem Vertreter aller Mitgliedstaaten zusammen, Art. 27 RL 2001/38/EG. 155 Janda, S. 245. 156 Lippert in Ratzel/Luxenburger Handbuch Medizinrecht § 31 Rn. 80 ff.; König/Müller PharmaR 2000, 148 (149); Friese/Jentges/Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 113. Eingehend zum Ablauf des Verfahrens Friese in Dieners/Reese § 5 Rn. 168 ff. 157 EuGH 20.2.1979 – C-120/78, ECLI:EU:C:1979:42 – Rewe-Zentral – „Cassis de Dijon“. Vgl. auch Plagemann/Forch DVBl. 1979, 254 (258); Winter, S. 45.

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heitlichen Schutzniveaus in allen Mitgliedstaaten drohen jedoch keine solchen Gefahren.158 6. Genehmigung von Generika Die sehr hohen Kosten für die Entwicklung von Medikamenten machen es für pharmazeutische Unternehmer attraktiv, etablierte Arzneimittel nachzuahmen und als Generikum (auch: Imitationsarzneimittel, Analogpräparat, Nachahmerpräparat) auf den Markt zu bringen. Sie sparen dadurch die Forschungskosten ein, nehmen aber Anteil an den durch die Bekanntheit und Bewährtheit des Originalpräparats erschlossenen Absatzmöglichkeiten. Wird die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Generikums beantragt, können im Rahmen eines verkürzten Verfahrens die Antragsunterlagen des Originalpräparats beigezogen werden. Der Hersteller des Generikums hat folglich keine eigenen klinischen Studien durchzuführen, Art. 10 Abs. 1 iVm Art. 8 Abs. 3 lit. i RL 2001/83/EG. Dies setzt einerseits voraus, dass für das Referenzarzneimittel ein vollständiges Genehmigungsverfahren durchlaufen worden ist. Ein Generikum darf also nicht seinerseits ein Analogpräparat nachahmen. Damit wird sichergestellt, dass bei der zuständigen Behörde hinreichende Nachweise für die Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels erbracht werden.159 Der Nachweis der Sicherheit und Wirksamkeit des Originalpräparats muss nach Auffassung des EuGH nicht zwingend durch klinische Studien gemäß Art. 8 Abs. 3 RL 2001/83/EG nachgewiesen werden. Ein taugliches Referenzarzneimittel liegt auch dann vor, wenn nach Maßgabe des Art. 10 a RL 2001/83/EG von der Vorlage von Studienergebnissen abgesehen werden kann, weil die Wirkstoffe des Originalpräparats für mindestens zehn Jahre in der Gemeinschaft allgemein medizinisch verwendet wurden und eine anerkannte Wirksamkeit sowie einen annehmbaren Grad an Sicherheit aufweisen. In diesen Fällen wird die Studienlage durch eine umfassende wissenschaftliche Dokumentation der Anwendung ersetzt, sodass den Zulassungsbehörden gleichermaßen alle notwendigen Unterlagen zur Beurteilung der Sicherheit und Wirksamkeit für das Inverkehrbringen des Referenzarzneimittels vorgelegen haben.160 In jedem Fall muss der Nachweis erbracht werden, dass das Generikum mit dem Original, auf dessen Unterlagen Bezug genommen wird, identisch ist.

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a) Begriffsbestimmung Ein Generikum weist qualitativ und quantitativ die gleichen Wirkstoffe161 wie ein soge- 112 nanntes Referenzarzneimittel (i.e. das Originalpräparat) auf. Seine Bioäquivalenz, die Verfügbarkeit seiner Wirkstoffe im menschlichen Organismus, muss durch aussagekräftige Studien nachgewiesen worden sein, Art. 10 Abs. 2 lit. b RL 2001/83/EG. Beide Präparate müssen also im Hinblick auf die Sicherheit und Wirksamkeit übereinstimmen. Sind diese 158 Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 9. Vgl. EuGH 17.12.1981 – C-272/80, ECLI:EU:C:1981:312 – Frans-Nederlandse Maatschappij – sowie EuGH 15.7.2004 – C-443/02, ECLI:EU:C:2004:453 – Schreiber – zu den nichtharmonisierten Zulassungsbedingungen für Schädlingsbekämpfungsmittel. 159 EuGH 18.6.2009 – C-527/07, ECLI:EU:C:2009:379 – Generics. 160 EuGH 23.10.2014 – C-104/13, ECLI:EU:C:2014:2316 – Olainfarm; so bereits EuGH 5.10.1995 – C-440/93, ECLI:EU:C:1995:307 – Scotia Pharmaceuticals. 161 EuGH 3.12.1998 – C-368/96, ECLI:EU:C:1998:583 – Generics; EuGH 29.4.2004 – C-106/01, ECLI:EU:C:2004:245 – Novartis Pharmaceuticals; EuGH 18.6.2009 – C-527/07, ECLI:EU:C:2009:379 – Generics. Erforderlich ist lediglich eine wesensmäßige Gleichheit der Substanzen. Die Verwendung von Salzen desselben Wirkstoffs ist daher zulässig, sofern ihre Wirksamkeit oder Sicherheit aus wissenschaftlicher Sicht nicht tangiert sind, EuGH 20.1.2005 – C-74/03, ECLI:EU:C:2005:39 – Smithkline/Beecham.

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Kriterien erfüllt, kommt es nicht darauf an, ob auch die Indikationen für die Anwendung der Arzneimittel übereinstimmen.162 Das Inverkehrbringen des Referenzarzneimittels muss zudem unter Vorlage der vollständigen Antragsunterlagen nach Maßgabe der Art. 6, 8 RL 2001/83/EG genehmigt worden sein, Art. 10 Abs. 2 lit. a RL 2001/83/EG.163 Ihrer Bezeichnung nach sind Generika daran zu erkennen, dass sie über keinen eigenen Markennamen verfügen, sondern lediglich unter Angabe der Wirkstoffgattung und des Unternehmensnamens vertrieben werden.164 113 Unterschiede in der Bioäquivalenz sind bspw. durch die Dosierung und Darreichungsform des Arzneimittels bedingt. Sie muss grundsätzlich übereinstimmen.165 Aus wissenschaftlicher Sicht unerhebliche Abweichungen hat der EuGH jedoch für zulässig gehalten und ist insoweit vom Erfordernis der Bioäquivalenz abgerückt: Führe eine Abweichung in Dosierung oder Darreichungsform nicht zu einer insgesamt veränderten Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels, könne vom Erfordernis der völligen Identität von Original und Generikum abgesehen werden.166 Denn anderenfalls würden Generikahersteller daran gehindert, Originalpräparate weiterzuentwickeln.167 114 Das ohnehin schon verkürzte Genehmigungsverfahren ist dadurch erheblich erleichtert worden. Dies führt zwar zu einer größeren Anbietervielfalt auf dem Markt, kann sich aber zulasten der Verbraucher auswirken, wenn nicht nachzuweisen ist, welche Auswirkungen die unterschiedliche Bioäquivalenz auf die Sicherheit und Wirksamkeit des Generikums hat.168 Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat die Rechtsprechung des EuGH daher zum Anlass genommen, das Erfordernis der Bioäquivalenz explizit im Arzneimittelkodex zu verankern. Fehlt diese, hat der Generikahersteller die Ergebnisse vorklinischer oder klinischer Studien vorzulegen, vgl. Art. 10 Abs. 3 RL 2001/83/EG. b) Patentrechtliche Fragen 115 Freilich steht es dem Originalhersteller frei, Dritten seine Erkenntnisse aus klinischen Studien zum Zwecke der gemeinsamen Vermarktung des Arzneimittels zu überlassen, Art. 10 c RL 2001/83/EG.169 Typischerweise wird er jedoch sein geistiges Eigentum nicht ohne Weiteres mit Dritten teilen. Denn der Originalhersteller hat ein Interesse an der Alleinvermarktung des neuen Präparats, damit sich aus dessen wirtschaftlicher Verwertung die Kosten für Forschung und Entwicklung amortisieren.170 116 Diesem Interesse trägt das Patentrecht Rechnung: Während der – üblicherweise zwanzigjährigen – Laufzeit des Patentschutzes hat der Originalhersteller das exklusive Recht zur Vermarktung des Arzneimittels.171 Danach tritt er in Wettbewerb mit den Herstellern von Generika. Effektiv besteht der Patentschutz über einen weitaus kürzeren Zeitraum, da die Patente regelmäßig weit vor der Marktzulassung beantragt werden, sobald ein Wirkstoff

162 EuGH 3.12.1998 – C-368/96, ECLI:EU:C:1998:583 – Generics. 163 Das Referenzarzneimittel muss nicht notwendig in Verkehr sein. Es reicht aus, wenn dessen Verkehrsgenehmigung im Zeitpunkt der Antragstellung für die Genehmigung des Generikums wirksam ist, EuGH 16.10.2003 – C-223/01, ECLI:EU:C:2003:546 – Astra Zeneca. 164 Schraitle in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 73. 165 EuGH 29.4.2004 – C-106/01, ECLI:EU:C:2004:245 – Novartis Pharmaceuticals. 166 EuGH 18.6.2009 – C-527/07, ECLI:EU:C:2009:379 – Generics. 167 EuGH 29.4.2004 – C-106/01, ECLI:EU:C:2004:245 – Novartis Pharmaceuticals. 168 Gassner GRUR Int 2004, 983 (987). 169 Ambrosius in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 172 f.; Gassner GRUR Int 2004, 983 (985). 170 Janda, S. 250 f. mwN. 171 Hufnagel PharmR 2003, 267 (267).

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entwickelt worden ist. Der Konkurrentenschutz für den Vertrieb besteht daher faktisch meistens nur über zehn oder weniger Jahre.172 Dieser aus Sicht der Originalhersteller unbefriedigende Zustand kann durch Beantragung 117 eines ergänzenden Schutzzertifikats nach Maßgabe der Art. 3 ff. VO (EG) Nr. 469/2009173 überwunden werden. Mit diesem kann der Patentschutz um maximal weitere fünf Jahre verlängert werden, sofern seit der ersten Zulassung des aus dem patentierten Wirkstoff gefertigten Arzneimittels noch keine 15 Jahre vergangen sind, Art. 13 Abs. 2 VO (EG) 469/2009. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist bei der Bestimmung des Zeitpunkts der ersten Zulassung nicht auf das Datum der Zulassungsentscheidung, sondern auf den Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe gegenüber dem Adressaten abzustellen.174 In sachlicher Hinsicht bezieht sich das ergänzende Schutzzertifikat auf die patentierte 118 Grundsubstanz insgesamt: Schutzzertifikat und Grundpatent sind strikt akzessorisch.175 Erstreckt sich also das Patent auf eine bestimmte Substanz einschließlich ihrer dort bereits angegebenen Derivate, muss das ergänzende Schutzzertifikat auch den Stoff und seine im Patent angelegten Abwandlungen umfassen.176 Darauf, ob das für das Inverkehrbringen genehmigte Arzneimittel diese Abwandlung selbst aufweist, kommt es nicht an. Es ist einem anderen Unternehmen damit auch verwehrt, ein Arzneimittel auf den Markt zu bringen, welches nicht vollständig identisch mit dem zugelassenen Arzneimittel ist, wenn es im Grundpatent angelegte Derivate verwenden will.177 Wird dagegen ein alter Wirkstoff neu formuliert, kann die ursprüngliche Genehmigung aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht herangezogen werden.178 Besteht das neue Arzneimittel aus mehreren Wirkstoffen, die ihre Wirkung gerade in der Kombination erzielen, so ist dieses von dem Grundpatent geschützt, wenn sich dieses gerade auf die Kombination der Wirkstoffe erstreckt. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass jeder der Wirkstoffe in den Unterlagen zum Grundpatent eindeutig identifizierbar ist und die Wirkstoffkombination denknotwendig von der patentierten Formel erfasst ist. Es komme dann nicht darauf an, dass die Kombination der Wirkstoffe im Grundpatent ausdrücklich erwähnt wird.179 c) Verkürztes Genehmigungsverfahren Die Beiziehung der Unterlagen zum Nachweis der Sicherheit und Wirksamkeit des Origi- 119 nalpräparats kommt im verkürzten Genehmigungsverfahren auch ohne Zustimmung des Originalherstellers in Betracht. Dies setzt nach Art. 10 Abs. 1 RL 2001/83/EG voraus, dass das Referenzarzneimittel seit mindestens acht Jahren in einem Mitgliedstaat oder in der Gemeinschaft zugelassen ist. Das Generikum darf jedoch frühestens zehn Jahre nach der Zulassung des Originalpräparats in Verkehr gebracht werden. Zwischen der erstmaligen Möglichkeit der Antragstellung auf Genehmigung des Generikums und dessen Inver-

172 Lorenz, S. 188; Hufnagel PharmR 2003, 267 (267 f.); Gassner GRUR Int 2004, 983 (983). 173 Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.5.2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel, ABl. L 152 v. 16.6.2009, 1. 174 EuGH 6.10.2015 – C-471/14, ECLI:EU:C:2015:659 – Seattle Genetics; EuGH 20.12.2017 – C-492/16, ECLI:EU:C:2017:995 – Incyte Corporation. 175 Gassner GRUR Int 2004, 983 (983); Noeske-Jungblut in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 30 Rn. 143. 176 EuGH 16.9.1999 – C-392/97, ECLI:EU:C:1999:416 – Farmitalia. 177 Hufnagel PharmR 2003, 267 (268). Zur Zulässigkeit der Kombination patentierter Wirkstoffe Gassner PharmR 2011, 361. 178 EuGH 21.03.2019 – C-443/17, ECLI:EU:C:2019:238 - Abraxis Bioscience LLC. 179 EuGH 25.7.2018 – C-121/17, ECLI:EU:C:2018:585 – Teva UK Ltd.

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§ 9 Arzneimittelrecht kehrbringen besteht mithin eine zweijährige Wartefrist.180 Der Ablauf der Schutzfrist ist eine konstitutive Voraussetzung für die Zulassung von Generika.181 Diese sogenannte „8+2“-Regelung trägt den Datenschutz- und Marketinginteressen des Originalherstellers Rechnung. Während des achtjährigen Unterlagenschutzes ist die Einsicht und Beiziehung seiner Unterlagen gesperrt.182 Danach kann ein Generika-Hersteller zwar die Zulassung seines Nachahmer-Präparats beantragen, der Originalhersteller hat jedoch für weitere zwei Jahre das exklusive Recht zur Verwertung seines Arzneimittels auf dem Markt.183 Die Regelung findet einen Kompromiss, der dem Generikahersteller kostspielige und Probanden sowie Patienten übermäßige klinische Prüfungen erspart, mit denen letztlich bekannte Ergebnisse nochmals nachgewiesen werden, und zugleich den Originalherstellern so lange Marktexklusivität einräumt, bis sich ihre Aufwendungen für die Forschung und Entwicklung des Arzneimittels weitgehend amortisiert haben.184 Wird das Referenzarzneimittel um eine neue Indikation erweitert185 oder in anderer Weise fortentwickelt, werden die Unterlagen des Herstellers für ein weiteres Jahr geschützt, Art. 10 Abs. 5 RL 2001/83/EG. Eine Indikationserweiterung liegt nicht nur vor, wenn das Arzneimittel für die Behandlung zusätzlicher Krankheitsbilder eingesetzt wird, sondern auch, wenn sich der Kreis der Anwender erweitert hat oder wenn dessen Einsatz nicht mehr allein zur Behandlung, sondern auch zur Prävention der Erkrankung beiträgt.186 Änderungen der Stärke, Darreichungsform, Verabreichungswege und Verabreichungsformen sind dagegen nicht relevant; sie sind nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 RL 2001/83/EG in die Erstgenehmigung einbezogen, sodass diese Änderungen auch keinen erneuten Lauf der Schutzfristen bewirken können.187 Die Verlängerung des Unterlagenschutzes setzt voraus, dass der Genehmigungsinhaber für das Originalpräparat bedeutende188 vorklinische oder klinische Studien durchgeführt hat, um die Fortentwicklung zu belegen. Die Sperre für das Inverkehrbringen des Generikums beträgt jedoch weiterhin zehn Jahre ab Zulassung des Referenzarzneimittels, sodass die Indikationserweiterung als solche noch keine Vorteile für die „Abwehr“ von Nachahmerpräparaten birgt. Beschert die Indikationserweiterung dem Arzneimittel indes einen bedeutenden klinischen Nutzen, verlängert sich der Unterlagenschutz auf insgesamt elf Jahre, Art. 10 Abs. 1 UAbs. 4 RL 2001/83/EG. Der Begriff des bedeutenden klinischen Nutzens ist freilich unklar. Er darf jedoch im Interesse der Entwicklung innovativer Arzneimittel nicht zu eng ausgelegt werden und ist daher bereits dann zu bejahen, wenn das neue Arzneimittel weniger Nebenwirkungen aufweist.189

180 Die gleichen Regelungen gelten gem. Art. 14 Abs. 11 VO (EG) Nr. 726/2004 für Referenzarzneimittel, die im zentralisierten Verfahren zugelassen worden sind. 181 EuGH 14.3.2018 – C-557/16, ECLI:C:EU:2018:181 – Korkein hallinto-oikeus/Astellas Pharma. 182 Zum Begriff Gassner GRUR Int 2004, 983 (984). 183 Hiemstra in Shorthose, S. 220 mwN zu Übergangs- und Ausnahmeregelungen. 184 Lorenz, S. 186 f. 185 Dazu EuGH 3.12.1998 – C-368/96, ECLI:EU:C:1998:583 – Generics. 186 Vgl. die Hinweise der Kommission (Guidance on elements required to support the significant benefit in comparison with existing therapies of a new therapeutic indication in order to benefit from an extended marketing protection period) v. 14.11.2007, abrufbar unter http://www.ema.europa.eu. 187 EuGH 28.6.2017 – C-629/15, ECLI:EU:C:2017:498 – Novartis Europharm. So auch bereits vor der entsprechenden Fassung des Arzneimittelkodex EuGH 29.4.2004 – C-106/01, ECLI:EU:C:2004:245 – Novartis Pharmaceuticals; EuGH 9.12.2004 – C-36/03, ECLI:EU:C:2004:781 – Approved Prescription Services. 188 Die Anforderungen an diese Studien sind im Arzneimittelkodex nicht näher bestimmt. 189 Gassner GRUR Int 2004, 983 (991).

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d) Drittanfechtungsrecht Die Einhaltung der in Art. 10 RL 2001/83/EG vorgesehenen Anforderungen an die Gene- 124 rikazulassung schützt den Hersteller des Originalpräparats nicht nur vor unlauterer Konkurrenz durch Nachahmerpräparate. Die Vorgaben der Richtlinie vermitteln ihm darüber hinaus iVm dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 GRC ein Drittanfechtungsrecht: Er ist befugt, die Zulassung eines Generikums anzufechten, welche den Anforderungen des Arzneimittelkodex nicht genügt, weil die patentrechtlichen Schutzfristen nicht eingehalten oder ein Arzneimittel der Generikazulassung zu Unrecht als Referenzarzneimittel zugrunde gelegt worden ist.190 7. Genehmigungsverfahren für orphan drugs Bei den sogenannten orphan drugs handelt es sich um Medikamente, die zur Diagnose, Vorbeugung oder Behandlung sehr seltener Krankheiten eingesetzt werden. Als sehr selten gelten lebensbedrohliche oder chronische Erkrankungen, die unionsweit nicht mehr als fünf von 10.000 Personen betreffen, Art. 3 Abs. 1 lit. a UAbs. 1 VO (EG) Nr. 141/2000.191 Auch die Unwirtschaftlichkeit der Entwicklung bestimmter Arzneimittel selbst – wegen der geringen Zahl von Patienten werden die Kosten für Forschung und Entwicklung unter normalen Marktbedingungen durch den Absatz kaum ausgeglichen192 – kann den Status als orphan drug begründen, Art. 3 Abs. 1 lit. a UAbs. 2 VO (EG) Nr. 141/2000. Das Unwirtschaftlichkeitskriterium bezieht sich nicht nur auf seltene Erkrankungen, sondern schließt sämtliche lebensbedrohende oder schwere chronische Krankheiten ein. In beiden Fällen darf in der Gemeinschaft noch keine zufriedenstellende Methode zugelassen sein, die eine Diagnose, Verhütung oder Behandlung der Erkrankung ermöglicht. Alternativ muss die Marktzulassung des in Rede stehenden Arzneimittels für die Patienten von erheblichem Interesse sein. Dies ist gem. Art. 3 Abs. 2 VO (EG) Nr. 847/2000193 der Fall, wenn das Arzneimittel einen klinisch relevanten Vorteil mit sich bringt oder einen bedeutenden Beitrag zur Behandlung von Patienten leistet. Der Antragsteller muss dazu einen Vergleich des neu entwickelten Arzneimittels mit bereits existierenden Behandlungsmethoden anstellen und nachweisen, dass das neue Arzneimittel dem anderen im Hinblick auf Effizienz oder Sicherheit überlegen ist.194 Beispielhaft werden die vereinfachte Anwendung, eine breitere Verfügbarkeit oder ein geringeres Risiko für Resistenzen oder Nebenwirkungen genannt.195 Ob diese Kriterien erfüllt sind, wird durch den bei der EMA eingesetzten Ausschuss für Arzneimittel für seltene Krankheiten (COMP = Committee for Orphan Medicinal Products) geprüft.196 Der Ausschuss übermittelt seine Entscheidung an die Kommission, welche eine verbindliche Entscheidung über die Marktzulassung des Arzneimittels fällt. Diese 190 EuGH 23.10.2014 – C-104/13, ECLI:EU:C:2014:2316 – Olainfarm; zustimmend Uwer/Tschammler PharmR 2015, 209 (212); EuGH 14.3.2018 – C-557/16, ECLI:C:EU:2018:181 – Korkein hallinto-oikeus/Astellas Pharma. 191 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. L 18 v. 22.1.2000, 1. 192 Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 23. 193 Verordnung (EG) Nr. 847/2000 der Kommission v. 27.4.2000 zur Festlegung von Bestimmungen für die Anwendung der Kriterien für die Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. L 103, 5. 194 Evans in Shorthose, S. 365. 195 Recommendation on elements required to support the medical plausibility and the assumption of significant benefit for an orphan designation, EMA/COMP/15893/2009, S. 7 ff. 196 Im Einzelnen sind die einzureichenden Unterlagen und die Prüfungskriterien in der VO (EG) Nr. 847/2000 der Kommission v. 27.4.2000 zur Festlegung von Bestimmungen für die Anwendung der Kriterien für die Ausweisung eines Arzneimittels als Arzneimittel für seltene Leiden und von Definitio-

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ist zwingend im zentralisierten Verfahren zu erlassen, Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004. 129 Die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung seltener Krankheiten ist aufwändig, denn für den Wirksamkeitsnachweis in klinischen Studien stehen nur wenige Patienten und Probanden zur Verfügung und auch die Absatzmöglichkeiten sind aufgrund der geringen Verbreitung nicht sehr hoch. Gleichwohl ist die Entwicklung solcher Arzneimittel notwendig und bedarf daher der Setzung von Anreizen.197 Ein wesentlicher Anreiz liegt bereits in der exklusiven Durchführung des zentralisierten Zulassungsverfahrens, der umfassenden Beratung und der Zuweisung von Fördermitteln für die Erforschung von orphan drugs, Art. 9 VO (EG) Nr. 141/2000. 130 Von weitaus größerer Bedeutung ist die Gewährung der Marktexklusivität nach Art. 8 VO (EG) Nr. 141/2000: Für einen Zeitraum von zehn Jahren ab Genehmigung eines Arzneimittels als orphan drug werden weder die Mitgliedstaaten noch die EMA Anträge für die Zulassung des Inverkehrbringens ähnlicher Arzneimittel annehmen. Als ähnliches Arzneimittel gilt in diesem Zusammenhang nur ein solches mit der gleichen Indikation198 und gleicher Wirkweise.199 Da nicht nur die Erteilung einer Zulassung für gleiche Arzneimittel, sondern bereits die Annahme entsprechender Zulassungsanträge unzulässig ist, wirken die Marktexklusivität und damit das Verwertungsmonopol des Herstellers faktisch über den Zehnjahreszeitraum hinaus.200 131 Ausnahmen von der Marktexklusivität bedürfen der ausdrücklichen Zustimmung des Genehmigungsinhabers, Art. 8 Abs. 3 lit. a VO (EG) Nr. 141/2000. Ohne diese wird die Marktexklusivität nach Maßgabe des Art. 8 Abs. 2 VO (EG) Nr. 141/2001 aufgehoben, wenn sich die Annahme der Unwirtschaftlichkeit der Entwicklung des Arzneimittels nach Ablauf von fünf Jahren nach der Gewährung des orphan drug-Status als unzutreffend erweist. Kann das Arzneimittel des Genehmigungsinhabers also rentabel vertrieben werden, steht der Zulassung ähnlicher Arzneimittel nichts entgegen.201 Gleiches gilt, wenn der Genehmigungsinhaber das Arzneimittel nicht in ausreichender Menge produziert und in Verkehr bringt oder wenn der Hersteller eines ähnlichen Arzneimittels dessen klinische Überlegenheit nachweisen kann, Art. 8 Abs. 3 lit. b, c VO (EG) Nr. 141/2000. 8. Pharmakovigilanz 132 Die Pharmakovigilanz soll die mit dem Genehmigungsverfahren begonnene Kontrolle und Überprüfung der Arzneimittelsicherheit fortsetzen. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 101 RL 2001/83/EG zur Errichtung eines Pharmakovigilanz-Systems verpflichtet, in welchem Informationen zu den Gefahren von Arzneimitteln für die – individuelle oder öffentliche – Gesundheit zusammengeführt werden. 133 Dazu sind namentlich die Nebenwirkungen zu registrieren, die bei der bestimmungsgemäßen Anwendung des Arzneimittels beobachtet werden oder Angaben über Anwendungsgebiete, die über die in der Genehmigung zugelassenen Indikationen hinausgehen. Die Mitgliedstaaten haben zu diesem Zweck sicherzustellen, dass Ärzte, Apotheker und andere Angehörige der Gesundheitsberufe entsprechende Informationen melden, Art. 102

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nen für die Begriffe „ähnliches Arzneimittel“ und „klinische Überlegenheit“, ABl. L 103 v. 28.4.2000, 5 ff. bestimmt. Evans in Shorthose, S. 355. Lorenz, S. 393. Hiltl PharmR 2001, 308 (309). Zu den spezifischen Rechtsfragen der Kollision von Patent- und Alleinvertriebsrecht Koenig/Müller GRUR Int 2000, 121. Hiltl PharmR 2001, 308 (309).

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B. Gegenstandsbeschreibung RL 2001/83/EG. Die Meldepflicht erstreckt sich auch auf Nebenwirkungen, die außerhalb der EU festgestellt worden sind, wenn in der EU eine Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels erteilt worden ist.202 Die Sammlung und Archivierung festgestellter Nebenwirkungen obliegt der EMA. Die nach nationalem Recht zuständigen Behörden sind gem. Art. 107 a RL 2001/83/EG verpflichtet, alle notwendigen Informationen an die bei der EMA eingerichtete EudraVigilance-Datenbank weiterzuleiten. Ergibt die Überwachung, dass die nach dem Inverkehrbringen festgestellten Nebenwirkungen und Risiken den Nutzen des Arzneimittels überwiegen, ist die Genehmigung für das Inverkehrbringen auszusetzen und zu widerrufen und die Abgabe des Arzneimittels an Verbraucher zu untersagen. Wirksamkeit und Sicherheit sind also gegeneinander abzuwägen.203 Die Kriterien, welche die Möglichkeit von Widerruf, Rücknahme oder Änderung der Genehmigung auslösen, sind für alle Arzneimittel gleich – unabhängig davon, welches Zulassungsverfahren sie durchlaufen haben. Nach Art. 116 RL 2001/83/EG, auf den Art. 20 VO (EG) Nr. 726/2004 verweist, ist dies der Fall, wenn das Arzneimittel schädlich ist, keine therapeutische Wirksamkeit oder ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis oder nicht die angegebene quantitative und qualitative Zusammensetzung aufweist. Die Gründe für den Widerruf oder die Rücknahme entsprechen damit den Gründen, die eine Versagung der erstmaligen Genehmigung für das Inverkehrbringen gebieten. Indes kann sich der Zeitablauf seit der Erstzulassung insofern zulasten des Genehmigungsinhabers auswirken. Denn die Behörden sind gehalten, bei der Beurteilung der Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen.204 Haben sich diese erweitert und fortentwickelt, kann das Arzneimittel in seiner zunächst genehmigten Form möglicherweise nicht länger in Verkehr gebracht werden.205 Betreffen diese Bedenken ein zentral zugelassenes Arzneimittel, darf nur die Kommission die Genehmigung für das Inverkehrbringen widerrufen, Art. 20 VO (EG) Nr. 726/2004. Eine durch nationale Behörden erteilte Genehmigung kann die Kommission jedoch nicht rechtswirksam zurücknehmen.206 Im dezentralen und im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung sind daher nur die an der Genehmigung beteiligten Mitgliedstaaten zuständig für die Durchführung des Widerrufsverfahrens, Art. 107 f UAbs. 2 RL 2001/83/EG. Jedoch wird auch dieses Verfahren auf Unionsebene moderiert, denn nach Art. 107 e RL 2001/83/EG haben die beteiligten Mitgliedstaaten in einer Koordinierungsgruppe eine einheitliche Entscheidung zu treffen. Nur in dringenden Fällen, in denen erhebliche Gefahr für die menschliche Gesundheit droht, darf ein Mitgliedstaat den Handel mit dem Arzneimittel selbstständig unterbinden. Ihn treffen gleichwohl umfassende und zeitnahe Meldepflichten an die Kommission, Art. 107 i RL 2001/83/EG.

202 Einzelheiten ergeben sich aus der Verordnung (EG) Nr. 540/95 der Kommission v. 10.3.1995 zur Festlegung der Bestimmungen für die Mitteilung von vermuteten unerwarteten, nicht schwerwiegenden Nebenwirkungen, die innerhalb oder außerhalb der Gemeinschaft festgestellt werden, ABl. L 55 v. 11.3.1995, 5. 203 EuGH – Rs. 440/01, ECLI:EU:C:2002:95 – Artegodan/Kommission; EuG 26.11.2002 – T-74/00, ECLI:EU:T:2006:286 – Artegodan/Kommission; EuG 28.1.2003 – T-147/00, ECLI:EU:T:2003:17 – Laboratoires Servier. 204 EuGH 14.2.2002 – C-440/01, ECLI:EU:C:2002:95 – Kommission/Artedogan; EuG 26.11.2002 – T-74/00, ECLI:EU:T:2006:286 – Artegodan/Kommission; EuG 28.1.2003 – T-147/00, ECLI:EU:C:2001:175 – Laboratoires Servier. 205 Lorenz, S. 358. 206 EuG 26.11.2002 – T-74/00, ECLI:EU:T:2006:286 – Artegodan/Kommission; EuG 28.1.2003 – T-147/00, ECLI:EU:C:2001:175 – Laboratoires Servier.

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V. Abgabe von Arzneimitteln 138 Die Genehmigung zum Inverkehrbringen eines Arzneimittels beinhaltet keineswegs die Berechtigung zu dessen freier Abgabe an den Verbraucher. Auch die Abgabefähigkeit, die Vertriebswege und die Preisbildung sind umfassend reguliert. 1. Etikettierung und Packungsbeilage 139 Dem Arzneimittel sind zwingend eine Umverpackung und eine Packungsbeilage beizufügen, aus der die wesentlichen Angaben über dessen Zusammensetzung, Anwendungsgebiete, Gegenanzeigen, Wechselwirkungen oder Nebenwirkungen, Anwendungs- und Dosierungshinweise sowie Sicherheitshinweise, bspw. zur Aufbewahrung oder zur Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit und das Verfallsdatum ersichtlich sind. Einzelheiten sind detailliert in Art. 54, Art. 59 RL 2001/83/EG geregelt. Angaben mit werbendem Charakter sind in diesem Zusammenhang unzulässig, Art. 62 RL 2001/83/EG. 140 Darüber hinaus ermächtigt Art. 65 RL 2001/83/EG die Kommission, im Benehmen mit den Mitgliedstaaten und interessierten Parteien Angaben zu besonderen Warnhinweisen oder zur Lesbarkeit der Etikettierung oder der Packungsbeilage zu machen. Durch diese Angaben wird kein verbindliches Recht gesetzt, sondern vielmehr der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse wiedergegeben. Ihre normative Wirkung ist daher trotz fehlender Rechtsqualität unbestreitbar.207 2. Verschreibungspflicht 141 Bei Erteilung der Genehmigung für das Inverkehrbringen hat die zuständige Behörde das Arzneimittel nach Maßgabe der Art. 70, 71 RL 2001/83/EG als verschreibungspflichtig oder nicht verschreibungspflichtig einzustufen. 142 Die Verschreibungspflicht setzt gem. Art. 71 Abs. 1, Abs. 2 RL 2001/83/EG voraus, dass von einem Arzneimittel – sei es direkt oder indirekt – bei bestimmungsgemäßem Gebrauch Gefahren ausgehen, wenn dieses ohne medizinische Aufsicht angewandt wird. Gleiches gilt, wenn das Arzneimittel Substanzen enthält, deren Wirkungen und Nebenwirkungen der weiteren Erforschung bedürfen oder wenn es der künstlichen Ernährung dient. Ein weiterer Aspekt ist das Missbrauchspotenzial: Wird ein Medikament häufig oder weit verbreitet falsch angewandt und resultieren daraus direkte oder indirekte Gefahren für die menschliche Gesundheit, ist die Verschreibungspflicht ebenfalls begründet. 143 Nur wenn ein Arzneimittel die genannten Kriterien nicht erfüllt, darf es ohne ärztliche Verordnung an den Patienten abgegeben werden. Zum Zwecke der Transparenz und Klarheit sollen die Behörden ein Verzeichnis der verschreibungspflichtigen Arzneimittel erstellen und dies jährlich aktualisieren, Art. 73 RL 2001/83/EG. 144 Trotz der detaillierten Regelung über die Voraussetzungen der Verschreibungspflicht ist damit keine vollständige Harmonisierung erzielt worden, räumt Art. 71 Abs. 4 RL 2001/83/EG den zuständigen Behörden doch Ermessen208 ein, im Einzelfall aufgrund der Dosis, Wirkungsstärke, Darreichungsform, Aufmachung oder den Verwendungsbedingungen von diesen Vorgaben abzuweichen.

207 Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 3 Rn. 21. 208 EuGH 7.3.1989 – Rs. 215/87, ECLI:EU:C:1989:111 – Schumacher; dazu auch Dauses/Ludwigs/ Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 50.

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3. Genehmigungsfreie Abgabe von Arzneimitteln In Einzelfällen lässt das Arzneimittelrecht Ausnahmen vom Genehmigungsvorbehalt zu. Unter eng umrissenen Voraussetzungen darf ein Arzneimittel also in Verkehr gebracht werden, obwohl für es keine oder keine den konkreten Gegebenheiten entsprechende Genehmigung erteilt worden ist. a) Compassionate Use Für Arzneimittel, die im zentralen Verfahren zuzulassen sind, können einzelne Mitgliedstaaten209 nach Art. 83 VO (EG) Nr. 726/2004 den sogenannten compassionate use ermöglichen. Die auf diese Weise begründete Ausnahme wirkt freilich nur auf dem Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaats. Der compassionate use setzt zum einen voraus, dass Patienten an einer chronischen Krankheit oder an einer schweren Erkrankung leiden, die zu Invalidität führt und die mit regulär in Verkehr befindlichen Arzneimitteln nicht angemessen behandelt werden kann. Zudem muss für das Arzneimittel bereits ein Antrag auf Genehmigung im zentralisierten Verfahren gestellt, zumindest aber mit den klinischen Prüfungen begonnen worden sein. Der compassionate use beschreibt nicht den individuellen Heilversuch an Einzelpersonen, sondern ist nach Art. 83 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004 für Patientengruppen vorgesehen.210 Art. 5 Abs. 1 RL 2001/83/EG erlaubt in strikten Ausnahmefällen eine weitere Ausnahme vom Genehmigungserfordernis. Dies setzt einen „besonderen Bedarfsfall“ voraus, welcher gegeben ist, wenn eine Vielzahl von Personen – sei es wegen einer Epidemie oder wegen eines Unfalls, durch den in großem Ausmaß radioaktive Strahlung oder Chemikalien freigesetzt wurden – der Anwendung des Medikaments bedarf und kein zugelassenes Medikament verfügbar ist. Es muss folglich eine notstandsähnliche Situation vorliegen,211 die in den besonderen Bedürfnissen der Patienten gründet und nicht lediglich durch finanzielle Erwägungen gerechtfertigt ist.212 Soll ein Arzneimittel auf den Markt gebracht werden, das in Wirkstoffzusammensetzung, Dosierung und Darreichungsform einem bereits genehmigten Arzneimittel entspricht, liegt kein „besonderer Bedarfsfall“ vor.213 Die Mitgliedstaaten dürfen die genehmigungsfreie Anwendung zudem nur vorübergehend gestatten, also einerseits bis die Notstandssituation beseitigt ist oder bis der dadurch drohenden Gefahr durch ein zugelassenes Arzneimittel begegnet werden kann. Das Arzneimittel muss ausweislich des eindeutigen Wortlauts der Norm unter der persönlichen Verantwortung eines Arztes verabreicht werden.

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b) Off-label Use Einen ähnlichen Fall beschreibt der off-label use, bei dem zwar ein Arzneimittel zur An- 149 wendung kommt, dessen Inverkehrbringen genehmigt ist – jedoch außerhalb der in der Genehmigung vorgesehenen Indikation. Die grundsätzliche europarechtliche Zulässigkeit des off-label use wird in Art. 5 Abs. 3 RL 2001/83/EG vorausgesetzt.214 Die nähere Ausge-

209 210 211 212

Ausführlich zur deutschen Regelung Fulda PharmR 2010, 517. Fleischfresser in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 6 Rn. 37. Deutsch/Spickhoff, Rn. 1653. EuGH 29.3.2012 – C-185/10, ECLI:EU:C:2012:181 – Kommission/Polen; EuGH 11.4.2013 – C-535/11, ECLI:EU:C:2013:226 – Novartis/Apozyt. 213 EuGH 16.7.2015 – C-544/13, ECLI:EU:C:2015:481 – Abcur. 214 Lorenz, S. 328; Deutsch/Spickhoff, Rn. 1675 f.

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§ 9 Arzneimittelrecht staltung der Anforderungen an den off-label use obliegt jedoch den Mitgliedstaaten.215 Diese haben dabei aber sicherzustellen, dass die europarechtlichen Anforderungen an den Arzneimittelverkehr auch beim off-label use eingehalten werden; dies betrifft insbesondere die Sicherheit der Patientinnen und Patienten, sodass die Mitgliedstaaten ein geeignetes Überwachungssystem zu etablieren haben.216 4. Anforderungen an den Vertrieb von Arzneimitteln Das Unionsrecht bewirkt keine Harmonisierung der Vertriebsmodalitäten für Arzneimittel. Diese zu regeln, obliegt den Mitgliedstaaten, die dabei den Vorgaben des Primär- und Sekundärrechts unterworfen sind.217 a) Großhandelsgenehmigung

150 Nach Art. 77 Abs. 3 RL 2001/83/EG ist der Inhaber einer Herstellungserlaubnis zum Großhandelsvertrieb des Arzneimittels berechtigt. Fallen Hersteller und Vertrieb auseinander, haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 77 Abs. 1 RL 2001/83/EG sicherzustellen, dass eine gesonderte Erlaubnis für den Vertrieb über den Großhandel erteilt wird. Diese Genehmigung ist personenbezogen, denn ihre Erteilung ist an die Erfüllung bestimmter Anforderungen an die Qualifikation und Zuverlässigkeit des Inhabers der Großhandelsgesellschaft sowie deren räumliche, personelle und technische Ausstattung geknüpft.218 b) Zulässigkeit von Apothekenmonopolen 151 Für den weiteren Vertrieb enthält das europäische Recht keine konkreten Vorgaben. Damit ist die Wahl der Vertriebswege den Mitgliedstaaten überlassen,219 die bei der Ausgestaltung freilich das Primär- und Sekundärrecht zu beachten haben. Die Vertriebsmodalitäten dürfen sich namentlich nicht als Hemmnis für den freien Warenverkehr erweisen, indem sie Anbietern aus anderen Mitgliedstaaten den Absatz von Arzneimitteln faktisch unmöglich machen oder unverhältnismäßig erschweren.220 Denn für die Geltung eines Apothekenmonopols kommt es darauf an, in welchem Staat ein Medikament an den Verbraucher abgegeben wird. Von welchem Ort aus dies geschieht, ist irrelevant,221 selbst wenn in diesem Mitgliedstaat der Arzneimittelhandel liberalisiert ist. 152 Daher versperrt ein im nationalen Recht verankertes Apothekenmonopol222 anderen Anbietern – bspw. Drogerien – den Vertrieb von Arzneimitteln und erweist sich mithin als „Maßnahme gleicher Wirkung“ iSv Art. 34 AEUV.223 Denn eine solche liegt vor, wenn eine Regelung den freien Handel unmittelbar oder mittelbar, potenziell oder tatsächlich zu

215 Nach der Rechtsprechung von BVerfG und BSG ist der off-label use nur in Ausnahmefällen zulässig, wenn der zu erwartende Nutzen die mit der genehmigungsüberschreitenden Anwendung einhergehenden Risiken überwiegt; eingehend Janda, S. 268 f.; Litz, Off-label use von Arzneimitteln, S. 80 f. 216 EuGH 21.11.2018 – C-29/17, ECLI:EU:C:2018:931 – Novartis Farma SpA/Agenzia Italiana del Farmaco (AIFA). 217 EuGH 27.5.1986 – C-87/85, ECLI:EU:C:1986:215 – Legia und Cophalux; EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 21.3.1991 – C-60/89, ECLI:EU:C:1991:138 – Monteil und Samanni. 218 Dazu im Einzelnen Art. 79 RL 2001/83/EG. 219 Roth EuR Beiheft 2/2007, 9, 20. 220 EuGH 27.5.1986 – C-87/85, ECLI:EU:C:1986:215 – Legia und Cophalux; EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – DocMorris. 221 Sander PharmR 2002, 269 (269); Bruggmann PharmR 2011, 161 (162). 222 So die Rechtslage in der Bundesrepublik, dazu Janda, S. 254 f. 223 EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 21.3.1991 – C-60/89, ECLI:EU:C:1991:138 – Monteil und Samanni.

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beeinträchtigen geeignet ist.224 Als Verkaufsmodalitäten sind solche Regelungen indes unproblematisch, wenn sie gleichermaßen für alle im In- wie Ausland produzierten Arzneimittel zur Anwendung kommen. Denn in diesem Fall beeinträchtigen sie nicht den Handel zwischen den Mitgliedstaaten.225 Zudem sind Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit gem. Art. 36 AEUV zum Zweck 153 des Schutzes vor objektiv bestehenden Gefahren für Leben und Gesundheit zulässig. Gleiches gilt für die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV. Diese unterliegt zwar einem allgemeinen Beschränkungsverbot, sodass es insoweit nicht darauf ankommt, ob eine mitgliedstaatliche Regelung diskriminierend wirkt.226 Gleichwohl kann die Niederlassungsfreiheit unter Achtung des Verhältnismäßigkeits- 154 grundsatzes aus Gründen des öffentlichen Interesses eingeschränkt werden. Im Arzneimittelvertrieb sind daher insbes. solche Maßnahmen zulässig, die eine sichere und qualitativ hochwertige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sicherstellen.227 Den Mitgliedstaaten steht insoweit ein Beurteilungsspielraum zu. Dieser ermöglicht nicht nur, den Verkauf von Arzneimitteln Apotheken vorzubehalten oder die regionale Verteilung der Apotheken zu steuern228, sondern überdies das Recht zum Betrieb von Apotheken auf natürliche Personen zu beschränken, weil diese in höherem Maße als bspw. Kapitalgesellschaften die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Medikamentenverkaufs gewährleisten.229 Die Mitgliedstaaten sind folglich durchaus zum Erlass restriktiver Regelungen befugt, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen.230 Ist jedoch der Verkauf einzelner Arzneimittel nicht mit Gefahren für Leben und Gesund- 155 heit verbunden, steht dies einer Handelsbeschränkung und damit ihrem monopolisierten Vertrieb über Apotheken als unverhältnismäßige Beschränkung entgegen.231 c) Grenzüberschreitender Versandhandel mit Arzneimitteln Eng verknüpft mit der monopolisierten Abgabe von Arzneimitteln in Apotheken ist die 156 Frage nach der Zulässigkeit des grenzüberschreitenden Versandhandels. Der Versand von Arzneimitteln als solcher unterliegt nicht den sekundärrechtlichen Regelungen. Die einzig relevante Norm ist Art. 6 RL 2001/83/EG, der die Einfuhr von Medikamenten auch im Wege des Versandhandels verbietet, wenn diese im Zielstaat nicht in Verkehr gebracht werden dürfen.

224 EuGH 11.7.1974 – Rs. 8/74, ECLI:EU:C:1974:82 – Dassonville; EuGH 30.11.1983 – C-227/82, ECLI:EU:C:1983:354 – van Bennekom; EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – DocMorris. 225 EuGH 24.11.1993 – C-267/91, ECLI:EU:C:1993:905 – Keck und Mithouard; EuGH 29.6.1995 – C-391/92, ECLI:EU:C:1995:199 – Kommission/ Griechenland; EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – DocMorris. Dazu auch Roth EuR Beiheft 2/2007, 9, 28; Nitz/Kluckert MedR 2016, 591 (595). 226 EuGH 21.3.1993 – C-19/92, ECLI:EU:C:1993:125 – Kraus; EuGH 14.10.2004 – C-299/02, ECLI:EU:C:2004:620 – Kommission/Niederlande. Dazu eingehend Calliess/Ruffert/Korte EUV/AEUV AEUV Art. 49 Rn. 43 ff.; Streinz/Müller-Graff EUV/AEUV AEUV Art. 49 Rn. 39. 227 EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – DocMorris; EuGH 5.6. 2007 – C-170/04, ECLI:EU:C:2007:313 – Rosengren. 228 EuGH 5.12.2013 – C-159/12, ECLI:EU:C:2013:791 – Alessandra Venturini/ASL Varese. 229 EuGH 19.5.2009 – C-171/07, ECLI:EU:C:2009:316 – DocMorris II. Dazu Janda, S. 260 mwN. 230 EuGH 30.11.1983 – C-227/82, ECLI:EU:C:1983:354 – van Bennekom; EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – DocMorris. 231 EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 21.3.1991 – C-60/89, ECLI:EU:C:1991:138 – Monteil und Samanni; entsprechend EuGH 23.9.2003 – C-192/01, ECLI:EU:C:2003:492 – Kommission/Dänemark.

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157 War der Arzneimittelversand zunächst der Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG unterworfen, sollen diese allgemeinen Regelungen nunmehr nach dem 30. Erwägungsgrund der diese ablösenden RL 2011/83/EU232 für die Gesundheitsversorgung nicht mehr gelten. Diese ist nunmehr vorrangig in der Patientenrichtlinie 2011/24/EU233 geregelt, welche nach ihrem 17. Erwägungsgrund Regelungen über den Erwerb von Arzneimitteln im Internet jedoch unberührt lässt. 158 Auch die Vorgaben der eCommerce-Richtlinie 2000/31/EG234 sind nicht einschlägig. Diese sichert den freien Warenverkehr in seiner durch die Möglichkeit elektronischer Kommunikation begründeten Dimension235 und regelt den Verkauf von Waren über das Internet, Art. 2 lit. a RL 2000/31/EG. Die für dessen Abwicklung maßgeblichen Rechtsvorschriften sind „im koordinierten Bereich“ gem. Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 RL 2000/31/EG aus dem Recht des Staates abzuleiten, von dem aus die Waren angeboten werden (Herkunftslandprinzip).236 Zu diesem koordinierten Bereich zählt ausweislich des 21. Erwägungsgrundes gerade nicht die Lieferung von Humanarzneimitteln. Diese ist strikt vom Vertrieb zu trennen: Während der Abschluss von Kaufverträgen über Arzneimittel im Internet nach Maßgabe der Richtlinie zuzulassen ist, ist deren Auslieferung, i.e. die eigentliche Abgabe an den Verbraucher, nicht von der eCommerce-Richtlinie erfasst und damit der Regulierung durch nationales Recht zugänglich.237 159 Im nationalen Recht gründende, generelle Versandhandelsverbote für Arzneimittel tangieren jedoch grundsätzlich das Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen nach Art. 34 AEUV. Denn die in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Anbieter können ihre Waren mangels eigener Geschäftsniederlassung allein im Wege des Versands in anderen Mitgliedstaaten anbieten.238 Ausnahmen sind in Art. 36 AEUV lediglich im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie bei konkreten Gefahren für Gesundheit und Leben gerechtfertigt. Als Ausnahme zu den Grundfreiheiten des Binnenmarkts ist dieser Vorbehalt restriktiv auszulegen und erlegt den Mitgliedstaaten umfassende Darlegungs- und Nachweispflichten auf.239 160 Für die individuelle Einfuhr von Medikamenten für den persönlichen Bedarf aus einem Mitgliedstaat hat der EuGH entschieden, dass deren generelles Verbot dem Vorbehalt des Art. 36 AEUV zuwiderläuft, wenn der Verbraucher das Arzneimittel in einer Apotheke erworben hat und dieses zudem im Einfuhrstaat zugelassen ist.240 Dies gilt auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel, wenn der Verbraucher das Medikament im Aufenthaltsstaat auf ärztliche Verschreibung hin in einer Apotheke erworben hat.241 Restriktionen des Versandhandels im Allgemeinen sind davon ausgehend ebenfalls nur zulässig, 232 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. L 304 v. 22.11.2011, 64. 233 Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.3.2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, ABl. L 88 v. 4.4.2011, 45. 234 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbes. des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. L 178 v. 17.7.2000, 1. 235 Dazu ausführlich Ernst, Vertragsschluss im Internet unter besonderer Berücksichtigung der E-Commerce-Richtlinie, Hamburg 2007. 236 Eingehend Dettling/Herr PharmR 2005, 47. 237 Haage MedR 2001, 562 (526); Sander PharmR 2002, 269 (271 f.). Vgl. auch EuGH 2.12.2010 – C-108/09, ECLI:EU:C:2010:725 – Ker-Optika – zum Internethandel mit Kontaktlinsen. 238 EuGH 7.3.1989 – C-215/87, ECLI:EU:C:1989:111 – Schumacher; EuGH 8.4.1992 – C-62/90, ECLI:EU:C:1992:169 – Kommission/Deutschland; EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – DocMorris. 239 Koenig PharmR 2017, 85 (88). 240 EuGH 7.3.1989 – Rs. 215/87, ECLI:EU:C:1989:111 – Schumacher. 241 EuGH 8.4.1992 – C-62/90, ECLI:EU:C:1992:169 – Kommission/Deutschland.

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wenn sie nachweislich der Patientensicherheit dienen und verhältnismäßig sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kauf eines Arzneimittels in einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat die gleiche Gewähr für die Zuverlässigkeit und Beratung bietet wie der Kauf in einer im Einfuhrstaat befindlichen Apotheke.242 Für verschreibungspflichtige Arzneimittel ist ein Versandhandelsverbot im Interesse des 161 Schutzes der öffentlichen Gesundheit jedoch grundsätzlich zulässig. Denn nur auf diese Weise ist gewährleistet, dass die ärztliche Verschreibung überprüft, die Patienten eingehend beraten und damit dem Missbrauch von Medikamenten vorgebeugt wird. Für Arzneimittel, die ohne ärztliche Verschreibung erworben werden können, gelten diese Überlegungen jedoch nicht, sodass der Markt der verschreibungsfreien Arzneimittel für den Versandhandel zu öffnen ist.243 5. Parallelimport von Arzneimitteln Erhebliche wettbewerbsrechtliche Probleme birgt der Parallelimport von Arzneimitteln. 162 Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Medikament (Importarzneimittel), welches in einem Mitgliedstaat in Verkehr gebracht werden darf, von einem vom Hersteller unabhängigen244 Importeur in einen anderen Staat eingeführt wird, in dem ein identisches Arzneimittel (Bezugsarzneimittel) auf dem Markt ist.245 Das importierte und das für den inländischen Handel bestimmte Bezugsarzneimittel befinden sich also in parallel laufenden Vertriebsnetzen auf dem Markt.246 Ein Re-Import liegt dagegen vor, wenn das Arzneimittel zunächst für den ausländischen Handel produziert und ins Ausland exportiert worden ist, um sodann für den inländischen Handel wieder importiert zu werden.247 Der Parallelhandel nutzt das zwischen den Mitgliedstaaten – sei es aufgrund unternehme- 163 rischer Entscheidungen, sei es infolge gesetzlicher Rahmenbedingungen (→ Rn. 215 ff.) – bestehende Preisgefälle aus: Der Importeur erwirbt die Arzneimittel in dem Mitgliedstaat mit den günstigsten Abgabepreisen, um diese dann in einem anderen Mitgliedstaat mit höherem Preisniveau zu veräußern.248 Davon werden positive Effekte für den Verbraucher erwartet, führt dies doch zu einem verstärkten Wettbewerb, der eine Minderung der Arzneimittelpreise zur Folge hat. Der Parallelimport ist von der Freiheit des Warenverkehrs nach Art. 34 AEUV gedeckt. 164 Staatliche Maßnahmen, die den Parallelimport einschränken, sind folglich an Art. 36 AEUV zu messen.249

242 EuGH 7.3.1989 – Rs. 215/87, ECLI:EU:C:1989:111 – Schumacher; EuGH 8.4.1992 – C-62/90, ECLI:EU:C:1992:169 – Kommission/Deutschland. 243 EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2003:664 – DocMorris; dazu Streinz EuZW 2003, 37 (43 f.); Lenz NJW 2004, 332 (333 f.) 244 EuGH 12.11.1996 – C-201/94, ECLI:EU:C:1996:432 – Smith & Nephew und Primecrown. 245 Reich NJW 1984, 2000 (2000); Hanika MedR 2000, 63 (69); Koenig/Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (920); Wagner, S. 72; Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 60. 246 KOM(2003) 839 endg. v. 30.12.2003, 6. 247 Hanika MedR 2000, 63 (69); Heinemann PharmR 2001, 180 (180); Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 61; Wagner, S. 73. 248 Reich, NJW 1984, 2000 (2000); Schelling, S. 18; Wagner MedR 2004, 489 (490). 249 KOM(2003) 839 endg. v. 30.12.2003, 6; Schelling, S. 19; Koenig/Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (920); Römhild/Lübbig in Dieners/Reese § 15 Rn. 174; Friese/Jentges/Muazzan, Guide to Drug Regulatory Affairs, S. 296.

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§ 9 Arzneimittelrecht a) Genehmigungserfordernisse beim Parallelimport

165 Da die außerhalb des zentralisierten Verfahrens250 erteilte Genehmigung des Inverkehrbringens durch einen Mitgliedstaat in anderen Mitgliedstaaten keine Wirkung entfaltet, ist für den Parallelimport eine solche Genehmigung einzuholen, wenn im Einfuhrstaat bislang eine solche nicht erteilt worden ist, Art. 6 RL 2001/83/EG.251 166 Die Genehmigung für das Inverkehrbringen bescheinigt zwar, dass das konkrete Arzneimittel wirksam, qualitativ hochwertig und sicher ist. Die Entscheidung wird jedoch an den Hersteller erteilt und aufgrund der von ihm eingereichten Unterlagen getroffen. Die Entscheidung über die Marktzulassung ist folglich an diesen konkreten Antragsteller gebunden. Sie ist daher sowohl personen- als auch produktbezogen.252 aa) Verkürztes Genehmigungsverfahren 167 Der Importeur verfügt jedoch im Regelfall nicht über die für das Genehmigungsverfahren notwendigen Unterlagen, namentlich zum Nachweis der Sicherheit und Wirksamkeit, agiert er doch unabhängig und außerhalb der vom Hersteller vorgesehenen Vertriebswege. Es ist ihm daher nahezu unmöglich, eine Genehmigung im regulären Verfahren zu erhalten. Dessen uneingeschränkte Anwendung erwiese sich folglich als unzulässige Mengenbeschränkung iSv 34 AEUV.253 168 Indes dient das Genehmigungserfordernis dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, unter deren Vorbehalt die Freiheit des Warenverkehrs nach Art. 36 AEUV steht. Die Genehmigung des parallel importierten Arzneimittels ist daher nicht per se wettbewerbswidrig. Das Interesse des Einfuhrstaats an der Kontrolle der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Importarzneimittels ist jedoch nicht tangiert, wenn das Importarzneimittel mit einem im Zielland bereits zugelassenen Arzneimittel identisch ist.254 Denn in diesem Fall ist der Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit des Medikaments bereits erbracht. 169 Es ist folglich ohne Gefährdung der Verbraucherinteressen vertretbar, bei der Erteilung der Verkehrsgenehmigung für das Importarzneimittel auf die Zulassungsunterlagen des im Einfuhrstaat zugelassenen Referenzarzneimittels Bezug zu nehmen.255 Der Importeur kann das Arzneimittel daher in einem verkürzten Verfahren – auch als Formalzulassung256 bezeichnet – in einem anderen Mitgliedstaat in Verkehr bringen.257 Er hat dabei nur solche 250 Die Ausfuhr von zentralisiert zugelassenen Arzneimitteln in andere Mitgliedstaaten wird als Parallelvertrieb bezeichnet. Die beim Parallelimport bestehenden Zulassungsprobleme stellen sich bei diesem aufgrund der unmittelbaren Wirkung der zentralen Zulassung durch die Kommission nicht, Bauroth in Fuhrmann/Klein/Fleischfresser § 23 Rn. 4; Lorenz, S. 245; vom Feld/Neels in Shorthose, S. 461; Koenig/Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (923 f.). 251 EuGH 7.3.1989 – Rs. 215/87, ECLI:EU:C:1989:111 – Schumacher; EuGH 10.9.2002 – C-172/00, ECLI:EU:C:2002:474 – Ferring; EuGH 11.12.2003 – C-322/01, ECLI:EU:C:2002:474 – DocMorris; EuGH 29.4.2004 – C-387/99, ECLI:EU:C:2004:235 – Kommission/Deutschland; EuGH 29.4.2004 – C-150/00, ECLI:EU:C:2004:237– Kommission/Österreich. Entsprechend für Biozid-Produkte EuGH 15.7.2004 – C-443/02, ECLI:EU:C:2004:453 – Schreiber. 252 Lippert in Ratzel/Luxenburger, § 31 Rn. 67 ff.; Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (22). 253 Wagner, S. 76; Schelling, S. 84. 254 EuGH 20.5.1976 – C-104/75, ECLI:EU:C:1976:67 – de Peijper; EuGH 12.11.1996 – C-201/94, ECLI:EU:C:1996:432 – Smith & Nephew und Primecrown; EuGH 10.9.2002 – C-172/00, ECLI:EU:C:2002:474 – Ferring. 255 Wagner MedR 2004, 489 (491). Fischer EuZW 2004, 530 (532) kritisiert, dass dem Unterlagenschutz des Genehmigungsinhabers durch die EuGH-Rechtsprechung nicht ausreichend Rechnung getragen wird. 256 Heinemann PharmR 2001, 180 (181). 257 Schelling, S. 84; Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (22). Kritisch Fischer EuZW 2004, 530 (531), da der Importeur als „Trittbrettfahrer“ von der durch den Hersteller erlangten Zulassung in einem anderen Mitgliedstaat profitiert, ohne an deren Kosten beteiligt zu sein.

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Unterlagen vorzulegen, die den Schluss zulassen, dass zwischen beiden Arzneimitteln keine relevanten Unterschiede im Hinblick auf ihre Zusammensetzung, Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit bestehen.258 Weitergehende Nachweisgebote sind im Hinblick auf Art. 34 AEUV unverhältnismäßig.259 bb) Anforderungen an den Nachweis der Identität Import- und Bezugsarzneimittel sind identisch, wenn sie qualitativ und quantitativ die gleichen arzneilich wirksamen Bestandteile – die gleiche Formel desselben Wirkstoffs – enthalten, die gleiche Darreichungsform aufweisen und bioäquivalent sind.260 Werden bei der Herstellung unterschiedliche Hilfsstoffe verwendet, dürfen sich diese nicht auf Sicherheit und Wirksamkeit des Importarzneimittels auswirken.261 Ein Indiz wäre die Feststellung, dass der Hersteller selbst eine neue Zulassung für das Arzneimittel beantragen müsste, wollte er dieses in der veränderten Zusammensetzung in Verkehr bringen.262 Für den Identitätsnachweis ist folglich im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu überprüfen, ob nach wissenschaftlichen Erkenntnissen keine therapeutisch relevanten Unterschiede zwischen beiden Arzneimitteln bestehen.263 Nicht erforderlich ist dagegen, dass beide Arzneimittel vom gleichen Unternehmen bzw. der gleichen Unternehmensgruppe oder einem von diesen autorisierten Lizenzunternehmen hergestellt werden (Ursprungsidentität).264 Denn der gemeinsame Ursprung bildet lediglich einen Anhaltspunkt dafür, dass den zuständigen Behörden die Unterlagen für dieses Arzneimittel bereits vollständig vorliegen.265 Eine weite Auslegung der Identität im Sinne gleichen Ursprungs würde zudem dazu führen, dass Hersteller und Lizenznehmer die Märkte der verschiedenen Mitgliedstaaten abschotten.266 Ebenso wenig ist die Identität des Handelsnamens zu fordern, unter dem das Arzneimittel vertrieben wird,267 wirkt sich dieser doch in keiner Weise auf die stoffliche Zusammensetzung aus.268 Der Importeur muss lediglich plausible Angaben machen, die auf eine Identität zwischen Referenz- und Importarzneimittel schließen lassen. Zweifeln muss die zuständige Behörde von Amts wegen nachgehen und hierzu auch allen zumutbaren Aufwand betreiben. Können die Zweifel an der Identität jedoch nicht ausgeräumt werden, geht dies zulasten des Importeurs, dem der Weg zum verkürzten Genehmigungsverfahren dann verschlossen

258 EuGH 20.5.1976 – C-104/75, ECLI:EU:C:1976:67 – de Peijper; EuGH 28.1.1981 – C-32/80, ECLI:EU:C:1981:20 – Kortmann; EuGH 12.11.1996 – C-201/94, ECLI:EU:C:1996:432 – Smith & Nephew und Primecrown; EuGH 16.12.1999 – C-94/98, ECLI:EU:C:1999:614 – Rhône-Poulenc Rorer. 259 Eine Gebührenpflicht des Parallelimporteurs für das Verfahren zur Identitätsprüfung behindert diesen aber nicht unverhältnismäßig, EuGH 28.1.1981 – C-32/80, ECLI:EU:C:1981:20 – Kortmann. 260 EuGH 12.11.1996 – C-201/94, ECLI:EU:C:1996:432 – Smith & Nephew und Primecrown. 261 EuGH 16.12.1999 – C-94/98, ECLI:EU:C:1999:614 – Rhône-Poulenc Rorer. 262 Koenig/Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (922 f.). 263 EuGH 20.5.1976 – C-104/75, ECLI:EU:C:1976:67 – de Peijper. 264 EuGH 1.4.2004 – C-112/02, ECLI:EU:C:2004:208 – Kohlpharma. 265 EuGH 1.4.2004 – C-112/02, ECLI:EU:C:2004:208 – Kohlpharma. Das Gegenteil, dh Erfordernis der Ursprungsidentität, klang noch bei EuGH 12.11.1996 – C-201/94, ECLI:EU:C:1996:432 – Smith & Nephew und Primecrown – an. 266 Heinemann PharmR 2001, 180 (181); dazu auch Roth EuR Beiheft 2/2007, 9, 23. 267 Anders BVerwGE 82, 7 sowie sehr weitgehend OLG Frankfurt PharmR 1996, 196 mit der Folge, dass selbst Abweichungen, die nur einzelne Buchstaben betreffen, ein vollständiges Zulassungsverfahren erforderlich machten. 268 BGH PharmR 1998, 98 (102), unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Smith & Nephew und Primecrown.

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§ 9 Arzneimittelrecht bleibt.269 Parallelimporte sind gem. Art. 76 Abs. 3 S. 1 RL 2001/83/EG dem Genehmigungsinhaber für das Referenzarzneimittel und der zuständigen Behörde anzuzeigen. b) Wettbewerbsrechtliche Aspekte der Behinderung des Parallelimports

174 Aus Sicht der Hersteller sind Parallelimporte unerwünscht, umgeht der Importeur damit doch die im Einfuhrstaat geltenden Preismargen. Dies mindert einerseits den Umsatz der Hersteller. Sie befürchten andererseits Koordinierungsschwierigkeiten beim Absatz ihrer Waren in den einzelnen Mitgliedstaaten und nicht zuletzt die Erleichterung des Inverkehrbringens gefälschter Arzneimittel. Ihr Interesse an einer Einschränkung des Parallelhandels ist evident.270 aa) Zulässigkeit von Lieferkontingenten 175 Zu diesem Zweck beschränken die Hersteller, basierend auf Verträgen mit den Großhändlern, die Zahl der verfügbaren Arzneimittel auf das Maß, das für die Befriedigung des innerstaatlichen Bedarfs im Ausfuhrstaat notwendig ist. Die potenzielle Exportware wird somit kontingentiert.271 176 Solche Maßnahmen laufen nach Auffassung der Kommission dem Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV zuwider, unterwerfe sich der Großhändler damit doch einem Exportverbot des Herstellers. Diese Unterwerfung präge die Geschäftsbeziehung zwischen Hersteller und Großhändler.272 Der EuGH hat Lieferkontingente dagegen als einseitige Maßnahme iSv Art. 102 AEUV qualifiziert, mit der der Hersteller seine marktbeherrschende Position missbräuchlich ausnutzt. Denn mit der Kontingentierung der Waren sei dem Großhändler unabhängig von seinem Einverständnis der Export faktisch verunmöglicht.273 177 Gegen die Rechtsprechung wird vorgebracht, sie lasse die Spezifika von Arzneimitteln außer Acht. Ihr Absatz unterliege nicht dem freien Wirken des Marktes, sondern sei von staatlicher Preisregulierung im Interesse allgemeiner Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Arzneimittel zu angemessenen Preisen geprägt. Ließe man den Parallelhandel uneingeschränkt zu, würde das austarierte staatliche Regulierungsgefüge unterlaufen und namentlich Art. 81 UAbs. 2 RL 2001/83/EG verletzt, der Hersteller und Großhändler verpflichtet, die bedarfsdeckende Versorgung der Patienten in den einzelnen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Denn durch den umfangreichen Ankauf von Medikamenten zum Zwecke des Exports würde die bedarfsdeckende Vorhaltung im Ausfuhrstaat gefährdet.274 Zugleich werde das Anliegen der staatlichen Preissteuerung beeinträchtigt, wenn Importeure sich die Verkehrsgenehmigungen der Hersteller gleichsam als „Trittbrettfahrer“275 zugute machen und zu ihrem eigenen Profit ausnutzen können, ohne einen eigenen Beitrag zur Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel zu leisten.276 269 EuGH 1.4.2004 – C-112/02, ECLI:EU:C:2004:208 – Kohlpharma. 270 Schelling, S. 105; Koenig/Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (920). Zur Abgrenzung des kartellrechtlich relevanten Marktes bei Arzneimitteln Siebert/Pries PharmR 2007, 147. 271 Vgl. den Sachverhalt in EuGH 6.1.2004 – C-2/01, ECLI:EU:C:2004:2 – Adalat – sowie EuGH 16.9.2008 – C-468/06, ECLI:EU:C:2008:504 – Lélos. 272 Kommission 10.1.1996 – Rs. IV/34.279/F3, ABl. 1996, Nr. C 201, S. 1 – Adalat. 273 So bereits EuGH 13.7.1966 – C-56/64, ECLI:EU:C:1966:41 – Consten und Grundig/Kommission – für Vereinbarungen über den Alleinvertrieb von Waren; EuGH 6.1.2004 – C-2/01, ECLI:EU:C:2004:2 – Adalat; EuGH 16.9.2008 – C-468/06, ECLI:EU:C:2008:504 – Lélos. 274 Krapf/Lange PharmR 2005, 321 (326 f.); Schelling, S. 127 f. Kritisch Bauroth PharmR 2005, 386 (389) sowie Koenig/Engelmann GRUR Int 2005, 304 (309). 275 Fischer EuZW 2004, 530 (531). 276 Schelling, S. 150.

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Den Kritikern ist zuzugeben, dass die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung 178 ihrer Gesundheitssysteme (Art. 168 Abs. 5, Abs. 7 AEUV) durch das Wettbewerbsrecht nicht ausgehebelt werden darf. Der EuGH hat seine Rechtsprechung daher korrigiert und trägt nunmehr den Besonderheiten bei der Preisbildung für Arzneimittel im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme Rechnung. Zwar seien Lieferkontingente vor dem Hintergrund von Art. 102 AEUV weiterhin bedenklich, beschränken sie doch die Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln zu angemessenen Preisen. Nicht jede Ausnutzung einer marktbeherrschenden Position stellt jedoch einen Miss- 179 brauch dar.277 Denn hielte man jedwede Beschränkung des Parallelexports für unzulässig, wären marktbeherrschende Unternehmen aus einem Mitgliedstaat mit niedrigen Arzneimittelpreisen faktisch gezwungen, ihre Produkte in Mitgliedstaaten mit höheren Preisen gar nicht zu vermarkten. Ihnen steht es daher frei, Großhändler nur in dem Maße mit Arzneimitteln zu beliefern, die zur Deckung des Bedarfs im Herkunftsland notwendig sind. „Anormale Mengen“, die offenkundig dem Export dienen sollen, müssen nicht bereitgestellt werden. Denn anderenfalls würden die wirtschaftlichen Interessen des marktbeherrschenden pharmazeutischen Unternehmens, etwa an der Rentabilität seiner Forschungsaktivitäten, unverhältnismäßig beeinträchtigt.278 Der EuGH hat damit einen Kompromiss gefunden, der dem Schutzzweck der Wettbe- 180 werbsregelungen hinreichend Beachtung einräumt: Dieser ist schlichtweg nicht tangiert, wenn der Preis einer Ware durch den Gesetzgeber reglementiert wird.279 bb) Zulässigkeit dualer Preisgestaltungssysteme Neben der Vereinbarung von Lieferkontingenten suchen Hersteller den Parallelexport da- 181 durch einzuschränken, dass sie Großhändler verpflichten, bei beabsichtigter Ausfuhr einen höheren Listenpreis zu entrichten als für die für den inländischen Markt vorgesehenen Waren.280 Stimmt ein Großhändler dieser Vorgabe zu – wenngleich mit Bedenken gegen deren Zulässigkeit und allein im Interesse seines eigenen Umsatzes – liegt nach nahezu einhelliger Auffassung eine Vereinbarung vor, die an Art. 101 AEUV zu messen ist.281 Nach Auffassung der Kommission dienen solche dualen Preissysteme dazu, den Parallel- 182 export des in Rede stehenden Arzneimittels unattraktiv zu machen. Allein diese Zweckrichtung genüge, um die Unwirksamkeit derartiger Vereinbarungen anzunehmen. Auf ihre tatsächlichen Auswirkungen komme es nicht an,282 sodass die Vereinbarung dem Kartellverbot des Art. 101 AEUV zuwiderlaufe.283 Das EuG hält Abreden zur Verhinderung des Parallelhandels wettbewerbsrechtlich zwar 183 ebenfalls für bedenklich. Duale Preissysteme seien jedoch strukturell durch das sozial-

277 EuGH 14.2.1978 – C-27/76, ECLI:EU:C:1978:22 – United Brands; EuGH 15.3.2007 – C-95/04, ECLI:EU:C:2007:166 – British Airways. 278 EuGH 16.9.2008 – C-468/06, ECLI:EU:C:2008:504 – Lélos; dazu Calliess/Ruffert/Weiß EGV/AEUV AEUV Art. 102 Rn. 63. 279 Schelling, S. 148. 280 Vgl. den Sachverhalt in EuG 27.9.2006 – T-168/01, ECLI:EU:T:2006:265 – GlaxoSmithKline. Dazu ausführlich Krapf/Lange PharmR 2005, 255 (262); Römhild/Lübbig in Dieners/Reese § 15 Rn. 172. 281 Kommission 8.5.2001 – Rs. IV/36.957/F3, ABl. L 302 v. 17.11.2001, S. 1 ff. – Glaxo Wellcome; EuG 27.9.2006 – T-168/01, ECLI:EU:T:2006:265 – GlaxoSmithKline; EuGH 6.10.2009 – C-501/06, ECLI:EU:C:2009:610 – GlaxoSmithKline; zustimmend Bauroth PharmR 2005, 386 (388). Nach Krapf/Lange PharmR 2005, 255 (262) sowie Krapf/Lange PharmR 2005, 321 (321) handelt es sich dagegen um eine einseitige Maßnahme des Herstellers iSv Art. 102 AEUV. 282 So auch die st. Rspr. EuGH 4.6.2009 – C-8/08, ECLI:EU:C:2009:343 – T-Mobile Netherlands; EuGH 6.10.2009 – C-501/06, ECLI:EU:C:2009:610 – GlaxoSmithKline. 283 Kommission 8.5.2001 – Rs. IV/36.957/F3, ABl. L 302 v. 17.11.2001, S. 1 ff. – Glaxo Wellcome.

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rechtlich bedingte Preis- und Erstattungssystem bedingt. Hersteller und Großhändler bezweckten mit der konkreten Abrede daher keine Wettbewerbsbeschränkung.284 184 Der EuGH sieht dagegen die Voraussetzungen der in Art. 101 Abs. 3 AEUV verankerten Bereichsausnahme als erfüllt an. Das Kartellrecht ist danach nicht anwendbar, wenn Vereinbarungen verhältnismäßige Maßnahmen beinhalten, die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher am Gewinn zu einer Verbesserung der Warenverteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen.285 Duale Preissysteme haben nach Auffassung des EuGH solche objektiven Vorteile zur Folge, da sie zu einer besseren Verteilung der Arzneimittel beitragen. Da sie überdies sicherstellen, dass das Arzneimittel angesichts der sozialrechtlichen Erstattungsvorschriften im Zielland überhaupt abgesetzt werden kann, trügen sie auch zur vergleichsweise kostspieligen pharmazeutischen Forschung und Weiterentwicklung von Arzneimitteln bei, die durch die laufenden Einnahmen aus deren (weltweiten) Absatz finanziert werden. Die Wettbewerbsnachteile würden durch diese positiven Effekte ausgeglichen.286 185 Dem ist zuzustimmen: Die Preise für Arzneimittel werden im Interesse ihrer umfassenden und uneingeschränkten Verfügbarkeit für alle Patienten und andererseits im Interesse der Kostendämpfung im öffentlichen Gesundheitswesen nach Maßgabe des Sozialrechts festgelegt (→ Rn. 215 ff.). Eine freie Preisbildung durch das Wirken des Marktes und des Wettbewerbs ist hier gerade nicht beabsichtigt, sodass Lieferbedingungen mit unterschiedlichen, auf das Absatzland bezogenen Preisen sich auch nicht wettbewerbsbeschränkend auswirken können.287 c) Markenrechtliche Probleme des Parallelimports 186 Üblicherweise werden Medikamente in verschiedenen Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Aufmachung – Verpackung und Bezeichnung sowie Packungsbeilage in der Landessprache – vertrieben. Der Importeur muss also, um die Verkehrsfähigkeit im Zielland zu erreichen, das Produkt neu verpacken und etikettieren, Art. 63 RL 2001/83/EG. Zudem kann das nationale Recht des Einfuhrstaats bestimmte Verpackungsgrößen vorschreiben, die den Importeur dazu zwingen, Originalverpackungen aufzustocken oder aber Inhalte daraus zu entfernen. Dabei kann es zu Verletzungen des Markenrechts des Herstellers kommen, denn allein dieser hat das Recht, ein Produkt unter Verwendung einer bestimmten Marke erstmalig in Verkehr zu bringen.288 aa) Sekundärrechtliche Vorgaben 187 Das Markenrecht hat in der Markenrechtsrichtlinie 2008/95/EG eine spezielle und abschließende Regelung erfahren. Ein Rückgriff auf das Primärrecht kommt somit nur in den Fällen in Betracht, die vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie nicht erfasst sind.289

284 EuG 27.9.2006 – T-168/01, ECLI:EU:T:2006:265 – GlaxoSmithKline. 285 Dazu im Einzelnen Calliess/Ruffert/Weiß EGV/EUV AEUV Art. 101 Rn. 157 ff.; Streinz/Eilmansberger EUV/AEUV AEUV Art. 101 Rn. 140 ff. 286 EuGH 6.10.2009 – C-501/06, ECLI:EU:C:2009:610 – GlaxoSmithKline; so auch bereits EuG 27.9.2006 – T-168/01, ECLI:EU:T:2006:265 – GlaxoSmithKline. 287 Krapf/Lange PharmR 2005, 255 (264). Im Ergebnis wohl auch Schelling, S. 151. Kritisch Bauroth PharmR 2005, 386 (390). 288 Reich NJW 1984, 2000 (2002); Wagner, S. 131 f.; Koenig/Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (924); Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Streinz EuR § 24 Rn. 89. 289 EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; EuGH 4.11.1997 – C-337/95, ECLI:EU:C:1997:517 – Parfums Christian Dior; EuGH 12.10.1999 – C-379/97, ECLI:EU:C:1999:494 – Pharmacia & Upjohn.

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B. Gegenstandsbeschreibung Nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 RL 2008/95/EG darf der Inhaber einer Marke Dritten deren Verwendung beim Inverkehrbringen von Waren grundsätzlich untersagen. Wird ein Parallelimport umgepackt, kann der Markeninhaber also grundsätzlich dagegen vorgehen, dass die Marke auf einer neuen Verpackung angebracht wird. Art. 7 Abs. 1 RL 2008/95/EG sieht eine Ausnahme von der Geltendmachung des Markenrechts vor, wenn der Markeninhaber die Marke selbst oder mit dessen Zustimmung290 durch Dritte in einem Mitgliedstaat der EU oder des EWR in Verkehr gebracht hat. Das Markenrecht gilt in diesem Fall als erschöpft. Hintergrund ist der Gedanke, dass den Interessen des Markeninhabers hinreichend genügt ist, wenn dieser die Alleinentscheidung über das erstmalige Inverkehrbringen der Marke hat und damit die Marke als Wirtschaftsfaktor etablieren kann.291 Würde man ihm ein weitreichendes Widerspruchsrecht einräumen, könnte er den gesamten Vertrieb der Waren unter seiner Marke steuern.292 Ist ein Umverpacken oder Neuetikettieren jedoch nicht erforderlich, um das Arzneimittel in dem anderen Mitgliedstaat auf den Markt zu bringen, kann der Markeninhaber der Verwendung seiner Marke widersprechen. Der Markenschutz würde in diesem Fall nicht zu einer Abschottung des Marktes führen. Ob das Arzneimittel in der Originalverpackung vertrieben werden kann, richtet sich ausschließlich nach nationalem Recht und ist daher von den nationalen Gerichten zu klären.293 Von diesem Grundsatz der Erschöpfung des Markenrechts ist wiederum dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Markeninhaber berechtigte Gründe vorträgt, die der weiteren Verwendung der Marke entgegenstehen, Art. 7 Abs. 2 RL 2008/95/EG. Dies ist namentlich der Fall, wenn sich der Zustand der Ware nach dem Inverkehrbringen verändert oder verschlechtert hat.294 Da das Produkt aufgrund der verwendeten Marke weiterhin mit dem Markeninhaber in Verbindung gebracht wird, wäre es unzumutbar, wenn er solche, möglicherweise rufschädigenden, Veränderungen des Produktes hinzunehmen hätte.295 Zum anderen dient die Marke der Garantie der Herkunft des Arzneimittels: Der Verbraucher verbindet mit der Herkunft einer Ware letztlich bestimmte Erwartungen an deren Qualität und die Integrität des Herstellungsprozesses. Diese Funktion der Marke ist tangiert, wenn ein in einem anderen Land produziertes Produkt suggeriert, es sei im Inland hergestellt worden. Der Verbraucher muss sich letztlich darauf verlassen können, dass die auf der Packung sichtbare Marke tatsächlich den Hersteller oder die von ihm legitimierten Dritten repräsentiert und dass ohne deren Einwilligung das die Marke tragende Produkt nicht verändert worden ist.296 Es ist folglich ein Kompromiss zwischen dem Schutz des freien Warenverkehrs einerseits und der Achtung gewerblichen Eigentums nach Art. 36 AEUV andererseits zu finden.297 290 Diese kann durch Rechtsgeschäft, aber auch konkludent erteilt werden, wenn die Umstände eindeutig darauf schließen lassen, dass sich der Markeninhaber dem Inverkehrbringen durch Dritte nicht widersetzen will, EuGH 20.11.2001 – C-414/99, ECLI:EU:C:2001:617 – Davidoff. 291 EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; EuGH 23.4.2002 – C-443/99, ECLI:EU:C:2002:245 – Merck, Sharp & Dohme; EuGH 30.11.2004 – C-16/03, ECLI:EU:C:2004:759 – Peak Holding. 292 Vgl. Ingerl/Rohnke Markengesetz § 24 Rn. 7 mwN. 293 EuGH 10.11.2016 – C-297/15, ECLI:EU:C:2016:857 – Ferring Lægemidler. 294 EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; Heinemann PharmR 2001, 180 (184); Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 29. 295 Ingerl/Rohnke Markengesetz § 24 Rn. 55. 296 EuGH 3.12.1981 – C-1/81, ECLI:EU:C:1981:291 – Pfizer. 297 EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 29.

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§ 9 Arzneimittelrecht Denn anderenfalls wäre der Export von Arzneimitteln faktisch unmöglich.298 Es ist also darauf abzustellen, ob die Geltendmachung der Markenrechte zu einer künstlichen Abschottung der Märkte und damit zu einer verschleierten Handelsbeschränkung führt.299 Dies ist nach Auffassung des EuGH der Fall, wenn das Umpacken und Neuetikettieren den Zustand des Produkts selbst nicht verändert,300 wenn der Importeur den Hersteller über die neue Verpackung informiert und ihm ein Muster zusendet und auf der Verpackung explizit auf den Hersteller und auf das Umpacken durch den Importeur hingewiesen wird.301 Ist das Umpacken der Importarznei erforderlich, weil das Überkleben der Originalverpackung mit Etiketten in der Landessprache die Absatzmöglichkeiten für den Parallelimporteur nachweislich schmälert, kann sich der Markeninhaber folglich nicht auf sein Markenrecht berufen.302 Gleiches gilt, wenn die Originalmarke durch ein Sichtfenster auf der Umverpackung zu erkennen ist. Denn das Umpacken berührt in diesem Fall die Interessen des Markeninhabers an der Funktion der Marke als Herkunftsgarantie nicht.303 Unzulässig sind demgegenüber das Zerschneiden von Blistern oder das Aufbringen unzutreffender Angaben auf der Verpackung, die Beschädigung einer lichtschützenden Verpackung für lichtempfindliche Arzneimittel oder das Zusammenpacken von Blistern unterschiedlicher Chargen mit unterschiedlichen Verfallsdaten.304 In seiner Rechtsprechung hat der EuGH auch der Bedeutung der Marke für die Kundenbindung Aufmerksamkeit eingeräumt. Da die Marke bei den Kunden bestimmte Qualitätserwartungen auslöse, setzt ihre Verwendung durch Dritte daher zusätzlich voraus, dass die Marke durch das Umpacken für den Zweck des Exports in ihrem Ruf nicht geschädigt wird. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Qualität und Beschaffenheit des Arzneimittels als auch auf die Aufmachung der Verpackung.305 Die vom EuGH zur Verwendung von Marken im Parallelimport durch Dritte entwickelten Kriterien lassen sich wie folgt zusammenfassen:

298 Ingerl/Rohnke Markengesetz § 24 Rn. 65. 299 St. Rspr. EuGH 23.5.1978 – C-102/77, ECLI:EU:C:1978:108 – Hoffmann-La Roche; EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; EuGH 23.4.2002 – C-443/99, ECLI:EU:C:2002:245 – Merck, Sharp & Dohme; EuGH 22.12.2008 – C-276/05, ECLI:EU:C:2008:756 – The Wellcome Foundation. Ebenso KOM(2003) 839 endg. v. 30.12.2003, 10 f. 300 Dies ist nicht der Fall, wenn auf Blistern, Flaschen oder Ampullen Aufkleber angebracht werden, welche die Produktinformationen in der Sprache des Einfuhrstaats wiedergeben, EuGH 11.7.1996 – C-71/94, ECLI:EU:C:1996:286 – Eurim-Pharm; so auch EuGH 17.5.2018 – C-642/16, ECLI:EU:C:2018:322 – Junek Europ-Vertrieb – zum Umetikettieren von Medizinprodukten. 301 St. Rspr. EuGH 23.5.1978 – C-102/77, ECLI:EU:C:1978:108 – Hoffmann-La Roche; EuGH 10.10.1978 – C-3/78, ECLI:EU:C:1978:174 – Centrafarm; EuGH 11.7.1996 – C-71/94, ECLI:EU:C:1996:286 – Eurim-Pharm; EuGH 22.12.2008 – C-276/05, ECLI:EU:C:2008:756 – The Wellcome Foundation; EuGH 17.5.2018 – C-642/16, ECLI:EU:C:2018:322 für Medizinprodukte – Junek Europ-Vertrieb. 302 EuGH 23.4.2002 – C-443/99, ECLI:EU:C:2002:245 – Merck, Sharp & Dohme. 303 EuGH 3.12.1981 – C-1/81, ECLI:EU:C:1981:291 – Pfizer. 304 Vgl. die Bsp. bei EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; Koenig/ Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (925); Heinemann PharmR 2001, 180 (184); Römhild/ Lübbing in Dieners/Reese § 15 Rn. 95 ff. 305 EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; EuGH 11.7.1996 – C-71/94, ECLI:EU:C:1996:286 – Eurim-Pharm; bestätigt durch EuGH 22.12.2008 – C-276/05, ECLI:EU:C:2008:756 – The Wellcome Foundation.

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keine künstliche Marktabschottung, dh keine Berufung auf das Markenrecht, wenn dies dazu führt, dass der Markeninhaber die von ihm etablierten bzw. genutzten Wege und Partner zur Vermarktung des Arzneimittels gegen Konkurrenz abschottet306 keine Beeinträchtigung des Originalzustands des Arzneimittels, dh dessen Eigenarten oder Aufmachung307 Kenntlichmachen des Umpackens und des dafür verantwortlichen Importeurs und Kennzeichnung des Herstellers auf der neuen Verpackung Unterrichtung des Markeninhabers durch den Importeur – generell, nicht nur bei erheblichen Änderungen durch das Umpacken308 und auf Verlangen Zusendung eines Musters an diesen keine Schädigung des Rufs der Marke durch die neue Aufmachung

bb) Primärrechtliche Vorgaben Art. 7 RL 2008/95/EG setzt voraus, dass die Originalmarke auf einer anderen Verpackung 198 aufgebracht wird. Der umgekehrte Fall des Re-Branding, dh die Verwendung einer anderen als der ursprünglichen Marke ist davon nicht erfasst, da das Arzneimittel dann gerade nicht „unter dieser Marke“ in Verkehr gebracht wird.309 Diese Konstellationen sind am Maßstab des Primärrechts zu beurteilen, wobei ebenfalls ein Ausgleich zwischen dem über Art. 36 AEUV geschützten Markenrecht („gewerbliches und kommerzielles Eigentum“) und freiem Wettbewerb nach Art. 34 AEUV zu finden ist.310 Die vom EuGH entwickelten Kriterien gelten also auch hier uneingeschränkt.311 Das Umpacken und Anbringen einer neuen Marke setzt nach Auffassung des EuGH eine 199 Zwangslage voraus. Nur wenn dies notwendig ist, um das Produkt im Zielland in Verkehr bringen zu können – etwa weil die Originalmarke im Einfuhrstaat als Irreführung des Verbrauchers gilt und daher nicht verwendet werden darf – ist eine Berufung des Markeninhabers auf sein Markenrecht ausgeschlossen.312 Bloße wirtschaftliche Erwägungen, etwa die Erwartung höherer Umsätze durch Verwendung der im Zielland üblichen Marke, genügen dagegen nicht, um eine solche Zwangslage zu begründen.313 Nur wenn die Marke also in ihrer spezifischen Funktion betroffen ist, die Herkunft eines 200 Produkts deutlich zu machen und zu garantieren, kann der Markeninhaber gegen deren Verwendung im Rahmen des Parallelimports vorgehen. In anderen Fällen käme dies einer verschleierten Handelsbeschränkung gleich.314 6. Vorgaben für die Arzneimittelwerbung Grundsätzlich schließt der freie Warenverkehr das Recht des Unternehmers ein, für seine 201 Produkte zu werben.315 Beschränkungen des Werberechts sind grundsätzlich geeignet, den 306 Es kommt lediglich auf die objektiven Auswirkungen, nicht aber auf entsprechende Absichten des Markeninhabers an, EuGH 12.10.1999 – C-379/97, ECLI:EU:C:1999:494 – Pharmacia & Upjohn. Dazu auch Heinemann PharmR 2001, 180 (184); Ingerl/Rohnke Markengesetz § 24 Rn. 43. 307 Vgl. die Bsp. bei EuGH 11.7.1996 – C-427/93, ECLI:EU:C:1996:282 – Bristol-Myers Squibb; dazu auch Koenig/Engelmann/Sander GRUR Int 2001, 919 (925); Heinemann PharmR 2001, 180 (184). 308 Heinemann PharmR 2001, 180 (185). 309 EuGH 12.10.1999 – C-379/97, ECLI:EU:C:1999:494 – Pharmacia & Upjohn. 310 Heinemann PharmR 2001, 180 (185). 311 Ingerl/Rohnke Markengesetz § 24 Rn. 6. 312 EuGH 11.7.1996 – C-71/94, ECLI:EU:C:1996:286 – Eurim-Pharm; EuGH 12.10.1999 – C-379/97, ECLI:EU:C:1999:494 – Pharmacia & Upjohn. 313 Heinemann PharmR 2001, 180 (186). 314 Wagner, S. 137. 315 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Leible/Streinz EU AEUV Art. 34 Rn. 95; Streinz/Schroeder EUV/AEUV AEUV Art. 34 Rn. 66.

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§ 9 Arzneimittelrecht freien Warenverkehr und die Dienstleistungsfreiheit zu beeinträchtigen, nehmen sie den Unternehmen doch die Möglichkeit, ihre Produkte anzupreisen und damit einem breiteren Kundenkreis bekannt zu machen.316 Jedoch greift auch hier der in Art. 36 AEUV verankerte Vorbehalt der öffentlichen Gesundheit: Werbung für Arzneimittel kann Patienten und Verbraucher zu unbedachtem Konsum oder gar Missbrauch verleiten. Mit Art. 86 ff. RL 2001/83/EG ist das Arzneimittelwerberecht vollständig harmonisiert worden. Im nationalen Recht gründende Abweichungen und Ausnahmen sind nur in den in der RL ausdrücklich vorgesehenen Fällen wirksam.317 Sofern die Richtlinie lediglich Mindeststandards setzt – etwa für den arzneimittelrechtlichen Pflichttext nach Art. 89 Abs. 1 lit. b RL 2001/83/EG – dürfen die Mitgliedstaaten im nationalen Recht freilich höhere Standards vorsehen.318 Der Begriff der Werbung ist sehr weit auszulegen. Er umfasst jedwede Art der Information oder sonstige Maßnahmen, die darauf abzielen, die ärztliche Verschreibung, die Abgabe, den Verkauf oder Verbrauch des Arzneimittels durch den Patienten zu fördern, Art. 86 Abs. 1 RL 2001/83/EG. Dies gilt auch für Besuche von Pharmareferenten bei Ärzten oder die Finanzierung wissenschaftlicher Tagungen durch Arzneimittelhersteller. Die sogenannte fachliche Werbung gegenüber Ärzten und anderen Angehörigen der Gesundheitsberufe ist daher ebenso erfasst wie die Publikumswerbung gegenüber potenziellen Konsumenten.319 Werbende Maßnahmen dürfen allein darauf abzielen, den zweckmäßigen Einsatz des Arzneimittels zu fördern. Sie dürfen nach Art. 87 Abs. 3 RL 2001/83/EG die Eigenschaften des Medikaments nur objektiv und ohne Übertreibung darstellen und nicht irreführend sein. Gänzlich untersagt ist Werbung für Arzneimittel, die keine gemeinschaftsrechtliche Genehmigung haben, Art. 87 Abs. 1 RL 2001/83/EG. Dies gilt selbst wenn das Arzneimittel im Herkunftsstaat zugelassen ist.320 Arzneimittel, die der Verschreibungspflicht unterliegen, dürfen gem. Art. 88 Abs. 1 RL 2001/83/EG nur bei Ärzten oder Apothekern oder anderen Personen beworben werden, die erlaubt Handel mit diesen Arzneimitteln betreiben. Die Grenze zwischen unzulässiger Werbung und zulässiger Information ist schwierig zu bestimmen. Maßgeblich für die Abgrenzung ist das mit der in Rede stehenden Maßnahme verfolgte Ziel: Sollen Absatz und Verbrauch des Arzneimittels gefördert werden, handelt es sich auch bei sachlichen Informationen ohne anpreisenden Charakter um Werbung. Diese subjektive Komponente, die Verkaufsförderungsabsicht, muss jedoch eindeutig zutage treten.321 Die vollständige und wortwörtliche Veröffentlichung der Verpackung und der Packungsbeilage von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln im Internet erfüllt den Werbebegriff daher nicht, steht hier doch das Interesse, dem Verbraucher objektive und zutreffende Informationen zur Verfügung zu stellen, im Vordergrund. Möglicherweise dadurch ausge316 EuGH 15.12.1982 – C-286/81, ECLI:EU:C:1982:438 – Oosthoek’s. Uitgeversmaatschappij; EuGH 5.10.2000 – C-376/98, ECLI:EU:C:2000:544 – Deutschland/Parlament und Rat; EuGH 12.12.2006 – C-380/03, ECLI:EU:C:2006:772 – Deutschland/Parlament und Rat; EuGH 8.11.2007 – C-374/05, ECLI:EU:C:2007:654 – Gintec. 317 EuGH 8.11.2007 – C-374/05, ECLI:EU:C:2007:654 – Gintec. 318 Reese in Doepner/Reese Heilmittelwerbegesetz Einl. Rn. 101. 319 So bereits Smillie et al. in Shorthose, S. 529 ff.; Collatz, S. 239; Winter, S. 199 für die vor Inkrafttreten des Arzneimittelkodex’ geltende Rechtslage unter der RL 92/28/EWG; Reese in Doepner/Reese Heilmittelwerbegesetz Einl. Rn. 116. 320 Sander PharmR 2002, 269 (272). 321 EuGH 28.10.1992 – C-219/91, ECLI:EU:C:1992:414 – Ter Voort; EuGH 5.5.2011 – C-316/09, ECLI:EU:C:2011:275 – MSD Sharp & Dohme; dazu Schmidt PharmR 2011, 313 (314 f.).

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B. Gegenstandsbeschreibung löste, geringfügige Effekte auf den Absatz des Produktes reichen allein nicht aus, um eine unzulässige Werbung anzunehmen, zumal die Entscheidung für oder gegen die Verordnung des Medikaments beim Arzt liegt.322 Im Interesse der Verbrauchersicherheit dürfen aber auch zugelassene, frei verkäufliche Arzneimittel nur sachlich beworben werden, der werbende Charakter der Information muss deutlich zutage treten. Daher ist es nach Art. 90 RL 2001/83/EG insbes. unzulässig, mit einer Erfolgsquote zu werben oder mit der Aussage, dass die Einnahme eines Medikaments die ärztliche Behandlung ersetze. Ebenso unzulässig ist das Erwecken des Anscheins der Nebenwirkungsfreiheit oder der Gesundheitsgefährdung, falls das Arzneimittel nicht angewandt wird. Zwingend ist der Hinweis, dass die Packungsbeilage zu lesen ist, Art. 89 Abs. 1 lit. b RL 2001/83/EG. Die Vorschriften des Arzneimittelkodex werden teilweise von der eCommerce-Richtlinie verdrängt, sofern es sich um Onlinewerbung handelt. Ist jene vom „Erfolgsprinzip“ geprägt, dh die Zulässigkeit von Werbung richtet sich nach dem Recht des Staates, in dem diese den Adressaten erreicht, gilt nach dieser das Herkunftslandprinzip. Die Zulässigkeit von Onlinewerbung für Medikamente richtet sich folglich nach dem Recht des Staates, von dem aus diese beworben werden. Freilich harmonisiert RL 2001/83/EG die inhaltlichen Anforderungen an die Arzneimittelwerbung für diesen wie für jenen Fall. Zudem ist den Mitgliedstaaten über die Schutzklausel des Art. 3 Abs. 4 lit. a ii) RL 2000/31/EG die Möglichkeit eingeräumt, das Recht zur Onlinewerbung im Falle einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit oder der Verbraucherinteressen zu beschränken.323 Nicht dem Arzneimittelkodex, sondern allein den primärrechtlichen Vorgaben unterliegen Werbemaßnahmen für Arzneimittel, deren Inverkehrbringen nicht nach den gemeinschaftsrechtlichen Regeln, sondern ausschließlich nach nationalem Recht genehmigt ist.324 Die Balance zwischen der Freiheit des Warenverkehrs und dem hinreichenden Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsgefahren erlaubt insbesondere Werbeverbote für Arzneimittel, die im Inland zwar nicht zugelassen sind, aber importiert werden dürfen. Entsprechende Verbote betreffen zwar nur ausländische Arzneimittel und schränken deren grundsätzlich zulässige Einfuhr im Vergleich zu inländischen Arzneimitteln ein, da sie Ärzten und Apothekern die Möglichkeit nehmen, sich über diese Medikamente zu informieren. Sie erfüllen damit den Tatbestand einer Maßnahme gleicher Wirkung iSv Art. 34 AEUV. Indes sind solche restriktiven Regelungen nach Art. 36 AEUV im Interesse des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt, stärken sie doch den Ausnahmecharakter der Einfuhr im Zielland nicht zugelassener Arzneimittel im Einzelfall für den persönlichen Bedarf eines einzelnen Patienten.325

322 EuGH 5.5.2011 – C-316/09, ECLI:EU:C:2011:275 – MSD Sharp & Dohme. 323 Ausführlich Sander PharmR 2002, 269 (273). 324 EuGH 16.6.1994 – C-320/93, ECLI:EU:C:1994:379 – Ortscheit – unter Bezugnahme auf EuGH 7.3.1989 – Rs. 215/87, ECLI:EU:C:1989:111– Schumacher; EuGH 21.3.1991 – C-369/88, ECLI:EU:C:1991:137 – Delattre; EuGH 16.4.1991 – C-347/89, ECLI:EU:C:1991:148 – EurimPharm. 325 EuGH 16.6.1994 – C-320/93, ECLI:EU:C:1994:379 – Ortscheit. Das Verbot der Zusendung von Listen, auf denen lediglich die Handelsnamen, Packungsgrößen, Preise und Wirkstärke nicht zugelassener, aber importfähiger Arzneimittel angegeben sind, ist jedoch unverhältnismäßig, da solche Listen keinen Werbecharakter aufweisen, EuGH 8.11.2007 – C-143/06, ECLI:EU:C:2007:656 – LudwigsApotheke.

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§ 9 Arzneimittelrecht

VI. Sozialrechtliche Bezüge des Arzneimittelrechts 213 Da ein erheblicher Teil der Arzneimittel an Patienten abgegeben wird, die in einem staatlichen System der Gesundheitsfürsorge gesichert sind, werden die im Interesse der Wettbewerbsfreiheit geltenden Regelungen durch das Recht der sozialen Sicherheit teilweise stark modifiziert. Die Maßnahmen zur Preisbildung reichen von der Festlegung fixer Endpreise über die Bestimmung von Festbeträgen für die Erstattung durch die staatlichen Gesundheitssysteme, über Rabattpflichten bis hin zu mittelbaren Steuerungsmaßnahmen wie die Reglementierung der Zahl der Apotheken.326 214 Die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme wird durch Europarecht nicht tangiert. Gleichwohl statuiert die Zusicherung dieser Kompetenz in Art. 168 Abs. 7 AEUV keine Bereichsausnahme in dem Sinne, dass die öffentlich organisierte Gesundheitsversorgung in Gänze dem Wettbewerbsrecht entzogen sei.327 Die Mitgliedstaaten dürfen durch sozialrechtliche Vorgaben den Binnenhandel mit Arzneimitteln nicht unverhältnismäßig beschränken. 1. Preisbildung 215 Die Preise für Arzneimittel werden nicht dem Wirken von Angebot und Nachfrage überlassen. Sie sind vielmehr in allen Mitgliedstaaten der Regulierung unterworfen. Hintergrund ist der besondere Charakter der Ware Arznei: Sie zu erhalten, ist für den Patienten lebenswichtig, zumindest aber notwendig, um sein Leiden zu lindern. Würde man es auch Mittellosen überlassen, sich Arzneimittel auf dem freien Markt zu verschaffen, blieben sie womöglich unversorgt. Es liegt daher im öffentlichen Interesse, dass Arzneimittel für jeden Patienten zu einem angemessenen Preis verfügbar sind.328 Zugleich dient die regulierte Preisbildung der Begrenzung der Ausgaben der öffentlichen Gesundheitssysteme.329 216 Die Bestimmung der Arzneimittelpreise ist weitgehend dem nationalen Recht vorbehalten, Art. 1 UAbs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004, Art. 4 Abs. 3 RL 2001/83/EG. Eine Harmonisierung ist auch langfristig nicht beabsichtigt,330 sind die bestehenden Preisbildungsmechanismen doch historisch gewachsen und stark von der nationalrechtlichen Ausgestaltung der Gesundheitssysteme geprägt. Das Unionsrecht hat folglich nur marginalen Einfluss.331 217 Die Freiheit der Mitgliedstaaten zur eigenständigen Ausgestaltung ihres Sozialrechts findet jedoch ihre Grenzen im sonstigen Primärrecht. Vorgaben zur Beschränkung des Arzneimittelexports oder zur Preisbildung können sich als unzulässige Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen erweisen und damit Art. 34, 35 AEUV zuwiderlaufen. Solche Beschränkungen sind nach Art. 36 AEUV zwar zulässig, sofern sie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere auch dem Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen dienen. Der EuGH legt diese Ausnahme seit jeher eng aus332 und prüft die Verknüpfung zwischen der Einfuhrbeschränkung und Gesundheitsschutz strikt. Die Mitgliedstaaten hätten konkret darzulegen, dass bestimmte Regulierungsmaßnahmen erforderlich sind, 326 327 328 329

Vgl. die rechtsvergleichende Übersicht bei Schelling, S. 73 ff. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schmidt am Busch AEUV Art. 168 Rn. 79 f. Schelling, S. 17. Krapf/Lange PharmR 2005, 255 (256); Roth EuR Beiheft 2/2007, 9 (31). Vgl. auch EuGH 16.9.2008 – C-468/06, ECLI:EU:C:2008:504 – Lélos. 330 Mitteilung der Kommission v. 25.11.1998 über den Binnenmarkt für Arzneimittel, KOM(1998) 588 endg. 331 Kügel in Terbille MAH Medizinrecht § 14 Rn. 12; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Streinz EuR § 24 Rn. 100; Schmidt am Busch, S. 280. 332 EuGH 10.1.1985 – Rs. 229/83, ECLI:EU:C:1985:1 – Association des Centres distributeurs Leclerc und Thouars Distribution; 11.9.2008 – C-141/07, ECLI:EU:C:2008:492 – Kommission/Deutschland; 9.12.2010 – C-421/09, ECLI:EU:C:2010:760 – Humanplasma.

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um konkrete Gesundheitsgefahren abzuwehren. Im EU-Ausland ansässige Versandapotheken haben daher das Recht, Bonusregelungen, beispielsweise für die Mitglieder von Selbsthilfeorganisationen, anzubieten.333 Die zuständigen Behörden sind daher nicht berechtigt, das Inverkehrbringen eines impor- 218 tierten Arzneimittels allein deshalb zu verhindern, weil die im nationalen Recht des Absatzstaates verankerten Preismodalitäten nicht eingehalten sind. Maßnahmen der Preispolitik, wenn sie keinen zwingenden Bezug zum Gesundheitsschutz aufweisen, sind auf andere, weniger einschneidende Weise durchzusetzen.334 So hat der EuGH die in § 78 Abs. 1 S. 4 AMG iVm der AMPreisV enthaltenen Vorgaben 219 zur Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel als unzulässige Maßnahme gleicher Wirkung iSv Art. 34 AEUV eingestuft, soweit diese auch für den Versand solcher Arzneimittel aus anderen Mitgliedstaaten an Verbraucher in der Bundesrepublik gelten. Ein einheitlicher Apothekenabgabepreis behindere die im Ausland ansässigen (Versand)Apotheken stärker als inländische Apotheken, da der Versandhandel für diese der einzige Weg sei, ihre Waren in anderen Mitgliedstaaten zu vertreiben. Da sie – anders als Präsenzapotheken – nicht über die Möglichkeit verfügten, Kunden durch die persönliche Betreuung und Beratung und die Notversorgung mit Arzneimitteln an sich zu binden, bilde die Preisbildung einen wesentlichen Wettbewerbsfaktor. Die Ausnahmeregelung des Art. 36 AEUV greife nicht, da ein einheitlicher Apothekenpreis objektiv nicht geeignet sei, das Ziel des Gesundheitsschutzes nach Art. 36 AEUV zu erreichen. Das Argument, ein „Preiskampf“ im Arzneimittelversand könne zu einem Rückgang der Zahl der Präsenzapotheken führen und damit letztendlich die Notversorgung vor Ort gefährden, sei objektiv nicht hinreichend belegt, sondern beruhe lediglich auf allgemeinen Vermutungen, die aber keine konkrete Gesundheitsgefahr erkennen lassen.335 Im Inland ansässige Versandapotheken bleiben dagegen weiterhin an die Vorgaben der AMPreisV gebunden, sodass der – wenngleich europarechtlich unbedenkliche – Tatbestand der Inländerdiskriminierung erfüllt ist.336 Auch wenn ein staatlich festgesetzter Preis für Importarzneimittel so bemessen ist, dass 220 deren Absatz im Einfuhrstaat unrentabel wird, stellt dies eine Maßnahme gleicher Wirkung iSv Art. 34 AEUV dar. Dies gilt namentlich, wenn der Preis für importierte Arzneimittel unter den für inländische Waren geltenden Preisen liegt.337 Im Ergebnis müssen die Mechanismen zur Preisregulierung also verhältnismäßig sein und für in- wie ausländische Arzneimittel gleichermaßen gelten.338 2. Erstattungsfähigkeit in den Systemen öffentlicher Gesundheitsfürsorge Die Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit der Aufwendungen für Arzneimittel im 221 Rahmen der Systeme sozialer Sicherheit ist ebenfalls den Mitgliedstaaten vorbehalten, Art. 4 Abs. 3 RL 2001/38/EG, Art. 1 UAbs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004. In wettbewerbsrechtlicher Hinsicht sind insbes. Positivlisten, dh Listen der erstattungsfähigen Medika333 EuGH 19.10.2016 – C-148/15, ECLI:EU:C:2016:776 – Deutsche Parkinson Vereinigung; zustimmend Mittwoch EuZW 2016, 936 (939); Ludwigs NVwZ 2016, 1796 (1797); Koenig PharmR 2017, 85 (88 f.); kritisch Witt/Gregor PharmR 2016, 481 (483 f.). 334 EuGH 26.1.1984 – C-301/82, ECLI:EU:C:1984:30 – Clin-Midy. 335 EuGH 19.10.2016 – C-148/15, ECLI:EU:C:2016:776 – Deutsche Parkinson Vereinigung. 336 Witt/Gregor PharmR 2016, 481 (484 f.); Kozianka/Hußmann PharmR 2017, 10 (10); Hauck NZS 2017, 161 (162 f.). 337 EuGH 19.11.1983 – C-181/82, ECLI:EU:C:1983:352 – Roussel Laboratoria. 338 EuGH 29.11.1983 – C-181/82, ECLI:EU:C:1983:352 – Roussel Laboratoria; EuGH 26.1.1984 – C-301/82, ECLI:EU:C:1984:30 – Clin-Midy; EuGH 19.3.1991 – C-249/88, ECLI:EU:C:1991:121 – Kommission/Belgien.

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mente und Negativlisten, dh Listen der nicht erstattungsfähigen Medikamente problematisch. Denn werden die Kosten bestimmter Arzneimittel nicht durch die Träger sozialer Sicherheit übernommen, können sie auf dem Markt kaum abgesetzt werden, wenn der Patient die Kosten selbst in vollem Umfang tragen muss.339 222 Derartigen Wettbewerbsverzerrungen wird durch die Transparenzrichtlinie 89/105/ EWG340 begegnet. Der Anwendungsbereich der Richtlinie erstreckt sich einerseits auf Maßnahmen zur Kontrolle der Preisbildung für alle für den menschlichen Gebrauch zugelassenen Arzneimittel. Er umfasst andererseits Regelungen, die die Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln im Rahmen der staatlichen Krankenversicherungssysteme tangieren, Art. 1 Abs. 1 RL 89/105/EWG.341 Auch Maßnahmen, mit denen Ärzte zur Verordnung besonders preisgünstiger Arzneimittel veranlasst werden sollen, müssen den Vorgaben der RL 89/105/EWG genügen.342 Die Aufnahme von Arzneimitteln in die Positivliste muss ebenso wie deren Streichung oder die Einschränkung der Erstattungspflicht nach Art. 6 Nr. 2 RL 89/105/EWG begründet werden, damit die Kriterien der Preisfestsetzung überprüfbar sind und insbesondere beurteilt werden kann, ob sie geeignet sind, den Marktzugang für Präparate aus anderen Mitgliedstaaten zu behindern.343 223 Die Richtlinie beschränkt sich auf Rahmenregelungen und bestimmt keine materiellrechtlichen Kriterien für die Preisregulierung, etwa die Verknüpfung von Preisbildung und Nutzenbewertung,344 um nicht in die Kompetenz der Mitgliedstaaten einzugreifen. Sie etabliert vielmehr einen Mindeststandard an Rechtsschutzregeln, der den Herstellern gegen Maßnahmen der Preisregulierung offenstehen muss.345 224 Bereits Anfang der 1980er Jahre entschied der EuGH über die Zulässigkeit von Negativlisten. Die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme sozialer Sicherheit schließe die Befugnis ein, die Ausgaben des öffentlichen Gesundheitswesens zu kontrollieren und gegebenenfalls zu regulieren, um die Finanzierbarkeit des Systems zu gewährleisten. Sie dürfen zu diesem Zweck auch Negativlisten etablieren. Bei der Auswahl der in die Liste aufgenommenen Arzneimittel dürfen die Mitgliedstaaten jedoch nicht in diskriminierender Weise nach dem Ursprung des Arzneimittels vorgehen. Vielmehr müssen objektiv nachvollziehbare Kriterien zur Anwendung kommen – etwa das Preis-Leistungsverhältnis bei gleicher Zusammensetzung.346 Die Entscheidung über die Aufnahme eines Arzneimittels in die Negativliste darf jedoch nicht an die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels anknüpfen, ist diese doch bereits Gegenstand des Zulassungsverfahrens.347 Damit wird verhindert, dass sich die nationalrechtlichen Vorgaben zur sozialrechtlichen Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln als mengenmäßige Beschränkungen iSv Art. 34 AEUV erweisen.348 339 Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 82; Schickert PharmR 2004, 47 (48). 340 Richtlinie 89/105/EWG des Rates v. 21.12.1988 betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme, ABl. L 40 v. 11.2.1989, 8 ff. 341 Zur Unterscheidung beider Tatbestandsalternativen Schaks PharmR 2011, 305 (308). 342 EuGH 22.4.2010 – C-62/09, ECLI:EU:C:2010:219 – Association of the British Pharmaceutical Industry. 343 EuGH 26.2.2015 – C-691/13, ECLI:EU:C:2015:121 – Les Laboratoires Servier; EuGH 16.4.2015 – C-271/14, ECLI:EU:C:2015:237 – LFB Biomédicaments. 344 Nitz/Kluckert MedR 2016, 591 (593). 345 Schickert PharmR 2004, 47 (48). EuGH 27.11.2001 – C-424/99, ECLI:EU:C:2001:642 – Kommission/Österreich – mwN; EuGH 22.4.2010 – C-62/09, ECLI:EU:C:2010:219 – Association of the British Pharmaceutical Industry. 346 EuGH 7.2.1984 – C-238/82, ECLI:EU:C:1984:45 – Duphar. 347 Dauses/Ludwigs/Streinz/Ritter HdBEUWiR C.V. Rn. 85. 348 6. Erwägungsgrund der Richtlinie; dazu Schmidt am Busch, S. 281.

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Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

B. Gegenstandsbeschreibung Diese Kriterien gelten auch für Positivlisten.349 Die Rechtsprechung des EuGH hat inzwischen Eingang in die Art. 6, 7 RL 89/105/EWG gefunden. Die Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln darf jedenfalls nicht an den Ursprung des Arzneimittels anknüpfen. Den Patienten ist aufgrund der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV die freie Wahl unter den in der EU ansässigen Leistungserbringern eingeräumt. Eine Beschränkung der Leistungspflicht der Krankenversicherungsträger auf Arzneimittel, die in inländischen Apotheken erworben werden, ist daher nicht zulässig. Zwar hat der EuGH die Planung der Versorgung, die Sicherung der Infrastruktur und die Aufrechterhaltung des finanziellen Gleichgewichts als Gründe erheblichen öffentlichen Interesses anerkannt, die eine Beschränkung der Grundfreiheiten von Patienten erlauben. Solche müssen aber verhältnismäßig ausgestaltet sein und dürfen die Inanspruchnahme von Leistungserbringern aus anderen Mitgliedstaaten nicht vollständig ausschließen. Zulässig sind danach Regelungen, die vor der Inanspruchnahme von Anbietern im EU-Ausland die Einholung einer Genehmigung durch den Krankenversicherungsträger vorsehen. Wegen der besonderen Planungserfordernisse hat der EuGH dies bislang aber nur im stationären Sektor oder bei der Versorgung mit Großgeräten anerkannt.350 Auf Arzneimittel dürfte diese Rechtsprechung wohl kaum übertragbar sein. Die Möglichkeit, Arzneimittel auf Kosten der Krankenversicherung in anderen EU-Mitgliedstaaten zu erwerben, wird kaum zu einem ruinösen Preiswettbewerb unter den Leistungserbringern führen, der die Planung der Arzneimittelversorgung aus dem Gleichgewicht brächte. Auch eine erhöhte Gefahr für den Missbrauch von Medikamenten steht nicht zu befürchten, ist durch die Verschreibungspflicht351 für potenziell gefährliche Substanzen doch eine Kontrolle über das Konsumentenverhalten gewährleistet.

9 225 226

227

228

3. Festbeträge Bestimmen die gesetzlichen Krankenkassen Festbeträge, hat dies zur Folge, dass diese die 229 Kosten für Arzneimittel nur noch in Höhe dieses Festbetrags übernehmen. Die Differenz zum Abgabepreis trägt der Versicherte selbst. Damit soll ein Anreiz gesetzt werden, sich im Interesse der Minimierung des Eigenanteils für preiswerte Arzneimittel zu entscheiden, um so die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zu reduzieren.352 Es war lange umstritten, ob darin eine nach Art. 101 Abs. 1 lit. a AEUV unzulässige Festsetzung von Verkaufspreisen liegt, statuiert der Festbetrag faktisch doch einen Höchstpreis, oberhalb dessen die Nachfrage gesetzlich versicherter Patienten stark eingeschränkt ist.353 Das Kartellverbot des Art. 101 AEUV bezieht sich auf Vereinbarungen zwischen Unter- 230 nehmen oder Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen. Ob der Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts für Maßnahmen der gesetzlichen Krankenkassen eröffnet ist, bemisst sich nach dem funktionalen Unternehmensbegriff.354 Dies ist der Fall, wenn der Austausch von Leistungen – Waren oder Dienstleistungen – auf dem Markt Ge349 EuGH 27.11.2001 – C-424/99, ECLI:EU:C:2001:642 – Kommission/Österreich. 350 EuGH 12.7.2001 – Rs. 157/99, ECLI:EU:C:2001:404 Rn. 108 – Smits und Peerbooms; EuGH 13.5.2003 – C-385/99, ECLI:EU:C:2003:270 Rn. 91 – Müller-Fauré und Van Riet; EuGH 5.10.2010 – C-512/08, ECLI:EU:C:2010:579 – Kommission/Frankreich. Dazu ausführlich Janda in jurisPK– SGB I Art. 22 VO (EG) 883/2004 Rn. 73 ff. 351 In einem anderen Mitgliedstaat ausgestellte ärztliche Verschreibungen sind gem. Art. 11 RL 2011/24/EU anzuerkennen. 352 Janda, S. 276. 353 Zum Streitstand Koenig/Engelmann EuZW 2004, 682 (682 f.) 354 St. Rspr. seit EuGH 23.4.1991 – C-41/90, ECLI:EU:C:1991:161 – Höfner und Elser; EuGH 17.2.1993 – C-159/91, ECLI:EU:C:1993:63 – Poucet und Pistre; EuGH 16.3.2004 – C-264/01,

Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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9

§ 9 Arzneimittelrecht

genstand des Auftretens ist.355 Bei der Abgrenzung ist auf den konkreten Einzelfall, also die Umstände der konkret in Rede stehenden Teilnahme am Marktgeschehen abzustellen. 231 Der Umstand, dass die Krankenkassen in das Gefüge der gesetzlichen Krankenversicherung eingebunden sind und demzufolge einen sozialen Zweck verfolgen, steht der Unternehmereigenschaft nicht per se entgegen. Auch die Rechtsform oder die Finanzierung sind für die Einstufung als Unternehmen nicht entscheidend.356 232 Die Krankenkassen treten bei der Bestimmung von Festbeträgen indes nicht als Nachfrager auf dem Arzneimittelmarkt auf.357 Die Nachfrageentscheidung treffen vielmehr die Versicherten nach Maßgabe der ärztlichen Verordnung. Zudem ist der Spielraum der Krankenkassen bei der Bestimmung der Festbeträge gering, da alle Kriterien – bis auf die konkrete Höhe des Festbetrags – durch den Gesetzgeber determiniert sind. Die Krankenkassen kommen mit der Festlegung der Festbeträge also einer gesetzlich verankerten Pflicht nach, die im Interesse der solidarischen Versorgung aller Versicherten mit Arzneimitteln zu angemessenen Preisen begründet ist. Sie treten folglich nicht als Unternehmen auf.358 233 Als Maßnahme zur Preiskontrolle fallen Festbeträge in den Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 1 RL 89/105/EWG. Die Kriterien, die der Etablierung von Festbeträgen zugrunde liegen, müssen folglich transparent und nachvollziehbar sein und in angemessenem Verhältnis zum damit verfolgten Zweck stehen.359 4. Rabattverträge der Krankenkassen 234 Eine weitere Möglichkeit zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben in den staatlichen Gesundheitssystemen ist die Verpflichtung pharmazeutischer Unternehmer zur Gewährung von Rabatten auf die von ihnen festgelegten Abgabepreise. Solche Rabatte können gesetzlich bestimmt oder mit den Sozialversicherungsträgern vereinbart werden. Verträge über die Beschaffung von Waren und Dienstleistungen sind als unternehmerische Tätigkeit zu werten, wenn diese über die Deckung des Eigenbedarfs hinausgehen.360 235 Dies ist bei Anbahnung und Abschluss von Rabattverträgen durch die Krankenkassen der Fall. Denn anders als bei der Bestimmung von Festbeträgen, verbleibt ihnen hier ein erheblicher Spielraum: Weder das Verfahren noch die Auswahlkriterien sind in dem für das deutsche Recht maßgeblichen § 130 a SGB V reguliert.361 Den Krankenkassen kommt somit die für die Bejahung der Unternehmereigenschaft maßgebliche autonome Entscheidungsbefugnis362 zu.363

355 356

357 358 359 360 361 362 363

686

ECLI:EU:C:2004:150 – AOK Bundesverband; EuGH 11.6.2009 – C-300/07, ECLI:EU:C:2009:358 – Oymanns. Calliess/Ruffert/Weiß EUV/AEUV AEUV Art. 101 Rn. 29. EuGH 23.4.1991 – C-41/90, ECLI:EU:C:1991:161 – Höfner und Elser; EuGH 16.11.1995 – C-244/94, ECLI:EU:C:1995:392 – Fédération française; EuGH 21.9.1999 – C-67/96, ECLI:EU:C:1999:430 – Albany; EuGH 22.1.2002 – C-218/00, ECLI:EU:C:2002:36 – Cisal; EuGH 16.3.2004 – C-264/01, ECLI:EU:C:2004:150 – AOK Bundesverband. So aber Koenig/Engelmann EuZW 2004, 682 (684). EuGH 16.3.2004 – C-264/01, ECLI:EU:C:2004:150 – AOK Bundesverband. Hanika MedR 2000, 63 (67); Winter, S. 175. Calliess/Ruffert/Weiß EUV/AEUV AEUV Art. 101 Rn. 25. Vgl. auch EuGH 11.6.2009 – C-300/07, ECLI:EU:C:2009:358 – Oymanns. Dazu Janda, S. 274 f. EuGH 17.2.1993 – C-159/91, ECLI:EU:C:1993:63 – Poucet und Pistre. Sträter/Natz PharmR 2007, 7 (9); Wagner in Martinek/Semler/Habermeier/Flohr Vertriebsrecht § 51, Rn. 53. Auch im nationalen Recht richtet sich die Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf die Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern danach, ob die Krankenkassen

Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

C. Ausblick

9

Hinzu kommt, dass die Krankenkassen mit der Ausschreibung von Rabattverträgen nahe- 236 zu zwangsläufig ihre marktbeherrschende Position ausnutzen, indem sie über die Nachfrage nach Pharmazeutika für alle ihre Versicherten den Hersteller zu Preisnachlässen veranlassen.364 Mit dieser Ausnutzung der marktbeherrschenden Stellung geht indes kein Missbrauch iSv 237 Art. 102 AEUV einher. Der EuGH hat das Interesse der Mitgliedstaaten an der Aufrechterhaltung des finanziellen Gleichgewichts der sozialen Sicherungssysteme stets als legitimen Grund anerkannt, der eine Beschränkung des freien Wettbewerbs ermöglicht. Dieses Argument ist auch auf die Rabattverträge zu übertragen, da diese ebenfalls der Kostendämpfung im öffentlichen Gesundheitswesen dienen und auch den an den Verhandlungen beteiligten pharmazeutischen Unternehmen hinreichende Handlungsspielräume zustehen.365 Jedenfalls sind die Krankenkassen vor dem Abschluss von Rabattverträgen zur öffentli- 238 chen Ausschreibung nach Maßgabe der RL 2004/18/EG366 verpflichtet.367 Damit wird dem Ziel des Wettbewerbsrechts genügt, die Bevorzugung inländischer Bieter bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu verhindern.368 Diese Gefahr bestehe jedoch offenkundig nicht, wenn der Vertragsschluss mit keinerlei Auswahl unter den interessierten Unternehmen verbunden ist. Bekundet also eine Krankenkasse ihre Absicht, Rabattverträge für Arzneimittel mit einem bestimmten Wirkstoff abzuschließen und ist sie bereit, diese mit allen interessierten Pharmaunternehmen einzugehen, bedarf es keiner vergaberechtlichen Ausschreibung. Die Art und Weise der Bekanntgabe der Absicht zum Abschluss von Rabattverträgen muss aber die Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer ermöglichen und hinreichend transparent sein, um allen in der EU ansässigen Unternehmen den Beitritt zu solchen Verträgen zu eröffnen.369 Der EuGH bewertet die Anwendung des Wettbewerbsrechts in der gesetzlichen Krankenversicherung folglich differenziert: Das Krankenversicherungsrecht ist nicht generell für den Wettbewerb zu öffnen, sondern nur in den Fällen, wo die Gefahr der ungerechtfertigten Bevorzugung inländischer Anbieter besteht.

C. Ausblick Das Arzneimittelrecht wird auch in Zukunft seine besondere Bedeutung im Rahmen des 239 sektoralen Wirtschaftsrechts beibehalten. Zu seiner Weiterentwicklung wird nicht zuletzt der erhebliche medizinische Fortschritt beitragen, der neue Arzneimittel hervorbringen wird, mit denen auch bislang nicht therapierbare Krankheiten geheilt oder neue biotechnologische Verfahren angewendet werden. Langfristig wird eine Ausdehnung des zentralisierten Verfahrens auf alle Arzneimittel ge- 240 fordert und erwartet, bringt die Parallelität der verschiedenen Genehmigungssysteme doch

364 365 366 367

368 369

gesetzlich zum Abschluss von Verträgen verpflichtet sind, vgl. § 69 Abs. 2 S. 2 SGB V, dazu Baier MedR 2011, 345 (346). Sträter/Natz PharmR 2007, 7 (10). Kritisch für Verträge, die nur einer begrenzten Zahl von Anbietern offenstehen sollen Sträter/Natz PharmR 2007, 7 (12). Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. L 134 v. 30.4.2004, 114. Willenbruch/Bischoff PharmR 2005, 477 (484); Sträter/Natz PharmR 2007, 7 (12); Wagner in Martinek/Semler/Habermeier/Flohr Vertriebsrecht § 51 Rn. 56 und 58. Vgl. auch EuGH 11.6.2009 – C-300/07, ECLI:EU:C:2009:358 – Oymanns – zur Ausschreibungspflicht für Lieferaufträge der Krankenkassen für orthopädische Schuhe. EuGH 10.11.1998 – C-360/96, ECLI:EU:C:1998:525 – BFI Holding. EuGH 2.6.2016 – C-410/14, ECLI:EU:C:2016:399 – Dr. Falk Pharma GmbH/DAK Gesundheit.

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9

§ 9 Arzneimittelrecht

einen erhöhten Aufwand an Zeit, Kosten und Bürokratie mit sich.370 Gleichwohl ist keine vollständige und umfassende Liberalisierung des Arzneimittelmarktes zu erwarten. Dagegen sprechen einerseits das besondere Gefährdungspotenzial der „Ware“ Arznei, andererseits deren Abgabe im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme. 241 Der europarechtliche Rahmen wird sich jedoch erweitern. Da die europäischen pharmazeutischen Unternehmen auf dem Weltmarkt vornehmlich mit Herstellern aus den USA und Japan konkurrieren, haben sich die Behörden und Industrieverbände dieser Regionen bereits 1990 in der International Conference on Harmonisation (ICH) zusammengeschlossen. Diese transnationale Vereinigung formuliert vereinheitlichte Kriterien für die Verkehrsfähigkeit von Arzneimitteln (ICH-Guidelines), die letztlich auch in die europäische Gesetzgebung Eingang finden. Die Aktivitäten der ICH verdienen eingehende Beobachtung in der Zukunft, gibt diese doch zwingendes Recht vor und beeinflusst das europäische Arzneimittelrecht maßgeblich.371 242 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

20.5.1976

C-104/75

Slg 1976, 613

de Peijper

NJW 1976, 1575

EuGH

23.5.1978

C-102/77

Slg 1978, 1139

Hoffmann – La Roche

NJW 1978, 1739

EuGH

30.11.1983 C-227/82

Slg 1983, 3883

van Bennekom

NJW 1985, 541 = PharmR 1984, 21

EuGH

14.7.1983

C-174/82

Slg 1983, 2445

Sandoz

NJW 1984, 2757

EuGH

7.2.1984

C-238/82

Slg 1984, 523

Duphar

NJW 1985, 542

EuGH

27.5.1986

C-87/85

Slg 1986, 1707

Legia und Cophalux

EuGH

7.3.1989

C-215/87

Slg 1989, 617

Schumacher

NJW 1989, 2185 = RiW 1989, 319

EuGH

21.3.1991

C-369/88

Slg 1991, I-1487

Delattre

LRE 28, 3

EuGH

21.3.1991

C-60/89

Slg 1991, 154

Monteil und Samanni

EuGH

16.4.1991

C-112/89

Slg 1991, I-1703

Upjohn

LRE 28, 19

EuGH

20.5.1992

C-290/90

Slg 1992, I-3317

Kommission/ Deutschland – „Prevor“

NVwZ 1993, 53 = PharmR 1992, 260

EuGH

28.10.1992 C-219/91

Slg 1992, I-5485

Ter Voort

EuZW 1993, 736

EuGH

5.10.1995

Slg 1995, I-2851

Scotia Pharmaceuticals

EuZW 1995, 770 = PharmR 1996, 68

C-440/93

370 Koenig/Müller PharmR 2000, 148, 149. 371 Eingehend Engelke MedR 2010, 619.

688

Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

11.7.1996

C-427/93

Slg 1996, I-3457

Bristol-Myers Squibb

NJW 1997, 1627 = PharmR 1996, 300

EuGH

11.7.1996

C-71/94

Slg 1996, I-3603

Eurim-Pharm

NJW 1997, 1632 = PharmR 1996, 292

EuGH

12.11.1996 C-201/94

Slg 1996, I-5819

Smith & Nephew und Primecrown

PharmR 1997, 92

EuGH

3.12.1998

Slg 1998, I-7967

Generics

PharmR 1999, 45 = LRE 36, 33

EuGH

16.12.1999 C-94/98

Slg 1999, I-8789

Rhône-Poulenc Rorer und May & Baker

GRUR Int 2000, 349 = EuR 2000, 643

EuGH

14.2.2002

C-440/01

Slg 2002, I-1489

Artegodan/ Kommission

EuGH

10.9.2002

C-172/00

Slg 2002, I-6891

Ferring

EuG

26.11.2002 T-74/00

Slg 2002, II-4945

Artegodan/ Kommission

EuG

28.1.2003

T-147/00

Slg 2003, II-85

Laboratoires Servier/Kommission

EuGH

11.12.2003 C-322/01

Slg 2003, I-14887

Doc Morris

EuGH

6.1.2004

C-2/01

Slg 2004, I-23

BAI und Kommis- EuZW 2004, 309 = sion/Bayer – PharmR 2004, 77 „Adalat“

EuGH

16.3.2004

C-264/01

Slg 2004, I-2493

AOK Bundesverband

NJW 2004, 1728 = ZESAR 2004, 187

EuGH

1.4.2004

C-112/02

Slg 2004, I-3369

Kohlpharma

PharmR 2004, 199 = EuZW 2004, 530

EuGH

29.4.2004

C-387/99

Slg 2004, I-3751

Kommission/ Deutschland

EuZW 2004, 375 = ZLR 2004, 464

EuGH

29.4.2004

C-150/00

Slg 2004, I-3887

Kommission/ Österreich

ZLR 2004, 479 = LRE 48, 66

EuGH

29.4.2004

C-106/01

Slg 2004, I-4403

Novartis Pharmaceuticals

EuZW 2004, 408 = StoffR 2004, 138

EuGH

20.1.2005

C-74/03

Slg 2005, I-595

SmithKline Beecham

EuGH

9.6.2005

C-211/03

Slg 2005, I-5141

HLH Warenvertrieb und Orthica

WRP 2005, 863 = ZLR 2005, 435

EuG

27.9.2006

T-168/01

Slg 2006, II-2969

GlaxoSmithKline Services/Kommission

StoffR 2006, 275

EuGH

8.11.2007

C-374/05

Slg 2007, I-9517

Gintec

EuZW 2008, 25 = PharmR 2008, 52

C-368/96

NJW 2003, 1726 = EuZW 2002, 663

NJW 2004, 131 = EuZW 2004, 21

Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

689

9

9

§ 9 Arzneimittelrecht Gericht

Datum

EuGH

Sammlung

Benennung

Fundstellen

15.11.2007 C-319/05

Slg 2007, I-9811

Kommission/ Deutschland – „Knoblauchkapsel“

EuZW 2008, 56 = GRUR 2008, 271

EuGH

16.9.2008

C-468/06

Slg 2008, I-7139

Sot. Lélos kai Sia

EuZW 2008, 634 = PharmR 2008, 541

EuGH

22.12.2008 C-276/05

Slg 2008, I-10479

The Wellcome Foundation

GRUR 2009, 154 = PharmR 2009, 126

EuGH

15.1.2009

C-140/07

Slg 2009, I-41

Hecht Pharma – „Red Rice“

NVwZ 2009, 439 = PharmR 2009, 122

EuGH

30.4.2009

C-27/08

Slg 2009, I-3785

BIOS Naturprodukte

NVwZ 2009, 967 = EuZW 2009, 545

EuGH

11.6.2009

C-300/07

Slg 2009, I-4779

Hans & Christophorus Oymanns

NJW 2009, 2427 = ZESAR 2009, 395

EuGH

18.6.2009

C-527/07

Slg 2009, I-5259

Generics

PharmR 2009, 445

EuGH

6.10.2009

C-501/06

Slg 2009, I-9291

GlaxoSmithKline Services/Kommission

PharmR 2010, 103 = ZESAR 2010, 375

EuGH

22.4.2010

C-62/09

Slg 2010, I-3603

Association of the PharmR 2010, 283 = British PharZESAR 2010, 430 maceutical Industry

EuGH

5.5.2011

C-316/09

EuGH

3.10.2013

C-109/12

ECLI:EU:C:2 013:626

Laboratoires Lyo- PhamrR 2013, 485 centre

EuGH

5.12.2013

C-159/12

ECLI:EU:C:2 013:791

Alessandra Ventu- PharmR 2014, 24 rini/ASL Varese

EuGH

23.10.2014 C-104/13

ECLI:EU:C:2 014:2316

Olainfarm

PharmR 2014, 570 = EuZW 2015, 31

EuGH

16.7.2015

C-544/13

ECLI:EU:C:2 015:481

Abcur

PharmR 2015, 436 = EuZW 2015, 707

EuGH

6.10.2015

C-471/14

ECLI:EU:C:2 015:659

Seattle Genetics

PharmR 2015, 539 = GRUR 2016, 474

EuGH

2.6.2016

C-410/14

ECLI:EU:C:2 016:399

Dr. Falk Pharma/DAK Gesundheit

EuZW 2016, 705 = ZESAR 2017, 30

EuGH

19.10.2016 C-148/15

ECLI:EU:C:2 016:776

Deutsche Parkinson Vereinigung

NZS 2017, 182 = PharmR 2016, 494

EuGH

28.6.2017

C-629/15

ECLI:EU:C:2 017:498

Novartis Europharm

PharmR 2017, 488

EuGH

20.12.2017 C-492/16

ECLI:EU:C:2 017:559

Incyte Corporation

PharmR 2018, 89 = GRUR 2018, 602

690

Az.

MSD Sharp & Dohme

Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

EuZW 2011, 481 = PharmR 2011, 282

Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

14.3.2018

C-557/16

ECLI:EU:C:2 018:181

Korkein hallinto.oikeus/Astellas Pharma

GRUR 2018, 747

EuGH

17.5.2018

C-642/16

ECLI:EU:C:2 018:322

Junek Europ-Vertrieb

PharmR 2018, 339

EuGH

25.7.2018

C-121/17

ECLI:EU:C:2 018:585

Teva UK Ltd

PharmR 2018, 532

EuGH

25.10.2018 C-527/17

ECLI:EU:C:2 018:867

Paclitaxel

PharmR 2018, 564

EuGH

21.11.2018 C-29/17

ECLI:EU:C:2 018:931

Novartis Farma Pharma Recht 2019, SpA/Agenzia Ita- 8 liana del Farmaco (AIFA)

EuGH

21.03.2019 C-443/17

ECLI:EU:C:2 019:238

Abraxis Bioscience LLC

PharmR 2019, 229

Janda https://doi.org/10.5771/9783748900238-633 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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9

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E. Recht der Finanzwirtschaft

https://doi.org/10.5771/9783748900238-693 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

https://doi.org/10.5771/9783748900238-693 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht Christoph Ohler A. Finanzmarktregulierung im System des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Europäisierung der Finanzmarktregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herkunft aus der Gewerbeaufsicht 2. Regulierungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffsbedeutung . . . . . . . . . . . . . . b) Wettbewerbsbezug und Markteffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strukturelle Besonderheiten der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Relative Natur von Geldforderungen und dezentraler Handel . . . . 2. Volkswirtschaftliche Bedeutung, internationale Dimension, Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Risikoübernahme durch Finanzinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertrauen als Grundlage . . . . . . . b) Risikoübernahme als Wesensmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Risikobewältigung durch die Institute; Marktdisziplin . . . . . . . d) Folgen für die regulatorische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Finanzintermediation . . . . . . . . . . . . . . 5. Informationsasymmetrien und Produktkomplexität . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Problem der Systemstabilität . . B. Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Ziel der Marktintegration . . . . . . . . . II. Wirtschaftspolitische Konzeptionen des europäischen Gesetzgebers . . . . . . . . . 1. Unternehmensbezogene Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätzliches Fehlen einer Produktregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Marktinfrastrukturen . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bedeutung internationaler Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Mindestharmonisierung vs. Vollharmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Rolle der Grundfreiheiten . . . . . . . . . 1. Anwendbare Grundfreiheiten . . . . . . 2. Konkurrenzverhältnis in Drittstaatenfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschränkungsverbot und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis zum Sekundärrecht . . . . . VI. Vertragliche Grundlagen europäischer Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsetzung durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die Verwirklichung des Herkunftslandprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der europäische Pass . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 2 3 3 4 7 8 9 9 12 15 15 16 17 19 23 26 29 32 32 36 36 38 40 41 46 47 47 48 50 51 52 52 55 56 61 61

2. Beaufsichtigte Unternehmen . . . . . . . a) Kreditinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zahlungsinstitute . . . . . . . . . . . . . . . c) Wertpapierfirmen . . . . . . . . . . . . . . d) Versicherungsunternehmen . . . . e) Alternative Investmentfonds . . . f) Ratingagenturen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufsichtsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutz der Fremdkapitalgläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionsfähigkeit essentieller Finanzdienstleistungen . . . . . . . . . c) Systemstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Harmonisierung der Zulassungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Harmonisierung der Eigenkapitalanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Sanierung und Liquidation . . . . . . . . VIII. Verwaltungskooperation im Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit der Herkunftslandbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuständigkeit des Aufnahmemitgliedstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufsichtskollegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das Europäische System der Finanzaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Organisationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis zum Demokratieprinzip des Art. 10 Abs. 1 EUV . . . . . . . . . . . . 2. Kontrollmechanismen . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . 4. Haushaltsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . V. Regulatorische Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Technische Regulierungsstandards 3. Technische Durchführungsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Aufsichtliche Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbraucherschutz; Warnungen . . . 3. Rechtsaufsicht über nationale Aufsichtsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beilegung grenzübergreifender Meinungsverschiedenheiten . . . . . . . . 5. Krisenprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Bewältigung von Systemkrisen . . . . . VII. Der Europäische Ausschuss für Systemrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Europäische Bankenunion . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. SSM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . 3. Zuständigkeitsverteilung; Verbundstruktur des SSM . . . . . . . . . .

Ohler https://doi.org/10.5771/9783748900238-695 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

63 65 66 67 68 71 73 76 76 80 81 83 87 90 93 93 95 98 99 99 102 104 106 107 108 111 113 114 114 119 121 122 122 123 124 126 129 131 133 137 137 139 139 140 141

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10

§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht 4. Direkte Aufsicht über bedeutende Kreditinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Indirekte Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6. Gemeinsame Aufsichtsverfahren . . . 146

III. SRM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

147 147 148 152

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht rung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten G, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. 1, München, 2010. Vorschriften Sekundärrecht: Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl. L 335 vom 17.12.2009, 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen, ABl. L 302 vom 17.11.2009, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 1092/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über die Finanzaufsicht der Europäischen Union auf Makroebene und zur Errichtung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken, ABl. L 331 vom 15.12.2010, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde), ABl. L 331 vom 15.12.2010, 12 ff. Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung), ABl. L 331 vom 15.12.2010, 48 ff. Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapierund Marktaufsichtsbehörde), ABl. L 331 vom 15.12.2010, 84 ff. Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. L 86 vom 24.3.2012, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, ABl. L 201 vom 27.7.2012, 1 ff. Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen, ABl. L 176 vom 27.6.2013, 1 ff. Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, ABl. L 176 vom 27.6.2013, 338 ff. Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank, ABl. L 287 vom 29.10.2013, 63 ff. Verordnung (EU) Nr. 600/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente, ABl. L 173 vom 12.6.2014, 84 ff. Richtlinie 2014/49/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Einlagensicherungssysteme, ABl. L 173 vom 12.6.2014, 149 ff. Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, ABl. L 173 vom 12.6.2014, 190 ff. Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente, ABl. L 173 vom 12.6.2014, 349 ff. Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds, ABl. L 225 vom 30.7.2014, 1 ff. Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung

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zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist, ABl. L 168 vom 30.6.2017, 12 ff.

A. Finanzmarktregulierung im System des Europarechts I. Die Europäisierung der Finanzmarktregulierung Das Europarecht prägt die Rechtsstellung von Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und 1 Versicherungsunternehmen (im Folgenden: Finanzinstitute)1 in tiefgreifender Weise. Nach vorsichtigen Anfängen in den 1970er-Jahren entwickelte der europäische Gesetzgeber vor allem mit dem Financial Services Action Plan aus dem Jahr 1999 erhebliche Anstrengungen, um den Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen umfassend zu verwirklichen.2 Für die Materie des Aufsichtsrechts ist dies auch weitgehend gelungen, wobei überwiegend von internationalen Gremien entwickelte Standards zugrunde gelegt wurden.3 Angesichts dichter europarechtlicher Vorgaben blieben vor allem die Verwaltungszuständigkeit, das Verwaltungsverfahrensrecht und die einzelnen Eingriffsbefugnisse, die die Aufsichtsbehörden gegenüber den Finanzinstituten anwenden können, in nationaler Regelungsautonomie.4 Erst die Finanzkrise der Jahre 2008 und 20095 brachte die Erkenntnis, dass die dezentrale Verwaltungsstruktur der mitgliedstaatlichen Behörden intensiver verknüpft und durch eine zentrale Ebene ergänzt werden musste.6 Seit 1.1.2011 bestehen daher für die Bereiche Banken, Versicherungen und Pensionsfonds sowie Wertpapiermärkte drei eigenständige Agenturen der Union, die European Supervisory Authorities (ESAs). Sie bilden gemeinsam mit den nationalen Aufsichtsbehörden und dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) das Europäische System der Finanzaufsicht. Das neue System veränderte die grundsätzlich dezentrale Struktur der Finanzmarktaufsicht allerdings nur in Teilen. Unmittelbare Aufsichtszuständigkeiten übt nur die für Wertpapiermärkte zuständige Behörde European Securities Markets Authority (ESMA) gegenüber Ratingagenturen aus.7 Erst die an die Finanzkrise anschließende Schuldenkrise im Euroraum führte zur Schaffung der Europäischen Bankenunion, die die weitgehende Zentralisierung der Bankenaufsicht zur Folge hatte. Sie besteht aus zwei Säulen: dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM)8 und dem Einheitlichen Abwicklungsmechanismen (SRM).9 Im Rahmen des SSM nimmt die Europäische Zentralbank (EZB) die laufende Aufsicht über bedeutende Banken im Euro-Raum wahr. Bedarf es der Abwicklung einer solchen Bank, ist hierfür eine eigenständige europäische Agentur, der Ausschuss, als zentrale Behörde des SRM zuständig.

1 Die Verwendung des Begriffs im Primärrecht ist nicht immer eindeutig, vgl. Art. 65 Abs. 1 lit. b, Art. 127 Abs. 6 und Art. 141 Abs. 2 AEUV. Die hier verwendete Definition entspricht Art. 2 lit. a VO (EU) Nr. 1092/2010. Eine abweichende Definition verwendet Art. 4 Nr. 26 VO (EU) Nr. 575/2013. 2 Vgl. zum Bankenaufsichtsrecht Hirte/Heinrich, Bankrechtskoordinierung und -integration, in Derleder/ Knops/Bamberger (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 2. Aufl. 2009, § 73, Rn. 13 ff. Zum Kapitalmarktrecht Lutter/Bayer/Schmidt § 14 Rn. 20 ff. 3 Zu den verschiedenen Ausschüssen s. Ohler in Möllers/Vosskuhle/Walter, S. 259 ff. Ausführlich zum Basler Ausschuss für Bankenaufsicht Walker, S. 17 ff. 4 Binder, Auswirkungen der Basel II-Umsetzung auf die Eingriffskompetenzen nach dem KWG, WM 2006, 2114 (2119). 5 In den USA begann die Finanzkrise bereits 2007, vgl. Acharya ua in Acharya/Richardson, S. 1. 6 Vgl. Hopt NZG 2009, 1401 ff.; Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 ff.; Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1320 ff.). Umfassend Kohtamäki, S. 91 ff. 7 Art. 14 ff. VO (EU) Nr. 1060/2009. 8 VO (EU) Nr. 1024/2013. 9 VO (EU) Nr. 806/2014.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht 1. Herkunft aus der Gewerbeaufsicht

2 Das Recht der Finanzmarktaufsicht stellt eine komplexe, detailreiche Materie dar, die bis heute ihre Herkunft aus den mitgliedstaatlichen Traditionen der Gewerbeaufsicht nicht verleugnen kann.10 Deutlich kommt das darin zum Ausdruck, dass die Durchsetzung der rechtlichen Vorgaben gegenüber den Unternehmen hoheitlich durch spezialisierte Behörden erfolgt. Sicherheitsrechtliche Aspekte prägen dieses Rechtsgebiet durchweg, wobei die Gefahrenabwehr neben dem Schutz der Funktionsfähigkeit und Stabilität der einzelnen Finanzinstitute dem allgemeinen (und nicht dem individuellen) Vermögensschutz der Anleger, Versicherungsnehmer und anderer Kunden gegenüber den Finanzinstituten dient.11 Die europarechtliche Perspektive bestand dagegen ursprünglich darin, die grenzüberschreitende Tätigkeit der Finanzinstitute zu erleichtern, Doppelkontrollen der verschiedenen, nationalen Aufsichtsbehörden zu vermeiden und Eigenkapitalanforderungen zu vereinheitlichen.12 Seit der Finanzkrise tritt aber auf europäischer Ebene ein gesetzgeberisches Ziel in den Vordergrund, das sich sowohl auf sicherheitsrechtliche Überlegungen als auch Vorstellungen einer hoheitlichen Risikosteuerung zurückführen lässt, nämlich die Stabilität des Finanzsystems.13 Damit ist kein individuelles Rechtsgut gemeint, sondern das öffentliche Interesse an stabilen und funktionsfähigen Instituten und Märkten einschließlich der ihnen zugrunde liegenden technischen Infrastrukturen. Gegenstand der aufsichtlichen Betrachtung sind daher nicht nur Gefahren und Risiken für die einzelnen Finanzinstitute (mikroprudentielle Aufsicht), sondern Risiken für das Finanzsystem insgesamt (makroprudentielle Aufsicht).14 Die Idee der Systemstabilität zielt in letzter Linie auf die Wahrung ausgewogener gesamtwirtschaftlicher Verhältnisse, was aber durchaus auch sozialpolitische Motive umfasst. Verhindert werden soll, dass ein Zusammenbruch von Kreditinstituten, Versicherungsunternehmen oder Wertpapierfirmen zu einem Wegfall der von ihnen erbrachten, volkswirtschaftlich notwendigen Funktionen führt. Dahinter steht die Sorge, dass die Funktionsunfähigkeit dieser Institute gesamtwirtschaftliche Rezessionen und schließlich soziale Störungen auslösen könnte. 2. Regulierungsaufgabe a) Begriffsbedeutung 3 In der internationalen Terminologie und zunehmend auch im deutschen Sprachgebrauch hat sich für die damit verbundenen gesetzgeberischen Aufgaben der Begriff der Regulierung eingebürgert.15 An einer klaren inhaltlichen Prägung fehlt es bislang. Meist ist damit nur die hoheitliche Setzung von allgemeinen Regeln für die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen gemeint, ohne dass die Rechtsetzung auf die Zuständigkeit und das Verfahren des Parlaments begrenzt ist.16 Die behördliche Regulierung soll auch den Erlass von Rechtssätzen ohne Außenwirkung, zB in Gestalt von Verwaltungsvorschriften und von unverbindlichen Empfehlungen umfassen. Der Begriff knüpft oftmals an die Existenz 10 Kaufhold in Schmidt/Wollenschläger § 14 Rn. 7; Schäfer in Boos/Fischer/Schulte-Mattler KWG CRR-VO § 6 Rn. 2; Triantafyllou EuR 2010, 585 (587). 11 Kaufhold in Schmidt/Wollenschläger § 14 Rn. 28; vgl. auch Ohler, Bankenaufsichtsrecht, in Ehlers/ Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 4. Aufl. 2019, § 32 Rn. 10. 12 Kolassa in Schimansky/Bunte/Lwowski § 135 Rn. 20 ff. 13 Vgl. Erwägungsgrund 1 VO (EU) Nr. 1093/2010; Art. 1 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1024/2013; Erwägungsgründe 3, 7, 15 VO (EU) Nr. 575/2013; im deutschen Recht vgl. § 6 Abs. 4, § 48 t KWG; § 4 a WpHG; allgemein Kaufhold, S. 19 ff.; Ohler DVBl 2011, 1061 (1064); Thiele, S. 91 ff. 14 Vgl. Art. 1 ff. VO (EU) Nr. 1092/2010. 15 S. Bumke in Hopt/Veil/Kämmerer, S. 107 ff.; Röhl in Fehling/Ruffert § 18 Rn. 13. Aus der internationalen Literatur beispielhaft Gleeson; Scott; Padoa-Schioppa, S. 1. 16 Lastra, S. 113 f.; Walla in Veil § 4 Rn. 1.

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einer spezialisierten, unabhängigen Verwaltungsbehörde an, die über ein sehr weites Ermessen bei der Konkretisierung des parlamentarisch verantworteten Rechts verfügt.17 Diese Behörden schaffen dann auf der Basis einer gesetzlichen Ermächtigung in eigener Verantwortung „Handbooks“ bzw. „Rulebooks“ mit umfassenden, detaillierten Anforderungen an die unternehmerische Tätigkeit.18 Regulierung bleibt aber gleichwohl das Gegenstück zum und die Voraussetzung für den anschließenden Verwaltungsvollzug im Einzelfall durch die Aufsichtsbehörde. b) Wettbewerbsbezug und Markteffizienz Eine inhaltliche Wertung geht mit dem Begriff der Regulierung nicht einher, insbesondere 4 verbirgt sich, anders als im Privatisierungsfolgenrecht der früheren staatlichen Monopole, dahinter kein spezifisch wettbewerbsrechtliches Problem.19 Anders als in Schwellenländern muss in der EU weder ein Finanzmarkt geschaffen noch generell der auf ihm herrschende Wettbewerb optimiert werden.20 Die Finanzmärkte in Europa, Nordamerika und Japan sind vielmehr klassische Beispiele von Märkten, auf denen der Wettbewerb zwischen einer Vielzahl privater Unternehmen durchweg funktioniert, solange die Beteiligten einander ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen aufbringen. Das hat zur Folge, dass der europäische Gesetzgeber auch einem relativ strikten marktwirtschaftlichen Verständnis bei der Finanzmarktregulierung folgt. Weder darf die Zulassung von Unternehmen von wirtschaftlichen Erfordernissen oder Bedürfnissen abhängig gemacht werden,21 noch soll eine Preisregulierung erfolgen.22 Wettbewerbsverzerrungen an den Finanzmärkten können jedoch aufgrund von Marktma- 5 nipulationen und Insiderhandel einzelner Teilnehmer hervorgerufen werden. Diese Verhaltensweisen werden durch europarechtliche Regelungen zum Verbot des Marktmissbrauchs erfasst und sanktioniert,23 um die Integrität der Finanzmärkte und damit letztlich das wechselseitige Vertrauen der Anleger zu schützen.24 Zahlreiche, detaillierte Informationspflichten im Zusammenhang mit Wertpapieremissionen auf dem Primärmarkt und dem Handel auf dem Sekundärmarkt zielen auf den Abbau von Informationsasymmetrien25 und dienen damit neben dem Anlegerschutz auch der Funktionsfähigkeit des Marktes. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Märkte bildet daher ein wichtiges Ziel gerade des Kapitalmarktrechts.26 Damit verbundene, an Effizienzgesichtspunkte anknüpfende Wirtschaftstheorien haben zwar viel zur Verfeinerung des Kapitalmarktrechts beigetragen,27 aber die Fähigkeit des Einzelnen und der Märkte zur Bewältigung von Risiken er17 Hudson, Rn. 1.18. Weitergehend Wood, S. 323, der als Charakteristikum die Schaffung einer Regulierungsbehörde mit umfassenden legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen sieht. Dieses Modell ist mit wesentlichen Merkmalen des deutschen und europäischen Verfassungsrechts nicht vereinbar. 18 Vgl. zu dieser Aufgabe der ESAs den gemeinsamen Erwägungsgrund 22 VO (EU) Nr. 1093/2010, 1094/2010 und 1095/2010. 19 S. hierzu umfassend Ruffert in Ruffert/Fehling § 7 Rn. 24 ff., sowie ebd. Rn. 66 zur Sonderstellung der Finanzmarktaufsicht. 20 In diese Richtung aber Hecker, Marktoptimierende Wirtschaftsaufsicht, 2007, S. 31 ff.; PadoaSchioppa, S. 3 f. 21 Kreditinstitute: Art. 11 RL 2013/36/EU; Versicherungsunternehmen: Art. 22 RL 2009/138/EG. 22 Beispielhaft ist die Regelung bei Versicherungstarifen: Art. 21 Abs. 1 RL 2009/138/EG. 23 VO (EU) Nr. 596/2014; RL 2014/57/EU. 24 Ohler, Wirtschafts- und Finanzberichterstattung zwischen Medienfreiheit und Regulierung, AfP 2010, 101 (103). Auch die Funktionsfähigkeit des Marktes und der Anlegerschutz sind Schutzgüter dieser Regelungen, s. Mennicke in Fuchs (Hrsg.), WpHG, 2. Aufl. 2016, Vor §§ 12–14 Rn. 113 ff. 25 Bumke in Hopt/Veil/Kämmerer, S. 107, 112 ff.; Lutter/Bayer/Schmidt § 14 Rn. 78 ff.; Zimmermann in Fuchs (Hrsg.), WpHG, 2. Aufl. 2016, Vor § 30 a–g Rn. 2. 26 Lutter/Bayer/Schmidt § 14 Rn. 13 f.; Walla in Veil § 2 Rn. 74 ff. 27 S. die Nachweise bei Brinkmann in Veil § 12 Rn. 4 ff.

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heblich überschätzt. Angesichts der Frage, wie die Kapitalallokation möglichst effizient erfolgen kann, wurde die Frage vernachlässigt, ob die damit verbundene Risikoallokation tatsächlich tragfähig ist. 6 Wenn Finanzmärkte darüber hinaus ein regulatorisch zu bewältigendes Wettbewerbsproblem aufweisen, dann liegt es darin, dass ein Zusammenbruch einzelner Unternehmen oder Teilmärkte Kettenreaktionen zum Nachteil weiterer Marktteilnehmer auslösen kann, was als systemisches Risiko beschrieben wird.28 In diesem Sinne bedeutet Finanzmarktregulierung, Maßnahmen dafür zu treffen, dass in Krisensituationen die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte aufrechterhalten werden kann.29 Eine besondere wettbewerbliche Problematik besteht darin, dass einzelne Unternehmen systemisch relevant werden können, so dass ihr Zusammenbruch Gefahren für die Systemstabilität auslöst.30 Falls die staatliche Rechtsordnung bereits vorab explizite oder implizite Garantien zur Rettung solcher Institute stellt, kann zwar möglicherweise die Stabilität des Finanzsystems geschützt werden. Im Gegenzug entsteht aber moral hazard, dh eine Verzerrung des Risikoverhaltens aufgrund der staatlichen Garantie, die Geschäftsführung, Geschäftspartner und Kunden des Instituts dazu verführt, überhöhte Risiken einzugehen oder die Risiken des Unternehmens systematisch zu unterschätzen.31 Die Folgen solchen moral hazard können daher gerade in einer unverhältnismäßigen Steigerung des Risikoverhaltens liegen. Die Bewältigung des Problemkomplexes von Systemstabilität und wirtschaftlichen Fehlanreizen muss daher mit den Mitteln des herkömmlichen Aufsichtsrechts und eines Sonderinsolvenzrechts erfolgen, das die geordnete Abwicklung systemisch relevanter Institute ermöglicht.32 Für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen wurden einheitliche Regelungen mit der Richtlinie 2014/59/EU getroffen. In den Mitgliedstaaten des Euroraums erfolgte die Umsetzung dieser Richtlinie durch die unmittelbar anwendbare VO (EU) Nr. 806/2014, durch die der Unionsgesetzgeber den Einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRM) einführte. Zuständig für die Beschlussfassung über Abwicklungsmaßnahmen in Bezug auf bedeutende Kreditinstitute ist der Ausschuss, eine rechtlich selbstständige Agentur der Europäischen Union. Damit bildet der SRM das Gegenstück zum SSM, dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus unter Leitung der EZB, so dass Aufsicht und Abwicklung von systemisch relevanten Banken in Händen europäischer Behörden liegen. Für Versicherungsunternehmen wie auch andere Finanzinstitute fehlt es dagegen an vergleichbaren europarechtlichen Regelungen. 3. Finanzmärkte 7 Der Begriff Finanzmärkte umfasst alle Märkte, auf denen kurz- und langfristiges Kapital gehandelt und die damit verbundenen Dienstleistungen angeboten werden. Die Erscheinungsformen des Kapitals beinhalten ein weitreichendes Spektrum vermögenswerter Geldforderungen, einschließlich Eigen- und Fremdkapital und unabhängig von der Währung oder dem individuellen Vertragszweck des zugrunde liegenden Vertrages. Auf diesem weiten Ansatz beruht auch das Primärrecht, das in Art. 63 AEUV einem dynamischen, funktionalen Verständnis folgend den Kapitalverkehr umfassend schützt.33 Nach den Gepflogenheiten der Handelsteilnehmer und der Art der gehandelten Kontrakte lassen sich 28 Umfassende Analyse bei Kaufhold, Systemaufsicht, S. 19 ff.; Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik § 4 Rn. 1 ff. 29 Höfling, F 11 unter Hinweis auf den Gedanken der Grundversorgung. 30 Günther WM 2010, 825 ff.; Mülbert in in FS Schneider, S. 855 ff. 31 Vgl. Lastra, S. 163 f.; Wieland Die Verwaltung 2010, 83 (88); Zimmer, G 45 f. 32 Erwägungsgrund 45 RL 2014/59/EU; Müller KTS 2011, 1 ff.; Zimmer, G 49 ff.; allgemein zur Problematik EZB, Monthly Bulletin, July 2011, S. 85 ff. 33 Vgl. Ohler, Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, 2002, Art. 56 EGV Rn. 15, 34 ff.

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die Märkte zwar nach verschiedenen Kriterien unterscheiden, zB nach Geld-, Kredit-, Devisen- oder Derivatemärkten.34 In der regulatorischen Perspektive gerät aber zunehmend die Erkenntnis in den Vordergrund, dass die Aufgabe der Sicherung von Funktionsfähigkeit und Systemstabilität marktübergreifend zu verstehen ist, da die Risiken auf den verschiedenen Teilmärkten korrelieren können.35 Fragen des Kundenschutzes können und müssen dagegen vielfach anhand der Besonderheiten der Teilmärkte beantwortet werden, da ansonsten nicht die spezifischen Interessen von Anlegern, Versicherungsnehmern oder anderen Vertragsparteien sachgerecht ermittelt werden können. 4. Zusammenfassung Das Finanzmarktrecht weist daher insofern regulierende Elemente auf, als es die Funkti- 8 onsfähigkeit von Unternehmen, Märkten und wesentlichen Marktinfrastrukturen zum Schutz der Anleger und der Stabilität des Finanzsystems gewährleisten will. Es kann aber nicht seine aufsichtsrechtliche Perspektive verleugnen, die sich in der Abwehr abstrakter und konkreter Gefahren für diese Rechtsgüter niederschlägt. Eine wesentliche Erkenntnis besteht schließlich darin, dass die Verknüpfung der verschiedenen Finanzmärkte, ihre Globalisierung und Abhängigkeit von systemisch wichtigen Unternehmen und Infrastrukturen eine umfassende Betrachtung der davon berührten Rechtsgrundlagen erfordert. Sie muss mit einer ökonomischen Analyse in dem Sinne einhergehen, dass ohne ein Verständnis für den Ist-Zustand der Märkte und die Praxis der Unternehmen die juristische Aufarbeitung das Ziel der Ordnung und Regelbindung verfehlen würde.

II. Strukturelle Besonderheiten der Finanzmärkte 1. Relative Natur von Geldforderungen und dezentraler Handel Die vielfältigen Geschäftstätigkeiten von Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und Versiche- 9 rungsunternehmen stellen Gesetzgebung und Verwaltung seit jeher vor anspruchsvolle Aufgaben. Einerseits erbringen diese Unternehmen in hochentwickelten Volkswirtschaften einen eigenständigen, wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsleistung und tragen durch ihre Finanzdienstleistungen wesentlich zur Funktionsfähigkeit der Realwirtschaft bei. Andererseits bergen ihre Tätigkeiten spezifische Gefahren für die Anleger und die Stabilität der Finanzmärkte und in der Folge auch für das Wohlergehen der Gesamtwirtschaft. Die gesetzgeberischen Herausforderungen beginnen damit, dass die einzelnen, von einem 10 Unternehmen angebotenen Finanzdienstleistungen unkörperlicher Natur sind und sich allein in vertraglichen Abreden zwischen den beteiligten Parteien niederschlagen.36 Die auf diesen Verträgen beruhenden Vermögenswerte stellen in rechtlicher Hinsicht Geldleistungsansprüche dar, die relative Rechte gegenüber dem anderen Vertragspartner bilden. Geld selbst konstituiert sich in seiner wichtigsten Erscheinungsform, dem Buchgeld, als eine bloße Forderung gegenüber einem Kreditinstitut.37 Die unbare Zahlung von Geld im Wirtschaftsverkehr beruht daher allein auf der Verschiebung von Forderungen gegenüber einem Kreditinstitut von einem Berechtigten auf einen anderen.38 Eine Tilgung findet im Buchgeldsystem nie statt,39 vielmehr beruht es allein auf dem Vertrauen in die Bonität der 34 Diese Differenzierung liegt meist der Wissenschaft vom Kapitalmarktrecht zugrunde, vgl. Lutter/Bayer/ Schmidt § 14 Rn. 5 ff.; s. ferner Veil in ders. § 3 Rn. 1 f. 35 Heun JZ 2010, 53 (56). 36 Benjamin, Rn. 1.51. 37 MüKo-BGB/Grundmann § 245 Rn. 6; Ohler, Die hoheitlichen Grundlagen der Geldordnung, JZ 2008, 317 (319 mwN). 38 Vgl. MüKo-BGB/Grundmann § 245 Rn. 8. 39 Benjamin, Rn. 1.49.

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Kreditwirtschaft40 und die Stabilität der Währung. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Geldforderungen zum Gegenstand weiterer Handelsgeschäfte werden können, soweit sie nicht Abtretungsverboten unterliegen. Fungible, dh untereinander austauschbare Rechte bilden die Grundlage für den Handel mit Wertpapieren, der auf weiteren, eigenständigen Märkten stattfindet. Die leichte Weiterübertragung von Rechten führt aber auch dazu, dass die wirtschaftlichen Risiken eines Vertrages auf dritte Parteien überwälzt werden können. Mit dieser wirtschaftlichen Risikoverflechtung erhöht sich aus regulatorischer Sicht die Komplexität der Finanzmärkte. Vielfach sind die wirtschaftlichen Risiken aus den eingegangenen Verträgen auch nicht konkret einschätzbar und entsprechend schwierig bilanzierbar, da die Verpflichtungen bedingter Natur sind, so bei Garantien und Bürgschaften, Versicherungsverträgen und Derivaten.41 11 Die Herausforderung für die Aufsichtsbehörden liegt ferner in der großen Zahl der an den Finanzmärkten beteiligten Parteien und der von ihnen abgeschlossenen Kontrakte. Aufgrund des, mit Ausnahme der hoheitlich überwachten Börsen42 und Zentralen Gegenparteien,43 weitgehend dezentralen Charakters des Handels lassen sich die Kontrakte von Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und Versicherungsunternehmen praktisch nicht mehr im Sinne einer Einzelüberwachung kontrollieren. Die Alternative, Verträge aufgrund zwingender gesetzlicher Vorgaben weitgehend inhaltlich zu standardisieren und einer allgemeinen, präventiven Kontrolle zu unterwerfen, ist demgegenüber rechtlich zwar möglich, aber nicht unproblematisch, weil sie tief in die grundrechtlich geschützte Vertragsfreiheit eingreift. Das Unionssekundärrecht kennt jedoch spezifische Verbote, wie das Verbot ungedeckter Leerverkäufe in europäische Aktien und öffentliche Schuldverschreibungen44 sowie im Einzelfall die Möglichkeit repressiver „Produktinterventionen“ aufgrund behördlichen Einschreitens. So dürfen die ESAs aufgrund des gemeinsamen Art. 9 Abs. 5 ihrer Errichtungsverordnungen die Vermarktung, den Vertrieb oder den Verkauf von bestimmten Finanzinstrumenten bzw. bestimmte Finanztätigkeiten vorübergehend verbieten oder beschränken, wenn das ordnungsgemäße Funktionieren und die Integrität der Finanzmärkte oder die Stabilität des Finanzsystems gefährdet wird.45 2. Volkswirtschaftliche Bedeutung, internationale Dimension, Geldpolitik 12 Eine Herausforderung liegt für Gesetzgeber und Verwaltungsbehörden außerdem darin, dass die von Finanzinstituten gehaltenen und verwalteten Vermögenswerte einen erheblichen Anteil am gesamtwirtschaftlichen Vermögen darstellen. So betrug das Gesamtvermögen (Aktiva) der deutschen Volkswirtschaft Ende 2016 etwas über 22 Billionen EUR. Allein das Geldvermögen der privaten Haushalte belief sich auf 5,7 Billionen EUR, das der „finanziellen Kapitalgesellschaften“ auf 13 Billionen EUR.46 Auch wenn der Beitrag des Finanzsektors zur volkswirtschaftlichen Bruttowertschöpfung mit durchschnittlich 5 % im Zeitraum der vergangenen 15 Jahre nicht groß zu sein scheint, zeigt sich seine Bedeutung am Umfang des von ihm gehaltenen Geldvermögens.47 Es betrug – bezogen auf den

40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Herrmann, S. 17 f. Benjamin, Rn. 1.48. Vgl. §§ 3 ff. BörsG. Art. 14 VO (EU) Nr. 646/2014. Art. 12 ff. VO (EU) Nr. 236/2012. Art. 9 Abs. 5 VO (EU) Nr. 1093/2010, VO (EU) Nr. 1094/2010, VO (EU) Nr. 1095/2010. S. Deutsche Bundesbank/Destatis, Sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen, 1999– 2017, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlands produkt/Publikationen/Downloads-Vermoegensrechnung/vermoegensbilanzen-pdf-5816103.pdf?__blo b=publicationFile&v=4. 47 S. Eurostat, https://ec.europa.eu/eurostat/web/sector-accounts/detailed-charts/importance-sectors.

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gesamten Euroraum im Jahr 2018 – etwa 235 % des BIP.48 Der europäische Finanzmarkt bildet neben den Märkten der USA49 und Japans einen der drei größten und vor allem international offensten Märkte der Welt. Bereits angesichts der Größenordnungen wird deutlich, dass Eingriffe in die Tätigkeit von Finanzinstituten erhebliche Folgen für den wirtschaftlichen Wohlstand einer Gesellschaft haben können. Die Komplexität der Materie zeigt sich schließlich angesichts der globalen Verflechtung 13 der Finanzinstitute und der Märkte, auf denen sie tätig sind.50 Gesetzgeberischen Zugriff hat der europäische ebenso wie der nationale Gesetzgeber grundsätzlich nur auf die Unternehmen, die im Inland ihren Sitz haben oder dort zumindest ihre Tätigkeit entfalten.51 Auf der Grundlage des Territorialitäts- bzw. Schutzprinzips kann der Gesetzgeber zwar auch Vorschriften über die Auslandstätigkeit der Finanzinstitute, die in der EU ihren Sitz haben, erlassen.52 Ein darüber hinausgehender Zugriff kommt aber kaum in Betracht, da hier vielfach faktische und zum Teil völkerrechtliche Grenzen bestehen. So ist bereits die räumliche Zuordnung der von den Finanzinstituten gehaltenen Vermögenswerte nicht frei von Zweifeln. Stellt man zur Bestimmung der Belegenheit eines Vermögenswerts auf den Sitz des Schuldners ab, können die finanziellen Vermögenswerte angesichts der häufig globalen Engagements der Institute weltweit belegen sein. Die inländische Rechtsordnung kann bei ausländischen Schuldnern nur insoweit strukturelle Vorkehrungen treffen, als es um mögliche Rückwirkungen auf den inländischen Gläubiger geht. Geldforderungen müssen zudem in einer bestimmten Währung denominiert sein.53 Die 14 Zuordnung einer Geldforderung zu einem bestimmten Währungsraum bedingt freilich, dass ihr Wert auch von Wechselkursentwicklungen und Inflationserwartungen bezogen auf die dahinterstehende Volkswirtschaft abhängt. Auf diese Weise stehen heimische Finanzmarktregulierung und die Geldpolitik der Staaten, in deren Währung eine Forderung bezeichnet ist, in enger Wechselwirkung.54 Eine Geldpolitik, die das Ziel der Preisniveaustabilität in den Vordergrund stellt,55 trägt daher zur Vertrauensbildung auf den Finanzmärkten bei. Geldpolitische Zusammenhänge sind überdies relevant, weil für Banken der Zugang zu Zentralbanken eine wesentliche Quelle ihrer Liquidität darstellt. In Krisenzeiten, wenn andere Liquiditätsquellen wie der Interbankenmarkt oder das Einlagengeschäft austrocknen, wird die Zentralbank zum Hauptversorger der Wirtschaft mit Liquidität.56 Zentralbanken beeinflussen mit ihrer Geldpolitik schließlich den kurzfristigen Zinssatz und indirekt auch das Niveau der langfristigen Zinsen auf den Kapitalmärkten.57

48 Angaben nach Eurostat, https://ec.europa.eu/eurostat/web/sector-accounts/detailed-charts/financial-cor porations. 49 Zahlen zur Entwicklung des Finanzsektors in den USA bei Wymeersch ECFR 2010, 240 (241). 50 Padoa-Schioppa, S. 10 f. 51 Zum völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip EuGH 21.12.2011 – C-366/10, Slg 2011, I-13755, Rn. 103 ff., insbes. Rn. 124 – Air Transport Association of America. Ein wichtiger Anwendungsfall ist die Erstreckung inländischer Genehmigungsvorbehalte (Erlaubnisse) auf Unternehmen in Drittstaaten, s. hierzu EuGH 3.10.2006 – C-452/04, Slg 2006, I-9521 – Fidium Finanz AG. 52 Jung/Bischof § 3 Rn. 86. 53 Vgl. insoweit die Regelung in § 244 BGB. Zur Allgemeinheit dieses Grundsatzes Proctor, Mann on the legal aspect of money, 6. Aufl. 2005, S. 27. 54 Die praktische Bedeutung dieses Zusammenhangs führt zu der Frage, ob und in welchem Umfang die Zentralbank an der Aufsicht zu beteiligen ist, s. Lastra, S. 123 ff. 55 Vgl. die entsprechend strenge Vorgabe des Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV. 56 Radtke, S. 25 ff. 57 Vgl. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, § 3 Rn. 45 f.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht 3. Risikoübernahme durch Finanzinstitute a) Vertrauen als Grundlage

15 Finanzmarktgesetzgebung und Finanzmarktaufsicht müssen schließlich das psychologische und ökonomische Moment des Vertrauens berücksichtigen, ohne das auf allen Finanzmärkten kein Handel stattfindet.58 Vertrauen bildet die Grundlage für den „intertemporalen Tausch“, der alle Geschäfte des Finanzsystems auszeichnet. Der Kapitalgeber stellt dem Kapitalnehmer eine Geldsumme zur Verfügung und erhält im Gegenzug ein Versprechen auf Rückzahlung des Betrags nebst Zinsen in der Zukunft.59 Dieser Tausch kommt nur zustande, wenn der Gläubiger Vertrauen hat: in die Bonität und Integrität des Schuldners, in die Stabilität der Geldordnung und die Verlässlichkeit der Rechtsordnung, auf der die Forderungen beruhen. Nur wenn diese Voraussetzungen aus Sicht der Gläubiger erfüllt sind, werden sie ihre Geldmittel einsetzen und einem Vertragspartner als Schuldner zur Verfügung stellen.60 Der intertemporale Tausch birgt aber einerseits die Unsicherheit, ob die Annahmen zutreffen, und andererseits die Möglichkeit, dass entscheidungsrelevante Tatsachen sich in der Zukunft ändern. Damit verbunden ist das Risiko, dass die Vermögensanlagen sich in der Zukunft entwerten, weil der Schuldner ganz oder teilweise ausfällt. b) Risikoübernahme als Wesensmerkmal 16 Diese Allokation von wirtschaftlichen Risiken, dh der Eintritt möglicher Verluste in der Zukunft, ist den Finanzmärkten jedoch wesensmäßig immanent.61 Darlehensgeber tragen das Kreditrisiko der Darlehensnehmer, die Anleger das Ausfallrisiko ihres Schuldners aus einem Anleihegeschäft. Insbesondere der Abschluss eines Versicherungsgeschäfts oder eines Derivatevertrags dient nach seinem wirtschaftlichen Sinn gerade der Abwälzung von Risiken. Versicherungsunternehmen übernehmen daher das Versicherungsrisiko aus dem Eintritt des Versicherungsfalls beim Versicherten, der Sicherungsgeber das Verlustrisiko aus einem Derivat, das er mit einem Sicherungsnehmer abgeschlossen hat. Damit zielen Finanzgeschäfte zwar nicht auf die Abwehr der einzelnen Lebensrisiken, aber auf die geschäftliche Übernahme ihrer wirtschaftlichen Folgen durch das Institut. Risikoübernahme und Risikoübertragung gegen Entgelt bilden daher die Essenz der wirtschaftlichen Tätigkeit der Institute. 62 Kreditrisiken und allgemein Investitionsrisiken der Institute lassen sich jedoch nur dann richtig einordnen, wenn auch die Risiken auf der Refinanzierungsseite Beachtung finden, da die beiden Seiten der Bilanz wirtschaftlich wechselbezüglich sind. So muss beispielsweise die Refinanzierung einer Bank im Einlagengeschäft hinsichtlich der Verfügbarkeit und Kosten im Wechselspiel mit dem Aktivgeschäft, also der Kreditvergabe, den dort erzielten Zinseinnahmen und realisierten Verlusten gesehen werden. Die Refinanzierung ist häufig geprägt durch Kurzfristigkeit, die Abhängigkeit des Zinsniveaus von der nationalen bzw. supranationalen Geldpolitik und den Einfluss anderer, ebenfalls kurzfristig wirksamer Faktoren. Auf beiden Seiten der Bilanz eines Instituts spielen schließlich Marktpreisrisiken und Wechselkursrisiken eine Rolle.

58 Bumke in Hopt/Veil/Kämmerer, S. 107 (112); Kaufhold, Systemaufsicht, S. 137 ff. Aus der Rechtsprechung EuGH 10.5.1995 – C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn. 42 – Alpine Investments. 59 Hellwig in Obst/Hintner, S. 4. 60 Vgl. BVerfGE 124, 235 (245). 61 Benjamin, Rn. 1.25 ff.; Hellwig in Obst/Hintner, S. 7. 62 Benjamin, Rn. 1.28; Gleeson, Rn. 1.03; Hudson, Rn. 1.48.

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c) Risikobewältigung durch die Institute; Marktdisziplin Schon aus dem Interesse, das eigene wirtschaftliche Überleben zu ermöglichen und Ge- 17 winne zu erzielen, sichern sich Finanzinstitute regelmäßig gegen die Verluste ab, die aus der Übernahme von Risiken entstehen. Banken prüfen ihre Kreditnehmer und beanspruchen Sicherheiten, Versicherungsunternehmen übernehmen Verbindlichkeiten nur auf der Grundlage des Prinzips der großen Zahl zur Bildung faktischer Haftungsgemeinschaften, Wertpapierfirmen „hedgen“ ihre diversen Risiken durch den Abschluss von Derivateverträgen. Auf den Kapitalmärkten verlangen gerade institutionelle Anleger nach regelmäßiger, kurzfristiger Rechenschaft von ihren Schuldnern, was zur Entwicklung der heute üblichen Quartalsberichterstattung nach internationalen Rechnungslegungsstandards (IFRS) geführt hat.63 Sie verlassen sich auf Bonitätseinschätzungen spezialisierter Beobachter, der Ratingagenturen, was erklärt, dass die Marktmacht der Agenturen nicht allein auf ihrem Oligopol und dem damit verbundenen Mangel an Wettbewerb,64 sondern vor allem dem Bedürfnis der Investoren nach Absicherung eigener Entscheidungen beruht. Schließlich suchen alle Finanzinstitute nach Rechtsformen des Handels, mit deren Hilfe sie die finanziellen Risiken weitergeben können. Letzteres ist einer der Gründe für die Syndizierung von Darlehen, die Verbriefung von Kreditforderungen (Securitisation)65 oder das Netting im Derivatehandel und im internationalen Zahlungsgeschäft.66 Das unternehmensinterne Risikomanagement soll idealerweise durch das Instrument der 18 Marktdisziplin ergänzt und gestärkt werden. Zu diesem Zweck sind die Institute verpflichtet, durch regelmäßige, weitreichende Offenlegungspflichten zur Transparenz auf den Kapitalmärkten beizutragen.67 Das erlaubt in der Theorie den Investoren, auf gutes Risikomanagement mit Käufen und schlechtes Risikomanagement mit Verkäufen der Aktien des Instituts zu reagieren. In der Praxis ist dieser Zusammenhang jedoch nur lose, da Investitionsentscheidungen nicht monokausal auf der Grundlage allein dieses Kriteriums getroffen werden. Gleichwohl hat die damit verbundene Vorstellung einer regulierten Selbstregulierung68 über lange Zeit in der Finanzmarktaufsicht eine erhebliche Rolle gespielt, bis hin zur Forderung, auf die hoheitliche Regulierung und Aufsicht weitgehend zu verzichten. Die Finanzkrise 2008/2009 hat diese Überlegungen – vorläufig – obsolet werden lassen.69 d) Folgen für die regulatorische Aufgabe Aus regulatorischer Sicht ist ein marktwirtschaftlich organisiertes Finanzmarktsystem so 19 lange funktionsfähig, als die Leistungsfähigkeit derjenigen, die ein wirtschaftliches Risiko übernommen haben, in angemessenem Verhältnis zur Eintrittswahrscheinlichkeit und Höhe der insgesamt eingegangen Risiken steht. Damit liegt die Aufgabe der Rechtsordnung zunächst darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Marktteilnehmer ihre Risiken kennen und bewerten können. Insbesondere Banken und Versicherungen sind ver63 Vgl. VO (EG) Nr. 1606/2002, ABl. 2002 L 243, S. 1. 64 Zu dieser überwiegend vertretenen Einschätzung s. Haar, Haftung für fehlerhafte Ratings von LehmanZertifikaten, NZG 2010, 1281 (1282); Kommission, Regulierung der Finanzdienstleistungen für nachhaltiges Wachstum, KOM(2010) 301 endg, 5. 65 Statt vieler Wood, S. 450 ff.; zur aufsichtsrechtlichen Behandlung Gleeson, Rn. 16.01 ff. 66 Benjamin, Rn. 12.03. 67 Kreditinstitute und Wertpapierfirmen: Art. 431 ff. VO (EU) Nr. 575/2013; Versicherungsunternehmen: Art. 51 RL 2009/138/EG. 68 S. zB Ladeur, Die Internationalisierung des Verwaltungsrechts: Versuch einer Synthese in Möllers/ Vosskuhle/Walter, S. 375 (390 f.); Kämmerer in Hopt/Veil/Kämmerer, S. 145 ff. 69 Auf die fortdauernde Bedeutung privater Standardsetzung verweist allerdings Bachmann, Globale Finanzmarktregulierung als Herausforderung des Rechts in ders./Breig (Hrsg.), Finanzmarktregulierung zwischen Innovation und Kontinuität in Deutschland, Europa und Russland, 2014, S. 1 (19 f.).

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pflichtet,70 vor Geschäftsabschluss die Risiken aus einem Kreditgeschäft oder Versicherungsvertrag selbstständig zu ermitteln. Aus dieser Perspektive lassen sich Risiken als mathematische Größen bestimmen, die die Wahrscheinlichkeit und Höhe eines wirtschaftlichen Verlustes ausdrücken.71 In diesem Umfang müssen die Finanzinstitute nach Maßgabe der aufsichtsrechtlichen Anforderungen unternehmensinterne Vorkehrungen treffen. Das Grundanliegen der Finanzmarktregulierung ist es dabei, die wirtschaftliche Risikotragfähigkeit der einzelnen Institute sicherzustellen, was Anforderungen an den Umgang mit dem internen Kapital wie auch an das Risikomanagement nach sich zieht. Unter internem Kapital versteht man eine institutsinterne Größe zur Bestimmung des für die Absorption von Verlusten bestimmten Kapitals, die ua das Geschäftsmodell, das Risikoprofil und die Markterwartungen des Instituts widerspiegeln soll.72 Im Zusammenhang damit sind alle Institute verpflichtet, umfassende eigene Risikomanagementsysteme vorzuhalten,73 um das vorhandene Wissen über die Risiken aus ihren Einzelgeschäften und dem Marktumfeld stärker in den Entscheidungsprozessen zu verankern.74 Sie umfassen neben Maßnahmen der Geschäftsorganisation und Anforderungen an rationale Entscheidungsverfahren auch Vorgaben an die Dokumentation und den Umgang mit den risikobezogenen Daten und mathematischen Modellen, die durchweg in digitalen Systemen abzubilden sind. Hierin liegt aber auch, trotz aller bedeutsamen Rationalitätsgewinne solcher Systeme, die Gefahr neuerlicher analytischer Verkürzung. Ihre Aussagekraft ist aus drei Gründen begrenzt: Erstens bleiben alle Risikomanagementsysteme aufgrund der von ihnen genutzten Daten notwendigerweise vergangenheitsbezogen. Alle zugrunde liegenden mathematischen Modelle sind, zweitens, weil sie Modelle sind, nur funktional begrenzte Abbilder der Wirklichkeit. Drittens stehen den quantitativ bestimmten Risiken immer Ungewissheiten gegenüber, dh künftige Umstände, die sich in der Gegenwart überhaupt nicht oder nicht mit hinreichender Sicherheit prognostizieren lassen, die aber, wenn sie sich verwirklichen, wie Risiken zu wirtschaftlichen Schäden führen können. Werden daher Risikomanagementsysteme durch ihre Nutzer oder die Aufsichtsbehörden in ihrer Bedeutung verabsolutiert, können sie die Illusion der Beherrschbarkeit von Risiken wecken. 20 Die wichtigste regulatorische Maßnahme bilden seit jeher Eigenkapitalanforderungen, die zu quantitativen Risikobegrenzungen führen, indem das Aktivgeschäft auf einen Prozentsatz des vorhandenen Eigenkapitals begrenzt wird.75 Aber auch dieser Ansatz kommt nicht ohne Risikobewertungen aus, da die Aktiva eines Instituts hinsichtlich der ihnen innewohnenden Kredit-, Marktpreis- und operationellen Risiken erfasst und gewichtet werden müssen. 21 Der oben formulierte Grundsatz, wonach die Regulierung darauf zielen muss, übernommene Risiken in ein angemessenes Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Institute zu bringen, kann mithilfe einer Mikro- und einer Makroperspektive umgesetzt werden. In der Mikroperspektive kommt es auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Instituts an, wobei die bilanzielle und aufsichtsrechtliche Bewertung von Aktiva und Passiva sowie außerbilanzielle Risiken im Vordergrund stehen. Dieser Ansatz prägt das Aufsichtsrecht, insbesondere das Recht der Eigenkapitalanforderungen bis heute. Wesentlich schwieriger ist die 70 Europarechtliche Regeln fehlen insoweit, maßgeblich sind inländische Vorschriften, s. § 18 KWG und § 19 Abs. 1 VVG. 71 Vgl. Kaufhold, Systemaufsicht, S. 346 ff. 72 Vgl. Art. 73 RL 2013/36/EU. 73 Kreditinstitute und Wertpapierfirmen: Art. 74 ff. RL 2013/36/EU; Versicherungsunternehmen: Art. 44 und 45 RL 2009/138/EG. 74 Padoa-Schioppa, S. 7. 75 Gleeson, Rn. 2.29 ff.; Padoa-Schioppa, S. 7. Zur fortdauernden regulatorischen Bedeutung Kommission, Regulierung der Finanzdienstleistungen für nachhaltiges Wachstum, KOM(2010) 301 endg, 6 f.

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Makroperspektive, da es darum geht, die Leistungsfähigkeit der Institute auf der Grundlage des gesamten Marktumfelds einzuschätzen. Verschiedene Folgefragen stellen sich, auf die abstrakt kaum befriedigende Antworten gegeben werden können: Wie weit ist der Markt räumlich zu ziehen – europäisch oder global? Welche Institute sind zu berücksichtigen, ggf. auch sog Schattenbanken, die nicht einer gesetzlich vorgeschriebenen Aufsicht unterliegen? Wie sind die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den Instituten quantitativ und qualitativ einzuschätzen? Welche Risiken sind zu einem bestimmten Zeitpunkt damit verbunden, sei es für das Finanzsystem, sei es für die Realwirtschaft? Während mikroökonomische Risiken vor allem durch Anforderungen an Eigenkapital 22 und Risikomanagement sowie andere institutsbezogene Maßnahmen der laufenden Aufsicht steuerbar sind, gilt das für die makroökonomischen Risiken nur eingeschränkt. Auf die konjunkturelle Entwicklung, Arbeitslosigkeit, Außenhandel oder – bei einem System freier Wechselkurse – den Wert der eigenen Währung gegenüber anderen Währungen hat eine Aufsichtsbehörde in einem marktwirtschaftlichen System keinen Einfluss. Dementsprechend soll die Aufsicht zwar makroökonomische Risiken erfassen und bewerten, kann aber daraus, wie das Modell des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken zeigt, zunächst nur Empfehlungen und Warnungen ableiten.76 Im Rahmen der laufenden Aufsicht durch die zuständigen Aufsichtsbehörden sollen darüber hinaus Risikozuschläge auf die Eigenkapitalanforderungen einen Puffer gegen Verluste aus Veränderungen des makroökonomischen Umfeldes bilden.77 4. Finanzintermediation Die Mehrzahl der Finanzinstitute nimmt Aufgaben der Finanzintermediation wahr, dh 23 „vermittelt“ zwischen der kapitalanbietenden und der kapitalnachfragenden Seite des Marktes.78 Wirtschaftlich spiegeln sich beide Seiten des Marktes in der Bilanz der Finanzinstitute wider, da diese rechtsgeschäftlich zwischen Anleger und Kapitalnehmer treten. Besonders deutlich wird die Finanzintermediation bei Banken, die Einlagen vom Publikum annehmen und die Mittel in Form von Darlehen oder anderen Kreditgeschäften wieder an Dritte auslegen. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Kapitalanlagegesellschaften, die Anteile an Sondervermögen (Investmentfonds) an ihre Anleger ausgeben und die eingenommenen Mittel für Rechnung der Anleger in Wertpapieren etc investieren. Auch Versicherungsunternehmen leisten Finanzintermediation, wenn sie die Prämien ihrer Kunden entgegennehmen, um sie in Wertpapieren und anderen Finanzanlagen anzulegen.79 Die Finanzintermediation führt zu verschiedenen Transformationsleistungen zwischen Ak- 24 tiv- und Passivgeschäft, so zu einer Fristentransformation, einer Losgrößentransformation und einer Risikotransformation.80 Schließlich findet häufig eine überörtliche Umverteilung oder eine Währungstransformation statt. Volkswirtschaftlich sind die Transformationsleistungen erwünscht und notwendig, da sie zu einer Verbesserung der Leistungsbeziehungen zwischen Kapitalangebot und Kapitalnachfrage führen und vielfach überhaupt erst einen funktionsfähigen Markt schaffen.81 Gleichzeitig setzen diese Geschäfte die Fi-

76 Art. 16 ff. VO (EU) Nr. 1092/2010. 77 Art. 5 VO (EU) Nr. 1034/2013 iVm Art. 133 und 136 RL 2013/36/EU; vgl. auch Art. 458 VO (EU) Nr. 575/2013. 78 Vgl. Dietrich/Vollmer, Finanzverträge und Finanzintermediation, 2005; Thiele, S. 114 ff. 79 Zum weiten Begriff der Finanzintermediation Fischer/Rudolph in Obst/Hintner, S. 371 ff., mit eigener Definition von Finanzintermediären, S. 373. 80 Fischer/Rudolph in Obst/Hintner, S. 375 f.; Thiele, S. 117 ff.; EZB, Monthly Bulletin, January 2012, S. 59 f. 81 Hellwig in Obst/Hintner, S. 16.

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nanzinstitute selbst, und im Falle ihres Zusammenbruchs auch die Einleger, Anleger und Versicherungskunden, spezifischen Risiken aus.82 25 Kennzeichnend für alle Finanzintermediäre ist, dass sie Fremdkapital aufnehmen, um es auf eigene oder fremde Rechnung in Vermögenswerte zu investieren. Die Vermögensanlage, die das Finanzinstitut betreibt, kann beim Kapitalnehmer den Charakter von Eigenoder Fremdkapital bzw. von Mischformen aufweisen. Dagegen findet in der Finanzintermediation kein Anteilserwerb der Kapitalanleger am Eigenkapital des Finanzinstituts selbst statt. Die Unterscheidung zwischen Fremdkapital und Eigenkapital eines Finanzinstituts ist damit fundamental für die Regulierung dieser Unternehmen.83 Eigenkapitalgeber tragen das Risiko, mit ihrem eingesetzten Vermögen in der Insolvenz des Unternehmens zu haften und daher erst nach allen anderen Gläubigern mit ihren Ansprüchen befriedigt zu werden. Fremdkapitalgeber stellen ihre Mittel dagegen zur Verwendung durch das Finanzinstitut zur Verfügung, ohne dass sie zugleich eine Haftung für das Finanzinstitut übernehmen. An den Schutz der Fremdkapitalgeber (Anleger, Einleger, Versicherungskunden) knüpft daher spezifisch die Finanzmarktregulierung an, während der Schutz der Eigenkapitalgläubiger eines Finanzinstituts dem Gesellschaftsrecht, insbesondere dem Aktienrecht überlassen bleibt. Dagegen erstreckt sich das Kapitalmarktrecht auf beide Kapitalformen, bspw. indem es die Emittenten von Aktien und Anleihen verpflichtet, ihre Gläubiger zu informieren und Verbote des Marktmissbrauchs und des Insiderhandels aufstellt. 5. Informationsasymmetrien und Produktkomplexität 26 Die wirtschaftliche Position der Fremdkapitalgläubiger gegenüber einem Finanzintermediär zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen Anspruch gegenüber dem Institut auf Rückzahlung der Mittel (bzw. auf Leistung im Versicherungsfall bei Versicherungen) haben. Sie wissen aber nicht, wie die Finanzinstitute die zur Verfügung stehenden Mittel in ihrem Aktivgeschäft einsetzen. Diese Distanzierung ist zwar erwünscht, weil die Finanzinstitute gerade ihre Marktkenntnis, die Nähe zu ihren Schuldnern und die Vorteile einer hochspezialisierten Betriebsorganisation nutzen sollen, über die die Fremdkapitalgeber typischerweise nicht selbst verfügen.84 Strukturell tragen die Fremdkapitalgläubiger aber das Risiko wirtschaftlicher Fehlentscheidungen der Finanzinstitute, ohne selbst ihr damit verbundenes, eigenes Risiko vollständig einschätzen zu können.85 Diese Informationsasymmetrie ist auf Finanzmärkten nahezu unvermeidlich und kann durch regulatorische Vorgaben bestenfalls reduziert werden. Generell zielt die europäische Gesetzgebung, insoweit internationalen Trends folgend, unter dem Schlagwort „Transparenz“ bzw. „disclosure“ auf Information, Aufklärung und Risikowarnung durch die Institute.86 27 Allerdings gilt es, nach Marktsegmenten zu unterscheiden, da die zur Verbesserung der Transparenz theoretisch möglichen Instrumente nicht überall gleich geeignet sind, die Gläubiger zu schützen. Zugunsten der Einleger einer Bank oder der Versicherungskunden bedeutet die detaillierte Beschreibung, welches Aktivgeschäft das Institut betreibt, keine 82 EZB, Monthly Bulletin, January 2012, S. 60 unter besonderem Verweis auf die natürliche Instabilität des Bankgeschäfts. 83 Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Januar 2002, S. 44. 84 Vgl. Boot/Thakor, The accelerating integration of banks and markets and its implications for regulation in Berger/Molyneux/Wilson (Hrsg.), Oxford Handbook of Banking, 2010, S. 58 (61). 85 Statt vieler Fleischer in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt (Hrsg.), GmbHG, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, Systematische Darstellung 5, Rn. 44. 86 Kommission, Regulierung der Finanzdienstleistungen für nachhaltiges Wachstum, KOM(2010) 301 endg., 5. Vgl. auch Bumke in Hopt/Veil/Kämmerer, S. 107 (122 f.); Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 154 ff.; Mülbert ZHR 2013, 160 (184 ff.).

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risikorelevante Aufklärung, da für den einzelnen Kunden der Zusammenhang zwischen dem Aktivgeschäft des Instituts und seinen eigenen Ansprüchen gegenüber dem Institut faktisch nicht greifbar ist. Am stärksten spielt Transparenz dort eine Rolle, wo die Intermediation durch ein Institut zurücktritt und der Anleger selbst zum Akteur auf dem Kapitalmarkt wird. Aus diesem Grund müssen Kapitalmarktemittenten erhebliche Informationen übermitteln, damit die Anleger ihr Investitionsrisiko einschätzen können.87 Die Probleme liegen dann aber in der Verständlichkeit, der Relevanz und dem Umfang der Informationen, zumal Wertpapierprospekte in der Praxis mit dem Ziel formuliert werden, die Haftungsrisiken des Emittenten und der Konsortialbanken zu minimieren.88 Anleger, insbesondere die nicht-institutionellen Anleger, sind aufgrund der Masse der Darstellungen und der Technizität der Beschreibungen („Expertenkauderwelsch“) häufig nicht in der Lage, die Informationen vollständig zu erfassen und einzuordnen. Vielfach fehlt es auch am Erfahrungswissen, um die mit der Investition verbundenen Risiken für die eigene Vermögensposition realistisch bewerten zu können. Die Finanzkrise hat überdies gezeigt, dass selbst institutionelle Investoren, denen Produktverständnis, Marktkenntnis und Erfahrungswissen unterstellt werden kann, die Risiken strukturierter Finanzprodukte elementar falsch eingeschätzt haben.89 Ein bloßes „Mehr“ an Transparenz, dh die Steigerung der Informationspflichten, hilft daher nicht automatisch, das Problem der Informationsasymmetrie zu lösen.90 Das Ungleichgewicht zwischen Fremdkapitalgebern und Finanzinstituten wird dadurch 28 verschärft, dass die Finanzanlagen dank wachsender finanzmathematischer und informationstechnischer Fähigkeiten sowie juristischer Verfeinerungen vielfach überkomplex geworden sind.91 Die immer weitere Verfeinerung sog strukturierter Finanzprodukte bildet damit das Hauptmerkmal der heutigen Finanzmärkte. Regulatorisch ist dem nicht ohne Weiteres beizukommen, da die Gesetze das zugrunde liegende Risikomodell und die darauf basierenden Verträge nicht vereinfachen können, es sei denn, der Gesetzgeber greift massiv in die Vertragsfreiheit ein. Das Ideal des informierten Investors lässt sich in der Realität daher häufig nicht verwirklichen, solange Anleger den Zugang zu solchen hochkomplexen Finanzprodukten haben, deren Analyse den Erfahrungs- und Wissenshorizont auch vorgebildeter Investoren übersteigt. Diese Entwicklung erschwert auch für die Finanzinstitute die eigene Risikosteuerung, wenn die zur Steuerung berufenen Mitarbeiter selbst nicht die Risiken verstehen, über die sie entscheiden sollen. 6. Das Problem der Systemstabilität Neben dem Anleger- und Kundenschutz konzentrierte sich die Tätigkeit des europäischen 29 Gesetzgebers seit der Finanzkrise 2008/2009 auf die Sicherung der Stabilität der Finanzmärkte. Die Krise verdeutlichte erneut,92 dass Finanzmärkte in Extremfällen aus dem Gleichgewicht geraten und ihre Funktionsfähigkeit verlieren können, ohne dass der Marktmechanismus rasch eine Rückkehr zur Stabilität verspricht.93 Hinter solchen Systemkrisen steht eine Form von Marktversagen, da die Marktteilnehmer bestimmte Risiken 87 88 89 90

Zimmer, G 15. Wymeersch ECFR 2010, 240 (242). Zimmer, G 15. Vgl. Lutter/Bayer/Schmidt § 14 Rn. 80; Möllers/Kernchen, Information Overload am Kapitalmarkt, ZGR 2011, 1 ff.; Mülbert ZHR 2013, 160 (187 f.). 91 Schwarcz, Regulating Complexity in Financial Markets, Washington University Law Review 2009, 211 (216). 92 Umfassende historische Bestandsaufnahmen leisten Reinhart/Rogoff, This Time is Different, 2009. 93 Zur latenten Instabilität bzw. Fragilität der Finanzmärkte vgl. Kaufhold, Systemaufsicht, S. 29 ff.; Lastra, S. 126 ff.; Röhl in Fehling/Ruffert § 18 Rn. 11.

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entweder überhaupt nicht erkannt oder systematisch unterschätzt haben. Die Preisbildung auf den Finanzmärkten ebenso wie das Risikomanagement der Finanzinstitute haben diese Risiken nicht erfasst, so dass eine entsprechende Risikovorsorge unterblieb.94 Kommt es aufgrund dieser Fehleinschätzungen zu einem Zusammenbruch systemisch relevanter Finanzinstitute, breitet sich die Krise über ganze Märkte aus und kann schließlich auch die Gesamtwirtschaft erfassen.95 Die Ende des Jahres 2010 erlassenen Verordnungen zur Schaffung eines Europäischen Systems der Finanzaufsicht betonen das Ziel der Systemstabilität daher ausdrücklich.96 30 Die Regulierung der Finanzmärkte mit dem Ziel, dieses Marktversagen zu verhindern und damit Systemstabilität zu sichern, stellt eine anspruchsvolle, inhaltlich nicht abschließend gelöste und möglicherweise unlösbare Aufgabe dar.97 Dem Marktversagen, das auf der Unfähigkeit zur Prognose künftig entstehender Gefahren beruht, korrespondiert regelmäßig ein Aufsichtsversagen, da weder Gesetzgeber noch Behörden besser ausgestattet sind, die Zukunft, genauer gesagt künftige Risikokorrelationen, zu erkennen.98 Bekannt sind nur die jeweils letzten Krisen, und die gesetzgeberischen Reaktionen hierauf spiegeln bestenfalls den aktuellen Erkenntnisstand über deren Ursachen und Folgen wider.99 Die Einschätzung der komplexen Verflechtungen auf den Finanzmärkten, gar künftiger Verflechtungen und darauf beruhender Risikokorrelationen, führt Gesetzgeber und Verwaltung daher an Erkenntnisgrenzen.100 31 Jegliche Regulierung, die sich der Verhinderung systemischer Krisen annimmt, muss zudem damit rechnen, dass am Ende die Regelungen die Wahrscheinlichkeit solcher Krisen erhöhen können. So wird beispielsweise angenommen, dass eine Vereinheitlichung des Wettbewerbsverhaltens durch gesetzliche Vorgaben, die zu gleichförmigen Risikomodellen oder Anlageportfolios führt, sich krisenverstärkend auswirkt.101 Wirtschaftspolitische Ziele, die zugleich mit der Regulierung verfolgt werden, wie die Begünstigung bestimmter Kreditnehmergruppen, können übermäßige Risikokonzentrationen oder schlicht wirtschaftlich ineffizientes Handeln auslösen.102 Auch führen Regulierungsmaßnahmen, die sich für die betroffenen Unternehmen kostensteigernd auswirken, automatisch dazu, dass die Unternehmen nach Möglichkeiten zur Vermeidung oder Reduzierung dieser Kosten suchen.103 Das betrifft vor allem Eigenkapitalanforderungen, die die Institute ähnlich wie Steuern in erster Linie als Kostenfaktoren begreifen. Unternehmerisches Handeln erfolgt dann zunehmend „regulatory driven“ in der Weise, dass die Entscheidung über Neugeschäfte und die Strukturierung von Verträgen maßgeblich mit dem Ziel geschieht, die regulatorischen Kosten in Gestalt von Eigenkapitalanforderungen zu vermeiden.

94 Alexander/Dhumale/Eatwell, S. 24. 95 Ohler, Systemische Risiken, in Kirchhof/Korte/Magen (Hrsg.), Öffentliches Wettbewerbsrecht, 2012, § 14, Rn. 8. 96 Erwägungsgrund 1 VO (EU) Nr. 1092/2010; Erwägungsgrund 7, 11 VO (EU) Nr. 1093/2010; Erwägungsgrund 6, 10 VO (EU) Nr. 1094/2010; Erwägungsgrund 7, 11 VO (EU) Nr. 1095/2010. 97 Alexander ERA Forum 2011, S. 229, 241 f. 98 Hellwig, Finanzmarktregulierung – Welche Regelungen empfehlen sich für den deutschen und europäischen Finanzsektor?, Gutachten E, Verhandlungen des 68. DJT, Bd. 1, 2010, E 45; Wymeersch ECFR 2010, 240 (251). 99 Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1322). 100 Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1322); zu den Anforderungen s. umfassend Kaufhold, Systemaufsicht, S. 149 ff. 101 Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2011, S. 45; Goodhart/Hofmann/Segoviano in Freixas/ Hartmann/Mayer, S. 690, 698; Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1322). 102 Padoa-Schioppa, S. 2 am Beispiel der US thrift crisis. 103 Goodhart/Hofmann/Segoviano in Freixas/Hartmann/Mayer, S. 690, 698.

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B. Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen

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B. Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen I. Das Ziel der Marktintegration Die Zielvorgabe des Art. 26 AEUV, einen Binnenmarkt für alle Wirtschaftsgüter zwischen 32 den Mitgliedstaaten zu schaffen, ist im Bereich der Finanzdienstleistungen besonders weitgehend verwirklicht worden. Finanzdienstleistungen sind für den grenzüberschreitenden Austausch ohnehin prädestiniert, denn Kapital ist als vermögenswertes Recht unkörperlich und sein Austausch nur von rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen abhängig. Durch Verträge ist Kapital ebenso einfach transfomierbar (zB von Geldeinlagen in Anleihen oder andere Wertpapiere) wie „lagerbar“ (zB auf Konten und in Depots). Die unternehmerische Aufgabe, Kapital bei Kunden einzusammeln, zu verwalten und Dritten zur Verfügung zu stellen oder zu vermitteln, stellt eine Dienstleistungstätigkeit dar, die nur begrenzt die physische Präsenz des Dienstleistungserbringers erfordert. Der rasante Fortschritt bei den Informationstechnologien begünstigt den internationalen Kapitalverkehr zusätzlich,104 lässt neue digitale Produktformen entstehen105 und führt wiederum – dank neuer Geschäftsmodelle – zu veränderten Unternehmenstypen (Fintechs, Insurtechs).106 In der – damals noch so bezeichneten – Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beförderte 33 der Wegfall der Kapitalverkehrskontrollen zu Beginn der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1.7.1990107 rasch das Entstehen eines integrierten Binnenmarkts für Finanzdienstleistungen. Mit Integration ist bei einer wirtschaftlichen Betrachtung gemeint, dass Unternehmen ohne Rücksicht auf die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten ihre Leistungen erbringen und Kunden sie entsprechend nachfragen können. Ein Kennzeichen hierfür ist, dass der Preiswettbewerb, ebenso wie der Produktwettbewerb, grenzüberschreitend stattfindet.108 Rechtlich verwirklicht sich Marktintegration zunächst durch die Garantie freien Markteintritts und Marktsaustritts sowie die Beseitigung aller Diskriminierungen im Bereich der gesamten Union, wie es die Grundfreiheiten des AEUV gewährleisten.109 Damit sind zugleich die Voraussetzungen für ein freiheitliches, dem Wettbewerbsprinzip gehorchendes Marktverständnis geschaffen.110 Die Harmonisierung mitgliedstaatlicher Regeln durch europäisches Sekundärrecht führt zu einer weiteren Angleichung der Wettbewerbsbedingungen, wenngleich sie auch andere, nicht dem Wettbewerbsgedanken geschuldete Regulierungsziele verfolgt. Begünstigt wurde die Marktintegration zudem durch die Einführung des Euro zum 1.1.1999, der zu einem Wegfall der Wechselkursrisiken und der Transaktionskosten im Devisenhandel führte. Die damit erreichte Integration ist wirtschaftlich in mehrfacher Hinsicht erwünscht: Gro- 34 ße Finanzmärkte gelten als liquider und daher tendenziell stabiler. Dieser Zusammenhang zwischen Liquidität und Stabilität der Finanzmärkte hat sich eindrücklich während der Finanzkrise gezeigt.111 Schiere Größe ist indes nicht mit Liquidität eines Marktes gleichzu104 Der sog Hochfrequenzhandel ist nur eine der jüngeren Entwicklungen, hierzu vgl. Art. 17 RL 2014/65/EU. 105 Zu den Folgen der Block-chain-Technologie für die Finanzmärkte s. Athanassiou, Impact of digital innovation on the processing of electronic payments and contracting: an overview of legal risks, ECB Legal Paper Working Series, No 16 October 2017. 106 BaFin, Jahresbericht 2016, S. 65 ff.; Financial Stability Board, Financial Stability Implications from Fintech, 27.6.2016, S. 6 ff. 107 Grundlage war die RL 88/361/EWG, ABl. 1988 L 178, S. 5. 108 Vgl. die Definition der Kommission, SEC(2007) 1696 endg., European Financial Integration Report 2007, S. 8. Ähnlich Baele/Ferrando/Hordahl/Kryeova/Monnet in Freixas/Hartmann/Mayer, S. 165 (166). 109 Vgl. Schnyder, Rn. 1: Zerschlagung ehedem territorial abgeschotteter Märkte. 110 Diesen Aspekt betont Bumke in Hopt/Veil/Kämmerer, S. 107, 116 f. 111 Entsprechend war in der Schuldenkrise 2010/2011 die Liquiditätssicherung auf den Anleihemärkten das vorrangige Ziel der EZB, s. EZB, Monthly Bulletin, April 2011, S. 61 ff.

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setzen, ebenso wie es nicht möglich ist, einen liquiden Markt als risikofrei anzusehen. Für die Integration von Märkten spricht zudem, dass auf ihnen der Wettbewerbsdruck zwischen den Anbietern von Finanzdienstleistungen zunimmt, so dass einerseits mehr Wahlmöglichkeiten für die Kunden entstehen und andererseits der Preis- und der Produktwettbewerb zwischen den Unternehmen steigen. In der volkswirtschaftlichen Theorie soll die Finanzmarktintegration daher zu mehr Möglichkeiten der Risikodiversifikation, besserer Kapitalallokation und höherem Wirtschaftswachstum führen.112 Schließlich erleichtert der integrierte Finanzraum die Durchführung der europäischen Geldpolitik durch die EZB, da ihre geldpolitischen Impulse von den Banken europaweit gleichmäßig aufgenommen werden.113 Kehrseite des größer gewordenen Finanzraums ist aber, dass lokale und regionale Krisen sich ungehindert ausbreiten und geographisch eine größere Ausdehnung erreichen können. 35 Der integrierte Binnenmarkt erstreckt sich heute im Wesentlichen auf den Interbankenmarkt, den Geldmarkt, die Märkte für Staatsanleihen und das Geschäft mit institutionellen Kreditnehmern.114 Dagegen ist das sog Retailgeschäft mit Privatkunden und kleinen Geschäftskunden nach wie vor national oder sogar lokal geprägt.115 Das hängt vor allem damit zusammen, dass im Retailgeschäft die unmittelbare, physische Präsenz von Unternehmen und Kunden den Leistungsaustausch kennzeichnet.116 Echte grenzüberschreitende Dienstleistungen spielen in diesem Bereich daher nur eine untergeordnete Rolle, was aber zum Teil durch grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen, die ein Ausdruck der Niederlassungsfreiheit sind, ausgeglichen wird. Auch die Kapitalmärkte, insbesondere Anleihe- und Aktienmärkte, sind in der EU zwar wirtschaftlich, aber technisch noch nicht vollständig integriert. Denn der grenzüberschreitende Handel mit Wertpapieren wird nach wie vor durch nationale, untereinander nicht vollständig kompatible Wertpapierlieferungs- und Wertpapierabrechnungssysteme in den verschiedenen Mitgliedstaaten geprägt. Eine Harmonisierung der Anforderungen an die Geschäftstätigkeit solcher Zentralverwahrer erfolgte allerdings im Jahr 2014.117 Überdies etablierte die EZB gemeinsam mit den Zentralbanken des Euro-Währungsraums im Jahr 2015 auf der Grundlage von Art. 127 Abs. 2 AEUV eine technische Plattform, TARGET2-Securities, die es nationalen Zentralverwahrern ermöglicht, untereinander Geschäfte abzuwickeln.118 Neben dieser technischen Infrastrukturleistung kommt es im Bereich des Wertpapierhandels vor allem auf den freien, ungehinderten Zugang der Handelsteilnehmer zu den Handelsplätzen (geregelten Märkten, Multilateral Trading Facilities (MTF) und organisierten Handelssystemen), den Zentralen Gegenparteien sowie den Clearing- und Abrechnungssystemen an.119

II. Wirtschaftspolitische Konzeptionen des europäischen Gesetzgebers 1. Unternehmensbezogene Regulierung 36 Die wirtschaftspolitische Konzeption des europäischen Gesetzgebers war seit ihren Anfängen im Jahr 1973 bis in die Gegenwart von verschiedenen, nicht immer kohärenten Ziel112 Kommission, SEC(2007) 1696 endg., European Financial Integration Report 2007, S. 8. 113 EZB, Financial Integration in Europe, May 2011, S. 5; Sáinz de Vicuña, Optional Instruments for the integration of the European financial markets in EZB (Hrsg.), Legal Aspects of the European System of Central Banks, 2005, S. 397 (398). 114 Alexander ERA Forum 2011, 229 (232). 115 Kommission, Weißbuch zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005–2010, 2005, S. 11; Kommission, SEC(2007) 1696 endg., European Financial Integration Report 2007, S. 6. 116 Degryse/Ongena in Freixas/Hartmann/Mayer, S. 345, 346. 117 VO (EU) Nr. 909/2014, ABl. 2014 L 257, 1. 118 Hierzu näher EZB, https://www.ecb.europa.eu/paym/t2s/about/keydocs/html/index.en.html. 119 S. insoweit Art. 36 und 37 RL 2014/65/EU.

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vorstellungen getragen.120 Die Kommission entwickelte zumeist für bestimmte, praktisch bedeutsame Wirtschaftsbranchen (Sektoren) ein Programm zur Erleichterung der grenzüberschreitenden Tätigkeit auf der Basis des Herkunftslandprinzips sowie des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Angestrebt wurde zunächst eine bloße Teilharmonisierung, dh rechtliche Verankerung dieses Gedankens und der für seine Funktionsfähigkeit notwendigen rechtlichen Grundlagen. Bewährten sich die Muster, übertrug die Kommission sie auf andere Branchen, nicht ohne deren Besonderheiten Rechnung zu tragen. Dieser Sektorenansatz charakterisiert das Europarecht bis heute und führte zur Herausbildung der drei rechtlichen Hauptbereiche für Kreditinstitute, Wertpapierfirmen und Versicherungsunternehmen.121 Der Ansatz war überwiegend regulatorisch in dem Sinne, dass einheitliche Wettbewerbsbedingungen geschaffen und auf dieser Grundlage die Märkte der Mitgliedstaaten wechselseitig geöffnet werden sollten. Hierfür wurden vor allem die aufsichtsrechtlichen Grundlagen im Bereich der Zulassung zum Geschäftsbetrieb und der Eigenkapitalanforderungen harmonisiert, mithin ein maßgeblich öffentlich-rechtlicher Ansatz gewählt.122 Nach ihrer Regelungssystematik richten sich die Sekundärrechtsakte in erster Linie an Unternehmen, die bestimmte, sachlich umschriebene Wirtschaftstätigkeiten erbringen.123 Nur im Kapitalmarktrecht werden weitere Adressaten einbezogen, da Informationspflichten auch andere Wirtschaftsunternehmen betreffen und pönalisierte Verhaltensweisen von jedermann begangen werden können, wie es bspw. beim Tatbestand der Marktmanipulation der Fall ist.124 Mit der generellen Ausrichtung auf Unternehmen trägt der europäische Gesetzgeber dem 37 Umstand Rechnung, dass diese faktisch die wesentlichen Träger der Kapitalverkehrsfreiheit wie auch der damit verbundenen Dienstleistungen sind. Die Verwirklichung des Binnenmarktes im Bereich der Finanzdienstleistungen erfolgte also in erster Linie für Unternehmen in abgegrenzten Finanzsektoren durch Vereinheitlichung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen und Erleichterungen der grenzüberschreitenden Tätigkeit. Der wirtschaftliche Nutzen lag darin, dass die Unternehmen nun Finanzprodukte ihres Heimatmarktes unverändert auch in anderen Mitgliedstaaten anbieten konnten.125 Die Liberalisierung der Unternehmenstätigkeit führte damit insgesamt zu einem breiten und tieferen Kapitalmarkt in Europa. 2. Grundsätzliches Fehlen einer Produktregulierung Dem Kapitalverkehr als solchem widmet sich dagegen eine Richtlinie aus dem Jahr 38 1988,126 die inhaltlich nur das gewährleistet, was die Verträge heute in Art. 63 ff. AEUV vorsehen. Ihren Sinn bezog die Richtlinie aber daraus, dass die Kapitalverkehrsfreiheit zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie noch nicht primärrechtlich garantiert war. Die weitere gesetzgeberische Entwicklung für die einzelnen Finanzmarktsektoren verdeutlicht, dass der Schwerpunkt der Gesetzgebung auf der Regulierung von Unternehmen und ihrer Geschäftstätigkeiten, nicht aber auf den Produkten dieser Tätigkeit liegt. Dieser Ansatz führt dazu, dass das zivilrechtliche Verhältnis zwischen Finanzinstitut und Kunde – und damit das eigentliche Kapitalmarktprodukt – im Wesentlichen vom nationalen Recht bestimmt bleibt. Ab den 1990er-Jahren traten weitere, durchweg öffentlich-rechtliche Ziele in der Finanzmarktgesetzgebung hinzu: So nahmen die Richtlinien zunehmend das Thema 120 121 122 123 124 125 126

Einen Überblick gibt Kolassa in Schimansky/Bunte/Lwowski § 135 Rn. 14 ff. S. die systematische Aufstellung bei Jung/Bischof § 3 Rn. 64 ff. Kolassa in Schimansky/Bunte/Lwowski § 135 Rn. 1. Schnyder, Rn. 52. S. Art. 12 VO (EU) Nr. 596/2014. Kolassa in Schimansky/Bunte/Lwowski § 135 Rn. 5 f.; Schnyder, Rn. 12. RL 88/361/EWG, ABl. 1988 L 178, 5.

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der Geldwäschebekämpfung und der Verhinderung der Terrorismusfinanzierung auf127 und verwirklichten damit vorwiegend sicherheitsrechtliche Vorstellungen. Im Bereich des Kapitalmarktrechts zielte der Gesetzgeber auf die Verhinderung von Marktmissbrauch durch Marktmanipulation und Insiderhandel128 sowie auf die Verbesserung des (institutionellen) Anlegerschutzes durch Wohlverhaltens- und Transparenzpflichten.129 Insbesondere der schillernde Begriff der Transparenz war auch Grundlage für die Harmonisierung der Informationspflichten bei grenzüberschreitenden Zahlungsdiensten130 und die Regulierung von Ratingagenturen im Jahr 2009.131 In diesem Zusammenhang ging der Gesetzgeber ab der Jahrtausendwende zunehmend zu einer Politik der Vollharmonisierung über, um einerseits internationale Standards umfassend zu übernehmen und andererseits den Binnenmarkt durch die Vereinheitlichung der Anforderungen zu stärken. 39 Dagegen entwickelte die Union erst infolge der Finanzkrise 2008/2009 und der anschließenden Verschuldungskrise gesetzgeberische Maßnahmen, um gezielt auf bestimmte Vertragstypen und Geschäftsformen einzuwirken. Beispiele sind das Verbot von Leerverkäufen bestimmter Wertpapiere132 und die Zentralisierung des Handels mit außerbörslichen (OTC) Derivatekontrakten bei zentralen Gegenparteien.133 Diesen Maßnahmen liegt vor allem das öffentliche Ziel zugrunde, die Stabilität des Finanzsystems zu schützen. Zwingende zivilrechtliche Vorgaben für konkrete Vertragsformen bestehen dagegen bei grenzüberschreitenden Zahlungsdiensten.134 Insgesamt erfordert eine Produktregulierung eine Angleichung zivilrechtlicher Vorgaben für bestimmte Vertragstypen, die angesichts der teilweise erheblichen Unterschiede in den nationalen Zivilrechtsordnungen und aufgrund ordnungspolitischer Bedenken (Schutz der Vertragsfreiheit) auch künftig wohl nur punktuell erfolgen wird.135 3. Marktinfrastrukturen 40 Finanzmärkte sind nur dann voll funktionsfähig, wenn technische Infrastrukturen bestehen, die den effizienten, sicheren Austausch von Informationen, Zahlungen und Wertpapieren ermöglichen. Die notwendigen Marktinfrastrukturen in den Bereichen Informationstechnologie, Zahlungsverkehrssysteme und Wertpapierabrechnung halten in erster Linie die privaten Unternehmen bereit. Insbesondere elektronische Handelsplattformen für den Wertpapierhandel, die Dritten offenstehen (sog Multilateral Trading Facilities, MTF), werden von Banken und anderen Finanzdienstleistern betrieben. Einen generellen Auftrag an die Mitgliedstaaten oder europäischen Behörden zur Herstellung von Marktinfrastrukturen kennt das Europarecht dagegen nicht. Für die Abwicklung des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs stellen jedoch die EZB und die nationalen Zentralbanken des Eurosystems das System TARGET2 zur Verfügung,136 das seit 2015 durch ein eigenständiges System der Wertpapierlieferung und Wertpapierabrechnung (TARGET2-Securities) ergänzt wird. Beide Systeme dienen der Durchführung der gemeinsamen Geldpolitik nach 127 S. insbes. RL 2015/849/EU, ABl. 2015 L 141, 73, zuletzt geändert durch RL (EU) 2018/843, ABl. 2018 L 156, 43. 128 S. VO (EU) Nr. 596/2014 und RL 2014/57/EU. 129 Art. 24 und 25 RL 2014/65/EU. 130 Art. 38 ff. RL 2015/2366/EU. 131 VO (EU) Nr. 1060/2009. 132 Art. 12 ff. VO (EU) Nr. 236/2012. 133 S. Art. 4 VO (EU) Nr. 648/2012. Hierzu Schmidt-Wenzel, Die Regulierung von Kreditderivativen, 2017. 134 Art. 61 ff. RL 2015/2366/EU. Zum zwingenden Charakter der Vorschriften s. Art. 107 Abs. 3 RL. 135 Vgl. Binder ZEuP 2017, 569 (594 ff.); Schnyder, Rn. 318 ff. 136 Leitlinie der EZB v. 26.4.2007, ABl. 2007 L 237, 1. Hierzu näher Papathanassiou in Schimansky/ Bunte/Lwowski § 134 Rn. 109 ff.

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Art. 127 AEUV. Wichtige Regelungen enthält die RL 98/26/EG über die Wirksamkeit von Abrechnungen in Zahlungs- sowie Wertpapierliefer- und Abrechnungssystemen.137 Sie zielt auf die Verhinderung von Systemrisiken in privaten und öffentlichen Zahlungsverkehrssystemen, die durch die Insolvenz eines Teilnehmers entstehen können. Zu diesem Zweck ordnet sie die rechtliche Wirksamkeit von Aufträgen im Zahlungs- und Wertpapierverkehr sowie von Aufrechnungserklärungen (Netting) einschließlich der Lieferung der dinglichen Sicherheiten an.138 An der Schnittstelle zwischen öffentlich-rechtlicher Gewährleistung und privater Implementierung liegt das Projekt eines einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrsraums (SEPA). In rechtlicher Hinsicht trägt eine Verordnung über die Vereinheitlichung technischer Standards bei bargeldlosen Zahlungen dieses Unterfangen.139

III. Die Bedeutung internationaler Standards Der europäische Gesetzgeber orientiert sich seit vielen Jahren maßgeblich an den Vorga- 41 ben internationaler Standardsetzer.140 Die wichtigsten Gremien sind der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, die International Organisation of Securities Commissions (IOSCO), die International Association of Insurance Supervisors (IAIS) und der Financial Stability Board (FSB). Für den Bereich der Geldwäsche ist zudem die Financial Action Taskforce (FATF) zu nennen. Diese Standardsetzer sind nicht als internationale Organisationen des Völkerrechts anzusehen, da sie über keine Völkerrechtssubjektivität verfügen. Angesichts ihrer schwach ausgeprägten Organisationsstruktur werden sie im Schrifttum als „Behördennetzwerke“ charakterisiert.141 Entscheidend ist, dass diese Gremien nicht selbst Zurechnungssubjekt für die Fragen völkerrechtlicher Haftung und demokratischer Legitimation sind. Bezugssubjekt beider Regime bleiben die Staaten, die ihre Behördenvertreter dorthin entsenden.142 Mit der personellen Zusammensetzung ist auch ihre organisatorische Besonderheit angesprochen, da die nationalen Vertreter nahezu ausschließlich aus Fachministerien, Zentralbanken und Aufsichtsbehörden entsandt werden. Zum Teil wirken auch die Kommission und die EZB mit. Die einzelnen Vertreter sind ihren Entsendebehörden gegenüber vollständig rechenschaftspflichtig, wobei sich Inhalt und Umfang dieser Pflicht nach nationalem Recht richten. Welche Rechtsstellung wiederum die entsendenden Behörden im innerstaatlichen bzw. europäischen Verwaltungsaufbau genießen, muss ebenfalls nach dem jeweiligen nationalen bzw. europäischen Recht beantwortet werden. Aus der Unabhängigkeit zB von Zentralbanken nach innerstaatlichem oder europäischem Recht kann jedenfalls nicht auf eine völkerrechtliche Loslösung von den jeweiligen Staaten geschlossen werden. Die Verselbstständigungsthese, die in diesem Zusammenhang häufig zu lesen ist, ist daher weder faktisch noch rechtlich belegt.143 Alle vorgenannten Gremien erfahren seit der Finanzkrise eine sehr allgemeine politische 42 Kontrolle durch den G20-Prozess, der aber selbst keine rechtsfähige internationale Orga137 ABl. 1998 L 166, 45. 138 Näher hierzu Jung/Bischof § 4 Rn. 179. 139 Verordnung (EU) Nr. 260/2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro, ABl. 2012 L 94, 22. 140 Dies betont auch die Kommission, Regulierung der Finanzdienstleistungen für nachhaltiges Wachstum, KOM(2010) 301 endg., 3. Eine Analyse des Einflusses der einzelnen Standardsetzer auf das EURecht findet sich bei Ohler in Möllers/Vosskuhle/Walter, S. 259, 263 f. Vgl. ferner ausführlich Strauß, Soft Law als Steuerungsinstrument in der Bankenaufsicht, 2016. 141 Barr/Miller EJIL 2006, 15 (17); Möllers, Transnationale Behördenkooperation – Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme transnationaler administrativer Standardsetzung, ZaöRV 2005, 351 (371). 142 AA Ruffert in FS Scheuing, S. 399 (407). 143 AA Höfling, F 38.

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nisation bildet144 und am ehesten als eine auf Dauer angelegte Staatenkonferenz angesehen werden kann. Eine Sonderrolle spielt schließlich der International Accounting Standards Board (IASB), der für die Entwicklung von Standards im Bereich der Rechnungslegung verantwortlich zeichnet, da er ein rein privatrechtlich konstituiertes Gremium bildet, an dem auch keine Staatenvertreter unmittelbar mitwirken.145 43 Zu den Zielen der Zusammenarbeit in den Gremien gehören der allgemeine Informationsaustausch und die Erarbeitung konsensual angenommener Regulierungsstandards.146 Aus der Perspektive ihrer Entstehung gehören die Standards dem völkerrechtlichen soft law an, dh, sie bilden kein verbindliches internationales Recht, sondern bloße Empfehlungen.147 In der Rechtswirklichkeit kann ihre steuernde Wirkung auf Gesetzgebung und Aufsichtspraxis aber kaum hoch genug eingeschätzt werden. Zu ihrer Umsetzung ist primär der Gesetzgeber auf europäischer Ebene berufen, während die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Gesetzgebung sich meist nur noch auf die Umsetzung der Richtlinien beschränkt, in denen die Standards ihren Niederschlag gefunden haben. In der Verwaltungspraxis stützen sich Behörden aber durchaus unmittelbar auf die Standards. Rechnet man daher ihre Verwendung den nationalen Verwaltungsbehörden zu, zählen sie dort zum Binnenrecht der Verwaltung und entfalten für die Behörden eine Wirkung ähnlich wie Verwaltungsvorschriften. Ihre Außenwirkung gegenüber den Finanzinstituten kann nur mittelbar entstehen, indem die Aufsichtsbehörden die vom Gesetzgeber geschaffenen Spielräume des geltenden Aufsichtsrechts nutzen und ihre Verwaltungspraxis innerhalb dieses Rahmens an den Standards ausrichten.148 Maßgeblich bleiben aber auch hier Vorrang und Vorbehalt des Parlamentsgesetzes. 44 Inhaltlich verfolgen die Standards das Ziel, die Qualität und Wirksamkeit der Aufsicht zu verbessern, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden zu erleichtern und einheitliche Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen im Aufsichtsrecht zu schaffen. Das hat gerade im Bankrecht zu einer beispiellosen Detailfülle und Regelungsdichte bei den Eigenkapitalanforderungen geführt. So sinnvoll die Standardisierung für die Verbesserung des Aufsichtsrechts ist, so sehr wirft sie weiterhin ungelöste Fragen auf. Am drängendsten stellt sich das Problem, dass dem Ehrgeiz bei der Schaffung der Standards nicht immer der Wille in den beteiligten Staaten entspricht, die Standards auch gesetzgeberisch umzusetzen. Das Bemühen um die aufsichtsrechtliche Standardsetzung findet überdies keine Entsprechung im Bereich des Außenhandelsrechts. Das bedeutet, dass der Abbau von Marktzugangsschranken bislang nicht verknüpft ist mit der Übernahme von internationalen Standards, wie auch die Einhaltung der Standards keinen Einfluss auf die Marktöffnung in den beteiligten Staaten hat. Das Ziel einer weitgehenden internationalen Vereinheitlichung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen und damit einhergehend die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen wird auf diese Weise verfehlt. 45 Die rechtliche Qualität der Standards ist im Ergebnis so lange unerheblich, als der nationale bzw. europäische Gesetzgeber die Standards zum Anlass nimmt, um auf ihrer Grundlage verbindliches Recht zu schaffen.149 Schwierig wird dieses Verhältnis, wenn nationale Aufsichtsbehörden bereits vor einer gesetzgeberischen Umsetzung im Wege der Vorwir144 AA Tietje, Architektur der Weltfinanzordnung, 2011, S. 26. 145 Höfling, F 34 f.; Rost, Die Herausbildung transnationalen Wirtschaftsrechts auf dem Gebiet der internationalen Finanz- und Kapitalmärkte, 2007, S. 173 ff. 146 Vgl. Walker, S. 51 ff. 147 Allgemeine Meinung, statt vieler Barr/Miller EJIL 2006, 15 (23, 28); Möllers, Transnationale Behördenkooperation – Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme transnationaler administrativer Standardsetzung, ZaöRV 2005, 351 (368); Walker, S. 47. 148 Vgl. zu den rein innerstaatlichen Verwaltungsvorschriften Möstl DVBl. 2011, 1076 (1080). 149 Zur Umsetzungsnotwendigkeit Barr/Miller EJIL 2006, 15 (28).

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kung die Standards zur Anwendung bringen, wie es bei Basel II der Fall war. Auch die Heranziehung von Standards ohne weitere gesetzliche Grundlage ist rechtsstaatlich überaus problematisch. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn Generalklauseln im geltenden Recht genutzt oder unbestimmte Rechtsbegriffe methodisch verträglich konkretisiert werden können. Damit verlagert sich das Verhältnis von soft law zum innerstaatlichen bzw. europäischen Recht auf das verfassungsrechtliche Verhältnis von Verwaltung zum Gesetzgeber. Eingriffe in Grundrechte der Institute und anderer Adressaten kommen nur auf der Grundlage verbindlichen, vom Gesetzgeber geschaffenen Rechts in Betracht.150 Keine Hinderungsgründe aus dem Demokratieprinzip des Art. 10 Abs. 1 EUV bestehen, wenn das Vorbild für diese Gesetze den internationalen Standards entnommen wird. Die Klage, dass damit Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers verloren gingen, ist zwar zum Teil berechtigt.151 Daran knüpft eine ausgedehnte Debatte über die demokratische Legitimation internationaler Standardsetzung an.152 Hieran ist richtig, dass die Technizität der Materie faktisch zu einem Übergewicht der Verwaltung führt, deren Fachwissen dem parlamentarischen Gesetzgeber meist fehlt. Diese Konstellation ist aber historisch nicht neu und auch nicht auf die Finanzmarktregulierung beschränkt. Die dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts und insbesondere dem Demokratieprinzip nach Art. 10 Abs. 1 EUV geschuldete Autonomie des Gesetzgebers gegenüber der Verwaltung bringt es vielmehr mit sich, dass der Gesetzgeber über die Empfehlungen, die den Standards zugrunde liegen, vollständig verfügen darf. Er ist inhaltlich nicht gebunden, sondern besitzt und nutzt eigene Einschätzungs-, Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume.153 Die praktisch bedeutsame Frage bleibt indes, ob er sein gesetzgeberisches Ermessen stets auch in diesem Selbstbewusstsein ausübt.

IV. Mindestharmonisierung vs. Vollharmonisierung Über viele Jahre hinweg wurde der Gesetzgebungsansatz im Finanzmarktrecht mit dem 46 Begriff der Mindestharmonisierung umschrieben.154 Damit ist gemeint, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber nur die Fragen regelte, die für das Entstehen des Binnenmarktes konstitutiv waren. Gleichzeitig beließ der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten weite Spielräume bei der Umsetzung, um nationale Besonderheiten berücksichtigen und das europäische Recht möglichst bruchlos in die inländische Rechtsordnung einfügen zu können. Insbesondere ermöglicht es das Konzept der Mindestharmonisierung den Mitgliedstaaten, strengere Regeln als von der Richtlinie vorgesehen zu erlassen.155 Diese Grundidee veränderte sich bereits aufgrund der Vorstellung, die Marktintegration durch weitgehende Vereinheitlichung der aufsichtsrechtlichen Wettbewerbsbedingungen möglichst zu vervollkommnen. In dem Maße, in dem neben das Ziel der Marktintegration weitere, ordnungspolitische und aufsichtsrechtliche Ziele traten, vollzog sich endgültig der Abschied vom Konzept der Mindestharmonisierung. Teilweise verwirklichen die Richtlinien 150 S. Art. 52 Abs. 1 GRC. 151 Van Aaken in Möllers/Vosskuhle/Walter, S. 219 (249); Höfling, F 37. 152 Barr/Miller EJIL 2006, 15 (17 ff.); Calliess VVDStRL 71 (2012), 113 (132 ff.); Ohler in Möllers/ Vosskuhle/Walter, S. 259 (270 f.); Ruffert, Perspektiven des Internationalen Verwaltungsrechts, in Möllers/Vosskuhle/Walter, S. 395 (407 f.); Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2. Aufl. 2015, Rn. 100; Rost, Die Herausbildung transnationalen Wirtschaftsrechts auf dem Gebiet der internationalen Finanz- und Kapitalmärkte, 2007, S. 205 ff. Allgemein auch Terhechte/Terhechte/Möllers HdB-EUVerwR § 40 Rn. 15 f. 153 Calliess VVDStRL 71 (2012), 113 (133 f.): steuernde Rezeption. 154 Van Aaken in Möllers/Vosskuhle/Walter, S. 219, 242; Jung/Bischof § 3 Rn. 91; Sáinz de Vicuña, Optional Instruments for the integration of the European financial markets in EZB (Hrsg.), Legal Aspects of the European System of Central Banks, 2005, S. 397 (399). 155 Jung/Bischof § 3 Rn. 91; Streinz/Schröder EUV/AEUV AEUV Art. 114 Rn. 49.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht heute daher bereits eine Vollharmonisierung bestimmter Rechtsbereiche mit der Folge, dass den Mitgliedstaaten weder Abweichungsrechte noch Gestaltungsspielräume bleiben.156 Aus primärrechtlicher Sicht ist der europäische Gesetzgeber nicht gehindert, zwischen den verschiedenen Konzepten frei zu wählen und nach eigenem Ermessen die Regeln zu erlassen, die er für die Verwirklichung seiner Ziele für erforderlich hält. Art. 114 AEUV jedenfalls lässt eine weitgehend flexible Handhabung zu.157 Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EUV entfaltet bei der Finanzmarktregulierung ebenfalls keine spürbare Direktionskraft. In der Gesetzgebungspraxis lässt sich indes feststellen, dass die Detailliertheit und die Komplexität des europäischen Aufsichtsrechts gravierend zugenommen haben. Kernprinzipien sind immer schwieriger auszumachen.158

V. Die Rolle der Grundfreiheiten 1. Anwendbare Grundfreiheiten 47 Aus europarechtlicher Sicht fällt die Tätigkeit der Finanzinstitute unter verschiedene Grundfreiheiten. Grenzüberschreitende Gründungen von Tochterunternehmen, Filialen und Agenturen stellen ein Gebrauchmachen von der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 ff. AEUV dar.159 Das grenzüberschreitende Angebot von (unkörperlichen) Leistungen der Finanzinstitute lässt sich der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV zuordnen. Die dabei übertragenen Vermögenswerte unterliegen jedoch der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 ff. AEUV.160 Das Verhältnis der Grundfreiheiten lässt sich im Falle von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Allgemeinen unproblematisch anhand der Kriterien der Rechtsprechung auflösen.161 Praktisch bedeutet das, dass diese beiden Grundfreiheiten im konkreten Einzelfall nicht gleichzeitig auf einen wirtschaftlichen Lebensvorgang zur Anwendung kommen. Dagegen ist die Kapitalverkehrsfreiheit bei der Leistungserbringung durch Finanzinstitute parallel zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit anwendbar, wie aus Art. 58 Abs. 2 und Art. 65 Abs. 2 AEUV hervorgeht.162 Rechtlich ist diese Parallelität aufgrund der einheitlichen Handhabung der Rechtfertigungsprüfung bei Beschränkungen und Diskriminierungen unproblematisch, solange rein innergemeinschaftliche Sachverhalte betroffen sind. 2. Konkurrenzverhältnis in Drittstaatenfällen 48 Abgrenzungsschwierigkeiten auf der Ebene der Schutzbereiche treten nur dann auf, wenn ein wirtschaftlicher Leistungsaustausch einen Drittstaat einbezieht. In diesem Fall könnte zwar die Kapitalverkehrsfreiheit, nicht aber die räumlich auf die Mitgliedstaaten der Union begrenzte Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit anwendbar sein.163 Um gleichwohl den Einklang zwischen den Grundfreiheiten zu wahren, schränkt der EuGH in 156 So auch Fleischer/Schmolke, Die Reform der Transparenzrichtlinie: Mindest- oder Vollharmonisierung der kapitalmarktrechtlichen Beteiligungspublizität?, NZG 2010, 1241 (1243 f.); Lutter/Bayer/Schmidt § 14 Rn. 30; Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1356). 157 Fleischer/Schmolke, Die Reform der Transparenzrichtlinie: Mindest- oder Vollharmonisierung der kapitalmarktrechtlichen Beteiligungspublizität?, NZG 2010, 1241 (1245). 158 Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1376). 159 Jung/Bischof § 2 Rn. 22. 160 Maßgeblich ist nach st Rspr. die Nomenklatur im Anhang der RL 88/361/EWG, vgl. EuGH 16.3.1999 – C-222/97, Slg 1999, I-1661, Rn. 21 – Trummer und Mayer. 161 Vgl. EuGH 30.11.1995 – C-55/94, Slg 1995, I-4165, Rn. 25 – Gebhard: Niederlassung impliziert Teilnahme am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats in stabiler und kontinuierlicher Weise. 162 Jung/Bischof § 2 Rn. 23. 163 EuGH 3.10.2006 – C-452/04, Slg 2006, I-9521, Rn. 25 – Fidium Finanz AG; 24.5.2007 – C-157/05, Slg 2007, I-4051, Rn. 28 – Holböck.

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Drittstaatenfällen die Schutzwirkungen der Kapitalverkehrsfreiheit ein, indem er, ähnlich einer Schwerpunkttheorie, der Dienstleistungsfreiheit (oder der Niederlassungsfreiheit) den Anwendungsvorrang lässt.164 Hierfür stellt er darauf ab, „ob unter den Umständen des Einzelfalls eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann.“165 Die Abgrenzung erfolgt allerdings nicht mit Blick auf den wirtschaftlichen Lebensvorgang, sondern die nationale Vorschrift, von der die Beschränkung ausgeht. So formuliert der EuGH: „Für die Beantwortung der Frage, ob eine nationale Regelung unter die eine oder unter die andere Verkehrsfreiheit fällt, ist nach gefestigter Rechtsprechung auf den Gegenstand der betreffenden nationalen Regelung abzustellen ...“.166 Im Falle der Erstreckung aufsichtsrechtlicher Regelungen eines Mitgliedstaats auf die Tä- 49 tigkeiten von Finanzinstituten sah er den Schwerpunkt bei der Dienstleistungsfreiheit (bzw. der Niederlassungsfreiheit) und ließ in der Konsequenz die Kapitalverkehrsfreiheit außer Acht.167 Die Wirkung dieser Rechtsprechung ist, dass sich in Drittstaatenfällen ein Unternehmen nicht auf die Grundfreiheiten berufen kann, wenn die nationale Regelung die Geschäftstätigkeit als solche betrifft.168 Nur für den Fall, dass sich ein Rechtsakt schwerpunktmäßig auf den Transfer von Kapital bezieht, könnte die Kapitalverkehrsfreiheit anwendbar sein. 3. Beschränkungsverbot und Rechtfertigung Die üblichen aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Finanzinstitute wie Zulassung (Er- 50 laubnis), Mindesteigenkapital, Qualifikation der Geschäftsführer, inländischer Verwaltungssitz usw stellen ohne Weiteres Beschränkungen der Grundfreiheiten dar.169 Sie beruhen aber auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, nämlich dem Anlegerschutz (bzw. Verbraucherschutz),170 der Integrität des Finanzsektors171 und der Stabilität des Finanzsystems.172 Gesetzgeberische Maßnahmen dürfen ebenfalls auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit von Teilmärkten und generell die Verwirklichung des Binnenmarktes zielen. Auch im Finanzmarktrecht hat der Gesetzgeber die Grundrechte der Grundrechtecharta und die Anforderungen aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip strikt zu achten. 4. Verhältnis zum Sekundärrecht Die Grundfreiheiten sind zwar unmittelbar anwendbar, bei den Finanzinstituten finden 51 sich aber mit Art. 58 Abs. 2 AEUV und Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV Vorschriften, die auf den besonderen Status dieses Wirtschaftsbereichs verweisen. Anders als in anderen Wirtschaftssektoren knüpft der EuGH daher die aus den Grundfreiheiten resultierende Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung an den Stand der Harmonisierung durch das Sekundär-

164 Germelmann, Konkurrenz von Grundfreiheiten und Missbrauch von Gemeinschaftsrecht, EuZW 2008, 596 (598 f.) Kritisch-ablehnend Hindelang, Direktinvestitionen und die Europäische Kapitalverkehrsfreiheit im Drittstaatenverhältnis, JZ 2009, 829 (830). 165 EuGH 3.10.2006 – C-452/04, Slg 2006, I-9521, Rn. 34 – Fidium Finanz AG. 166 EuGH 24.5.2007 – C-157/05, Slg 2007, I-4051, Rn. 22 – Holböck – mit zahlreichen Nachweisen. 167 EuGH 3.10.2006 – C-452/04, Slg 2006, I-9521, Rn. 48 f. – Fidium Finanz AG. 168 Befürwortend Wunderlich/Blaschke, Die Gewährleistung der Kapitalverkehrsfreiheit in Bezug auf Drittstaaten, IStR 2008, 754 (756). 169 Ausdrücklich zur Erlaubnispflicht nach § 32 KWG Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl, 16.3.2006 – C-452/04, Slg 2006, I-9521, Rn. 114 – Fidium Finanz AG. 170 S. EuGH 9.7.1997 – C-222/95, Slg 1997, I-3899, Rn. 22 – Parodi. 171 Vgl. EuGH 10.5.1995 – C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn. 44 – Alpine Investments. 172 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl 16.3.2006 – C-452/04, Slg 2006, I-9521, Rn. 127 ff. – Fidium Finanz AG.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht recht.173 Solange es an einer solchen Harmonisierung fehlt oder diese unvollständig ist, dürfen die Mitgliedstaaten mithin eigenständige aufsichtsrechtliche Regelungen zur Beschränkung von Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit treffen, vorausgesetzt, dass ein zwingender Grund des Allgemeininteresses vorliegt und die mitgliedstaatliche Maßnahme verhältnismäßig ist.

VI. Vertragliche Grundlagen europäischer Gesetzgebung 1. Zuständigkeiten 52 Die Europäische Union bzw. ihre Rechtsvorgängerin, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die spätere Europäische Gemeinschaft, stützte die Harmonisierungsmaßnahmen überwiegend auf den ehemaligen Art. 47 Abs. 2 EGV, der die Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeit erlaubt. Die Vorschrift besteht weitgehend unverändert im heutigen Art. 53 Abs. 1 AEUV fort. Verständlich ist die Wahl dieser Rechtsgrundlage aus dem regulatorischen Ansatz heraus, die Tätigkeit von Unternehmen einem einheitlichen aufsichtsrechtlichen Regime zu unterwerfen und damit zugleich die „Aufnahme und Ausübung“ dieser Tätigkeiten zu erleichtern, wie die Vorschrift verlangt. Insoweit bildet sie die lex specialis gegenüber Art. 114 AEUV. 53 Einen deutlichen Politikwechsel nahmen Kommission, Rat und Parlament mit der VO (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen vor, die auf Art. 95 EGV (heute: Art. 114 AEUV) gestützt wurde. Wiewohl sie die Zulassung von Ratingagenturen, eine selbstständige unternehmerische Tätigkeit, zum Gegenstand hat, wurde Art. 47 Abs. 2 EGV nicht als Rechtsgrundlage herangezogen. Generell dient die Binnenmarktklausel des Art. 114 AEUV seither als Rechtsgrundlage für den Erlass aufsichtsrechtlicher Vorgaben in Gestalt von Verordnungen nach Art. 288 Abs. 2 AEUV, ohne aber zugleich Art. 53 Abs. 1 AEUV vollständig zu verdrängen. Der Unionsgesetzgeber stützte überdies die Verordnungen zur Errichtung der drei europäischen Aufsichtsbehörden und des ESRB auf die Binnenmarktklausel, was im Schrifttum zum Teil kritisch vermerkt wurde.174 Anders als bei Rechtsakten, die sich an Unternehmen richten, war hier die Frage, ob Art. 114 AEUV, der die „Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“ erlaubt, auch die Grundlage für verwaltungsorganisatorische Entscheidungen des europäischen Gesetzgebers abgeben kann. Der EuGH bejahte diese Frage, sofern die Agenturen harmonisiertes Recht entweder selbst durchführen oder an seiner Durchführung durch die Mitgliedstaaten mitwirken, so dass ein Binnenmarktbezug besteht.175 Darin liegt eine erhebliche Ausweitung des Handlungsrahmens, den Art. 114 AEUV dem Gesetzgeber gewährt, was rechtlich nur dann tragfähig ist, wenn die Annahme zutrifft, dass die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass materiellen Rechts zugleich die Kompetenz für verwaltungsorganisatorische Entscheidungen umfasst.176 54 Beide Rechtsgrundlagen, Art. 53 Abs. 1 und Art. 114 AEUV, ermächtigen den Gesetzgeber, dh Europäisches Parlament und Rat gemeinsam, zum Erlass von Gesetzgebungsakten iSv Art. 289 Abs. 3 AEUV. Anwendbar ist stets das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV. 173 EuGH 9.7.1997 – C-222/95, Slg 1997, I-3899, Rn. 20, 23 ff. – Parodi. 174 Kämmerer NVwZ 2011, 1281 (1283); Michel DÖV 2011, 728 (729 f.); Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1340 f.). 175 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771, Rn. 44 f. – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat – mit krit. Anm. Ohler EuZW 2006, 372 ff. 176 Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 39. Zur Diskussion s. auch Michel, S. 118 ff.; Schemmel, S. 34 ff. mwN.

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2. Handlungsformen Die Handlungsform der Richtlinie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV, die aufgrund von Art. 53 55 Abs. 1 AEUV obligatorisch heranzuziehen ist, bringt verschiedene Nachteile mit sich. Einmal bewirkt sie, selbst im Fall einer Vollharmonisierung, kein europaweit einheitliches Recht in allen Mitgliedstaaten, sondern führt zum Erlass von verschiedenen, inhaltlich mehr oder weniger ähnlichen nationalen Gesetzen. Im Übrigen birgt jede Richtlinie aufgrund des zweistufigen Gesetzgebungsverfahrens das Risiko von Nicht- oder Schlechtumsetzungen durch einzelne Mitgliedstaaten. Schließlich ist sie mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht durch europäische und nationale Behörden vollzugsfähig, soweit sie zulasten ihrer Adressaten, der Unternehmen, eigenständige, neue Verpflichtungen regelt.177 Solches ist aber durchgängig der Fall, soweit eine Richtlinie beispielsweise Eigenkapitalanforderungen, Organisations- und Informationspflichten der Finanzinstitute festlegt, die bislang nicht im innerstaatlichen Recht vorgesehen sind. Der Vorteil der Richtlinie, den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume und damit die Möglichkeit zur Anpassung an die Eigenheiten der nationalen Rechtsordnung zu lassen,178 schwand im Aufsichtsrecht zunehmend. Seit der Jahrtausendwende haben die Richtlinien einen Detaillierungsgrad angenommen, der dem Versuch geschuldet ist, möglichst einheitliche Aufsichtsbedingungen zu schaffen. Faktisch ähnelte die Richtlinie ihrer Regelungstechnik nach den Verordnungen nach Art. 288 Abs. 2 AEUV, ohne aber deren Rechtswirkungen zu erlangen. Vor diesem Hintergrund ging die Kommission zunehmend dazu über, ihre Gesetzgebungsvorschläge zur Reform bestehender Richtlinien aufzuspalten und nach Möglichkeit neue Inhalte in Verordnungen zu verpacken, die auf der Grundlage von Art. 114 AEUV erlassen wurden. Auf dieser Basis wird einheitliches Recht geschaffen, das auch unmittelbar anwendbar und damit durch nationale und europäische Aufsichtsbehörden vollzugsfähig ist. 3. Rechtsetzung durch die Kommission Gerade im Finanzmarktrecht kommt der Rechtsetzung durch die Kommission eine weit- 56 reichende Bedeutung zu. Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon war hierfür das Komitologieverfahren auf der Grundlage des Beschlusses 1999/486/EG rechtlich maßgeblich.179 Es erfuhr im Jahr 2001 eine besondere Gestaltung durch das sog Lamfalussy-Verfahren, das die politische Vorstellung von Struktur und Verfahren der Finanzmarktregulierung stark beeinflusste.180 Ursprünglich nur für die Gesetzgebung im Wertpapierrecht entwickelt, wurde es ab 2005 auf alle Finanzmarktsektoren ausgedehnt.181 Im Kern sollte die Regulierung der Finanzmärkte auf vier Ebenen verteilt werden.182 Die Rechtsetzungszuständigkeit der Kommission (Ebene 2) beruhte auf sekundärrechtlichen Ermächtigungen im sog Basisrechtsakt (Ebene 1). Sie wurde dabei von Ausschüssen begleitet, die sich aus

177 Aus der Rspr. zuletzt EuGH 24.6.2019 - C-573/17, ECLI:EU:C:2019:530, Rn. 65 ff. - Poplawski II; vgl. auch Calliess/Ruffert/Ruffert EUV/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 57 mwN; Streinz/Schröder EUV/ AEUV AEUV Art. 288 Rn. 112. 178 Vgl. Streinz/Schröder EUV/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 69. 179 ABl. 1999 L 184, 23. 180 Grundlage war der Expertenbericht, der unter Vorsitz von Baron Lamfalussy erstellt wurde: Final report of the Committee of Wise Men on the Regulation of Securities Markets v. 15.2.2001, https://ww w.esma.europa.eu/system/files_force/library/2015/11/lamfalussy_report.pdf?download=1. 181 RL 2005/1/EG zur Schaffung einer neuen Ausschussstruktur im Finanzdienstleistungsbereich, ABl. 2005 L 79, 9. 182 Vgl. Lutter/Bayer/Schmidt § 14 Rn. 42 ff. Möllers ZEuP 2008, 480 (483 ff.); Schmolke EuR 2006, 432 ff.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht

Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzten,183 was dem herkömmlichen Komitologieverfahren entsprach. Zudem erließen weitere, allerdings unabhängige Ausschüsse Stellungnahmen und Empfehlungen sowie sog „technische Standards“ (Ebene 3).184 Auf der vierten Ebene erfolgte die Kontrolle durch die Kommission, ob die mitgliedstaatlichen Behörden das europäische Recht auch vollständig und korrekt durchführen, was in Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV durchgesetzt werden kann. 57 Das Ziel des Lamfalussy-Verfahrens war es, wie schon im allgemeinen Komitologieverfahren, den europäischen Gesetzgeber von Regelungsdetails zu entlasten und ihm nur die gesetzgeberischen Grundfragen zur Entscheidung zu überlassen. Überdies wurde geltend gemacht, das ordentliche Gesetzgebungsverfahren sei zu schwerfällig und langsam.185 Die Kommission sollte dagegen ihre eigene Fachkenntnis und die der Ausschüsse nutzen, um flexibel und rasch auf neue Entwicklungen reagieren und entsprechend passgenaues Recht schaffen zu können.186 Die Theorie hat in der Praxis nur teilweise Niederschlag gefunden, da es zunächst vom Gesetzgeber abhängt, ob und in welchem Umfang er zugunsten der Kommission Ermächtigungen ausspricht. Gerade die Tendenz, die Rechtsakte des Rates und des Parlaments immer detaillierter auszugestalten, nimmt die Spielräume, die sich die Kommission eigentlich erhofft hatte.187 Zudem verlangt der EuGH, dass alle wesentlichen Fragen, die den Gegenstand einer Richtlinie betreffen, vom Gesetzgeber selbst behandelt werden müssen.188 58 Durch den Vertrag von Lissabon hat sich die Rechtslage grundlegend gewandelt, da nunmehr zwei Optionen zur Verfügung stehen, um die Kommission zu exekutiver Rechtsetzung zu ermächtigen: die delegierte Rechtsetzung nach Art. 290 AEUV und die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 291 Abs. 2 AEUV. Zwar ist stets die Kommission Empfängerin der Ermächtigung189 und demnach alleinige Urheberin des späteren „Tertiärrechts“, dennoch sind die Unterschiede zwischen den beiden Verfahren erheblich. Im Ergebnis schließen sich beide Verfahren aus, dh, der ermächtigende Gesetzgeber muss zwischen ihnen eine explizite Wahl treffen.190 Welches Verfahren der Unionsgesetzgeber wählt, hängt zwar von den primärrechtlichen Vorgaben der Art. 290 und 291 Abs. 2 AEUV, im Übrigen aber von seiner autonomen Gestaltungsentscheidung ab.191 Kann er also von Verfassungs wegen wählen, darf er diese Wahl auch nach eigenem Ermessen treffen. Der Unionsgesetzgeber kann ferner festlegen, dass die Kommission im Komitologieverfahren von den Ausschüssen der Ebene 2 (→ Rn. 56) unterstützt wird192 oder auf der Grundlage von Entwürfen der ESAs tätig wird (→ Rn. 117 ff.). 59 Bei der delegierten Rechtsetzung handelt die Kommission auf der Grundlage einer nach Ziel, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer ausdrücklich festgelegten „Befugnisübertragung“ in einem Gesetzgebungsakt iSv Art. 289 Abs. 3 AEUV. Die Bezugnahme auf einen Gesetzgebungsakt als Basisrechtsakt macht bereits deutlich, dass dieses Verfahren Folge einer 183 Dabei handelt es sich um das European Banking Committee (EBC), das European Insurance and Occupational Pensions Committee (EIOPC) und das European Securities Committee (ESC). 184 Diese Ausschüsse waren: Committee of European Securities Regulators (CESR), Committee of European Insurance and Occupational Pensions Supervisors (CEIOPS) und Committee of European Banking Supervisors (CEBS). 185 Möllers ZEuP 2008, 480 (483); Schmolke EuR 2006, 432 (436 f., 444). 186 Möllers ZEuP 2008, 480 (485); Schmolke EuR 2006, 432 (444 f.). 187 Sehr kritisch Schmolke EuR 2006, 432 (446): „Regelungshypertrophie“. 188 EuGH 6.12.2005 – C-66/04, Slg 2005, I-10553, Rn. 48 – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat. 189 Im Verfahren nach Art. 291 Abs. 2 AEUV kann in Sonderfällen auch der Rat ermächtigt werden. 190 Möstl DVBl. 2011, 1076 (1081). 191 EuGH 18.3.2014 – C-427/12, ECLI:EU:C:2014:170 Rn. 40 – Kommission/Parlament und Rat; 16.7.2015 – C-88/14, ECLI:EU:C:2015:499 Rn. 28 – Kommission/Parlament und Rat. 192 Grundlage ist die VO (EU) Nr. 182/2011, ABl. 2011 L 55, 13.

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Funktionsteilung zwischen dem Gesetzgebungsorgan Parlament und der Kommission ist, bei dem die schützenswerten Belange des Parlaments deutlich in den Vordergrund gerückt sind. Dies wird an weiteren Details des Verfahrens deutlich: Zunächst besteht eine primärrechtliche Delegationsgrenze insoweit, dass der Gesetzgeber wesentliche Aspekte nicht auf die Kommission übertragen kann. Auf dieser Grundlage kann die Kommission den Gesetzgebungsakt ändern, aber auch ergänzen. Die Abhängigkeit der Kommission von der gesetzgeberischen Ermächtigung kommt zudem darin zum Ausdruck, dass im Basisrechtsakt ein Widerrufsvorbehalt und ein Zustimmungserfordernis zugunsten von Rat und Parlament festgelegt werden können, Art. 290 Abs. 2 AEUV. In der Praxis spielte zunächst auch eine Rolle, dass die Kommission in diesem Verfahren nicht von den Ausschüssen aus Vertretern der Mitgliedstaaten begleitet wird, da die VO (EU) Nr. 182/2011 nur für das Verfahren nach Art. 291 Abs. 2 AEUV gilt.193 In Erklärung Nr. 39 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon heißt es freilich: „Die Konferenz nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission beabsichtigt, bei der Ausarbeitung ihrer Entwürfe für delegierte Rechtsakte im Bereich der Finanzdienstleistungen nach ihrer üblichen Vorgehensweise weiterhin von den Mitgliedstaaten benannte Experten zu konsultieren.“194 Während im Schrifttum daher angenommen wird, dass die Kommission den Rat nationaler Experten einholen darf,195 ist der Unionsgesetzgeber einen Schritt weitergegangen und hat das Komitologieverfahren verpflichtend auch auf Einzelfälle delegierter Rechtsetzung durch die Kommission angewendet.196 Bei der Durchführungsrechtsetzung nach Art. 291 Abs. 2 AEUV sollen einheitliche Bedin- 60 gungen für die Durchführung des Basisrechtsakts geschaffen werden. Die Vorschrift stellt keine weiteren materiellen Anforderungen an Art und Umfang der Ermächtigung, die durch jeden Rechtsakt erfolgen kann. Der Begriff des Rechtsakts ist sachlich nicht beschränkt, insbesondere umfasst er auch Gesetzgebungsakte. Damit bezieht sich Art. 291 AEUV nicht nur auf das Problem vertikaler Gewaltenteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten, sondern auch auf die horizontale Gewaltenteilung zwischen Gesetzgeber und Kommission.197 Prozedural kommt die mitgliedstaatliche Kontrolle im Komitologieverfahren zum Ausdruck,198 das der Gesetzgeber, gestützt auf Art. 291 Abs. 3 AEUV, auf zwei Varianten eingeschränkt hat.199 Ausschüsse aus Vertretern der Mitgliedstaaten wirken hiernach entweder im Beratungs- oder im Prüfverfahren mit, die beide durch die Verordnung näher ausgestaltet werden.200 Im Gegenzug sind die Kontrollrechte von Parlament und Rat nur schwach ausgeprägt. Beide Organe können nur darauf hinweisen, dass die Kommission die Durchführungsbefugnisse des Basisrechtsakts überschreitet, woraufhin die Kommission zu einer Überprüfung verpflichtet ist.201

193 Edenharter, Die Komitologie nach dem Vertrag von Lissabon, DÖV 2011, 645 (647); Streinz/ Gellermann EUV/AEUV AEUV Art. 290 Rn. 13; Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010, S. 58. 194 ABl. 2010 C 83, 335 (350). 195 Edenharter, Die Komitologie nach dem Vertrag von Lissabon, DÖV 2011, 645 (647); Streinz/ Gellermann EUV/AEUV AEUV Art. 290 Rn. 13. 196 S. Art. 464 VO (EU) Nr. 2013/575; Art. 89 a RL 2014/65/EU. 197 AA Möstl DVBl. 2011, 1076 (1081). 198 Sydow, Europäische exekutive Rechtsetzung zwischen Kommission, Komitologieausschüssen, Parlament und Rat, JZ 2012, 157 (159). 199 VO (EU) Nr. 182/2011. 200 Art. 2, 4 und 5 VO (EU) Nr. 182/2011. 201 Art. 11 VO (EU) Nr. 182/2011.

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VII. Die Verwirklichung des Herkunftslandprinzips 1. Der europäische Pass 61 Die Richtlinien zum Finanzmarktrecht basieren auf zwei Prinzipien: dem Herkunftslandprinzip und der Pflicht der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anerkennung von aufsichtsbehördlichen Zulassungsentscheidungen und anderer Aufsichtsmaßnahmen.202 Nach dem Herkunftslandprinzip lässt der Mitgliedstaat, in dem ein Finanzinstitut seinen Satzungssitz und zugleich den Sitz der Hauptverwaltung hat, das Unternehmen zu und beaufsichtigt es laufend.203 Die anderen Mitgliedstaaten (Aufnahmemitgliedstaaten) sind kraft der Richtlinien der EU verpflichtet, die Zulassung und die weiteren Aufsichtsmaßnahmen anzuerkennen und im gleichen Umfang auf die Anwendung und den Vollzug ihres eigenen Rechts zu verzichten. In diesem Sinne gilt die nationale Zulassung in allen Mitgliedstaaten,204 sie bildet das Beispiel eines transnationalen Verwaltungsaktes.205 Für das Institut bedeutet dies, dass ihm grenzüberschreitend alle Tätigkeiten erlaubt sind, die durch die Zulassung des Herkunftsmitgliedstaats abgedeckt und von den Listen der liberalisierten Tätigkeiten umfasst sind, die die Richtlinien aufstellen. Diese Garantien erstrecken sich auf die Erbringung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen aus dem Herkunftsmitgliedstaat heraus und auf die Gründung und den Betrieb von Zweigstellen als Ausdruck der Niederlassungsfreiheit.206 Diese Gewährleistungen werden üblicherweise als „europäischer Pass“ bzw. „European passport“ bezeichnet. Sie verhindern aufsichtsrechtliche Doppelkontrollen207 und verbieten den Aufnahmemitgliedstaaten, von den Instituten separates Dotationskapital in diesem Mitgliedstaat zu verlangen.208 Mit diesem Gesetzgebungsinstrumentarium wird das grenzüberschreitende Finanzgeschäft wesentlich erleichtert und der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen rechtlich abgesichert. Zum Schutz der Belange des Aufnahmemitgliedstaats sind die Finanzinstitute lediglich verpflichtet, die Ausübung ihrer grenzüberschreitenden Tätigkeit rechtzeitig vorher bei der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats anzuzeigen.209 Diese Behörde teilt der Aufsichtsbehörde im Aufnahmemitgliedstaat die Informationen mit. 62 Für andere Formen der Niederlassungsfreiheit gelten keine besonderen Gewährleistungen. Die rechtlich selbstständigen Tochterunternehmen müssen daher nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem sich ihre Hauptverwaltung befindet, errichtet werden,210 wenngleich sie ebenfalls von dem europarechtlich harmonisierten Zulassungsregime profitieren. Der Erwerb von qualifizierten Beteiligungen an einem Finanzinstitut unterliegt dagegen aufsichtsrechtlichen Beschränkungen dergestalt, dass vor dem Erwerb obligatorisch eine Prüfung der Eignung und Zuverlässigkeit des Erwerbers durch die Aufsichtsbehörden vorgenommen werden muss. 211 Dahinter verbirgt sich die Erwägung, Gefahren für eine umsich202 Vgl. Schnyder, Rn. 84. Zum Teil werden diese Prinzipien auch als Kehrseiten der gleichen Medaille betrachtet: Jung/Bischof § 3 Rn. 96. 203 Kreditinstitute: Art. 33 ff. RL 2013/36/EU; Wertpapierfirmen: Art. 6 Abs. 3 RL 2014/65/EU; Versicherungsunternehmen: Art. 14 ff. RL 2009/138/EG. 204 So ausdrücklich Art. 6 Abs. 3 RL 2014/65/EU; Art. 15 RL 2009/138/EG; aus dem Schrifttum van Aaken in Möllers/Vosskuhle/Walter, S. 219, 243. 205 Terhechte/Ohler HdB-EUVerwR § 9 Rn. 23. 206 Kreditinstitute: Art. 33 ff. RL 2013/36/EU; Wertpapierfirmen: Art. 34 ff. RL 2014/65/EU; Versicherungsunternehmen: Art. 145 ff. RL 2009/138/EG. 207 Schnyder, Rn. 1. 208 Art. 17 RL 2013/36/EU. 209 Kreditinstitute: Art. 35 und 39 RL 2013/36/EU; Wertpapierfirmen: Art. 34 Abs. 2 und Art. 35 Abs. 2 RL 2014/65/EU; Versicherungsunternehmen: Art. 145 und 147 RL 2009/138/EG. 210 Jung/Bischof § 3 Rn. 106 f. 211 Kreditinstitute: Art. 22 ff. RL 2013/36/EU; Wertpapierfirmen: Art. 11 ff. RL 2014/65/EU; Versicherungsunternehmen: Art. 57 ff. RL 2009/138/EG.

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tige und solide Geschäftsführung des Finanzinstituts abzuwehren, die von ungeeigneten Anteilserwerbern ausgehen können. 2. Beaufsichtigte Unternehmen Im Europarecht, wie im innerstaatlichen Recht, gilt das rechtsstaatliche Bestimmtheitsge- 63 bot, das im Aufsichtsrecht zunächst die Aufgabe hat, den Kreis der aufsichtspflichtigen Unternehmen exakt abzugrenzen und erlaubnisfreie von den erlaubnisbedürftigen Tätigkeiten zu unterscheiden. Die wichtige Konsequenz dieses Prinzips ist, dass unter das Aufsichtsregime des Unionsrechts bzw. des nationalen Rechts nur die Unternehmen und die Tätigkeiten fallen, die hiervon ausdrücklich erfasst werden.212 Der Grund für die strikte Geltung des Bestimmtheitsgebots liegt in der Intensität, mit der das Aufsichtsrecht in Gestalt von Zulassung (Erlaubnis), Organisations- und Eigenkapitalanforderungen in grundrechtlich geschützte Freiheiten eingreift.213 Noch strengere Anforderungen gelten wegen des Grundsatzes nulla poena sine lege (vgl. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC), wenn Strafnormen die Ausübung der Tätigkeit an das Bestehen einer hoheitlichen Erlaubnis anknüpfen. Das wiederum hat zur Folge, dass Unternehmen gezielt ihre Tätigkeiten so strukturieren 64 können, damit sie nicht unter geltendes Aufsichtsrecht fallen. Soweit diese Tätigkeiten denjenigen beaufsichtigter Institute ähneln, entsteht ein problematischer Konkurrenzmarkt, wofür das „Schattenbankensystem“ nur eine schlagwortartige Beschreibung bildet.214 Der Anreiz, Finanzintermediation in Bereiche zu verlagern, die nicht reguliert bzw. beaufsichtigt sind, ist hoch. Die unternehmerische Betätigung wird nicht durch die Kosten der Aufsicht belastet, wozu neben den Eigenkapitalanforderungen vor allem die betrieblichen Kosten zählen, die aus der Beachtung von Berichtspflichten gegenüber den Aufsichtsbehörden resultieren. Die gegen die Schattenbanken immer wieder vorgebrachte Formel „same risks, same rules“ beinhaltet indes weniger eine konkrete rechtliche Pflicht des Gesetzgebers zum Handeln, als vielmehr seine Pflicht zur regelmäßigen Prüfung, welche Tätigkeiten und Unternehmen de lege ferenda einer Aufsicht unterworfen werden sollen. Dieses Pflichtenkonzept entspringt einerseits grundrechtlichen Schutzpflichten,215 anderseits der Gemeinwohlbindung des Gesetzgebers, die Funktionsfähigkeit, Integrität und Stabilität der Finanzmärkte dauerhaft zu sichern. Das ist umso wichtiger, je stärker einzelne Teilfinanzmärkte nicht isoliert voneinander funktionieren, sondern aufeinander einwirken oder sogar voneinander abhängen, wie im Verhältnis der Kapitalmärkte zum Bankenmarkt.216 a) Kreditinstitute Ein Kreditinstitut ist legaldefiniert als ein Unternehmen, dessen Tätigkeit darin besteht, 65 Einlagen und andere rückzahlbare Gelder des Publikums entgegenzunehmen und Kredite für eigene Rechnung zu gewähren.217 Kennzeichnend ist die gleichzeitige Ausübung des

212 Vgl. Schnyder, Rn. 95. 213 Vgl. Binder in ders./Glos/Riepe § 3 Rn. 8. 214 S. Financial Stability Board, Shadow Banking: Scoping the Issues, 2011, http://www.financialstability board.org/publications/r_110412 a.pdf. Kritisch Schaffelhuber, Regulierung des „Schattenbankensystems“, GWR 2011, 488 ff. 215 Vgl. Hopt/Veil/Kämmerer/Kämmerer, S. 145 (148). 216 Vgl. Boot/Thakor, The accelerating integration of banks and markets and its implications for regulation, in Berger/Molyneux/Wilson (Hrsg.), Oxford Handbook of Banking, 2010, S. 58 (59). 217 Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 VO (EU) Nr. 575/2013. Ausführlich zur Legaldefinition Ohler, Europäisches Bankenaufsichtsrecht in Derleder/Knops/Bamberger (Hrsg.), Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 3. Aufl. 2017, § 90 Rn. 31 ff.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht Einlagen- und des Kreditgeschäfts.218 Einlagen sind, wie die Definition hervorhebt, rückzahlbar, was das Geschäft der Kreditinstitute fundamental von dem der Versicherungsunternehmen oder Kapitalanlagegesellschaften unterscheidet.219 Die Tätigkeit muss gewerbsmäßig ausgeübt werden und darf nicht unter die von der Richtlinie ausdrücklich geregelten Ausnahmen fallen (zB Zentralbanken, bestimmte Förderbanken etc). Der europäische Pass berechtigt Kreditinstitute, eine weite Palette von Bankgeschäften grenzüberschreitend anzubieten,220 neben dem Einlagengeschäft und dem Kreditgeschäft (Ausleihungen) auch das Finanzierungsleasing, Zahlungsdienste, das Garantiegeschäft, den Handel mit Wertpapieren, die Teilnahme an der Wertpapieremission, die M&A-Beratung, das Geldmaklergeschäft im Interbankenmarkt, die Portfolioverwaltung, die Wertpapierverwaltung, die Ausgabe von E-Geld usw. b) Zahlungsinstitute

66 Als eine Spezialform des Bankgeschäfts sieht der europäische Gesetzgeber die Zahlungsdienste an, die, wenn sie nicht von einem zugelassenen Kreditinstitut angeboten werden, stets für sich aufsichtspflichtig sind. Hinter der strengen Spezialregelung steht das Ziel, Unternehmen, die an der Abwicklung des baren oder unbaren Zahlungsverkehrs beteiligt sind, einer behördlichen Kontrolle zu unterwerfen, um der Gefahr von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung vorzubeugen. Die Zahlungsdienste-Richtlinie definiert Zahlungsdienste221 detailliert in ihrem Anhang und unterwirft Unternehmen, die gewerblich solche Zahlungsdienste anbieten (Zahlungsinstitute), der Zulassungspflicht nach Art. 11 RL und der laufenden Aufsicht durch die nationalen Aufsichtsbehörden. Ausgenommen hiervon sind die Zahlungsvorgänge und Dienste in Art. 3 RL. c) Wertpapierfirmen 67 Als Wertpapierfirma definiert Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 RL 2014/65/EU jede juristische Person, die im Rahmen ihrer üblichen beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit gewerbsmäßig eine oder mehrere Wertpapierdienstleistungen für Dritte erbringt und/oder eine oder mehrere Anlagetätigkeiten ausübt. Bezugspunkt aller Tätigkeiten sind Finanzinstrumente, die die Richtlinie in Anhang I Abschnitt C umfassend aufführt, darunter übertragbare Wertpapiere, Geldmarktinstrumente, Anteile an Organismen für gemeinsame Anlagen (OGAW) sowie diverse, näher definierte Optionen, Futures, Swaps und andere Derivate. Die darauf bezogenen Wertpapierdienstleistungen sind die Annahme und Übermittlung von Aufträgen, die Ausführung von Aufträgen im Namen von Kunden, der Handel für eigene Rechnung, die Portfolio-Verwaltung, die Anlageberatung, die Übernahme der Emission und die Platzierung von Finanzinstrumenten sowie der Betrieb eines multilateralen bzw. organisierten Handelssystems.222 d) Versicherungsunternehmen 68 Das Europarecht kennt bislang keine eigenständige Definition des Versicherungsgeschäfts, obgleich es sich um die prägende Tätigkeit der Versicherungsunternehmen handelt.223 Aus Regulierungsperspektive herrscht daher ein weites Verständnis der Versicherungstätigkeit, wie sich aus der folgenden Charakterisierung durch den zuständigen internationalen Stan218 219 220 221 222 223

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Kolassa in Schimansky/Bunte/Lwowski § 136 Rn. 3. Kolassa in Schimansky/Bunte/Lwowski § 136 Rn. 3. S. Anhang I RL 2013/36/EU. Art. 4 Nr. 3 RL 2015/2366/EU. Vgl. Anhang I Abschnitt A RL 2014/65/EU. Jung/Bischof § 3 Rn. 77; Präve in Prölls VAG § 1 Rn. 1.

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dardsetzer IAIS ergibt: „covering risks for the economy, financial and corporate undertakings and households“.224 Das europäische Richtlinienrecht begnügt sich dagegen mit der Aufzählung der Versicherungszweige in Anhang I und II RL 2009/138/EG und schließt, um den Anwendungsbereich einzuengen, bestimmte Formen der Risikoübernahme aus.225 Dazu zählen vor allem die gesetzlichen Sozialversicherungssysteme und niedrigvolumige Versicherungsformen. Zur Annäherung an das europarechtliche Begriffsverständnis helfen ferner Definitionen, wie sie durch die Rechtsprechung im nationalen Aufsichtsrecht entwickelt wurden.226 Gleichwohl beruht das Europarecht bewusst auf einer gewissen begrifflichen Unschärfe und lässt damit Spielraum für die Umsetzung auf der Ebene der Mitgliedstaaten.227 Aus rechtsstaatlichen Gründen bedarf es indes einer hinreichend bestimmten Definition, da die durch das Aufsichtsrecht ausgelösten Rechtsfolgen erhebliche Grundrechtseingriffe nach sich ziehen. Vereinfachend lässt sich sagen, dass die Versicherungsunternehmen im Versicherungsgeschäft gegen vorherige Entgeltzahlung (Prämie) finanzielle Risiken der Versicherungsnehmer übernehmen, denen dafür bei Eintritt eines künftigen, ungewissen Ereignisses (Versicherungsfall) ein Leistungsanspruch nach Maßgabe der vertraglichen Bedingungen zusteht. Das Versicherungsunternehmen verteilt das vertraglich übernommene Risiko auf eine Mehrzahl durch die gleiche Gefahr bedrohter Personen und legt der Risikoübernahme eine auf dem Gesetz der großen Zahl beruhende Kalkulation zugrunde.228 Zur regulatorischen Bewältigung unterscheidet das Europarecht zunächst zwischen der 69 Direktversicherung und der Rückversicherung, wiewohl beide Grundformen heute gemeinsam durch die RL 2009/138/EG erfasst werden.229 Während die Liberalisierung und Regulierung der Direktversicherung bereits in den 1970er Jahren begann, wurde die Rückversicherung erst spät in die Aufsichtspflicht einbezogen,230 da bei Rückversicherungsunternehmen keine besonderen Belange der Versicherungsnehmer zu schützen sind. Vielmehr übernehmen Rückversicherungsunternehmen die Risiken aus dem Geschäft der Direktversicherungsunternehmen und spielen somit vor allem eine systemisch relevante Rolle. Direktversicherungen lassen sich europarechtlich wiederum nach Lebensversicherungen und Nichtlebensversicherungen unterscheiden, was die Anhänge I und II RL 2009/38/EG näher aufschlüsseln. Diese Unterscheidung beruht auf der Bedeutung der Vermögensanlage, die ein Lebensversicherungsunternehmen für seine Kunden vornehmen muss. Die mit den Prämienzahlungen erworbenen Aktiva bilden die wirtschaftliche Grundlage, damit das Lebensversicherungsunternehmen später seiner Leistungspflicht im Versicherungsfall genügen kann. Da bei der Lebensversicherung der Vermögensaufbau zugunsten der Versicherungsnehmer im Vordergrund steht, ist ihre wirtschaftliche Schutzbedürftigkeit entsprechend hoch. Nichtlebensversicherungen betreiben dagegen das Geschäft der Schadensversicherung in verschiedenen Zweigen (Unfall, Krankheit, Kasko etc), für die zwar auch Vermögensanlagen auf der Aktivseite vorgenommen werden. Der Umfang der Rückstellungspflichten auf der Passivseite wird jedoch stärker als in der Lebensversicherung durch den ungewissen Charakter des künftigen Risikos, die Bildung faktischer

224 IAIS, Insurance Core Principles and Methodology, Updated November 2017, Ziff. 3; https://www.iais web.org/page/supervisory-material/insurance-core-principles//file/70028/all-adopted-icps-updated-nov ember-2017. 225 Art. 3 ff. RL 2009/38/EG. 226 S. BVerwG 15.7.1980 – 1 A 9/78, VersR 1980, 1013; ausführlich Bähr/Püttgen in Bähr § 3 Rn. 5 ff. 227 Vgl. Präve in Prölls VAG § 1 Rn. 1. 228 Vgl. zur grundlegenden Definition BVerwG 22.3.1956 – I C 147.56, BVerwGE 3, 220 (221); s. ferner Schmidt-Wenzel, Die Regulierung von Kreditderivativen, 2017, S. 243 ff. 229 ABl. 2009 L 335, 1. 230 RL 2005/68/EG, ABl. 2005 L 323, 1.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht

Risikogemeinschaften der Versicherungsnehmer und die Prämienkalkulation aufgrund des Gesetzes der großen Zahl geprägt. 70 Aus der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Versicherungsformen, die sich aus der unterschiedlichen Art der versicherten Risiken ergibt, folgt eine strikte Pflicht zur organisatorischen Trennung der Sparten. Unternehmen, die Rückversicherungen anbieten, sind auf diesen Geschäftszweck begrenzt.231 Auch das Lebensversicherungsgeschäft muss in eigenständigen Unternehmen betrieben werden, die nicht zugleich Geschäfte im Bereich der Schadensversicherung anbieten dürfen.232 e) Alternative Investmentfonds 71 Hedgefonds und Private-Equity-Fonds gehörten vor der Finanzkrise zu den in den USA und Europa nicht beaufsichtigen Kapitalmarktakteuren.233 Sie galten aber bald als mitverantwortlich dafür, die Krise verstärkt zu haben, da sie im großen Umfang eigene Vermögensaktiva verkauften („fire sales“), als sich ein Wertverfall auf den Märkten für strukturierte Wertpapiere abzeichnete.234 Der Zusammenbruch einzelner Hedgefonds, die von Banken betrieben wurden, führte überdies zum Niedergang der „Bankmütter“, wie im Fall der US-Investmentbank Bear Stearns. 72 Seit Juni 2011 unterwirft die RL 2011/61/EU über die Verwalter alternativer Investmentfonds (Alternative Investment Fund Managers – AIFM)235 die juristischen Personen, die solche Fonds verwalten, einer Pflicht zur vorherigen Zulassung.236 Der sachliche Anwendungsbereich erstreckt sich auf Verwalter von offenen und geschlossenen Fonds unabhängig von ihrer Rechtsform. Die Besonderheit der Richtlinie besteht darin, dass sie das Zulassungserfordernis auch auf AIFM aus Drittstaaten erstreckt. Voraussetzung hierfür ist, dass der AIFM in der EU entweder einzelne Fonds vertreibt oder verwaltet.237 Die extraterritoriale Anwendung erfolgt vor dem Hintergrund, dass die meisten Fondsverwalter nicht in Europa, sondern in den USA, der Schweiz oder anderen Jurisdiktionen ansässig sind. Zu den Zulassungsanforderungen zählen insbesondere das Anfangskapital und Eigenkapital sowie die Zuverlässigkeit der natürlichen Personen, die tatsächlich die Geschäfte des AIFM führen. In der laufenden Aufsicht konzentrieren sich die Anforderungen auf die Vermeidung von Interessenkonflikten (einschließlich der Vergütungspolitik) und die Angemessenheit der Risikomanagementsysteme.238 Keine Regelungen enthält die Richtlinie zu den Fonds selbst, denn die damit verbundenen Fragen sollen dem nationalen Recht überlassen bleiben.239 f) Ratingagenturen 73 Ratingagenturen unterliegen seit September 2009 aufgrund der VO (EG) Nr. 1060/2009240 einer gesonderten Aufsicht, die direkt durch die ESMA erfolgt. Sie gel231 Art. 18 Abs. 1 lit. b RL 2009/138/EG. 232 Art. 73 Abs. 1 RL 2009/38/EG. Zum gleichzeitigen Betrieb des Lebensversicherungsgeschäfts mit der Unfallversicherung und der Krankenversicherung s. Art. 73 Abs. 2 RL 2009/138/EG. 233 Zur Diskussion um die Notwendigkeit einer Aufsicht Ohler, Staatliche Aufsicht über Hedgefonds und Private Equity? in Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity – Fluch oder Segen?, 2009, S. 139 ff. 234 Acharya/Philippon/Richardson/Roubini in Acharya/Richardson, S. 1 (9). 235 ABl. 2011 L 174, 1. 236 Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und 8 RL 2011/61/EU. 237 Art. 2 Abs. 1 RL 2011/61/EU. 238 Art. 13 ff. RL 2011/61/EU. 239 Erwägungsgrund 10 RL. 240 ABl. 2009 L 302, 1.

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ten als zentrale Informationsmediäre für die Kapitalmärkte, deren Bonitätseinschätzungen, die Ratings, für Investitionsentscheidungen der Anleger eine große Rolle spielen. In der Praxis geben die Agenturen Ratings entweder für bestimmte Emittenten oder für Wertpapiere ab. Überdies knüpft das Aufsichtsrecht selbst die Risikogewichtung im Eigenkapitalrecht an das Vorhandensein solcher Ratings an, wenn Kreditinstitute und Wertpapierfirmen dem sog Standardansatz folgen.241 Im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 wurde den Ratingagenturen vorgeworfen, mit fehler- 74 haften Ratings für strukturierte Wertpapiere den Boom auf dem Markt für Forderungsverbriefungen von Subprime-Krediten mitverursacht zu haben.242 Insbesondere wurde ihnen ungenügende Methodik zur Ermittlung der Risiken, Interessenkonflikte aufgrund zu großer Nähe zu den Emittenten und eine verzögerte Information der Anleger bei drohenden Ratingverschlechterungen vorgehalten.243 Bei dieser Kritik wurde indes vernachlässigt, dass gerade bei strukturierten Emissionen, die die Ratingagenturen begleitet hatten, die Risiken im gesamten Markt und durch alle Aufsichtsbehörden fundamental falsch eingeschätzt wurden. Zu wenig Beachtung fand aber auch, welchen Einfluss die Ratingagenturen auf die Risikostrukturen und die Risikoverteilung im Markt selbst hatten. Tatsächlich trugen die Ratingagenturen durch ihr Vorgehen vor allem dazu bei, dass sich die Strukturen der meisten Transaktionen einander erheblich anglichen. Die Folge war, dass in der Krise die Investoren die Papiere auch in ähnlicher Weise behandelten, was am Ende den Zusammenbruch des gesamten Marktes für Forderungsverbriefungen auslöste. Das geriet zum Beispielsfall dafür, dass auch „private Regulierung“ zu einer Homogenisierung von Risiken beitragen kann, die sich am Ende krisenverstärkend auswirkt. Vor diesem Hintergrund verlangt VO (EG) Nr. 1060/2009, dass Ratingagenturen, die 75 ihren Sitz in der EU haben, registriert werden müssen.244 Die einheitliche Zuständigkeit hierfür liegt bei der ESMA in Paris. Die Registrierung ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass Finanzinstitute die Ratings ihren Eigenkapitalberechnungen zugrunde legen dürfen.245 Ratingagenturen aus Drittländern dürfen weiterhin Ratings abgeben, diese dürfen aber nur unter den engen Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 VO (EG) Nr. 1060/2009 in der EU übernommen werden. Ratings für Unternehmen in Drittländern dürfen in der EU verwendet werden, wenn sie von Agenturen aus Drittländern abgegeben wurden. Die Verwendung der Ratings in der EU ist aber nur dann zulässig, wenn die Ratingagenturen sich in der EU zertifizieren lassen, was voraussetzt, dass sie auf ihrem Heimatmarkt gleichwertig zu den europäischen Vorgaben überwacht werden.246 Das Registrierungsregime der Verordnung zielt insgesamt darauf, US-amerikanische Agenturen zu treffen. Soweit sie in der EU Tochtergesellschaften unterhalten, fallen diese aber vollständig unter die Registrierungspflicht aufgrund der Verordnung. Inhaltlich müssen Ratingagenturen geeignete Vorkehrungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten treffen, ihre Methoden, Modelle und grundlegenden Annahmen offenlegen und ihre Ratings unterschiedslos und rechtzeitig veröffentlichen.247 Die ESMA verfügt in Art. 23 b–d VO (EG) Nr. 1080/2009 über zahlreiche Befugnisse, um die Einhaltung dieser Anforderungen überwachen und durchsetzen zu können.

241 Art. 113, 114, 116, 119–121 VO (EU) Nr. 575/2013. Kritisch zur „Selbstauslieferung“ der Aufsichtsbehörden an die Rating-Agenturen Höfling, F 41. 242 Richardson/White in Acharya/Richardson, S. 101 ff. 243 Möllers, Die Regulierung von Ratingagenturen, JZ 2009, 861 (863). 244 Art. 14 ff. VO (EG) Nr. 1060/2009. 245 Art. 4 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1060/2009. 246 Art. 5 VO (EG) Nr. 1060/2009. 247 Art. 6–11 VO (EG) Nr. 1060/2009.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht 3. Aufsichtsziele a) Schutz der Fremdkapitalgläubiger

76 Die Finanzmarktaufsicht dient traditionell dem Kundenschutz,248 der heute vielfach auch als Verbraucherschutz apostrophiert wird.249 Einheitliche Charakteristika zeichnen die Kunden der Finanzinstitute nicht aus, denn die Risiken eines Versicherungsnehmers sind verschieden von den Risiken eines Kontoinhabers bei einer Bank oder des Anlegers bei einer Wertpapierfirma. Gemeinsam ist diesem Personenkreis allein, dass sie Fremdkapitalgläubiger der Finanzinstitute sind und insofern Vermögensinteressen haben, die rechtlich schützenswert sind. Der Kundenschutz ist institutionell und nicht individuell zu sehen, dh, Regulierung und Aufsicht zielen darauf, die Vermögensinteressen der Kunden im Ganzen, nicht aber einzelner Kunden zu schützen.250 Das ist im Übrigen der Beitrag des Rechts und der zu seinem Vollzug berufenen Behörden, das Vertrauen der Kunden in die Integrität und Solidität ihrer Geschäftspartner, der Finanzinstitute, zu sichern. Die nationalen Aufsichtsbehörden sind nach europäischem Recht dagegen nicht zuständig, einzelne Ansprüche der Kunden gegenüber den Finanzinstituten durchzusetzen, was im Übrigen zu Konflikten mit dem Gewaltenteilungsprinzip führen würde, da die Rechtsprechung den Gerichten anvertraut ist. 77 Ebenso wenig verlangt europäisches Recht, dass den Kunden Amtshaftungsansprüche gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden zustehen müssen, wenn die Behörden ihren Aufsichtspflichten unvollständig oder fehlerhaft nachgekommen sind.251 Keiner Amtshaftung unterliegen im Übrigen die drei europäischen Aufsichtsbehörden, die ausdrücklich nur im öffentlichen Interesse tätig werden.252 Allerdings sieht Art. 69 der ESA-Verordnungen ihre außervertragliche Haftung vor, doch kommt diese Vorschrift, wie auch Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV, nur dort zum Tragen, wo die Behörden einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm begehen, die dem Einzelnen Rechte verleihen soll.253 Der EuGH prüft zwar zugunsten der Anleger grundsätzlich auch einen Verstoß gegen das Eigentumsgrundrecht des Art. 17 GRC,254 jedoch bilden die anwendbaren Aufsichtsregeln des Sekundärrechts vorrangige Beurteilungsmaßstäbe. Diese Vorschriften sind grundsätzlich als zulässige Beschränkungen des Eigentumsgrundrechts anzusehen, da sie einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Union, dem Schutz der Stabilität des Finanzsystems, dienen.255 Auch die EZB, die als Organ der Union durch Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV unmittelbar gebunden ist, wird im Rahmen des SSM nur im öffentlichen Interesse tätig und haftet daher gegenüber den Anlegern und Einlegern der von ihr beaufsichtigten Kreditinstitute nicht.256 Die Gründe für den Ausschluss der Amtshaftung liegen letztlich auf drei Ebenen. Einmal kann keine noch so effiziente Aufsicht alle vermögensrelevanten Entscheidun248 Kreditinstitute: Erwägungsgrund 7 VO (EU) Nr. 575/2013 – Anleger- und Einlegerschutz; Wertpapierfirmen: Erwägungsgrund 3 RL 2014/65/EU – Schutz der Anleger; Versicherungsunternehmen: Erwägungsgrund 16 RL 138/2009 – Schutz der Versicherungsnehmer. 249 Art. 9 VOen (EU) 1093–1095/2010. 250 So zum Versicherungsaufsichtsrecht BVerfGE 114, 1 (44 ff.); 114, 73 (100 f.). Aus dem Schrifttum Kaufhold in Schmidt/Wollenschläger § 14 Rn. 30; Thiele, S. 97 f. 251 EuGH 12.10.2004 – C-222/02, Slg 2004, I-9425, Rn. 40 ff. – Peter Paul; Smits, The European Central Bank, 1997, S. 322; zum Teil aA Jung/Bischof § 3 Rn. 88. 252 Art. 1 Abs. 5 VOen (EU) Nr. 1093 und 1095/2010, Art. 1 Abs. 6 VO (EU) Nr. 1094/2010; wie hier Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (20). 253 Ständige Rspr., vgl. EuGH 20.9.2016 – verb. C-8/15 P–C-10/15 P, ECLI:EU:C:2016:701 Rn. 65 – Ledra Advertising. 254 EuGH 20.9.2016 – verb. C-8/15 P–C-10/15 P, ECLI:EU:C:2016:701 Rn. 66 ff. – Ledra Advertising. 255 Vgl. EuGH 20.9.2016 – verb. C-8/15 P–C-10/15 P, ECLI:EU:C:2016:701 Rn. 70 ff. – Ledra Advertising. 256 Lackhoff, S. 260 f.

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gen der Finanzinstitute überwachen, insbesondere angesichts der Vielzahl und Komplexität der Sachverhalte. Faktisch schließen die begrenzten personellen Ressourcen der Aufsichtsbehörden diese Möglichkeit aus.257 In einer marktwirtschaftlichen Ordnung haftet der Staat überdies nicht für die Liquidität und Solvenz der Finanzinstitute. Sie selbst – und damit mittelbar auch ihre Kunden – tragen das Risiko wirtschaftlicher Fehlentscheidungen und damit auch die mögliche Folge der Unternehmensinsolvenz. Der dritte Grund liegt darin, dass eine Amtshaftung für das bei Finanzinstituten angelegte Geldvermögen der Bürger die verfügbaren öffentlichen Ressourcen bei Weitem sprengen würde.258 Die wohl ausgeprägteste Form des Kundenschutzes leisten die Einlagensicherungsrichtli- 78 nie 2014/49/EU259 und die Anlegerentschädigungsrichtlinie 97/9/EG.260 Sie verpflichten die Kreditinstitute und Wertpapierfirmen, sich Sicherungssystemen anzuschließen, die im Falle der Zahlungsunfähigkeit eines Instituts Leistungen an die Einleger bzw. Anleger erbringen. Sie sind im Fall der Einlagensicherung auf eine Deckungssumme von 100.000 EUR, im Fall der Anlegerentschädigung auf 20.000 EUR begrenzt. Die beiden Richtlinien vermitteln damit echte subjektive Rechte, gleichzeitig verfolgen sie auch einen institutionellen Schutz der Märkte.261 Die Einlagensicherung soll vor allem verhindern, dass es in einer Krise zu einem Sturm auf die Bankschalter („bank run“) kommt, die die Krise noch weiter vertiefen würde.262 Gleichzeitig kompensieren die Sicherungssysteme das Versagen interner Kontrollverfahren der Institute ebenso wie das stets mögliche Versagen der Aufsichtsbehörden. Die Einlagensicherung bildet damit auch das Korrelat zur fehlenden Amtshaftung der Mitgliedstaaten und der EU für Fehler der Aufsichtsbehörden.263 Solange aus Management- oder Aufsichtsfehlern resultierende Zusammenbrüche auf ein- 79 zelne Banken begrenzt bleiben, funktioniert dieser Schutzmechanismus. Mangels ausreichender Kapitalisierung der Einlagensicherungssysteme dürfte im Falle eines echten Systemzusammenbruchs aber auch dieser Schutz unzureichend sein. Gesteigerte politische Erwartungen werden zwar an eine Vergemeinschaftung der Einlagensicherungssysteme in der EU gerichtet, die zugleich die „dritte Säule“ der Europäischen Bankenunion bilden soll. Der entsprechende Verordnungsvorschlag der Kommission264 ist bislang aber am Widerstand der deutschen Bundesregierung gescheitert. b) Funktionsfähigkeit essentieller Finanzdienstleistungen So sehr Finanzdienstleistungen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb erbracht werden, so 80 sehr besteht ein dringendes volkswirtschaftliches Interesse an der Funktionsfähigkeit und Effizienz dieser Leistungen. Hierzu zählen bei den Banken die Fähigkeit, Kredite an Haushalte, Unternehmen und die öffentliche Hand bereitzustellen. Damit verbunden ist die Fähigkeit, Einlagen der Sparer sicher zu verwalten und so den Erhalt großer Teile des Geldvermögens in der Wirtschaft zu gewährleisten. Essentiell für den gesamten volkswirtschaftlichen Leistungsaustausch mit Waren und Dienstleistungen und Vermögensanlagen ist zudem die Funktion der Banken, die korrespondierenden Zahlungsströme abwickeln und Konten gutschreiben zu können. Die gesamte Arbeitsteilung einer modernen Volkswirtschaft hängt von den Zahlungsströmen ab, die die Banken im Fluss halten. Versiche257 Triantafyllou EuR 2010, 585 (589). 258 Kaufhold in Schmidt/Wollenschläger § 14 Rn. 107; kritisch gegen den Haftungsausschluss Ruffert NJW 2009, 2093 (2095) mwN. 259 ABl. 2014 L 173, 149. 260 ABl. 1997 L 84, 22. 261 Näher hierzu Jung/Bischof § 4 Rn. 169 ff. 262 So ausdrücklich noch in der Vorgängerregelung Erwägungsgrund 4 RL 94/19/EG. 263 Triantafyllou EuR 2010, 585 (590). 264 COM(2015) 586 final.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht rungsunternehmen leisten elementare Formen der Risikoübernahme zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen höchstpersönlicher (Krankheit, Unfall, Alter) und situativer Risiken (Kasko etc). Durch diese wirtschaftliche Risikoübernahme wird ein wesentlicher Beitrag zu sozialer Stabilität geleistet und vielfach überhaupt erst die Bereitschaft geschaffen, sich bestimmten Gefährdungslagen auszusetzen. Wertpapierfirmen schließlich leisten einen Beitrag sowohl zur Mobilisierung als auch Allokation von Kapital. Gerade große Investitionsvorhaben sind ohne ihre Vermittlungstätigkeit nicht denkbar. Zunehmend ist in den letzten Jahren auch ihre Funktion in den Vordergrund getreten, im Derivatehandel solche Absicherungen gegen wirtschaftliche Risiken anzubieten, die die traditionellen Versicherungsunternehmen nicht leisten. c) Systemstabilität

81 Der Schutz der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte ist letztlich auch das Ziel, das mit dem neueren Topos der Systemstabilität verfolgt wird. Ihre besondere Bedeutung gewinnt die Aufgabe, Systemstabilität zu sichern, vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Finanzkrise 2008/2009 und der anschließenden Schuldenkrise in Europa. Diese Systemkrisen zwangen zu der Einsicht, dass zunächst stabil wirkende Märkte und Unternehmen durch scheinbar geringe Erschütterungen von außen oder den Zusammenbruch einzelner Teilnehmer, der systemrelevanten Institute, rasch aus dem Gleichgewicht geraten können. Ziel von Regulierung und Aufsicht ist daher verstärkt die Verhinderung von Systemrisiken, die europarechtlich als Risiken „der Störung des Finanzsystems definiert werden, die das Potential [haben], zu schwerwiegenden negativen Folgen für den Binnenmarkt und die Realwirtschaft zu führen. Alle Arten von Finanzintermediären, -märkten und -infrastrukturen können potenziell in gewissem Maße systemrelevant sein.“265 Positiv lässt sich daher Systemstabilität als ein Zustand beschreiben, in dem die Finanzmärkte ordnungsgemäß funktionieren.266 Bei einer negativen Betrachtung steht die Aufgabe im Vordergrund, Systemrisiken zu erkennen und nach Möglichkeit zu bannen. Juristisch ist diese Aufgabe kaum schärfer zu erfassen, mit der Folge, dass sich konkrete, operable Vorgaben für die Aufsichtsbehörden praktisch nicht ableiten lassen.267 Auf der Erkenntnisebene liegt die Schwierigkeit darin, dass viele Risikokorrelationen, die am Anfang von Systemkrisen stehen können, erst dann sichtbar werden, wenn die Krise bereits ihren Anfang genommen hat. Typische Anzeichen hierfür sind „austrocknende“ Teilmärkte, wobei sich die Liquiditätsverknappung rasch auf andere Märkte ausbreitet. Hier liegt der Ansatz für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, zur Verhinderung von liquiditätsbedingten Krisen zu intervenieren, indem sie den Kreditinstituten umfassend Zentralbankgeld zur Verfügung stellt,268 die Anforderungen an Sicherheiten senkt und selbst als Käuferin auf den Wertpapiermärkten auftritt.269 Insoweit übt sie ihre Funktion als lender of last resort für das Bankensystem im Ganzen aus.270 Verhindern kann (und darf) die EZB dagegen nicht solche Marktzusammenbrüche, die letztlich auf schwerwiegende und weitreichende Kapitalverluste zurückgehen.271 Die Aufgabe der Rekapitalisierung von Finanzinstituten ob265 Art. 2 lit. c VO (EU) Nr. 1092/2010; Erwägungsgrund 15 VO (EU) Nr. 1093/2011; Erwägungsgrund 14 VO (EU) Nr. 1094/2011; Erwägungsgrund 15 VO (EU) Nr. 1095/2011. 266 Eine andere Definition nennt Padoa-Schioppa, S. 110, der auf die Fähigkeit der Finanzmärkte abstellt, Schocks unbeschadet absorbieren zu können. 267 Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (21). 268 Technisch handelt es sich um die Vollzuteilung von Mengentendern durch die EZB, sie begann in der Eurozone am 8.10.2008, s. EZB, Monthly Bulletin, November 2009, S. 29. 269 S. Beschluss der EZB 2010/5 v. 10.5.2010 zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte, ABl. 2010 L 124, 8. 270 Hierzu s. Lastra/Wood in Lastra, Rn. 1.10 ff. 271 Zum Verbot der Solvenzhilfe s. Radtke, S. 140 ff.

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liegt vielmehr dem Einheitlichen Abwicklungsmechanismus und andererseits den Mitgliedstaaten über ihre Haushalte. Realisiert sich ein Systemrisiko vollends, kommt es also zu einer Systemkrise, besteht die 82 Aufgabe des Rechts darin, Instrumente zur Verfügung zu stellen, um den wirtschaftlichen Schaden zu minimieren und die Funktionsfähigkeit der Märkte rasch wiederherzustellen. Gerade das Ziel der Schadensverringerung steht in der Praxis aber im diametralen Gegensatz zu wettbewerblichen Prinzipien, insbesondere dem Grundsatz, dass Unternehmen auch in einem Insolvenzverfahren aus dem Markt ausscheiden müssen, wenn sie nicht mehr leistungsfähig sind. Das Ziel der Funktionssicherung wird daher mit einer Funktionsgarantie erkauft, die auf den Märkten, bei den Unternehmen und ihren Führungen zu einer verzerrten Risikowahrnehmung führt. Die Erwartung, die Mitgliedstaaten oder die europäischen Institutionen würden wichtige Akteure der Finanzmärkte nicht untergehen lassen, kann daher im schlechtesten Fall zum Anreiz werden, die unternehmerische Eigenverantwortung zu unterlassen (moral hazard). Im Rahmen des Einheitlichen Abwicklungsmechanismus bemühte sich der Unionsgesetzgeber, die derartig widersprechenden Interessen jedenfalls in Bezug auf Kreditinstitute zum Ausgleich zu bringen. 4. Harmonisierung der Zulassungsanforderungen Eine der großen Leistungen des Europarechts besteht darin, dass es die Zulassungsvoraus- 83 setzungen von Finanzinstituten weitgehend vereinheitlicht hat.272 Das Zulassungserfordernis bezweckt, präventiv die Schutzziele der Richtlinien zu verwirklichen, damit nur die Unternehmen auf den Markt kommen, die Gewähr für eine ordnungsgemäße Geschäftsführung und den sorgfältigen Umgang mit den ihnen anvertrauten Vermögenswerten bieten. Die vom Richtlinienrecht aufgestellten Kriterien lassen sich in personenbezogene, organisationsbezogene und kapitalbezogene Anforderungen unterscheiden. In personenbezogener Hinsicht verlangt das europäische Recht, dass die Geschäftsführer eines Finanzinstituts zuverlässig sein und über eine fachliche Qualifikation für diese Aufgabe verfügen müssen.273 Auch Inhaber und Erwerber qualifizierter Beteiligungen an dem Finanzinstitut müssen ihre Identität offenlegen und nachweisen, dass sie den Ansprüchen einer soliden und umsichtigen Geschäftsführung genügen.274 In organisatorischer Hinsicht dürfen Kreditinstitute nicht einzelkaufmännisch geführt 84 werden,275 Versicherungsunternehmen müssen ihrer Rechtsform nach als Aktiengesellschaften oder Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (bzw. gesellschaftsrechtliche Äquivalente in anderen Mitgliedstaaten) oder als öffentlich-rechtliche Unternehmen geführt werden.276 Bei allen Finanzinstituten verlangt das Europarecht, dass sich der Sitz ihrer Hauptverwaltung und ihr Satzungssitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befinden,277 um eine wirksame Aufsicht vor Ort sicherstellen zu können. Alle Finanzinstitute müssen mit ihrer Zulassung einen Geschäftsplan (bei Versicherungen: Tätigkeitsplan) vorlegen und nachweisen, dass sie über eine klare Organisationsstruktur und ein angemessenes Risikomanagement für die beabsichtigten Geschäftstätigkeiten verfügen.278 Alle Finanzinstitute müssen als zwingende Voraussetzung der Zulassung über ein Min- 85 destanfangskapital verfügen, dessen Höhe sich grundsätzlich nach Art und Schwere der 272 273 274 275 276 277 278

Schnyder, Rn. 61 ff. Art. 13 Abs. 1 und Art. 91 Abs. 1 RL 2013/36/EU; Art. 9 RL 2014/65/EU; Art. 42 RL 2009/138/EG. Art. 14 und 22 ff. RL 2013/36/EU; Art. 10 ff. RL 2014/65/EU; Art. 24 und 59 RL 2009/138/EG. Art. 12 Abs. 1 RL 2013/36/EU: Gebot getrennter Eigenmittel. Art. 17 RL 2009/138/EG. Art. 13 Abs. 2 RL 2013/36/EU; Art. 5 Abs. 4 RL 2014/65/EU; Art. 20 RL 2009/138/EG. Art. 10 RL 2013/36/EU; Art. 7 Abs. 2 RL 2014/65/EU; Art. 23, 41 und 44 RL 2009/138/EG.

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Risiken richtet, die mit der geplanten Geschäftstätigkeit einhergehen. Es beträgt für Kreditinstitute 5 Mio. EUR,279 für Wertpapierfirmen zwischen 125.000 und 730.000 EUR,280 für Versicherungsunternehmen nach Art der Versicherungstätigkeit zwischen 2,2 und 3,2 Mio. EUR.281 86 Liegen die genannten Voraussetzungen vor, hat ein Unternehmen Anspruch auf Zulassung durch die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats.282 Gegen ablehnende Entscheidungen garantieren die Richtlinien wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz.283 5. Harmonisierung der Eigenkapitalanforderungen 87 Neben den harmonisierten Zulassungsanforderungen bildet die Harmonisierung des Eigenkapitalrechts der Finanzinstitute die Voraussetzung dafür, dass diese Unternehmen grenzüberschreitend in der EU operieren können, ohne in den Aufnahmemitgliedstaaten separates Dotationskapital vorhalten zu müssen. Die Existenz von ausreichendem, real verfügbarem Eigenkapital dient unmittelbar der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte und dem Schutz der Kunden, die den Instituten als Fremdkapitalgläubiger gegenüberstehen. Aus diesem Grund stellt das Eigenkapitalrecht auch international das wichtigste Instrument zur Regulierung der Institute dar.284 Das freie, vorhandene Eigenkapital eines Schuldners bildet eine wirtschaftliche Grundlage, die einem Fremdkapitalgeber erlaubt, die Kreditwürdigkeit des Geschäftspartners zu beurteilen, bevor er einen Geschäftsabschluss tätigt. Da bei Finanzinstituten die Solvabilitätsanforderungen gesetzlich festgelegt sind, können die Fremdkapitalgläubiger damit rechnen, dass Verluste aus der regulären Geschäftstätigkeit der Institute nicht von ihnen, sondern zunächst von den Eigenkapitalgebern getragen werden. Der Zweck des Eigenkapitalrechts besteht daher darin, das Vertrauen der Kunden in die Leistungsfähigkeit der Finanzinstitute wirtschaftlich zu fundieren, indem für den Fall der Insolvenz eine Haftungsmasse zugunsten der nicht-nachrangigen Gläubiger bereitgestellt wird.285 Zudem begrenzen die aufsichtsrechtlichen Eigenkapitalanforderungen den Betrag der Fremdkapitalisierung eines Instituts, vor allem aber den Umfang der Geschäftstätigkeit des Instituts, da sie prozentual zu den Bilanzaktiva und anderen Risikogrößen berechnet werden.286 Im Versicherungsbereich wird die Solvabilität auch abhängig von den Beitragseinnahmen bzw. den Schadensaufwendungen berechnet und begrenzt damit ebenfalls den Umfang des Passivgeschäfts. Geht man davon aus, dass dem Institut zu einem bestimmten Zeitpunkt nur ein bestimmter Betrag an Eigenkapital zur Verfügung steht, so bildet dessen Volumen die rechnerische Obergrenze für den Umfang der Geschäftstätigkeit und wirkt damit insgesamt risikobegrenzend.287 Auf diese Weise verwirklicht das Eigenkapitalrecht mittelbar das Ziel, die Einleger, Anleger und Versicherungsnehmer zu schützen. 88 Durch die Eigenkapitalanforderungen sollen die Kreditrisiken (sog Adressenausfallrisiken) der Kreditinstitute und Wertpapierfirmen, im Versicherungsbereich die versicherungstechnischen Risiken und für alle Institute zusätzlich das Marktrisiko und das operationelle Risiko288 unterlegt werden. Die Berechnungsanforderungen hierfür sind überaus komplex, 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288

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Art. 12 Abs. 1 RL 2013/36/EU. Art. 15 RL 2014/65/EU iVm Art. 28 Abs. 2 und Art. 29 RL 2013/36/EU. Art. 129 Abs. 1 lit. d RL 2009/138/EG. Schnyder, Rn. 97. Art. 72 RL 2013/36/EU; Art. 74 RL 2014/65/EU; Art. 25 RL 2009/138/EG. Tarullo, S. 15; Schnyder, Rn. 67. So für die Bankenaufsicht Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Januar 2002, S. 43; Tarullo, S. 16. Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Dezember 2006, S. 70; Gleeson, Rn. 2.30. Tarullo, S. 16. Zur Definition des operationellen Risikos s. Art. 4 Abs. 1 Nr. 52 VO (EU) Nr. 575/2013.

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insbesondere im Bankbereich kommt hinzu, dass die Adressenausfallrisiken noch risikogewichtet werden müssen. 289 Ziel soll sein, die Ausfallrisiken so realitätsnah wie möglich zu ermitteln. Hierfür bietet das Europarecht den Kreditinstituten prinzipiell zwei Wege an, nämlich entweder die Heranziehung externer Ratings der Ratingagenturen innerhalb des Standardansatzes oder die Bewertung aufgrund unternehmensinterner Risikomodelle (sog Internal Ratings Based Approach – IRB).290 Neben der Ermittlung der aufsichtsrechtlichen Risiken zielt das Eigenkapitalrecht auf die 89 Definition des zur Deckung dieser Risiken heranzuziehenden Eigenkapitals. Aufsichtsrechtlich wird das Eigenkapital der Finanzinstitute in verschiedene Stufen (engl. tiers) unterteilt.291 Sie sollen die Kapitalqualität abbilden, dh die Fähigkeit, im Insolvenzfall tatsächlich als Haftungsmasse zur Verfügung zu stehen. Die Finanzkrise 2008/2009 hat dabei zu der Einsicht geführt, dass der Kreis der anerkennungsfähigen Eigenkapitalbestandteile deutlich zu beschränken ist und im Wesentlichen nur noch eingezahltes Aktienkapital und realisierte Gewinne zugelassen werden sollen. Die Möglichkeit, hybride Kapitalformen einzusetzen, wird damit erheblich beschränkt. 6. Sanierung und Liquidation Sekundärrechtlich ist die Insolvenz von Finanzinstituten und die Bewältigung der damit 90 für den Binnenmarkt verbundenen Folgen nicht für alle Unternehmenstypen einheitlich geregelt. Die wesentlichste Reform erfolgte im Jahr 2014 mit der Richtlinie 2014/59/EU über die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen. Zur Umsetzung dieser Richtlinie für den Bereich des Euro-Währungsraumes erging VO (EU) Nr. 806/2014. Sie konstituiert den Einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRM), der eine Säule der Europäischen Bankenunion bildet. Davon erfasst sind ausschließlich in den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsraumes niedergelassene Kreditinstitute und Wertpapierfirmen, Letztere allerdings nur, soweit sie in die Beaufsichtigung auf konsolidierter Basis durch die EZB einbezogen sind.292 Dagegen fehlt es an vergleichbaren Regelungen für Konzerninsolvenzen und generell an Vorgaben für ein effektives, gemeinschaftliches Krisenmanagement im Bereich der Versicherungswirtschaft und anderer Finanzinstitute außerhalb des Bankensektors. Damit notwendig verbunden wäre freilich, wie schon im Fall des SRM, eine Antwort auf die hochpolitische Frage, zu welchen Bedingungen es im Binnenmarkt eine gemeinsame Lastentragung der Mitgliedstaaten bei der Restrukturierung von Finanzinstituten geben kann. Neben den Vorgaben des SRM besteht die RL 2001/24/EG293 fort. Sie sieht für Kreditin- 91 stitute, die in anderen Mitgliedstaaten Zweigstellen unterhalten, Mindestregelungen zur Koordinierung der verschiedenen nationalen Verfahren vor. Die Richtlinie behandelt das Kreditinstitut und seine ausländischen Zweigstellen als wirtschaftliche Einheit, die auch bei Sanierung und Liquidation möglichst einheitlichen Regeln unterliegen soll.294 Ziel der Richtlinie ist es dabei, eine Doppelung von Verfahren in mehreren Mitgliedstaaten bzw. sekundäre Insolvenzverfahren zu verhindern. Sowohl für die Sanierung als auch die Liquidation liegt die ausschließliche Zuständigkeit zur Verfahrenseröffnung beim Herkunftsmitgliedstaat, der die Zulassung ausgesprochen hat. Ebenso bestimmt sich das anwendba-

289 Hierzu umfassend Gleeson, Rn. 7.01 ff. 290 S. Gleeson, Rn. 8.01 ff. 291 Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Gleeson, Rn. 4.01 ff. S. ferner Auerbach, Rn. 231 ff.; Engelbach in Binder/Glos/Riepe § 7 Rn. 47 ff. 292 S. Art. 2 VO (EU) Nr. 806/2014. 293 ABl. 2001 L 125, 15. 294 Vgl. näher hierzu Peters in Lastra, Rn. 6.05 ff.

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re Recht für Sanierungs- und Liquidationsmaßnahmen, die Behörden und Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats treffen, nach dem Recht dieses Staats. Die Maßnahmen sind gemeinschaftsweit wirksam, ohne dass es noch einer gesonderten Anerkennung in anderen Mitgliedstaaten bedarf. Hiervon zu unterscheiden sind die privatrechtlichen Rechtsverhältnisse, die durch Sanierung und Insolvenz eines Kreditinstituts betroffen sind. Die Richtlinie sieht insoweit eigenständige kollisionsrechtliche Regeln für das auf privatrechtliche Verträge und dingliche Rechte anwendbare Recht vor. Eine materielle Harmonisierung des Sanierungs- bzw. Insolvenzrechts der Mitgliedstaaten erfolgt durch die Richtlinie dagegen nicht.295 92 Ein vergleichbares Regime auf der Grundlage der Unternehmenseinheit und der europaweiten Wirkung der behördlichen Maßnahmen enthalten die Art. 267 ff. RL 2009/138/EG für die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen. Auch hier liegt die ausschließliche Zuständigkeit für die Verfahrenseröffnung bei den Behörden des Herkunftsmitgliedstaats.296 Das auf die Maßnahmen anwendbare Recht ist ebenfalls das des Herkunftsmitgliedstaats.297 Die Richtlinie trifft mit Ausnahme der Pflicht, einen Sanierungsplan vorzulegen,298 aber keine inhaltlichen Vorgaben, welche Maßnahmen von den Aufsichtsbehörden getroffen werden dürfen bzw. müssen. Sie sieht aber zum Schutz der Versicherungskunden vor, dass in der Insolvenz Versicherungsforderungen vorrangig zu befriedigen sind.299 Für die betroffenen zivilrechtlichen Verträge und das Eigentum an Vermögensgegenständen enthält sie eigenständige kollisionsrechtliche Regeln.300

VIII. Verwaltungskooperation im Binnenmarkt 1. Zuständigkeit der Herkunftslandbehörden 93 Zur Vermeidung von aufsichtsrechtlichen Doppelkontrollen sind die Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats ausschließlich zuständig für die Zulassung, den Entzug der Zulassung und die laufende Aufsicht über die Finanzinstitute. Zur laufenden Aufsicht zählen vor allem die Überwachung und Durchsetzung der Eigenkapitalanforderungen, bei Versicherungen generell die Finanzaufsicht. Diese umfassende Zuständigkeit rechtfertigt sich dadurch, dass im Herkunftsmitgliedstaat die Instrumente der materiellen Aufsicht am wirkungsvollsten durchzusetzen sind.301 Sie hat zur Konsequenz, dass sich die räumliche Reichweite dieser Aufgabe auf alle Mitgliedstaaten erstreckt, in denen ein Institut Zweigstellen betreibt und Dienstleistungen erbringt. Die primärrechtliche Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 EUV gebietet dabei, dass der Herkunftsmitgliedstaat die aufsichtsrechtlichen Belange europaweit gleichmäßig und wirksam wahrnimmt.302 Das öffentliche Interesse, das die Richtlinien konkretisieren, ist daher grenzüberschreitend und diskriminierungsfrei zu handhaben. Auf einem anderen Blatt steht indes, ob in der Praxis die grenzüberschreitende Aufgabe auch stets auf diese Weise wahrgenommen wurde.303

295 296 297 298 299 300 301 302 303

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Peters in Lastra, Rn. 6.15. Art. 269 Abs. 1 und Art. 273 Abs. 1 RL 2009/138/EG. Art. 269 Abs. 3 und Art. 274 RL 2009/138/EG. Art. 138 RL 2009/138/EG. Art. 275 RL 2009/138/EG. Art. 285 ff. RL 2009/138. EuGH 10.5.1995 – C-384/93, Slg 1995, I-1141, Rn. 48 – Alpine Investments. Vgl. die explizite Regelung des Art. 7 RL 2013/36/EU. Vgl. Alexander, ERA Forum 2011, S. 229 (234 f.).

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Um die aufsichtsrechtlichen Aufgaben auch grenzüberschreitend wahrnehmen zu können, 94 sehen die Richtlinien die Möglichkeit vor, dass die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaats Vor-Ort-Kontrollen in den Aufnahmemitgliedstaaten durchführen kann.304 Die Aufnahmemitgliedstaaten unterliegen darüber hinaus der Pflicht zur Amtshilfe, die sich meist als Informationsaustausch verwirklicht.305 Alle Behörden handeln dabei stets auf der Grundlage ihres nationalen Rechts, soweit sie den Inhalt von Richtlinien vollziehen.306 Sekundärrechtliche Befugnisgrundlagen könnten zwar an deren Stelle treten, bedürften aber einer Verankerung in der Handlungsform der Verordnung gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV, wenn sie Pflichten für die betroffenen Unternehmen begründen sollen. 2. Zuständigkeit des Aufnahmemitgliedstaats Je nach Regulierungssektor verbleiben den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats ver- 95 schiedene, zT subsidiäre, zT aber auch originäre Zuständigkeiten. Bei Kreditinstituten dürfen sie ua für statistische Zwecke Tätigkeitsberichte von den Instituten verlangen, die Zweigstellen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats haben.307 Im Fall von Verstößen gegen nationale Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinien kann die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats lediglich die Behörden des Herkunftsmitgliedstaats informieren.308 Regelnde Anordnungen, Zwangsmaßnahmen und repressive Sanktionen darf allein der Herkunftsmitgliedstaat festlegen.309 Von dieser grundsätzlichen Verteilung der Aufsichtsbefugnisse lässt das Sekundärrecht bei Kreditinstituten nur wenige Ausnahmen zu.310 Allen diesen Ausnahmen ist gemeinsam, dass sie grundsätzlich nicht das Verbot der bisherigen Geschäftstätigkeit gestatten, sondern lediglich die Verhinderung weiterer Rechtsbrüche oder ihre Ahndung. Möglich ist allerdings ein Verbot der Aufnahme „neuer Geschäftstätigkeiten“ im Aufnahmemitgliedstaat. Die Zulassung darf dagegen nur der Herkunftsmitgliedstaat entziehen. Bei Wertpapierfirmen erstreckt sich die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde des Auf- 96 nahmemitgliedstaats grundsätzlich nur auf die im eigenen Hoheitsgebiet niedergelassenen Zweigstellen und insoweit auch nur auf bestimmte Anforderungen, wie die Einhaltung der Wohlverhaltensregeln, die Pflicht zur kundengünstigsten Ausführung von Aufträgen, die Bearbeitung von Kundenaufträgen, die Wahrung der Marktintegrität etc.311 Hieran knüpfen auch Informationspflichten der Unternehmen und Auskunftsrechte der Aufsichtsbehörden an.312 Darüber hinaus verfügt die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats über die Befugnis zum Erlass von Sicherungsmaßnahmen, deren Voraussetzungen aber wiederum davon abhängen, ob die Wertpapierfirma in Ausübung der Dienstleistungsfreiheit oder über eine Zweigniederlassung tätig wird.313 Bei Versicherungsunternehmen bleiben die Aufnahmemitgliedstaaten für die Durchsetzung 97 des nationalen Versicherungsvertragsrechts zuständig. Die damit verbundenen Befugnisse schränkt die Richtlinie aber unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ein.314 Soweit es 304 Art. 52 RL 2013/36/EU; Art. 35 Abs. 9, Art. 80 RL 2014/65/EG; Art. 33 RL 2009/138/EG. 305 Art. 50 RL 2013/36/EU; Art. 79 RL 2014/65/EG; Art. 65 RL 2009/138/EG. 306 Vgl. Art. 69 Abs. 1, Art. 72 Abs. 1 RL 2014/65/EU. Allgemein zu diesem Grundsatz Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 233. 307 Art. 40 RL 2013/36/EU. 308 Art. 41 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/36/EU; Art. 86 Abs. 1 RL 2014/65/EU. 309 Art. 41 Abs. 1 UAbs. 2 RL 2013/36/EU; Art. RL 2014/65/EU. 310 Art. 43, 44, 50 Abs. 4, Art. 52 Abs. 3 RL 2013/36/EU. 311 Art. 35 Abs. 8 iVm Art. 24, 25, 27 und 28 RL 2014/65/EU und Art. 14–26 VO (EU) Nr. 600/2014. 312 Art. 85 RL 2014/65/EU. 313 Art. 86 Abs. 1 und 2 RL 2014/65/EU. 314 Art. 154 RL 2009/138/EG.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht um die Durchsetzung der Anforderungen aus der Richtlinie selbst geht, genießt die Aufsichtsbehörde des Aufnahmemitgliedstaats lediglich eine subsidiäre Zuständigkeit, so dass sie nur tätig werden darf, wenn die Maßnahmen des Herkunftsmitgliedstaats unwirksam, unzureichend oder nicht erfolgt sind.315 3. Aufsichtskollegien

98 Speziell für die Aufsicht über grenzüberschreitende Institutsgruppen sehen die Richtlinien die Bildung von Aufsichtskollegien vor, die sich aus Vertretern der nationalen Aufsichtsbehörden zusammensetzen.316 Sie sollen einen rascheren, engen Informationsaustausch ermöglichen, Situationsanalysen bei grenzüberschreitenden Problemen ermöglichen, eine Diskussionsplattform eröffnen und ein koordiniertes Vorgehen durch die verschiedenen Aufsichtsbehörden vorbereiten.317 Eigenständige Befugnisse gegenüber den Instituten genießen die Kollegien nicht, vielmehr handeln nach außen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten.318

C. Das Europäische System der Finanzaufsicht I. Überblick 99 Der europäische Gesetzgeber schuf im Jahr 2010 das Europäische System der Finanzaufsicht (European System of Financial Supervision, ESFS) mit dem Anspruch, die organisatorischen Konsequenzen aus der Finanzkrise zu ziehen und Vorkehrungen zur Vermeidung künftiger Krisen zu treffen. Die Blaupause für das neue Aufsichtssystem bildete der Bericht der Weisen unter Leitung von Jacques de Larosière aus dem Jahr 2009.319 Mit Wirkung vom 1.1.2011 gehören ihm neben den nationalen Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten die drei europäischen Agenturen für die Bereiche Banken, das Versicherungswesen und die Wertpapiermärkte (European Supervisory Authorities, ESAs) sowie der Europäische Ausschuss für Systemrisiken an. Diese Struktur soll dem integrierten Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen institutionell entsprechen und zu einer räumlichen Deckung von Markt und Aufsicht führen.320 100 Die Errichtung der drei europäischen Aufsichtsbehörden für Banken (EBA),321 das Versicherungswesen (EIOPA)322 und die Wertpapiermärkte (ESMA)323 stellte sowohl im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten wie auch den beaufsichtigten Finanzinstituten einen weitreichenden Schritt zur Neuordnung der Finanzmarktaufsicht dar. Ziel der Reform war es vor allem, die dezentrale, auf die Mitgliedstaaten bezogene Struktur der Finanzaufsicht zu überwinden, die in der Finanzkrise als Schwäche wahrgenommen wurde.324 Insofern ist es eine der Aufgaben der ESAs, die nationalen Aufsichtsbehörden zu koordinieren und für eine Vereinheitlichung der Aufsichtspraxis zu sorgen.325 Die Rechtsgrundlagen der ESAs,

315 Art. 155 RL 2009/138/EG. 316 Art. 116 RL 2013/36/EU; Art. 212 ff. RL 2009/38/EG. 317 Vgl. Schmitz-Lippert, International Co-operation between Financial Supervisory Authorities, ECFE 2010, 266 (269 f.). 318 Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (19). 319 The High Level Group on Financial Supervision in the EU, Chaired by Jacqes de Larosière, Report, Brussels, 25 February 2009. Zur Entstehungsgeschichte des ESFS s. auch Kohtamäki, S. 91 ff. 320 Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (6). 321 European Banking Authority, https://eba.europa.eu/home. 322 European Insurance and Occupational Pensions Authority, https://eiopa.europa.eu/. 323 European Securities and Markets Authority, https://www.esma.europa.eu/. 324 Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (6); Wymeersch ECFR 2010, 240 (253). 325 Vgl. hierzu vor allem die Aufgaben nach Art. 29 ff. VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010.

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drei Verordnungen nach Art. 288 Abs. 2 AEUV, sind nahezu synoptisch aufgebaut und formuliert.326 Sie schaffen organisatorisch identische, mit gleichen Aufgaben und Befugnissen ausgestattete Behörden, die ein konzertiertes Handeln in allen Finanzsektoren ermöglichen. Ob eine einheitliche Behörde statt drei verschiedener Behörden sinnvoller gewesen wäre, ist wissenschaftlich und politisch umstritten.327 Ein Gemeinsamer Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden soll jedenfalls möglichen Koordinierungsproblemen vorbeugen.328 Verschiedene Merkmale zeichnen diese Behörden aus, die sie weit aus dem Spektrum der 101 sonstigen europäischen Agenturen herausragen lassen.329 Dazu gehört das Recht, verbindliche Beschlüsse gegenüber nationalen Aufsichtsbehörden und, im Sinne einer ultima ratio, auch gegenüber Finanzinstituten zu erlassen. Die von ihnen wahrgenommenen Aufgaben und Befugnisse sind weit gefasst, womit sie über erhebliche Entscheidungsspielräume verfügen. Ein weiteres Kennzeichen ist ihre strikte Unabhängigkeit von den Organen der Union und den Mitgliedstaaten.

II. Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts Aus europaverfassungsrechtlicher Sicht stellt sich die Frage, ob die Errichtung solcher Ein- 102 richtungen, die über weite Entscheidungsspielräume verfügen, mit dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts vereinbar ist. Nach der sog Meroni-Rechtsprechung des EuGH darf ein Organ keine weiterreichenden, hoheitlichen Befugnisse übertragen, als ihm nach dem Vertrag selbst zustehen.330 Ausgeschlossen ist es überdies, Entscheidungsbefugnisse, die mit politischen Ermessensspielräumen verbunden sind, auf eine andere Einrichtung zu übertragen. Zulässig ist nach dieser Rechtsprechung dagegen die Übertragung „genau umgrenzter Ausführungsbefugnisse“.331 Indes spricht viel dafür, dass für Agenturen, anders als in den durch den EuGH ursprünglich entschiedenen Fällen zur EGKS, eine gewisse Modifikation dieser Maßstäbe in Betracht kommt.332 Denn eine Delegation von primärrechtlich geregelten Verwaltungsaufgaben der Organe findet hier gerade nicht statt, vielmehr schafft der Gesetzgeber vollständig neue Aufgaben.333 Aufgrund der ESMA-Entscheidung aus dem Jahr 2014 scheint der EuGH auch bereit zu sein, dem Unionsgesetzgeber gewisse Spielräume zu belassen.334 Wie weit sie allerdings reichen, lässt sich abstrakt kaum festlegen, sondern bedarf der Würdigung im Einzelfall.335 Bezogen auf die Befugnis der ESMA, bei einer Finanzkrise den Marktteilnehmern Leerverkäufe von Finanzinstrumenten zu verbieten, entschied er, dass sie mit den Anforderungen der Meroni-Rechtsprechung vereinbar ist.336 Zur Begründung verwies er darauf, dass die zugrunde liegende Be-

326 327 328 329 330 331 332

333 334 335 336

Rechtsgrundlage bilden die VOen (EU) Nr. 1093, 1094 und 1095/2010, ABl. 2010, L 331, 1 ff. S. Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1355); Wymeersch ECFR 2010, 240 (254). Art. 54 ff. VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. Ebenso Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1344); vgl. auch Binder GPR 2011, 34 (36). EuGH 13.6.1958 – Rs. 9/56, Slg 1958, 11 (40) – Meroni/Hohe Behörde. EuGH 13.6.1958 – Rs. 9/56, Slg 1958, 11, 44 – Meroni/Hohe Behörde. Calliess/Ruffert/Calliess EUV/AEUV AEUV Art. 13 Rn. 56; Chamon CMLRev. 2011, 1055 (1059 f.); Chiti, An important part of the EU’s institutional machinery: features, problems and perspectives of European agencies, CMLRev. 2009, 1395 (1422 f.); Görisch, S. 371; Häde EuZW 2011, 662 (663 f.); aA Ludwigs, Das veränderte Machtgefüge der Institutionen nach dem Dritten EU-Binnenmarktpaket, DVBl. 2011, 61 (65). Für eine zurückhaltende Anwendung der Meroni-Doktrin auch Ruffert in FS Scheuing, S. 399 (404). So auch Saurer DÖV 2014, 549 (555); ähnlich Kohtamäki EuR 2014, 321 (328). Vgl. Schemmel, S. 352 f. EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 41 ff. – ESMA.

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fugnis der ESMA kein weites Ermessen vermittelt, sondern dass sie „eine Tatsachenbeurteilung technischer Art“ vorzunehmen hat.337 103 Ferner bedarf der Klärung, ob der Gesetzgeber solche selbstständigen Agenturen auf der Grundlage der Binnenmarktzuständigkeit nach Art. 114 AEUV errichten darf. Der EuGH hat diesen verfassungspolitisch ungewöhnlichen Kurs im Jahr 2006 ausdrücklich befürwortet und sich hierfür auf eine weite Auslegung der Unionskompetenzen gestützt.338 Sie ermächtigen nach seiner Auffassung nicht nur zum Erlass materiellen Rechts, sondern auch zur Regelung von Organisations- und Verfahrensfragen.339 In dieser Linie ist es konsequent, dass die Errichtung einer Agentur dann zulässig ist, wenn diese Organisationsmaßnahme für die effiziente Umsetzung des Sekundärrechts im Binnenmarkt nach Ansicht des Unionsgesetzgebers notwendig ist.340 Dies gilt nach der Rechtsprechung des EuGH insbesondere dann, wenn die zu ergreifenden Maßnahmen ein spezifisches technisches Fachwissen und die Reaktionsfähigkeit einer solchen Stelle voraussetzen.341 In seinem Urteil zur Europäischen Bankenunion billigte das BVerfG grundsätzlich diesen Ansatz, solange die Errichtung von Agenturen auf Ausnahmefälle beschränkt bleibt.342 Das damit verbundene, gleichwohl weite Ermessen des Unionsgesetzgebers, auch tiefgreifende Organisationsentscheidungen für die verwaltungsmäßige Umsetzung zu treffen, dürfte eine der bedeutendsten Fortentwicklungen der Binnenmarktkompetenz sein. Unter dem Aspekt des Demokratieprinzips stellt sich Art. 114 AEUV insoweit als Ausdruck eines organisationsrechtlichen Gesetzgebungsvorbehalts dar.

III. Organisationsstruktur 104 Alle Behörden sind Einrichtungen des Unionsrechts mit eigener Rechtspersönlichkeit, genießen Rechtsfähigkeit in allen Mitgliedstaaten343 und sind daher als eigenständige, juristische Personen des europäischen öffentlichen Rechts zu qualifizieren. Ihre organisatorische Verselbstständigung von der Kommission und den anderen Organen der Primärrechtsebene wird dadurch verstärkt, dass sie über einen eigenen Haushalt verfügen, der sich aus Beiträgen der Mitgliedstaaten und Zuschüssen der Union, aber auch aus Gebühreneinnahmen speisen kann.344 105 Die drei Behörden sind organisatorisch identisch aufgebaut, wobei die Struktur relativ komplex ist. Ein Vorsitzender vertritt die Behörde nach außen,345 während der Exekutivdirektor für die laufende Geschäftstätigkeit verantwortlich ist.346 Hauptorgan ist der Rat der Aufseher, der sich aus stimmberechtigten Vertretern der nationalen Aufsichtsbehörden und nicht stimmberechtigten Vertretern der Kommission, der EZB, des ESRB und der jeweils anderen ESAs zusammensetzt. Er gibt die Leitlinien der Arbeit vor (Lenkungsfunktion), übt die regulatorischen Befugnisse aus und erlässt die aufsichtsrechtlichen Beschlüsse der ESA, wobei er gemäß Art. 44 Abs. 1 ESA-VO grundsätzlich mit einfacher Mehrheit, in 337 EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 52 – ESMA. 338 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771, Rn. 42 – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat. Vgl. hierzu Schammo CMLRev. 2011, 1879 (1909 f.). 339 Vgl. EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771, Rn. 44 – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat. 340 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771, Rn. 44 – Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat. Zustimmend Herdegen, S. 63, 66; kritisch Häde EuZW 2011, 662 (663). 341 EuGH 22.1.2014 – C-270/12, ECLI:EU:C:2014:18 Rn. 105 – ESMA. 342 BVerfG 30.7.2019 - 2 BvR 1685/14 -, juris, Rn. 231 ff. 343 Art. 5 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 344 Art. 62 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 345 Art. 48 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 346 Art. 51 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010.

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bestimmten Fällen mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Ihm beigeordnet ist noch ein kleinerer Verwaltungsrat, der sich aus dem Vorsitzenden und sechs weiteren Mitgliedern aus dem Rat der Aufseher zusammensetzt. Seine Kernfunktion ist die eines Aufsichtsorgans über den Exekutivdirektor. Die ESAs verfügen schließlich über einen gemeinsamen Beschwerdeausschuss, der für natürliche und juristische Personen einen verwaltungsinternen Rechtsschutz gegen Beschlüsse der Behörde gewährleistet.347 Der gerichtliche Rechtsschutz nach Art. 263 Abs. 4 AEUV richtet sich dann gegen den Beschluss des Beschwerdeausschusses.348

IV. Unabhängigkeit Alle Organe einer ESA sind sachlich unabhängig, so dass weder Kommission noch Mit- 106 gliedstaaten ihren Vertretern in der Behörde Weisungen erteilen dürfen.349 Diese Unabhängigkeit der Organmitglieder ist funktionaler Natur und sichert die Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben, die den ESAs obliegen. Persönliche Unabhängigkeit steht den Mitgliedern der Organe dagegen nicht zu. Der Vorsitzende und der Exekutivdirektor werden vom Rat der Aufseher ernannt und entlassen sowie disziplinarisch kontrolliert. Ihre Amtszeit ist auf fünf Jahre mit einer einmaligen Verlängerungsmöglichkeit befristet, bei Pflichtverletzungen kann eine Amtsenthebung stattfinden. Die Ernennung und Entlassung der nationalen Vertreter hängt dagegen von Personalentscheidungen in den Mitgliedstaaten ab. Sie bleiben personell daher an die Mitgliedstaaten rückgekoppelt,350 wenngleich sie sachlich weisungsfrei gestellt sind. Die Unabhängigkeit der ESAs ist überdies im Hinblick auf die personelle Legitimation nicht problematisch. Jedes Organmitglied kann für sich auf eine Legitimationskette verweisen, die seine Ernennung auf eine parlamentarische Grundlage zurückführt, wenngleich dieser Zusammenhang in der Praxis häufig nur lose ist. 1. Verhältnis zum Demokratieprinzip des Art. 10 Abs. 1 EUV Die sachlich-funktionale Unabhängigkeit der ESAs steht in einem Spannungsverhältnis 107 zum Grundsatz der repräsentativen Demokratie nach Art. 10 Abs. 1 EUV. Der Inhalt dieses Grundsatzes ist bislang nicht abschließend geklärt, was letztlich auf die heterogenen Vorstellungen der Mitgliedstaaten zurückzuführen ist.351 Verfassungsrechtliche Mindestgehalte lassen sich Art. 10 Abs. 1 EUV aber entnehmen. Hierzu zählt, dass das amtliche Handeln von Verwaltungseinrichtungen der Union einer inhaltlichen Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegen muss.352 Dem europäischen Gesetzgeber obliegt daher die Aufgabe, in organisationsrechtlichen Entscheidungen über die Errichtung einer Agentur das Demokratieprinzip wirksam zu konkretisieren und gleichzeitig in ein angemessenes Verhältnis zu anderen, verfassungsrechtlich ebenfalls legitimen Zielen zu setzen. Dabei genießt er Beurteilungs- und Gestaltungsspielräume, die er aber nicht in einer Weise nutzen darf, dass das Parlament als zentrale Kontrollinstanz der europäischen Verwaltung strukturell entmachtet wird. Nicht verwehrt ist es dem Parlament dagegen, seine Kontroll-

347 Art. 58 ff. VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 348 Art. 61 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 349 Rat der Aufseher: Art. 42; Verwaltungsrat: Art. 46; Vorsitzender: Art. 49; Exekutivdirektor: Art. 52; Beschwerdeausschuss: Art. 59 Abs. 1 VOen (EU) Nr. 1093 bis 1095/2010. 350 AA Ruffert in FS Scheuing, S. 399 (407). 351 Streinz/Huber EUV/AEUV EUV Art. 10 Rn. 3 ff. 352 Im Schrifttum wird bislang meist nur formuliert, das Demokratieprinzip ziehe das Verbot der „Fremdherrschaft“ nach sich, s. Calliess/Ruffert/Ruffert EUV/AEUV EUV Art. 10 Rn. 2. Ähnlich wie hier wohl Görisch, S. 374.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht möglichkeiten zurückzunehmen, um gleichzeitig andere Verfassungsprinzipien zu stärken.353 2. Kontrollmechanismen

108 Das Europäische Parlament steuert die Sachaufgabe der ESAs zunächst durch die Festlegung des gesetzlichen Rahmens. Er ist durch die hohe technische Komplexität der Aufsichtsaufgaben gekennzeichnet, die sich vielfach in detaillierten Einzelregelungen niederschlagen. Demgegenüber sind die Befugnisse zum Erlass von verbindlichen Beschlüssen auf der Rechtsfolgenseite nur allgemein gefasst und weisen generalklauselartigen Charakter auf. Die Ausübung der Befugnisse kann im Einzelfall mit wirtschaftspolitischem Ermessen verbunden sein und bei den betroffenen Finanzinstituten und im Binnenmarkt zu weitreichenden Konsequenzen führen. 109 Die Verordnungen sehen allerdings vor, dass jede Behörde gegenüber dem Europäischen Parlament und dem Rat rechenschaftspflichtig ist.354 Es geht um accountability, also die Pflicht zu erklären und zu erläutern.355 Parlament und Rat können hierzu Stellungnahmen abgeben, diese bleiben aber für die Agenturen wegen ihrer Unabhängigkeit rechtlich unverbindlich. Insofern geht es, wenn überhaupt, nur um eine politische Rechenschaftspflicht, nicht aber um eine parlamentarische Verantwortlichkeit, die auch mit Sanktionen bewehrt ist.356 Eine striktere Form parlamentarischer Kontrolle kann aber gerade deshalb erforderlich sein, weil die ESAs über weite Entscheidungsspielräume und tiefe Eingriffsbefugnisse verfügen. 110 Keine ausdrückliche Möglichkeit besteht demgegenüber für die Kommission, die Rechtsaufsicht über die ESAs auszuüben.357 Ihr verwaltungsinterner Einfluss ist darauf begrenzt, einen Vertreter in den Rat der Aufseher und den Verwaltungsrat zu entsenden, der aber nur eine Beobachtungsfunktion genießt, Art. 40 Abs. 1 lit. c und Art. 45 Abs. 2 UAbs. 2 ESA-VO.358 Allerdings kann die Kommission unter den Voraussetzungen des Art. 263 Abs. 1 und 2 AEUV gegen verbindliche Rechtsakte der ESAs Klage zum Gerichtshof der Europäischen Union erheben. 3. Rechtfertigungsgründe 111 Vor diesem Hintergrund ist die nur schwach ausgeprägte sachlich-demokratische Kontrolle der ESAs verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig und – begrenzt – rechtfertigungsfähig.359 Der bloße Hinweis auf den Sachverstand, die Erfahrung und Unparteilichkeit der in den Behörden versammelten Bediensteten genügt hierfür nicht,360 wenngleich das Prinzip effizienter Verwaltungstätigkeit iSv Art. 298 AEUV einen primärrechtlich zulässigen Gesichtspunkt bildet, den der Gesetzgeber berücksichtigen darf und der auch 353 Vgl. EuGH 9.3.2010 – C-518/07, Slg 2010, I-1885, Rn. 42 – Kommission/Deutschland. 354 Art. 3 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 355 Vgl. Hüpkes/Quintyn/Taylor, The accountability of financial sector supervisors – principles and practice, EBLR 2005, 1575 (1590 f.); Kohtamäki, S. 211 ff. 356 Als Legitimationsgrundlage grds. ausreichend betrachtet dies Ruffert in FS Scheuing, S. 399 (405). 357 Michel, Institutionelles Gleichgewicht und EU-Agenturen, S. 149 ff.; aA unter Hinweis auf Art. 17 Abs. 1 EUV Kohtamäki, S. 206. 358 Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1352). 359 Zur verfassungsrechtlichen Möglichkeit sachlicher Rechtfertigungen für die Weisungsfreiheit Ruffert in FS Scheuing, S. 399 (411); ferner Ludwigs, Das veränderte Machtgefüge der Institutionen nach dem Dritten EU-Binnenmarktpaket, DVBl. 2011, 61 (68). Umfassend Schemmel, S. 359 ff.; Weißgärber, Die Legitimation unabhängiger und europäischer Agenturen, 2016, S. 327 ff. Ausdrücklich zum SRM nun auch das BVerfG, Urt. v. 30.7.2019 - 2 BvR 1685/14 -, juris, Rn. 266 ff. 360 So aber Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1349 f.). Vgl. umfassend zu diesem Gesichtspunkt Peuker, Bürokratie und Demokratie in Europa, 2011, S. 222 ff.

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durch organisationsrechtliche Entscheidungen umgesetzt werden kann.361 Effizienz ist dabei kein Selbstzweck, sondern steht zwingend in innerer Beziehung zum sachlichen Gehalt der Verwaltungsaufgabe und den damit verbundenen Gemeinwohlzielen. Wesentliche Merkmale der Sachaufgabe selbst müssen daher die Entscheidung des Gesetzgebers tragen, Agenturen mit sachlicher Unabhängigkeit auszustatten. Hierfür können verschiedene Gründe vorliegen. Bezogen auf die ESAs schützt die Unabhängigkeit zunächst allgemein die Koordinations- 112 aufgabe362 und speziell die Moderationsaufgabe nach Art. 19 ESA-VO, die sie bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden wahrnehmen. Konflikte zwischen Aufsichtsbehörden, die die ESAs beilegen müssen, lassen sich strukturell besser bewältigen, wenn auf die Entscheidungen kein Einfluss von außen genommen wird. Auch in dem Fall, dass die ESAs eine nationale Behörde nach Art. 17 ESA-VO zur Beachtung materiellen Unionsrechts anhalten müssen, sichert die Unabhängigkeit die Aufsichtsfunktion, die die Agentur ausübt. Problematisch bleibt damit vor allem die Aufgabe der ESAs nach Art. 18 ESA-VO, systemische Krisen der Finanzmärkte zu verhindern. Die möglichen gesamtwirtschaftlichen und sozialen Risiken von Fehlentscheidungen sprechen dafür, dass auch politische Erwägungen der Mitgliedstaaten und der Kommission bei der Entscheidungsfindung Einfluss haben müssen. Die ESA-Verordnungen tragen dem jedenfalls insoweit Rechnung, als nach Art. 18 Abs. 5 die Feststellung, dass eine Krisensituation vorliegt, in die Zuständigkeit des Rates fällt, der diesen Beschluss mindestens einmal pro Monat überprüfen muss und jederzeit die Krise für beendet erklären kann. 4. Haushaltsvorbehalt Überdies sichert der Haushaltsvorbehalt des Art. 38 ESA-VO den Mitgliedstaaten einen 113 Spielraum, Beschlüsse der ESAs nach Art. 18 und 19 ESA-VO nicht umzusetzen.363 Die genauen Voraussetzungen und der Umfang des durch den Haushaltsvorbehalt geschützten Abweichungsrechts („haushaltspolitische Zuständigkeiten“) werden allerdings durch die Verordnungen nicht näher beschrieben. Am Ende handelt es sich um einen politischen Mechanismus, da ein Konflikt zwischen einer ESA und einem Mitgliedstaat durch den Rat beigelegt werden muss.364 Bloße nationale, allgemeinwirtschaftliche Interessen reichen nicht aus, um den Vorbehalt zu aktivieren,365 ebenso wie ein „Missbrauch“ ausdrücklich verboten ist, Art. 38 Abs. 5 ESA-VO. Inhaltlich dürfte das wesentliche Kriterium sein, ob die Umsetzung des Beschlusses unvermeidlich zu signifikanten Rückwirkungen auf den nationalen Haushalt führt.366 Das können weniger steuerliche Verluste als vor allem wirtschaftliche Zwänge sein, für die Rekapitalisierung eines oder mehrerer Finanzinstitute einstehen zu müssen.367 Außerdem ist zu beachten, dass der Haushaltsvorbehalt nicht nur die Verfügung über nationale Haushaltsmittel, sondern in organisatorischer Hinsicht auch die Haushaltsprärogative der nationalen Parlamente schützt. Soweit daher ein nationales Parlament ein Mitspracherecht in Haushaltsfragen beanspruchen kann, ist der Haushaltsvorbehalt des Art. 38 ESA-VO aktivierbar.

361 Ablehnend Görisch, S. 393. 362 Wymeersch ECFR 2010, 240 (262). 363 Zur Frage, ob der Anwendungsbereich des Art. 38 breiter sein sollte, Alexander, ERA Forum 2011, S. 229, 244. 364 Art. 38 Abs. 2 UAbs. 5 und 6 sowie Abs. 4 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. Zur konfliktreichen Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift s. Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1368). 365 Wymeersch ECFR 2010, 240 (261). 366 Vgl. Art. 38 Abs. 5 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 367 Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (16).

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V. Regulatorische Befugnisse 1. Allgemeines 114 Für die ESAs gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, so dass sie nur insoweit zum Handeln befugt sind, als Sekundärrecht ihnen ausdrücklich dieses Recht verleiht. Daraus ergibt sich ein komplexes Zusammenspiel zwischen den Harmonisierungsrichtlinien, sonstigem Sekundärrecht und den Errichtungsverordnungen. Der Zuständigkeitsbereich der ESAs wird zunächst durch den Anwendungsbereich der in Art. 1 ESA-VO aufgezählten Sekundärrechtsakte sowohl begründet wie auch sachlich umgrenzt.368 Hierauf bauen die regulatorischen und aufsichtlichen Befugnisse der ESAs auf. Andere Sekundärrechtsakte können zusätzliche, spezielle Befugnisse verleihen, wie das Beispiel der Verordnung über Ratingagenturen zeigt. 115 Die Errichtungsverordnungen sehen verschiedene Möglichkeiten vor, wie die ESAs regulatorisch wirken können. Damit ist das Recht gemeint, abstrakt-generelle Vorgaben für die Tätigkeit der Finanzinstitute festzulegen, die dann später mittelbar in die behördliche Aufsichtstätigkeit im Sinne der Einzelfallüberwachung einfließen. Unmittelbar mit Anspruch auf Verbindlichkeit und rechtlicher Außenwirkung dürfen die ESAs keine abstrakt-generellen Maßnahmen erlassen, da es hierfür einer primärrechtlichen Ermächtigung bedürfte, die aber gegenwärtig nicht vorliegt.369 116 Stattdessen können die ESAs an die nationalen Aufsichtsbehörden und die Finanzinstitute eigene Leitlinien und Empfehlungen richten, Art. 16 ESA-VO. Während nach der primärrechtlichen Konzeption Empfehlungen als Handlungsform nach Art. 288 Abs. 5 AEUV rechtlich unverbindlich sind, kennt das Europarecht die Leitlinien nur als rein intern wirkende Regelungen der Kommission, die den deutschen Verwaltungsvorschriften entsprechen und der Konkretisierung bestehender, primärrechtlicher Entscheidungsspielräume dienen.370 Die Errichtungsverordnungen gehen einen Schritt weiter und behandeln Leitlinien und Empfehlungen als Maßnahmen, denen seitens der Adressaten „nachzukommen“ ist, Art. 16 Abs. 3 UAbs. 1 ESA-VO. Ausdrücklich werden insoweit nicht nur die nationalen Aufsichtsbehörden, sondern auch die Finanzinstitute genannt. Eine formale Rechtsbindung geht mit den Leitlinien und Empfehlungen nicht einher,371 da diese einer Grundlage in Art. 288 AEUV bedürfte. Die Nichtbeachtung der Leitlinien und Empfehlungen durch eine nationale Aufsichtsbehörde löst jedoch deren Pflicht aus, diesen Umstand der zuständigen ESA mitzuteilen und zu begründen (Rechenschaftspflicht). Einer vergleichbaren Berichtspflicht unterliegen Finanzinstitute.372 Hierin liegt eine weitere Variante des regulatorischen Modells von act or explain bzw. comply or explain, die den ESAs einen ungewöhnlich weitreichenden Einfluss sichern und den Zentralisierungsprozess in der Aufsicht beschleunigen dürfte.373 Allerdings ist zu beachten, dass sich Leitlinien und Empfehlungen an den Rahmen halten müssen, der durch das geltende Sekundärrecht gezogen wird. Empfehlungen und Leitlinien, die sich außerhalb dieser Vorgaben bewegen, sind rechtswidrig. 117 Die ESA-Verordnungen binden die Behörden überdies eng in das Rechtsetzungsverfahren der Kommission nach Art. 290 und Art. 291 Abs. 2 AEUV ein, indem sie die Entwürfe für 368 Zutreffend sprechen von der Bindung an den acquis communautaire Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (9). 369 Saurer EuR 2010, 51 (55). Differenzierend Möstl DVBl. 2011, 1076 (1083), der Art. 291 AEUV als mögliche Ermächtigungsgrundlage sieht. 370 Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 247; Möstl DVBl. 2011, 1076 (1082); Terhechte/Szczekalla HdB-EUVerwR § 5 Rn. 50. 371 Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (13). 372 Art. 16 Abs. 3 UAbs. 4 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 373 Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1349).

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die Rechtsakte der Kommission inhaltlich vorbereiten und damit weitgehend determinieren können.374 Zur verbindlichen Rechtsetzung befugt sind, wie vom Primärrecht gefordert, aber nicht die Behörden, sondern ist formal nur die Kommission. Voraussetzung hierfür ist aufgrund der primärrechtlichen Anforderungen des Art. 290 bzw. Art. 291 Abs. 2 AEUV, dass der Gesetzgeber oder der Rat die jeweilige Ermächtigung in einem Basisrechtsakt ausspricht. Dieser Basisrechtsakt muss zudem nach Art. 1 ESA-VO in den Tätigkeitsbereich der ESAs fallen. Abhängig von der Art der Ermächtigung im Basisrechtsakt (Delegation oder Durchführungsermächtigung) erlässt die Kommission entweder „technische Regulierungsstandards“ oder „technische Durchführungsstandards“. Sie ergehen als Verordnungen oder Beschlüsse und entfalten daher gegenüber ihren Adressaten die nach Art. 288 Abs. 2 und 4 AEUV vorgesehenen Rechtswirkungen.375 Die Kommission unterliegt dabei zwingend einer engen Abstimmungspflicht mit der ESA. 118 Wiewohl sie Autorin der Standards bleibt, zeigt sich hiermit ein Regulierungsansatz, der die Fachbehörde für sachlich fachkundiger als die Kommission hält und ihr Fachwissen in den Rechtsetzungsprozess integrieren will. Ziel ist es, dem einheitlichen Aufsichtsrecht, dem single rulebook, näherzukommen.376 Angesichts der zwingenden Vorgaben der Art. 290 und Art. 291 Abs. 2 AEUV bleibt aber festzuhalten, dass das Letztentscheidungsrecht über den Inhalt delegierter Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte, vorbehaltlich der Ingerenzrechte von Parlament und Rat, bei der Kommission liegen muss und nicht auf die ESAs übertragen werden darf.377 Im Übrigen hängt es von der Entscheidung des Gesetzgebers ab, ob und welche Fragen überhaupt einer Regulierung durch ESAs und Kommission überlassen werden. 2. Technische Regulierungsstandards Verfügt die Kommission über eine Ermächtigung zur delegierten Rechtsetzung nach 119 Art. 290 AEUV, so können die ESAs Entwürfe für sog technische Regulierungsstandards erstellen, Art. 10 ESA-VO. Empfängerin der Delegation bleibt die Kommission, doch darf sie sich zur Erfüllung dieser Aufgabe der ESAs bedienen. Art. 10 ESA-VO schränkt indes das Recht der Kommission, autonom über den Inhalt des delegierten Rechtsakts zu entscheiden, erheblich ein.378 So beschränkt sich nach Art. 10 Abs. 1 UAbs. 1 ESA-VO die Rolle der Kommission darauf, den Entwurf zu billigen. Will die Kommission von dem Entwurf abweichen oder ihn gänzlich ablehnen, so muss sie sich zuvor mit der jeweiligen ESA abstimmen, Art. 10 Abs. 1 UAbs. 6–8 ESA-VO. Die Kommission muss sich auch grundsätzlich auf einen solchen Entwurf stützen und darf nur ausnahmsweise selbst gesetzgeberisch tätig werden, Art. 10 Abs. 3 ESA-VO. Selbst in diesem Fall unterliegt sie einer Abstimmungspflicht gegenüber der zuständigen ESA. Das Spannungsverhältnis zu Art. 290 AEUV liegt damit auf der Hand.379 Angesichts des Umstands, dass primärrechtlich nur die Kommission die Empfängerin einer Delegationsermächtigung ist, müssen die Verfahrensregeln der ESA-VO im Licht der primärrechtlichen Vorgaben zugunsten der Kommission ausgelegt und gehandhabt werden. Art. 11 ESA-VO befristete schließlich die Befugnisübertragung auf die Kommission bis 120 zum 15.12.2014, sieht aber automatische Verlängerungen vor. Übereinstimmend mit 374 Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1345); Schammo CMLRev. 2011, 1879 (1883). 375 Wymeersch ECFR 2010, 240 (258). 376 Alexander, ERA Forum 2011, S. 229, 239; Schammo CMLRev. 2011, 1879 (1883). Kritisch hierzu Binder GPR 2011, 34 (38). 377 Chamon CMLRev. 2011, 1055 (1069 f.); Michel DÖV 2011, 728 (732); Schammo CMLRev. 2011, 1879 (1883). 378 Chamon CMLRev. 2011, 1055 (1068 f.). 379 Chamon CMLRev. 2011, 1055 (1069 f.).

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht Art. 290 Abs. 2 AEUV können Parlament und Rat die Befugnisübertragung jedoch jederzeit widerrufen. Zusätzlich verfügen Parlament und Rat nach Art. 13 ESA-VO über das Recht, Einwände gegen einen technischen Regulierungsstandard zu erheben. 3. Technische Durchführungsstandards

121 Sieht ein Sekundärrechtsakt (Basisrechtsakt) vor, dass die Kommission nach Art. 291 Abs. 2 AEUV Durchführungsrechtsakte erlassen kann, so kann die zuständige ESA Entwürfe für sog technische Durchführungsstandards entwickeln, die der Kommission zur Zustimmung vorgelegt werden, Art. 15 ESA-VO. Auch in diesem Fall bleibt die Kommission die Inhaberin der Ermächtigung, die Durchführungsrechtsakte in eigenem Namen zu erlassen, doch unterliegt sie wiederum einer engen Abstimmungspflicht mit der ESA.

VI. Aufsichtliche Befugnisse 1. Allgemeines 122 Wie bei den regulatorischen Aufgaben unterliegen die aufsichtlichen Befugnisse, dh das Recht, im Einzelfall durch Beschluss oder andere rechtserhebliche Maßnahmen gegenüber nationalen Aufsichtsbehörden und Finanzinstituten zu handeln, dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Gegenüber den Finanzinstituten erfüllt er zugleich die Funktion des Vorbehalts des Gesetzes. Tatbestandsvoraussetzung ist stets, dass verbindliches Sekundärrecht (oder Tertiärrecht in Gestalt der technischen Standards) keine Beachtung gefunden hat. Die aufsichtlichen Befugnisse sind damit akzessorisch zum materiellen Aufsichtsrecht. Die Frage, wer im Einzelfall Adressat der Beschlüsse sein kann, geht auf eine wichtige systematische Unterscheidung zurück: Die nationalen Aufsichtsbehörden können nach Maßgabe der Art. 17–19 ESA-VO stets Adressaten sein. Dagegen verbleibt die laufende Aufsicht über einzelne Finanzinstitute grundsätzlich in der Zuständigkeit der nationalen Aufsichtsbehörden.380 Die subsidiäre Zuständigkeit der ESAs gegenüber den Finanzinstituten entsteht nur bei einem rechtswidrigen Nichthandeln der nationalen Aufsichtsbehörden und begründet eine Art von Selbsteintrittsrecht der ESAs.381 In diesem Fall erstreckt sich die Zuständigkeit auf jedes Finanzinstitut, das bestehenden europarechtlichen Pflichten nicht nachgekommen ist, gleichgültig ob das Institut grenzüberschreitend tätig ist oder nicht. Eine originäre Zuständigkeit kennt das Europarecht bislang nur für die Aufsicht über Ratingagenturen, für die die ESMA verantwortlich ist. 2. Verbraucherschutz; Warnungen 123 Eine der Neuerungen des neuen Aufsichtssystems liegt darin, dass der Verbraucherschutz als Aufgabe der drei ESAs ausdrücklich verankert wurde. Ziel soll es sein, Transparenz, Einfachheit und Fairness von Produkten und Tätigkeiten der Finanzinstitute zugunsten der Verbraucher durchzusetzen.382 Neben Analysetätigkeiten und beratenden Aufgaben können die ESAs auch „neue und bereits bekannte Finanztätigkeiten“ überwachen. Stellt eine Finanztätigkeit nach Auffassung einer ESA eine ernsthafte Bedrohung für die Aufsichtsziele dar, zu denen der Verbraucherschutz gehört, können die ESAs auch Warnungen aussprechen.383 Das Recht, Warnungen auszusprechen, erstreckt sich nach dem Wortlaut der Vorschrift überdies auf alle anderen Aufsichtsziele. Die Behörde ist insoweit strikt an 380 Hopt NZG 2009, 1401 (1405); Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (9). Zum politischen Streit um diese Frage Schammo CMLRev. 2011, 1879 (1887 f.). 381 Kämmerer NVwZ 2011, 1281 (1284 f.) 382 Art. 9 Abs. 1 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 383 Art. 9 Abs. 3 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010.

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das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden, was zunächst bedeutet, dass sie den zugrunde liegenden Sachverhalt umfassend und objektiv aufgeklärt haben muss. Der Inhalt der Warnung muss dem Maß der Gefahr entsprechen und in sprachlicher Hinsicht neutral gehalten sein. 3. Rechtsaufsicht über nationale Aufsichtsbehörden Die ESAs können eine Form von supranationaler Rechtsaufsicht ausüben,384 um sicherzu- 124 stellen, dass nationale Aufsichtsbehörden den sekundärrechtlichen Vorgaben sowie den technischen Regulierungsstandards und Durchführungsstandards nachkommen.385 Zu diesem Zweck kann eine ESA Untersuchungen durchführen, ob tatsächlich eine Verletzung von Sekundär- bzw. Tertiärrecht vorliegt, die in eine Empfehlung an die nationale Aufsichtsbehörde münden kann. Hieran schließt sich ein gestuftes Verfahren an, wenn die nationale Aufsichtsbehörde der Empfehlung, obwohl diese nach Art. 288 Abs. 5 AEUV rechtlich unverbindlich ist, nicht nachkommt. Zunächst kann die Kommission eine förmliche Stellungnahme abgeben und die nationale Aufsichtsbehörde unter Fristsetzung auffordern, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Handelt die nationale Aufsichtsbehörde auch dann nicht, bestehen parallel zwei Möglichkeiten. Zum einen kann die Kommission gegenüber dem Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV initiieren. Zum anderen kann die ESA einen Beschluss an einzelne Finanzinstitute richten, die das Ziel haben, einen unionsrechtskonformen Zustand herzustellen.386 Für diesen Fall muss das anwendbare Sekundärrecht, das durch den Beschluss der ESA vollzogen wird, unmittelbar anwendbar sein. Bei Richtlinien nach Art. 288 Abs. 3 AEUV scheidet diese Möglichkeit von vornherein aus, denn Richtlinien dürfen nicht herangezogen werden, um Pflichten einzelner Privater zu begründen.387 Zugleich können die ESAs sich nicht auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten stützen, da dieses ihnen keine Befugnisse verleiht. Der Beschluss, so er zulässigerweise ergehen darf, hat Vorrang gegenüber widersprechenden, früheren Maßnahmen der Mitgliedstaaten,388 was aber ohnehin aus dem allgemeinen Vorrang des Unionsrechts folgt. Welche Rechtsfolgen angeordnet werden können, schreiben die Verordnungen nicht vor, womit die ESAs über ein weites Ermessen verfügen. 389 Nur beispielhaft wird die Möglichkeit genannt, dass die ESA die „Einstellung jeder Tätigkeit“ anordnen kann. Angesichts des generalklauselartigen Charakters dieser Befugnis sind umso strengere An- 125 forderungen an die Verhältnismäßigkeit des Beschlusses zu stellen. Bei Eingriffen in die unternehmerische Tätigkeit von Finanzinstituten zwingt Art. 16 GRC zu einer strikten Beachtung der grundrechtlichen Bindung, der die ESAs unterliegen. Über eine Befugnis zur zwangsweisen Durchsetzung eines Beschlusses oder zum Erlass von Sanktionen verfügen die ESAs nicht.390

384 385 386 387

Triantafyllou EuR 2010, 585 (596). Art. 17 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. Art. 17 Abs. 6 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. St. Rspr., EuGH 8.10.1987 – Rs. 80/86, Slg 1987, 3969, Rn. 9 – Kolpinghuis Nijmegen; 3.5.2005 – verb. C-387/02, C-391/02 und C-403/02, C-387/02, C-391/02, C-403/02, Slg 2005, I-3565, Rn. 74 – Berlusconi. Aus dem Schrifttum Calliess/Ruffert/Ruffert EUV/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 57; Streinz/ Schroeder EUV/AEUV AEUV Art. 288 Rn. 110. 388 Art. 17 Abs. 7 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 389 Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (11). 390 Vgl. Moloney CMLRev. 2010, 1317 (1370).

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht 4. Beilegung grenzübergreifender Meinungsverschiedenheiten

126 Zu den weiteren Aufgaben der ESAs gehört es, Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen nationalen Aufsichtsbehörden bei grenzübergreifenden Fällen beizulegen.391 Die damit verbundene Befugnis, verbindliche Beschlüsse auszusprechen, dient dem Ziel, Aufsichtsarbitrage zu verhindern,392 wenn die Behörden eines Mitgliedstaats in der Praxis die europarechtlichen Vorgaben weniger stringent anwenden. Aber auch sachliche Differenzen über die Auslegung und Anwendung des Sekundärrechts können die Ursache solcher Meinungsverschiedenheiten sein. Im Vordergrund steht dabei, eine gütliche Einigung zwischen den beteiligten Aufsichtsbehörden herbeizuführen, wobei die jeweils zuständige ESA als Vermittlerin handelt. Erzielen die nationalen Aufsichtsbehörden keine Einigung innerhalb einer von der ESA gesetzten Frist, kann die ESA einen Beschluss fassen, welche Maßnahmen zu erfolgen oder zu unterbleiben haben.393 Zwar sehen die ESA-Verordnungen hier eine Rechtsverletzung materiellen Aufsichtsrechts nicht als Voraussetzung eines Handelns vor. Jedoch kann eine durch die ESAs ausgesprochene Verpflichtung nur darauf zielen, dass ein rechtskonformer Zustand wiederhergestellt wird. 127 Der Beschluss bindet nach Art. 19 Abs. 3 ESA-VO die nationalen Aufsichtsbehörden, an die er gerichtet wurde, was aber ohnehin aus Art. 288 Abs. 4 AEUV folgt. Für die nationale Aufsichtsbehörde, an die er gerichtet ist, entfaltet er Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit.394 Die daran geknüpfte Pflicht der nationalen Aufsichtsbehörde zur Durchführung gemäß Art. 291 Abs. 1 AEUV schließt den Gebrauch von Ermessen aus, soweit nicht Sekundärrecht selbst oder der Beschluss diesen Entscheidungsspielraum gewähren. Die nationale Aufsichtsbehörde handelt im Übrigen auf der Grundlage ihres heimischen Aufsichtsrechts und nicht auf der Grundlage der ESA-VO, um den Beschluss gegenüber den ihrer Aufsicht unterworfenen Finanzinstituten durchzuführen. Das kann die Frage aufwerfen, ob die Aufsichtsbefugnisse im nationalen Recht überhaupt an den Anforderungen ausgerichtet sind, die die ESA-VO stellen. Prinzipiell ist es Aufgabe des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, das nationale Aufsichtsrecht so auszugestalten, dass es den europarechtlichen Anforderungen genügt. Da diese aber im Wesentlichen auch nur generalklauselartig gefasst sind, spricht viel dafür, dass de lege ferenda die Generalklauseln des nationalen Rechts ebenfalls ausgebaut werden müssen. 128 Zudem können die ESAs einen Beschluss direkt an ein Finanzinstitut richten und ihm damit bestimmte Pflichten auferlegen, wenn die nationale Aufsichtsbehörde nicht selbst dem Beschluss nach Art. 19 Abs. 3 ESA-VO nachgekommen ist.395 Wiederum setzt dies voraus, dass das zugrunde liegende Sekundärrecht unmittelbar anwendbar ist. Unklar ist, wie mit Ermessenspielräumen umzugehen ist, die das Sekundärrecht den nationalen Behörden gewährt. Während Erwägungsgrund 24 am Ende davon spricht,396 dass die Beschlüsse der ESAs dieses Ermessen nicht ersetzen können, übt die ESA nach dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 4 ESA-VO ein eigenes Ermessen aus. 5. Krisenprävention 129 Verschiedene, zum Teil einschneidende Maßnahmen sehen die Verordnungen vor, um Systemkrisen zu vermeiden. Ziel solcher Maßnahmen soll sein, einzelne Finanzinstitute und das Finanzsystem insgesamt widerstandsfähiger zu machen. Zu den Instrumenten zählen 391 392 393 394 395 396

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Art. 19 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. Vgl. Erwägungsgrund 10 bzw. 11 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. Art. 19 Abs. 2 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. Zweifelnd Wymeersch ECFR 2010, 240 (254 f.). Art. 19 Abs. 4 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. Hierauf verweisen Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (15).

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C. Das Europäische System der Finanzaufsicht

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Stresstests nach Art. 21 Abs. 2 lit. b iVm Art. 32 ESA-VO, bei denen geprüft wird, wie sich das Eigenkapital der Finanzinstitute bei bestimmten Krisenszenarien entwickeln würde. In der Vergangenheit bestand das rechtliche Problem darin, dass die European Banking Authority (EBA) einen Eigenkapitalbegriff verwandte, der durch das geltende Sekundärrecht nicht gedeckt war. Die Veröffentlichung der Ergebnisse des Stresstests, die auf rechtlich nicht abgesicherten Annahmen beruhen, stellt dann einen unzulässigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Finanzinstitute dar. Art. 9 Abs. 5 ESA-VO erlaubt den ESAs überdies, bestimmte Finanztätigkeiten vorüberge- 130 hend zu verbieten oder zu beschränken. Was mit Finanztätigkeiten gemeint ist, definieren die Verordnungen nicht, so dass auch unklar ist, ob nur Finanzinstitute oder auch dritte Personen Adressaten solcher Verbote sein können. Als tatbestandliche Voraussetzungen nennen die Verordnungen nur die Gefährdung des ordnungsgemäßen Funktionierens und der Integrität der Finanzmärkte oder der Stabilität des Finanzsystems. Die Anwendung des Art. 9 Abs. 5 ESA-VO wird dann durch zwei alternative Voraussetzungen eingeengt. Einmal können solche Verbote unter den spezifischen Voraussetzungen anderer Sekundärrechtsakte ausgesprochen werden, für deren Durchführung die ESAs zuständig sind. Dabei handelt es sich vor allem um eine Verweisung auf andere Befugnisgrundlagen. Alternativ kommen solche Verbote nach Maßgabe des Art. 18 ESA-VO, dh in der Situation einer Systemkrise, in Betracht. Aus diesem Zusammenhang wird bereits deutlich, dass Verbote nach Art. 9 Abs. 5 ESA-VO nur ultima ratio zur Vermeidung einer schweren gesamtwirtschaftlichen Notlage sein können. Jede andere Interpretation wäre mit dem europarechtlichen Rechtsstaatsgebot nicht mehr zu vereinbaren. 6. Bewältigung von Systemkrisen Art. 18 ESA-VO regelt den gesamtwirtschaftlich wie rechtlich wohl schwierigsten Fall, in 131 dem die ESAs zum Handeln befugt sind: die Bewältigung von Systemkrisen. Die Entscheidung, ob eine Krisensituation vorliegt, treffen nicht die Aufsichtsbehörden, vielmehr erfolgt sie durch den Rat in der Form des Beschlusses nach Art. 288 Abs. 4 AEUV.397 Die Verordnungen klären die Aufgriffsschwelle nicht eindeutig, sondern sprechen in Art. 18 Abs. 1 ESA-VO von „ungünstigen Entwicklungen, die das ordnungsgemäße Funktionieren und die Integrität von Finanzmärkten oder die Stabilität des Finanzsystems in der Union als Ganzes oder in Teilen ernsthaft gefährden können.“ Damit genießt der Rat einen weiten Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum, der in der Sache der Komplexität solcher Krisen und ihrer schwierigen Prognose geschuldet ist. Fachlich kann sich der Rat auf Empfehlungen des ESRB oder der ESAs stützen. Der Beschluss des Rates muss in regelmäßigen Abständen, mindestens einmal pro Monat, überprüft werden und tritt automatisch außer Kraft, wenn er nicht verlängert wird. Auf der Grundlage eines solchen Beschlusses des Rates können die ESAs die nationalen 132 Aufsichtsbehörden verpflichten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um auf solche Entwicklungen zu reagieren.398 Der inhaltliche Spielraum wird dabei durch das Sekundärrecht vorgegeben, für dessen Durchführung die ESAs zuständig sind. Kommt eine nationale Aufsichtsbehörde dem Beschluss innerhalb der von der ESA gesetzten Frist nicht nach, kann die ESA einen entsprechenden Beschluss direkt an die Finanzinstitute richten.399 Das setzt aber voraus, dass das einzelne Finanzinstitut Pflichten aus dem Sekundärrecht oder Tertiärrecht nicht beachtet. Ein Beschluss darf aber in dieser Situation nur erlassen werden, wenn das entsprechende Sekundär- bzw. Tertiärrecht unmittelbar anwendbar ist, was 397 Art. 18 Abs. 2 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 398 Art. 18 Abs. 3 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010. 399 Art. 18 Abs. 4 VOen (EU) Nr. 1093–1095/2010.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht bei Richtlinien durchweg zu verneinen ist. Eine weitere Tatbestandsvoraussetzung ist die Dringlichkeit des Einschreitens. Als Rechtsfolge lässt Art. 18 Abs. 4 ESA-VO die „erforderlichen“ Maßnahmen zu, wozu auch die Anordnung zählt, jede Tätigkeit einzustellen. Angesichts des großen, außerordentlich weiten Ermessens der ESAs ist den Anforderungen aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip umso strengere Beachtung zu schenken. In der Praxis ist indes kaum denkbar, dass eine Systemkrise allein durch Beschlüsse der ESAs bewältigt werden kann. Hinzutreten müssen geldpolitische Maßnahmen der EZB und der nationalen Zentralbanken sowie ggf. Abwicklungsmaßnahmen im Rahmen des SRM und Kapitalhilfen seitens des Europäischen Stabilitätsmechanismus und der Mitgliedstaaten.

VII. Der Europäische Ausschuss für Systemrisiken 133 Einen weiteren Baustein des Europäischen Systems der Finanzaufsicht stellt der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (European Systemic Risk Board – ESRB) dar.400 Mit seiner Errichtung wollte der europäische Gesetzgeber die organisatorische Lücke schließen, die zwischen den für die Geldpolitik zuständigen Zentralbanken und den auf die Einzelaufsicht über Finanzinstitute fokussierten Aufsichtsbehörden besteht. Der ESRB hat dabei die Funktion, die für die Finanzmarktaufsicht so bedeutsame Ebene der makroökonomischen Entwicklungen zu beobachten, zu analysieren und in ihren Konsequenzen für die Einzelaufsicht zu bewerten. Damit sollen sich makroprudenzielle und mikroprudenzielle Aufsicht ergänzen.401 134 Die makroökonomische Aufgabe des ESRB findet ihren konkreten Gegenstand darin, die Systemrisiken auf den Finanzmärkten zu identifizieren und auf der Grundlage entsprechender Analysen Warnungen und Empfehlungen auszusprechen. Dabei beschränkt sich der ESRB nicht auf bestimmte Teilmärkte oder Wirtschaftssektoren, sondern ist für das gesamte Finanzsystem zuständig, womit Finanzinstitute, -märkte, -produkte und -infrastrukturen gemeint sind.402 Geographisch ist die Aufgabe auf die Union begrenzt, was angesichts des globalen Charakters der Finanzmärkte aber nicht zu dem fatalen Schluss führen darf, Risikoquellen außerhalb dieses Raums außer Betracht zu lassen. Der Anspruch, Systemrisiken überhaupt zu erkennen (→ Rn. 29 ff.), erfordert eine umfassende Erhebung, Gewichtung und Verknüpfung von Informationen durch den ESRB.403 Da hierfür allgemein anerkannte Verfahren und Modelle fehlen bzw. erst noch entwickelt werden müssen und historische Erfahrungswerte nur begrenzt auf neuartige Risiken übertragbar sind, genießt der ESRB einen denkbar weiten Spielraum für die Wahrnehmung seiner Aufgabe. Die Flexibilität des Überwachungsansatzes ist schließlich der Aufgabe selbst geschuldet, da Systemrisiken räumlich, zeitlich und sachlich in hohem Maße variabel sind. Ungeachtet dessen kann die Datenerhebung auch Vertraulichkeits- und Geheimhaltungsinteressen einzelner Finanzinstitute berühren. Dem trägt die VO dadurch Rechnung, dass grundsätzlich nur aggregierte Daten erhoben werden, so dass einzelne Institute nicht erkennbar sind.404 Nur ausnahmsweise dürfen Daten über einzelne Finanzinstitute erhoben werden,405 was zwar einen Grundrechtseingriff darstellt, der aber durch die Aufgabenstellung des ESRB in der Verordnung gedeckt ist.

400 VO (EU) Nr. 1092/2010, ABl. 2010 L 331, 1. 401 Alexander, ERA Forum 2011, S. 229, 237 f.; Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (23); Papathanassiou/Zagouras WM 2010, 1584 (1585). 402 Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 2 lit. b VO (EU) Nr. 1092/2010. 403 Hierfür bildet Art. 15 VO (EU) Nr. 1092/2010 die Rechtsgrundlage. 404 Art. 15 Abs. 3 VO (EU) Nr. 1092/2010. 405 Art. 15 Abs. 6 VO (EU) Nr. 1092/2010.

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D. Die Europäische Bankenunion

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Warnungen, die der ESRB ausspricht, sollen auf erhebliche bzw. signifikante Systemrisi- 135 ken aufmerksam machen.406 Hiermit können Empfehlungen verbunden werden, welche Abhilfemaßnahmen zu ergreifen sind. Die Adressaten von Warnungen und Empfehlungen sind nach Ermessen des ESRB die Union insgesamt, einzelne oder mehrere Mitgliedstaaten, eine oder mehrere ESAs oder eine oder mehrere nationale Aufsichtsbehörden. Auch die Kommission kann Adressatin sein, soweit eine Empfehlung auf eine Rechtsvorschrift der Union zielt. Der ESRB richtet die Warnungen und Empfehlungen grundsätzlich streng vertraulich an die Adressaten, kann sie aber auch nach Maßgabe des Art. 16 VO (EU) Nr. 1092/2011 veröffentlichen. Obwohl Warnungen keinen Rechtscharakter haben, sondern Wissenserklärungen darstellen, und Empfehlungen nach Art. 288 Abs. 5 AEUV rechtlich unverbindlich sind,407 schafft die Verordnung einen „regulatorischen“ Durchsetzungsmechanismus: Der Adressat der Empfehlung, der diese nicht beachtet, muss sich „in angemessener Weise“ für sein Nichthandeln gegenüber dem ESRB rechtfertigen.408 Dieser act or explain-Mechanismus409 dürfte meist den Druck erhöhen, eine Empfehlung tatsächlich zu beachten. Welche Gründe ein Nichthandeln rechtfertigen, schreibt die Verordnung nicht vor. Insofern kann es sich um tatsächliche oder rechtliche Hindernisse in einem Mitgliedstaat handeln, der Empfehlung nachzukommen. Abweichende Risikoeinschätzungen sind einem Adressaten ebenfalls nicht verwehrt, ziehen aber in jedem Fall einen überdurchschnittlichen Begründungsaufwand nach sich. Organisatorisch stellt der ESRB eine nicht-rechtsfähige Einrichtung der EU dar. Er setzt 136 sich aus einem Verwaltungsrat, einem Lenkungsausschuss, einem Sekretariat, einem Beratenden Wissenschaftlichen Ausschuss und einem Beratenden Fachausschuss zusammen.410 Den Vorsitz führt in den ersten fünf Jahren der Präsident der EZB, womit fachlich die Nähe zu den geldpolitischen Analysen und Entscheidungen des Eurosystems gesichert ist.411 Das Sekretariat wird ebenfalls von der EZB gestellt,412 was bedeutet, dass die Datensammlung und -auswertung faktisch über sie erfolgt. Eine eigene aufsichtsrechtliche Rolle ist damit nicht verbunden.413

D. Die Europäische Bankenunion I. Überblick Die Bankenunion bildet eine Antwort auf die schwere Schuldenkrise in der Europäischen 137 Union, die sich ab dem Frühjahr 2010 unmittelbar an die Finanzkrise anschloss.414 Beabsichtigt war nicht nur, die Schuldenkrise zum Stillstand zu bringen, sondern auch zu verhindern, dass künftige Krisen der Banken und die damit verbundenen Kosten nicht mehr auf die Staatshaushalte durchschlugen – und umgekehrt. Mit diesem hochpolitischen Grundkonzept415 schuf der europäische Gesetzgeber im Jahr 2013 zunächst den Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism, SSM). Er zeichnet sich durch umfangreiche aufsichtsrechtliche Befugnisse der Europäischen Zentralbank (EZB) gegen406 Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 16 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1092/2010; vgl. Papathanassiou/Zagouras WM 2010, 1584 (1585): Bezug auf „systemische Strukturdefizite“. 407 Vgl. zur „moral suasion“ Papathanassiou/Zagouras WM 2010, 1584 (1587). 408 Art. 17 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1092/2010. 409 Hopt NZG 2009, 1401 (1405); Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2011, 1 (22). 410 Art. 4 ff. VO (EU) Nr. 1092/2010. 411 Art. 5 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1092/2010. 412 VO (EU) Nr. 1096/2010, ABl. 2010 L 331, 162. Hierzu Papathanassiou/Zagouras WM 2010, 1584 (1587). 413 Vgl. Alexander, ERA Forum 2011, S. 229, 241. 414 Zur Entstehung des SSM vgl. Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, § 5 Rn. 7 ff. 415 Vgl. auch Binder in ders./Gortsos, The European Banking Union, 2016, S. 3 f.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht

über den im Euro-Währungsraum niedergelassenen Kreditinstituten aus. Die Wahl der EZB als Aufsichtsbehörde wurde von der Erwägung getragen, dass sie aufgrund ihrer geldpolitischen Aufgaben über eine intensive Kenntnis der Finanzmärkte und als Zentralbank über ein hohes Ansehen verfügt und personell bereits gut ausgestattet ist. Zudem sollte der SSM wirksamer als das ESFS die Ineffizienzen beseitigen, die sich aus national unterschiedlichen Vollzugsstandards innerhalb des Binnenmarkts ergeben.416 Überdies sprach für die Aufgabenübertragung auf die EZB, die nach Art. 13 EUV ein Organ der Union ist, dass die Meroni-Rechtsprechung (→ Rn. 102) auf sie nicht anwendbar ist.417 Die Rechtsgrundlage des SSM bildet die VO (EU) Nr. 1024/2013 (SSM‑VO), die durch eine von der EZB erlassene Rahmenverordnung (SSM-RahmenVO)418 ergänzt wird. Die EZB nahm ihre Tätigkeit am 4.11.2014 auf. Neben diese „erste“ Säule der Bankenunion trat im Jahr 2014 der Einheitliche Abwick138 lungsmechanismus (Single Restructuring Mechanism, SRM), der – insoweit komplementär zur Zuständigkeit der EZB – für die geordnete Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten verantwortlich ist. Mit dem SRM sollen gesamtwirtschaftliche Risiken aufgefangen werden, wenn bei einem Versagen der aufsichtsrechtlichen Mechanismen des SSM ein Zusammenbruch von Banken droht, der die Stabilität des Finanzsystems gefährden könnte. Die Rechtsgrundlage des SRM bildet die VO (EU) Nr. 806/2014, die zugleich der Umsetzung der Richtlinie 2015/59/EU zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen dient. Zum SRM gehört ein Einheitlicher Abwicklungsfonds, dessen Mittel durch von den Kreditinstituten jährlich geleistete Beiträge aufgefüllt werden. Nach wie vor ist es geplant, diese beiden Säulen der Bankenunion durch ein einheitliches und zentralisiertes System der Einlagensicherung zu ergänzen. Rechtstechnisch würde es sich dabei um eine Änderung der VO (EU) Nr. 806/2014 handeln.

II. SSM 1. Rechtsgrundlage 139 Der Unionsgesetzgeber stützte die SSM‑VO auf Art. 127 Abs. 6 AEUV, der dem Rat gestattet, „besondere Aufgaben“ in der Bankenaufsicht auf die EZB zu übertragen. Kein juristischer Konsens bestand bislang, was unter derartigen Aufgaben zu verstehen ist. Im deutschsprachigen Schrifttum herrschte die Ansicht vor, dass jedenfalls nicht alle aufsichtsrechtlichen Aufgaben auf die EZB übertragen werden dürfen, weshalb die nationalen Behörden autonome Entscheidungsbereiche beibehalten müssen.419 Der Unionsgesetzgeber entschied sich für ein kompliziertes Regelungssystem, das einerseits eine abschließende Liste aufsichtsrechtlicher Sachaufgaben in Art. 4 SSM‑VO umfasst und andererseits nach der Bedeutung der beaufsichtigten Banken unterscheidet, vgl. Art. 6 Abs. 4 SSM‑VO. So dient der SSM primär der Abwehr von Gefahren für die Stabilität des Finanzsystems420 und weniger anderen aufsichtsrechtlichen Zielen wie dem Anlegerschutz, der in der nationalen Zuständigkeit verbleibt. Auch die zweite Unterscheidungskategorie spiegelt die Er416 Vgl. Binder in ders./Gortsos, The European Banking Union, 2016, S. 5 f. 417 Diese Rechtsprechung hätte auch eine Übertragung der Aufgaben auf die EBA ausgeschlossen, Ceyssens, Teufelskreis zwischen Banken und Staatsfinanzen – Der neue Europäische Bankaufsichtsmechanismus, NJW 2013, 3704 (3705); Glos/Benzing in Binder/Glos/Riepe § 2 Rn. 7. 418 VO (EU) Nr. 468/2014, ABl. 2014 L 141, 1. 419 Calliess/Ruffert/Häde EUV/AEUV AEUV Art. 127 Rn. 56; Herdegen WM 2012, 889 (1891); Kämmerer/Starski ZG 2013, 318 (325 f.); Streinz/Kempen AEUV Art. 127 Rn. 25; Lehmann/Manger-Nestler ZBB 2014, 1 (6); Waldhoff in Siekmann (Hrsg.), Europäische Währungsunion, 2013, AEUV Art. 127 Rn. 72. 420 Art. 1 Abs. 1 SSM‑VO.

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D. Die Europäische Bankenunion

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fahrungen der Finanzkrise wie auch der Schuldenkrise mit der schwierigen Problematik systemisch relevanter Banken wider. Die EZB ist ausschließlich und direkt zuständig für die bedeutenden – typischerweise systemrelevanten – Banken, während die Aufsicht über die weniger bedeutenden Banken in nationaler Verantwortung verbleibt, aber unter der Kontrolle der EZB ausgeübt wird. In Hinblick auf die von den Verträgen hervorgehobene Bedeutung der Stabilität des Bankensystems (vgl. Art. 127 Abs. 5 und Art. 136 Abs. 3 AEUV) erscheint die gesetzgeberische Deutung jedenfalls vertretbar, dass die „besonderen Aufgaben“ nach Art. 127 Abs. 6 AEUV sich vor allem auf die verwaltungsmäßige Absicherung eben dieser Stabilität beziehen. Daher ist es von der primärrechtlichen Rechtsgrundlage noch gedeckt, wenn die EZB vor allem Aufgaben in Bezug auf systemrelevante Banken wahrnimmt.421 Die Konkretisierung der Kriterien, wann ein Institut als systemrelevant angesehen werden kann, obliegt dabei grundsätzlich dem Unionsgesetzgeber. Auch das BVerfG hielt in seinem Urteil zur Bankenunion die SSM‑VO jedenfalls bei einer restriktiven Auslegung für noch mit Art. 127 Abs. 6 AEUV vereinbar.422 2. Räumlicher Geltungsbereich Der SSM erstreckt sich nur auf die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsraums (die „teil- 140 nehmenden Mitgliedstaaten“) und nicht auf den gesamten Binnenmarkt.423 Der rechtliche Grund für diese territoriale Begrenzung ergibt sich aus der Übergangsvorschrift des Art. 139 AEUV für die sog. Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung, die noch nicht den Euro als Währung eingeführt haben. In diesen Mitgliedstaaten entfalten die Maßnahmen der EZB nach Art. 132 AEUV keine rechtliche Wirkung, wie ausdrücklich aus Art. 139 Abs. 2 UAbs. 1 lit. e AEUV folgt. Damit entfällt die wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit einer einheitlichen Bankenaufsicht in allen Mitgliedstaaten. Die „Outs“ haben lediglich die Möglichkeit, nach Art. 7 SSM‑VO mit der EZB eine enge Zusammenarbeit zu begründen. Sie beruht auf einem Beschluss der EZB, dem ein Ersuchen des Mitgliedstaats vorausgeht. In seinem Ersuchen verpflichtet sich der Mitgliedstaat autonom, dass die Maßnahmen der EZB in der nationalen Rechtsordnung gleichsam rechtlich gespiegelt und von den nationalen Aufsichtsbehörden vollständig durchgesetzt werden. Sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird auch ein Mitgliedstaat außerhalb des EuroWährungsraums wie ein am SSM teilnehmender Mitgliedstaat behandelt. Bislang hat keiner der Mitgliedstaaten außerhalb der Eurozone von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. 3. Zuständigkeitsverteilung; Verbundstruktur des SSM Der SSM beruht auf einer komplexen Zuständigkeitsverteilung zwischen der EZB und 141 den zuständigen Behörden (national competent authorities, NCA) der teilnehmenden Mitgliedstaaten. Sie ist einerseits den rechtlichen Begrenzungen aufgrund von Art. 127 Abs. 6 AEUV und andererseits schwierigen politischen Kompromissen im Gesetzgebungsverfahren der SSM‑VO geschuldet. So ist die EZB in sachlicher Hinsicht ausschließlich für die in Art. 4 Abs. 1–2 SSM‑VO genannten Aufsichtsaufgaben zuständig.424 Dort nicht genannte Bereiche, wie bspw. der Verbraucherschutz und die Bekämpfung von Geldwäsche und Ter-

421 Glos/Benzing in Binder/Glos/Riepe § 2 Rn. 8; Kämmerer NVwZ 2013, 830 (834); Lackhoff, S. 16 f.; Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, § 5 Rn. 20; aA Kaufhold, S. 285 f.; Schmidt in ders./ Wollenschläger § 5 Rn. 71. 422 BVerfG 30.7.2019 - 2 BvR 1685/14 -, juris, Rn. 158 ff. 423 Art. 4 Abs. 1 iVm Art. 2 Nr. 1 SSM‑VO. 424 Vgl. EuGH 8.5.2019 – C-450/17 P, ECLI:EU:C:2019:372 Rn. 36 ff. – Landeskreditbank BadenWürttemberg – Förderbank.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht

rorismusfinanzierung, verbleiben in der Zuständigkeit der NCA.425 Im Bereich der makroprudenziellen Aufsicht nach Art. 5 SSM‑VO teilen sich dagegen EZB und NCA die Aufgaben. Eine weitere Zuständigkeitsgrenze besteht darin, dass die EZB nur für die Aufsicht über Kreditinstitute, nicht aber für andere Finanzinstitute zuständig ist. Zudem richtet sich die Zuständigkeitsverteilung zwischen EZB und NCA nach der Bedeutung der beaufsichtigten Kreditinstitute.426 Die Zuständigkeitsverteilung folgt dabei einer Betrachtung auf konsolidierter Basis, dh mit Blick auf die gesamte Konzernstruktur, in die die Kreditinstitute eingebunden sind.427 In direkter Zuständigkeit beaufsichtigt die EZB nur die bedeutenden Kreditinstitute. Alle anderen, weniger bedeutenden Kreditinstitute werden von den NCA in eigener Verantwortung beaufsichtigt,428 während die Zuständigkeit der EZB sich vorwiegend auf die Überwachung des behördlichen Handelns beschränkt,429 so dass von einer „indirekten Aufsicht“ gesprochen werden kann. 142 In organisatorischer Hinsicht stellt der SSM keine eigenständige rechtliche Institution, sondern eine hoch verdichtete Form eines europäischen Verwaltungsverbundes dar.430 Die Verbundstruktur ist neben der oben beschriebenen Zuständigkeitsverteilung dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur die EZB nach Art. 130 AEUV Unabhängigkeit genießt, sondern dass auch die nationalen Aufsichtsbehörden innerhalb des Aufgabenkreises des SSM unabhängig von Weisungen ihrer Mitgliedstaaten agieren können.431 Die SSM‑VO ordnet allerdings die nationalen Aufsichtsbehörden der EZB unter, soweit diese zum Erlass von internen Vorgaben befugt ist.432 Dazu gehören im Bereich der direkten Aufsicht das Recht zum Erlass von Anweisungen nach Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 SSM‑VO sowie im Bereich der indirekten Aufsicht das Recht, Verordnungen, Leitlinien und allgemeine Weisungen gegenüber den NCA zu erlassen, Art. 6 Abs. 5 lit. a SSM‑VO. Überdies übt die EZB nach Art. 6 Abs. 5 lit. c SSM‑VO die Aufsicht über das Funktionieren des Systems aus. 4. Direkte Aufsicht über bedeutende Kreditinstitute 143 Die Bedeutung eines Kreditinstituts und damit seine Zuordnung unter die direkte Aufsicht der EZB bemisst sich anhand der Größe, der Relevanz für die Wirtschaft der Union oder eines teilnehmenden Mitgliedstaats oder der Bedeutung der grenzüberschreitenden Tätigkeiten, Art. 6 Abs. 4 SSM‑VO. Diese Kriterien werden anhand des Bilanzwertes der Aktiva näher bestimmt. Stets zuständig ist die EZB für die drei größten Kreditinstitute eines teilnehmenden Mitgliedstaats und solche Banken, die durch den ESM finanziell unterstützt werden. Dabei handelte es sich zum Stand April 2019 um 117 Bankkonzerne im gesamten Euro-Währungsraum, die etwa 80 % der Aktiva des gesamten Bankensektors halten.433 Die Liste wird mindestens jährlich überprüft, was zur Folge haben kann, dass einzelne Kreditinstitute in Abhängigkeit von ihrer wirtschaftlichen Entwicklung heraufgestuft oder

425 Erwägungsgrund 28 SSM‑VO. S. auch Glos/Benzing in Binder/Glos/Riepe § 2 Rn. 10. 426 Art. 6 Abs. 4 SSM‑VO. Hierzu BVerfG 30.7.2019 - 2 BvR 1685/14 -, juris, Rn. 185 ff.; a.A. EuG 16.5.2017 - Rs. T-122/15, ECLI:EU:T:2017:337, Rn. 63; EuGH 8.5.2019 - Rs. C-450/17 P, ECLI:EU:C:2019:372, Rn. 38 ff. - Landeskreditbank Baden-Württemberg - Förderbank. 427 Art. 6 Abs. 4 SSM‑VO 428 Art. 6 Abs. 6 SSM‑VO. 429 Art. 6 Abs. 5 SSM‑VO. 430 Glos/Benzing in Binder/Glos/Riepe § 2 Rn. 9; Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, § 5 Rn. 61. 431 Art. 19 Abs. 1 SSM‑VO. 432 Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, § 5 Rn. 34 und 61; vgl. auch Lackhoff, S. 76. 433 S. die Angaben auf https://www.bankingsupervision.europa.eu/banking/list/who/html/index.en.html.

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abgestuft werden und entsprechend ein Zuständigkeitswechsel zwischen EZB und NCA eintritt.434 Die laufende Aufsicht über bedeutende Institute erfolgt durch gemeinsame Aufsichtsteams 144 (Joint Supervisory Teams, JST), die auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 3 S. 1 SSM‑VO errichtet werden. Jedes JST setzt sich aus Mitarbeitern der EZB und der nationalen zuständigen Aufsichtsbehörden zusammen.435 Die Zuständigkeit für die Einrichtung und Zusammensetzung eines JST liegt ausschließlich bei der EZB436, die auch den JST-Koordinator stellt.437 Der JST-Koordinator verfügt gegenüber den weiteren Mitgliedern des JST über ein Weisungsrecht,438 nicht zuletzt, um damit nationale Sichtweisen neutralisieren zu können.439 Die JST handeln stets als Behörde der EZB, so dass auch ihre Maßnahmen der EZB rechtlich zurechenbar sind.440 Aufgrund der SSM‑VO sind sie allerdings nicht berechtigt, eigene aufsichtsrechtliche Beschlüsse zu erlassen. Vielmehr bereiten sie die Entwürfe solcher Beschlüsse vor, die danach das Aufsichtsgremium gemäß Art. 26 SSM‑VO passieren. Die fertigen Beschlussentwürfe legt das Aufsichtsgremium sodann dem EZBRat vor, der das zentrale Entscheidungsorgan der EZB bildet. Für die Aufsichtsverfahren der EZB gegenüber den von ihnen beaufsichtigten Banken gelten die verfahrensrechtlichen Vorgaben nach Art. 22 SSM‑VO sowie aufgrund von Art. 25 ff. SSM-RahmenVO. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen die Aufsichtsmaßnahmen der EZB besteht nach Art. 263 Abs. 4 AEUV zum Gericht. Zudem können die Adressaten von Aufsichtsmaßnahmen den administrativen Überprüfungsausschuss nach Art. 24 SSM‑VO anrufen, der eine interne Kontrolle ermöglicht. 5. Indirekte Aufsicht Im Rahmen der indirekten Aufsicht kann die EZB gegenüber den NCA Verordnungen, 145 Leitlinien oder allgemeine Weisungen erlassen, nach denen diese ihre Aufgaben aufgrund von Art. 4 SSM‑VO durchführen, Art. 6 Abs. 5 lit. a SSM‑VO. Einzelfallweise ist sie auch berechtigt, die direkte Zuständigkeit über ein weniger bedeutendes Kreditinstitut an sich zu ziehen, Art. 6 Abs. 5 lit. b SSM‑VO.441 Abgesehen von diesen Ingerenzmöglichkeiten bleiben die NCA aber für ihre Aufsichtsbeschlüsse gegenüber den Kreditinstituten verantwortlich, wie aus Art. 6 Abs. 6 UAbs. 1 SSM‑VO ausdrücklich folgt. Das bedeutet, dass die Aufsichtsverfahren der NCA sich nach dem nationalen Verfahrensrecht richten und Rechtsschutz gegen ihre Maßnahmen vor nationalen Gerichten gegeben ist. Einen unmittelbaren aufsichtsrechtlichen Zugriff auf die weniger bedeutenden Institute hat die EZB jedoch im Rahmen ihrer Untersuchungsbefugnisse nach Art. 10–13 SSM‑VO. 6. Gemeinsame Aufsichtsverfahren Unabhängig von der Einstufung eines Kreditinstituts als bedeutend oder weniger bedeu- 146 tend sind EZB und NCA in zwei Aufgabenbereichen gemeinsam für die Durchführung der Verwaltungsverfahren zuständig. Diese gemeinsamen Aufsichtsverfahren betreffen die Zulassung von Kreditinstituten zum Geschäftsbetrieb (Art. 14 SSM‑VO) und die Beurteilung des Erwerbs von qualifizierten Beteiligungen an Kreditinstituten (Art. 15 SSM‑VO). 434 Art. 43 ff. SSM-RahmenVO. 435 Art. 3 Abs. 1 SSM-RahmenVO; vgl. hierzu Bundesbank, Monatsbericht Oktober 2014, S. 45, 52 ff.; EZB, SSM Supervisory Manual, March 2018, S. 11 ff.; Lackhoff, S. 48 ff. 436 Art. 4 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 437 Art. 3 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 438 Art. 6 Abs. 1 SSM-RahmenVO. 439 Lutz, Ent-Nationalisierung aus der Perspektive der Aufsichtspraxis, ZVglRWiss 2014, 496 (504 f.). 440 Lackhoff, S. 50; Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, § 5 Rn. 69. 441 Hierzu BVerfG 30.7.2019 - 2 BvR 1685/14 -, juris, Rn. 178.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht

III. SRM 1. Rechtsgrundlage 147 Für die Schaffung des SRM schied Art. 127 Abs. 6 AEUV als Rechtsgrundlage aus, da diese Vorschrift es nur zulässt, der EZB aufsichtsrechtliche Aufgaben zu übertragen. Die Abwicklung von Kreditinstituten ist aber von der Zulassung und laufenden Aufsicht kategorisch verschieden. Mit der Abwicklung endet der Lebenszyklus eines Kreditinstituts, während die Aufsicht gerade darauf zielt, die Funktionsfähigkeit und damit das Überleben des Unternehmens sicherzustellen. Die VO (EU) Nr. 806/2014 (SRM‑VO) beruht daher auf der Binnenmarktzuständigkeit nach Art. 114 AEUV. Die Wahl dieser Rechtsgrundlage entspricht dem Vorgehen des Unionsgesetzgebers im gesamten Bereich der Finanzmarktregulierung. Sie ist für die SRM‑VO aufgrund des Umstands gerechtfertigt, dass die geordnete Abwicklung von Kreditinstituten eine Voraussetzung für das Funktionieren des Binnenmarktes bildet.442 Denn der ungeordnete Zusammenbruch von Banken könnte nicht nur die Stabilität des Finanzsystems gefährden, sondern auch die Realwirtschaft im Binnenmarkt erheblich beeinträchtigen. Eine Besonderheit ergibt sich indes daraus, dass die SRM‑VO zwar für alle Mitgliedstaaten verbindlich ist, die räumliche Geltung des SRM sich aber nur auf die teilnehmenden Mitgliedstaaten im Sinne der SSM‑VO erstreckt.443 Die Parallele zum SSM war gewollt, um die Bankenunion im Hinblick auf ihren räumlichen und persönlichen Anwendungsbereich konsistent auszugestalten. Damit handelt es sich um ein auf die Euro-Mitgliedstaaten beschränktes Regime und nicht, wie im Fall des ESFS, um eine den gesamten Binnenmarkt umschließende Rechtsangleichungsmaßnahme. Daneben schlossen die teilnehmenden Mitgliedstaaten einen gesonderten völkerrechtlichen Vertrag, der der Übertragung von Beiträgen, die die Kreditinstitute leisten, auf den einheitlichen Abwicklungsfonds dient.444 2. Funktionsweise 148 In organisatorischer Hinsicht besteht der SRM aus dem „Ausschuss“ sowie den nationalen Abwicklungsbehörden.445 Der Ausschuss ist eine rechtlich selbstständige Agentur der Europäischen Union,446 die, ebenso wie die nationalen Abwicklungsbehörden, Unabhängigkeit genießt.447 Im Unterschied zur EZB im Rahmen des SSM verfügt er aber nicht über die autonomen wirtschaftspolitischen Entscheidungsspielräume, da der Unionsgesetzgeber in Befolgung der Meroni-Doktrin die Abwicklungskonzepte des Ausschusses der Billigung durch Kommission und Rat unterwirft.448 149 Der Ausschuss ist dafür verantwortlich, dass der SRM wirkungsvoll und einheitlich funktioniert. In diesem Rahmen ist er zuständig für die Erstellung der Abwicklungspläne für die Kreditinstitute, die der direkten Aufsicht der EZB unterliegen, und alle Beschlüsse im Zusammenhang mit einer Abwicklung.449 Die entsprechende Zuständigkeit für weniger bedeutende Kreditinstitute verbleibt demgegenüber bei den nationalen Abwicklungsbehör-

442 Vgl. BVerfG 30.7.2019 - 2 BvR 1685/14 -, juris, Rn. 233 ff. 443 Art. 4 Abs. 1 und 2 SRM‑VO. 444 Übereinkommen über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds v. 21.5.2014, BGBl. 2014 II 1298. 445 Art. 1 Abs. 2 SRM‑VO. 446 Art. 42 SRM‑VO. 447 Art. 47 SRM‑VO. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit vgl. BVerfG, Urt. v. 30.7.2019 - 2 BvR 1685/14 -, juris, Rn. 266 ff. 448 Art. 18 Abs. 7 und 8 SRM‑VO. 449 Art. 7 Abs. 2 SRM‑VO.

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den.450 Der Ausschuss verwaltet zudem den Einheitlichen Abwicklungsfonds,451 der sich aus Beiträgen der Kreditinstitute speist und in der Endstufe im Januar 2023 einen Vermögensstand von geschätzt etwa 55 Mrd. EUR erreichen wird. Damit soll das politische Versprechen realisiert werden, dass künftige Bankenrettungen nicht mehr vom Steuerzahler,452 sondern von der Bankwirtschaft selbst finanziert werden. Angesichts der Größenordnung der bei der Rekapitalisierung von Banken erforderlichen finanziellen Mittel dürfte der Fonds, der für den gesamten Euroraum zuständig ist, in einem schweren Krisenfall indes rasch erschöpft sein. Soll es aus übergeordneten wirtschaftlichen Gründen, insbesondere der Funktionsfähigkeit wesentlicher Infrastrukturen oder anderen Gesichtspunkten der Stabilität des Finanzsystems, nicht zur Insolvenz eines notleidenden Instituts kommen, werden auch künftig die Mitgliedstaaten Mittel aus ihren öffentlichen Haushalten aufbringen. Dass der Verordnungsgeber selbst diese Möglichkeit sah, zeigt sich in Art. 18 Abs. 4 lit. d und Art. 19 SRM‑VO, wobei die letztgenannte Vorschrift die Kontrolle durch die Kommission anhand der beihilfenrechtlichen Regeln vorsieht. Zur Abwicklung eines Kreditinstitutes kommt es, wenn das Unternehmen ausfällt oder 150 wahrscheinlich ausfällt, keine privaten Auffanglösungen oder aufsichtsrechtliche Interventionen in Betracht kommen und eine Abwicklungsmaßnahme im öffentlichen Interesse erforderlich ist.453 Die letztgenannte Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Abwicklungsmaßnahme für das Erreichen der Abwicklungsziele der SRM‑VO notwendig und verhältnismäßig ist und wenn dies bei einer Liquidation des Unternehmens im Wege eines regulären Insolvenzverfahrens nicht im selben Umfang der Fall wäre.454 Als Abwicklungsziele definiert die SRM‑VO die Sicherstellung der Kontinuität kritischer Funktionen, die Vermeidung erheblicher negativer Auswirkungen auf die Finanzstabilität, den Schutz öffentlicher Mittel, den Anlegerschutz und den Schutz der Gelder und Vermögenswerte der Kunden.455 Aus diesem Zielekanon ergeben sich notwendigerweise Zielkonflikte, die sich nicht in jedem Einzelfall spannungsfrei bewältigen lassen. Insbesondere die ordnungspolitisch richtige Überlegung, private Verluste nicht zu sozialisieren, indem in der Notlage eines Instituts zunächst die Anleger und Gläubiger eines Instituts herangezogen werden, steht in einer Spannungslage zu anderen Grundsätzen. So ist ohne Weiteres nachvollziehbar, die Anteilseigner aufgrund ihrer Eigentümerposition haften zu lassen. Dagegen erscheint es nur schwer nachvollziehbar, warum Fremdkapitalgläubiger, insbesondere Einleger von Sichteinlagen und Spareinlagen, zwingend zur Haftung herangezogen werden müssen. Sie verfügen, anders als die Anteilseigner, nicht über Steuerungsmöglichkeiten gegenüber dem Institut, kennen nicht die Anlageentscheidungen des Instituts und sind auch aus Rechtsgründen nicht verpflichtet, die bilanzielle Entwicklung des Unternehmens zu verfolgen, um ihre eigenen Risiken zu erkennen. Auch kann es bei einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung günstiger sein, ein Institut mit öffentlichen Mitteln zu rekapitalisieren, als die Verluste für Einleger und andere Fremdkapitalgläubiger und die damit verbundenen realwirtschaftlichen Folgen hinzunehmen. Mit der Bewältigung solcher Spannungslagen ist notwendigerweise ein weites wirtschaftspolitisches Ermessen von Rat und Kommission verbunden, die die politische Letztverantwortung für Abwicklungsentscheidungen tragen. Im Fall der Abwicklung muss der Ausschuss ein Abwicklungskonzept entwerfen, das die 151 Abwicklungsmaßnahmen vorsieht. Dieses Konzept muss bestimmten Grundsätzen gehor450 451 452 453 454 455

Art. 7 Abs. 3 SRM‑VO. Art. 75 Abs. 1 SRM‑VO. Vgl. Art. 6 Abs. 6, Art. 8 Abs. 6 UAbs. 5 lit. a, Art. 10 Abs. 1 lit. a SRM‑VO. Art. 18 Abs. 1 SRM‑VO. Art. 18 Abs. 5 SRM‑VO. Art. 14 Abs. 2 SRM‑VO.

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§ 10 Finanzmarktregulierung und -aufsicht chen, zu denen gehört, dass Verluste zuerst von den Anteilseignern und sodann von den Gläubigern des in Abwicklung befindlichen Instituts in der Rangfolge der Forderungen getragen werden. Zudem müssen grundsätzlich das Leitungsorgan und die Geschäftsleitung ersetzt werden, es sei denn, ihre Beibehaltung ist für die Erreichung der Abwicklungsziele erforderlich.456 Die Auswahl der möglichen Abwicklungsmaßnahmen steht, vorbehaltlich der Erfüllung der sekundärrechtlichen Anforderungen, im Ermessen des Ausschusses bzw. der Kommission und des Rates. Sie umfassen die Unternehmensveräußerung, die Gründung eines Brückeninstituts (good bank), die Ausgliederung von Vermögenswerten (bad bank) und den Bail-In,457 dh die Umwandlung von Fremdkapital in haftendes Eigenkapital. 458 Das Institut kann ganz oder teilweise abgewickelt werden oder, für den Fall, dass es erhalten werden soll, mit Mitteln aus dem Abwicklungsfonds oder nationalen Haushalten rekapitalisiert werden.

152 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

EuGH

13.6.1958

Rs. 9/56

Slg 1958, 11

Meroni/Hohe Behörde

EuGH

10.5.1995

C-384/93

Slg 1995, I-1141

Alpine Investments

NJW 1995, 2541 = EuZW 1995, 404

EuGH

30.11.1995 C-55/94

Slg 1995, I-4165

Gebhard

NJW 1996, 579 = DVBl 1996, 145

EuGH

9.7.1997

C-222/95

Slg 1997, I-3899

Parodi

WM 1997, 1697 = EWS 1997, 304

EuGH

16.3.1999

C-222/97

Slg 1999, I-1661

Trummer und Mayer

EuGRZ 1999, 225 = WM 1999, 946

EuGH

12.10.2004 C-222/02

Slg 2004, I-9425

Peter Paul

NJW 2004, 3479 = EuZW 2004, 689

EuGH

3.5.2005

verb Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02, C-387/02, C-391/02, C-403/02

Slg 2005, I-3565

Berlusconi

NJW 2005, 2213 = EuZW 2005, 369

EuGH

26.5.2005

C-301/02 P

Slg 2005, I-4071

Tralli/EZB

EuGH

6.12.2005

C-66/04

Slg 2005, I-10553

Vereinigtes König- JZ 2006, 358 = reich/Parlament EuZW 2006, 480 und Rat

EuGH

2.5.2006

C-217/04

Slg 2006, I-3771

Vereinigtes König- EuZW 2006, 369 = reich/Parlament DVBl 2006, 835 und Rat

EuGH

3.10.2006

C-452/04

Slg 2006, I-9521

Fidium Finanz AG

Fundstellen

NJW 2007, 204 = WM 2006, 1949

456 Vgl. Art. 15 Abs. 1 SRM‑VO. 457 Hierzu vgl. Binder, Systemrisikobewältigung durch Bankenabwicklung? Aktuelle Bemerkungen zu unrealistischen Erwartungen, ZBB 2017, 57 (64 ff.). 458 Vgl. Art. 18 Abs. 6, Art. 22 Abs. 2 SRM‑VO.

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Datum

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

24.5.2007

C-157/05

Slg 2007, I-4051

Holböck

EuZW 2007, 405 = EWS 2007, 276

EuGH

9.3.2010

C-518/07

Slg 2010, I-1885

Kommission/ Deutschland

NJW 2010, 1265 = EuGRZ 2010, 58

EuGH

22.1.2014

C-270/12

EU:C:2014:1 8

ESMA

NJW 2014, 1359 = JZ 2014, 244

EuGH

20.9.2016

verb Rs C-8/15 P EU:C:2016:7 bis C-10/15 P 0

Ledra Advertising NJW 2016, 3291 = EuZW 2016, 836

EuGH

8.5.2019

C-450/17 P

Landeskreditbank Baden-Württemberg

BVerfG

30.7.2019

2 BvR 1685/14

EU:C:2019:3 72

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht Dirk Looschelders und Lothar Michael A. Einleitung (Michael) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsquellen und Entwicklung des Europäischen Versicherungsrechts . . . . . II. Themenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Versicherungsaufsichtsrecht (Michael) . . . . . I. Institutionelle Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. EIOPC/CEIOPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. EIOPA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Europäisches Finanzaufsichtssystem (ESFS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Struktur der EIOPA . . . . . . . . . . . . aa) Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundsätzliche primärrechtliche Bedenken gegen die Errichtung der EIOPA und ihre Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kompetenzrechtliche Zweifel an der Errichtung der EIOPA mit ihren Entscheidungsbefugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhaltliche Grenzen der Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die EIOPA . . . . . . II. Solvency II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundidee des Solvency IIAnsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Drei-Säulen-Struktur der Solvency II-Richtlinie . . . . . . . . . . . d) Anwendungsbereich der Solvency II-Richtlinie . . . . . . . . . . . e) Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besondere Mechanismen einer Expertenrechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Probleme der Rechtsetzung im Versicherungsaufsichtsrecht und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzgebungsprozess . . . . . . . . . . c) Lamfalussy-Rechtsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Maßstabsetzung nach der EIOPA-VO: Leitlinien und Empfehlungen sowie technische Regulierungs- und Durchführungsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der prinzipienbasierte Ansatz der Solvency II-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . a) Uneinheitliches Vorverständnis bei der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bedeutung des prinzipienbasierten Ansatzes in der Solvency II-Richtlinie . . . . . . . . . . .

1 1 2 3 3 4 8 9 13 14 21 23 30

31

33 41 52 53 53 54 56 66 68 70

70 73 74

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4. Lösungsansätze des Unbestimmtheitsproblems einer prinzipienbasierten Versicherungsaufsicht . . . . . . a) Präzisierung der Prinzipien . . . . . b) Punktuelle Regelbildungen als Ausnahmen und Grenzen der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Typisierung durch Regelbeispiele als Ausformung der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Möglichkeiten einer Regelbildung auch durch nationale Verwaltungsvorschriften? . . . . . . e) Erhöhte Begründungsanforderungen an eine prinzipienbasierte Versicherungsaufsicht als verfassungsrechtliche Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als ausdrückliches Postulat der Solvency II-Richtlinie . . . . . . . . . . a) Proportionalität als Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Proportionalität als Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mischmodell einer mehrdimensionalen Proportionalität . . . . . . . 6. Hauptziel und Nebenziele der Versicherungsaufsicht nach der Solvency II-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . a) Normative Bedeutung der Erwägungsgründe einer Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis der in den Erwägungsgründen benannten Ziele zueinander und zu den bisherigen Zielen der Versicherungsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Governance- und ComplianceAnsatz der Solvency II-Richtlinie . . a) Der Begriff des Corporate Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insbesondere: Der Begriff der Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hintergründe und Erwartungen des Governance- und Compliance-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Konzeption einer regulierten Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Konsequenzen für die Aufgaben und Verantwortung der Unternehmensorgane und der Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grenzüberschreitende Versicherungsgeschäfte und ihre Beaufsichtigung . . . . 1. Versicherungsgeschäfte im europäischen Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unionsrechtliche Aufsichtskonzeption – Sitzland- und Tätigkeitslandprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht a) Allumfassende Aufsichtskompetenz der Aufsichtsbehörde des Herkunftslandes . . . . . . . . . . . . b) Eingeschränkte Aufsichtskompetenz der Aufsichtsbehörde des Tätigkeitslandes . . . . . . . . . . . . IV. Die grenzüberschreitende Bestandsübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Versicherungsvertragsrecht (Looschelders) I. Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutz von Verbrauchern und Versicherungsnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Personelle Reichweite des Schutzes im Versicherungsvertragsrecht . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtspolitische Würdigung . . . c) Der Begriff des Großrisikos . . . . 2. Informationspflichten der Versicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unionsrechtliche Grundlagen und Zweck der Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die einzelnen Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auswirkungen auf die Modalitäten des Vertragsschlusses . . . . . d) Das Merkmal der „Rechtzeitigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verzicht des Versicherungsnehmers auf Information . . . . . . . . . . . f) Rechtsfolgen der Verletzung von Informationspflichten . . . . . 3. Beratungspflichten der Versicherer und der Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Reichweite der Richtlinienvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umsetzung der Richtlinie . . . . . . c) Richtlinienkonformität der §§ 6, 6 a VVG und §§ 60 ff. VVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Form der Übermittlung an den Versicherungsnehmer . . . . . . . . . . . 4. Allgemeines Widerrufsrecht für Versicherungsnehmer (§§ 8, 9 VVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Vorgaben des Art. 6 RL 2002/65/EG . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vorgaben des Art. 35 RL 2002/83/EG (Art. 186 RL 2009/138/EG) . . . . c) Beginn der Widerrufsfrist . . . . . . d) Das Problem des „ewigen“ Widerrufsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsfolgen des Widerrufs . . . . f) Die Option des Art. 7 Abs. 2 RL 2002/65/EG . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Widerrufsrecht nach der Verbraucherkreditrichtlinie II . . . . . . . . . . . . . . a) Versicherungsvertrag mit unterjähriger Prämienzahlung als Kreditvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Folgen des Widerrufs des Darlehensvertrags für die Restschuldversicherung . . . . . . . . . . . . .

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c) Folgen des Widerrufs der Restschuldversicherung für den Darlehensvertrag . . . . . . . . . . . . . . . 6. Unanwendbarkeit der Verbraucherrechte-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . 7. AVB-Kontrolle nach der KlauselRichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Missbrauchskontrolle und Abgrenzung des kontrollfreien Bereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zulässigkeit einer Einschränkung des kontrollfreien Bereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kein Ausschluss der Transparenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Grundsätze der Missbrauchskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Grundsätze der Transparenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ungleichbehandlung wegen Rasse und ethnischer Herkunft . . . . . . . . . . . 2. Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Versicherungstechnische Relevanz des Risikomerkmals „Geschlecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vorgaben der GenderRichtlinie für Versicherungsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-236/09 (Test-Achats) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gestaltungsspielraum des nationalen und europäischen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Leitfaden der Kommission für die Anwendung der RL 2004/113/EG . . . . . . . . . . . . . . . f) Kosten von Schwangerschaft und Mutterschaft . . . . . . . . . . . . . . . g) Die sonstigen Merkmale in § 19 Abs. 1 AGG . . . . . . . . . . . . . . . IV. Unionsrechtliche Vorgaben für die Rechtsschutzversicherung . . . . . . . . . . . . . . V. Harmonisierung des Rechts der KfzHaftpflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versicherungspflicht (Art. 3 RL 2009/103/EG) . . . . . . . . . . a) Sachliche und personelle Reichweite des Versicherungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unzulässigkeit von Ausschlüssen und Selbstbeteiligungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entschädigungsstelle . . . . . . . . . . . 3. Direktanspruch des Geschädigten gegen den Versicherer . . . . . . . . . . . . . . 4. Regulierung von Auslandsunfällen (Art. 20 ff. RL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht 5. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klägergerichtsstand für Direktklage des Geschädigten . . . . . . . . . b) Rom II-VO und Haager Übereinkommen über Straßenverkehrsunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Internationales Versicherungsvertragsrecht nach der Rom I-VO . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . 2. Begriff des Mitgliedstaats in Art. 7 Rom I-VO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bestimmung der Risikobelegenheit nach Art. 7 Abs. 6 Rom I-VO . . . . . . a) Nichtlebensversicherung . . . . . . . b) Lebensversicherung . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 4. Versicherungsverträge über Großrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Direktversicherungsverträge über Massenrisiken innerhalb der EU . . . a) Objektive Anknüpfung . . . . . . . . . b) Begrenzte Rechtswahlfreiheit . . c) Pflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . 6. Direktversicherungsverträge über Massenrisiken außerhalb der EU . . a) Rechtswahlfreiheit . . . . . . . . . . . . . b) Objektive Anknüpfung . . . . . . . . . c) Schutz des Versicherungsnehmers als Verbraucher . . . . . . . . . . . 7. Anknüpfung von Rückversicherungsverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Objektive Anknüpfung . . . . . . . . . 8. Eingriffsnormen und ordre public VII. Internationale Zuständigkeit in Versicherungssachen nach der Brüssel Ia-VO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Zuständigkeit für Klagen gegen den Versicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuständigkeit für Klagen des Versicherers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gerichtsstandsvereinbarungen . . . . . 5. Rügelose Einlassung . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Einführung eines optionalen Instruments für Versicherungsverträge . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Grünbuch der Kommission vom 1.7.2010 und die weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) . . D. Versicherungskartellrecht (Looschelders) . . I. Rechtliche Grundlagen und Entwicklung des Versicherungskartellrechts . . . . II. Die horizontalen Leitlinien der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die durch die VO (EU) Nr. 267/2010 freigestellten Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinsame Erhebungen, Tabellen und Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinsame Deckung bestimmter Arten von Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtslage nach Aufhebung der GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Durch die früheren GVO zusätzlich freigestellte Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Gewerberechtliche Anforderungen an Versicherungsvermittler (Michael) . . . . . . . . . . I. Systematische Vorbemerkung . . . . . . . . . . II. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Niederlassung und Erbringung von Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Berufliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Entscheidungen . . . . . . . . . .

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht der Kommission über eine europäische Versicherungsaufsicht, VersR 2010, 155; Franck, Gunnar, Richtlinienkonforme Auslegung der Vorschriften über die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls in der Kfz-Pflichtversicherung, VersR 2014, 13; Freitag, Matthias, Das Großrisiko in der VVG-Reform, r+s 2008, 96; Fricke, Martin, Das Internationale Privatrecht der Versicherungsverträge nach Inkrafttreten der Rom I-VO, VersR 2008, 443; ders., Der Abschnitt über Versicherungssachen (Art. 8–14) in der Revision der EuGVVO, VersR 2009, 429; Fuchs, Angelika, Gerichtsstand für die Direktklage am Wohnsitz des Verkehrsunfallopfers?, IPRax 2007, 302; Funck, Jörg, Ausgewählte Fragen aus dem Allgemeinen Teil zum neuen VVG aus Sicht einer Rechtsabteilung, VersR 2008, 163; Gebauer, Martin, Europäisches Vertragsrecht als Option – der Anwendungsbereich, die Wahl und die Lücken des Optionalen Instruments, GPR 2011, 227; Gebauer, Martin/Wiedmann, Thomas, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010; Geimer, Reinhold, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020; Geimer, Reinhold/Schütze, Rolf A., Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl. 2010; Gödeke, Sönke, Das (neue) Governance-System nach Solvency II, VersR 2010, 10; Görisch, Christoph, Demokratische Verwaltung durch Unionsagenturen, 2009; Groeben, Hans von der/Schwarze, Jürgen/Hatje, Armin, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015; Gruber, Urs Peter, Internationales Versicherungsvertragsrecht, 1999; ders., International zwingende „Eingriffsnormen“ im VVG, NVersZ 2001, 442; Gründl, Helmut/Kraft, Mirko, Solvency II – Eine Einführung, 3. Aufl. 2019; Haberl, Sonja, Zivilrechtliche Diskriminierungsverbote in nationalen Privatrechtsgesellschaften, 2011; Hain, Karl-Ebert, Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot?, DVBl. 1993, 982; Halm, Wolfgang/Engelbrecht, Andreas/Krahe, Frank (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 6. Aufl. 2018; Heiderhoff, Bettina, Europäisches Privatrecht 4. Aufl. 2016; Heinig, Jens, Grenzen von Gerichtsstandsvereinbarungen im Europäischen Zivilprozessrecht, 2010; ders., Anwendbarkeit der Vorschriften über verbundene Verträge auf Verbraucherdarlehens- und Restschuldversicherungsverträge, VersR 2010, 863; Heiss, Helmut, Gerichtsstandsfragen in Versicherungssachen nach europäischem Recht, in: Reichert-Facilides/Schnyder (Hrsg.), Versicherungsrecht in Europa – Kernperspektiven am Ende des 20. Jahrhunderts, Basel 2000, S. 105; ders., Europäisches Versicherungsvertragsrecht, VersR 2005, 1; ders., Reform des internationalen Versicherungsvertragsrechts, ZVersWiss 2007, 503; ders., Versicherungsverträge in „Rom I“: Neuerliches Versagen des europäischen Gesetzgebers, in: FS Kropholler, 2008, S. 459; ders., Die Principles of Insurance Contract Law (PEICL) 2016, in: Looschelders/Michael (Hrsg.), Düsseldorfer Vorträge zum Versicherungsrecht 2015, 2016, S. 115; Heiss, Helmut/Lakhan, Mandeep (Hrsg.), Principles of European Insurance Contract Law: A Model Optional Instrument, 2011; Heitmann, Lutz, Risikoausschluss der Vorsatztat gem. § 152 VVG in der Kfz-Haftpflichtversicherung, VersR 1997, 941; Hermes, Georg/Walther, Susanne, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht. Das zweite Abtreibungsurteil des BVerfG und seine Folgen, NJW 1993, 2337; Herresthal, Carsten, Die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Kaufrecht, WM 2007, 1354; Hesse, Konrad, Die verfassungsrechtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: FS Mahrenholz, 1994, 541; Heukamp, Wessel, Das neue Versicherungsaufsichtsrecht nach Solvency II, 2016; Hoffmann, Jens, Die Zukunft der Gruppenfreistellungsverordnung Versicherungswirtschaft, VersR 2016, 821; HoffmannRiem, Wolfgang/Schmidt- Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996; Hoffmann-Riem, Wolfgang/Schmidt-Aßmann, Eberhard/Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, Bd. 2, 2. Aufl. 2012; Hub, Torsten, Internationale Zuständigkeit in Versicherungssachen nach der VO 44/01/EG (EuGVVO), 2005; Hulle, Karel van, „Solvency II könnte ein Modell für die Welt werden“, VW 2011, 14; Hülsen, Philipp v./Manderfeld, Markus, Neue Rahmenbedingungen des Versicherungskartellrechts – Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für den Versicherungssektor, VersR 2010, 559; Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 3. Aufl. 2007; Jarass, Hans D., Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, JuS 1999, 105; Kämmerer, Jörn Axel, Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem (ESFS) – Modell für eine europäisierte Verwaltungsarchitektur?, NVwZ 2011, 1281; Kahler, Björn, Unisextarife im Versicherungswesen – Grundrechtsprüfung durch den EuGH, NJW 2011, 894; Karpenstein, Ulrich, Harmonie durch die Hintertür? Geschlechtsspezifisch kalkulierte Versicherungstarife

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht und das Diskriminierungsverbot – Kurzbesprechung der Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 30.9.2010 – C-236/09 (Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a.), EuZW 2010, 885; Katschthaler, Helmut/Leichsenring, Heike, Neues internationales Versicherungsvertragsrecht nach der Rom-I-Verordnung, r+s 2010, 45; Kaufhold, AnnKatrin, Systemaufsicht, 2016; Kaulbach, Detlef/Bähr, Gunne W./Pohlmann, Petra (Hrsg.), Versicherungsaufsichtsgesetz, 6. Aufl. 2019; Keune, Christina, Rechtliche Grundlagen und Grenzen der EIOPA, 2015; Klepper, Marian, Vollzugskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft aus abgeleitetem Recht, 2001; Koch, Robert, Vereinbarkeit der Drittwirkung gesetzlicher und vertraglicher Risikoausschlüsse in der Kfz-Haftpflichtversicherung mit dem Unionsrecht, in: Brömmelmeyer, Christoph/Ebers, Martin/Sauer, Mirko (Hrsg.), Innovatives Denken zwischen Recht und Markt. Festschrift für Hans-Peter Schwintowski 2017, S. 99; Köndgen, Johannes, Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts, in: Riesenhuber, Karl (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006; Körber, Torsten, Aktuelle Entwicklungen im Versicherungskartellrecht, in: Looschelders, Dirk/Michael, Lothar (Hrsg.), Düsseldorfer Vorträge zum Versicherungsrecht 2010, 2011, S. 21; Körber, Torsten/Rauh, Jens Ole (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im Versicherungskartellrecht, 2011; Krämer, Gerrit Jan, Die Gruppenaufsicht nach dem Entwurf der Solvency II Rahmenrichtlinie, ZVersWiss 2008, 319; Kronke, Herbert/Melis, Werner/Kuhn, Hans, (Hrsg.), Handbuch Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2017; Kropholler, Jan/Hein, Jan von, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011; Küster, Philipp, Die vorvertragliche Beratungspflicht des Versicherers nach § 6 I und II VVG, VersR 2010, 730; Kynast, Philipp, Grenzüberschreitende Bestandsübertragungen und Umstrukturierungen von Versicherungsunternehmen im EWR. Versicherungsaufsichtsrechtliche Implikationen, Verwaltungsrechtsschutz und Gestaltungsmöglichkeiten, 2018; Ladeur, Karl-Heinz, Normenkonkretisierende Verwaltungsvorschriften als Recht privat-öffentlicher Kooperationsverhältnisse, DÖV 2000, 217; Lagarde, Paul/Tenenbaum, Aline, De la convention de Rome au règlement Rome I, Rev. crit. DIP 97 (2008), 727; Lando, Ole/Nielsen, Peter Arnt, The Rom I-Regulation, CML Rev. 45 (2008), 1687; Langheid, Theo, § 8 AGB-Gesetz im Lichte der EG-AGB-Richtlinie: Kontrollfähigkeit von Leistungsbeschreibungen durch Intransparenz, NVersZ 2000, 63; Langheid, Theo/ Wandt, Manfred (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, Bd. 1-3, 2. Aufl. 2016/17; Lehmann, Matthias/Manger-Nestler, Cornelia, Die Vorschläge zur neuen Architektur der europäischen Finanzaufsicht, EuZW 2010, 87; Leible, Stefan/Lehmann, Matthias, Die Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht („Rom I“), RIW 2008, 528; Loacker, Leander D., Insurance soft law?, VersR 2009, 289; ders., Gleich und Gleich gesellt sich gern? – Überlegungen zur Einführung verpflichtender Einheitstarife im europäisierten Versicherungsvertragsrecht, HAVE 2011, 351; ders., Basisinformationen als Entscheidungshilfe, in: FS E. Lorenz, 2014, S. 259; Loewenheim, Ulrich/Meessen, Karl M./ Riesenkampff, Alexander, Kartellrecht, 3 Aufl. 2016; Looschelders, Dirk, Der Klägergerichtsstand am Wohnsitz des Versicherungsnehmers nach Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 EuGVÜ, IPRax 1998, 86; ders., Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Vierte Kfz-Haftpflicht-Richtlinie – Ein überzeugendes Konzept zum Schutz des Geschädigten bei Verkehrsunfällen im Ausland?, NZV 1999, 57; ders., Die Beurteilung von Straßenverkehrsunfällen mit Auslandsberührung nach dem neuen internationalen Deliktsrecht, VersR 1999, 1316; ders., Die Kontrolle Allgemeiner Versicherungsbedingungen nach dem AGBG, JR 2001, 397; ders., Internationales Privatrecht, 2004; ders., Der Schutz von Verbrauchern und Versicherungsnehmern im Internationalen Privatrecht, in: FS E. Lorenz, 2004, 441; ders., Das Verbot der geschlechterspezifischen Diskriminierung im Versicherungsvertragsrecht, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, 2006, S. 141; ders., Schutz von Fahrzeuginsassen durch die KfzHaftpflichtversicherung, GPR 2007, 273; ders., Schuldhafte Herbeiführung des Versicherungsfalls nach der VVG-Reform, VersR 2008, 1; ders., Begrenzung des Haustür-Widerrufsrechts trotz fehlerhafter Belehrung bei vollständiger Vertragsabwicklung, GPR 2008, 187; ders., Die richtlinienkonforme Auslegung des § 506 BGB (§ 499 BGB aF) im Hinblick auf Versicherungsverträge mit unterjähriger Prämienzahlung, VersR 2010, 977; ders., Aktuelle Auswirkungen des EU-Rechts auf das deutsche Versicherungsvertragsrecht unter besonderer Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Tarifierung, VersR 2011, 421; ders., Aktuelle rechtliche Rahmenbedingungen für die Versicherungswirtschaft auf europäischer Ebene, in: Looschelders/Michael

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht (Hrsg.), Perspektiven der deutschen Versicherungswirtschaft im europäischen Wettbewerb, 2011, S. 37; ders., Aktuelle Probleme der vorvertraglichen Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers, VersR 2011, 697; ders., Grundfragen des deutschen und internationalen Rückversicherungsvertragsrechts, VersR 2012, 1; ders., Diskriminierung und Schutz vor Diskriminierung im Privatrecht, JZ 2012, 105; ders., Europäisches Privatrecht und deutsches Versicherungsvertragsrecht – Aktuelle Problemfelder, Entwicklungen und Perspektiven, VersR 2013, 653; ders., Zuständigkeit des Gerichts am Unfallort für Direktklage des Sozialversicherungsträgers gegen den Haftpflichtversicherer, IPRax 2013, 370; ders., Der prozessuale Schutz der schwächeren Partei in Versicherungssachen, in: FS Fenyves, Wien 2013, S. 633; ders., Die Vereinbarkeit des Policenmodells nach § 5 a VVG aF mit dem Unionsrecht, VersR 2016, 7; ders., Abwicklung internationaler Verkehrsunfälle vor deutschen und österreichischen Gerichten, in: FS Danzl, Wien 2017, S. 603; ders., Aktuelle Probleme der Rechtsschutzversicherung im deutschen und österreichischen Recht, VersR 2017, 1237; ders., Internationale Zuständigkeit für Klagen gegen ausländische Entschädigungsstellen und Grüne-Karte-Büros, IPRax 2018, 360; ders., Kein Direktanspruch des allein verantwortlichen Fahrzeugführers auf Ersatz seines durch den Tod seiner mitfahrenden Ehefrau entstandenen Vermögensschadens, GPR 2018, 299; ders., Schuldrecht Allgemeiner Teil, 17. Aufl. 2019; Looschelders, Dirk/Heinig, Jens, Der Gerichtsstand am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers nach § 215 VVG, JR 2008, 265; Looschelders, Dirk/Michael, Lothar (Hrsg.), Perspektiven der deutschen Versicherungswirtschaft im europäischen Wettbewerb, 2011; Looschelders, Dirk/Paffenholz, Christina, Allgemeine Bedingungen der Rechtsschutzversicherung (ARB), 2. Aufl. 2018; dies., Versicherungsvertragsrecht, 2. Aufl. 2019; Looschelders, Dirk/Pohlmann, Petra (Hrsg.), Versicherungsvertragsgesetz, 3. Aufl. 2016; Looschelders, Dirk/Smarowos, Kirstin, Das Internationale Versicherungsvertragsrecht nach Inkrafttreten der Rom I-VO, VersR 2010, 1; Lorenz, Egon, Zum neuen internationalen Vertragsrecht aus versicherungsrechtlicher Sicht, in: FS Kegel, 1987, 303; ders., Neue Aspekte zum Abschluss eines Versicherungsvertrags nach § 5 a VVG, VersR 1997, 773; ders., Eine neue Gesamtrichtlinie Leben – Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.11.2002 über Lebensversicherungen, VersR 2003, 175; ders., Unisex-Tarife: Aktuelle Erkenntnisse im Lichte juristischer Wertung, VW 2004, 1640; ders. (Hrsg.), Abschlussbericht der Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 19. April 2004 (VersR-Schriften 25), 2004; ders., Der Einfluss des allgemeinen Widerrufsrechts in dem Entwurf des Versicherungsvertragsgesetzes 2006 auf den Abschluss von Versicherungsverträgen nach dem Antrags- und Policenmodell, in: FS Helten, 2004, S. 331; Lüer/Schwepcke (Hrsg.), Rückversicherungsrecht, 2013; Lüttringhaus, Jan D., Der Direktanspruch im vergemeinschafteten IZVR und IPR nach der Entscheidung EuGH, VersR 2009, 1512 (Vorarlberger Gebietskrankenkasse), VersR 2010, 183; ders., Solvency II – Grundlagen der Reform des europäischen Versicherungsaufsichtsrechts und Auswirkungen der neuen Eigenmittelvorschriften, EuZW 2011, 822; Magnus, Ulrich, Die Rom I-Verordnung, IPRax 2010, 27; Magnus, Ulrich/Mankowski, Peter, Brussel Ibis Regulation, 2016; Makowsky, Mark, Versicherungspflicht für Kraftfahrzeuge bei fehlendem Nutzungswillen des Eigentümers und Abstellen auf einem Privatgrundstück sowie Rückgriffsrecht der Entschädigungsstelle beim Eigentümer, GPR 2019, 74; Mankowski, Peter, Internationales Rückversicherungsvertragsrecht, VersR 2002, 1177; ders., Die Rom I-Verordnung – Änderungen im europäischen IPR für Schuldverträge, IHR 2008, 133; ders., Besteht der europäische Gerichtsstand der rügelosen Einlassung auch gegen von Schutzregimes besonders geschützte Personen?, RIW 2010, 667; Merkin, Rob, The Rome I Regulation and Reinsurance, J. PIL 5 (2009), 69; Meyer, Jürgen/Hölscheidt, Sven (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019; Michael, Lothar, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997; ders., Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002; ders., Private Standardsetter und demokratisch legitimierte Rechtsetzung, in: Bauer/Huber/Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 431 ff; ders., Rechts- und Außenwirkung sowie richterliche Kontrolle der MaRisk VA, VersR 2010, 141; Michael, Lothar/Morlok, Martin, Grundrechte, 7. Aufl. 2020; Miersch, Gerald, Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien – Aufsichtsbefugnisse und Inländerbenachteiligungen, 1996; Mönnich, Ulrike, Unisex: Die EuGH-Entscheidung vom 1.3.2011 und die möglichen Folgen, VersR 2011, 1092; dies., Unisex-Tarife für Versicherun-

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht gen: Die EuGH-Entscheidung vom 1. März 2011 – ein Jahr später, VersRdsch 2012, 20; dies., PRIPs, IMD II und MIFID II – Legislativprojekte der EU zur Transparenz von Versicherungsanlageprodukten, in: Looschelders/Michael (Hrsg.), Düsseldorfer Vorträge zum Versicherungsrecht 2012, 2013, S. 135; Mohl, Robert v., Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates (1832), 3. Aufl. 1866; Müller-Magdeburg, Thomas, Die Bestandsübertragung nach § 14 VAG, 1996; Mülbert, Peter O./Wilhelm, Alexander, Rechtsfragen der Kombination von Verbraucherdarlehen und Restschuldversicherung, WM 2009, 2241; Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1-12, 7./8. Aufl. 2017–2020 (zit.: MüKo-BGB/ Bearbeiter); Nagel, Heinrich/Gottwald, Peter, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Aufl. 2013; Nomos Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd.1, 3. Aufl. 2016; Bd. 6, 3. Aufl. 2019 (zit.: NK-BGB/Bearbeiter); O’Donovan, Gabrielle, Solvency II: Stakeholder Communications and Change, 2011; Palandt, Otto (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020 (zit.: Palandt/Bearbeiter); Perner, Stefan, Das Internationale Versicherungsvertragsrecht nach Rom I, IPRax 2009, 218; Prölss, Erich R., Zwischenstaatliches Rückversicherungsrecht, 1942; ders., (Begr.), Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Aufl. 2005; Prölss, Erich R. (Begr.)/Dreher, Meinrad, Versicherungsaufsichtsgesetz, 13. Aufl. 2018; Prölss, Erich R./Martin, Anton (Begr.), Versicherungsvertragsgesetz, 30. Aufl. 2018; Prütting, Hanns/Wegen, Gerhard/Weinreich, Gerd, Bürgerliches Gesetzbuch, 14. Aufl. 2019 (zit.: PWW/Bearbeiter); Purnhagen, Kai P., Zum Verbot der Risikodifferenzierung aufgrund des Geschlechts – Eine Lehre des EuGH zur Konstitutionalisierung des Privatrechts am Beispiel des Versicherungsvertragsrechts?, EuR 2011, 690; Raschauer, Nicolas, Die Reorganisation der europäischen Finanzmarktaufsicht als Baustein der Krisenbewältigung, ZFR 2011, 198; Rauscher, Thomas (Hrsg.), Europäisches Zivilprozessund Kollisionsrecht, Band I, Brüssel I-VO, 4. Aufl. 2015; Band III, Rom I-VO, Rom II-VO, 4. Aufl. 2016; Reiff, Peter, Die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Versicherungsvertragsrecht, VersR 1997, 267; ders., Die Umsetzung der Versicherungsvermittlerrichtlinie in das deutsche Recht, VersR 2004, 142; ders., Die Richtlinie 2016/97 über Versicherungsvertrieb, r+s 2016, 593; ders., Die Umsetzung der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) in das deutsche Recht, VersR 2016, 1533; ders., Das Versicherungsvertriebsrecht nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Versicherungsvertriebsrichtlinie, VersR 2018, 193; Remmert, Barbara, Die Gründung von Einrichtungen der mittelbaren Gemeinschaftsverwaltung, EuR 2003, 134; Riedmeyer, Oskar, Internationale Zuständigkeit bei Schadensersatzklagen nach Verkehrsunfällen im Ausland, in: FS G. Müller, 2009, 473; ders., Regulierung von Unfällen mit Auslandsbeteiligung, in: Looschelders/Michael (Hrsg.), 8. Düsseldorfer Verkehrsrechtsforum, 2019, S. 41; Riedmeyer, Oskar/Bouwmann, Verena, Unfallregulierung nach den Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinien der Europäischen Union, NJW 2015, 2614; Riesenhuber, Karl/Franck, Jens-Uwe, Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Europäischen Vertragsrecht, JZ 2004, 529; Rolfs, Christian, Die betriebliche Altersversorgung im Recht der Europäischen Union, EuZA 2018, 283; Römer, Wolfgang, Zu den Grenzen des Transparenzgebots im Versicherungsrecht, in: FS E. Lorenz, 1994, 449; ders., Gerichtliche Kontrolle Allgemeiner Versicherungsbedingungen nach den §§ 8, 9 AGBG, NVersZ 1999, 97; ders., Die Umsetzung der EGRichtlinien im Versicherungsrecht, in: FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, S. 375; ders.; Der Ombudsmann für private Versicherungen, NJW 2005, 1251; Roth, Wulff-Henning, Internationales Versicherungsvertragsrecht, 1995; ders., Internationales Versicherungsvertragsrecht in der Europäischen Union – Ein Vorschlag zu seiner Neuordnung, in: FS E. Lorenz, 2004, S. 631; ders., Eingriffsnormen im internationalen Versicherungsrecht nach Unamar, in: FS E. Lorenz, 2014, 421; Rüffer, Wilfried/Halbach, Dirk/Schimikowski, Peter (Hrsg.), VVG Handkommentar, 4. Aufl. 2020 (zit.: HK-VVG/Bearbeiter); Rühl, Giesela, Rechtswahlfreiheit im europäischen Kollisionsrecht, in: FS Kropholler, 2008, S. 187; dies., Der Schutz des „Schwächeren“ im europäischen Kollisionsrecht, in: FS v. Hoffmann, 2011, 364; Rüll, David, Die neue Versicherungsvertriebsrichtlinie – zugleich Anmerkungen zum Regierungsentwurf des Umsetzungsgesetzes, VuR 2017, 128; Sänger, Marc/Wigand, Martin, Die Rechtsfolgen eines Widerrufs verbundener Verträge i.S.d. § 358 BGB nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Darlehensnehmers, ZGS 2009, 447; Sagmeister, Holger M., Geschlechtsspezifische Versicherungstarife tatsächlich europarechtswidrig?, VersR 2011, 189; Saller, Michael, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung der Europäischen Kommission für den Versicherungssektor,

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht sichtsrecht, 2007; Wrase, Michael/Baer, Susanne, Unterschiedliche Tarife für Männer und Frauen in der privaten Krankenversicherung – ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes?, NJW 2004, 1623; Wolf, Manfred/Lindacher, Walter/Pfeiffer, Thomas (Hrsg.), AGBRecht, 6. Aufl. 2013; Woopen, Herbert, Banken und Versicherungen im Binnenmarkt, EuZW 2007, 495. Vorschriften Sekundärrecht: Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel I“), ABl. L 12/1. Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. L 199/40. Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. L 177/6. Verordnung (EU) Nr. 267/2010 der Kommission vom 24.3.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und abgestimmten Verhaltensweisen im Versicherungssektor, ABl. L 83/1. Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.11.2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, ABl. L 331/48. Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel Ia“), ABl. L 351/1. Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP), ABl. L 352/1. Erste Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24.7.1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung), ABl. L 228, 3. Erste Richtlinie 79/267/EWG des Rates vom 5.3.1979 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (Lebensversicherung), ABl. L 63, 1. Zweite Richtlinie 88/357/EWG des Rates vom 22.6.1988 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG, ABl. L 172, 1. Zweite Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8.11.1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG, ABl. L 330, 50. Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18.6.1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung), ABl. L 228, 1. Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10.11.1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), ABl. L 360, 1. Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. L 345/1.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht Richtlinie 78/473/EWG des Rates vom 30.5.1978 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Mitversicherung auf Gemeinschaftsebene, ABl. L 151/25. Richtlinie 87/343/EWG des Rates vom 22.6.1987 zur Änderung hinsichtlich der Kreditversicherung und der Kautionsversicherung der Ersten Richtlinie 73/239/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung); ABl. L 185/72. Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22.6.1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung, ABl. L 185/77. Richtlinie 98/78/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.10.1998 über die zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versicherungsgruppe angehörenden Versicherungsunternehmen, ABl. L 330/1. Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. L 178/1. Richtlinie 2001/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.3.2001 über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen, ABl. L 110/28. Richtlinie 2002/13/EG vom 5.3.2002 zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG des Rates hinsichtlich der Bestimmungen über die Solvabilitätsspanne für Schadenversicherungsunternehmen, ABl. EG L 77/17; Richtlinie 2002/83/EG vom 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. L 345/1. Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, ABl. L 271/16. Richtlinie 2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2002 über die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines Finanzkonglomerats und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 79/267/EWG, 92/96/EWG, 93/6/EWG und 93/22/EWG des Rates und der Richtlinien 98/78/EG und 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 35/1. Richtlinie 2002/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates von 9.12.2002 über Versicherungsvermittlung, ABl. L 9/3. Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. L 373/37. Richtlinie 2005/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.11.2005 über die Rückversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 92/49/EWG und der Richtlinien 98/78/EG und 2002/83/EG, ABl. L 323/1. Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (kodifizierte Fassung), ABl. L 263/11. Richtlinie 2009/138/EG vom 25.11.2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit, ABl. L 335/1. Richtlinie 2016/97/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.1.2016 über Versicherungsvertrieb (IDD), ABl. L 26/19. Durchführungsverordnung (EU) 2017/1469 der Kommission vom 11.8.2017 zur Festlegung eines Standardformats für das Informationsbaltt zu Versicherungsprodukten, ABl. L 209/19. Sonstige Rechtsakte der Union: Mitteilung der Kommission vom 11.5.1999 – Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Aktionsplan, KOM(1999)232 endg. Vorschlag der Kommission vom 5.11.2003 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 85/611/EWG, 91/675/EWG,

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht 93/6/EWG und 94/19/EG des Rates sowie der Richtlinien 2000/12/EG, 2002/83/EG und 2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung einer neuen Ausschussstruktur im Finanzdienstleistungsbereich, KOM(2003) 659 endg. Mitteilung der Kommission über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und abgestimmten Verhaltensweisen im Versicherungssektor vom 30.3.2010, ABl. 2010 C 82/20. Grünbuch der Kommission vom 1.7.2010 – Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen, KOM (2010) 348 endg. Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit vom 14.1.2011, ABl. 2011 C 11/1. Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 78/2011 vom 1.7.2011 zur Änderung von Anhang IX (Finanzdienstleistungen) des EWR-Abkommens, ABl. 2011 L 262/45. Mitteilung der Kommission vom 22.12.2011 – Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2004/113/EG des Rates auf das Versicherungswesen im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-236/09 (Test-Achats), K(2011) 9497 endg. Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 17.3.2016 über das Funktionieren der Verordnung (EU) Nr. 267/2010 der Kommission über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und abgestimmten Verhaltensweisen im Versicherungssektor, COM(2016) 153 final.

A. Einleitung I. Rechtsquellen und Entwicklung des Europäischen Versicherungsrechts 1 Die allmähliche Europäisierung des Versicherungsrechts lässt sich als dynamischer und stufenweiser Prozess darstellen. Zunächst standen die primärrechtlichen Grundfreiheiten, insbesondere die in Art. 49 AEUV (ex Art. 43 EGV) und Art. 56 AEUV (ex Art. 49 EGV) geregelte Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit im Vordergrund. Ab den 1970erJahren setzte dann ein Prozess der Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten in Form von insgesamt drei Richtliniengenerationen (jeweils unterteilt in den Schadens- und Lebensversicherungsbereich) ein. Mit der Ersten Richtliniengeneration1 wurden insbesondere die Zulassungsbedingungen für die Aufnahme der Versicherungstätigkeit und die Errichtung von Zweigniederlassungen harmonisiert2 und Eigenmittelanforderungen erstmals einheitlich postuliert.3 Die Zweite Richtliniengeneration4 brachte vor allem Neuerungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit, indem die ständige Präsenz eines Unternehmens in einem Mitgliedstaat der Errichtung einer Agentur oder 1 Erste Richtlinie 73/239/EWG des Rates v. 24.7.1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung), ABl. L 228, 3, im Folgenden zitiert als Erste Richtlinie Schaden sowie Erste Richtlinie 79/267/EWG des Rates v. 5.3.1979 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (Lebensversicherung), ABl. L 63, 1, im Folgenden zitiert als Erste Richtlinie Leben. 2 Vgl. jeweils Art. 6 ff. und Art. 10 ff. Erste Richtlinie Schaden und Erste Richtlinie Leben. 3 Art. 13 ff. Erste Richtlinie Schaden; Art. 18 ff. Erste Richtlinie Leben. 4 Zweite Richtlinie 88/357/EWG des Rates v. 22.6.1988 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG, ABl. L 172, 1, im Folgenden zitiert als Zweite Richtlinie Schaden sowie Zweite Richtlinie 90/619/EWG des Rates v. 8.11.1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG, ABl. L 330, 50, im Folgenden zitiert als Zweite Richtlinie Leben.

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A. Einleitung einer Niederlassung gleichgestellt wurde.5 Zudem wurden Bestimmungen über das Internationale Privatrecht aufgenommen. Die Dritte Richtliniengeneration6 führte das Sitzlandprinzip sowie das Single-Licence-Prinzip ein (hierzu eingehend → Rn. 135). Nach dem Sitzlandprinzip unterliegt die Finanzaufsicht in ihrer Gänze der Aufsichtsbehörde des Staates, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat und die Rechtsaufsicht in Kooperation mit der Aufsichtsbehörde des Herkunftstaates. Nach dem Single-Licence-Prinzip können nunmehr Unternehmen, die in einem Mitgliedstaat die Zulassung zum Geschäftsbetrieb erhalten haben, in allen anderen Mitgliedstaaten parallel tätig werden, ohne dass es einer erneuten Zulassung bedarf. Die Lebensversicherungsrichtlinien sind mittlerweile in einer Gesamtrichtlinie Leben zusammengefasst worden.7 Weitere Richtlinienvorgaben im Versicherungsbereich stellen die Versicherungsgruppenrichtlinie,8 die Finanzkonglomeraterichtlinie,9 die Liquidationsrichtlinie,10 die Rückversicherungsrichtlinie,11 die Versicherungsvermittlerrichtlinie,12 die Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD),13 die KfZ-Haftpflichtversicherungsrichtlinie,14 die Mitversicherungsrichtlinie,15 die Kredit- und Kautionsversiche-

5 Jeweils Art. 2 Zweite Richtlinie Schaden und Zweite Richtlinie Leben. 6 Richtlinie 92/49/EWG des Rates v. 18.6.1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadenversicherung), ABl. L 228, 1, im Folgenden zitiert als Dritte Richtlinie Schaden; Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10.11.1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), ABl. L 360, 1, im Folgenden zitiert als Dritte Richtlinie Leben. 7 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. L 345/1. 8 Richtlinie 98/78/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.10.1998 über die zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versicherungsgruppe angehörenden Versicherungsunternehmen, ABl. L 330/1. 9 Richtlinie 2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2002 über die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines Finanzkonglomerats und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 79/267/EWG, 92/96/EWG, 93/6/EWG und 93/22/EWG des Rates und der Richtlinien 98/78/EG und 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 35/1. 10 Richtlinie 2001/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.3.2001 über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen, ABl. L 110/28. 11 Richtlinie 2005/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.11.2005 über die Rückversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 92/49/EWG und der Richtlinien 98/78/EG und 2002/83/EG, ABl. L 323/1. 12 Richtlinie 2002/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.12.2002 über Versicherungsvermittlung, ABl. L 9/3. 13 Richtlinie (EU) 2016/97 des europäischen Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 über Versicherungsvertrieb, ABl. L 26/19. 14 Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (kodifizierte Fassung), ABl. L 263/11. 15 Richtlinie 78/473/EWG des Rates v. 30.5.1978 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Mitversicherung auf Gemeinschaftsebene, ABl. L 151/25.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht rungsrichtlinie,16 die Rechtsschutzversicherungsrichtlinie17 sowie die Solvabilitätsrichtlinien Solvency I18 und Solvency II19 dar.

II. Themenstruktur 2 Im Folgenden soll ein Überblick über die wichtigsten Bereiche des Versicherungsaufsichtsund Versicherungsprivatrechts gegeben werden. Von besonderer Bedeutung im Rahmen des Versicherungsaufsichtsrechts ist die institutionelle Seite (hierzu → Rn. 3 ff.), die durch die Schaffung der EIOPA eine europäische Dimension erhielt. Von großer Bedeutung ist daneben die Richtlinie Solvency II zur Bestimmung der erforderlichen Eigenmittelanforderungen (hierzu → Rn. 52 ff.). Zuletzt in diesem Abschnitt werden die Regelungen zu grenzüberschreitenden Versicherungsgeschäften näher erläutert (→ Rn. 132 ff.). Im Rahmen des Versicherungsvertragsrechts wird zunächst ein Blick auf Verbraucherschutz(→ Rn. 152 ff.) sowie auf die Gleichbehandlungs- und Antidiskriminierungsvorschriften (→ Rn. 211 ff.) geworfen. Anschließend werden Einzelfragen der Rechtsschutz(→ Rn. 229ff.) und der KfZ-Haftpflichtversicherung (→ Rn. 232 ff.) diskutiert, bevor eingehender auf die europäisch vereinheitlichten Vorgaben zum Kollisionsrecht gemäß der Rom I-Verordnung (→ Rn. 250 ff.) und zum Internationalen Zivilverfahrensrecht gemäß der Brüssel Ia-Verordnung (→ Rn. 285 ff.) sowie die Einführung eines optionalen Instruments für Versicherungsverträge (→ Rn. 298 ff.) eingegangen wird. Abschließend wird kurz auf das Versicherungskartellrecht (→ Rn. 305 ff.) und das Vermittlerrecht aus gewerberechtlicher Perspektive (→ Rn. 320 ff.) eingegangen.

B. Versicherungsaufsichtsrecht I. Institutionelle Seite 3 Das deutsche Versicherungsaufsichtsrecht geht auf ein Gesetz des Kaiserreichs von 1901 zurück.20 Das ist – trotz der vielen Änderungen und Reformen – bis heute in dem einen oder anderen Detail spürbar. Besonders starke Impulse grundlegender Änderungen kamen in den letzten Jahrzehnten vor allem aus dem Unionsrecht. So stellt gerade die institutionelle Seite neben der Umsetzung der Solvency II-Richtlinie die bedeutendste Entwicklung im Bereich der Europäischen Versicherungsaufsicht der letzten Jahre dar. Mit EIOPA (European Insurance and Occupational Pension Authority) wurde zum 1.1.2011 eine einheitliche Europäische Versicherungsaufsichtsbehörde mit eigenen Befugnissen errichtet; mehr zur EIOPA → Rn. 8 ff. Die EIOPA ist zwar die erste Behörde im Versicherungsbereich auf europäischer Ebene, die mit weitreichenden Eingriffsbefugnissen ausgestattet ist. Sie ist jedoch nicht die erste Einrichtung im Bereich der europäischen Versicherungsaufsicht. Vielmehr entwickelte sie sich aus CEIOPS (Committee of European Insurance and Occupational Pension Supervisors). Ein kodifiziertes europäisches Versicherungsaufsichtsrecht exis16 Richtlinie 87/343/EWG des Rates v. 22.6.1987 zur Änderung hinsichtlich der Kreditversicherung und der Kautionsversicherung der Ersten Richtlinie 73/239/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung); ABl. L 185/72. 17 Richtlinie 87/344/EWG des Rates v. 22.6.1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung, ABl. L 185/77. 18 Richtlinie 2002/13/EG v. 5.3.2002 zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG des Rates hinsichtlich der Bestimmungen über die Solvabilitätsspanne für Schadenversicherungsunternehmen, ABl. L 77/17; Richtlinie 2002/83/EG v. 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. L 345/1. 19 Richtlinie 2009/138/EG v. 25.11.2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit, ABl. L 335/1, im Folgenden zit. als Solvency II-RL. 20 Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen v. 12.5.1901, RGBl I, 139; das Gesetz trat kraft der kaiserlichen Verordnung v. 24.11.1901, RGBl I, 489, am 1.1.1902 in Kraft.

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tiert nicht, weshalb zur Bestimmung der Reichweite von Aufgaben und Befugnissen Europäischer Einrichtungen auf deren Gründungsakt verwiesen werden muss. 1. EIOPC/CEIOPS Mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 entstand bereits die EGKonferenz der Versicherungsaufsicht. Im Jahr 2003 gründete sich daraus der Europäische Ausschuss für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, „European Insurance and Operational Pension Committee“ (EIOPC).21 Die Aufgaben des Versicherungsausschusses wurden seitens des EIOPC übernommen und durch weitere Aufgabenbereiche ergänzt. Daneben entstand ein neuer Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, „Committee of European Insurance and Occupational Pension Supervisors“ (CEIOPS),22 um den Aktionsplan für Finanzdienstleistungen23 zum Aufbau eines europäischen Finanzbinnenmarktes für den Bereich der Versicherungsaufsicht durchzuführen. Besondere Funktionen kamen den beiden Ausschüssen bei der Gesetzgebung im sog Lamfalussy-Verfahren (hierzu mehr → Rn. 74) zu. Dabei agierte EIOPC zunächst als Ausschuss auf den Leveln 1 und 2. Ihm oblag sowohl die Beratung der Kommission während der Ausarbeitung der Rechtsvorschriften (Stufe 1) als auch die Unterstützung der Kommission bei der Wahrnehmung von Durchführungsbefugnissen (Stufe 2), sog Komitologiefunktion. Demgegenüber wurde CEIOPS ursprünglich lediglich als Level 3-Ausschuss eingesetzt. Seine Aufgabe lag in der Förderung und Weiterentwicklung der gängigen Aufsichtspraktiken sowie der Kommunikation zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden und der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Regulierungsagenturen. Besondere Bedeutung kam jedoch der Beratung der Kommission in technischen Fragen, insbesondere im Hinblick auf die Ausarbeitung von Durchführungsbestimmungen (Stufe 3) zu. Der aus hochrangigen Vertretern der nationalen Aufsichtsbehörden bestehende CEIOPS nahm am 24.11.2003 seine Arbeit auf. Er hatte zwar keine Rechtspersönlichkeit kraft europäischen Rechts, wurde aber als eingetragener Verein nach deutschem Recht mit Sitz in Frankfurt aM registriert.24 Finanziert wurde CEIOPS ursprünglich aus Beiträgen nationaler Aufsichtsbehörden. Neben den Arbeiten als Ausschuss im Rahmen des Lamfalussy-Verfahrens kamen dem CEIOPS auch andere wesentliche Aufgaben zur Stärkung der Aufsichtskonvergenz zu. So erließ es beispielweise 2007 ein Protokoll zur Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden in der EU25 sowie ein Protokoll über Mediationsverfahren bei CEIOPS.26 Seit 2009 wurde es zur Hauptaufgabe von CEIOPS, den Prozess der Umsetzung von Solvency II zu unterstützen und voranzutreiben. Um die Rolle der Ausschüsse im Lamfalussy-Verfahren eindeutiger festzulegen, wurden Aufgaben und Entscheidungsverfahren des CEIOPS 2009 geändert.27 CEIOPS übernahm mithin die Rolle des EIOPC und sollte der Kommission bereits bei der Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse auf Level 2 21 KOM(2003) 659 endg. eingesetzt durch Beschlüsse der Kommission 2004/9/EG v. 5.11.2003, ABl. L 3/34. 22 KOM(2003) 659 endg. eingesetzt durch Beschlüsse der Kommission 2004/6/EG v. 5.11.2003, ABl. L 3/30; zuletzt neu eingesetzt durch Kommissionsbeschluss vom 23.1.2009, ABl. L 25/28. 23 KOM(1999) 232 endg. 24 Schröder in Looschelders/Pohlmann Einleitung D. Rn. 7. 25 „General Protocol relating to the collaboration of the insurance supervisory authorities of the Member States of the European Union“, March 2008, CEIOPS-DOC-07/08. 26 „Protocol on Mediation between Insurance and Pensions Supervisors“, October 2007, CEIOPSDOC-14/07. 27 Vgl. Beschluss der Kommission v. 23.1.2009, 2009/79/EG, ABl. L 25/28.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht beratend zur Seite stehen. Die Aufgaben des CEIOPS auf Level 3 wurden sodann erweitert. Numnehr sollte es auch die mitgliedstaatlichen Finanzaufsichtsbehörden bei der Beseitigung von Meinungsverschiedenheiten unterstützen, um eine möglichst einheitliche Aufsichtspraxis zu schaffen. Die Rolle des CEIOPS bei der Sicherung der Finanzmarktstabilität wurde gestärkt. Weitere Änderungen im Verlaufe der Restrukturierung 2009 folgten im Wesentlichen der seit 2008 bereits ausgeübten Praxis. So wurden nun erstmals die Handlungsformen des CEIOPS (Leitlinien, Empfehlungen, Standards) explizit benannt. Das Entscheidungserfordernis der Einstimmigkeit wurde zugunsten einer lediglich qualifizierten Mehrheit geändert. Darüber hinaus wurde der Grundsatz „comply or explain“ bei der Nichtanwendung eines CEIOPS-Beschlusses für die Mitgliedstaaten verbindlich vorgeschrieben. Danach haben diese eine Begründung einzureichen, wenn sie einem CEIOPSBeschluss nicht folgen. 2. EIOPA

8 Zum 1.1.2011 nahm die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA)28 mit Sitz in Frankfurt aM ihre Arbeit auf. Die Errichtung der EIOPA war eine Maßnahme innerhalb eines ganzen Maßnahmenbündels im Rahmen der Umstrukturierung des europäischen Finanzaufsichtssystems. a) Europäisches Finanzaufsichtssystem (ESFS) 9 Die Finanzkrise 2007/2008 zeigte, dass das bis dato bestehende Aufsichtssystem zumindest im Bankensektor erhebliche Mängel und Lücken aufwies. Im Nachgang zur Finanzkrise wurde daher auf Ansinnen der Kommission eine Expertengruppe eingesetzt, um die Ursachen der Finanzkrise zu analysieren. Das Ergebnis dieser Analyse wurde sodann 2009 in dem sog de Larosière-Bericht29 zusammengefasst und bereits Möglichkeiten zur Restrukturierung des Finanzaufsichtssystems vorgeschlagen. Als Kernaspekte arbeitete die Expertengruppe um Jacques de Larosière heraus, dass es vorwiegend an einem funktionierenden Früherkennungssystem sowie einer effektiven Zusammenarbeit der betroffenen Akteure fehlte. Der europäische Gesetzgeber reagierte sodann mit einem Maßnahmenpaket, das weitestgehend den Vorschlägen zur Umgestaltung des Aufsichtssystems aus dem de Larosière-Bericht folgte. 10 Die Aufsichtsstruktur auf europäischer Ebene unterteilt sich in eine mikroprudentielle sowie eine makroprudentielle Ebene. Zur mikroprudentiellen Aufsicht gehören neben der EIOPA die zeitgleich entstandene Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) mit Sitz in London (ab 2019: Paris) und die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA) mit Sitz in Paris in Zusammenarbeit mit den nationalen Aufsichtsbehörden.30 Ein Gemeinsamer Ausschuss dient des Weiteren dem regelmäßigen Austausch und der verstärkten Zusammenarbeit zwischen diesen drei Europäischen Aufsichtsbehörden (ESA). Er setzt sich nach Art. 55 Abs. 1 der Verordnung von EIOPA zusammen aus den jeweiligen Vorsitzenden der ESA und den Vorsitzenden etwaig gebildeter Unterausschüsse. Der Exekutivdirektor der jeweiligen ESA sowie ein Vertreter der Kommission können als Beobachter an den Sitzungen des Gemeinsamen Ausschusses teilnehmen.

28 Durch Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, ABl. L 331/48 EU, zit. im Folgenden als EIOPA-VO. 29 De Larosière-Report, Brüssel v. 25.2.2009: „The High-Level-Group on Financial Supervision in the EU“. 30 Lediglich die Aufsicht über die Ratingagenturen obliegt der ESMA alleine.

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Die ESA traten jeweils an die Stelle der Level 3-Ausschüsse CEIOPS, CEBS und CESR und 11 übernehmen sämtliche Aufgaben und Zuständigkeiten dieser Ausschüsse, gegebenenfalls einschließlich der Fortführung laufender Arbeiten und Projekte.31 Auf makroprudentieller Ebene wurde der Europäische Ausschuss für Systemrisiken, Euro- 12 pean Systemic Risk Board (ESRB) errichtet, um einen übergeordneten Blick auf die Entwicklung des Finanzmarktes an sich sowie auf die Arbeiten der Aufsichtsbehörde werfen und Systemrisiken so in Zukunft schneller erkennen zu können. Im ESRB sind neben den Vorsitzenden der EBA, ESMA und EIOPA auch der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB-Rat, ECB-Council) und die Kommission vertreten. Die Zusammenarbeit zwischen mikroprudentieller und makroprudentieller Aufsicht wird dabei so ablaufen, dass sich die ESA und der ESRB zunächst gegenseitig mit Informationen versorgen. Der ESRB sammelt, analysiert und definiert die Informationen sodann, um in der Entstehung befindliche Risiken identifizieren und bewerten zu können. Bei entsprechender Risikoerkennung kann das ESRB sodann Warnungen und Empfehlungen an die EU insgesamt, die einzelnen Mitgliedstaaten, die ESAs, die nationalen Aufseher sowie die Kommission ausgeben. Dabei setzt das ESRB eine Frist zur Umsetzung entsprechender Maßnahmen. b) Struktur der EIOPA Anders als noch CEIOPS32 besitzt die EIOPA nach Art. 5 Abs. 1 der EIOPA-VO eine eige- 13 ne Rechtspersönlichkeit nach europäischem Recht. aa) Organe Die EIOPA setzt sich nach Art. 6 der EIOPA-VO zusammen aus einem Rat der Aufseher 14 (Art. 40 ff. EIOPA-VO), einem Verwaltungsrat (Art. 45 ff. EIOPA-VO), einem Vorsitzenden (Art. 48 ff. EIOPA-VO), einem Exekutivdirektor (Art. 51 ff. EIOPA-VO) und einem Beschwerdeausschuss (Art. 60 EIOPA-VO). Das zentrale Organ der EIOPA ist der Rat der Aufseher. Er wird nicht ohne Berechtigung 15 als Hauptorgan33 bezeichnet. Das aus insgesamt 32 Mitgliedern bestehende Aufsichtsorgan gibt die Leitlinien für die Arbeiten der Behörde vor, gibt Stellungnahmen und Empfehlungen ab, erteilt Ratschläge und erlässt die Beschlüsse zur Ausübung der der EIOPA zugewiesenen Befugnisse, vgl. Art. 43 Abs. 1 und Abs. 2 EIOPA-VO. Hierunter fallen insbesondere auch die bindenden Anordnungen nach Art. 17-19 EIOPA-VO. Er beschließt nach Art. 43 EIOPA-VO auf Vorschlag des Verwaltungsrates den Jahresbericht hinsichtlich der Tätigkeit der Behörde (Abs. 5) und legt die vom Exekutivdirektor erstellten34 und vom Verwaltungsrat vorgeschlagenen35 mehrjährigen Arbeitsprogramme (Abs. 6) sowie das Arbeitsprogramm für das Folgejahr (Abs. 4) fest. Ferner ernennt der Rat der Aufseher den Vorsitzenden (Abs. 3), erlässt den Haushaltsplan (Abs. 7) und übt die Disziplinargewalt über den Vorsitzenden und den Exekutivdirektor aus (Abs. 8). Er setzt sich zusammen aus je einem Vertreter der Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten, dem Vorsitzenden, einem Vertreter der Kommission, einem Vertreter des ESRB und je einem Vertreter der beiden übrigen EBA und der ESMA. Die Beschlussfassung erfolgt grundsätzlich mit einfacher Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder, vgl. Art. 44 Abs. 1 EIOPA-VO. Abweichend hiervon beschließt der Rat der Aufseher in den Fällen von Maßnahmen in Bezug auf technische Regulierungsstandards, Beschlüssen zur Überprüfung des Verbotes be31 32 33 34 35

Vgl. zur Ersetzung des CEIOPS durch EIOPA Erwägungsgrund Nr. 9 der EIOPA-VO. S. Fn. 25. Schröder in Looschelders/Pohlmann Einleitung D. Rn. 9. Das ergibt sich aus Art. 53 Abs. 4 bzw. 5 EIOPA-VO, dazu sogleich. Das ergibt sich aus Art. 47 Abs. 2 EIOPA-VO, dazu sogleich.

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stimmter Finanztätigkeiten und Maßnahmen sowie Beschlüssen über Finanzen mit qualifizierter Mehrheit. Stimmberechtigt sind lediglich die Vertreter der Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten. 16 Im deutschen Schrifttum ist gefordert worden, im Einzelfall den Vertreter eines von der Abstimmung betroffenen Mitgliedstaates von der Abstimmung auszuschließen.36 Die Begründung für diese Ansicht lehnt sich an Grundsätze des deutschen Gesellschaftsrechts an. Eine solche Argumentation, die an nationales Recht und zudem an zivilrechtliche Spezialvorschriften mit ihrer eigenen Sachlogik anknüpft, ist doppelt verfehlt. Dabei wird verkannt, dass es in diesem Gremium nicht um einen privatrechtlichen Ausgleich wirtschaftlicher Interessen geht, deren Geltendmachung gegebenenfalls durch Betroffenheit verzerrt würde. Vielmehr geht es bei dem Gremium der EU um eine Repräsentation der Staaten. Die supranationale Besonderheit der EU besteht zwar ua darin, dass der völkerrechtliche Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten und der daraus folgenden Einstimmigkeit von Beschlüssen zugunsten eines modifizierten Mehrheitsprinzips durchbrochen wird. Letzteres folgt keiner demokratisch egalitären Repräsentation der Bürger, nimmt aber immerhin auf die Größe der Mitgliedstaaten ebenso wie darauf Rücksicht, dass ein einzelner Staat die Handlungsfähigkeit der Gremien nicht blockieren können soll. Auf diese Konzeption der EU haben sich die Mitgliedstaaten politisch eingelassen mit der Maßgabe, den ihnen verbliebenen Einfluss auch und gerade dann wahrnehmen zu können, wenn nationale Interessen betroffen sind. Deshalb ist Betroffenheit keine Voraussetzung zur Partizipation und erst Recht kein Grund zum Ausschluss im Einzelfall. Das impliziert die Möglichkeit, entgegenstehende nationale Interessen artikulieren zu können ebenso wie die Möglichkeit, letztlich überstimmt zu werden. Auch die speziellen Regeln zur Unabhängigkeit der EIOPA37 und der Mitglieder ihrer Organe, nämlich die Art. 42, 46, 49, 52 und 59 EIOPA-VO, bestätigen die hier vertretene Position. Dort ist für alle Mitglieder der EIOPAOrgane ein Gebot der Weisungsfreiheit geregelt, das sich wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts gegen nationales Recht durchsetzen würde. In ihrer Position bei der EIOPA müssen nach diesen Vorschriften alle Mitglieder das Interesse der Union vertreten, dh nationale Interessen letztlich zurückstellen. Das ist vor allem nach Art. 42 EIOPA-VO für die Mitglieder des Rates der Aufseher bemerkenswert, die nach Art. 40 Abs. 1 lit. b EIOPAVO zugleich Leiter der nationalen Aufsichtsbehörden sind. Die Zusammensetzung des Gremiums hat eine Janusköpfigkeit dieser Amtsträger zur Folge und durchbricht die aus dem Demokratieprinzip folgende nationale Verantwortlichkeit. Für den Beschwerdeausschuss sind in Art. 59 EIOPA-VO neben Aspekten der Unabhängigkeit auch solche der Unparteilichkeit geregelt. Danach löst die Mitwirkung an Beschlüssen, gegen die Beschwerde eingelegt wurde, Befangenheit aus. Im Umkehrschluss daraus bestätigt sich, dass die Mitwirkung an nationalen Aufsichtsakten, die Gegenstand einer Beanstandung nach Art. 17 EIOPA-VO sind, den nationalen Aufseher nicht aus dem beschlussfassenden Rat der Aufseher ausschließt. 17 Der Verwaltungsrat besteht aus sieben Mitgliedern. Während der Entwurf der Verordnung noch einen Vertreter der Kommission, den Vorsitzenden und vier Mitglieder aus den Reihen des Rates der Aufseher (also insgesamt sechs stimmberechtigte Mitglieder) vorsah, hat sich das Verhältnis der Mitglieder in der Endfassung zugunsten der Mitglieder aus dem Rat der Aufseher verändert. Danach stammen sechs Mitglieder aus dem Kreis des Rates der Aufseher und werden von diesem gewählt. Der Vorsitzende stellt weiterhin

36 So auch Forst VersR 2010, 155 (157) unter Hinweis auf allgemeine körperschaftliche Grundsätze zB aus § 34 BGB, § 136 Abs. 1 AktG, § 47 Abs. 4 GmbHG. 37 Allgemein zur Unabhängigkeit der EIOPA und ihrer alleinigen Bezogenheit auf die Interessen der Union: Art. 1 Abs. 6 UAbs. 4 EIOPA-VO.

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ebenfalls ein stimmberechtigtes Mitglied des Verwaltungsrates dar, vgl. Art. 45 EIOPAVO. Die Stimmberechtigung des Vertreters der Kommission ist hingegen weggefallen. Dieser darf nach Art. 45 Abs. 2 UAbs. 2 EIOPA-VO gemeinsam mit dem Exekutivdirektor ohne Stimmrecht (mit Ausnahme von Fragen, die Art. 63 EIOPA-VO betreffen) an den Sitzungen teilnehmen. Auch hier wird also die Tendenz deutlich, der EU möglichst wenig Einflussmöglichkeit auf die Behörde zu belassen. Der Verwaltungsrat nimmt die Stellung eines Überwachungsorgans ein und sorgt dafür, dass die EIOPA ihren Auftrag ausführt und die ihr durch die Verordnung zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt, Art. 47 Abs. 1 EIOPA-VO. Dabei schlägt der Verwaltungsrat dem Rat der Aufseher das Jahresprogramm und das mehrjährige Arbeitsprogramm zur Annahme sowie auf der Grundlage des Berichtsentwurfes einen Jahresbericht über die Tätigkeit der EIOPA zur Billigung vor, übt die Haushaltsbefugnisse und die Personalplanung aus, erlässt Bestimmungen über den Zugang zu den Dokumenten der EIOPA und bestellt und entlässt die Mitglieder des Beschwerdeausschusses, vgl. Art. 47 EIOPA-VO.38 Der Vorsitzende der EIOPA vertritt die Behörde in erster Linie nach außen. Er übt sein 18 Amt als Vollzeitbeschäftigter aus, vgl. Art. 48 Abs. 1 EIOPA-VO. Gewählt wird der Vorsitzende durch den Rat der Aufseher im Anschluss eines offenen Auswahlverfahrens aufgrund überragender Verdienste und Kompetenzen, seiner Kenntnisse im Bereich des Finanzmarktes und über Finanzinstitute sowie seiner Fähigkeiten auf dem Gebiet der Finanzaufsicht und -regulierung. Innerhalb eines Monats nach Auswahl des Kandidaten und vor Amtsantritt steht dem Europäischen Parlament ein Vetorecht zu. Der Verordnungsentwurf sah in diesem Fall noch eine positive Mitwirkung durch das Europäische Parlament in Form einer Bestätigung vor, vgl. Art. 33 Abs. 2 UAbs. 2 VO-E. Während der Verordnungsentwurf bei der Ernennung des Vorsitzenden noch ein „mehr“ an Mitwirkung durch das Europäische Parlament verlangte, musste das Europäische Parlament hinsichtlich der Amtsenthebung auch lediglich die Entscheidung des Rates der Aufseher bestätigen. Demgegenüber kann der Vorsitzende nach der endgültigen Fassung der Verordnung nur noch durch das Europäische Parlament nach Beschluss des Rates der Aufseher seines Amtes enthoben werden, vgl. § 48 Abs. 5 EIOPA-VO. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre, eine Wiederwahl ist einmalig möglich. Zu seinen weiteren Aufgaben gehört die Vorbereitung sowie Leitung der Sitzungen des Rates der Aufseher sowie die Leitung der Sitzungen des Verwaltungsrates. Durch die Leitung der Sitzungen stehen dem Vorsitzenden neben der Vertretung der EIOPA also auch Geschäftsführungsfunktionen zu. Nach Art. 50 Abs. 1 EIOPA-VO können das Europäische Parlament und der Rat den Vorsitzenden oder seinen Stellvertreter auffordern, eine Erklärung vor dem Europäischen Parlament abzugeben und sich den Fragen der Mitglieder zu stellen. Nach Art. 50 Abs. 2 EIOPA-VO hat der Vorsitzende dem Europäischen Parlament ebenfalls einen Bericht über die wichtigsten Tätigkeiten der Behörde vorzulegen, wenn er dazu aufgefordert wird. Der Exekutivdirektor wird gleich dem Vorsitzenden als Vollzeitbeschäftigter auf fünf Jah- 19 re mit der Möglichkeit der einmaligen Wiederwahl durch den Rat der Aufseher ernannt. Ein Unterschied liegt lediglich darin, dass das Europäische Parlament hier weder bei der Wahl noch bei der Amtsenthebung Mitwirkungsmöglichkeiten hat. Letztere erfolgt vielmehr allein durch Beschluss des Rates der Aufseher. Hinsichtlich der Qualifikation des Exekutivdirektors kommen neben den Anforderungen an den Vorsitzenden lediglich die Erfahrung als Führungskraft hinzu, vgl. Art. 51 Abs. 2 EIOPA-VO. Obwohl in Art. 5 Abs. 3 EIOPA-VO festgelegt ist, dass die EIOPA von ihrem Vorsitzenden vertreten wird, gehören sowohl die Geschäftsführung als auch teilweise die Vertretung der Behörde zu 38 Forst VersR 2010, 155 (158) geht davon aus, dass diese Funktion besser durch das Europäische Parlament wahrgenommen werden sollte.

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den Aufgaben des Exekutivdirektors.39 So erlässt er bspw. interne Verwaltungsanweisungen und veröffentlicht Mitteilungen (Geschäftsführung, vgl. Art. 53 Abs. 3 EIOPA-VO), übt jedoch nach Abs. 8 EIOPA-VO auch Befugnisse gegenüber dem Personal aus und regelt Personalangelegenheiten. Hier muss man den Begriff der Vertretung wohl als eigenständigen unionsrechtlichen Begriff verstehen, auf den nicht die Bedeutung des deutschen Rechts (insbesondere die scharfe Abgrenzung zur Geschäftsführung) übertragen werden kann.40 Nach dem Wortlaut der Verordnung übernimmt der Exekutivdirektor die „Leitung“41 der Behörde. Zu den weiteren Aufgaben des Exekutivdirektors gehören nach Art. 53 EIOPA-VO unter Mitwirkung des Rates der Aufseher und des Verwaltungsrates die Durchführung des Jahresarbeitsprogramms (Abs. 2), die Erstellung des mehrjährigen Arbeitsprogrammes (Abs. 4) und des Arbeitsprogrammes für das Folgejahr (Abs. 5), die Erstellung des Entwurfs des Haushaltsplans und die Ausführung des Haushaltsplans (Abs. 6) sowie die Erstellung eines Berichtsentwurfs, der jeweils Abschnitte über die Regulierungs- und Aufsichtstätigkeiten der EIOPA und über finanzielle und administrative Angelegenheiten enthält (Abs. 7). 20 Im Gegensatz zu den vorgenannten Organen stellt der Beschwerdeausschuss ein gemeinsames Gremium und somit ein gemeinsames Organ aller drei Finanzaufsichtsbehörden (ESA) dar. Er besteht nach Art. 58 Abs. 2 EIOPA-VO aus sechs Mitgliedern und sechs Stellvertretern, wobei jeweils zwei Mitglieder und zwei Stellvertreter von den einzelnen ESA-Behörden für fünf Jahre ernannt werden. Diese werden vom jeweiligen Verwaltungsrat nach Anhörung des Rates der Aufseher aus einer Auswahlliste ernannt, die die Kommission im Anschluss an eine öffentliche Aufforderung zur Interessenbekundung vorschlägt (Art. 58 Abs. 3 EIOPA-VO). Die Amtszeit kann dabei einmal verlängert werden. Der Beschwerdeausschuss beschließt mit einer Zweidrittelmehrheit. Betrifft der angefochtene Beschluss Belange der EIOPA, so verlangt das Gesetz, dass mindestens einer der zwei Vertreter der EIOPA der Beschlussmehrheit angehört (Art. 58 Abs. 6 EIOPA-VO). Für die beiden übrigen ESA-Behörden gilt die Regelung entsprechend. bb) Aufgaben 21 In Art. 8 EIOPA-VO wird zwischen den Aufgaben der Behörde und den ihr zur Erfüllung der Aufgaben zustehenden Befugnisse unterschieden. Zu den Hauptaufgaben nach Abs. 1 zählen: n die Leistung eines Beitrags zur Festlegung qualitativ hochwertiger gemeinsamer Regulierungs- und Aufsichtsstandards und -praktiken mittels der Abgabe von Stellungnahmen an die Organe der EU, der Ausarbeitung von Leitlinien, Empfehlungen sowie Entwürfen für technische Regulierungs- und Durchführungsmaßnahmen, die sich auf die in Art. 1 Abs. 2 EIOPA-VO genannten Gesetzgebungsakte stützen (lit. a); n die Schaffung einer gemeinsamen Aufsichtskultur, die die kohärente, effiziente und wirksame Anwendung der in Art. 1 Abs. 2 EIOPA-VO genannten Gesetzgebungsakte sicherstellt, eine Aufsichtsarbitrage verhindert, bei Meinungsverschiedenheiten der nationalen Aufsichtsbehörden vermittelt und diese beilegt, eine wirksame und einheitliche Beaufsichtigung der Finanzinstitute sowie ein kohärentes Funktionieren der Aufsichtskollegien sicherstellt, unter anderem in Krisensituationen (lit. b); n die Anregung und Erleichterung von Aufgaben- und Zuständigkeitsdelegationen unter zuständigen Behörden (lit. c); 39 So auch Forst VersR 2010, 155 (158). 40 So auch Forst VersR 2010, 155 (158). 41 Im Verordnungsentwurf wurde an dieser Stelle noch vom „Management“ der Behörde gesprochen, vgl. Art. 38 VO-E.

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die Zusammenarbeit mit dem ESRB, insbesondere der Informationsbeschaffung und der Sicherstellung von Folgemaßnahmen für Warnungen und Empfehlungen seitens des ESRB (lit. d); n die Organisation und Durchführung vergleichender Analysen (sog Peer-Reviews) der zuständigen nationalen Behörden sowie der Herausgabe von Leitlinien und Empfehlungen und der Bestimmung verbindlicher Vorgehensweisen, um die Kohärenz der Ergebnisse der Aufsicht zu stärken (lit. e); n die Überwachung und Bewertung der Marktentwicklungen in ihrem Zuständigkeitsbereich (lit. f.); n die Durchführung wirtschaftlicher Analysen der Märkte, um bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf entsprechende Informationen zurückgreifen zu können (lit. g); n die Förderung des Schutzes der Versicherungsnehmer und Begünstigter (lit. h); n die Förderung einer einheitlichen und kohärenten Funktionsweise der Aufsichtskollegien zur Überwachung, Bewertung und Messung der Systemrisiken und zur Entwicklung und Koordinierung von Sanierungs- und Abwicklungsplänen sowie der Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus für Versicherungsnehmer und Begünstigte in der gesamten Union (lit. i); n die Erfüllung jeglicher sonstiger Aufgaben, die in der VO oder in anderen Gesetzgebungsakten festgelegt sind (lit. j); n die Veröffentlichung regelmäßig aktualisierter Informationen über den Tätigkeitsbereich, insbesondere innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs über Finanzinstitute auf ihrer Website, um sicherzustellen, dass die Informationen für die Öffentlichkeit leicht zugänglich sind (lit. k); n die Übernahme etwaiger bestehender und laufender Aufgaben des CEIOPS (lit. l). Art. 9 EIOPA-VO legt darüber hinaus weitere Aufgaben im Zusammenhang mit dem Ver- 22 braucherschutz und der Sicherheit und Solidität der Finanztätigkeiten auf dem Versicherungsmarkt fest. Nach Art. 9 Abs. 1 EIOPA-VO übernimmt die Behörde eine Führungsrolle bei der Förderung der Transparenz, Einfachheit und Fairness auf dem Markt für Finanzprodukte und -dienstleistungen für Verbraucher im gesamten Binnenmarkt. Zur Erreichung dieses Status obliegen der EIOPA die in Art. 9 Abs. 1 a)–d) und Abs. 2–5 EIOPAVO aufgezählten Einzelaufgaben. Diese reichen bspw. von der Erfassung und Analyse von Verbrauchertrends und deren Berichterstattung, der Entwicklung von Ausbildungsstandards für die Wirtschaft, der Überwachung neuer und bestehender Finanztätigkeiten und der Annahme von Leitlinien und Empfehlungen zur Förderung der Sicherheit und Solidität der Märkte, über die Herausgabe von Warnungen, wenn eine Finanztätigkeit eine ernsthafte Bedrohung für die in Art. 1 Abs. 6 der EIOPA-VO genannten Ziele darstellt, im Krisenfall und unter bestimmten Bedingungen bis hin zur Erwägung etwaiger Verbote bestimmter Finanztätigkeiten. n

cc) Befugnisse Die Befugnisse der EIOPA werden in Art. 8 Abs. 2 EIOPA-VO grob umrissen und im Rah- 23 men der folgenden Artikel konkretisiert. Demnach besitzt die EIOPA insbesondere Befugnisse n zur Entwicklung von Entwürfen technischer Regulierungsstandards in den in Art. 10 EIOPA-VO genannten Fällen (lit. a); n zur Entwicklung von Entwürfen technischer Durchführungsstandards in den in Art. 15 EIOPA-VO genannten Fällen (lit. b); n zur Herausgabe von Leitlinien und Empfehlungen nach Art. 16 EIOPA-VO (lit. c);

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zur Abgabe von Empfehlungen in besonderen Fällen nach Art. 17 Abs. 3 EIOPA-VO (lit. d); n zum Erlass von Beschlüssen an die zuständigen nationalen Behörden im Einzelfall in den in Art. 18 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 3 EIOPA-VO genannten Fällen (lit. e); n zum Erlass von Beschlüssen an die zuständigen nationalen Behörden in Einzelfällen, die das unmittelbar anwendbare Unionsrecht betreffen, in den in Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 und Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO genannten Fällen (lit. f); n zur Abgabe von Stellungnahmen an das Europäische Parlament, den Rat oder die Kommission nach Art. 34 EIOPA-VO (lit. g); n zur Einholung erforderlicher Informationen zu Finanzinstituten nach Art. 35 EIOPAVO (lit. h); n zur Entwicklung gemeinsamer Methoden zur Bewertung der Wirkungen von Produktmerkmalen und Verteilungsprozessen auf die Finanzlage der Institute und den Verbraucherschutz (lit. i); n zur Bereitstellung einer zentral zugänglichen Datenbank der registrierten Finanzinstitute in ihrem Zuständigkeitsbereich, sofern dies in den in Art. 1 Abs. 2 genannten Rechtsakten vorgesehen ist (lit. j). 24 Die Befugnis zur Erstellung technischer Regulierungsstandards gem. Art. 10 EIOPA-VO und technischer Durchführungsstandards gem. Art. 15 EIOPA-VO entspringen der Übernahme von Aufgaben und Befugnissen des CEIOPS und dienen der Wahrnehmung der Aufgaben als Level 3-Behörde im Rahmen des Lamfalussy-Verfahrens. Diese Maßnahmen erlangten also bspw. bei der Umsetzung des Projekts Solvency II (dazu mehr unter → Rn. 52 ff.) besondere Bedeutung. Sie werden seitens der Kommission durch Verordnung oder Beschluss angenommen. 25 Die EIOPA dient gerade auch der Schaffung einer einheitlichen Aufsichtspraxis innerhalb Europas, um einen grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr zu erleichtern und zu fördern. Des Weiteren soll sie eine einheitliche und kohärente Anwendung des vereinheitlichten Unionsrechts sicherstellen. Zu diesem Zweck kann sie Leitlinien und Empfehlungen an die mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörden sowie die einzelnen Finanzinstitute selbst herausgeben, vgl. Art. 16 Abs. 1 EIOPA-VO. Theoretisch ist die Abgabe von Leitlinien und Stellungnahmen weniger einschneidend als die Ausarbeitung technischer Regulierungs- und Durchführungsstandards, zumal sie keinen Rechtssetzungscharakter besitzen, also mithin nicht bindend sind. Für die Praxis sowohl der nationalen Aufsicht als auch als Orientierungsmaßstab für Unternehmen kann die Bedeutung auch nicht bindender Standards aber gar nicht überschätzt werden. 26 Bei Verletzungen des Unionsrechts durch eine nationale Aufsichtsbehörde (insbesondere wenn die fehlerhafte oder nicht genügende Anwendung des Unionsrechts durch ein Finanzinstitut in Rede steht) staffeln sich die Befugnisse der EIOPA in einem dreistufigen Verfahren nach Art. 17 EIOPA-VO. Zunächst richtet die EIOPA nach abgeschlossenem Untersuchungsverfahren eine Empfehlung an die nationale Aufsichtsbehörde, in der die zu ergreifenden Maßnahmen erläutert werden (1. Stufe nach Art. 17 Abs. 2 und 3 EIOPAVO). Kommt die zuständige Behörde dem Ersuchen der EIOPA nicht innerhalb eines Monats nach, kann die EIOPA die Kommission ersuchen, eine förmliche Stellungnahme im Einvernehmen mit der Empfehlung der EIOPA an die nationale Aufsichtsbehörde zu richten (Stufe 2 nach Art. 17 Abs. 4 und 5 EIOPA-VO).42 Kommt die zuständige Behörde dem Ersuchen auch nach Ablauf der durch die Kommission in der Stellungnahme gesetzten Frist nicht nach, kann die EIOPA als ultima ratio einen bindenden Einzelfallbeschluss an das entsprechende Finanzinstitut selbst richten (Stufe 3 nach Art. 17 Abs. 6 EIOPA-VO). n

42 Die Kommission kann ferner auch von Amts wegen eine Stellungnahme einreichen.

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Es handelt sich um eine denkbar weite Generalklausel, die die Reichweite der im deutschen VAG als problematisch diskutierten Generalklausel des § 298 VAG noch übertrifft. Denkbar sind nämlich erforderliche Maßnahmen jeglicher Art. Solche Anordnungen können explizit sogar bis zur Verfügung der „Einstellung jeder Tätigkeit“ des Finanzinstituts reichen. Die Ermächtigung erstreckt sich also auf schwere, ja geradezu existenzielle Grundrechtseingriffe. Die Dreistufigkeit des Verfahrens spiegelt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der für 27 die dritte Stufe noch einmal so konkretisiert wird, dass der Einzelfallbeschluss erforderlich sein muss, um einer Nichteinhaltung des Unionsrechts „ein Ende zu bereiten, um neutrale Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen bzw. um das ordnungsgemäße Funktionieren und die Integrität des Finanzsystems zu gewährleisten und sofern die einschlägigen Anforderungen der in Artikel 1 Absatz 2 genannten Rechtsakte der Union auf Finanzinstitute unmittelbar anwendbar sind.“ Begrifflich sind diese Voraussetzungen nicht sehr hoch. Der Begriff des „Markts“ wird nicht weiter definiert. Es wird nicht vorausgesetzt, dass der Binnenmarkt als Ganzer betroffen ist. Alternativ reicht auch die Notwendigkeit der Maßnahme, um das Funktionieren und die Integrität des Finanzsystems zu gewährleisten. Auch diese Voraussetzungen werden nicht näher konkretisiert, während nach Art. 18 Abs. 1 EIOPA-VO bei Maßnahmen im Krisenfall auch eine teilweise, dafür allerdings ernsthafte Gefährdung der Funktionsfähigkeit und Integrität des Finanzsystems ausreicht.43 Es spricht manches dafür, daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass in Art. 17 Abs. 6 EIOPA-VO das Finanzsystem als Ganzes auf dem Spiel stehen muss, allerdings auch eine weniger als ernsthafte, dh krisenhafte Gefährdung iSd Art. 18 EIOPA-VO ausreicht. Freilich wird man zugestehen müssen, dass der Anwendungsbereich des Art. 17 EIOPA-VO per se vom nationalen Einzelfall ausgeht und dass auch punktuelle Verletzungen des Unionsrechts die Integrität des Finanzmarktes als Ganzen betreffen können. Auch wenn man graduell strenge Maßstäbe an die Verhältnismäßigkeit anlegt, stellen Maßnahmen nach Art. 17 Abs. 6 EIOPA-VO als bindende Anordnung unmittelbar gegenüber den Finanzinstituten eine neue Qualitätsstufe der europäischen Versicherungsaufsicht dar, die auch für derartige Unions-Behörden einen Sonderfall darstellt, der grundsätzliche verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Fragen aufwirft (dazu ausführlicher unter → Rn. 33 ff.). Ähnliche Befugnisse stehen der EIOPA nach Art. 18 EIOPA-VO zu, wenn seitens des Ra- 28 tes eine Krisensituation ausgerufen wurde. Auch in diesem Verfahren gibt es drei Stufen unterschiedlich intensiver Befugnisse der EIOPA. Im Falle von ungünstigen Entwicklungen, die das ordnungsgemäße Funktionieren und die Integrität von Finanzmärkten oder die Stabilität des Finanzsystems gefährden (Art. 18 EIOPA-VO), kann die EIOPA zunächst koordinierende Maßnahmen ergreifen und die seitens der nationalen Aufseher getroffenen Maßnahmen erleichtern. Sodann kann die EIOPA ein Ersuchen an den Rat richten, einen Krisenfall festzustellen (1. Stufe).44 Wurde sodann seitens des Rates in Abstimmung mit der Kommission und dem ESRB sowie gegebenenfalls den ESA ein solcher Krisenfall festgestellt, kann die Behörde die nationalen Aufsichtsbehörden im Einzelfall verpflichten, Maßnahmen zu ergreifen, um auf die ungünstigen Entwicklungen zu reagieren (2. Stufe). Einschränkende Voraussetzung hierbei ist, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, „die ein koordiniertes Vorgehen der nationalen Behörden erfordern, um auf ungünstige Entwicklungen zu reagieren, die das geordnete Funktionieren und die Integrität von Finanzmärkten oder die Stabilität des Finanzsystems […] gefährden können“.45 Kommt die 43 Ebenso kritisch Forst VersR 2010, 155 (160). 44 Das Ersuchen kann ebenso seitens der Kommission oder des ESRB ergehen. 45 Art. 18 Abs. 3 EIOPA-VO.

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nationale Behörde der Verpflichtung innerhalb der ihr gesetzten Frist nicht nach, so kann die EIOPA auch in diesem Fall letztlich einen bindenden Einzelfallbeschluss gegenüber dem Finanzinstitut aussprechen (3. Stufe), wenn die nach Art. 1 Abs. 2 der EIOPA-VO genannten Rechtsakte einschließlich der hiernach erlassenen Rechtsakte (auch technische Regulierungs- und Durchführungsbestimmungen) auf sie Anwendung finden, vgl. Art. 18 Abs. 4 EIOPA-VO. 29 In paralleler Weise darf die EIOPA nach Art. 19 EIOPA-VO Meinungsverschiedenheiten zwischen nationalen Aufsehern beilegen. Hier geht es um grenzüberschreitende Fälle, in denen ein nationaler Aufseher mit dem Vorgehen oder dem Inhalt einer Maßnahme eines anderen nationalen Aufsehers nicht einverstanden ist und ein Ersuchen zur Unterstützung bei der Streitbeilegung an die EIOPA richtet. Zunächst unterstützt die EIOPA die Parteien bei einer gütlichen Einigung (1. Stufe). Dabei kann die EIOPA den beteiligten Aufsichtsbehörden eine Frist zur Beilegung ihrer Meinungsverschiedenheit setzen. Finden die Beteiligten innerhalb dieser Schlichtungsphase keine Einigung, so kann die EIOPA ihnen gegenüber nach Art. 19 Abs. 3 EIOPA-VO verbindlich eine Entscheidung treffen (2. Stufe). Kommen die Aufseher dieser Entscheidung nicht nach, so kann die EIOPA nach Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO einen Einzelfallbeschluss gegenüber einzelnen Finanzinstituten erlassen, wenn nicht sichergestellt ist, dass das jeweilige Finanzinstitut die ihm obliegenden Anforderungen erfüllt, über die die EIOPA die Aufsicht führt (3. Stufe). dd) Finanzierung 30 Nach Art. 65 EIOPA-VO finanziert sich die EIOPA aus der vom Verwaltungsrat erlassenen Finanzregelung. Diese darf mit Zustimmung der Kommission von Art. 185 der Haushaltsordnung46 iVm der von der Kommission erlassenen Rahmenfinanzregelung47 nur abweichen, wenn besondere Erfordernisse der Arbeitsweise der EIOPA dies verlangen. Die Einnahmen der EIOPA ergeben sich indes gem. Art. 62 Abs. 1 EIOPA-VO aus Pflichtbeiträgen der nationalen Aufsichtsbehörden, einem Zuschuss der Union aus dem Gesamthaushalt und Gebühren, die an die EIOPA zu zahlen sind. c) Grundsätzliche primärrechtliche Bedenken gegen die Errichtung der EIOPA und ihre Befugnisse 31 Das Primärrecht unterscheidet nicht konsequent zwischen organisatorischen und materiellen Regelungen bzw. zwischen Rechtsetzungs- und Vollzugskompetenzen. Überwiegend48 wird davon ausgegangen, dass sich die begrenzten Ermächtigungen des Unionsrechts zur Rechtsetzung grundsätzlich auch auf organisatorische Regelungen und auf die Begründung von Vollzugskompetenzen erstrecken können. Die Voraussetzungen und Grenzen sind gleichwohl umstritten49 und lassen sich auch der Rechtsprechung des EuGH50 nur in Ansätzen entnehmen. 32 Genauer betrachtet stellen sich zwei Fragen: Erstens muss geklärt werden, ob sich die EIOPA-VO überhaupt auf Art. 114 AEUV stützen lässt (dazu → Rn. 33 ff.). Zweitens ist 46 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates v. 25.6.2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften, ABl. L 248/1. 47 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2343/2002 der Kommission v. 23.12.2002 betreffend die Rahmenfinanzregelung für Einrichtungen gem. Art. 185 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates v. 25.6.2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften, ABl. L 357/72. 48 Sydow VerwArch 97 (2006), 1 (13) mwN. 49 Vgl. etwa Wahl/Groß DVBl. 1998, 2, 10 ff.; Klepper, S. 52 ff., 71 ff. 50 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771 – ENISA; 13.6.1958 – C-9/56, Slg 1958, 1 (36) – Meroni I; 13.6.1958 – C-10/56, Slg 1958, 51 (75) – Meroni II.

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zu fragen, ob die dort geregelten Ermächtigungen der EIOPA inhaltlich vom Primärrecht gedeckt sind (dazu → Rn. 41 ff.). aa) Kompetenzrechtliche Zweifel an der Errichtung der EIOPA mit ihren Entscheidungsbefugnissen Die Errichtung der EIOPA erfolgte durch die EIOPA-VO,51 die ihrerseits auf die Rechtsgrundlage des Art. 114 AEUV (ex Art. 95 EG) gestützt wird. Demgegenüber wurde in der Vergangenheit die Gründung von Regulierungsagenturen meist auf Art. 308 EG (heute Art. 352 AEUV) bzw. auf Spezialkompetenzen einzelner Politikbereiche52 gestützt. Letzteres wurde im Schrifttum53 für zulässig gehalten, weil geeignete Vorschriften iSd Art. 308 EG nicht nur solche materieller Art, sondern auch organisatorische Regeln sein können. In jüngerer Zeit ist jedoch auch Art. 95 EG als Rechtsgrundlage für die Errichtung einer Agentur herangezogen und vom EuGH54 grundsätzlich ebenfalls als Kompetenz hierfür anerkannt worden. Das ist allerdings keineswegs selbstverständlich und deshalb auch nur unter besonderen Voraussetzungen möglich. Denn Art. 114 AEUV (ex Art. 95 EG, ursprünglich Art. 100 a EWGV) ermächtigt die EU nur zu Maßnahmen der Rechtsangleichung. Gemeint sind damit typischerweise und primär materiellrechtliche Vorschriften, die an die Mitgliedstaaten gerichtet sind. Dass materiellrechtliche Vorschriften allein dieses Ziel manchmal zu verfehlen drohen, ist kaum zu bestreiten. Denn der Erfolg hängt davon ab, inwieweit alle Mitgliedstaaten daraus die notwendigen Konsequenzen in ihrer Gesetzgebung, im Verwaltungsvollzug und in der Rechtsprechung ziehen. Würde man Art. 114 AEUV eng auslegen, wären solche Defizite nur mit den eher schwerfälligen Mechanismen des Vorabentscheidungsverfahrens (das die Vorlagebereitschaft der nationalen Gerichte voraussetzt) sowie durch Rügen der Kommission und letztlich also auf dem Wege des Vertragsverletzungsverfahrens zu beheben. Effektiver ist es hingegen, wenn die EU selbst administrative Mechanismen schafft, die solche Defizite schneller angehen können. Dazu eignet sich auch die Errichtung von Agenturen, wenn diese mit spezifischen Aufgaben und Kompetenzen ausgestattet werden, die der Rechtsangleichung dienen. Der EuGH hat dies bestätigt, aber auch deutlich gemacht, dass die Errichtung einer solchen Agentur auf der Rechtsgrundlage des Art. 95 EG (heute also Art. 114 AEUV) darauf beschränkt sein muss, der Rechtsangleichung in qualifizierter Weise zu dienen.55 Die beiden zentralen Sätze aus dieser Rechtsprechung lauten: „Die einer solchen Einrichtung übertragenen Aufgaben müssen jedoch in engem Zusammenhang mit den Bereichen stehen, auf die sich die Rechtsakte zur Angleichung der Rechts‐ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten beziehen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Gemeinschaftseinrichtung den nationalen Behörden und/oder Wirtschaftsteilnehmern Dienstleistungen erbringt, die sich auf die einheitliche Durchführung der Harmonisierungsmaßnahmen auswirken und deren Anwendung erleichtern können.“ Legt man diese Maßstäbe an die EIOPA-VO an, bleiben Fragen offen. Zwar dienen die Aufgaben der EIOPA der Rechtsangleichung. Die Rechtsprechung lässt aber die bloße Eignung nicht ausreichen, sondern fordert einen „engen Zusammenhang“. Was solch einen engen Zusammenhang begründet, hat der EuGH nicht allgemein umschrieben, son51 Verordnung (EU) Nr. 1094/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, ABl. L 331/48. 52 Hierzu mit vielen Beispielen Vetter DÖV 2005, 721 (723 ff.); zur Tauglichkeit einzelner Vertragsbestimmungen zur Errichtung von Unionsagenturen Görisch, S. 237 ff. 53 Remmert EuR 2003, 134 (137). 54 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771 – ENISA. 55 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771, Rn. 45 – ENISA.

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dern lediglich exemplarisch: So soll es möglich sein, dass eine Agentur „Dienstleistungen“ zur Erleichterung der Anwendung der Harmonisierungsmaßnahmen erbringt. 37 Das Problem der EIOPA liegt in deren Kompetenzen zu bindenden Anordnungen,56 die sich nach Art. 18 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 3 EIOPA-VO an die Behörden der Mitgliedstaaten und vor allem nach Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 und Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO sogar direkt an Private richten können. Solche Anordnungen lassen sich auch bei großzügiger Auslegung kaum als Dienstleistungen gegenüber den Mitgliedstaaten beschreiben. Sie sollen nicht dienstleistend den Mitgliedstaaten helfen, sondern vielmehr durchgreifend deren Vollzugsdefizite überwinden. Solche Maßnahmen beanspruchen nach Art. 17 Abs. 7, Art. 18 Abs. 5 und Art. 19 Abs. 5 EIOPA-VO auch ausdrücklich Vorrang vor jeder Maßnahme der nationalen Aufsichtsbehörde. Im Ergebnis dienen sie zwar der Rechtseinheit. Aber sie tun dies nicht, indem sie die Harmonie der mitgliedstaatlichen Vollzugspraxis der nationalen Aufseher herstellen, sondern indem sie Disharmonien durch eine Art „Selbsteintritt“ bzw. „Ersatzvornahme“57 eliminieren. Das kann allenfalls abschreckend und mittelbar auch der Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Verwaltung dienen, geht aber darüber wesentlich hinaus. Diese Reichweite der EIOPA-Kompetenzen ist mit Blick auf die Kompetenzgrenzen des Art. 114 AEUV problematisch. Um es in einem Bild zu beschreiben: In dem entschiedenen Fall ENISA hat der EuGH es zugelassen, dass die EU eine Art „Trainer“ schafft, der ein harmonisches Mannschaftsspiel der Mitgliedstaaten unterstützt, aber am Spielfeldrand seine Kompetenzgrenzen hat. Die EIOPA-VO erlaubt es aber dem Trainer, sich selbst ins Spiel einzuwechseln und an Stelle eines Mitgliedstaats in das Spiel einzugreifen. 38 Das ist nicht mehr von Art. 114 AEUV gedeckt. Die Errichtung der EIOPA erweist sich damit als kompetenzwidrig.58 Der Mechanismus des Art. 114 AEUV wurde als Art. 100 a EWGV mit der EEA 1986 eingeführt, um die Verwirklichung des Binnenmarktes zu beschleunigen. Gegenüber dem damaligen Art. 100 EWGV (jetzt Art. 115 AEUV) ermöglichte diese Binnenmarkt-Harmonisierungs-Kompetenz Mehrheitsentscheidungen (statt dem Einstimmigkeitserfordernis) und Maßnahmen verschiedener Natur (statt ausschließlich Richtlinien). Bei allen Unklarheiten der Formulierung des Art. 114 AEUV sind aber bis heute der Ausgangspunkt und das Ziel solcher Maßnahmen relativ klar bezeichnet: Ausgangspunkt ist die Ungleichheit nationaler „Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ und Ziel ist deren „Angleichung“. Die Mittel dieses Instruments der Rechtsangleichung werden hingegen ganz allgemein mit „Maßnahmen“ bezeichnet. Das können insbesondere auch Verordnungen sein, die keine legislative Umsetzung durch die Mitgliedstaaten erfordern, sondern unmittelbar von diesen zu vollziehen sind. Art. 114 AEUV enthält keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er überhaupt zu Maßnahmen ermächtigt, die nicht materiellrechtlicher Natur sind und die sich nicht an die Mitgliedstaaten richten bzw. von diesen zu vollziehen sind. Im Gegenteil beziehen sich auch alle Ausnahmen des Art. 114 Abs. 1–10 AEUV auf die Konstellation, dass es um Einheit der „Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ selbst geht, deren Vollzug eine hier nicht geregelte Folgefrage darstellt. Man mag dem EuGH darin folgen, dass es trotzdem nicht kategorisch ausgeschlossen ist, auch Maßnahmen, die sich ausnahmsweise nicht an die Mitgliedstaaten richten,59 sondern organisatorische Maßnahmen und insbesondere die Einrichtung einer Dienstleistungsagentur auf Art. 95 EG (jetzt Art. 114 AEUV) zu stützen. „Leistet“ diese Agentur den Mitgliedstaaten lediglich „Dienste“, leuchtet es ein, dass über deren Einrichtung eine Mehr56 Zum Phänomen von Regelungsbefugnissen und Gebührenerhebungsbefugnissen bei anderen Unionsagenturen Görisch, S. 206. 57 Kämmerer NVwZ 2011, 1281 (1284 f.). 58 Zum Ganzen: Keune, S. 139 ff.; BVerfGE 89, 155 (174 f.); zuletzt E 126, 286 (302) – Mangold. 59 EuGH 2.5.2006 – C-217/04, Slg 2006, I-3771 – ENISA.

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heit nach Art. 114 AEUV beschließen kann. Das widerspricht nicht dem Geist und der Wirkungsweise des Art. 114 AEUV, sondern legt diese lediglich großzügig aus. Die Errichtung einer europäischen Behörde mit Kompetenzen einer Art „Ersatzvornahme“ hingegen sprengt diesen Rahmen. Darin kann auch kein lediglich unbedeutender Nebenaspekt ansonsten zulässiger Rechtsangleichungsmaßnahmen gesehen werden.60 Ob sich ihre Errichtung auf Art. 352 AEUV stützen ließe, der immerhin Einstimmigkeit 39 der Mitgliedstaaten voraussetzt und der immerhin die Abrundung bestehender Kompetenzen und Schließung von primärrechtlichen Lücken erlaubt, sei dahingestellt. Dass Art. 114 AEUV insoweit jedenfalls eine Lücke lässt und nicht mit dem Argument der „implied powers“ selbst als Kompetenzgrundlage hinreicht, ergibt sich nicht zuletzt aus der Richtung, die der EuGH eingeschlagen hat. Das ENISA-Urteil begründet eine zwar großzügige, aber den Art. 114 AEUV nicht sprengende Auslegung. Zwar ist diese Rechtsprechung offen für andere Konstellationen, in denen ein enger Zusammenhang mit der Rechtsangleichung ebenfalls, dh „insbesondere“ vorliegen mag. Würde der EuGH diese Linie verlassen und Art. 114 AEUV noch weiter auslegen, würde sich im deutschen Verfassungsrecht auch die Anschlussfrage eines ausbrechenden Hoheitsaktes ultra vires61 stellen. Es spricht vieles dagegen, dass der EuGH einen derartigen Rechtsprechungskonflikt mit dem BVerfG provozieren würde. Vielmehr stellt sich die Anschlussfrage, auf welchem Wege des Rechtsschutzes die Frage 40 der Kompetenzgrundlage geklärt und gelöst werden kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein betroffenes Unternehmen oder auch eine nationale Aufsichtsbehörde nach Art. 61 EIOPA-VO klagt, sollte es je zu einer Maßnahme nach Art. 18 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 3 bzw. Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 oder Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO kommen. Weitere Probleme würden sich stellen, würde der EuGH einen Verstoß gegen Art. 114 AEUV feststellen, nachdem bereits (anderweitig) Maßnahmen nach Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 3 und Abs. 4 sowie Art. 19 Abs. 3 und Abs. 4 EIOPA-VO bestandskräftig geworden sind. Schließlich stellt sich auch die Frage, ob die Errichtung der EIOPA insgesamt kompetenzwidrig ist oder lediglich die Schaffung der Kompetenzen zu bindenden Beschlüssen gegen die Mitgliedstaaten sowie gegen Private. Derzeit schwebt über der Errichtung der EIOPA und über allen ihren Maßnahmen das Damoklesschwert der Kompetenzwidrigkeit. bb) Inhaltliche Grenzen der Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die EIOPA Die Frage der Zulässigkeit der Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die EIOPA 41 stellt sich nur, wenn es für ihre Errichtung überhaupt eine Kompetenz gibt. Nach hier vertretener Auffassung ist bereits die Errichtung der EIOPA auf der Grundlage des Art. 114 AEUV kompetenzwidrig und wäre allenfalls nach Art. 352 AEUV denkbar. Für den Fall, dass Letzteres zutrifft und die EIOPA-VO darauf gestützt würde, sei hier kurz erörtert, ob die Übertragung der in der EIOPA-VO geregelten Kompetenzen auf anderweitige primärrechtliche Bedenken stößt. Die Frage stellt sich freilich auch, wenn man Art. 114 AEUV als hinreichende Kompetenzgrundlage ansähe. Das Problem der EIOPA liegt unter anderem in deren weitreichenden Kompetenzen zu 42 bindenden Einzelfallentscheidungen, die sich an die Behörden der Mitgliedstaaten und sogar direkt an Private richten können (zu den Problemen exekutiver Rechtsetzung → Rn. 74 ff.). Problematisch sind also abermals die Art. 18 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 3 sowie die Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 und Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO. Diese Befugnisse werfen nicht nur die Frage der jeweiligen Rechtsgrundlage, sondern auch die Frage der 60 Wie hier: Vetter DÖV 2005, 721 (729); von der Groeben/Schwarze/Hatje/Classen Unionsrecht AEUV Art. 114 EG Rn. 122 ff.; großzügiger Görisch, S. 241 ff. 61 BVerfGE 89, 155 (174 f.); zuletzt E 126, 286 (302) – Mangold.

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überhaupt zulässigen Reichweite von Verwaltungskompetenzen der EU auf. Das geschriebene Primärrecht lässt diese Frage weitgehend offen und konzentriert sich auf die kartellrechtlichen Regelungen der unmittelbaren Vollzugskompetenzen der Kommission. 43 Dieser Befund schließt die Vollzugskompetenzen durch verselbstständigte Verwaltungseinheiten der EU nicht aus. Dabei sei hier klargestellt, dass es nicht um die Delegation bestehender Kompetenzen der Kommission im Rahmen ihrer eigenen Organisationsautonomie geht, sondern um die Übertragung von Kompetenzen auf die EIOPA in derselben Verordnung, die die EIOPA erst errichtet. Eine Rechtsgrundlage sei hier also (vorbehaltlich der kompetenzrechtlichen Zweifel) unterstellt. Für die inhaltlichen Grenzen solcher Kompetenzübertragung wird in der Literatur62 bis heute die Meroni-Doktrin diskutiert, die auf eine Rechtsprechung des EuGH63 aus dem Jahr 1958 zurückreicht. Danach wäre es ausgeschlossen, dass eine Unterbehörde Entscheidungsbefugnisse mit erheblichen Ermessensspielräumen erhält und dass das institutionelle Gleichgewicht der Organe gestört wird. Die jüngere Rechtsprechung des EuGH ist zurückhaltend, der EU insoweit institutionell Schranken aufzuerlegen.64 44 Vorliegend erscheinen insbesondere die Einzelfallbefugnisse nach Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 und Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO insoweit bedenklich. Es handelt sich um Ermessensnormen, die sich auf Tatbestandsebene als Generalklausel darstellen („Maßnahmen“) und auf Rechtsfolgenseite „kann“-Bestimmungen darstellen. Dies ist umso problematischer, als es sich um schwerste Grundrechtseingriffe handeln kann. Explizit soll sogar die Einstellung jeder Tätigkeit des Finanzinstituts durch die EIOPA verfügt werden können. Solche Maßnahmen beanspruchen nach Art. 17 Abs. 7, Art. 18 Abs. 5 und Art. 19 Abs. 5 EIOPA-VO auch ausdrücklich Vorrang vor jeder mitgliedstaatlichen Maßnahme der nationalen Aufsichtsbehörde. Hinzu kommt noch erschwerend, dass solche Entscheidungen (finanz-)politische Tragweite haben können und ihre Erforderlichkeit – zumal wenn sie nicht näher rechtlich gefasst ist – keine rein rechtlich determinierte Frage ist. Die überkommene Auffassung, es sei schlechthin ausgeschlossen, politische Entscheidungen einer Agentur zu übertragen,65 krankt freilich an grundsätzlichen Schwierigkeiten, die Grenzen zwischen Recht und Politik zu bestimmen. In der Wissenschaft wird das Legitimationsniveau der ESA im Vergleich mit anderen europäischen Agenturen dennoch als vergleichsweise hoch eingestuft.66 45 Selbst wenn man heute die Übertragung jeglicher Ermessensspielräume auf Agenturen nicht für ausgeschlossen hält67 stellen sich Fragen der Legitimationsgrundlagen und -grenzen.68 Fundierte Antworten auf diese grundlegenden Fragen müssen weit ausholen: Abgesehen davon, dass (demokratische) Legitimation ein per se schwer zu fassendes und umstrittenes Thema ist, stehen sich hier überkommene und dynamisch offene Konzeptionen

62 Sydow VerwArch 97 (2006), 1 (14 f.) mwN; Görisch, Demokratische Verwaltung durch Unionsagenturen, 2009. 63 EuGH 13.6.1958 – Rs. 9/56, Slg 1958, 1 ff. – Meroni I; 13.6.1958 – Rs. 10/56, Slg 1958, 51 ff. – Meroni II. 64 EuGH 22.1.2014 – C-270/12, Rn. 105 – Credit Default Swaps. 65 Vgl. EuGH, der Befugnisse mit Ermessensspielraum, die zu einer „Verwirklichung einer ausgesprochenen Wirtschaftspolitik“ führen, von der Möglichkeit der Übertragung auf Agenturen ausnimmt, EuGH 13.6.1958 – C-9/56, Slg 1958, 1 (43) – Meroni I; 13.6.1958 – C-10/56, Slg 1958, 51 (81) – Meroni II; Treeger, S. 89 ff. 66 Schemmel, S. 396 im Anschluss an Groß JZ 2012, 1087 (1093). 67 Dazu Berger, S. 89, der zutreffend nicht nur auf EuGH 26.4.1977 – C-1/76, Slg 1976, 1017 – Binnenschifffahrt –, sondern insoweit bereits auf die Offenheit der Meroni-Rechtsprechung verweist. 68 Vgl. Schmidt-Aßmann in ders./Hoffmann-Riem, S. 9, 27; zustimmend für den vorliegenden Zusammenhang: Sydow VerwArch 97 (2006), 1 (16); allgemein zu den variablen Möglichkeiten unionsrechtlicher Kontrolle Görisch, S. 210 ff.

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ebenso wie national geprägte und nach einem unionsrechtlichen Konzept fragende Ansätze gegenüber.69 Antworten müssen zudem nach den verschiedenen Tätigkeit der EIOPA differenzieren: Insbesondere die Legitimation exekutiver Einzelfallentscheidungen einerseits (hierzu → Rn. 42) und der Maßstabsetzung andererseits (→ Rn. 75 f.) sind zu trennen. Dass es dabei duch die Verschränkung nationaler und europäischer Aufsicht und die exekutiv geprägte Maßstabsetzung zu einer Konzentration von Gewalten kommt, indem dieselben Akteure Funktionen vollziehender und maßstabsetzender Natur auf mehreren Ebenen des Rechts einnehmen, steht auf einem anderen Blatt. Auch ließe sich darüber streiten, ob dies wegen der Phänomene partieller Parallelität der Interessen und der kulturellen Homogenität von Regulierern und Regulierten70 weniger problematisch ist oder aber einer umso kritischeren rechtsstaatlichen Reflexion bedürfte. In dem für die bindenden Maßnahmen nach Art. 17–19 EIOPA-VO zuständigen Rat der 46 Aufseher haben die Leiter der nationalen Aufsichtsbehörden das alleinige Stimmrecht. Ihre Ernennung auf der Grundlage des nationalen Rechts gibt ihnen eine mitgliedstaatliche, personelle Legitimation. Diese ist von nationalem Recht und damit auch von dessen Legitimationskraft (deren verfassungsrechtliche Bewertung in den verschiedenen Mitgliedstaaten wiederum je eigenen Konzeptionen folgt) abhängig. Die Verschränkung mitgliedstaatlicher und europäischer Legitimationselemente findet aber nicht etwa in addititver Weise statt. Insbesondere sind die Mitglieder des Rates der Aufseher in ihrer europäischen Rolle nach Art. 42 EIOPA-VO ihrerseits unabhängig von Weisungen ihrer Mitgliedstaaten. Weder sie noch ihre Regierungen (die ja keinen Einfluss auf sie ausüben dürfen) können für die Beschlüsse der EIOPA vor nationalen Parlamenten71 verantwortlich gemacht weden. Während – vor allem aus einer deutschen Perspektive – das hierarchische Prinzip bis heute eine zentrale Bedeutung für die In-put-Legitimation von Entscheidungen der Exekutive hat, stellt sich bei der EIOPA und anderen europäsichen Agenturen die grundsätzliche Frage, ob Unabhängigkeit von Behörden deren Legitimation in Frage stellt oder die Unabhängigkeit nicht umgekehrt das Element einer ganz anderen Legitimationskonzeption darstellt. In der Tat liegt es nahe, demokratische Legitimation aus einer unionsrechtlichen Perspektive – verglichen mit dem staatlichen Bereich – weniger von Parlamentswahlen und von den auf diese zurückführbare Legitimationszusammenhänge her zu konzipieren, sondern vielmehr nach alternativen Modellen zu fragen. Ein von klassischen Gewaltenteilungsvorstellungen geprägtes Modell, in dem Rechtsetzung durch gewählte Parlamente, die Verwaltung durch hierarchische Verantwortung und die Rechtsprechung durch Unabhängigkeit und Entscheidungen der Verwaltung und der Rechtsprechung durch die Gesetzesbindung determiniert werden, sowohl charaktierisiert als auch notwendig legitimiert werden, greift auch im staatlichen Bereich zu kurz. So wie es nicht per se undemokratisch ist, wenn ein nicht vom Volk gewählter Richter rechtsetzende Funktionen ausübt, so ist auch eine unabhängige Verwaltung kein Fundamentalangriff auf das Demokratieprinzip. Elemente der Transparenz (kritisch Ohler → § 10 Rn. 109)72 rücken in den Mittelpunkt und werden durch Berichtspflichten nach Art. 43 Abs. 5, Art. 47 Abs. 6 und Art. 53 Abs. 7 EIOPA-VO eingelöst. Accountability,73 dh Rechenschaftspflicht ist zwar nicht dasselbe wie hierarchische Gebundenheit und parlamentarische Verantwortlichkeit. Aber Rechtenschaftspflicht ist doch als legitimationsbegründendes Konzept geeignet, zumal dann, wenn sie durch regelmäßige Berichtspflichten unter Einbindung verschiedener Schemmel, S. 355 ff. Schemmel, S. 426 ff. Schemmel, S. 406. Ruffert, Die neue Unabhängigkeit, in FS Scheuing, 2011, S. 399, 405 ff.; zustimmend Schemmel, S. 387 f. 73 Dazu Schemmel, S. 356 ff.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht Akteure anspruchsvoll ausgestaltet ist. Das kann im Ergebnis wirksamer sein als manche theoretisch bleibende Verantwortlichkeit im hierarchischen Legitimationsmodell. Ein weiteres Element solcher Rechenschaftspflicht regelt Art. 50 Abs. 1 EIOPA-VO: Danach können das „Europäische Parlament und der Rat den Vorsitzenden oder seinen Stellvertreter unter uneingeschränkter Achtung ihrer Unabhängigkeit auffordern, eine Erklärung abzugeben.“ Art. 50 Abs. 1 S. 2 EIOPA-VO stellt klar, dass es der Unabhängigkeit des Vorsitzenden nicht widerspricht, wenn die Parlamentarier gegebenenfalls Fragen an den Vorsitzenden richten. Die unionsrechtliche Legitimationsbasis wird nicht ersetzt, sondern ergänzt durch den Gedanken der Out-put-Legitimation. Damit sei nicht einem als „Narrativ expertokratischer Effizienz“ bezeichneten „Mythos objektiver Expertise“74 das Wort geredet. Dass die Rechtsprechung des EuGH75 zu dem Gedanken neigt, wonach technisches Fachwissen legitimationsbegründend für eine vermeintlich objektive und unpolitische Rationalität bzw. Richtigkeit des Entscheidens ist, mag als unterkomplex und suggestiv erscheinen. Richtigerweise ist nach einem Legitimationsniveau zu fragen, das sich aus Teilelementen speist, die für sich genommen nicht hinreichen mögen. Es geht um ein Phänomen, das sich als bewegliches System iS Wilburgs rekonstruieren ließe.76 Es liegt nicht fern, sich gerade durch die Besetzung und Unabhängigkeit des Rats der Aufseher der EIOPA eine Maximierung von Erfahrung, Sachverstand und praktischer Vernunft zu erhoffen. Dafür gibt es legitime Gründe, die durch die Finanzkrisen der letzten Jahre greifbar geworden sind – inwieweit dies auch die Versicherungsbranche betrifft, sei hier dahingestellt. So ist es auch politisch zu erklären, wie es zur Schaffung einer so ungewöhnlichen Behörde mit so außergewöhnlichen Kompetenzen („Superinstanz“)77 gekommen ist. Die Kommission hat keine aufsichtsrechtlichen Kompetenzen zur Korrektur von Maßnahmen der EIOPA, wird aber freilich eng78 eingebunden. Letzteres kann als weiteres, für sich nicht hinreichendes, aber die Legitimation insgesamt stützendes Element der Legitimation betrachtet werden. Die Kommission kann ihrerseits versuchen, Entscheidungen der EIOPA entbehrlich zu machen bzw. vorwegzunehmen, indem sie nach Art. 17 Abs. 4 EIOPA-VO Stellung nimmt bzw. ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einleitet. Letzteres sperrt freilich keineswegs Maßnahmen der EIOPA nach Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 und Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO, die jeweils ausdrücklich „unbeschadet der Befugnisse der Kommission nach Art. 258 AEUV“ ergehen können. Auch die nach Art. 60 EIOPA-VO möglichen Beschwerden an den Beschwerdeausschuss können als ergänzendes Legitimationselement gewertet werden. Der Beschwerdeausschuss ist seinerseits freilich nicht anders oder mehr legitimiert als der Rat der Aufseher selbst, sondern besteht aus unabhängigen Mitgliedern (Art. 59 EIOPA-VO), die sich durch guten Ruf, einschlägige Erfahrungen und Sach- und Rechtskenntnisse auszeichnen (Art. 58 Abs. 2 EIOPA-VO). Auch hier wird der Out-put-orientierte Ansatz der europäischen Finanzmarktaufsicht also konsequent weiterverfolgt. Ob all das zusammen betrachtet hinreicht, um eine demokratische Legitimation des exekutiven Handelns der EIOPA anzunehmen, hängt von zwei grundsätzlichen Prämissen ab: Erstens setzt das die Bereitschaft der Verfassungsrechtswissenschaft voraus, Pfade nationaler Legitimationsmodelle zu verlassen oder Letztere (im Lichte des Unionsrechts) dyna74 75 76 77 78

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Schemmel, S. 420, 422. EuGH 22.1.2014 – C-270/12, Rn. 105 – Credit Default Swaps. Dazu Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme,1997. Lehmann/Manger-Nestler EuZW 2010, 87 (92), die dies rechtspolitisch befürworten. Schemmel, S. 399.

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misch weiter zu entwickeln. Manches, was aus einer national geprägten Sichtweise als Defizit erscheint, wird dann zu einer Alternative dieser Sichtweise selbst. Damit werden die Probleme der Legitimation freilich weder irrelevant noch gelöst. Aber die Lösungsoptionen ändern sich und das Spektrum vertretbarer Lösungen wird breiter. Wie weit die Rechtswissenschaft bereit ist, solche Wege selbst zu beschreiten oder sie aber aus einer Außenperspektive zu betrachten, hängt auch vom jeweiligen Vorverständnis des Verhältnisses zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem Unionsrecht ab. Zweitens hängt die Beantwortung dieser Legitimationsfragen auf einer Metaebene von 51 methodischen und verfassungsrechtlichen Prämissen ab. Wer das geschriebene Primärrecht für den alleinigen Maßstab solcher Fragen hält und die Mitgliedstaaten als Herren dieser Verträge als alleinige Akteure der Entwicklung und Änderung dieser Maßstäbe ansieht, muss in Art. 298 Abs. 1 AEUV den Schlüssel zur Konzeption und Legitimation für eine „unabhängige europäische Verwaltung“ suchen. In einem positivistischen Ansatz hängen die Ausgestaltungsspielräume des Sekundärgesetzgebers bezüglich der Einrichtung europäischer Agenturen davon ab, ob diese allgemeine Norm deren Unabhängigkeit unproblematisch macht, statt – wie im nationalen Verfassungsrecht – aus den speziellen Vorschriften zur Unabhängigkeit der EZB (Art. 282 Abs. 3 AEUV) und des Rechnungshofes (Art. 286 AEUV) Umkehrschlüsse zu ziehen. Noch grundsätzlicher sollte aber bei solchen Legitimationsfragen auch die verfassungstheoretische Frage aufgeworfen werden, was der Ursprung eines Europäischen Verfassungsrechts ist, anders gesagt: wer die Akteure für seine Entwicklung sind und was der Modus seiner Änderung ist. Vor allem ist es so, dass sich das Primärrecht zu der Sachfrage, welche Elemente des Organisationsrechts eine mehr oder weniger legitimationsstiftende Wirkung haben, wenn überhaupt dann nur fragmentarisch verhält. Hier ist viel Raum für Theoriebildung ebenso wie für empirische Forschung. Vieles spricht für die Suche nach einer Kombination von In-put- und Out-put-Legitimation.79 Das Modell der repräsentativen Demokratie wird durch jenes einer effizienten Demokratie80 nicht abgelöst, sondern modifiziert und ergänzt.81 Anders als in der Vorauflage vertreten, sprechen die wohl überwiegenden Gründe dafür, dass das Organisationsrecht der EIOPA jedenfalls bezüglich deren Verwaltungskompetenzen hinreichend demokratisch legitimiert ist.82

II. Solvency II Die Richtlinie Solvabilität II wurde nach dem Vorbild der für den Bankensektor ergange- 52 nen Richtlinie Basel II83 konzipiert und beinhaltet vor allem risikoorientierte Aufsichtsund Solvabilitätsanforderungen für Versicherungsunternehmen. Am 10.7.2007 legte die EU-Kommission ihren Entwurf für die Solvency-II-Rahmenrichtlinie dem Europäischen Parlament und dem Rat vor. Im April 2009 erging sodann der erste Richtlinienentwurf, der schließlich am 22.4.2009 vom EU-Parlament und am 10.11.2009 von den EU-Finanz-

79 Hermes in Bauer/Huber/Sommermann, S. 473. 80 Dazu mit Blick auf die Unionsagenturen Görisch, S. 318 ff. 81 Ausführlich zum Ganzen auch Siekmann: Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem, Working Paper Series No. 40 (2010), abrufbar auf der Policy Platform/White Paper unter www.hof.uni-frankfurt.de/p olicy-platform/white-papers.html. 82 Lesenswert hierzu Schemmel passim (mwN zum Meinungsspektrum S. 402). 83 Auf europäischer Ebene erfolgte die Umsetzung der Baseler Rahmenvereinbarung über die Eigenkapitalempfehlung für Kreditinstitute (Basel II) durch die Richtlinien 2006/48/EG (Bankenrichtlinie) und 2006/49/EG (Kapitaladäquanzrichtlinie).

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht ministern angenommen wurde. Eine Änderung erfuhr Solvency II durch die Omnibus-IIRichtlinie.84 1. Einführung a) Ausgangslage

53 Nicht erst mit Solvency II wurde das Erfordernis einheitlicher Eigenmittelanforderungen im EU/EWG-Rechtsraum erkannt, die mittelbar über die Stabilisierung des Finanzmarktes auch dem Schutz der Belange einzelner Versicherungsnehmer dienen. Schon die erste Richtliniengeneration (vgl. dazu bereits → Rn. 1) war ein erster Schritt in diese Richtung, es wurde jedoch auch schnell erkannt, dass die bestehenden Regelungen zu unflexibel und somit den sich stetig ändernden Marktanforderungen nicht mehr gewachsen waren. Letztlich litt der Schutz der Versicherungsnehmer darunter. Im Jahr 2002 konnte man sich daher auf ein neues Regelwerk zur Angleichung der Eigenmittelanforderungen (Solvency I) verständigen. Da das Projekt Solvency II am 1.1.2016 abschließend in nationales Recht umgewandelt wurde, haben diese Regelungen heute keine Bedeutung mehr. b) Grundidee des Solvency II-Ansatzes 54 Das Projekt Solvency II hat einen risikobasierten Ansatz (zur Berechnung der Eigenmittelanforderungen eingehender →Rn. 59 ff.).85 Durch diesen flexiblen Ansatz wird der individuellen rechtlichen wie wirtschaftlichen Situation eines Versicherungsunternehmens in erhöhtem Maße Rechnung getragen. Das hat freilich den Preis, dass die Regelung komplexer wurde.86 Zudem unterliegt die notwendige Eigenmittelausstattung auf diese Weise den Schwankungen des Marktes.87 Das Ziel von Solvency II ist die Schaffung einer soliden Solvabilitätsrücklage mittels Implementation eines risikospezifischen Governance-Systems zur frühzeitigen Erkennung und Vermeidung einer Unternehmenskrise.88 Es geht darum, die gegenwärtigen Anforderungen an die Eigenmittelausstattung zu einem konsequent risikoorientierten System der Finanzaufsicht weiterzuentwickeln.89 Diese Entwicklung beginnt vom Ansatz her direkt bei den Versicherungsunternehmen, denen die Aufgabe obliegt, ihr jeweiliges Risikomanagement den neuen Vorgaben anzupassen und zu verbessern. Es geht um die Etablierung eines Governance-Systems, welches die Risikomanagementfunktion, die Compliance-Funktion, die interne Revisionsfunktion sowie die versicherungsmathematische Funktion miteinschließt.90

84 Richtlinie 2014/51/EU des europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 zur Änderung der Richtlinien 2003/71/EG und 2009/138/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 1060/2009, (EU) Nr. 1094/2010 und (EU) Nr. 1095/2010 im Hinblick auf die Befugnisse der Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung) und der Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), ABl. L 153/1. 85 Dreher in Prölss/Dreher Einl. Rn. 113; Heukamp § 2 Rn. 2. 86 Dass die Eigenmittelberechnungen insgesamt sowie die Berechnung der Schadensreserve im Besonderen nach Solvency II für viele Versicherungsunternehmen zu komplex und zeitaufwendig seien, ergab jüngst die 5. Auswirkungsstudie der EIOPA, QIS 5-Report, S. 48 ff.; S. 146 ff. Auch die neue Präsidentin der BaFin Elke König kritisierte die Komplexität öffentlich. 87 Hier sieht die Richtlinie teilweise einen antizyklischen Dämpfer vor, vgl. beispielhaft Art. 28, 106, 138 Abs. 4 Solvency II-RL. 88 Wandt VW 2007, 473 (475). 89 Vgl. auf der Internet-Homepage der BaFin: http://www.bafin.de/cln_171/nn_722570/DE/Unternehmen/VersichererPensionsfonds/Solvency2/solven cy2__node.html?__nnn=true. 90 Vgl. Erwägungsgrund 30 Solvency II-RL.

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Die Versicherungsaufsicht verlegt somit ihren Schwerpunkt von der bisherigen quantitati- 55 ven Aufsicht zu einer stärker qualitativen Aufsicht.91 Damit verbunden ist der Wechsel vom regelgebundenen zum prinzipien- beziehungsweise regelorientierten Versicherungsaufsichtsrecht.92 Die Anforderungen an die Kapitalausstattung richten sich nun nach dem jeweiligen Risikoprofil eines jeden Versicherungsunternehmens.93 Insofern geht es nicht mehr um die Einhaltung starrer Regeln, sondern darum, einem vorgegebenen Rahmen gerecht zu werden. So heißt es im vierzehnten Erwägungsgrund der Solvency II-Richtlinie, dass ein neuer regulatorischer Rahmen eingeführt werden muss.94 Denn der Schutz der Versicherungsnehmer setzt voraus, dass Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen wirksamen Solvabilitätsvorschriften unterliegen, die eine effiziente Kapitalallokation in der Europäischen Union bewirken. Dem wird das gegenwärtige System aber nicht mehr gerecht. Der neue regulatorische Rahmen basiert dabei auf einer Drei-Säulen-Struktur. c) Die Drei-Säulen-Struktur der Solvency II-Richtlinie Die Solvency II-Richtlinie basiert auf einem Drei-Säulen-Modell.95 Dies lässt sich wie folgt 56 zusammenfassen: In der ersten Säule werden quantitative Solvenzanforderungen in der Form von quantitativen Vorgaben, das Rechnungswesen und die versicherungstechnischen Rückstellungen betreffend, aufgestellt. Die zweite Säule regelt die qualitativen Anforderungen an Versicherungsunternehmen und Aufsichtsbehörden. Den Versicherungsunternehmen wird die Pflicht auferlegt, das Vorhandensein einer Risikostrategie, eine angemessene Aufbau- und Ablauforganisation, ein internes Steuerungs- und Kontrollsystem sowie eine interne Revision nachzuweisen. Säule zwei regelt somit die qualitativen Governanceanforderungen. Die dritte Säule enthält Informationspflichten gegenüber der Öffentlichkeit sowie gegenüber der Aufsichtsbehörde hinsichtlich der Anforderungen der Säulen eins und zwei. Es geht hierbei um die sogenannten Offenlegungspflichten. Der ersten Säule sind die quantitativen Vorschriften zur Berechnung und Bedeckung der 57 Kapitalanforderungen zuzuordnen. Die Kapitalanforderungen dienen der Sicherstellung der dauernden Erfüllbarkeit der Verträge und dienen so in erster Linie der Sicherheit des einzelnen Versicherungsnehmers und aller sonstigen Anspruchsberechtigten96 sowie der Funktionsfähigkeit und der Stabilisierung des Finanzsystems und der Märkte an sich.97 Sie werden unterteilt in die Solvenzkapitalanforderungen (SCR), die das Zielkapital darstellen und die Mindestkapitalanforderung (MCR). Entsprechend der zuvor zu Solvency I geäußerten Kritik folgen diese Anforderungen nunmehr auf ökonomischer Basis dem konkreten Risikopotential eines Versicherungsunternehmens. Das SCR soll dabei prinzipiell so bestimmt werden, dass die Ruinwahrscheinlichkeit für das Unternehmen im Folgejahr des aktuellen Geschäftsjahres bei lediglich 0,5 % liegt, bzw. andersherum formuliert, dass eine technische Sicherheit in Höhe von 99,5 % für die Erfüllbarkeit der Verträge (inklusive Folgeverpflichtungen) besteht.98

91 Dreher in Prölss/Dreher Einl. Rn. 107; Bürkle VersR 2007, 1595. 92 Dreher in Prölss/Dreher Einl. Rn. 105; Kraft/Probst in Gründl/Kraft, S. 13; zu diesem Wechsel Dreher VersR 2008, 998 (1000 ff.). 93 Dreher in Prölss/Dreher Einl. Rn. 118; Bürkle VersR 2007, 1595 (1596). 94 Erwägungsgrund 14 Solvency II-RL. 95 Vgl. zu diesem auf der Internet-Homepage der BaFin: https://www.bafin.de/DE/Aufsicht/VersichererPensionsfonds/Aufsichtsregime/SolvencyII/solvency_II_art ikel.html 96 Vgl. Art. 27 Solvency II-RL und Erwägungsgrund Nr. 14–17. 97 Vgl. Art. 28 Solvency II-RL sowie Erwägungsgrund Nr. 16. 98 Vgl. http://www.solvency-ii-kompakt.de/content/solvenzkapital.

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58 Die Basiseigenmittel eines Unternehmens lassen sich aus der Solvenzbilanz ablesen. Diese folgt zwar im Wesentlichen der IFRS-Bilanz, kann jedoch auch auf der Basis anderer Jahresabschlüsse, bspw. des HGB, errichtet werden.99 Die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten werden dabei nach Art. 75 Solvency II-Richtlinie so bewertet, wie sie mit „sachverständigen, vertragswilligen und voneinander unabhängigen Geschäftspartnern“ angesetzt worden wären (sog Markt-to-Markt-Ansatz). Sodann wird das anrechnungsfähige Kapital mit dem SRC und dem MCR verglichen. 59 Zur Berechnung der Solvabilitätsspanne sieht die Richtlinie einen Standardansatz vor. Danach berechnet sich das SRC grob gesagt nach der Differenz zwischen einem geeigneten Risikomaß und den zur Verfügung stehenden anrechenbaren Eigenmitteln. Innerhalb der Berechnung werden zunächst verschiedene Module und Untermodule gebildet (Lebensversicherungstechnisches Risikomodul, Nicht-Lebensversicherungstechnisches Risikomodul, Krankenversicherungstechnisches Risikomodul, Ausfallrisikomodul, Markt-Risikomodul und Immaterielle Vermögenswerte Risikomodul), in denen jeweils die darin aufgehenden Unternehmensrisiken (zB für das Lebensversicherungstechnische Risikomodul: Sterblichkeits-, Langlebigkeits-, Invaliditäts-/Morbiditäts-, Storno-, Kosten-, Revisions- und Katastrophenrisiko) Berücksichtigung finden. In welchem Ausmaß und wie die einzelnen Risiken zu berücksichtigen sind, richtet sich unter anderem nach den im Vorfeld zu der Ausarbeitung der Durchführungsbestimmungen seitens der Kommission und den Level 2-Ausschüssen durchgeführten quantitativen Auswirkungsstudien. Aufgrund der während des Lamfalussy Gesetzgebungsverfahrens (Zum Lamfalussy Gesetzgebungsverfahren eingehender → Rn. 74) in regelmäßigen Abständen durchgeführten quantitativen Auswirkungsstudien lassen sich die Anforderungen der Richtlinie stets an veränderte Gegebenheiten anpassen. Genannt sei hier statt aller die von der EIOPA veröffentlichte quantitative Auswirkungsstudie (QIS 5),100 in der unter anderem die Durchführung eines Schockszenariums vorgeschrieben wird, um die Auswirkungen auf die Unternehmensbilanz ermitteln zu können. 60 Das Unternehmen muss das SCR aber nicht in jedem Fall nach dem Standardansatz berechnen. Entspricht die Berechnungsmethode nach dem Standardansatz nicht dem tatsächlichen Risikopotential eines Unternehmens, so kann das Management sich für alternative Berechnungsmethoden entscheiden. Als mögliche Alternativen kämen der Standardansatz mit vereinfachten Berechnungen, wie in der dritten Richtliniengeneration vorgeschrieben, mit unternehmensspezifischen Parametern, mit internen Partialmodellen oder individuelle interne Modelle in Betracht.101 Eine Abweichung vom Standardmodell bedarf jedoch einer Genehmigung durch die zuständige Aufsichtsbehörde. Bei der Berechnung des SCR nach alternativen Berechnungsmethoden soll, entsprechend dem prinzipienbasierten Ansatz der Richtlinie, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden, indem die Berechnungsmethode die Wesensart, die Komplexität und den Umfang der Risiken in angemessener Weise berücksichtigt.102

99 Lüttringhaus EuZW 2011, 822 (824); Weindorfer, Solvency II Working Paper Nr. 64/2011, S. 14, abrufbar im Internet unter: https://www.fh-vie.ac.at/Forschung/Publikationen/FH-Workingpapers/Solve ncy-II-Eine-Uebersicht?t=FH-Workingpapers. 100 „EIOPA Report on the fifth Quantitative Impact Study (QIS5) for Solvency II“ vom 14.3.2011, abrufbar auf der Homepage der EIOPA unter https://eiopa.europa.eu/publications/reports. 101 Vgl. Weindorfer, Solvency II Working Paper Nr. 64/2011, S. 19, abrufbar im Internet unter: https://w ww.fh-vie.ac.at/Forschung/Publikationen/FH-Workingpapers/Solvency-II-Eine-Uebersicht?t=FH-Work ingpapers. 102 Vgl. Weindorfer, Solvency II Working Paper Nr. 64/2011, S. 19, abrufbar im Internet unter: https://w ww.fh-vie.ac.at/Forschung/Publikationen/FH-Workingpapers/Solvency-II-Eine-Uebersicht?t=FH-Work ingpapers.

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Bei den Anforderungen an die anrechnungsfähigen Eigenmittel stellt Solvency II ebenfalls 61 wesentliche Änderungen gegenüber den Anforderungen nach Solvency I auf. Statt eines Katalogs erlaubter Eigenmittel, werden die jeweiligen Komponenten nach Solvency II individuell geprüft und eingestuft. Auch dieses Konzept ist dem mehr individuell risikobasierten Ansatz der Richtlinie geschuldet. Insofern stellt Solvency II sowohl quantitative als auch qualitative Anforderungen an die Eigenmittelausstattung. Zunächst einmal wird zwischen Eigenmitteln zur Bedeckung der Mindestsolvenzkapitalspanne und der Zielsolvenzkapitalspanne unterschieden. Art. 128 Solvency II-Richtlinie sieht vor, dass zur Bedeckung des MSR lediglich die Basiseigenmittel anrechnungsfähig sind. Diese werden gem. Art. 88 Solvency II-Richtlinie als Überschuss der Vermögenswerte nach Abzug der Verbindlichkeiten (ohne eigene Aktien) und die nachrangigen Verbindlichkeiten definiert. Zur Bedeckung des SCR spricht Art. 100 Solvency II-Richtlinie indes nur von „Eigenmitteln“, wonach neben den Basiseigenmitteln auch die nach Art. 89 Solvency II-Richtlinie gebildeten außerbilanziell ergänzenden Mittel umfasst werden. Hierunter fallen bspw. Kreditbriefe und Garantien.103 Die ergänzenden Eigenmittel sind nach Art. 90 Solvency II-Richtlinie im Unterschied zu den Basiseigenmitteln seitens der Aufsichtsbehörde zu prüfen und zu genehmigen. Im Einzelfall kann die Einordnung eines Wertes als Basiseigenmittel oder als ergänzendes Eigenmittel jedoch zu Schwierigkeiten führen. Als weitere qualitative Anforderung an die Eigenmittel werden diese je nach Qualität in 62 drei verschiedene Klassen („Tiers“) unterteilt, zumal nicht alle Vermögenswerte im Falle einer Liquidation einen vollständigen Verlustausgleich bieten.104 Die Einordnung in die Qualitätsklassen richtet sich nach Art. 93 Solvency II-Richtlinie zum einen danach, ob es sich um Basiseigenmittel oder ergänzende Eigenmittel handelt und zum anderen nach der ständigen Verfügbarkeit und Nachrangigkeit. Tier 1 enthält dabei die qualitativ hochwertigsten Mittel. Während Basiseigenmittel allen drei Klassen zugeordnet werden können, finden sich keine ergänzenden Eigenmittel in Tier 1. Diese verteilen sich auf die Klassen Tier 2 und Tier 3. Charakteristisch für Basiseigenmittel nach Tier 1 ist, dass sie zu jeder Zeit verfügbar oder bei Bedarf einforderbar sind, um mögliche Verluste abzufangen und die Unternehmensfortführung zu sichern. Nach Art. 94 Abs. 1 iVm Art. 93 Solvency IIRichtlinie wird insbesondere die Rückzahlung der Bestandteile an die Inhaber nachrangig behandelt. Quantitativ werden bestimmte Mindest- und Höchstgrenzen an die Bedeckung der Mindest- und Zielsolvenzspanne mit einzelnen Tier-Klassen gesetzt. So sieht Art. 98 Abs. 2 Solvency II-Richtlinie vor, dass das MCR nur aus Tier 1 und 2-Eigenmitteln bestehen darf, wobei Tier 1-Eigenmittel mindestens 50 % ausmachen müssen. Mit LTGA wurde der Mindestwert für Tier 1-Eigenmittel auf 80 % erhöht.105 Für die Bedeckung des SRC verlangt Art. 98 Abs. 1 lit. a und b Solvency II-Richtlinie Eigenmittel mindestens in Höhe von einem Drittel aus Tier 1 und höchstens zu einem Drittel aus Tier 3. Auch hier sieht LTGA eine Verschärfung dahin gehend vor, dass nunmehr mindestens 50 % von Tier 1Kapital gedeckt werden und nur noch zu höchstens 15 % aus Tier 3-Mitteln bestehen soll.106 Aus den Erfahrungen mit Solvency I hat sich gezeigt, dass quantitative Anforderungen an 63 das Versicherungsunternehmen alleine nicht mehr ausreichen. Darüber hinaus sollen durch den Aufbau eines vorausschauenden Systems innerhalb des Unternehmens Risiken frühzeitig erkannt und verhindert werden. Auf diese Anforderungen der zweiten Säule wird noch ausführlich eingegangen. 103 104 105 106

Lüttringhaus EuZW 2011, 822 (827). Vgl. Erwägungsgrund Nr. 44 Solvency II-RL. „Technical Specification on the Long Term Guarantee Assessment“ v. 28.1.2013, S. 298. „Technical Specification on the Long Term Guarantee Assessment“ v. 28.1.2013, S. 298.

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64 Die der dritten Säule zuzuordnenden Informations- und Berichtspflichten des Versicherungsunternehmens lassen sich untergliedern in solche Informations- und Berichtspflichten, die unmittelbar gegenüber der Aufsichtsbehörde und solche, die gegenüber der Öffentlichkeit bestehen. Die genaue Ausgestaltung der Informationspflichten und deren Übermittlung wird dabei gem. Art. 56 Solvency II-Richtlinie noch im Wege von Durchführungsmaßnahmen bestimmt. Die Informations- und Berichtspflichten des Unternehmens gegenüber der Aufsichtsbehörde werden in Art. 35 Solvency II-Richtlinie geregelt, wonach das Versicherungsunternehmen der Aufsichtsbehörde diejenigen Informationen zu übermitteln hat, die für die Zwecke der Beaufsichtigung gem. Art. 36 Solvency II-Richtlinie erforderlich sind. Dies umfasst nach Art. 36 Abs. 2 lit. a–f Solvency II-Richtlinie insbesondere eine Darlegung des Governance-Systems, der versicherungstechnischen Rückstellungen, der Eigenkapitalanforderungen, der Anlagevorschriften, der Qualität und Quantität der Eigenmittel sowie je nachdem ob das Unternehmen ein Voll- oder Partialmodell als internes Modell zur Berechnung des SCR benutzt, der laufenden Einhaltung der Vorschriften für ein vollständiges oder teilweise internes Modell. Neben den noch näher zu bestimmenden Berichtsintervallen führt nach Art. 35 Abs. 2 lit. a Solvency II-Richtlinie auch das Eintreten zuvor festgelegter Geschäftsereignisse sowie eigenes Ersuchen der Aufsichtsbehörde zum Zwecke der Nachforschung zur Auslösung der Informationspflichten. 65 Gegenüber der Öffentlichkeit sind die Versicherungsunternehmen nach Art. 51 Abs. 1 Solvency II-Richtlinie verpflichtet, jährlich einen Bericht über ihre Solvabilität und Finanzlage vorzulegen (sog Solvency and Financial Condition Report, SFCR). Diese Veröffentlichung muss nach Art. 51 Abs. 1 lit. a–e Solvency II-Richtlinie mindestens Beschreibungen enthalten „über die Geschäftstätigkeit und der Leistung des Unternehmens, des Governance-Systems und eine Bewertung seiner Angemessenheit unter Berücksichtigung des Risikoprofils. Außerdem sind jeweils gesonderte Beschreibungen der Risikokategorien und deren Ausprägungen, jeweils gesonderte Bewertungen der Vermögenswerte, versicherungstechnischen Rückstellungen und sonstigen Verbindlichkeiten und eine Beschreibung der Grundlagen und Methoden ihrer Bewertung sowie einer Beschreibung des Kapitalmanagements vorgeschrieben. Von der Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit kann in den Fällen des Art. 53 Solvency II-Richtlinie mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde abgesehen werden, wenn es sich um besonders sensible Daten handelt. In diesem Fall ist jedoch nach Art. 53 Abs. 2 Solvency II-Richtlinie ein Hinweis über die nichtveröffentlichten Daten unter Angabe der Gründe im SFCR aufzunehmen. d) Anwendungsbereich der Solvency II-Richtlinie 66 Solvency II umfasst, wie bereits schon Solvency I, nach Art. 2 Solvency II-Richtlinie alle Lebens- und Nichtlebensversicherer sowie die Rückversicherungsunternehmen. Neu ist die Einbeziehung einer neuen Form von Gruppenaufsicht,107 wonach grenzüberschreitend (und nicht nur auf den EU/EWR-Raum beschränkt) Versicherungsunternehmen stets in juristischer sowie wirtschaftlicher Verbindung zu anderen Unternehmen betrachtet werden. Anders als noch unter Solvency I, wo die Gruppenaufsicht lediglich untergeordnet, quasi als Zusatz zur Einzelaufsicht stand, bekommt diese Sparte nunmehr eigenständige Bedeutung, indem sie sich mehr an den tatsächlichen wirtschaftlichen Strukturen orientiert. 67 Vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind grundsätzlich Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, für die die EbAV zu beachten ist.108 Nach Art. 5 Sol107 Weiterführend zur Gruppenaufsicht Krämer ZVersWiss 2008, 319 ff.; Lüttringhaus EuZW 2011, 822 (824); Van Hulle VW 2011, 14 (15). 108 Richtlinie (EU) 2016/2341 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.12.2016 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung.

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vency II-Richtlinie sind einzelne Geschäfte aus dem Bereich der Nicht-Lebensversicherung ebenfalls vom Anwendungsbereich ausgeschlossen. Des Weiteren sieht Art. 4 Solvency IIRichtlinie im Einzelfall weitere Ausnahmen für kleinere und mittlere Unternehmen vor, die zumindest ein jährliches Bruttoprämienvolumen von fünf Mio. EUR nicht übersteigen und die die weiteren Voraussetzungen des Art. 4 Solvency II-Richtlinie erfüllen. Keine Frage des Ob der Anwendbarkeit, sondern des Maßes der Konsequenzen der Anwendung ist der in der Solvency II-Richtlinie explizit und mehrfach109 verankerte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wonach die Größe des Unternehmens und davon abhängig das jeweilige Risikopotential innerhalb der Richtlinie stets Berücksichtigung findet. Darauf wird bereits gesondert eingegangen (→ Rn. 99 ff.). e) Auswirkungen Durch Solvency II wird erstmalig eine Vollharmonisierung angestrebt. Dies wird zwar 68 nicht explizit durch die Richtlinie angeordnet, ergibt sich aber daraus, dass Abweichungsmöglichkeiten ausdrücklich nur für den Bereich der Gruppenaufsicht (Art. 213 ff. Solvency II-RL) und der Duration (Art. 304 Solvency II-RL) vorgesehen sind.110 Obwohl sich die Anforderungen nach Solvency II gegenüber denjenigen nach Solvency I somit bereits in hohem Maße an die individuellen Eigenheiten eines Versicherungsunternehmens (Berücksichtigung des Risikopotentials, Vereinfachungen und Ausnahmevorschriften für bestimmte Sparten) anpassen, wird in der Praxis oftmals bemängelt bzw. befürchtet, dass Solvency II nicht in ausreichendem Maße bestimmte Unternehmensarten (insbesondere kleinere und mittlere Versicherungsunternehmen, Captives)111 und bestimmte Anlageformen112 berücksichtigt. In welchem Maße diese Kritik berechtigt ist, hängt davon ab, ob es gelingen wird, dem 69 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Praxis auch wirklich Rechnung zu tragen. Nicht auszuschließen ist insbesondere, dass einzelne Unternehmen in „vorauseilendem Gehorsam“ Maßnahmen ergreifen, zu denen sie nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gar nicht verpflichtet werden. Andere Unternehmen werden versuchen, sich vorschnell auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückzuziehen, statt die ihnen möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen. Auf die Bedeutung und Auswirkungen des prinzipienbasierten Ansatzes für die Flexibilität einerseits und die rechtsstaatlichen Grenzen eines solchen Aufsichtssystems andererseits, wird gesondert (→ Rn. 77 ff.) eingegangen. Ebenso werden die organisationsrechtlichen Governance-Anforderungen der zweiten Säule noch zu erörtern sein (→ Rn. 115 ff.). Vor den Inhalten soll aber der bemerkenswerte Rechtsetzungsprozess beleuchtet werden (dazu sogleich → Rn. 73 ff.). 2. Besondere Mechanismen einer Expertenrechtsetzung a) Allgemeine Probleme der Rechtsetzung im Versicherungsaufsichtsrecht und ihre Folgen Das Recht der Finanzmarktaufsicht ist insgesamt ein Gebiet, dessen Verständnis Experten 70 vorbehalten ist. Für das Versicherungsaufsichtsrecht spielen letztlich drei Professionen eine zentrale Rolle, die regelmäßig nur in Arbeitsteilung zu bewältigen sind: Die Versiche109 Vgl. bspw. nur Art. 86 lit. h, Art. 111 Abs. 1 lit. l, allgemein festgeschrieben in Erwägungsgrund Nr. 19 Solvency II-RL. 110 So auch Michael/Kübler in BeckOK-VAG § 26 Rn. 81 f.; HK-VAG/Brand Einf. Rn. 48; Dreher/Lange VersR 2011, 825 (827 f.). 111 Sie finden in Erwägungsgrund Nr. 21 Solvency II-RL Berücksichtigung, es fehlt jedoch an einer Konkretisierung innerhalb der Richtlinie selbst. 112 Wie bspw. Immobilieninvestments, für die die Eigenmittelanforderungen im Verhältnis zu hoch sind, vgl. Lüttringhaus EuZW 2011, 822 (828).

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rungsmathematik, die Ökonomie und das Recht. Die vorliegende rechtswissenschaftliche Betrachtung spiegelt also ihrerseits nur eine dieser Perspektiven wider, die sowohl theoretisch als auch praktisch prägend ist. Mit diesem Problem haben nicht nur die betroffenen Versicherer sowie die staatlichen Aufseher, sondern natürlich auch die Rechtsetzer fertig zu werden. Und es lässt sich ohne Weiteres behaupten, dass die finanziellen und personellen Ressourcen, die Mehrdimensionalität der Probleme der Versicherungswirtschaft zu bewältigen, in der genannten Reihenfolge abnehmen. 71 Neben dem Phänomen der Internationalisierung der Märkte ist auch dieser Umstand Hintergrund des Erfolgs privater Standardsetter, namentlich der International Association of Insurance supervisors (IAIS). Jedoch beobachten wir hier – anders als bei Standards der Rechnungslegung – noch nicht den Trend, dass Gesetzgeber auf eigene Rechtsetzung verzichten, um solche Standards zu rezipieren. Auch ist es hier noch nicht – anders als beim deutschen Finanzmarktstabilisierungsgesetz – zu einem Outsourcing der Erstellung von Gesetzentwürfen durch die Beauftragung von Anwaltskanzleien gekommen. Derartige Privatisierungsmodelle seien hier nur erwähnt, weil damit die Bandbreite denkbarer Optionen deutlich wird, um mangelnden Spezialsachverstand zu kompensieren. Derartige Optionen werfen tief greifende Fragen demokratischer Legitimation auf.113 Sie seien an dieser Stelle nur deshalb erwähnt, um zu zeigen, dass das Verfahren der Rechtsetzung der EU in diesem Kontext zwar ebenfalls neuartig, aber vergleichsweise institutionsnah erscheint. 72 Erwähnt sei an dieser Stelle auch kurz, dass das deutsche Versicherungsaufsichtsrecht schon seit seinen Anfängen im Kaiserreich eigene Wege eines gleichsam behördlichen Standardsettings – jenseits der Rechtsform der Verordnung – gegangen ist.114 In diesem Rahmen wurden in Deutschland schon im Vorgriff auf Solvency II Anforderungen an das Risikomanagement normiert. Eine traditionelle, dh allein von den Organen der Rechtsetzung im klassischen Gesetzgebungsverfahren gewonnene Neukonzeption des Versicherungsaufsichtsrechts schien nirgends zu gelingen – auch dafür ist nicht zuletzt Deutschland ein Beispiel. Umso bemerkenswerter und auch im internationalen Kontext möglicherweise wegweisend ist es, dass mit Solvency II eine solche Neukonzeption durch europäische Gesetzgebung erfolgt ist. Dass hierfür – genauer für die Finanzmarktregulierung insgesamt – besondere Verfahren der Rechtsetzung geschaffen und genutzt wurden, war vielleicht der Schlüssel zu dieser Entwicklung und verdient deshalb besondere Beachtung. b) Gesetzgebungsprozess 73 Im April 2003 einigten sich Vertreter der Kommission erstmals auf die Grundlagen des Solvency II Projekts. In den Folgejahren 2004 und 2005 beauftragte die Kommission CEIOPS (→ Rn. 4 ff.)115 damit, die bestehende Rechtslage zu analysieren und Vorschläge für ein neues Solvenzsystem einzureichen (sogenannte „Calls for Advice“). Gesteuert wurden die Arbeiten des CEIOPS dabei von einem seitens der Kommission 2004 veröffentlichten Konsultationsrahmen, in dem Richtlinien und Prinzipen dargelegt wurden.116 CEIOPS startete sodann einen Diskussionsprozess, in dessen Verlauf Dialoge mit Interessenvertretern, Experten und Stakeholdern geführt wurden. Es fanden auch öffentliche Konsultationen statt. Zum Abschluss dieses Konsultationsprozesses sandte CEIOPS seine endgültige Stellungnahme in drei Wellen am 30.6.2005, 1.11.2005 und 3.5.2006 an die

113 Michael in Bauer/Huber/Sommermann, S. 431 ff. 114 Zu den „Rechts- und Verwaltungsgrundsätzen“ iSd § 103 Abs. 2 VAG aF als versicherungsaufsichtsrechtliche Sonderform des Standardsettings vgl. Michael VersR 2010, 141 (148). 115 Seit dem 1.1.2011 in der Nachfolgebehörde EIOPA aufgegangen. 116 Vgl. Homepage der Kommission: http://ec.europa.eu/internal_market/insurance/solvency/background _de.htm.

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Kommission. Nach Erhalt der Stellungnahmen nahm die Kommission im Juli 2007 den ersten Entwurf117 und im Februar 2008 sodann einen geänderten Entwurf118 einer Richtlinie Solvency II an. Am 22.4.2009 wurde letztlich die finale Fassung als Kompromisslösung in einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments119 angenommen und am 25.11.2009 von Parlament und Rat verabschiedet.120 Die Entstehung und Umsetzung der Solvency II-Richtlinie folgt dabei dem vierstufigen sog Lamfalussy-Verfahren.121 c) Lamfalussy-Rechtsetzungsverfahren Dieses Verfahren wurde zur Vereinfachung und Beschleunigung des EU-Gesetzgebungs- 74 prozesses entwickelt. Ursprünglich wurde es für den Wertpapierbereich entwickelt, nun aber auch auf den Bereich der Finanzdienstleistungen ausgedehnt. Dabei erfolgt auf der ersten Stufe die Rahmengesetzgebung. Dieses Level 1 stellt die Solvency II-Richtlinie dar, die – noch soeben nach dem Primärrecht der Fassung vor Lissabon – nach dem sogenannten „Verfahren der Mitentscheidung“ nach Art. 251 EG (heute sogenanntes „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ nach Art. 294 AEUV) erlassen wurde. Auf der zweiten Stufe sollen nunmehr Durchführungsmaßnahmen im Rahmen des durch die Richtlinie eingeräumten Spielraums erlassen werden. Bei den zu erlassenen Maßnahmen handelt es sich um technische Durchführungsbestimmungen, die erforderlich sind, um die in der Richtlinie festgelegten Grundsätze durchzuführen. Diese Maßnahmen ergehen seitens der Kommission in Zusammenarbeit mit dem Expertenausschuss (EIOPA, ursprünglich: CEIOPS) in enger Kooperation mit dem Europäischen Parlament. Nach dem Lamfalussy-Konzept ist das Europäische Parlament fortlaufend zu unterrichten. Es kann gegen Überschreitungen der Durchführungsbefugnisse eine Entschließung verabschieden. Auf Stufe 3 erfolgt sodann die Umsetzung der unter den ersten beiden Stufen festgelegten Vorgaben und Maßnahmen in den Mitgliedstaaten. Der versicherungsrechtliche Expertenausschuss (EIOPA) koordiniert insofern die konsistente und gleichwertige Umsetzung anhand von Empfehlungen und Leitlinien mit dem Ziel einer Angleichung der aufsichtsrechtlichen Praxis. Mit Abschluss der dritten Stufe ist die Richtlinie in den Mitgliedstaaten vollumfänglich umgesetzt. Die vierte Stufe stellt demnach einen laufenden Prozess nach Initiierung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten dar, indem die Kommission die Anwendung des Gemeinschaftsrechts überwacht und Verstöße ahndet. Mit dem Vorschlag zur Omnibus II-Richtlinie122 wurde der Anwendungstermin der Solvency II-Richtlinie zunächst auf den 1.1.2013 verlagert. Das neue VAG in Deutschland trat am 1.1.2016 in Kraft. d) Maßstabsetzung nach der EIOPA-VO: Leitlinien und Empfehlungen sowie technische Regulierungs- und Durchführungsstandards Die EIOPA-VO regelt verschiedene Modelle und Verfahren der Maßstabsetzung, durch 75 die die EIOPA auf verschiedene Weise zu einem dauerhaften Rechtsetzungs-Akteur wird: Zu unterscheiden ist zwischen technischen Regulierungsstandards nach Art. 10 ff. EIOPA-VO, technischen Durchführungsstandards nach Art. 15 EIOPA-VO und Leitlinien 117 118 119 120

V. 10.7.2007, KOM(2007)361 endg. V. 26.2.2008, KOM(2008)119 endg. Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments v. 22.4.2009, P6_TA(2009)0251. Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl. L 335/1. 121 Eine umfassende Darstellung des Lamfalussy-Verfahrens findet sich im Internet auf der Seite des Europäischen Parlaments unter http://www.europarl.europa.eu/ftu/pdf/de//FTU_3.4.3.pdf. 122 Vgl. Punkt 6.1. des Richtlinienvorschlags KOM(2011)8 endg. (Omnibus II). Die Richtlinie klärt vor allem die Befugnisse der ESA, enthält jedoch auch punktuell Änderungen an der Solvency II-RL.

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und Empfehlungen nach Art. 16 EIOPA-VO. Die technischen Regulierungsstandards und auch die Durchführungsstandards werden formal von der Kommission erlassen. Die EIOPA legt hierzu lediglich Entwürfe vor (die freilich in der Praxis die Rechtsetzung prägen). Vor dem Erlass technischer Regulierungsstandards sind die Entwürfe der EIOPA nach Art. 10 Abs. 1 EIOPA-VO zwingend dem Europäischen Parlament und dem Rat zuzuleiten. Insoweit entspricht dies den Anforderungen des Art. 290 Abs. 2 AEUV. Das dort geregelte primärrechtliche Modell deligierter Rechtsetzung wird insoweit modifiziert, als die Kommission selbst die Entwürfe durch die EIOPA erhält. Es handelt sich also um eine Art Delegation des Initiativrechts. 76 Das zentrale Problem des in Art. 15 EIOPA-VO geregelten Verfahrens besteht in einem Verstoß gegen Art. 291 AEUV.123 Denn nach Art. 291 Abs. 3 AEUV ist primärrechtlich unmissverständlich geregelt, dass die Mitgliedstaaten „die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren“. Es geht bei Letzteren um Befugnisse, die sonst die Mitgliedstaaten selbst haben. In diesem Zusammenhang lässt sich die Unabhängigkeit der EIOPA und auch der nationalen Aufseher in ihrer Mitwirkung in deren Rat – anders als bei den Vollzugskompetenzen der EIOPA – weder als Ausgestaltung unabhängiger Verwaltung iSd Art. 298 Abs. 1 AEUV darstellen noch im Rahmen der Rechtsetzungsregeln der Art. 288 ff. AEUV rechtfertigen. Das Verfahren weicht hier auch von der Konzeption der Komitologie-Ausschüsse ab.124 Damit tragen die technischen Durchführungsstandards den Makel der Primärrechtswidrigkeit. 3. Der prinzipienbasierte Ansatz der Solvency II-Richtlinie a) Uneinheitliches Vorverständnis bei der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien 77 Bevor geklärt werden kann, was der prinzipienbasierte Ansatz in der Solvency II-Richtlinie bedeutet, muss Klarheit darüber bestehen, was ein Prinzip ist. Der Begriff des Prinzips ist sowohl in der Rechtstheorie als auch in der Rechtspraxis weit verbreitet. Dabei geht es in der Regel um die Interpretation und Handhabung von geschriebenen und auch ungeschriebenen Normen. Meist wird „Prinzip“ als Gegenbegriff zur „Regel“ verwendet. Dass eine geschriebene Norm sich selbst ausdrücklich als Prinzip bezeichnet, dass also der Gesetzgeber die Unterscheidung aufgreift, erscheint nicht nur ungewöhnlich, sondern bedarf seinerseits der Interpretation. 78 Prinzip ist ein zentraler Begriff der Rechtstheorie und insoweit auch klar definiert. Die Lehre von den Rechtsprinzipien basiert vor allem auf den Schriften Ronald Dworkins125 und wurde in der deutschen Rechtswissenschaft maßgeblich durch Robert Alexy126 rezipiert, was seinerseits internationale Beachtung fand. Danach zeichnet sich ein Prinzip durch eine bestimmte logische Struktur aus. Folgende, miteinander zusammenhängende Unterschiede zwischen Regeln und Prinzipien lassen sich danach festhalten: Während bei Regeln Tatbestand und Rechtsfolge in einem „Wenn-dann-Schema“ strukturiert sind, folgen Prinzipien einer „Je-desto-Struktur“. Danach basiert die Anwendung von Regeln auf dem sogenannten Subsumtionsschluss, während Prinzipien einer Abwägung fähig und bedürftig sind. Zweifel bei der Anwendung einer Regel im Einzelfall sind danach bei der Auslegung der Voraussetzungen („Wenn“) zu erörtern, während die Rechtsfolge von Prinzipien von vornherein erst im Einzelfall zu konkretisieren ist. Während widerstreitende Regeln gegebenenfalls in einem Widerspruchsverhältnis stehen, das es im Rechtsstaat willkürfrei aufzulösen gilt, stehen widerstreitende Prinzipen in einem Spannungsverhältnis, 123 124 125 126

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Raschauer ZFR 2011, 159 (164 f.); Schemmel, S. 275 ff. vgl. auch Kaufhold, S. 280 f. Schemmel, S. 276. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977. Alexy, S. 13 ff.

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das es graduell zu optimieren, dh zum Ausgleich zu bringen gilt. Typische Beispiele für Rechtsprinzipien sind nicht nur die Grundrechte. Vielmehr gibt es Prinzipien in diesem Sinne auch als einfachrechtliche Normen in allen Rechtsgebieten. Zu denken wäre etwa an die graduelle Berücksichtigung eines Mitverschuldens im Zivilrecht, an die Strafzumessungsnormen im Strafrecht oder an die Abwägungsgebote im öffentlichen Baurecht.127 Nicht verschwiegen sei aber an dieser Stelle, dass in der deutschen Rechtswissenschaft eine mindestens tendenzielle Skepsis gegen die Prinzipientheorie unter Zivilrechtlern verbreitet ist, während die Methode des Abwägens typischerweise dem öffentlichen Recht nachgesagt wird. Das sei hier zumindest erwähnt,128 weil es für das Vorverständnis des Umgangs mit dem Versicherungsaufsichtsrecht, das in Deutschland vielfach aus der Sicht des privaten Wirtschaftsrechts mitbehandelt wird, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen könnte. Es sei auch darauf hingewiesen, dass derartige Unterschiede ein Spezifikum der deutschen Rechtswissenschaft zu sein scheinen. Sie gilt es umso kritischer zu hinterfragen, als es sich bei der Solvency II-Richtlinie um europäisches Recht handelt. In einem untechnischeren Sinne werden bisweilen auch Rechtssätze von besonders allge- 79 meiner und grundsätzlicher Bedeutung als Prinzip bezeichnet. Prinzipien in diesem Sinne sind etwa ungeschriebene, sogenannte allgemeine Rechtsprinzipien, aber auch Normen mit Vorranganspruch wegen höheren Ranges, zB des Unions- oder Verfassungsrechts. Methodisch gesehen, beeinflussen Prinzipien in diesem Sinne die Auslegung von Regeln, werden also gerne als Rechtsgedanken herangezogen, im Falle des Vorrangs vor allem auch im Rahmen sogenannter verfassungskonformer bzw. unionsrechtskonformer Auslegung. Letztere gibt es auch in der Variante der richtlinienkonformen Auslegung, auf deren Bedeutung bei der Solvency II-Richtlinie noch zurückzukommen sein wird. Vielfach handelt es sich – zB bei den Grundrechten – zugleich um Prinzipien im strukturellen Sinne. Gerade wegen der Überschneidung dieser beiden Prinzipienbegriffe kommt es nicht selten zu Missverständnissen, die sich erst dort zeigen, wo Normen von solch allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung nicht abwägungsfähig sind. Das sei hier exemplarisch am Beispiel der Menschenwürde verdeutlicht, die sich gerade dadurch auszeichnet, einerseits strukturell abwägungsfest, also Regel zu sein,129 und die andererseits den grundsätzlichen Ausgangspunkt der Grundrechtskataloge nicht nur des deutschen Verfassungsrechts, sondern auch der Europäischen Grundrechtecharta darstellt und damit von schlechthin prinzipieller Bedeutung ist. Spricht man also von einem Prinzip, muss man klären, in welchem Sinne man den Begriff 80 verwendet. Unschärfen und drohende Missverständnisse ergeben sich vor allem in zwei Konstellationen, die beide für die Solvency II-Richtlinie relevant sind: Unbestimmte Rechtsbegriffe werden nicht selten in Zusammenhang mit Prinzipien gebracht, haben aber genauer betrachtet weder mit dem einen, noch mit dem anderen Prinzipienbegriff zu tun. Sie müssen also nicht notwendigerweise Prinzipien sein. Im Gegenteil: Gerade wenn der Gesetzgeber Regeln im strukturellen Sinne formuliert, also „Wenn-dann-Sätze“, deren Anwendung gegebenenfalls zwingend aus dem Subsumtionsschluss folgt, besteht das Problem, dass ein möglichst bestimmter Tatbestand auf Kosten der Würdigung der vielfältigen Umstände des Einzelfalls gehen kann. Dann drängen sich für den Gesetzgeber zwei Alternativen auf. Die eine Alternative besteht in der Formulierung eines Prinzips mit flexiblen Rechtsfolgen (also insbesondere eine „Kann- oder Sollbestimmung“, also eine Ermessensnorm). Die andere Alternative besteht in der Formulierung unbestimmter Rechtsbegriffe auf Tatbestandsebene bis hin zu Generalklauseln (man denke etwa an das strikte 127 Ausführlich dazu Michael, S. 144 ff. 128 Zu all dem Michael, S. 17 ff. 129 Michael/Morlok, Rn. 24.

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Verbot sittenwidriger Geschäfte im Zivilrecht). Freilich kann beides auch kombiniert sein (ein Beispiel aus dem europäischen Versicherungsaufsichtsrecht bieten die oben (→ Rn. 26 ff.) besprochenen Durchgriffsbefugnisse der EIOPA nach Art. 17 Abs. 6, Art. 18 Abs. 4 und Art. 19 Abs. 4 EIOPA-VO). Aber keineswegs sind unbestimmte Rechtsbegriffe (die gerade auch das deutsche Versicherungsaufsichtsrecht prägen!) im strukturellen Sinne auch mit Prinzipien verbunden. Unbestimmte Rechtsbegriffe werden insbesondere nicht nur bei sehr allgemeinen und grundlegenden Fragen verwendet, sondern gerne auch bei sehr speziellen Regelungen. Normen mit unbestimmten Rechtsbegriffen sind also auch nicht notwendig Prinzipien in dem untechnischen Sinne, wenngleich auch die Allgemeinheit einer Norm Grund für die Unbestimmtheit ihrer Rechtsbegriffe sein kann. 81 Das zweite drohende Missverständnis besteht darin, dass gestufte Rechtsetzung häufig, aber keinesfalls zwingend mit einer Prinzipienbildung auf der ersten und der Regelbildung auf der zweiten Ebene verbunden ist. Gestufte Rechtsetzungsprozesse sind etwa Verordnungsermächtigung/Verordnung oder Richtlinie/Umsetzung und in einem weiteren Sinne auch Verfassungsrecht/einfaches Recht. Es sei hier keinesfalls bestritten, dass es viele Beispiele dafür gäbe, dass die jeweils erste Stufe Prinzipien aufstellt, die auf der zweiten Stufe durch Regelbildung näher ausgebildet werden. Aber es ist klarzustellen, dass gerade auch in dem hier interessierenden Verhältnis zwischen Richtlinie und nationaler Umsetzung bzw. zwischen einer Rahmenrichtlinie und Durchführungsmaßnahmen der Kommission weder zwingend ist, dass eine Richtlinie nur Prinzipien und keine Regeln enthält, noch zwingend ist, dass deren Umsetzung bzw. Durchführung nur durch Regeln und nicht auch durch Prinzipien sinnvoll wäre. Auch die Unterscheidung zwischen den von Richtlinien vorgegebenen Zielen und den in der Umsetzung normierten Mitteln ist keinesfalls auf den Gegensatz zwischen Prinzip und Regel zurückzuführen. Das bedeutet also, dass nicht jede Richtlinie in einem solchen Sinne als „prinzipienbasiert“ und nicht jede Umsetzung als „regelbasiert“ gelten kann. Dass die Solvency II-Richtlinie explizit einen prinzipienbasierten Ansatz verfolgt, kann also nicht als eine bloße Selbstverständlichkeit abgetan werden, die sich bereits aus der Rechtsnatur jeder Richtlinie ergäbe. b) Die Bedeutung des prinzipienbasierten Ansatzes in der Solvency II-Richtlinie 82 Die Solvency II-Richtlinie versteht ihren Regulierungsansatz als „prinzipienbasiert“. Das könnte zweierlei bedeuten. Erstens kommt in Betracht, dass damit eine mehrstufige, prinzipienbasierte Rechtsetzung gemeint ist, die sich im Lamfalussy-Prozess verwirklicht und auf dessen zweiter Stufe bereits Regelcharakter besteht. Die Aufsicht vollzöge dann Regeln, die ihrerseits auf Prinzipien basieren. Zwar mag der Wortlaut ein solches Verständnis zulassen, da der Ansatz auf Prinzipien eben nur „basieren“ soll. Es besteht aber kein ersichtlicher Grund dafür, warum der europäische Gesetzgeber einen solchen Ansatz selbst explizit als prinzipienbasiert hätte bezeichnen sollen. Sollte bereits im Rechtsetzungsverfahren ein Regelmodell angestrebt worden sein, wäre die Bezeichnung des Ansatzes als prinzipienbasiert rein beschreibender Natur und als solche geradezu irreführend. Eine solche Interpretation ist deshalb abzulehnen. Ob eine Regelbildung im Rahmen der weiteren Stufen der Rechtsetzung damit völlig auszuschließen ist, sei damit nicht gesagt. Jedoch würde es dem Sinn der Solvency II-Richtlinie entgegenstehen, eine solche Regelbildung spezifisch zu fordern. 83 Zweitens denkbar und vorzugwürdig ist es deshalb, in der Solvency II-Richtlinie den expliziten Ansatz für einen auch prinzipienbasierten Vollzug zu sehen. Das setzt voraus, dass die Aufsicht im Einzelfall selbst Prinzipien konkretisiert und auf den weiteren Stufen des Lamfalussy-Prozesses nicht – jedenfalls nicht vollständig – durch Regeln determiniert wird. Für diese Interpretation spricht, dass die in der Solvency II-Richtlinie normierten

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Kriterien der Aufsichtsmaßstäbe in der Tat abwägungsfähig sind, also Prinzipien im strukturellen Sinne darstellen. Und diese Prinzipien sind auch gerade darauf angelegt, im Einzelfall, dh für jedes Finanzinstitut bezogen auf seine spezifischen Risiken konkretisiert zu werden. Das kann aber nur durch den Vollzug und nicht durch allgemeine Rechtsetzung, die über den Einzelfall hinausgeht, geschehen. Daraus folgt: Der Ruf nach Regelbildung auf Stufe 2 oder 3 des Lamfalussy-Prozesses ent- 84 springt einem rein rechtspolitischen Wunsch, der europarechtlich keine Grundlage hat, sondern im Gegenteil im prinzipienbasierten Ansatz der Solvency II-Richtlinie seine Grenze erfährt. Zudem könnte der Ruf nach Regelbildung auf dem Missverständnis beruhen, dass Regelbildung das einzige geeignete Mittel sei, auf das Problem der Unbestimmtheit zu reagieren. Regeln und Prinzipien können mehr oder weniger bestimmt oder unbestimmt sein. Regeln können durch unbestimmte Rechtsbegriffe denkbar unbestimmt sein und die Abwägungsbelange eines Prinzips lassen sich damit verglichen sehr differenziert normieren. Vorschnell ist auch die Vermutung, dass Prinzipien im Vergleich zu Regeln dem Normadressaten weniger Freiheit130 belassen. Regeln und Prinzipien können gleichermaßen streng oder liberal sein. Ein Vergleich lässt sich nur anstellen, wenn man einerseits auch die jeweilige Bestimmtheit der Normen und vor allem die Praxis ihres Vollzugs vergleicht. Spekulativ ist auch die Behauptung, Prinzipien führten zu uneinheitlichem, weil flexiblem Vollzug.131 Gerade auch der Prinzipienvollzug muss gleichmäßig sein. Das garantiert der allgemeine Gleichheitssatz. Und Letzterer mag sogar dafür sprechen, eine angemessene Differenzierung im Einzelfall durch flexible Prinzipien zu ermöglichen. Denn der allgemeine Gleichheitssatz ist ambivalent. Er spricht keineswegs für Regeln und Pauschalierungen, sondern gebietet im Gegenteil, wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Eine Differenzierung zwischen Ungleichem kann durch differenzierte Regelbildung, in besonderem Maße aber durch einen prinzipienbasierten Vollzug, gewährleistet werden. Schließlich ist auch die Befürchtung zu entkräften, dass Prinzipien im Gegensatz zu Regeln nur unzureichend gerichtlich kontrollierbar seien. Gerichtliche Kontrolle ist auch bei Prinzipien keinesfalls auf einen bloßen Willkürmaßstab begrenzt. Dass im Bereich der Versicherungsaufsicht statistisch gesehen kaum Rechtsstreitigkeiten ausgetragen werden, hat andere Gründe und ist unabhängig von der Normstruktur der Maßstäbe. Es sei hier die Gegenthese gewagt, dass gerade in der meist informellen Auseinandersetzung der Finanzinstitute mit der Aufsicht ein prinzipienbasiertes Modell den Unternehmen mehr Möglichkeiten lässt, ihre berechtigten Interessen angemessen geltend zu machen – wenn die nötigen rechtsstaatlichen Konsequenzen aus dem prinzipienbasierten Modell gezogen werden (dazu gesondert → Rn. 90 ff.). 4. Lösungsansätze des Unbestimmtheitsproblems einer prinzipienbasierten Versicherungsaufsicht a) Präzisierung der Prinzipien Unbestimmtheit ist ein rechtsstaatliches Problem. Wenn Normen des Eingriffsrechts unbe- 85 stimmt sind, bedarf das einer qualifizierten Rechtfertigung nicht nur angesichts der objektivrechtlichen Gesetzesbindung der Verwaltung, sondern insbesondere auch mit Blick auf die Grundrechtseingriffe. Vorab sei noch einmal klargestellt, dass das Unbestimmtheitsproblem des Versicherungsaufsichtsrechts nicht erst mit der Prinzipienbasiertheit der Solvency II-Richtlinie beginnt, sondern aus Sicht des deutschen Versicherungsaufsichtsrechts seit jeher besteht. Richtigerweise verweist das Problem der Unbestimmtheit also keineswegs auf eine vermeintlich bestimmtere Alternative einer regelbasierten Aufsicht zurück. 130 Wandt/Sehrbrock ZVersWiss 2011, 193 (204 f.). 131 Wandt/Sehrbrock ZVersWiss 2011, 193 (205 f.).

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Nur ein Aufsichtsrecht, das ohne Prinzipien und ohne unbestimmte Rechtsbegriffe auskäme, könnte den Vorteil größerer Bestimmtheit für sich in Anspruch nehmen. Dass dies eine rein theoretische Alternative ist, liegt auf der Hand. Vielmehr gilt es, die Bestimmtheit innerhalb des prinzipienbasierten Ansatzes zu optimieren. Dies ist in der Tat eine der wesentlichen Aufgaben der weiteren Stufen des Lamfalussy-Prozesses. 86 Wie bereits erörtert, können auch Prinzipien mehr oder weniger bestimmt sein. Innerhalb der Normstruktur von Prinzipien lässt sich die Bestimmtheit insbesondere dadurch erhöhen, dass die abzuwägenden Kriterien, also die abwägungserheblichen Belange präzisiert werden. Die Kriterien, die es graduell zu berücksichtigen gilt, sollten möglichst umfassend benannt und möglichst genau bezeichnet werden. So werden Abwägungsentscheidungen transparenter, rational nachvollziehbar und besser vorhersehbar. Hilfreich kann es auch sein, wenn in Normen explizit die Kriterien benannt werden, die nicht bei der Abwägung zu berücksichtigen sind. Eine solche „Negativliste“ ist umso wertvoller, wenn die „Positivliste“ der rechtserheblichen und abwägungsfähigen Belange nicht abschließend, sondern offen formuliert ist. b) Punktuelle Regelbildungen als Ausnahmen und Grenzen der Prinzipien 87 Verwandt mit einer solchen „Negativliste“ ist auch die ergänzende Regelung zwar rechtserheblicher, aber abwägungsfester Belange. Sie wären Ausnahmen bzw. Grenzen des prinzipienbasierten Ansatzes. „Prinzipienbasiert“ iSd Solvency II-Richtlinie sollte nicht so verstanden werden, dass sämtliche aufsichtsrechtlichen Anforderungen aus Prinzipien bestehen und damit abwägungsfähig und -bedürftig sein müssen. Dass ein so komplexer Regulierungsrahmen wie der der Versicherungsaufsicht aus einer Kombination von Regel- und Prinzipienstrukturen geformt wird, ist keine Besonderheit, sondern geradezu eine Selbstverständlichkeit moderner Gesetzgebung. Kaum ein Teilrechtsgebiet kann mit einer reinen Regel- oder einer reinen Prinzipienstruktur normiert werden. Wie gezeigt gibt es sogar in der Grundrechtslehre, die als klassischer Anwendungsfall der Prinzipientheorie gelten kann, Ausnahmen, die einem Regelmodell folgen.132 Dennoch könnte man die Grundrechtsgewährleistung insgesamt als „prinzipienbasiert“ bezeichnen. Wenn nun die Solvency II-Richtlinie ausdrücklich ein prinzipienbasiertes Regime postuliert, dann sollte das so verstanden werden, dass die Anforderungen grundsätzlich aus Prinzipien bestehen und nur punktuell durch Regeln ergänzt werden. Letzteres ist – insbesondere auch auf der zweiten und dritten Stufe des Lamfalussy-Prozesses – zulässig, wenn dadurch nicht wesentliche, prinzipiengeprägte Strukturen ersetzt werden. Ein Versicherungsaufsichtsrecht ganz ohne abwägungsfeste Anforderungen ist nicht gewollt und wäre auch kaum denkbar. Das ist auch aus der Solvency II-Richtlinie selbst bereits ersichtlich. Man denke nur an die Einführung einer Compliance-Funktion und deren Unabhängigkeit, die im Unterschied zu anderen Governance-Funktionen, deren Ausgestaltung graduell vom Einzelfall abhängen, jedenfalls als solche streng verpflichtend sein soll (dazu → Rn. 115 ff.). c) Typisierung durch Regelbeispiele als Ausformung der Prinzipien 88 Von solchen Grenzen und Ausnahmen des prinzipienbasierten Ansatzes sind solche Konkretisierungen zu unterscheiden, die zwar regelhaft formuliert sind, den Rückgriff auf eine Abwägung im Einzelfall aber nicht ausschließen. Solche gleichsam untergeordneten Regelstrukturen können die Praxis sowohl aus Sicht der Aufsicht als auch aus Sicht der Unternehmen erheblich vereinfachen, indem sie als beispielhafte Orientierungsmaßstäbe dienen. Sie können erheblich zur Bestimmtheit des Vollzugs beitragen. Strukturell handelt es sich 132 Neben der Menschenwürde sind auch Garantien gegen den Entzug der Staatsangehörigkeit, gegen Auslieferung und bestimmte prozessuale Gewährleistungen abwägungsfest: Michael/Morlok, Rn. 546.

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um Regeln, deren Voraussetzungen und Folgen also in einer „Wenn-dann-Struktur“ anwendbar sind. Ihre Geltungskraft ist allerdings eingeschränkt, weil der Rückgriff auf die Prinzipien damit nicht ausgeschlossen wird, sondern letztlich nur die Anwendung der dahinter stehenden Prinzipien typisiert und vereinfacht werden soll. Für derartige Typisierungen gibt es verschiedene Regelungstechniken. So bietet sich vor allem die Bildung von Regelbeispielen an, die „in der Regel“ in bestimmten, typisierten Fällen die Voraussetzungen der Prinzipien erfüllen sollen. Solche Regelbeispiele könnten zB für die GovernanceAnforderungen nach den zu versichernden Risiken unter Berücksichtigung der Unternehmensgrößen gebildet werden. Eine solche Regelungstechnik ermöglicht auch die Bildung alternativer Optionen, die den rechtlichen Anforderungen gerecht werden und zwischen denen die Unternehmen wählen können. Dass solche Typisierungen lediglich „in der Regel“ den letztlich maßgeblichen, rechtlichen Anforderungen der Prinzipien entsprechen, bedeutet zweierlei: Erstens bleibt es den Unternehmen unbenommen, davon abzuweichen und ein individuelles Konzept vorzulegen. Zweitens könnte auch die Aufsicht – mit entsprechenden Gründen – im Einzelfall besondere Anforderungen stellen, weil atypische, vom „Regelfall“ abweichende Risiken bestehen. Nicht nur für die Praktikabilität und damit ökonomisch, sondern auch rechtsstaatlich wäre mit einer solchen Regelfall-Typisierung viel gewonnen. Die Bildung und Weiterentwicklung solcher Regelfälle ist ohne quantitative Beschränkung zulässig, weil der prinzipienbasierte Ansatz als solcher nicht in Frage gestellt wird. Das setzt freilich voraus, dass die Möglichkeit der Abweichung von Regelfällen auch im praktischen Vollzug anerkannt und gegebenenfalls praktiziert wird. Nur dann handelt es sich tatsächlich um Ausformungen des prinzipienbasierten Ansatzes. Mit Regelbeispielen verwandt aber keinesfalls identisch sind „Insbesondere-Tatbestände“. 89 Sie haben mit Regelbeispielen gemeinsam, dass auch sie nicht abschließend sind, sondern für atypische Fälle den Rückgriff auf die Prinzipien ermöglichen. Sie unterscheiden sich von Regelbeispielen indes dadurch, dass ihr Vorliegen den Rückgriff auf die Prinzipien entbehrlich machen würde. Sie sind damit strukturell den partiellen Ausnahmen vom prinzipienbasierten Ansatz zuzurechnen. Eine solche Regelungstechnik ist also nicht per se ausgeschlossen, müsste aber quantitativ auf Ausnahmen beschränkt bleiben, so dass die Prinzipien im Regelfall anwendbar bleiben. d) Möglichkeiten einer Regelbildung auch durch nationale Verwaltungsvorschriften? Eine andere Frage ist, auf welcher Stufe und in welcher Rechtsform eine solche normative 90 Steigerung der Bestimmtheit erfolgen kann. Da es sich um zulässige Maßnahmen handelt, die dem prinzipienbasierten Ansatz entsprechen, können sie grundsätzlich sowohl durch die Kommission auf der zweiten Stufe des Lamfalussy-Prozesses als auch durch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Solvency II-Richtlinie erfolgen. Dabei stellt sich die Anschlussfrage der Möglichkeiten einer Typisierung bzw. Regelbil- 91 dung auch durch nationale Verwaltungsvorschriften. Die Frage drängt sich geradezu auf, weil in Deutschland die Detailanforderungen der aufsichtsrechtlichen Praxis durch Rundschreiben der BaFin als nationale Aufsichtsbehörde formuliert und veröffentlicht werden. Das lässt sich auf § 318 Abs. 2 Nr. 2 VAG (103 Abs. 2 VAG aF) stützen, der die Aufsichtsbehörde zur regelmäßigen Veröffentlichung von „Rechts- und Verwaltungsgrundsätzen“ ermächtigt. Rundschreiben sind als solche keine Rechtsform, sondern lediglich eine Handlungsform.133 Es handelt sich um eine „Verwaltungsvorschrift mit atypischer faktischer

133 Vgl. Tormyn, Die Rundschreiben-Praxis des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen, 1992; zu dieser Unterscheidung allgemein Michael in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle § 41 Rn. 9.

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Bindungswirkung“.134 Die MaGo (VA) wird, wie auch ihre Vorgängerin die MaRisk (VA), von den Unternehmen schon faktisch wie eine Verordnung befolgt, um jeden Konflikt oder gar Rechtsstreit mit der BaFin, wenn irgend möglich, zu vermeiden. Das ist nicht nur aus der Sicht der Versicherungsunternehmen rational nachvollziehbar. Diese faktische Wirkung ist keine unbeabsichtigte Folge, sondern offenbar der von der BaFin beabsichtigte Zweck der MaGo (VA). Eine solche faktische Bindung entspricht dem informellen und kooperativen Wesen der Versicherungsaufsicht. Das schlägt aber nicht auf etwaige rechtliche Bindungen durch: Die MaGo (VA) wird dadurch nicht zu einer Verordnung oder Allgemeinverfügung. Als Verwaltungsvorschrift begründet die MaGo (VA) keine unmittelbaren Rechtspflichten der Unternehmen. Rechtlich betrachtet bindet sich die BaFin nur selbst. Das wiederum hat aber eine mittelbare, die Unternehmen ausschließlich begünstigende rechtliche Außenwirkung zur Folge: Jedes Unternehmen kann sich gegenüber der BaFin in Fragen der Auslegung der §§ 23 ff. VAG auf den allgemeinen Gleichheitssatz und den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen. Die Nichtbeachtung der MaGo (VA) durch ein Versicherungsunternehmen stellt aber als solche keinen Verstoß gegen geltendes Recht dar. Das Versicherungsunternehmen kann argumentieren, trotzdem der „Einhaltung der Gesetze“ iSd § 294 Abs. 2 VAG entsprochen zu haben. Freilich riskiert es aufsichtliches Einschreiten, wenn es gegen Pflichten verstößt, die sich direkt aus §§ 23 ff. VAG ergeben. Allein §§ 23 ff. VAG wären der Maßstab richterlicher Kontrolle über eine angemessene Geschäftsorganisation. Die MaGo (VA) gehört – anders als eine VO – nicht zu „Gesetz und Recht“, an das die Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG gebunden sind. Sie wäre also nicht Maßstab richterlicher Kontrolle, sondern als Verwaltungshandeln der BaFin selbst gegebenenfalls deren Gegenstand. Die Anforderungen aus Sicht des deutschen Verwaltungsrechts an die MaGo (VA) sind an jenen der Rechtsprechung des BVerwG135 zu den sogenannten „normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften“ zu orientieren.136 Danach sind Anforderungen an das Verfahren des Erlasses und der Veröffentlichung zu stellen und es gelten Beobachtungs- und Anpassungspflichten. Der Konzeptcharakter der MaGo (VA) hat erstens deutliche Stärken gegenüber einer klassischen Verordnung. Gerade die Mischung aus Pflichten, Empfehlungen und Erläuterungen, aufgegliedert in zwei Spalten, entspricht dem prinzipienbasierten Ansatz der Geschäftsorganisation. Außerdem ist eine solche Verwaltungsvorschrift – insofern vergleichbar mit den normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften – von vornherein darauf angelegt, regelmäßig unter Einbeziehung der Betroffenen überarbeitet zu werden. Die MaGo (VA) soll und muss auf die wirtschaftlichen Flexibilitäten der Finanzdienstleistungsbranche reagieren, um dem prinzipiengeleiteten Charakter der Geschäftsorganisation gerecht zu werden. Die Entstehung der MaGo (VA) ist schließlich ein Beispiel kooperativer Rechtsetzung.137 Im Vergleich zu informellen Selbstverpflichtungserklärungen ermöglicht die MaGo (VA) unmittelbar staatliche Kontrolle, ob sie faktisch eingehalten wurde. Das Phänomen sogenannter Trittbrettfahrer, die sich nicht an Selbstverpflichtungen halten, lässt sich so vermeiden. 92 Das hier zu erörternde unionsrechtliche Problem besteht darin, dass der EuGH138 noch strengere Anforderungen an die Bestimmtheit stellt, wenn er auch die vom BVerwG aner134 Michael VersR 2010, 141 ff. 135 BVerwGE 107, 338 (341 f.); BVerwGE 110, 216 (218); zustimmend Jarass JuS 1999, 105 (111): „ein leistungsfähiges Instrument zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe“; für eine Übertragung auf andere Rechtsbereiche: Ruffert in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle § 17 Rn. 76: „nicht als Sonderfall“; kritisch Wahl NVwZ 1991, 409 ff.; Sparwasser/Engel/Voßkuhle § 5 Rn. 44. 136 Dazu im Einzelnen zur MaRisk (VA): Michael VersR 2010, 141 ff. 137 Auch hierzu vgl. Ladeur DÖV 2000, 217 (222); Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, 2002. 138 EuGH 17.10.1991 – C-58/89, Slg 1991, I-4983, 5023 f.

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kannten „normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften“ nicht als Umsetzungen von Richtlinien gelten lässt. Das Problem besteht darin, dass die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht seinerseits Rechtsnormcharakter tragen muss. Dies bedeutet, dass es sich seinerseits um ein Gesetz, wenigstens aber um eine VO handeln muss. Verwaltungsvorschriften mit rein faktischer Bindungswirkung reichen nicht aus. Hier ist nicht der Ort, sich zu fragen, ob diese Rechtsprechung des EuGH überzogene Anforderungen stellt und dem deutschen Verwaltungsrecht nicht gerecht wird. Unterstellen wir an dieser Stelle also, der EuGH bliebe bei seiner Linie und legen diese zu Grunde. Dann würde die MaGo (VA) bzw. jede Umsetzung der Solvency II-Richtlinie durch Rundschreiben der BaFin diesen europarechtlichen Anforderungen nicht genügen. Dass der EuGH Verwaltungsvorschriften nicht ausreichen lässt, um eine Richtlinie umzu- 93 setzen, heißt aber nicht, dass damit Verwaltungsvorschriften in Bereichen der Richtlinienumsetzung per se ausgeschlossen sind. In der Solvency II-Richtlinie heißt es – wie in vielen Richtlinien – ausdrücklich, dass die Umsetzung in „Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ erfolgen kann. Verwaltungsvorschriften liegen unproblematisch dann vor, wenn sie Rechtsnormen ergänzen und konkretisieren, die ihrerseits den Mindestanforderungen einer Umsetzung genügen. Es kommt also darauf an, ob das deutsche Umsetzungsgesetz, also vor allem §§ 23 ff. VAG seinerseits der Umsetzung genügt. Wenn es also insoweit europarechtlichen Ergänzungsbedarf bei der Regelung der Geschäftsorganisation gibt, dann darf nur nicht der Fehler begangen werden, solche Anpassungen nur auf der Ebene der MaGo (VA) vorzunehmen. Die Umsetzung von Solvency II könnte und sollte also bezüglich der Geschäftsorganisation durch die bewährte Kombination von Gesetz iVm einer Rundschreibenpräzisierung erfolgen. Dabei ist auch zu empfehlen, dass sich der deutsche Gesetzgeber auf das zwingend zur 94 Umsetzung der Richtlinie Erforderliche beschränkt. Denn sonst geht die Flexibilität der Versicherungsaufsicht verloren, die gerade auch dem prinzipienorientierten GovernanceKonzept von Solvency II entspricht. Die oben dargestellte Möglichkeit der Bildung von Regelbeispielen fände in der Form der Rundschreiben ein besonders geeignetes Format. Gerade die mangelnde formale Normqualität würde dazu beitragen, dass die Regelbeispiele ein Abweichen im Einzelfall nicht ausschließen. Freilich sollte dies auch und vor allem durch die Formulierung entsprechender Rundschreiben klargestellt werden. Im Idealfall würden dann Rundschreiben sowohl der Unternehmenspraxis als auch der Aufsicht einen Leitfaden und Anhaltspunkte einer Orientierung bieten, ohne den prinzipienbasierten Ansatz der Solvency II-Richtlinie in Frage zu stellen. Denkbar wäre es auch gewesen, eine Verordnungsermächtigung zu schaffen, die Versiche- 95 rungsaufsicht also zu ermächtigen, die Geschäftsorganisation im Verordnungswege verbindlich zu regeln. Das war auch bei der Schaffung des § 64 a VAG aF erwogen worden. So würde die Umsetzung europarechtlich aber nicht einfacher, sondern sogar schwieriger. Zwar sind europarechtlich auch Verordnungen grundsätzlich ausreichend, um Richtlinien umzusetzen, weil es sich ja um Rechtsnormen handelt. Es stellt sich allerdings ein zwar lösbares, aber doch gewichtiges Anschlussproblem. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH sollen nationale rechtliche Regelungen, die der Umsetzung einer Richtlinie dienen, mindestens den Rang des vor der Regelung durch Richtlinienrecht im Mitgliedsstaat geltenden Rechts haben.139 Das wird zT sogar als echtes Rückschrittsgebot interpretiert. Das würde bedeuten, dass dem deutschen Gesetzgeber bereits mit der Schaffung des § 64 a VAG aF die Verordnungsermächtigung als Alternative versperrt wurde. Das ist mE abzulehnen. Der EuGH kann den nationalen Gesetzgebern nicht verwehren, ihr Recht neu zu 139 EuGH 23.5.1985 – C-29/84, Slg 1985, 1661, Rn. 23 u. 28; EuGH – C-116/86, Slg 1988, 1323, 14 – Kommission/Italien.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht konzipieren und Gesetze durch Verordnungen zu ersetzen. Es muss lediglich sichergestellt sein, dass der Geltung und Anwendung der neueren, die Richtlinie umsetzenden Verordnung nicht eine Fortgeltung des älteren Gesetzesrechts entgegensteht. e) Erhöhte Begründungsanforderungen an eine prinzipienbasierte Versicherungsaufsicht als verfassungsrechtliche Konsequenz

96 Oben wurde die These aufgestellt, dass gerade angesichts der meist informellen Aufsichtspraxis ein prinzipienbasiertes Modell für die betroffenen Unternehmen die Chance einer erhöhten rechtsstaatlichen Begrenzung der Aufsicht impliziert. Eine Prozeduralisierung des Verwaltungsverfahrens tut gerade dort Not, wo nicht typischerweise Gerichtsverfahren etwaige rechtsstaatliche Defizite wenigstens nachträglich auffangen. Die wichtigste verwaltungsverfahrensrechtliche Konsequenz, die aus verfassungsrechtlichen Gründen aus einem prinzipienbasierten Ansatz folgt, ist die Erhöhung der Begründungsanforderungen. Denn wenn sich die Konsequenzen des Rechts nicht aus einem zwingenden Subsumtionsschluss ergeben, sondern durch Abwägung im Einzelfall zu ermitteln sind, ist dies rational nur nachvollziehbar, wenn die Abwägung konkret begründet wird. Rationale Nachvollziehbarkeit ist ein allgemeines rechtsstaatliches Gebot, das aus den Grundrechten folgt und auch die gerichtliche Überprüfbarkeit erst ermöglicht. 97 Diese Begründungsanforderungen wirken auch auf die – ohnehin ja bestehende – Anhörungspflicht zurück. Letzteres ist allerdings in einer von Kooperation und informellem Austausch geprägten Aufsichtspraxis nicht die entscheidende Neuerung. Begründungspflichten hingegen könnten auch praktische Bedeutung erlangen und die Aufsichtspraxis rechtsstaatlich stärker einbinden. Denn Begründungsanforderungen können auch informell bzw. nicht öffentlich realisiert werden. Und Letzteres ist für viele Unternehmen wichtig und ein Grund für deren geringe Neigung, Konflikte mit der Aufsicht in (öffentlichen) Gerichtsverfahren auszufechten. Denn die Versicherungsbranche beruht auf dem Vertrauen der Versicherer. Deshalb scheuen Unternehmen jeden Weg, der etwaige Konflikte mit der Aufsicht offenbar werden ließe, weil schon der Rechtsstreit als Indiz für rechtlich zweifelhafte Zustände im Unternehmen gedeutet werden könnte. 98 Das bedeutet, dass die Aufsichtsbehörde im Einzelfall begründen muss, welche Kriterien sie zugrunde gelegt hat. Sie muss auch deren konkrete Gewichtung begründen können. Sollte es Regelbeispiele geben, erleichtern diese die Begründung nur in den typischen Fällen. Wenn sich die BaFin gegebenenfalls auf Regelbeispiele und das Unternehmen auf außergewöhnliche Umstände (atypischer Fall, übermäßige Belastung, unverhältnismäßige Benachteiligung) beruft, muss die BaFin die in der erforderlichen Anhörung geltend gemachten Einwände prüfen und gegebenenfalls berücksichtigen. Wenn sie nicht vom Regelbeispiel abweicht, muss sie begründen, warum es sich nicht um einen atypischen Fall handelt. Sie muss außerdem begründen, warum die Maßnahme im konkreten Fall verhältnismäßig ist. Sie muss schließlich auch begründen, ob sie nicht wesentlich Ungleiches gleich behandelt oder wesentlich Gleiches ungleich. 5. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als ausdrückliches Postulat der Solvency IIRichtlinie 99 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schützt nicht gegen jede Verschärfung der Aufsicht bzw. gegen Entlastungen der Aufsicht zulasten von Organisationspflichten der Unternehmen. Das Übermaßverbot ist für sich genommen keine Bestandsschutzgarantie, sondern die Grenze der Belastbarkeit für jegliche Regulierung und deren Änderungen. Die ausdrückliche Verankerung des Proportionalitätsprinzips in der Solvency II-Richtlinie hat deshalb keinesfalls zur Folge, dass die Aufsichtsanforderungen für die Unternehmen insge-

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samt zurückgenommen würden. Vielmehr handelt es sich umgekehrt um ein Korrektiv gegenüber den zusätzlichen Anforderungen. Dass der Ansatz von Solvency II damit insgesamt mehr be- als entlasten wird, ist damit aber ebenso wenig vorgegeben und wird letztlich vom Einzelfall abhängen. Es wird Unternehmen geben, denen die Umstellung mehr oder weniger entgegenkommt. Dass die Belastungen im Einzelfall nicht unverhältnismäßig sein dürfen – das garantiert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist klassischerweise140 und vor allem als Über- 100 maßverbot als Grenze hoheitlicher Eingriffsintensität ausgeprägt. Er erschöpft sich heute aber keineswegs darin, sondern hat sich vielmehr parallel zu den Dimensionen der Grundrechte weiterentwickelt. Versteht man die Grundrechte zwar primär, aber keinesfalls ausschließlich als Abwehrrechte, dann muss sich auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht im Übermaßverbot erschöpfen. So wird neben dem Übermaßverbot heute auch ein Untermaßverbot141 und ein Gleichmaßverbot142 anerkannt. Insgesamt lässt sich also von drei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit sprechen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Solvency II-Richtlinie ist nicht auf die Dimension eines Übermaßverbotes fixiert. Der Ansatz von Solvency II will flexibel unternehmens- und risikobezogen sein sowie dem 101 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen (Art. 29 Abs. 3 und Abs. 4, Art. 41 Abs. 2 und Abs. 4 S. 2 der Solvency II-Richtlinie). Insoweit wird also der Ansatz der Proportionalität ausdrücklich betont. Es ist einerseits zwischen kleineren, mittleren und größeren Versicherungsunternehmen sowie den Rückversicherungsunternehmen zu unterscheiden. Andererseits ist zwischen verschiedenen Risiken und Tätigkeiten zu differenzieren. Die Differenzierung hat sich nach der Wesensart, dem Umfang und der Komplexität der Risiken und Tätigkeiten zu orientieren. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll dabei ausdrücklich sowohl für die Anforderungen an die Unternehmen als auch für die Wahrnehmung der Aufsichtsbefugnisse gelten.143 Weil die Verhältnismäßigkeit aber ein rechtlicher Maßstab sein soll, ist zu klären, wie sich diese verschiedenen Perspektiven der Verhältnismäßigkeit zueinander verhalten. Folgende Grundmodelle der in diesem Zusammenhang noch völlig ungeklärten Interpretation des Proportionalitätsprinzips sind denkbar: a) Proportionalität als Untermaßverbot In Modell A ist die Verhältnismäßigkeit primär an einem durch das jeweilige Risiko indi- 102 zierten Konzept auszurichten, so dass das Schutzniveau zugunsten der Versicherungsnehmer immer gleich ist. Die Folge hiervon wäre, dass die Proportionalität primär ein Untermaßverbot im Sinne eines zielbezogenen Optimierungsgebotes wäre und stark wettbewerbsregulierend wirken würde. Konsequenterweise müssten kleinere Versicherungsunternehmen auf die Versicherung bestimmter Risiken verzichten.

140 Grundlegend v. Svarez in v. Conrad/Kleinheyer, S. 486 f.; v. Mohl, S. 19 ff.; aus der Rechtsprechung: Preußisches Oberverwaltungsgericht 13.2.1884 – PrOVGE 10, 322, 326 – Feld- und Forstpolizeigesetz, betreffend die Erforderlichkeit einer Eigentumsbeschränkung und v. 18.12.1896 – PrOVGE 31, 409 ff. – Heilsarmee, betreffend die Rechtfertigung von Versammlungsverboten. 141 BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II, unter Berufung auf Isensee/Kirchhof § 111 Rn. 165 f.; vgl. bereits Canaris AcP 184 (1984), 201 (228); kritisch: Hain DVBl. 1993, 982 ff.; Hermes/Walther NJW 1993, 2337 ff.; zum Ganzen: Hesse in FS Mahrenholz, S. 541 ff. 142 Michael/Morlok, Rn. 805 ff. 143 Vgl. Erwägungsgrund 19 Solvency II-RL.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht b) Proportionalität als Übermaßverbot

103 In Modell B ist die Verhältnismäßigkeit primär an der Zumutbarkeit für das Versicherungsunternehmen auszurichten. Dies hätte zur Folge, dass die Proportionalität primär ein Übermaßverbot wäre. Die Konsequenz hiervon wiederum wäre, dass die Befugnisse der Versicherungsaufsicht sowie deren Ziele unternehmensbezogen relativiert würden. c) Mischmodell einer mehrdimensionalen Proportionalität 104 Vieles spricht dafür, dass die Konzeption der Solvency II-Richtlinie eine Kombination verschiedener Dimensionen der Verhältnismäßigkeit anstrebt. Welchem der Gesichtspunkte bei der Kollision der Vorzug zu geben ist, kann nicht durch ein abstraktes Vorrangverhältnis, sondern nur im Einzelfall geklärt werden. So ist einerseits denkbar, dass ein kleineres Versicherungsunternehmen bestimmte Risikomanagement-Strukturen nicht braucht, um trotzdem das gleiche Schutzniveau zugunsten der Versicherungsnehmer zu gewährleisten. Andererseits ist zB denkbar, dass aus Gründen der Zumutbarkeit zumindest vorübergehend hingenommen werden soll, dass das Schutzniveau durch einzelne Unternehmen nur schrittweise erreicht wird. 105 Je größer ein Unternehmen ist, desto eher kann ihm eine aufwendige Governance-Funktion zugemutet werden. Das bestätigt sich auch darin, dass große Unternehmen derartige Strukturen im eigenen Interesse bereits freiwillig installiert haben. Indem der europäische Gesetzgeber dies grundsätzlich für alle Unternehmen zur Pflicht macht, sollen Trittbrettfahrer vermieden werden – insofern greift die Proportionalität als Untermaßverbot. Zugunsten kleinerer Unternehmen sind einerseits Übergangsschwierigkeiten zu berücksichtigen, aber auch die sich auf Dauer stellende Frage der Zumutbarkeit insbesondere auch der entstehenden Personalkosten, deren überproportionale Entstehung nicht im Interesse der Versicherten ist – insofern greift die Proportionalität als Übermaßverbot. Im Vergleich der Aufsichtspraxis vergleichbarer Unternehmen wird zudem das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz folgende Gleichmaßverbot zu berücksichtigen sein. Dabei ist auf die bereits erörterten Typisierungsmöglichkeiten im Rahmen des prinzipienbasierten Ansatzes zu verweisen. Wichtig ist dabei, dass auch das Gleichmaßverbot eine flexible, die Umstände des Einzelfalls berücksichtigende Handhabung der Prinzipien keineswegs ausschließt. Vielmehr geht es darum, die weichen Kriterien in nachvollziehbarer Weise gleichmäßig auf die Einzelfälle herunter zu brechen. 106 Im Zusammenspiel des Übermaß- und Gleichmaßverbots geht der Grundsatz der Proportionalität sogar noch weiter. Kleineren Unternehmen, denen bestimmte Anforderungen nicht zuzumuten sind, ist es auch nicht zuzumuten, ihrerseits Individuallösungen ohne jegliches Vorbild selbst zu entwickeln. Bei der Konkretisierung des prinzipienbasierten Ansatzes ist die Aufsicht sogar gehalten, Hilfestellungen zu geben. Das kann sie realistischerweise am besten dadurch, dass sie typisierte Leitlinien veröffentlicht (gegebenenfalls durch Rundschreiben) und klarstellt, dass deren Modifizierung im Einzelfall möglich und notwendig bleibt. Letzteres wird sie – wie seit jeher – im Wesentlichen durch informelle Kooperation mit den Einzelunternehmen gewährleisten. Die im prinzipienbasierten Ansatz wurzelnden Probleme der Unbestimmtheit sind also auch Probleme der Verhältnismäßigkeit oder anders gesagt sind diese auch durch Anwendung des Grundsatzes der Proportionalität zu lösen. 6. Hauptziel und Nebenziele der Versicherungsaufsicht nach der Solvency II-Richtlinie 107 Nach Erwägungsgrund 16 der Solvency II-Richtlinie soll „vorrangiges“ Hauptziel der Regulierung und Beaufsichtigung des Versicherungs- und Rückversicherungsgewerbes ein „angemessener Schutz der Versicherungsnehmer und Anspruchsberechtigten“ sein. Da-

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rüber hinaus stellen „Finanzstabilität sowie faire und stabile Märkte (…) weitere Ziele der Versicherungs- und Rückversicherungsregulierung sowie der Versicherungsaufsicht“ dar, „denen ebenfalls Rechnung zu tragen ist“. Diese dürfen jedoch das vorrangige Ziel „nicht beeinträchtigen“ (französische Fassung: „sans détourner“, englische Fassung: „not undermine“). Hier stellen sich zwei Fragen, die vorliegend miteinander zusammenhängen. a) Normative Bedeutung der Erwägungsgründe einer Richtlinie Zunächst ist zu klären, welche normative Bedeutung die Erwägungsgründe einer Richtli- 108 nie überhaupt haben können – insbesondere, wenn sie in den Artikeln der Richtlinie keinen unmittelbaren Niederschlag gefunden haben. Zwar sind die Erwägungsgründe einerseits integraler Bestandteil des Gesetzgebungsdokuments.144 Sie werden – anders als die Begründungen von Regierungsentwürfen zu Gesetzen in Deutschland – zusammen mit der Richtlinie verabschiedet und amtlich bekanntgemacht. Andererseits entfalten sie – anders als die Artikel der Richtlinie – keine unmittelbare Regelungswirkung, sondern dienen letztlich der Auslegung und Anwendung der Artikel der Richtlinie. Insbesondere begründen Erwägungsgründe deshalb ihrerseits jedenfalls keine subjektiven Rechte.145 Das schließt aber nicht aus, dass ihnen eine objektivrechtliche Bedeutung als Zweckbe- 109 stimmung zukommt.146 Rechtsverbindlichkeit ist im öffentlichen Recht nicht nur eine Frage der Begründung subjektiver Rechte. In der Begründung und Begrenzung von Zweckbestimmungen liegt gerade auch eine Besonderheit des Unionsrechts. Dies mag auch die – nicht nur im unionsrechtlichen Sekundärrecht, sondern auch im Völkerrecht gebräuchliche – Integration der Erwägungsgründe in das Gesetzesdokument erklären. Das lässt sich am besten im Gegensatz zum nationalen deutschen Recht verdeutlichen: Staatliche Regelungen des öffentlichen Rechts können grundsätzlich jedem öffentlichen Interesse dienen und unterliegen insofern nur ausnahmsweise Einschränkungen durch einfachrechtliche Zweckbeschränkungen oder aber durch verfassungsrechtliche Schrankenbestimmungen (etwa bei den speziellen Gesetzesvorbehalten oder bei den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten). Hinter dem allgemeinen öffentlichen Interesse verbirgt sich die grundsätzliche Allzuständigkeit des souveränen Staates. Demgegenüber gründet die Europäische Union, die selbst kein Staat ist, weiter auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Das wirkt sich auch auf die Wahrnehmung bestehender Gesetzgebungskompetenzen durch die Union aus. Wie weit solche Rechtsetzung reichen soll, hängt wesentlich von ihrem Anwendungsbereich und ihren Zweckbestimmungen ab. Letztere dienen nicht nur als Auslegungshilfe einer „teleologischen“ Interpretation von Spezialnormen, sondern auch als Rechtfertigungsgründe für Grundrechtseingriffe. Einer Anerkennung solcher objektivrechtlichen Bedeutungen der Erwägungsgründe steht 110 auch nicht die Wesentlichkeitstheorie entgegen. Nach Art. 290 Abs. 2 AEUV müssen im Falle der Delegation von Rechtsetzungskompetenzen auf die Union unter anderem auch deren „Ziele“ ihrerseits „in den betreffenden (dh ermächtigenden) Gesetzgebungsakten (...) ausdrücklich festgelegt“ werden. Das schützt die Beteiligung des Parlaments und die Rechtsetzungsmacht des Rats davor, dass die Kommission die mit der Delegation verbundenen Ziele überschreitet. Ob die Ziele in den Erwägungsgründen oder in den Artikeln der Richtlinie manifestiert werden, ist für diese Frage der demokratischen und rechtsstaatlichen Legitimation nicht relevant. Dass die Nebenziele in der Richtlinie selbst keine wei144 Köndgen in Riesenhuber, S. 114 Rn. 48. 145 Deutlich GA Stix-Hackl Schlussanträge v. 25.11.2003 – C-222/02, Slg 2004 I-2425 – Paul/Deutschland. 146 Kritisch Wandt/Sehrbrock ZVersWiss 2011, 193 (198): „kein verbindliches Nebenziel ... weil ... keinen Eingang in den Normtext“.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht tere Berücksichtigung finden, könnte allenfalls die inhaltliche Bestimmtheit der Ermächtigung in Frage stellen, die nach Art. 290 Abs. 2 AEUV ebenfalls zu fordern ist. Allerdings sind auch insofern keine Zweifel angebracht. Gerade Ziele werden nicht dadurch bestimmter, dass sie in verschiedenen Normen vorkommen. Im Gegenteil trägt deren Zusammenfassung in ein und demselben Erwägungsgrund sogar zur Klarheit bei. Das Problem liegt also, wenn überhaupt, allein in der Staffelung von Haupt- und Nebenzielen, auf die nun einzugehen ist. b) Das Verhältnis der in den Erwägungsgründen benannten Ziele zueinander und zu den bisherigen Zielen der Versicherungsaufsicht

111 Außerdem drängt sich angesichts des Erwägungsgrundes 16 der Solvency II-Richtlinie die Frage nach dem Verhältnis verschiedener, gestaffelter Ziele zueinander auf. Konkret ist zu fragen, wie sich das Hauptziel zu den weiteren sowie zu den bisherigen Zielen der Versicherungsaufsicht, wie etwa dem objektiven Schutz der Funktionsfähigkeit der Versicherungswirtschaft sowie dem Schutz der Versicherungsunternehmen und ihrer Aktionäre, verhält und wo es diesbezüglich zu Kollisionen kommen kann. Das Problem wird auf den ersten Blick dadurch abgemildert, dass es innerhalb des prinzipienbasierten Ansatzes vor allem um eine „weiche“ und „graduelle“ Berücksichtigung dieser Ziele gehen wird und sich die Zielsetzungen ja auch keinesfalls per se ausschließen, sondern in vielen Fällen parallel gerichtet sind. Anders gesagt werden Maßnahmen in der Regel mehreren dieser Ziele zugleich dienen. 112 Indes sollte die Frage auch nicht vernachlässigt werden. Denn gerade in einem prinzipienbasierten Ansatz spielen die Zielsetzungen eine herausragende Rolle. Während Zielsetzungen in regelbasierten Normierungen „nur“ der Auslegung der Normen dienen und damit erst relevant werden, wenn die Auslegung nicht ohnehin klar erscheint, ist die Anwendung von Prinzipien in jedem Einzelfall per se auf die Konkretisierung von Zielen angewiesen. Eine graduelle Berücksichtigung von Prinzipien basiert notwendig auf Zielen, deren Konkretisierung im Einzelfall erfolgt. Auf einer abstrakten Ebene ist also zu klären, welche Ziele bei der Abwägung überhaupt relevant sind. Hier greifen vorliegend die Erwägungsgründe. 113 Ebenfalls auf einer abstrakten Ebene können unterschiedliche prima facie Gewichtungen festgelegt werden. Denn dass Prinzipien miteinander bzw. gegeneinander abzuwägen sind, schließt nicht aus, dass sie tendenziell ein unterschiedliches Gewicht haben. Solche Gewichtungen lassen sich im Einzelfall gegebenenfalls auch umkehren, wenn ein weniger schwerwiegender Belang im Einzelfall besonders stark betroffen ist bzw. umgekehrt ein besonders schwerwiegender Belang im Einzelfall nur marginal betroffen ist. Vieles spricht dafür, dass die hier vorliegenden Erwägungsgründe solch eine prima facie Gewichtung implizieren. Sollten Maßnahmen zum Schutze der Märkte einmal den Interessen der Versicherungsnehmer entgegenlaufen, bedürfte es also einer besonders qualifizierten Rechtfertigung, um den Schutz der Versicherungsnehmer zurückzustellen. 114 Logisch denkbar wäre freilich auch ein echtes Vorrangverhältnis zwischen Prinzipien, wie es auch bei Regeln abstrakte Vorrangverhältnisse gibt. Zwischen Prinzipien würde ein solches Vorrangverhältnis bedeuten, dass Haupt- und Nebenziele dann nebeneinander graduell zu berücksichtigen sind, wenn sie parallel wirken, sich also gegenseitig verstärken. Die Berücksichtigung solcher Nebenziele wäre keinesfalls irrelevant, weil sie der zusätzlichen Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen dienen kann. Die Berücksichtigung der Nebenziele wäre jedoch bereits dann ausgeschlossen, wenn diese dem Hauptziel entgegen-

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laufen. Vorzugswürdig erscheint aber die Interpretation, dass das Hauptziel lediglich nicht verletzt, also nicht unangemessen zurückgestellt werden darf.147 7. Der Governance- und Compliance-Ansatz der Solvency II-Richtlinie a) Der Begriff des Corporate Governance Für den Begriff des Corporate Governance lässt sich keine einheitliche Übersetzung finden. Er bezeichnet Bestrebungen, die Leitung, Koordination, Überwachung und die Funktionsfähigkeit von Unternehmen möglichst effektiv umzusetzen.148 Entwickelt hat sich der Begriff aus dem englischen „Government“ (= Regierung). Er deutet den Schwerpunkt der Zielsetzung in Richtung einer Steuerungsaktivität an. Klassischerweise wurde unter einem Corporate Governance-System die Kontrolle der Anteilseigner über das Management verstanden. Mittlerweile hat sich der Begriff jedoch weiterentwickelt. Hintergrund der Einrichtung eines Corporate Governance-Systems bleibt zwar weiterhin in erster Linie die Koordination zwischen den Interessen der Anleger auf der einen Seite und denen der Geschäftsleitung auf der anderen Seite, der Blickwinkel hat sich allerdings hin zu einem zentralen System der Steuerungsoptimierung verändert. Bei der Ausarbeitung eines effektiven Corporate Governance-Systems sind insbesondere Überlegungen zu den Anforderungen des Risikomanagements, den Informationspflichten der einzelnen Akteure sowie der Überwachung von Entscheidungsträgern anzustellen.149 Es gilt eine transparente Unternehmensstruktur, möglichst durch Reduzierung von Interessenkonflikten, zu schaffen. Dabei kann es sich bei dem geschaffenen und einzuhaltenden Regelwerk auch um ein nicht rechtlich durchsetzbares, eher informelles Regelwerk handeln. Der Governance-Ansatz hat auch in der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre eine starke Rolle gespielt.150 Auch das moderne Verwaltungshandeln wird unter dem Aspekt der Steuerung durch Organisation und durch Organisationsrecht unter dem Stichwort Governance diskutiert. Anlass dieser Diskussion sind Steuerungsdefizite des heutigen Staates als Akteur in einem transnationalen Mehrebenensystem. Der Ansatz versucht vor allem auch die Verantwortungsteilung mit privaten Akteuren und damit verbundene Kooperationsphänomene zwischen Staat und Privaten einzufangen.151 Dabei geht es nicht zuletzt auch um eine grenzüberschreitende Ausweitung des verwaltungsrechtlichen Blickwinkels in Richtung eines „global governance“.152 Das sei hier nur erwähnt, um zu zeigen, dass es sich um einen Ansatz handelt, der weit über die Unternehmensorganisation und weit über den Finanzsektor hinausgreift. Man mag kritisch anmerken, es handele sich um ein „Modethema“, doch damit sei nicht gesagt, dass der Ansatz lediglich eine Übergangserscheinung sein wird. In welchen Sektoren er sich wie bewähren wird, bleibt freilich abzuwarten – das gilt nunmehr auch für das Versicherungsaufsichtsrecht. Der Kommission lag bei der Ausgestaltung des Governance-Systems in der Solvency IIVorgabe vor allem die Überlegung zugrunde, dass dem unternehmerischen Handeln der verschiedenen Wirtschaftssubjekte auch unterschiedliche Risikoarten gegenüberstehen. Der neue Ansatz setzt daher eher auf die Einhaltung von Leitprinzipien und Strukturen 147 148 149 150

Vgl. auch Wandt/Sehrbrock ZVersWiss 2011, 193 (198 f.). Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck Vor §§ 35–52 Rn. 11. Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck Vor §§ 35–52 Rn. 14. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung – Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2005; ders. in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle § 16 Rn. 20 ff. 151 Hoffmann-Riem in Schuppert, S. 198. 152 Ruffert in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle § 17 Rn. 154 ff.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht statt gefestigter und starrer Regelungsvorgaben, um flexibel auf die jeweiligen Unternehmenssituationen und den damit verbundenen Risiken reagieren zu können. Neben einem allgemeingültigen Governance-System, in Gestalt grundsätzlicher Ordnungsaufgaben innerhalb der Geschäftstätigkeit der Versicherer durch Vorschriften über die Eignungsvoraussetzungen für die Geschäftsleitung (Art. 42 der Solvency II-Richtlinie) und über die Auslagerung (Art. 49 der Solvency II-Richtlinie), beinhaltet Solvency II auch ein funktionsbezogenes Governance-System durch die Schaffung eines Risikomanagements (Art. 44 der Solvency II-Richtlinie), einer Compliance (Art. 46 der Solvency II-Richtlinie), einer internen Revision (Art. 47 der Solvency II-Richtlinie) sowie versicherungsmathematischer Funktionen (Art. 48 der Solvency II-Richtlinie).153 b) Insbesondere: Der Begriff der Compliance

119 „Compliance“ (engl. Einhaltung, Beachtung) beschreibt ein unternehmerisches Verhalten in Übereinstimmung mit den geltenden rechtlichen sowie informellen Regelwerken.154 Compliance wird häufig übersetzt als „Verhalten in Übereinstimmung bzw. im Einklang mit dem geltenden Recht.“ Das ist jedoch nur das Ziel der Compliance und als solches nicht aussagekräftig. Denn das Besondere an der Compliance ist das Mittel, Rechtskonformität zu erreichen. Unter Compliance verstehen wir die Implementierung von Selbstkontrollmechanismen durch eine unternehmensinterne Organisationsstruktur.155 Um es deutlich zu sagen: Ein Unternehmen, das eine solche Struktur nicht eingerichtet hat, kann keine Compliance für sich in Anspruch nehmen, mag es auch noch so rechtskonform im Ergebnis handeln. Umgekehrt wären Rechtsverstöße in einem Unternehmen, das eine Compliance-Funktion hat, kein Kriterium dafür, dass begrifflich (!) keine Compliance stattfindet. c) Hintergründe und Erwartungen des Governance- und Compliance-Ansatzes 120 Die Solvency II-Richtlinie sollte in einem größeren Zusammenhang der Krise der Rechtsdurchsetzung und Neuorientierung bei den Instrumenten des Verwaltungsrechts gesehen werden. Steuerungs- und Vollzugsdefizite sind ein Thema in vielen Rechtsbereichen. Sie wurden im öffentlichen Recht, vor allem im Umweltrecht, viel diskutiert: Während der Gesetzgeber auf viele aktuelle Probleme mit immer neuen Vorschriften reagiert, verlieren die Rechtsadressaten den Überblick über das geltende Recht. Der Verwaltung fehlen Ressourcen, das Recht auch durchzusetzen. Ihr fehlt das Personal, zT auch das Wissen, um die Gesetze umfassend zu vollziehen. Der Haushaltsgesetzgeber ist nicht bereit, die Lücke zu schließen, die der Sachgesetzgeber lässt: Angesichts der Staatshaushalte lassen sich Aufstockungen des Staatsapparates kaum durchsetzen, während im Gegenteil die politische Diskussion ständig auf Einsparungen und Personalabbau drängt. Die Gerichte fangen dies nicht auf und können dies auch gar nicht, insoweit kommt es gar nicht zu Gerichtsverfahren. Dies gilt vor allem dort, wo Rechtsvorschriften ein allgemeines öffentliches Interesse schützen (zB die Lauterkeit des Rechtsverkehrs, den Schutz der Verbraucher) und die Benachteiligten weder im Kollektiv noch als Einzelne ein Klagerecht haben. Das liegt ebenfalls in unserem Rechtssystem begründet, das den gerichtlichen Rechtsschutz auf das Einklagen subjektiver Individualrechte fokussiert und Popularklagen, Verbandsklagen oder Interessenklagen nur ganz ausnahmsweise zulässt. Im Versicherungsaufsichtsrecht sind es zudem noch Gründe des drohenden Image-Schadens, dass auch betroffene Versicherungsunternehmen und Manager nicht den Gerichtsweg beschreiten, selbst wenn dieser möglich 153 Vgl. Gödeke VersR 2010, 10 (16). 154 Bürkle in Bürkle § 1 Rn. 1. 155 Vgl. Michael/Kübler in BeckOK-VAG § 29 Rn. 9.

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und erfolgversprechend wäre. Der Befund ist: Das Recht auf dem Papier und die Rechtswirklichkeit klaffen bisweilen auseinander und die Adressaten gewöhnen sich immer mehr daran, dass das Recht nur partiell vollzogen wird. Rechtsverstöße werden zur Gewohnheit. Unternehmen handeln wirtschaftlich. Dass das Recht dem Wirtschaften einen Rahmen setzt und ökonomisches Denken nur innerhalb der rechtlichen Spielräume beginnt, ist Illusion. Ökonomisch betrachtet stellen vielmehr auch Rechtsverstöße wirtschaftliche Risiken dar, die einer Kosten-Nutzen-Betrachtung grundsätzlich zugänglich sind. Wenn Rechtsverstöße keine Kosten verursachen, weil sie ungeahndet bleiben, werden sie zu einem kalkulierbaren Risiko und Rechtstreue wird zu einem ethischen Maßstab. In dieses Bild passt es, dass Compliance zunächst auf freiwilliger Basis bzw. aufgrund von Verhaltenskodizes in deutschen Unternehmen praktiziert wurde. Die Finanzmarktkrise hat die Frage nach einem Steuerungsdefizit der Politik und des Rechts gegenüber der Finanzbranche aufgeworfen. In diesem Zusammenhang sind die neueren Entwicklungen zu sehen, die – neben anderen Instrumenten – auch die rechtlich verbindliche Compliance-Funktion fordern. Mit Solvency II erstreckt sich dieser Prozess auch auf die Versicherungsbranche. Compliance ist zwar auch, aber weder ausschließlich noch umfassend ein Mittel zur Über- 121 windung von Vollzugsdefiziten. Compliance hat vielmehr noch einen anderen, nämlich spezifisch unternehmensrechtlichen Hintergrund. Während natürliche Personen als Rechtsverpflichtete in ihrer Person verantwortlich sind, bedarf es innerhalb juristischer Personen der organisatorischen Umsetzung, damit Rechte und Pflichten auch tatsächlich wahrgenommen werden. Wird durch staatliche Rechtsetzung ein Unternehmen verpflichtet (das gilt auch für die versicherungsaufsichtsrechtlichen Verpflichtungen von Versicherungsunternehmen), dann sind die für das Unternehmen tätigen Personen, auf deren Verhalten es letztlich ankommt, nicht automatisch und direkt rechtlich verpflichtet. Der Staat hat hier drei Möglichkeiten, um die Handelnden in die rechtliche Pflicht zu nehmen: Erstens kann der Staat allgemein gesellschafts- bzw. unternehmensrechtlich regeln, wer für ein Unternehmen verantwortlich ist (also insbesondere die haftenden Organe). Zweitens kann der Staat auch spezialgesetzlich direkt bestimmte Funktionsträger in die Pflicht nehmen (also zB versicherungsaufsichtsrechtliche Pflichten für Geschäftsleiter normieren). Diese beiden Möglichkeiten erreichen regelmäßig direkt nur die leitenden Funktionsträger. Drittens kann der Staat dem Unternehmen eine Organisationsverpflichtung der Selbstkontrolle auferlegen, mit denen das Unternehmen letztlich alle Mitarbeiter erreichen kann und muss. Das ist die Idee der Compliance. Sie ist ein organisationsrechtliches Instrument der Rechtsdurchsetzung. Die rechtswissenschaftliche Analyse stellt aus vielerlei Gründen eine besondere Herausfor- 122 derung dar: Betrachtet man über die Solvency II-Richtlinie hinaus das tatsächliche Phänomen der Governance- und Compliance-Strukturen in Versicherungsunternehmen, wird die Überlagerung verbindlicher Rechtsnormen des nationalen und des europäischen Rechts mit Vernunftmaßstäben des wirtschaftlichen Kalküls sowie mit empfohlenen (nationalen wie internationalen) Standards (Softlaw) deutlich. Hinter diesen Ansätzen stehen verschiedene Steuerungsansätze, die vom klassischen Ordnungsrecht (polizeirechtliche Konzeption des Aufsichtsrechts: Befugnisse der Aufsichtsbehörde zu hoheitlichen Eingriffen) über Anreizinstrumente reichen. Das verbindliche, von der Aufsicht durchzusetzende Organisationsrecht überträgt freiwillige Instrumente auf das Aufsichtsrecht und nutzt dessen ordnungsrechtliche Struktur. Will man Entwicklungslinien und Vorbilder zurückverfolgen, ist auf Erfahrungen in ande- 123 ren Ländern zu verweisen, v.a. im angloamerikanischen Rechtskreis, von dem wir auch die englischen Begriffe übernommen haben. Im deutschen Recht finden sich punktuelle Normierungen in § 25 a Abs. 1 KWG, in § 80 Abs. 1 S. 1 Wertpapierhandelsgesetz, der

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auf § 25 a Abs. 1 KWG verweist,156 sowie im Versicherungsaufsichtsrecht in §§ 23 Abs. 1 S. 2, 29 Abs. 1 und 2 VAG und in der MaGo (VA). Im Wertpapierrecht war – zumindest zunächst – vor allem die Verhinderung des Insiderhandels das Ziel. Es ging also nicht um Rechtskonformität im Allgemeinen, sondern um die Verhinderung bestimmter Rechtsverstöße.157 Deshalb konzentrierten sich hier Compliance-Maßnahmen auf ganz spezifische Organisationsschritte, insbesondere auf die Abschottung, Lenkung und Überwachung des Informationsflusses in Vertraulichkeitsbereichen. Nunmehr geht es aber darum, Compliance als ein allgemeines Instrument des Wirtschafts- und Unternehmensrechts zu begreifen und dies wiederum auf den Versicherungsaufsichtsbereich herunterzubrechen. 124 Dabei ist davor zu warnen, die Instrumente branchenübergreifend ohne Rücksicht auf die jeweiligen Besonderheiten zu übertragen. Gerade auch ein Instrument der Selbstkontrolle bedarf der Einpassung in die Besonderheiten der Versicherungswirtschaft. Das schließt nicht aus, dass es allgemeine Elemente der Compliance gibt, die sich übertragen lassen. Die Compliance ist Bestandteil des internen Kontrollsystems. 125 Dazu gehören eine schriftlich zu dokumentierende Aufbau- und Ablaufstruktur (Organigramm, detaillierter Geschäftsplan), Organisationspflichten (Vertretungsregelungen, Arbeitsanweisungen, Organisationshandbuch), Mitarbeiterleitsätze des Unternehmens, eine elektronische Datenverarbeitung mit angemessener Sicherung, Mitarbeiterschulungen und Fortbildung sowie ein qualifiziertes Beschwerdemanagement. Die Compliance-Stelle muss unabhängig158 und nur der Geschäftsleitung verantwortlich sein. Sie ist grundsätzlich weisungsunabhängig mit Ausnahme von Einzelweisungen durch einen Geschäftsleiter/ Vorstand und hat uneingeschränktes Zugangs-, Auskunfts- und Einsichtsrecht im gesamten Unternehmen. Außerdem soll eine Meldepflicht für alle Mitarbeiter bezüglich compliance-relevanter Vorgänge (gegebenenfalls zugleich an die interne Revision) sowie eine regelmäßige Berichtspflicht der Compliance-Funktion an die Geschäftsleitung existieren. 126 Zudem gilt es, die Verschränkungen des Aufsichtsrechts mit dem Gesellschaftsrecht, mit dem Haftungsrecht und mit dem Strafrecht zu erschließen. Bei der Umsetzung in das deutsche Recht stellt sich auch die Frage der Rechtsnatur, die für den Rechtsweg entscheidend ist. Governance und Compliance stehen an der Schnittstelle zum Privatrecht, sind aber wegen ihres aufsichtsrechtlichen Hintergrundes auch öffentlich-rechtlich. Soweit es um aufsichtsrechtliche Befugnisse zur Durchsetzung dieser Instrumente geht, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Da es sich insoweit um Grundrechtseingriffe handelt, sind die für das öffentliche Recht geltenden Maßstäbe des Verwaltungsrechts und der Grundrechtsdogmatik anzulegen. Das schließt freilich nicht aus, dass die Compliance indirekt auch auf die Haftung und die strafrechtliche Verantwortung ausstrahlt, für die die ordentlichen Gerichte zuständig sind. Rechtlich verbindliche Regelungen zur Compliance stehen an der Schnittstelle zwischen privatem Gesellschaftsrecht und öffentlichem Wirtschaftsrecht. Einerseits geht es um Fragen der Struktur privater Unternehmen, denen das Gesellschaftsrecht einen rechtlichen Rahmen gibt. Andererseits geht es aber auch um ein Instrument der öffentlichen Versicherungsaufsicht. Compliance ist ein Teil des Governance-Ansatzes, der seinerseits klassischerweise als Kontrolle der Anteilseigner über das Management verstanden wurde. Mittlerweile hat sich der Begriff jedoch weiterentwickelt. Hintergrund der Einrichtung eines Corporate-Governance-Systems bleibt zwar weiterhin in erster Linie die Koordination zwischen den Interessen der Anleger auf der einen Seite und de-

156 Darauf bezieht sich die frühe Dissertation von Grohnert, Rechtliche Grundlagen einer ComplianceOrganisation und ausgewählte Fragen der Umsetzung, 1999; jetzt ausführlich zur Compliance im Wertpapierrecht das Handbuch von Renz/Hense (Hrsg.), Wertpapier-Compliance in der Praxis, 2010. 157 Bröker, S. 54 ff. 158 Michael/Kübler in BeckOK-VAG § 26 Rn. 18 ff.

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nen der Geschäftsleitung auf der anderen Seite, der Blickwinkel hat sich allerdings hin zu einem zentralen System der Steuerungsoptimierung verändert. Die Pflichten zur Compliance entfalten Rechtswirkungen nicht nur gegenüber Privaten, sondern auch gegenüber der Verwaltung, die ihre Einhaltung staatlich beaufsichtigt. Jedenfalls sind die Ermächtigungsnormen der Versicherungsaufsicht öffentlich-rechtlicher Natur. Im Idealfall ergänzen sich Privatrecht und Verwaltungsrecht als wechselseitige Auffangordnungen.159 Der Gesetzgeber kann alternativ oder auch kumulativ mit dem Instrumentarium des Privatrechts und/oder des öffentlichen Rechts regulierend eingreifen. Beim Ineinanderwirken von Privatrecht und öffentlichem Recht verschwimmen auch die – ohnehin seit jeher weichen – Grenzen zwischen diesen Rechtsgebieten. Das wird verstärkt durch die Einflüsse des Unionsrechts, das Instrumente rezipiert und in das deutsche Recht transportiert, die aus Rechtsordnungen ohne diese Unterscheidungen, insbesondere aus England, entstammen. d) Konzeption einer regulierten Selbstkontrolle Beim Governance-Ansatz von Solvency II gibt das Recht nur eine grobe Struktur vor, de- 127 ren Organisation und deren genaue Zielsetzung dem Unternehmen selbst überlassen bleibt. Nach Art. 41 Abs. 3 der Solvency II-Richtlinie muss das Versicherungsunternehmen sich selbst Ziele setzen, deren Entwicklung, Veröffentlichung und Einhaltung eine gesetzliche Pflicht ist. Als Unternehmenspraxis gehört der Governance-Ansatz zu den Methoden der Selbstkontrolle in der Unternehmensführung. Wenn nun das Recht die Durchführung derartiger Governance-Systeme verbindlich vorschreibt und konkret den Versicherungsunternehmen aufträgt, kann von einer „regulierten Selbstkontrolle“160 gesprochen werden. Betrachtet man die aufsichtsrechtlichen Anforderungen als Ganzes, eröffnet das zusätzliche Gestaltungsoptionen der Unternehmen – insbesondere wenn dadurch anderweitige, nämlich quantitative Aufsichtsmaßstäbe kompensiert werden. Die Versicherungsunternehmen können selbst Konzepte entwickeln, ihre Solvabilität zu garantieren. Die Aufsicht kontrolliert diese Governance-Konzepte am qualitativen Maßstab und Organisationsrahmen des Rechts. Indirekte, organisationsrechtliche Steuerung wurde in den letzten Jahren in vielen Rechts- 128 bereichen erprobt. Motor waren häufig Richtlinien und Verordnungen der EG bzw. EU. Dabei wurden bewusst Unternehmenspraktiken und Industriestandards rezipiert bzw. zum Vorbild genommen. Im deutschen Umweltrecht ist etwa an die Unternehmenspflichten zur Einführung von Umweltschutzbeauftragten zB im Dienste des Immissionsschutzes (§ 53 BImSchG) oder des Gewässerschutzes (§ 64 WHG) zu denken.161 Aber nicht nur solche punktuellen Funktionen, sondern auch ganze Selbstkontroll-Systeme haben Eingang ins Recht gefunden. Zu denken ist etwa im Umweltbereich an die Audit-Systeme162 (EGUmwAuditVO 1993163/2001164/2009).165 Bei diesem Zertifizierungsmodell handelt es sich 159 Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996. 160 Hierzu in anderem Zusammenhang Finckh, Regulierte Selbstregulierung im dualen System, 1998. 161 Dazu Kotulla, Umweltschutzbeauftragte, 1995. 162 Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat, S. 168 ff. 163 Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates v. 29.6.1990 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung, ABl. L 168, 1, ber. ABl. 1995 L 203, 17. 164 Verordnung (EG) Nr. 761/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.3.2001 über die freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (EMAS = Environmental Management and Audit Scheme), ABl. L 114 1 v. 24.4.2001, die die EG-UmwAuditVO (1993) ersetzte und im Wortlaut völlig, inhaltlich wesentlich neu fasste. 165 VO (EG) Nr. 1221/2009, ABl. 2009 L 342, 1.

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jedoch – anders als bei den Betriebsbeauftragten – um ein reines Anreiz-System. Unternehmen können auf eine Teilnahme und Zertifizierung verzichten. Im Finanzdienstleistungssektor hingegen ist mit Basel II bzw. mit Solvency II die Einrichtung entsprechender Selbstkontrollmechanismen grundsätzlich für alle Unternehmen verpflichtend. 129 Ist solche Selbstkontrolle rechtlich verpflichtend, handelt es sich um einen Grundrechtseingriff in die Unternehmensfreiheit und dabei vor allem in die Organisationsautonomie. Dieser hat wegen der entstehenden Personalkosten auch wirtschaftlich nicht zu unterschätzende Auswirkungen. Verbleibende Spielräume bei der Ausgestaltung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um echte Rechtspflichten handelt. Dass es sich um einen Grundrechtseingriff handelt, steht außer Frage. Das gilt unabhängig von der Frage der Intensität dieses Eingriffs und damit auch von der Frage, ob die Eingriffsintensität der Aufsicht mit der Einführung dieses Systems insgesamt eher steigt oder abnimmt. Wo die verfassungsrechtliche Grenze des Übermaßverbots, dh der Unzumutbarkeit liegt, ist im Einzelfall zu bestimmen. e) Konsequenzen für die Aufgaben und Verantwortung der Unternehmensorgane und der Aufsicht 130 Die Verantwortung bleibt bei der Geschäftsleitung. Diese wird also nicht entlastet, sie kann hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Unternehmenstätigkeiten nicht auf die Einrichtung der Compliance-Funktion verweisen. Vielmehr wird die Verantwortung der Geschäftsleitung präzisiert und um eine Organisationspflicht erweitert. Anders ausgedrückt: Die Geschäftsleitung kann ihre Verantwortung für die Rechtmäßigkeit ihres Handelns nicht dadurch mindern, dass sie darauf verweist, die Compliance-Funktion habe versagt. 131 Entlastet wird vielmehr die Aufsicht. Sie kann einen wesentlichen Teil der Rechtsaufsicht auf eine Kontrolle der Kontrolle beschränken: Soweit die Compliance-Funktion wirksam ist, kann sie deren Erkenntnisse nutzen, um eigene Maßnahmen zu ergreifen. Zwar ist damit das Amtsermittlungsprinzip des Verwaltungsrechts nicht aufgehoben. Aber es ist natürlich eine wesentliche Erleichterung, wenn die Aufsicht ihre eigenen Ermittlungen auf der Erkenntnisgrundlage der Compliance-Funktion beginnen kann. Wenn die Compliance-Funktion hingegen nicht wirksam ist, kann die Aufsicht dagegen Maßnahmen ergreifen. Sie kann strukturell und materiell Verbesserungen verlangen. Die Geschäftsleitung wird allenfalls faktisch entlastet, soweit die Compliance-Funktion wirksam arbeitet und soweit dadurch rechtliche Konflikte vermieden werden, die sonst entstanden wären. Die Aufsicht hat bei der Rechtsaufsicht nunmehr mehrere Ansätze, gegen ein Versicherungsunternehmen und seine Geschäftsleitung vorzugehen. Das ist so gewollt und auch verfassungsrechtlich unproblematisch, soweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Über die Eingriffsintensität ist damit noch nichts gesagt.

III. Grenzüberschreitende Versicherungsgeschäfte und ihre Beaufsichtigung 1. Versicherungsgeschäfte im europäischen Binnenmarkt 132 Grenzüberschreitend ist ein Versicherungsgeschäft oder besser gesagt der Versicherungsbetrieb eines Versicherungsunternehmens dann, wenn bspw. der Abschluss eines Versicherungsvertrages im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit geschlossen wird, also wenn sich bspw. die Vertragspartner in unterschiedlichen Mitgliedstaaten der Union aufhalten. Dieser Fall wird auch als freedom-of-services approach bezeichnet.166 Ein weiterer Fall des grenzüberschreitenden Versicherungsgeschäftes ist der, in dem ein Versicherungsunterneh-

166 Schröder in Looschelders/Pohlmann Einleitung D. Rn. 103.

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men mit Sitz in einem Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat im Wege der Niederlassungsfreiheit eine Niederlassung gründet und über diese in dem Mitgliedstaat der Niederlassung das Versicherungsgeschäft betreibt. Gekennzeichnet wird dieser Fall als freedom-of-establishment approach.167 2. Unionsrechtliche Aufsichtskonzeption – Sitzland- und Tätigkeitslandprinzip Für die Beaufsichtigung grenzüberschreitendender Versicherungsgeschäfte sind die durch die Dritte Richtliniengeneration168 eingeführten, von der Solvency II-Richtlinie übernommenen, und aus dem sogenannten Herkunftslandprinzip resultierenden Prinzipien der Sitzland- und der Tätigkeitslandkontrolle die maßgebenden Strukturelemente der Aufsicht. Während die Sitzlandkontrolle sowohl die Zulassungsaufsicht als auch die sogenannte laufende Aufsicht erfasst, ist die Tätigkeitslandkontrolle auf eine zusätzliche laufende Aufsicht beschränkt. Die in den Art. 14 ff. Solvency II-Richtlinie geregelte Zulassungsaufsicht ist die Aufsicht, deren Gegenstand die Zulassung eines Unternehmens zum Versicherungsbetrieb – und somit auch die Begründung des Unternehmenssitzes – sowie die Gründung von Niederlassungen erfasst.169 Die laufende Aufsicht hingegen erstreckt sich auf die Überwachung der durch die (zugelassenen) Versicherungsunternehmen praktizierten Geschäftstätigkeit. Geregelt ist sie in den Art. 27 ff. Solvency II-Richtlinie. Ausgangspunkt der unionsrechtlichen Aufsichtskonzeption ist dabei der Grundsatz, dass der Mitgliedstaat für die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen zuständig ist, in dem der Sitz des Versicherungsunternehmens liegt. Entsprechend bedarf es auch nur der einen Zulassung durch die Aufsichtsbehörde dieses Mitgliedstaates, unabhängig davon, ob das betroffene Versicherungsunternehmen seine Geschäftstätigkeit nur in diesem Mitgliedstaat oder auch darüber hinaus in anderen Mitgliedstaaten – sei es durch eine Niederlassung oder im Wege des Dienstleistungsverkehrs –170 ausübt.171 Es gilt insoweit das Single-Licence-Prinzip.172 Das bedeutet, dass die sogenannte Zulassungsaufsicht alleinige Angelegenheit des Mitgliedslandes ist, in welchem das Versicherungsunternehmen seinen Sitz hat, und dass die von diesem Land erteilte Zulassung auch gegenüber den anderen Mitgliedstaaten gilt. Es handelt sich folglich quasi bei der Zulassung um einen begünstigenden Verwaltungsakt mit transnationaler Wirkung.173 Die Aufsichtsbehörde eines (potenziellen) Tätigkeitslandes wird in das Zulassungsverfahren nur indirekt einbezogen, indem sie von der Aufsichtsbehörde des Sitzlandes im Rahmen des Zulassungsverfahrens konsultiert wird. Ein direkter Kontakt zwischen Versicherungsunternehmen und Tätigkeitslandaufsichtsbehörde besteht nicht, und zwar auch nicht, wenn ein Versicherungsunternehmen eine Niederlassung in einem anderen Land als das Sitzland errichtet. Die Aufsichtsbehörde des Tätigkeitslandes besitzt lediglich die Möglichkeit, der Aufsichtsbehörde des Sitzlandes mitzuteilen, welche Vorschriften in ihrem Land für die Ausübung des Versicherungsgeschäftes aus Gründen des Allgemeininteresses gelten.174 Dies ist insoweit von Bedeutung, als dass auch solche Vorschriften zum Maßstab der Beaufsichtigung durch die Aufsichtsbehörde des Tätigkeitslandes gehören. 167 168 169 170 171 172 173 174

Schröder in Looschelders/Pohlmann Einleitung D. Rn. 103. Hierzu J. F. Schmidt, S. 69 ff., und insbesondere Miersch, S. 38 f. und 46 ff. Vgl. Miersch, S. 46. Die Art. 145 ff. Solvency II-Richtlinie enthalten die Bestimmungen über die freie Niederlassung und den freien Dienstleistungsverkehr. Vgl. Art. 14 und 15 Solvency II-Richtlinie. Bähr, S. 44 mwN; zum Single-Licene-Prinzip auch Präve in Prölss/Dreher § 10 Rn. 2. Miersch, S. 47 mwN. Art. 146 Abs. 3 Solvency II.

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137 Die exklusive Zuständigkeit der Sitzlandaufsichtsbehörde gilt gem. Art. 30 Abs. 1 Solvency II-Richtlinie auch ausdrücklich für die (laufende) Finanzaufsicht. Von der Finanzaufsicht umfasst ist gem. Art. 30 Abs. 2 der Solvency II-Richtlinie „für die gesamte Geschäftstätigkeit des Versicherungsunternehmens die Überprüfung seiner Solvabilität, der Bildung versicherungstechnischer Rückstellungen, seiner Vermögenswerte und der anrechnungsfähigen Eigenmittel gemäß den in dem Herkunftsmitgliedstaat aufgrund der auf [Unions]ebene erlassenen Vorschriften befolgten Regelungen oder Praktiken.“ a) Allumfassende Aufsichtskompetenz der Aufsichtsbehörde des Herkunftslandes 138 Die zentrale Aufsichtsausübung erfolgt also durch die Aufsichtsbehörde des Mitgliedlandes, in welchem das Versicherungsunternehmen seinen Sitz hat (Sitzlandbehörde). Deren Aufsicht erstreckt sich somit über die nationalen Grenzen hinaus auf alle Niederlassungen und im Ausland stattfindende Geschäftstätigkeit und umfasst die Zulassungsaufsicht sowie die laufende Finanz- und Rechtsaufsicht. Letztere erstreckt sich auf alle Rechtsvorschriften, nicht nur des Sitzlandes, sondern auch der Tätigkeitsländer. Es handelt sich dabei somit um den Gegensatz zu dem ursprünglich einmal verfolgten Teilmarktmodell, wonach der Staat für die Aufsicht der in seinen Grenzen praktizierten Geschäftstätigkeit zuständig gewesen wäre.175 b) Eingeschränkte Aufsichtskompetenz der Aufsichtsbehörde des Tätigkeitslandes 139 Während die Finanzaufsicht alleinige Angelegenheit der Aufsicht des Herkunftslandes ist, also des Mitgliedstaates, in welchem das Versicherungsunternehmen seinen Sitz hat,176 ist die (laufende) Rechtsaufsicht zwischen den Aufsichtsbehörden des Sitzlandes und des Tätigkeitslandes aufgeteilt – oder besser: zT gedoppelt. Das Tätigkeitsland besitzt eine insoweit neben die Sitzlandaufsicht tretende Zuständigkeit, als dass es jedenfalls für die Überwachung der Einhaltung solcher Vorschriften zuständig bleibt, die dem Schutz des Allgemeininteresses.177 Im Ergebnis hat dies im Bereich der Rechtsaufsicht eine „ineinandergreifende Doppelzuständigkeit der Aufsichtsbehörden des Sitzlandes und des Tätigkeitslandes“178 zur Folge. Hinsichtlich der Zulassungsaufsicht und der laufenden Finanzaufsicht hat das Sitzland die alleinige Zuständigkeit. 140 Diese ergänzende, sogenannte Tätigkeitslandaufsicht ist unionsrechtlich in Art. 155 Solvency II-Richtlinie abschließend geregelt. Es handelt sich also nicht um das Mindestniveau, sondern um die Grenzen derartiger Aufsicht. Voraussetzung für ein aufsichtsbehördliches Einschreiten ist die Verletzung von entsprechenden (inländischen) Rechtsvorschriften durch ein Versicherungsunternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat.179 Es bedarf also eines Verstoßes gegen eine gesetzliche Norm, die ihrerseits dem Schutz des Allgemeininteresses dient.180

IV. Die grenzüberschreitende Bestandsübertragung 141 Unter einer Bestandsübertragung181 ist die vollständige oder teilweise Übertragung des Versicherungsbestandes eines Versicherungsunternehmens auf ein anderes Unternehmen 175 176 177 178 179 180 181

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Zeides in Bähr § 6 Rn. 2. Art. 30 Abs. 1 Solvency II-Richtlinie. EuGH 25.7.1991 – C-76/90, Slg 1991, I-04221 – Säger/Dennemeyer = NJW 1991, 2693. Schröder in Looschelders/Pohlmann Einleitung D. Rn. 80. Miersch, S. 71. Winter, S. 622. Aus der Literatur zu dem praktisch sehr bedeutsamen Thema: Seemayer, Grenzüberschreitende Übertragung von Erst- und Rückversicherungsbeständen im Spannungsfeld von Zivil- und Aufsichtsrecht,

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zu verstehen. Unter Versicherungsbestand ist dabei „die Summe der Rechtspositionen des Versicherungsunternehmens als Vertragspartner von Versicherungsverträgen“182 zu verstehen. Bereits Art. 21 der Ersten Richtlinie Schaden und Art. 25 der Ersten Richtlinie Leben sahen vor, dass jeder Mitgliedstaat den Versicherungsunternehmen die Möglichkeit einräumte, ihren Versicherungsbestand ganz oder teilweise auf ein anderes Unternehmen zu übertragen. Einzige Voraussetzung war, dass das übernehmende Unternehmen nach erfolgter Übertragung eine dem neuen Versicherungsbestand entsprechende Solvabilitätsspanne aufwies. Die Zweite Richtliniengeneration verschärfte die Bestimmungen zur Bestandsübertragung einerseits und machte andererseits konkretisierte Vorgaben für Bestandsübertragungen, die im Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit erfolgen.183 Konkret wurden Art. 21 Erste Richtlinie Schaden und Art. 25 Erste Richtlinie Schaden aufgehoben und durch Art. 11 Zweite Richtlinie Schaden und Art. 6 Zweite Richtlinie Leben ersetzt. Die Dritte Richtliniengeneration schließlich passte die Regeln zur Bestandsübertragung an 142 das ebenfalls durch diese Richtliniengeneration eingeführte Prinzip der einheitlichen Zulassung an.184 Dies wurde von der Solvency II-Richtlinie übernommen. Die Zuständigkeit für die Genehmigung einer (grenzüberschreitenden) Bestandsübertragung liegt bei der Sitzlandaufsichtsbehörde des den Versicherungsbestand übertragenden Unternehmens.185 Das ist konsequent, weil es um die Interessen der Versicherungsnehmer geht, die ihr Vertrauen dem übertragenden Unternehmen geschenkt haben. Andererseits geht es um die Vertrags- und Unternehmensfreiheit des Unternehmens, das seinen Bestand veräußern möchte. Allerdings ist die Genehmigung durch die Sitzlandaufsicht des übertragenden Unterneh- 143 mens davon abhängig, dass die Sitzlandaufsicht des übernehmenden Unternehmens dessen hinreichende Solvabilität bescheinigt. Auch das ist konsequent, weil die Solvabilität des übernehmenden Unternehmens das Hauptinteresse der Versicherungsnehmer ist und weil das Sitzland für die entsprechende Finanzaufsicht zuständig ist. Grundsätzlich ist jedem Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen gestattet, sei- 144 nen Bestand an im Rahmen der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit geschlossenen Verträgen (ganz oder teilweise) an ein anderes Unternehmen mit Sitz in der Union zu übertragen, wenn Letzteres über eine hinreichende Solvabilität verfügt.186 Überträgt hingegen eine Niederlassung eines Versicherungsunternehmens ihren Bestand, so setzt dies voraus, dass der Mitgliedstaat, in dem sich die Niederlassung befindet, in das Genehmigungsverfahren miteinbezogen wird.187 In beiden Fällen, allerdings nur bei Bestandsübertragungen von Versicherungsunternehmen, haben die Behörden der Mitgliedstaaten, in denen die Verträge entweder nach dem Niederlassungsrecht oder im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit geschlossen wurden, ihre Zustimmung zu der Genehmigung des Herkunftslandes zu erteilen.188

182 183 184 185 186 187 188

2016; Kynast Grenzüberschreitende Bestandsübertragungen, 2018; Müller-Magdeburg, Die Bestandsübertragung nach § 14 VAG, 1996.; s. auch Präve in Prölss/Dreher § 13 Rn. 1 ff. Zu § 14 VAG aF (=13 VAG); Pohlmann in Kaulbach/Bähr/Pohlmann § 13 Rn. 17; ähnlich HK-VAG/ Diehl/Seemayer § 13 Rn. 6; Präve in Prölss/Dreher § 13 Rn. 4. Vgl. in den Erwägungsgründen der Zweiten Richtlinie Schaden und der Zweiten Richtlinie Leben. Vgl. jeweils den elften Erwägungsgrund der Dritten Richtlinie Schaden und der Dritten Richtlinie Leben. Diehl/Seemayer in HK-VAG § 13 Rn. 44. Art. 39 Abs. 1 Solvency II-Richtlinie. Art. 39 Abs. 3 Solvency II-Richtlinie. Art. 39 Abs. 4 Solvency II-Richtlinie.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

145 Bestandsübertragungen sind eines der Themen, deren rechtliche Implikationen an der Schnittstelle zwischen Vertragsrecht, Unternehmensrecht und Aufsichtsrecht liegen. Hier begegnen sich Rechtsregime, deren Trennung eine spezifisch deutsche Tradition hat. Umso mehr ist die Europäisierung des Rechts eine Herausforderung nicht nur für eine praxisnahe Dogmatik, sondern auch für grundlegende rechtswissenschaftliche Fragen. Phänomene der Konstitutionalisierung und Unitarisierung des Rechts begegnen hier Phänomenen der Fragmentierung. 146 Die rechtlichen Fragen der Bestandsübertragung lassen sich befriedigend nur erschließen, wenn diese als ökonomische Alternativoption im Vergleich zu Umstrukturierungen von Unternehmen begriffen werden.189 Hierbei kommen verschiedene Spielarten der grenzüberschreitenden Umstrukturierung in Betracht, nämlich die Spaltung, die Vermögensübertragung und die Gründung einer SE. Während der Schutz der Versicherten bei der Bestandsübertragung ieS spezialgesetzlich geregelt ist, wirft die aufsichtsrechtliche Behandlung von Umstrukturierungen viele parallele Fragen auf. In der Literatur190 wird gefordert, insoweit einzelne Regelungen zur Bestandsübertragung gegebenenfalls analog anzuwenden. 147 Erfolgt eine Bestandsübertragung auf ein Versicherungsunternehmen, das seinen Sitz außerhalb der Union bzw. des EWR-Raumes hat, bestehen je nach Fallkonstellation unterschiedliche Genehmigungsvoraussetzungen und Behördenzuständigkeiten, da hier das Herkunftslandprinzip nicht gilt.191

C. Versicherungsvertragsrecht I. Grundfragen 148 Im Bereich des Versicherungsvertragsrechts gibt es seit langem Ansätze zu einer Vereinheitlichung oder zumindest Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.192 Dahinter steht das Problem, dass die Versicherung als unkörperliches Produkt maßgeblich durch die rechtliche Ausgestaltung der Versicherungsverträge – namentlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) – konstituiert wird; man spricht daher von der Versicherung als „Rechtsprodukt“.193 Da die versicherungsrechtlichen Bestimmungen in den meisten Rechtsordnungen zwingend sind oder zumindest keine Abweichungen zum Nachteil des Versicherungsnehmers zulassen, ist der Versicherer beim grenzüberschreitenden Vertrieb von Versicherungen gezwungen, seine Produkte nach den jeweiligen Vorgaben der einzelnen Rechtsordnungen auszugestalten. Konkret heißt dies, dass die Policen den (halb-)zwingenden Vorschriften aller Mitgliedstaaten entsprechen müssen, in denen das Produkt vertrieben wird. Eine solche Gestaltung ist praktisch nicht möglich.194 Im Interesse der Verwirklichung eines einheitlichen Binnenmarktes für Versicherungen erscheint die Vereinheitlichung des Versicherungsvertragsrechts daher besonders dringlich.195 189 190 191 192

Dazu Kynast, S. 45 und S. 414 ff. Dazu Kynast, S. 367 ff. und S. 414 ff. Zum § 14 VAG aF (=§ 13 VAG); Rüdt in Bähr § 14 Rn. 130. Vgl. hierzu bereits das Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs von 1961, ABl. 2 v. 15.1.1962, 36; Bühnemann VersR 1968, 418 ff.; zusammenfassend BK/Roth Europ. VersR Rn. 108 ff.; Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 18 ff.; Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 1 ff.; Looschelders in Kronke/Melis/Kuhn Teil C. Rn. 167 ff.; Armbrüster, Rn. 2058 ff.; Bruns § 36 Rn. 2 ff.; Wandt, Rn. 173. 193 Grundlegend Dreher, S. 145 ff. 194 Zur Problemstellung Basedow in FS E. Lorenz, S. 93 (94 ff.); Brömmelmeyer ERCL 2011, 445 (446); Looschelders in Looschelders/Michael, S. 37 f. 195 So auch Basedow in Reichert-Facilides/Schnyder, S. 13, 19; Looschelders in Looschelders/Michael, 2011, S. 37 (44 f.).

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C. Versicherungsvertragsrecht

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Der Kommission ist diese Problematik seit langem bekannt. So heißt es in der Mitteilung 149 der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat mit dem Titel „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“ vom 12.2.2003,196 „dass Unternehmen Finanzdienstleistungen nicht im Ausland anbieten können oder davon angehalten werden, weil ihre Produkte auf die Rechtslage vor Ort zugeschnitten sind oder weil die unterschiedlichen Anforderungen anderer Rechtsordnungen übermäßige Kosten oder eine nicht hinnehmbare Rechtsunsicherheit zur Folge hätten“; dies gelte besonders bei Versicherungsverträgen, wo „die unterschiedlichen nationalen Regelungen für Lebensversicherungen, Schadensversicherungen für Massenrisiken und Pflichtversicherungen ein Hemmnis für die Entwicklung eines grenzüberschreitenden Versicherungsgeschäfts sind.“ Vor diesem Hintergrund hat die Kommission im Jahr 1979 nach langjährigen Vorarbeiten 150 einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Vereinheitlichung des Versicherungsvertragsrechts vorgelegt;197 dieser Vorschlag konnte aber letztlich nicht verwirklicht werden.198 In der Folge konzentrierten sich die Bemühungen um die Schaffung eines Binnenmarktes für Versicherungen darauf, die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit durch eine Liberalisierung des Aufsichtsrechts und die Vereinheitlichung des Internationalen Versicherungsvertragsrechts zu verwirklichen. Die Richtlinien für die Bereiche der Lebensversicherung und der Nicht-Lebensversicherung (Schadensversicherung) (→ Rn. 1) enthalten daher nur einige wenige punktuelle Regelungen, die praktische Auswirkungen auf das Versicherungsvertragsrecht haben (s. dazu insbesondere → Rn. 152 ff.). Die Dritte Richtlinie Schaden199 und die Dritte Richtlinie Leben200 weisen dementsprechend in den Erwägungsgründen ausdrücklich darauf hin, dass „die Harmonisierung des für den Versicherungsvertrag geltenden Rechts … keine Vorbedingung für die Verwirklichung des Binnenmarktes im Versicherungssektor“ ist.201 Demgegenüber ist der Bereich des Internationalen Versicherungsvertragsrechts durch die am 17.12.2009 in Kraft getretene Rom I-VO vollständig vereinheitlicht worden (näher dazu → Rn. 250 ff.). Die vorstehenden Überlegungen implizieren nicht, dass das Unionsrecht für das deutsche 151 Versicherungsvertragsrecht irrelevant wäre. Vielmehr entfalten die allgemeinen Verbraucherschutzrichtlinien auch bei Versicherungsverträgen erhebliche Auswirkungen. Das Gleiche gilt in zunehmendem Maße für die Antidiskriminierungsrichtlinien. Beim Recht der Versicherungsvermittlung hat die Vermittlerrichtlinie vom 9.12.2002202 zu einer weitgehenden Harmonisierung geführt, die sich auch im Versicherungsvertragsrecht niederschlägt. Diese Harmonisierung ist durch die Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) vom 20.1.2016203 weiter vorangetrieben worden. Zu nennen sind schließlich die Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie vom 22.6.1987204 sowie die Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinien, denen für die entsprechenden Versicherungsverträge eine zentrale Bedeutung zukommt. Insgesamt handelte es sich lange Zeit um einen unübersichtlichen „Flickenteppich“, des-

196 KOM(2003) 68 endg. Rn. 47 f.; dazu Basedow in FS E. Lorenz, S. 93, 94. 197 ABL. C 190/2 v. 28.7.1979. 198 Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 21. Die Gründe für das Scheitern des Vorschlags sind umstritten; vgl. dazu Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 2. Allgemein zur Vorgeschichte Dauses/Ludwigs/Kreuzer/Wagner/Reder HdBEUWiR R. Rn. 240. 199 Richtlinie 92/49/EWG v. 18.6.1992, Erwägungsgrund 18. 200 Richtlinie 92/96/EWG v. 10.11.1992, Erwägungsgrund 19. 201 IdS auch schon EuGH 4.12.1986 – Rs. 205/84, Slg 1986, I-3755 – Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland = NJW 1987, 572 = VersR 1986, 1225; dazu Wandt, Rn. 173; BK/Roth Europ. VersR Rn. 110. 202 Richtlinie 2002/92/EG, ABl. L 9 v. 15.1.2003, 3. 203 Richtlinie 2016/97/EU, ABl. L 26 v. 2.2.2016, 19. 204 Richtlinie 87/344/EWG, ABl. L 185 v. 4.7.1987, 77.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht sen einzelne Elemente kaum aufeinander abgestimmt waren.205 In neuerer Zeit wurde die Übersichtlichkeit aber durch die Gesamtrichtlinie Leben vom 5.2.2002206 und die kodifizierte Fassung der Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie vom 16.9.2009207 deutlich verbessert. Schließlich wurden die Erste bis Dritte Richtlinie zur Schadensversicherung, die Gesamtrichtlinie Leben, die Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie sowie einige weitere auch für das Vertragsrecht relevante Richtlinien mit Wirkung vom 1.1.2016 aufgehoben und in die Solvency II-Richtlinie integriert.208 Im Übrigen hat sich auch der deutsche Gesetzgeber darum bemüht, verschiedene Elemente der unionsrechtlichen Regelung durch die „überschießende“ Umsetzung der einschlägigen Richtlinien zu einem gewissen System auszubauen. Verweisungen auf die aufgehobenen Richtlinien gelten nach Art. 310 Solvency IIRichtlinie als Verweisungen auf diese Richtlinie.

II. Schutz von Verbrauchern und Versicherungsnehmern 1. Personelle Reichweite des Schutzes im Versicherungsvertragsrecht a) Überblick 152 Der Gedanke des Verbraucherschutzes hat in der Europäischen Union eine herausragende Bedeutung (vgl. Art. 169 AEUV, Art. 38 GRC).209 Dies gilt auch mit Blick auf Versicherungsverträge. Die einschlägigen Regelungen sind hier aber sehr punktuell und weisen zum Teil beträchtliche Divergenzen auf. Das gilt nicht zuletzt im Hinblick auf den Kreis der geschützten Personen. Soweit die Verbraucherschutzrichtlinien auf Versicherungsverträge anwendbar sind, was insbesondere auf die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen210 und die Klausel-Richtlinie,211 nicht aber auf die inzwischen aufgehobene Richtlinie über Haustürgeschäfte212 und die neue Verbraucherrechte-Richtlinie213 (zur Unanwendbarkeit beider Richtlinien auf das Versicherungsrecht s. → Rn. 198) zutrifft, beschränkt sich der Schutz durch das europäische Recht auf Verbraucher. Erfasst werden damit nur natürliche Personen, die den Vertrag zu Zwecken abschließen, die überwiegend weder ihrer gewerblichen noch ihrer beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können (vgl. Art. 2 lit. d Fernabsatz-RL II; 2 lit. b Klausel-RL).214 Demgegenüber schützen die einschlägigen Vorschriften der Richtlinien über die Erst- oder Direktversicherung grundsätzlich alle Versicherungsnehmer (vgl. Art. 43 Abs. 2 und 3 Dritte RL Schaden; Art. 35, 36 Gesamt-RL Leben),215 teilweise wird der Schutz allerdings auch auf natürliche Personen begrenzt (vgl. Art. 31 Abs. 2 Dritte RL Schaden; Art. 32 Abs. 2 Gesamt-RL Leben; Art. 183 Abs. 2 Solvency II-RL).216 Im Internationalen Versicherungsvertragsrecht kommt es für die personelle Reichweite des Schutzes im Ausgangspunkt darauf an, ob es sich um ein Massenrisiko oder ein Großrisiko handelt (vgl. Art. 7 Rom I-VO); bei außerhalb der EU belegenen Massenrisiken werden aber wiederum nur Verbraucher geschützt (vgl. Art. 6 Rom I-VO). Der Schutz durch die zuständigkeitsrechtlichen Sonderregelungen 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216

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So treffend Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 30 f. Richtlinie 2002/83/EG, ABl. L 345 v. 19.12.2002, 1. Richtlinie 2009/103/EG, ABl. L 263 v. 7.10.2009, 11. Zu dieser Entwicklung Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 31 f. Vgl. Callies/Ruffert/Krebber AEUV Art. 169 Rn. 1 ff.; Wiedmann/Gebauer in Wiedmann/Gebauer Kap. 1 Rn. 34 ff.; Heiderhoff, Rn. 188 ff., 267 ff. Richtlinie 2002/65/EG v. 23.9.2002, ABl. L 271 v. 9.10.2002, 16 (Fernabsatz-RL II). Richtlinie 93/13/EWG v. 5.4.1993, ABl. L 95 v. 21.4.1993, 29. Richtlinie 85/577/EWG v. 20.12.1985, ABl. L 372 v. 31.12.1985, 31. Richtlinie 2011/83/EU v. 25.10.2011, ABl. L 304 v. 22.11.2011, 64. S. dazu Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 36; Heiderhoff, Rn. 197 ff. Richtlinie 2002/83/EG v. 5.11.2002, ABl. L 345 v. 19.12.2002, 1. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 42; vgl. auch Riesenhuber, Rn. 204.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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für Versicherungssachen nach Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO greift dagegen grundsätzlich bei allen Direktversicherungsverträgen einschließlich solcher über Großrisiken ein; bei Großrisiken können die Parteien allerdings abweichende Vereinbarungen treffen (Art. 15 Nr. 5 iVm Art. 16 Nr. 5, 26 Abs. 4 Brüssel Ia-VO).217 Generell unanwendbar sind die Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO bei Rückversicherungsverträgen.218 b) Rechtspolitische Würdigung Die Uneinheitlichkeit der personellen Schutzbereiche in den einzelnen sekundärrechtlichen 153 Regelungen führt zu der Frage, ob der Schutz der schwächeren Partei in einem künftigen europäischen Versicherungsvertragsrecht nur Verbrauchern oder allen Versicherungsnehmern zukommen soll. Das deutsche Versicherungsvertragsrecht schützt traditionell nicht nur Verbraucher, sondern grundsätzlich alle Versicherungsnehmer.219 Ausnahmen gelten nur für Versicherungsverträge über Großrisiken und laufende Versicherungen (vgl. § 210 Abs. 1 VVG).220 Dahinter steht die Erwägung, dass Selbstständige sowie kleine und mittlere Gewerbebetriebe wegen der besonderen Komplexität des Produkts „Versicherung“ im Allgemeinen nicht weniger schutzwürdig als Verbraucher sind.221 Soweit die Verbraucherschutzrichtlinien auf Versicherungsverträge anwendbar sind, hat der deutsche Gesetzgeber deren Vorgaben daher im Wege einer „überschießenden“ Umsetzung auf alle Versicherungsverträge erstreckt. Ausnahmen gelten wieder vor allem bei Versicherungsverträgen über Großrisiken (§§ 7 Abs. 5 S. 1, 8 Abs. 3 Nr. 4 VVG).222 Versicherungsnehmer, die eine Versicherung über ein Großrisiko abschließen, haben mit Versicherungsgeschäften ausreichende Erfahrungen und bedürfen daher keines besonderen Schutzes.223 Eine ähnliche Konzeption findet sich für ein künftiges europäisches Versicherungsvertragsrecht in den Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) (ausführlich zu den PEICL → Rn. 302 ff.). Art. 1:103 (2) PEICL lässt eine von den dispositiven Bestimmungen der PEICL abweichende Parteivereinbarung zum Nachteil des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten nur zu, wenn sich der Vertrag auf die Abdeckung eines Großrisikos bezieht. Die Konzeption des deutschen Versicherungsvertragsrechts könnte insofern ein Vorbild für das europäische Recht sein. c) Der Begriff des Großrisikos Der für die Abgrenzung des personellen Schutzbereichs maßgebliche Begriff des Großrisi- 154 kos beruht auf Art. 5 lit. d RL 73/239/EWG (Erste Richtlinie Schaden), der durch Art. 5 RL 88/357/EWG (Zweite Richtlinie Schaden) in die Richtlinie 73/239/EWG eingefügt und durch Art. 2 RL 90/618/EWG modifiziert worden ist. Die Definition sollte ursprünglich den Bereich abgrenzen, in dem es wegen der fehlenden Schutzbedürftigkeit des Versicherungsnehmers nicht erforderlich ist, die Rechtswahlfreiheit der Parteien bei Versicherungsverträgen über Risiken innerhalb der EG zum Schutz des Versicherungsnehmers einzuschränken. Der deutsche Gesetzgeber hat die Definition deshalb bei der Umsetzung des 217 Vgl. Österr. OGH, 11.5.2011 – 7 Ob 203/10 v. VersR 2012, 383. 218 EuGH 13.7.2000 – C-412/98, Slg 2000, I-5925 – Group Josi Reinsurance Company SA = NJW 2000, 3121. 219 Zu den Einzelheiten vgl. Brand in E. Lorenz, S. 55, 59 ff. 220 Vgl. Armbrüster, Rn. 73. Eine entsprechende Regelung fand sich seit dem 1.7.1990 in Art. 187 VVG aF, nur dass die laufende Versicherung dort nicht gesondert aufgeführt war (anders wieder § 187 Abs. 2 VVG in der davor geltenden Fassung). Dieser Unterschied hat jedoch keine große praktische Bedeutung, weil die laufende Versicherung sich in aller Regel auf ein Großrisiko bezieht (vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 210 Rn. 1 f.). 221 Vgl. Looschelders in Looschelders/Pohlmann Einleitung A. Rn. 65; ders. VersR 2011, 421 (423). 222 Vgl. Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 59 ff.; Looschelders/Paffenholz, Rn. 22. 223 Vgl. Klimke in Prölss/Martin § 210 Rn. 1; Looschelders/Paffenholz, Rn. 22.

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Richtlinien-Kollisionsrechts durch das 2. Durchführungsgesetz/EWG zum VAG vom 28.6.1990 (BGBl. I 249) in Art. 10 Abs. 1 S. 2 EGVVG aF iVm Anlage A zum VAG geregelt. Gleichzeitig wurde die Einschränkung der Vertragsfreiheit in § 187 VVG aF unter Bezugnahme auf Art. 10 Abs. 1 S. 2 EGVVG aF neu gefasst, um die Parallelität von Privatautonomie im materiellen deutschen Versicherungsvertragsrecht und Parteiautonomie im Europäischen Internationalen Versicherungsvertragsrecht zu gewährleisten.224 Nachdem Art. 10 Abs. 1 S. 2 EGVVG mit dem Inkrafttreten der Rom I-VO am 17.12.2009 entfallen ist, wurde die Definition des Großrisikos in den neuen § 210 Abs. 2 VVG überführt. Für das Internationale Versicherungsvertragsrecht nimmt Art. 7 Abs. 2 Rom I-VO dagegen unmittelbar auf die Definition in Art. 5 lit. d RL 73/239/EWG Bezug.225 Seit dem 1.1.2016 ist die Definition gemäß Art. 310 Solvency II-Richtlinie auf die gleichlautende Definition in Art. 13 Nr. 27 Solvency II-Richtlinie zu beziehen.226 155 Nach der Definition des Art. 5 lit. d RL 73/239/EWG (§ 210 Abs. 2 S. 1 VVG) ist zwischen Großrisiken kraft Sparte und Großrisiken kraft wirtschaftlicher Größe zu unterscheiden.227 Großrisiken kraft Sparte sind bestimmte Versicherungszweige (zB Kaskoversicherung für Schienen- und Luftfahrzeuge oder Seeschiffe, Transportversicherung), bei denen der Versicherungsnehmer typischerweise über besondere Erfahrungen mit dem Abschluss der einschlägigen Versicherungen verfügt (vgl. § 210 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VVG). Bei bestimmten Kredit- und Kautionsversicherungen wird allerdings noch vorausgesetzt, dass der Versicherungsnehmer eine gewerbliche, bergbauliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt und dass das Risiko damit in Zusammenhang steht (§ 210 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VVG). Bei Großrisiken kraft wirtschaftlicher Größe müssen mindestens zwei der folgenden drei Merkmale vorliegen: mehr als 6.200.000 EUR Bilanzsumme, mehr als 12.800.000 EUR Nettoumsatzerlöse und im Durchschnitt des Wirtschaftsjahres mehr als 250 Mitarbeiter (§ 210 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VVG). Gehört der Versicherungsnehmer zu einem Konzern, so beurteilt sich die Größe nach den Zahlen des Konzernabschlusses (§ 210 Abs. 2 S. 2 VVG). 2. Informationspflichten der Versicherer a) Unionsrechtliche Grundlagen und Zweck der Informationspflichten 156 Die allgemeinen Informationspflichten des Versicherers sind in § 7 VVG und der VVGInfoV normiert. Für die Lebensversicherung finden sich weitergehende Informationspflichten in §§ 154, 155 VVG. Die Vorschriften setzen die Vorgaben von drei Richtlinien um, die in § 7 Abs. 2 S. 2 aufgeführt sind: die Dritte Richtlinie Schaden (RL 92/49/EWG), die Gesamtrichtlinie Leben (RL 2002/83/EG) sowie die Fernabsatzrichtlinie II (RL 2002/65/EG). Diese Richtlinien haben nicht nur unterschiedliche Anwendungsbereiche; die darin geregelten Informationspflichten weisen auch einen sehr unterschiedlichen Umfang auf. Eine Abstimmung zwischen den Richtlinien fehlt bislang.228 Die Solvency-II Richtlinie (RL 2009/138/EG) regelt die Informationspflichten aus der Gesamtrichtlinie Leben und der Dritten Richtlinie Schaden in Art. 183–185.229 Die Vorgaben der RL 2002/65/EG werden dabei aber nicht integriert. Die Versicherungsvertriebs-Richtlinie (IDD) hat weitere Informationspflichten des Versicherers begründet, die mit Wirkung vom

224 Vgl. Kollhosser in Prölss/Martin VVG, 27. Aufl. 2004, § 187 Rn. 1. 225 Vgl. dazu Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR Rn. 61 ff.; Freitag, r+s 2008, 96 ff. 226 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 61; Schäfer in Looschelders/Pohlmann, Anh. EGVVG Rn. 69. 227 Zu den Großrisiken vgl. Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Art. 7 Rom I-VO Rn. 4 ff.; Looschelders in Kronke/Melis/Kuhn Teil C. Rn. 212. 228 Vgl. Pohlmann in Looschelders/Pohlmann VVG § 7 Rn. 2. 229 Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 32, 39.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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23.2.2018 in § 7 a–c VVG umgesetzt wurden.230 Gleichzeitig wurde die Ermächtigung zum Erlass einer Verordnung in § 7 Abs. 2 S. 3 VVG durch einen Verweis auf weitere unionsrechtliche Rechtsakte ergänzt. Die VVG-InfoV wurde dann durch Verordnung vom 6.3.2018231 geändert. Ist der Versicherungsnehmer Verbraucher, so muss der Versicherer ihm nach § 4 VVG-InfoV nF ein Produktinformationsblatt zur Verfügung stellen, das nach der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1469 der Kommission vom 11.8.2017 zur Festlegung eines Standardformats für das Informationsblatt zu Versicherungsprodukten232 zu erstellen ist. Nach § 4 Abs. 3 VVG-InfoV gilt diese Regelung nicht für Versicherunganlageprodukte iSd Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 über Basisinformationsblätter für verpackte Anlageprodukte für Kleinanleger und Versicherungsanlageprodukte (PRIIP),233 die seit dem 1.1.2018 in Kraft ist und eigenständige Vorgaben enthält.234 Beide Rechtsakte sind wichtige Bestandteile einer größeren Offensive der EU zur Verbesserung des Verbraucherschutzes und der Transparenz auf den Finanzmärkten.235 In diesen Kontext gehört auch noch die Richtlinie (EU) Nr. 2016/2341 vom 14.12.2016 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (EbaV), die den im Bereich der betrieblichen Altersversorgung tätigen Unternehmen (zB Pensionskassen) in Art. 36 ff. umfangreiche Informationspflichten auferlegt.236 Gemeinsames Ziel der genannten Richtlinien und Verordnungen ist, den Schutz des Versi- 157 cherungsnehmers bzw. Verbrauchers durch Information zu gewährleisten. Dahinter steht das generelle Ziel des europäischen Verbraucherschutzrechts, den Verbraucher durch detaillierte Informationen in die Lage zu versetzen, als mündiges Privatrechtssubjekt eigenverantwortlich über die Sinnhaftigkeit eines bestimmten Geschäftes zu entscheiden.237 Dem europäischen Gesetzgeber erschien die Ausweitung der Informationspflichten im Versicherungsrecht nach der Deregulierung des Versicherungsmarktes durch die Dritten Richtlinien zur Nichtlebens- und Lebensversicherung besonders dringlich, um die damit verbundene Einschränkung des aufsichtsrechtlichen Versicherungsnehmerschutzes zu kompensieren und dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit zu geben, sich einen besseren Überblick über die zu erwartende Vielfalt der neuen Versicherungsprodukte zu verschaffen.238 b) Die einzelnen Informationspflichten Bei den unionsrechtlich vorgesehenen Informationspflichten des Versicherers ist zwischen 158 der Lebensversicherung und der Nichtlebens- (Schadens-)Versicherung zu unterscheiden. Für den Bereich der Nichtlebensversicherung schreibt Art. 31 Abs. 1 RL 92/49/EWG 159 (Art. 183 Abs. 1 RL 2009/138/EG) lediglich vor, dass dem Versicherungsnehmer vor Abschluss des Versicherungsvertrages Informationen über das anwendbare bzw. (bei Rechtswahlfreiheit) das vom Versicherer vorgeschlagene Recht und die Bestimmungen zur Bearbeitung seiner Beschwerden einschließlich des Hinweises auf eine Beschwerdestelle zur 230 231 232 233 234 235 236 237 238

Vgl. Rudy in Prölss/Martin § 7 Rn. 1; Reiff VersR 2018, 193 (203). BGBl. I 225, in Kraft seit dem 14.3.2018. ABl. L 209 v. 12.8.2017, 19. ABl. L 352 v. 19.12.2014, 1. Zum Begriff des Versicherungsanlageprodukts vgl. Baroch Castellví VersR 2017, 129 ff. Näher dazu Schneider in Prölss/Martin Vorbem. zu Art. 1 ff. PRIIP-VO Rn. 1 ff.; Loacker in FS E. Lorenz, S. 259 ff. Looschelders in Kronke/Melis/Kuhn Teil C. Rn. 164; Mönnich in Looschelders/Michael, S. 135 ff. Allg. zu den unionsrechtlichen Vorgaben für die betriebliche Altersversorgung Rolfs EuZA 2018, 283. Looschelders in Looschelders/Michael, S. 37 (45); ausführlich dazu Brömmelmeyer VersR 2009, 584 ff.; krit. Brand in E. Lorenz, S. 55 (75 ff.). Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 34, 38; Schmidt-Salzer VersR 1995, 1261 (1268).

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Verfügung zu stellen sind. Wird eine Versicherung im Rahmen der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit angeboten, so muss dem Versicherungsnehmer darüber hinaus gem. Art. 43 Abs. 2 RL 92/49/EWG (Art. 184 Abs. 1 RL 2009/138/EG) der Mitgliedstaat des Sitzes und gegebenenfalls der Zweigniederlassung mitgeteilt werden, mit dem der Vertrag geschlossen wird. Dies muss nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift erfolgen, „bevor irgendeine Verpflichtung eingegangen wird“. Die Informationspflichten nach Art. 31 Abs. 1 RL 92/49/EWG gelten gem. Art. 31 Abs. 2 RL 92/49/EWG nur, wenn der Versicherungsnehmer eine natürliche Person ist (ebenso Art. 183 Abs. 2 RL 2009/138/EG); die zusätzlichen Informationspflichten bei Angeboten im Rahmen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sind nur bei Versicherungsverträgen über Großrisiken ausgeschlossen (Art. 43 Abs. 2 UAbs. 3 RL 92/49/EWG; Art. 184 Abs. 1 UAbs. 3 RL 2009/138/EG). 160 Im Bereich der Lebensversicherung werden dem Versicherer durch Art. 36 Abs. 1 iVm Anh. III Buchstabe A RL 2002/83/EG (Art. 185 Abs. 1–4 RL 2009/138/EG) weitergehende Informationspflichten auferlegt, die ebenfalls vor Abschluss des Vertrages zu erfüllen sind. Dazu gehören namentlich Informationen über das Versicherungsunternehmen (Firma, Rechtsform, Sitzstaat etc) und die Versicherungspolice (Laufzeit, Prämienzahlungsweise und Prämienzahlungsdauer, Gewinnberechnung und Gewinnbeteiligung, Rückkaufwerte, Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts etc). Außerdem muss der Versicherungsnehmer vom Versicherer nach Art. 36 Abs. 2 iVm Anh. III lit. B RL 2002/83/EG (Art. 185 Abs. 5 RL 2009/138/EG) während der gesamten Vertragsdauer über alle Änderungen bestimmter Angaben, insbesondere der allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen, auf dem Laufenden gehalten werden. Die Ausweitung der Informationspflichten beruht auf der Erwägung, dass der Versicherungsnehmer bei der Lebensversicherung wegen der hohen Komplexität der Produkte in besonderem Maße auf Informationen angewiesen ist.239 Allerdings erscheinen die Informationspflichten im Bereich der Sachversicherung nach der RL 92/49/EWG allzu eng begrenzt.240 161 Wird der Versicherungsvertrag im Fernabsatz geschlossen, hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer, sofern es sich um einen Verbraucher handelt, die Vertragsbedingungen sowie die Informationen nach Art. 3 RL 2002/65/EG in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger zu übermitteln (Art. 5 Abs. 1 RL 2002/65 EG). In zeitlicher Hinsicht sind diese Pflichten zu erfüllen, „rechtzeitig bevor der Verbraucher durch einen Fernabsatzvertrag oder durch ein Angebot gebunden ist“. Der deutsche Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass die meisten der von RL 2002/65/EG geforderten Informationen für den Versicherungsnehmer unabhängig von der Vertriebsform bedeutsam sind.241 Dies erklärt die „überschießende“ Umsetzung in § 7 VVG und der VVG-InfoV. Die Versicherungsvertriebs-Richtlinie sieht nunmehr weitere Informationspflichten des Versicherers vor, die für alle Vertriebsformen gelten.242 Dagegen hatten die Informationspflichten nach der Versicherungsvermittler-Richtlinie sich noch nicht auf den Vertrieb durch den Versicherer und seine Angestellten bezogen.243 c) Auswirkungen auf die Modalitäten des Vertragsschlusses 162 Die Richtlinien stimmen darin überein, dass der Versicherer seinen Informationspflichten vor Abschluss des Vertrages bzw. vor Eintritt der Bindungswirkung für den Versicherungs-

239 Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 39. 240 Krit. BK/Roth Europ. VersR Rn. 118, wonach die Informationspflichten bei der Sachversicherung „ohne ersichtlichen Grund“ hinter denen bei der Lebensversicherung zurückbleiben. 241 Vgl. Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 59. 242 Näher dazu Brömmelmeyer r+s 2016, 269 ff. 243 Vgl. Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, Vorbem. §§ 6, 7 Rn. 32.

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nehmer bzw. Verbraucher nachzukommen hat.244 Dies hat zu der Frage geführt, ob das vor der Reform von 2008 in § 5 a VVG aF geregelte sog Policenmodell mit den Richtlinien vereinbar ist bzw. war. Beim Policenmodell erfolgte der Vertragsschluss in der Weise, dass der Versicherungsnehmer einen verbindlichen Antrag auf Abschluss eines Versicherungsvertrages abgab, bevor der Versicherer ihm die notwendigen Informationen zur Verfügung gestellt hatte; diese wurden ihm erst mit der Annahme des Antrags durch Übersendung der Police übermittelt. Zum Ausgleich dafür räumte § 5 a VVG aF dem Versicherungsnehmer ein Widerspruchsrecht ein, das in einer Frist von 14 Tagen nach Überlassung der Unterlagen ausgeübt werden konnte. Der Verstoß gegen die zeitlichen Vorgaben der Richtlinien sollte durch die Annahme vermieden werden, der Vertrag sei bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist schwebend unwirksam und werde erst nach Fristablauf ohne Widerspruch rückwirkend zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses wirksam.245 Die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Versicherungs-Richtlinien war seit jeher umstritten. So war die Kommission von einem Verstoß gegen die RL 92/49/EWG und die RL 2002/83/EG ausgegangen und hatte ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.246 Die unionsrechtlichen Bedenken gegen das Policenmodell wurden durch die Fernabsatz II-Richtlinie weiter verstärkt. Denn Art. 3 Abs. 1 und 5 Abs. 1 RL 2002/65/EG sprechen ausdrücklich davon, dass die Informationen rechtzeitig vor Bindung des Verbrauchers durch ein Angebot zur Verfügung gestellt bzw. übermittelt werden müssen. Dieser Anforderung konnte das Policenmodell nicht genügen, weil die schwebende Unwirksamkeit nichts daran ändert, dass der Verbraucher selbst aktiv werden muss, um das Wirksamwerden des Vertrags zu verhindern.247 Bei der Reform des VVG wurde das Policenmodell deswegen zu Recht abgeschafft. Die amtliche Gesetzesbegründung weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass diese Lösung auch auf Zweifeln an der Vereinbarkeit des Policenmodells mit den EU-rechtlichen Vorgaben beruht.248 § 7 Abs. 1 S. 1 VVG sieht nunmehr im Einklang mit den Richtlinien vor, dass der Versi- 163 cherer dem Versicherungsnehmer „rechtzeitig vor Abgabe von dessen Vertragserklärung“ seine Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Versicherungsbedingungen sowie die in der VVG-InfoV geregelten Informationen in Textform mitzuteilen hat. Dass der für die Erfüllung der Informationspflichten maßgebliche Zeitpunkt in den einzelnen Richtlinien unterschiedlich geregelt ist, erscheint allerdings misslich249 und sollte bei einer Neufassung der Richtlinien bereinigt werden. Sachgemäß wäre eine generelle Anknüpfung an den Zeitpunkt der Bindung des Verbrauchers bzw. des Versicherungsnehmers durch eine Vertragserklärung. Im Hinblick auf Altfälle wird weiter darüber gestritten, ob das Policenmodell mit den Ver- 164 sicherungsrichtlinien vereinbar war. Der EuGH hat hierzu bislang lediglich entschieden, dass die Vorschrift des § 5 a Abs. 2 S. 4 VVG aF mit den Lebensversicherungsrechts-Richtlinien nicht vereinbar ist.250 Die Vorschrift sah vor, dass das Widerspruchsrecht des Versi244 Vgl. Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, Vorbem. §§ 6, 7 Rn. 36; Mönnich in Beckmann/ Matusche-Beckmann, § 2 Rn. 57; Looschelders VersR 2011, 421 (422). 245 Vgl. Prölss in Prölss/Martin, 27. Aufl. 2004, § 5 a Rn. 4 ff.; E. Lorenz VersR 1995, 616 ff.; ders. ZVersWiss 1995, 103 ff. 246 Vgl. Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 60. 247 Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 44. 248 BT-Drs. 16/3945, 60. 249 Krit. unter diesem Aspekt auch Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 44 m. Fn. 327. 250 EuGH 19.12.2013 – C-209/12, VersR 2014, 225 – Endress; vgl. hierzu auch den Vorlagebeschluss des BGH 28.3.2012 – IV ZR 76/11, VersR 2012, 608. Zu den Auswirkungen einer fehlenden oder fehlerhaften Belehrung auf die Rücktrittsfrist nach den Versicherungsrichtlinien vgl. jetzt auch EuGH 19.12.2019 – C-355/18, C-356/18, C-357/18, C-479/18, BeckRs. 2019.32.142 – Rust-Hackner ua.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht cherungsnehmers beim Vertragsschluss nach dem Policenmodell ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlischt, auch wenn der Versicherungsnehmer die vorgeschriebenen Unterlagen noch immer nicht erhalten hat oder nicht ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt worden ist. Der BGH hat die Vorschrift daher für den Bereich der Lebensversicherung teleologisch reduziert.251 Ob das Policenmodell als solches unionsrechtswidrig war, ist dagegen immer noch offen. Der BGH hat eine Vorlagepflicht an den EuGH zunächst mit dem Argument verneint, dass das Policenmodell eindeutig mit den Versicherungsrichtlinien vereinbar sei.252 Das BVerfG hat diese Einschätzung indes als objektiv unvertretbar und willkürlich kritisiert.253 Da der BGH sich hilfsweise auf den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gestützt hatte, wurde ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) aber verneint. In neuerer Zeit hat der BGH die Richtlinienkonformität wiederholt mit dem Argument offen gelassen, der Versicherungsnehmer verstoße gegen Treu und Glauben, wenn er die Rückabwicklung des Vertrages verlange, obwohl er ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt worden sei und den Vertrag über einen langen Zeitraum durchgeführt habe.254 Bei einer an Sinn und Zweck der Richtlinien orientierten Auslegung erscheint das Policenmodell in der Tat unionsrechtswidrig. Wenn der Versicherungsnehmer ordnungsgemäß über sein Widerspruchsrecht belehrt wurde, zwingt dieser Verstoß aus unionsrechtlicher Sicht jedoch nicht zu der Annahme, dass der Vertrag unwirksam sei oder dass das Widerspruchsrecht weiter ausgeübt werden könne.255 d) Das Merkmal der „Rechtzeitigkeit“

165 Welche Auswirkungen das Erfordernis der „Rechtzeitigkeit“ aus Art. 3 Abs. 1 und 5 Abs. 1 RL 2002/65/EG auf die Anforderungen an die Erfüllung der Informationspflichten des Versicherers nach § 7 Abs. 1 S. 1 VVG hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Als Ausgangspunkt ist zu beachten, dass sich Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 RL 2002/65/EG allein auf den Vertrieb von Finanzdienstleistungen im Fernabsatz beziehen; demgegenüber erfasst das Kriterium Eder Rechtzeitigkeit in § 7 Abs. 1 S. 1 VVG sämtliche Vertriebswege von Versicherungsprodukten. Die aus der RL 2002/65/EG abzuleitenden Anforderungen an die Rechtzeitigkeit können dabei nicht ohne Weiteres auf die anderen Vertriebswege übertragen werden. Generelle Mindestfristen (etwa 3 Tage) sind daher abzulehnen; es kommt jeweils auf die Umstände des Einzelfalles an.256 Dabei ist im Bereich der Versicherungen neben dem Vertriebsweg vor allem die Komplexität des konkreten Versicherungsprodukts zu berücksichtigen.257 Letztlich muss man sich bei der Abwägung stets am Ziel der Art. 3 Abs. 1 und 5 Abs. 1 RL 2002/65/EG orientieren, dem Vertragspartner eine informierte Entscheidung über den Vertragsschluss zu ermöglichen.258 In Zweifelfällen kommt ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art. 267 AEUV in Betracht.259

251 Vgl. BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 = VersR 2014, 817; zur Rückabwicklung des Vertrags in diesen Fällen BGH 21.3.2018 – IV ZR 353/16, NJW 2018, 1817. 252 BGH 16.7.2014 – IV ZR 73/13, BGHZ 202, 102 = NJW 2014, 2723, Rn. 16 ff. 253 BVerfG 2.12.2014 – 2 BvR 655/14, VersR 2015, 693. 254 So etwa BGH 10.6.2015 – IV ZR 105/13, VersR 2015, 876, Rn. 12 ff. 255 Eingehend Looschelders VersR 2016, 7 ff. 256 Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 7 Rn. 22 f.; Rudy in Prölss/Martin § 7 Rn. 11; Looschelders/ Paffenholz, Rn. 98. 257 Armbrüster in Langheid/Wandt (Hrsg.), Bd. 1, § 7 Rn. 60; PK/Ebers § 7 Rn. 44. 258 Vgl. Erwägungsgrund 21 RL 2002/65/EG; Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 45; Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 7 Rn. 62. 259 Vgl. PK/Ebers § 7 Rn. 45.

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e) Verzicht des Versicherungsnehmers auf Information § 7 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 VVG sieht vor, dass der Versicherungsnehmer durch eine gesonderte 166 schriftliche Erklärung auf eine Information vor Abgabe seiner Vertragserklärung ausdrücklich verzichten kann. Der Versicherer ist in diesem Fall allerdings verpflichtet, die Information unverzüglich nach dem Vertragsschluss nachzuholen. Der Gesetzgeber hat die Verzichtsmöglichkeit damit begründet, dass es dem mündigen Verbraucher freigestellt bleiben soll, sich schon vor Überlassung der vollständigen Informationsunterlagen für den Abschluss des gewünschten Versicherungsvertrages zu entscheiden.260 Aus unionsrechtlicher Sicht erscheint diese Verzichtsmöglichkeit jedoch sehr problematisch. So sehen Art. 31, 43 RL 92/49/EWG (Art. 183, 184 RL 2009/138/EG) und Art. 36 RL 2002/83/EG (Art. 185 RL 2009/138/EG) keine entsprechende Verzichtsmöglichkeit vor. Art. 12 Abs. 1 RL 2002/65/EG stellt sogar ausdrücklich klar, dass der Verbraucher nicht auf die ihm in der Richtlinie eingeräumten Rechte verzichten kann. Die hM geht deshalb zu Recht davon aus, dass § 7 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 VVG beim Vertragsschluss im Fernabsatz sowie unabhängig vom Vertriebsweg im Bereich der Lebensversicherung unionsrechtswidrig ist.261 f) Rechtsfolgen der Verletzung von Informationspflichten Bei Fernabsatzsatzverträgen über Finanzdienstleistungen sind die Mitgliedstaaten nach 167 Art. 11 RL 2002/65/EG verpflichtet, angemessene Sanktionen zur Ahndung von Verstößen gegen die in Umsetzung der Richtlinie erlassenen Vorschriften vorzusehen. Entsprechend dem Gedanken des effet utile müssen die Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Ob die bei Verletzung der Informationspflichten durch den Versicherer im deutschen Recht vorgesehenen Sanktionen diesen Anforderungen genügen, erscheint zweifelhaft. Das VVG sieht nämlich als Folge einer Verletzung der vorvertraglichen Informationspflicht lediglich vor, dass die Widerrufsfrist nicht beginnt (§ 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VVG). Diese Sanktion erscheint aber nicht besonders effektiv,262 zumal bei Nachholung der Informationen doch wieder die reguläre 14-tägige Widerrufsfrist zu laufen beginnt.263 Die hM löst das Problem dadurch, dass sie dem Verbraucher für den Fall der Verletzung einer Informationspflicht einen Schadenersatzanspruch aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) zubilligt.264 Dieser Anspruch stellt eine wesentlich effektivere Sanktion dar, zumal er nach allgemeinen Grundsätzen auf die Aufhebung des Vertrages gerichtet werden kann.265 Etwaige Missbräuche durch systematische Verletzung der vorvertraglichen Informationspflichten können außerdem ein Eingreifen der Aufsichtsbehörde nach § 298 VAG rechtfertigen sowie wettbewerbsrechtliche Sanktionen auslösen.266 Ein Verstoß gegen die Vorgaben des Art. 11 RL 2002/65/EG liegt somit nicht vor.

260 Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 60. 261 So insbes. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 41; Pohlmann in Looschelders/ Pohlmann § 7 Rn. 51; Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 7 Rn. 83; PK/Ebers § 7 Rn. 50; Dörner/Staudinger WM 2006, 1710 (1712); Schimikowski r+s 2007, 133 (137); aA Rudy in Prölss/ Martin § 7 Rn. 20; einschränkend auch Brömmelmeyer VersR 2009, 584 (587), wonach sich die Unverzichtbarkeit nur auf das Informationsrecht als solches, nicht aber auf die Informationen selbst bezieht. 262 Zur Problemstellung Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 43. 263 Zur Möglichkeit der Nachholung Knops in Bruck/Möller, Bd. I, § 8 Rn. 40.; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 61; Armbrüster in Prölss/Martin § 8 Rn. 30. 264 Vgl. Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 7 Rn. 118; HK/Ebers § 7 Rn. 60; Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 7 Rn. 55 ff.; Looschelders/Paffenholz, Rn. 100. 265 Vgl. BGH VersR 2017, 997 Rn. 34 ff.; Rudy in Prölss/Martin § 7 Rn. 40; Dörner in FS E. Lorenz, S. 195, 208 f. 266 Zu den Einzelheiten Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 7 Rn. 148 ff., 151.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht 3. Beratungspflichten der Versicherer und der Vermittler

168 Von der allgemeinen Information ist die individuelle Beratung des Versicherungsnehmers zu unterscheiden.267 Die diesbezüglichen Pflichten sind im deutschen Recht für den Versicherer in §§ 6 und 6 a VVG und für die Versicherungsvermittler in §§ 60 ff. VVG geregelt. a) Reichweite der Richtlinienvorgaben 169 Inwieweit der Versicherungsvermittler-Richtlinie in Bezug auf die individuelle Beratung des Versicherungsnehmers Vorgaben zu entnehmen sind, war in der Literatur umstritten.268 Wichtigster Anknüpfungspunkt für Beratungspflichten war Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie. Die Vorschrift sah, dass der Versicherungsvermittler vor Abschluss eines Versicherungsvertrages, insbesondere anhand der Angaben des Kunden, zumindest dessen Wünsche und Bedürfnisse sowie die Gründe für jeden zu einem bestimmten Versicherungsprodukt erteilten Rat genau anzugeben hat, wobei die Angaben der Komplexität des angebotenen Versicherungsvertrags anzupassen sind. Der deutsche Gesetzgeber ist bei der Umsetzung der Vermittlerrichtlinie davon ausgegangen, dass diese Bestimmung darauf abzielt, im Interesse des Kunden eine sachgerechte Beratung durch einen Versicherungsvermittler zu erreichen; dieses Ziel werde verfehlt, wenn der Kunde von sich aus keine oder nur unzureichende Angaben mache.269 § 61 Abs. 1 VVG sieht deshalb vor, dass der Versicherungsvermittler den Versicherungsnehmer, soweit nach der Schwierigkeit, die angebotene Versicherung zu beurteilen, oder der Person des Versicherungsnehmers und dessen Situation hierfür Anlass besteht, nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu befragen und, auch unter Berücksichtigung eines angemessenen Verhältnisses zwischen Beratungsaufwand und zu zahlenden Prämien, zu beraten hat sowie die Gründe für jeden zu einer bestimmten Versicherung erteilten Rat angeben muss. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen hat der Gesetzgeber sich außerdem dafür entschieden, dem Versicherer in § 6 VVG eine entsprechende Befragungs-, Beratungs- und Dokumentationspflicht aufzuerlegen.270 Während die Pflichten des Versicherungsvermittlers aus § 61 Abs. 1 VVG aus Sicht der VVG-Kommission sachlich nicht über die Vorgaben des Art. 12 Abs. 3 RL 2002/92/EG hinausgingen,271 handelte es sich bei den Pflichten des Versicherers aus § 6 VVG um eine überschießende Umsetzung. b) Umsetzung der Richtlinie 170 Im Unterschied zur Versicherungsvermittler-Richtlinie spricht die VersicherungsvertriebsRichtlinie die Beratungspflicht ausdrücklich an. Außerdem wendet sie sich nicht nur an Versicherungsvermittler, sondern gilt auch für den Versicherungsvertrieb durch den Versicherer und seine Angestellten. Trotz der veränderten unionsrechtlichen Grundlage hat der deutsche Gesetzgeber sich allerdings dafür entschieden, die Beratungspflichten nach § 6 VVG und § 61 VVG weitgehend unverändert zu lassen. Dabei ist er offenbar davon ausgegangen, dass die Regelungen des deutschen Rechts über die Vorgaben des Art. 20 IDD 267 Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 49. 268 Dafür Dörner in Prölss/Martin § 61 Rn. 34; Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 150; Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 6 Rn. 76; Küster VersR 2010, 730 (732) m. Fn. 29; aA Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, Vor §§ 6, 7 Rn. 34; Reiff in Langheid/Wandt, Bd. 1, Vor § 59 Rn. 38 und § 61 Rn. 33; ders. VersR 2007, 717 (725). 269 Begr. RegE, BT-Drs. 16/1935, 24 zu § 42 c VVG aF; Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 48. 270 Näher dazu Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 58; VVG-Kommission Abschlussbericht 2004 (VersRSchriften 25), S. 13 ff.; Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 6 Rn. 3; Schwintowski in Bruck/ Möller, Bd. 1, § 6 Rn. 2; Küster VersR 2010, 730 ff. 271 VVG-Kommission Abschlussbericht 2004 (VersR-Schriften 25), S. 61; aA etwa Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, Vor §§ 6, 7 Rn. 34; PK/Michaelis § 61 Rn. 1.

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hinausgehen.272 Die für den Fernabsatz vorgesehene Ausnahme von der Beratungspflicht in § 6 Abs. 6 Hs. 2 Alt. 2 VVG aF wurde allerdings aufgehoben. Zum Ausgleich sehen § 6 Abs. 3 S. 2 VVG nF und § 61 Abs. 2 S. 2 VVG nF vor, dass der Versicherungsnehmer bei einem Fernabgesatzgeschäft iSd § 312 c BGB auch in Textform auf die Beratung verzichten kann. Entgegen dem Regierungsentwurf273 bleibt § 6 Abs. 1–5 VVG dagegen gemäß § 6 Abs. 6 Hs. 2 VVG nF unanwendbar, wenn der Versicherungsvertrag durch einen Makler vermittelt wurde.274 c) Richtlinienkonformität der §§ 6, 6 a VVG und §§ 60 ff. VVG Das Inkrafttreten der Versicherungsvertriebs-Richtlinie hat zur Folge, dass sich künftig 171 nicht nur die §§ 60 ff. VVG, sondern auch die §§ 6, 6 a VVG am Unionsrecht messen lassen müssen. Problematisch erscheint zunächst, dass die Pflicht des Versicherers oder Versicherungsvermittlers zur Befragung des Versicherungsnehmers nach seinen Wünschen und Bedürfnissen gemäß § 6 Abs. 1 VVG und § 61 Abs. 1 VVG anlassbezogen ist.275 Art. 20 Abs. 1 IDD schreibt dagegen generell vor, dass der Versicherungsvertreiber die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden zu ermitteln hat. Da Art. 20 Abs. 1 IDD dabei allein auf die vom Kunden stammenden Angaben abstellt, ist es aber nicht zu beanstanden, dass der deutsche Gesetzgeber die darüber hinaus gehende Befragungspflicht anlassbezogen ausgestaltet hat.276 Dass der Umfang der Beratungspflicht nach § 61 Abs. 1 S. 1 VVG ua vom Verhältnis zwi- 172 schen Beratungsaufwand und der vom Versicherungsnehmer zu zahlenden Prämien abhängt, stieß auf der Grundlage von Art. 12 Abs. 3 RL 2002/92/EG auf keine durchgreifenden unionsrechtlichen Bedenken.277 Keine entsprechenden Probleme stellten sich bei der parallelen Regelung in § 6 Abs. 1 S. 1 VVG, da die Beratungspflicht des Versicherers unionsrechtlich nicht vorgegeben war. Art. 20 IDD schreibt den Versicherungsvertreibern zwar keine Beratung vor. Wenn diese erfolgt, muss der Versicherungsvertreiber an den Kunden aber eine persönliche Empfehlung richten, in der erläutert wird, warum ein bestimmtes Produkt den Wünschen und Bedürfnissen des Kunden am besten entspricht (Art. 20 Abs. 1 UAbs. 3 IDD). Die Angaben sind dabei gemäß Art. 20 Abs. 2 IDD der Komplexität des angebotenen Versicherungsprodukts und der Kundenkategorie anzupassen. Eine Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen dem Beratungsaufwand und den vom Versicherungsnehmer zu zahlenden Prämien ist in Art. 20 IDD dagegen nicht vorgesehen. Gegen die Richtlinienkonformität der Regelung bestehen daher insoweit erhebliche Bedenken.278 Ob die Möglichkeit eines Verzichts des Versicherungsnehmers auf die Beratung oder Do- 173 kumentation nach § 61 Abs. 2 VVG mit der Versicherungsvermittler-Richtlinie vereinbar ist, wurde in der Literatur uneinheitlich beurteilt.279 Nach Inkrafttreten der Versiche272 Beenken r+s 2017, 617 (619). 273 Begr. RegE, BT-Drs. 18/11627, 43; dazu Rudy in Prölss/Martin VVG § 6 Rn. 70. 274 Positiv dazu Reiff VersR 2018, 193 (201); krit. unter unionsrechtlichen Aspekten Beenken r+s 2017, 617 (619). 275 Zur Anlassbezogenheit vgl. Reiff in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 61 Rn. 5 und 11; Schwintowski in Bruck/Möller, Bd. 1, § 6 Rn. 9 ff. und Bd. 2, § 61 Rn. 10 ff. 276 Vgl. Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 6 Rn. 49; zur Rechtslage nach der Vermittler-Richtlinie Küster VersR 2010, 730 (732 f.); aA zur IDD Rüll VuR 2017, 128 (131). 277 Rudy in Prölss/Martin § 6 Rn. 31; Küster VersR 2010, 730 (733); aA Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 6 Rn. 76. 278 Rudy in Prölss/Martin § 6 Rn. 31; Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 6 Rn. 76. 279 Einen Verstoß gegen die Richtlinie bejahen: Dörner in Prölss/Martin § 61 Rn. 34; Dörner/Staudinger WM 2006, 1710 (1711); Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 6 Rn. 117; Schwintowski in Bruck/ Möller § 61 Rn. 40 ff.; aA HK-VVG/Münkel § 6 Rn. 30; Armbrüster in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 6

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht rungsvertriebs-Richtlinie stellt sich diese Problematik auch für den Verzicht auf die Beratung oder Dokumentation nach § 6 Abs. 3 VVG. Nach Art. 20 IDD ist eine Beratung nicht vorgeschrieben. Wenn der deutsche Gesetzgeber gleichwohl eine Beratungspflicht statuiert, ist er unionsrechtlich daher nicht an der Einschränkung durch eine Verzichtsmöglichkeit gehindert.280 Art. 23 IDD sieht aber vor, dass die nach Art. 20 IDD zu erteilenden Auskünfte den Kunden auf Papier oder über einen anderen dauerhaften Datenträger zu übermitteln sind. Hierzu gehören die nach Art. 20 Abs. 1 IDD erteilten Informationen über das Versicherungsprodukt und die persönliche Empfehlung des Versicherungsvertreibers im Fall der Beratung nach Art. 20 Abs. 3 IDD. Ein Verzicht auf die Übermittlung dieser Angaben ist nach der IDD nicht zulässig.281 d) Form der Übermittlung an den Versicherungsnehmer

174 In formeller Hinsicht schreibt Art. 23 Abs. 1 und 2 IDD vor, dass die zu erteilenden Auskünfte dem Kunden in klarer, genauer und für den Kunden verständlicher Form auf Papier, über einen anderen dauerhaften Datenträger oder über eine Website zu übermitteln sind. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben in § 6 a VVG nF umgesetzt, auf den § 59 Abs. 1 S. 2 VVG nF verweist. Unter welchen Voraussetzungen den formellen Anforderungen an die Übermittlung durch eine Internet-Website des Versicherers genügt werden kann, war auf der Grundlage der Versicherungsvermittler-Richtlinie umstritten.282 Im Vordergrund des Streits stand die Frage, ob eine Webseite als „dauerhafter Datenträger“ iSd Art. 2 Nr. 12 RL 2002/92/EG angesehen werden kann. Der EFTA-Gerichtshof hat mit Urteil vom 27.1.2010 entschieden, dass eine Internet-Website grundsätzlich als „dauerhafter Datenträger“ iSd Art. 2 Nr. 12 RL 2002/92/EG angesehen werden kann. Der Verbraucher müsse aber die Möglichkeit haben, die in Art. 12 RL 2002/92/EG genannten Informationen zu speichern. Die Speicherung müsse so möglich sein, dass die Informationen während eines zum Zweck der Information angemessenen Zeitraums abrufbar sind. Die Informationen müssten sich außerdem so speichern lassen, dass sie nicht einseitig vom Versicherungsvermittler geändert werden könnten. Ob der Verbraucher der Zurverfügungstellung der Informationen via Internet zugestimmt habe, sei unerheblich.283 175 Da Art. 23 Abs. 2 lit. b IDD die Website als eigenständige Alternative gegenüber dem anderen dauerhaften Datenträger nach Art. 23 Abs. 2 lit. a IDD aufführt, hat sich der Streit über die Einordnung als dauerhafter Datenträger erledigt. Art. 23 Abs. 5 IDD präzisiert nunmehr die Anforderungen, denen die Website genügen muss. Es reicht hiernach aus, wenn der Zugang für den Kunden personalisiert wird. Bei einem nicht personalisierten Zugang muss die Erteilung der Auskünfte über eine Website im Rahmen des zwischen dem Versicherungsvertreiber und dem Kunden getätigten Geschäfts angemessen sein. Außerdem ist eine Zustimmung des Kunden erforderlich. Eine weitere Voraussetzung ist, dass dem Kunden die Adresse der Website und die Stelle auf der Website, an der die Auskünfte abgerufen werden können, elektronisch mitgeteilt wurde. Schließlich muss noch gewährleistet sein, dass die Auskünfte auf der Website so lange verfügbar bleiben, wie sie für den Kunden vernünftigerweise abrufbar sein müssen.

280 281 282 283

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Rn. 166; Reiff in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 61 Rn. 33; Baumann in Looschelders/Pohlmann § 61 Rn. 34. So auch Rudy in Prölss/Martin § 6 Rn. 38. Pohlmann in Looschelders/Pohlmann § 6 Rn. 118; zur Dokumenationspflicht bei Versicherungsanlageprodukten nach Art. 30 Abs. 4 und 5 IDD auch Rudy in Prölss/Martin § 6 Rn. 43. Zum Meinungsstand Reiff VersR 2010, 797 (798); Thalmair NJW 2011, 14 (17 f.) EFTA Gerichtshof, 27.1.2010, E-4/09 (Inconsult), ABl. 2010 C 305, 16, CR 2010, 262 = VersR 2010, 793 mAnm Reiff; näher dazu Stadler/Bovelet ELR 2010, 177 ff.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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4. Allgemeines Widerrufsrecht für Versicherungsnehmer (§§ 8, 9 VVG) a) Die Vorgaben des Art. 6 RL 2002/65/EG Nach §§ 8, 9 VVG steht dem Versicherungsnehmer ein allgemeines Widerrufsrecht zu, das 176 weder an die Verbrauchereigenschaft noch an eine besondere Vertriebsform (zB Fernabsatz) oder einen besonderen Versicherungszweig (zB Lebensversicherung) gebunden ist.284 Das Widerrufsrecht dient in erster Linie der Umsetzung von Art. 6 RL 2002/65/EG, wonach die Mitgliedstaaten dem Verbraucher beim Fernabsatz von Finanzdienstleistungen ein Widerrufsrecht einzuräumen haben. Die Ausweitung des Widerrufsrechts auf alle Versicherungsnehmer (mit Ausnahme von Versicherungsverträgen über Großrisiken, § 8 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 VVG) und alle Vertriebsformen erklärt sich daraus, dass der Gesetzgeber für Versicherungsnehmer ein generelles Schutzbedürfnis gesehen hat.285 Diese gesetzgeberische Entscheidung ist zwar teilweise auf Kritik gestoßen.286 Der Kritik ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Ausweitung des Schutzes auf sämtliche Versicherungsnehmer (mit Ausnahme von Großrisiken) dem traditionellen Konzept des VVG entspricht. Dass der deutsche Gesetzgeber nicht an die situative Gefährlichkeit des Vertragsschlusses im Fernabsatz anknüpft, beruht darauf, dass das Widerrufsrecht bei Versicherungsverträgen – ähnlich wie bei Teilzeitwohnrechteverträgen (§ 485 Abs. 1 BGB) und Verbraucherkreditverträgen (§§ 495 Abs. 1, 506 Abs. 1, 510 Abs. 2 BGB) – durch die besondere Komplexität des Vertragsgegenstands gerechtfertigt wird.287 Anders als für Teilzeitwohnrechte-Verträge (RL 2008/122/EG) und Verbraucherkreditverträge (RL 2008/48/EG) ist die generelle Schutzwürdigkeit des Vertragsgegners wegen des Vertragsgegenstands im Hinblick auf das Widerrufsrecht im Unionsrecht für Versicherungsverträge allerdings keineswegs anerkannt. Immerhin sieht Art. 2:303 PEICL aber eine entsprechende Ausweitung der „Cooling-off Period“ vor.288 Aus unionsrechtlicher Sicht ist die Ausweitung des Widerrufsrechts insofern problema- 177 tisch, als die RL 2002/65/EG ausweislich ihres Erwägungsgrundes 13 Satz 2 eine Vollharmonisierung bezweckt, die auch einer Besserstellung der geschützten Personen entgegenstehen könnte. Nach Erwägungsgrund 13 Satz 2 RL 2002/65/RG ist eine Ausweitung des Schutzes indes nur „in den durch diese Richtlinie harmonisierten Bereichen“ unzulässig. Eine Ausdehnung des Schutzes auf andere Bereiche (zB andere Vertriebsformen) ist deswegen grundsätzlich erlaubt.289 In personeller Hinsicht ist allerdings zu beachten, dass Erwägungsgrund 29 der RL 2002/65/EG den Mitgliedstaaten lediglich freistellt, den Schutz der Richtlinie auf gemeinnützige Organisationen oder Existenzgründer auszuweiten. Ob darin eine abschließende Regelung zu sehen ist, die eine darüber hinausgehende personelle Ausweitung des Widerrufsrechts verhindern soll, erscheint jedoch zweifelhaft.290 Die Frage kann letztlich nur durch Vorlage an den EuGH geklärt werden.

284 Zu den Einzelheiten Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 1 ff.; Eberhardt in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 8 Rn. 1 ff.; Looschelders/Paffenholz, Rn. 106 ff.; Wandt, Rn. 301 ff. 285 Vgl. Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 61. 286 Vgl. E. Lorenz in Langheid/Wandt, Bd. 1, Einführung Rn. 35; Eberhardt, ebd. § 8 Rn. 3; Funck VersR 2008, 163 (165); Brand in E. Lorenz, S. 55, 79 ff.; zustimmend aber Knops in Bruck/Möller § 8 Rn. 3; Deutsch/Iversen, Rn. 68. 287 Vgl. Looschelders VersR 2011, 421 (423); krit. Brand in E. Lorenz, S. 55, 79 ff. Als weiterer Grund wird der Schutz des Versicherungsnehmers vor „Vertriebsdruck“ genannt (vgl. Wandt in E. Lorenz, S. 123). Auch hierbei handelt es sich um eine Überlegung, die nicht auf spezifische Vertriebsformen beschränkt ist. 288 Aus rechtsvergleichender Sicht Basedow/Birds/Clarke/Cousy/Heiss/Loacker Art. 2:303, N4. 289 Abram VersPrax 2005, 42 (45); Eidenmüller AcP 210 (2010), 67 (100 f.); Wandt/Ganster VersR 2008, 425 f. 290 Zur Problemstellung Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 3.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

178 Art. 6 Abs. 2 lit. b RL 2002/65/EG schließt das Widerrufsrecht bei Reise- und Gepäckversicherungspolicen sowie bei ähnlichen kurzfristigen Versicherungspolicen mit einer Laufzeit von weniger als einem Monat aus. Dieser Ausschlusstatbestand findet sich in § 8 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VVG wieder.291 Die Ausnahmetatbestände des § 8 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 VVG (Versicherungsverträge über vorläufige Deckung und bei Pensionskassen) sind der RL 2002/65/EG dagegen unbekannt. Die Regelungen enthalten daher Rückausnahmen für Fernabsatzverträge. Zu beachten ist allerdings, dass das Widerrufsrecht bei Versicherungsverträgen über vorläufige Deckung auch im Anwendungsbereich der Richtlinie nach § 8 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VVG ausgeschlossen sein kann, sofern die Laufzeit der vorläufigen Deckung weniger als einen Monat beträgt.292 Der Ausnahmetatbestand des § 8 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 VVG – Ausschluss des Widerrufsrechts bei Großrisiken – kann von vornherein nicht mit der Fernabsatzrichtlinie II kollidieren, weil diese ohnehin nur Verbraucher schützt, die aber wiederum keine Verträge über Großrisiken abschließen.293 179 Nach Art. 6 Abs. 2 lit. c RL 2002/65/EG ist das Widerrufsrecht auch dann ausgeschlossen, wenn der Vertrag vor der Ausübung des Widerrufsrechts auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers bereits vollständig erfüllt ist. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Ausnahme in § 8 Abs. 3 S. 2 VVG umgesetzt. Dahinter steht die Erwägung, dass es dem Versicherungsnehmer nicht möglich sein soll, den Versicherungsschutz zunächst in Anspruch zu nehmen, um dann den Vertrag zu widerrufen und die Prämien zurückzuverlangen.294 Ein auf vollständige Vertragserfüllung gerichteter ausdrücklicher Wunsch kann allerdings nur dann angenommen werden, wenn der Versicherungsnehmer vor Abgabe der betreffenden Erklärung über sein Widerrufsrecht belehrt wurde oder der Versicherer aufgrund anderer Umstände davon ausgehen konnte, dem Versicherungsnehmer sei sein Widerrufsrecht bekannt gewesen.295 b) Die Vorgaben des Art. 35 RL 2002/83/EG (Art. 186 RL 2009/138/EG) 180 Die Art. 8, 9 VVG dienen darüber hinaus der Umsetzung des Art. 35 RL 2002/83/EG (Art. 186 RL 2009/138/EG). Die Vorschrift sieht vor, dass Versicherungsnehmern bei einem individuellen Lebensversicherungsvertrag eine Frist zwischen 14 und 30 Tagen eingeräumt werden muss, um von dem Vertrag zurückzutreten. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem der Versicherungsnehmer über den Vertragsschluss in Kenntnis gesetzt wird. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben in § 152 Abs. 1 VVG dahin gehend umgesetzt, dass er die Widerrufsfrist für die Lebensversicherung abweichend von der allgemeinen Regel des § 8 Abs. 1 S. 1 VVG auf 30 Tage verlängert hat. Die Gesetzesbegründung verweist hierfür auf Art. 17 RL 2002/65/EG, der Art. 15 Abs. 1 UAbs. 1 RL 90/619/EWG dahin gehend abgeändert hat, dass der Versicherungsnehmer über eine Frist von 30 Kalendertagen verfügen muss.296 181 Problematisch erscheint hieran jedoch, dass die RL 90/619/EWG bereits kurz darauf durch die RL 2002/83/EG ersetzt worden ist, deren Art. 35 wieder – wie schon Art. 15 Abs. 1 UAbs. 1 RL 90/619/EWG aF – von einer Frist zwischen 14 und 30 Tagen spricht. Hierbei dürfte es sich auch nicht um ein bloßes Redaktionsversehen des europäischen Ge-

291 Zu Missbrauchsrisiken bei der Vertragsgestaltung Eberhardt in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 8 Rn. 40. 292 Vgl. Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 62; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 16. 293 Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 62; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 22; aA Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 117 m. Fn. 464. 294 Vgl. Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 23. 295 BGH 13.9.2017 – IV ZR 445/14, NJW 2017, 3784 = VersR 2017, 1321 Rn. 18. 296 Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 95; hieran anknüpfend auch Patzer in Looschelders/Pohlmann § 152 Rn. 3; Schneider in Prölss/Martin § 152 Rn. 6.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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setzgebers handeln,297 weil die in Art. 186 Abs. 1 RL 2009/138/EG vorgesehene „Rücktrittsfrist“ weiterhin „zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann“.298 Im Ergebnis ist deshalb davon auszugehen, dass es dem nationalen Gesetzgeber aus unionsrechtlicher Sicht grundsätzlich freisteht, für die Ausübung des Widerrufsrechts in der Lebensversicherung eine Frist zwischen 14 und 30 Tagen vorzusehen. Eine Ausnahme gilt nur für Fernabsatzverträge über Lebensversicherungen und über die Altersversorgung von Einzelpersonen; insoweit sieht Art. 6 Abs. 1 S. 2 RL 2002/65/EG ausdrücklich eine Verlängerung der Widerrufsfrist auf 30 Tage vor.299 Aus rechtspolitischer Sicht erscheint das Nebeneinander mehrerer Richtlinien mit unter- 182 schiedlichen Widerrufsfristen im Bereich der Versicherungsverträge misslich. Zu bedauern ist auch, dass ein allgemeines (situationsunabhängiges) Widerrufsrecht für Versicherungsverträge – anders als für Verbraucherkreditverträge – im Unionsrecht fehlt.300 Die einheitliche Lösung des deutschen Gesetzgebers ist insofern zu begrüßen. c) Beginn der Widerrufsfrist Nach § 8 Abs. 2 VVG beginnt die Widerrufsfrist erst, wenn der Versicherungsnehmer den 183 Versicherungsschein und die Vertragsbestimmungen einschließlich der AVB sowie die vorgeschriebenen Informationen erhalten hat; außerdem muss ihm eine Belehrung über sein Widerrufsrecht und die Rechtsfolgen des Widerrufs zugegangen sein. Diese Regelung entspricht im Wesentlichen den Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 S. 3 RL 2002/65/EG, nur dass dort nicht auch auf den Zugang des Versicherungsscheins abgestellt wird. Da die RL 2002/65/EG eine Vollharmonisierung vorsieht, dürfte diese Ausweitung des Schutzes für den Versicherungsnehmer in ihrem Anwendungsbereich europarechtswidrig sein.301 Beim Vertragsschluss im elektronischen Geschäftsverkehr setzt der Beginn der Widerrufs- 184 frist gem. § 8 Abs. 4 VVG weiter voraus, dass der Versicherer seine Pflichten nach § 312 i Abs. 1 S. 1 BGB erfüllt hat. § 312 i BGB dient der Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie (RL 2000/31/EG), die – anders als etwa die RL 2002/65/EG – nicht nur im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern, sondern generell im Verhältnis zwischen Dienstanbietern und Nutzern gilt.302 Im Vordergrund stehen dabei zusätzliche Informationspflichten, die der Dienstanbieter gegenüber dem Nutzer zu erfüllen hat (vgl. Art. 10 RL 2000/31/EG). Die RL 2000/31/EG enthält kein eigenständiges Widerrufsrecht und sieht auch nicht vor, dass die Widerrufsfrist bei einem nach einer anderen Richtlinie bestehenden Widerrufsrecht im elektronischen Geschäftsverkehr erst mit der Erfüllung der Pflichten aus der RL 2000/13/EG beginnt. Nach Art. 20 RL 2000/31/EG müssen die Mitgliedstaaten für den Fall der Verletzung einer Pflicht aus der Richtlinie aber wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorsehen. Der Nichtbeginn der Widerrufsfrist nach § 8 Abs. 4 VVG soll diesen Zweck verwirklichen.303

297 298 299 300

So aber VVG-Kommission Abschlussbericht 2004 (VersR-Schriften 25), S. 125. So überzeugend Heiss/Mönnich in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 152 Rn. 1. So auch Heiss/Mönnich in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 152 Rn. 1. Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C., Rn. 42; sehr krit. Eberhardt in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 8 Rn. 4: „dogmatisch und rechtspolitisch nicht überzeugend“. 301 So auch Knops in Bruck/Möller § 8 Rn. 21; Wandt, Rn. 304. 302 Allgemein dazu PWW/Stürner § 312 i Rn. 1 f.; Looschelders, Schuldrecht AT, Rn. 915 ff. 303 Vgl. Armbrüster in Prölss/Martin § 8 Rn. 39.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht d) Das Problem des „ewigen“ Widerrufsrechts

185 Hat der Versicherer seine Informations- und Belehrungspflicht verletzt, so steht dem Versicherungsnehmer also ein zeitlich unbegrenztes („ewiges“) Widerrufsrecht zu.304 Diese Rechtslage erscheint aus Gründen der Rechtssicherheit unbefriedigend.305 Der deutsche Gesetzgeber hat sich bei der Einführung „ewiger“ Widerrufsrechte an der Heininger-Entscheidung des EuGH306 orientiert. In einer späteren Entscheidung hat der EuGH zwar im Hinblick auf das Widerrufsrecht nach Art. 5 RL 85/577/EWG klargestellt, dass der nationale Gesetzgeber für den Fall einer fehlerhaften Belehrung vorsehen kann, dass das Widerrufsrecht „nicht später als einen Monat nach vollständiger Erbringung der Leistungen aus einem langfristigen Darlehensvertrag durch die Vertragsparteien ausgeübt werden kann“.307 In Bezug auf § 5 a Abs. 1 S. 4 BGB hat der EuGH dagegen mit Urteil vom 19.12.2013 wieder daran festgehalten, dass eine zeitliche Begrenzung des Widerspruchsrechts bei Fehlen einer ordnungsgemäßen Belehrung dem Unionsrecht widerspricht308 (näher dazu → Rn. 164). Art. 10 Abs. 1 der Verbraucherrechte-Richtlinie vom 25.10.2011 (RL 2011/83/EU) sieht nunmehr allerdings vor, dass die Widerrufsfrist bei Fehlen einer ordnungsgemäßen Belehrung 12 Monate nach Ablauf der ursprünglichen Widerrufsfrist abläuft. Entsprechende Höchstfristen finden sich auch in der neuen TeilzeitwohnrechteRichtlinie (Art. 6 Abs. 3 S. 1 RL 2008/122/EG) und in dem gescheiterten Vorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht vom 11.10.2011 (Art. 42 Abs. 2 lit. a GEKR).309 Der europäische Gesetzgeber will mit diesen Maximalfristen Rechtssicherheit bezüglich der Dauer der Widerrufsfrist gewährleisten (vgl. Erwägungsgrund 43 RL 2011/83/EU). Die Verbraucherrechte-Richtlinie gilt indes nicht für Verträge über Finanzdienstleistungen (Art. 3 Abs. 3 d RL 2011/83/EU). Insoweit bleibt also die RL 2002/65/EG allein maßgeblich. 186 Ob das „ewige“ Widerrufsrecht aus unionsrechtlicher Sicht wegen Verwirkung begrenzt werden kann, ist umstritten.310 Der EuGH hat die Frage in der Hamilton-Entscheidung mit Blick auf die Haustürgeschäfte-Richtlinie offen gelassen.311 Für die Zulässigkeit eines Rückgriffs auf das Institut der Verwirkung spricht, dass der Grundsatz von Treu und Glauben auch im Unionsrecht immer größere Bedeutung gewinnt.312 Auf der anderen Seite ist aber zu beachten, dass die RL 2002/65/EG auf eine Vollharmonisierung abzielt und keinen Hinweis auf eine etwaige Verwirkung des Widerrufsrechts enthält.313 Im Anwendungsbereich der RL 2002/65/EG dürfte eine entsprechende Begrenzung des Widerrufsrechts daher ausscheiden. Der BGH lehnt den Rückgriff auf das Institut der Verwirkung bei fehlender oder nicht ordnungsgemäßer Belehrung ebenfalls ab. Da der Versicherer die Situation durch nicht ordnungsgemäße Belehrung selbst verursacht habe, könne er kein

304 Vgl. Knops in Bruck/Möller, Bd. 1, § 8 Rn. 45; Wandt, Rn. 307; Looschelders/Paffenholz, Rn. 109. 305 Krit. Eberhardt in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 8 Rn. 33; E. Lorenz in FS Helten, S. 331 (342); Armbrüster VersR 2012, 513 ff.; Looschelders VersR 2011, 421 (423). 306 EuGH 13.12.2001 – C-481/99, Slg 2001, I-9945 – Heininger = NJW 2002, 281. 307 EuGH 10.4.2008 – C-412/06, Slg 2008, I-2383 – Hamilton = NJW 2008, 1865; dazu Looschelders GPR 2008, 187 ff. 308 EuGH 19.12.2013 – C-209/12, VersR 2014, 225 – Endress. 309 KOM(2011) 635 endg. 310 Für grundsätzliche Möglichkeit der Verwirkung in diesen Fällen Wandt, Rn. 307; aA Knops in Bruck/ Möller § 8 Rn. 47 ff.; Armbrüster r+s 2008, 493 (499). 311 EuGH 10.4.2008 – C 412/06, Slg 2008, I-2383 – Hamilton = NJW 2008, 1865 (1867) Rn. 50; krit. gegenüber der Verwirkung in diesen Fällen aus Gründen der Rechtssicherheit Looschelders GPR 2008, 187 (189). 312 Näher dazu Staudinger/Looschelders/Olzen BGB, Neubearb. 2019, § 242 Rn. 1242 ff.; einschränkend Knops in Bruck/Möller § 8 Rn. 48. 313 Vgl. Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 63.

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schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen. Es fehle daher an dem für die Verwirkung erforderlichen Umstandsmoment.314 Im Interesse der Vereinheitlichung der Widerrufsrechte erscheint es somit de lege ferenda geboten, eine einheitliche Höchstfrist für alle Widerrufsrechte des Verbrauchers einzuführen. e) Rechtsfolgen des Widerrufs Die Rechtsfolgen des Widerrufs eines Versicherungsvertrages sind in § 9 VVG und § 152 187 Abs. 2 VVG geregelt. Die Vorschriften enthalten eine eigenständige Regelung der Rechtsfolgen, die auf die Vorgaben von Art. 6 Abs. 7 und Art. 7 RL 2002/65/EG zurückgeht.315 Die Richtlinienkonformität des § 9 VVG erscheint aber in einigen Punkten zweifelhaft. (1) Problematisch ist zunächst, dass der deutsche Gesetzgeber den Art. 7 Abs. 5 188 RL 2002/65/EG nicht in das deutsche Recht umgesetzt hat. Die Vorschrift sieht für den Fall des Widerrufs eine Pflicht des Verbrauchers vor, dem Anbieter unverzüglich und nicht später als binnen 30 Kalendertagen die von ihm erhaltenen Geldbeträge und/oder Gegenstände zurückzugeben. Der Verzicht auf die Statuierung einer solchen Rückgewährpflicht verstärkt zwar den Schutz des Verbrauchers; da Art. 7 RL 2002/65/EG auf eine Vollharmonisierung abzielt, ist jedoch auch eine Abweichung zugunsten des Verbrauchers unzulässig.316 (2) Art. 7 Abs. 3 RL 2002/65/EG sieht vor, dass der Anbieter vom Verbraucher eine Zah- 189 lung nur verlangen darf, wenn er nachweisen kann, dass der Verbraucher über den zu zahlenden Betrag gem. Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 a RL 2002/65/EG ordnungsgemäß unterrichtet worden ist. Fehlt es an dieser Voraussetzung, so hat der Anbieter dem Verbraucher die erhaltenen Beträge im Fall des Widerrufs gem. Art. 7 Abs. 4 RL 2002/65/EG unverzüglich und spätestens binnen 30 Kalendertagen zu erstatten. Demgegenüber beschränkt § 9 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 VVG die Erstattungspflicht des Versicherers bei Fehlen einer entsprechenden Unterrichtung des Versicherungsnehmers auf die für das erste Jahr des Versicherungsschutzes gezahlten Prämien. Aus rechtspolitischer Sicht erscheint diese Beschränkung sachgemäß, weil sie die mit dem „ewigen“ Widerrufsrecht verbundenen Nachteile für den Versicherer in einem zumutbaren Umfang hält. Der Versicherer müsste sonst sämtliche Prämien zurückerstatten, obwohl er für einen langen Zeitraum Versicherungsschutz gewährt hat.317 Diese Überlegung ändert indes nichts daran, dass Art. 9 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 VVG mit den Vorgaben des Art. 7 Abs. 3 und 4 RL 2002/65/EG unvereinbar ist.318 Eine abschließende Klärung kann jedoch nur durch Vorlage an den EuGH herbeigeführt werden.319 Da der deutsche Gesetzgeber die Richtlinienwidrigkeit nicht erkannt hat,320 erscheint nach den Kriterien des BGH321 eine richtlinienkonforme Reduktion des § 9 Abs. 1

314 BGH 7.5.2014 – IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 = VersR 2014, 817 Rn. 39; BGH 1.6.2016 – IV ZR 482/14, VersR 2017, 275, jeweils zum Widerspruchsrecht nach § 5 a VVG aF. 315 Begr. RegE, BT-Drs. 16/3945, 62 (zu § 9 VVG) und 95 (zu § 152 Abs.: 2 VVG); Armbrüster in Prölss/ Martin § 9 Rn. 1; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 9 Rn. 5; Wandt, Rn. 311. 316 Vgl. Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 9 Rn. 24; PK/Ebers § 9 Rn. 9; Dörner/Staudinger WM 2006, 1710 (1714); ferner Wandt, Rn. 323. 317 Vgl. Begr. RegE, BT-Drs. 15/2946, 30 f. (zu § 48 c Abs. 5 VVG aF). 318 Eberhardt in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 9 Rn. 23; Knops in Bruck/Möller § 9 Rn. 19 ff.; Heinig/ Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 32; Armbrüster in Prölss/Martin § 9 Rn. 28; PK/Ebers § 9 Rn. 8; Armbrüster r+s 2008, 493 (502); Dörner/Staudinger WM 2006, 1710 (1713 f.); Wandt, Rn. 330; Wandt/Ganster VersR 2008, 425 (434); zweifelnd Mönnich in Beckmann/ MatuscheBeckmann § 2 Rn. 119. 319 Zur Notwendigkeit einer Vorlage Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 47. 320 Vgl. Begr. RegE, BT-Drs. 15/2946, 30 f. 321 BGH 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 (36) = NJW 2009, 427 = EuZW 2009, 155 mAnm Höpfner; einschränkend jetzt aber BGH 28.6.2017 – IV ZR 440/14, VersR 2017, 997 Rn. 24.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

S. 2 Hs. 1 VVG zulässig.322 Die Vorschrift ist danach nicht anwendbar, soweit der Versicherungsvertrag im Fernabsatz geschlossen wurde und der Widerruf später als nach dem ersten Versicherungsjahr erfolgt ist. Der Wortlaut des § 9 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 VVG steht einer solchen Lösung nicht entgegen, weil es hier nicht mehr um Auslegung im engeren Sinne, sondern um Rechtsfortbildung geht.323 Der BGH hat die Rechtlinienkonformität der Regelung in neuerer Zeit offengelassen und das Problem durch eine restriktive Auslegung gelegt. Die nach § 9 Abs. 1 S. 1 VVG für die Einschränkung der Rückabwicklung erforderliche Zustimmung des Versicherungsnehmers setzt danach zumindest voraus, dass der Versicherungsnehmer über das Widerrufsrecht belehrt wurde oder der Versicherer aufgrund anderer Umstände davon ausgehen konnte, diesem sei sein Widerrufsrecht bekannt gewesen. Sofern diese Voraussetzungen nicht vorliegen, richten sich die Rechtsfolgen des Widerrufs nach den einschlägigen Vorschriften des BGB, die keine entsprechenden Einschränkungen der Rückgewährpflicht vorsehen.324 190 (3) Art. 6 Abs. 7 UAbs. 2 RL 2002/65/EG regelt den Fall, dass einem Fernabsatzvertrag über eine Dienstleistung ein anderer Fernabsatzvertrag hinzugefügt wurde, der Dienstleistungen des Anbieters oder eines Dritten auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen dem Dritten und dem Anbieter betrifft. Die Vorschrift sieht vor, dass der Widerruf des Fernabsatzvertrages auch zur Auflösung des Zusatzvertrages führt, ohne dass der Verbraucher eine Vertragsstrafe zahlen muss. Der deutsche Gesetzgeber hatte diese Vorgabe zunächst nur durch eine Sonderregelung im BGB zu Fernabsatzverträgen über Finanzdienstleistungen (§ 312 f BGB aF) verwirklicht, die auf Versicherungsverträge aber gerade nicht anwendbar war. Nachdem die Problematik mit Wirkung vom 1.5.2013 in einem neuen § 9 Abs. 2 VVG geregelt worden ist, haben sich die diesbezüglichen unionsrechtlichen Bedenken jedoch erledigt.325 f) Die Option des Art. 7 Abs. 2 RL 2002/65/EG 191 Art. 7 Abs. 2 RL 2002/65/EG enthält eine Sonderregelung für Versicherungsverträge. Danach können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass der Verbraucher keinen Betrag schuldet, wenn er eine Versicherungspolice kündigt. Die Verwendung des Begriffs „kündigt“ ist in diesem Zusammenhang missverständlich. Denn aus der Systematik des Art. 7 Abs. 2 RL 2002/65/EG geht klar hervor, dass die Vorschrift sich auf den Widerruf bezieht.326 Der deutsche Gesetzgeber hat diese Option zu Recht nicht genutzt. Hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer mit dessen Zustimmung vor Ablauf der Widerrufsfrist Versicherungsschutz gewährt, so wäre es unbillig, wenn er keine Gegenleistung erhielte. 5. Widerrufsrecht nach der Verbraucherkreditrichtlinie II a) Versicherungsvertrag mit unterjähriger Prämienzahlung als Kreditvertrag 192 In der deutschen Rechtsprechung und Literatur war lange Zeit sehr umstritten, ob dem Versicherungsnehmer als Verbraucher bei Versicherungsverträgen mit unterjähriger (zB monatlicher) Prämienzahlung neben dem Widerrufsrecht nach § 8 VVG auch ein solches nach dem Verbraucherkreditrecht (§ 495 BGB) zusteht. Ein Teil der Rechtsprechung und 322 Vgl. Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 9 Rn. 31; Looschelders VersR 2011, 421 (423); gegen eine solche Lösung Armbrüster in Prölss/Martin § 9 Rn. 29; Eberhardt in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 9 Rn. 24; HK-VVG/Schimikowski § 9 Rn. 18; Wandt, Rn. 331; vgl. Knops in Bruck/Möller § 9 Rn. 21. 323 Zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung vgl. NK-BGB/Looschelders, Bd. 1, Anh. zu § 133 Rn. 47; Herresthal WM 2007, 1354 ff. 324 BGH 13.9.2017 – IV ZR 445/14, NJW 2017, 3784 = VersR 2017, 1321 Rn. 20 ff. 325 Vgl. Armbrüster in Prölss/Martin § 9 Rn. 1 43 ff. 326 Vgl. Wandt, Rn. 322.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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Literatur hat diese Frage mit der Begründung bejaht, die Vereinbarung unterjähriger Prämienzahlung stelle einen entgeltlichen Zahlungsaufschub iSd § 506 Abs. 1 BGB dar.327 Diese Auffassung stößt indes nicht nur aus Sicht des deutschen Versicherungsvertragsrechts auf erhebliche Bedenken. Sie wird vielmehr auch den Vorgaben des europäischen Rechts nicht gerecht. Aus unionsrechtlicher Sicht ist zu beachten, dass § 495 BGB der Umsetzung von Art. 14 193 RL 2008/48/EG dient. 328 Die Vorschrift räumt dem Verbraucher das Recht ein, einen Kreditvertrag innerhalb von 14 Tagen zu widerrufen. Zu prüfen ist daher, ob Versicherungsverträge mit unterjähriger Prämienzahlung als Kreditverträge iSd Art. 14 RL 2008/48/EG zu qualifizieren sind. Der Kreditvertrag wird in Art. 3 lit. c RL 2008/48/EG als Vertrag definiert, „bei dem ein Kreditgeber einem Verbraucher einen Kredit in Form eines Zahlungsaufschubs, eines Darlehens oder einer sonstigen ähnlichen Finanzierungshilfe gewährt oder zu gewähren verspricht; ausgenommen sind Verträge über die wiederkehrende Erbringung von Dienstleistungen oder über die Lieferung von Waren gleicher Art, bei denen der Verbraucher für die Dauer der Erbringung der Lieferung Teilzahlungen für diese Dienstleistungen oder Waren leistet“. Eine entsprechende Ausnahme für Dauerschuldverhältnisse hat sich auch schon in Art. 1 Abs. 2 lit. c RL 87/102/EWG gefunden. Erwägungsgrund 12 RL 2008/48/EG begründet die Ausnahme damit, dass Verträge über die wiederkehrende Erbringung von Dienstleistungen oder über die Lieferung von Waren gleicher Art gegen Teilzahlungen sich im Hinblick auf die Interessenlage erheblich von den unter die Richtlinie fallenden Kreditverträgen unterscheiden können. Solche Verträge sollten daher nicht als Kreditverträge im Sinne der Richtlinie gelten. Satz 3 des Erwägungsgrundes 12 RL 2008/48/EG stellt ausdrücklich klar, dass „zu derartigen Verträgen … zum Beispiel ein Versicherungsvertrag gehören [würde], bei dem für die Versicherung monatliche Teilzahlungen erbracht werden.“ Versicherungsverträge mit unterjähriger Prämienzahlung sind somit nicht als Kreditverträge iSd Art. 3 lit. c RL 2008/48/EG anzusehen.329 Die vorstehenden Überlegungen würden es freilich nicht ausschließen, dass der deutsche 194 Gesetzgeber den Anwendungsbereich des nationalen Verbraucherkreditrechts (§§ 491 ff. BGB) über die RL 87/102/EWG und die RL 2008/48/EG hinaus auf Versicherungsverträge mit unterjähriger Prämienzahlung erstreckt hat.330 Gegen die Annahme einer solchen „überschießenden“ Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinien spricht aber, dass der Gesetzgeber ausweislich der Materialien zum Verbraucherkreditgesetz331 nur deshalb auf eine entsprechende Ausnahmevorschrift für Dauerschuldverhältnisse verzichtet hat, weil er davon ausgegangen ist, dass solche Schuldverhältnisse ohnehin keinen entgeltlichen Zahlungsaufschub beinhalten und daher auch keine Teilzahlungsgeschäfte darstellen.332 Dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Vorschriften über den Ratenkredit bei der Neufassung der Vorschriften über den entgeltlichen Zahlungsaufschub über die Richt327 So LG Hamburg, 10.5.2011 – 312 O 390/10, VersR 2011, 1425 (1426); MüKo-BGB/Schürnbrand/ Weber § 506 Rn. 9; Staudinger/Kessal-Wulf BGB, Neubearb. 2012, § 499 Rn. 9; Schürnbrand WM 2011, 481 ff. Der erste Zivilsenat des BGH schien dieser Auffassung zunächst ebenfalls zuzuneigen; das einschlägige Anerkenntnisurteil (BGH 29.7.2009 – I ZR 22/07) beruhte jedoch allein auf dem Anerkenntnis und hatte daher zu keiner abschließenden Klärung geführt (vgl. OLG Hamm 17.8.2011 – 20 U 98/11, VersR 2012, 215 (218 f.)). 328 Die Verbraucherkreditrichtlinie I (RL 87/102/EWG) hatte noch kein Widerrufsrecht vorgesehen. Vgl. dazu Staudinger/Kessal-Wulf BGB, Neubearb. 2012, § 495 Rn. 2. 329 Vgl. BGH 6.2.2013 – IV ZR 230/12, VersR 2013, 341, Rn. 21 f.; OLG Hamburg, 18.11.2011 – 9 U 103/11, VersR 2012, 41 (44); OLG Hamm, 17.8.2011 – U 98/11, VersR 2012, 215 (217 f.); Looschelders VersR 2010, 977 (978); ders. VersR 2011, 421 (423). 330 Hierfür MüKo-BGB/Schürnbrand/Weber § 506 Rn. 9; Schürnbrand WM 2011, 481 ff. 331 BT-Drs. 11/5462, 17. 332 OLG Hamburg, 18.11.2011 – 9 U 103/11, VersR 2012, 41 (44); Looschelders VersR 2010, 977 (981).

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht linie 2008/48/EG hinaus ausdehnen wollte, ist ebenfalls nicht ersichtlich.333 Der BGH geht daher im Einklang mit der heute ganz hM davon aus, dass Versicherungsverträge mit unterjähriger Prämienzahlung nicht als entgeltlicher Zahlungsaufschub iSd § 506 BGB anzusehen sind.334 b) Folgen des Widerrufs des Darlehensvertrags für die Restschuldversicherung

195 Art. 14 Abs. 4 RL 2008/48/EG regelt den Fall, dass eine Nebenleistung im Zusammenhang mit dem Kreditvertrag vom Kreditgeber oder von einem Dritten aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Dritten und dem Kreditgeber erbracht wird. Die Vorschrift stellt klar, dass der Verbraucher nicht mehr an die Vereinbarung über die Nebenleistung gebunden ist, wenn er sein Recht auf Widerruf des Kreditvertrags nach Art. 14 RL 2008/48/EG ausübt. Im Versicherungsrecht kann diese Regelung für die Restschuldversicherung Bedeutung gewinnen. In Deutschland war lange Zeit umstritten, ob der Widerruf des Kreditvertrags gem. § 495 BGB (Art. 14 RL 2008/48/EG) nach den Grundsätzen über den Widerrufsdurchgriff bei verbundenen Verträgen (§ 358 BGB, Art. 3 lit. n und 15 RL 2008/48/EG) dazu führt, dass der Verbraucher auch an den Vertrag über die Restschuldversicherung nicht mehr gebunden ist.335 Der BGH hat dies in mehreren Entscheidungen grundsätzlich bejaht.336 Dabei hat das Gericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Annahme verbundener Verträge in solchen Fällen mit den Vorgaben der RL 87/102/EWG und der RL 2002/65/EG vereinbar ist.337 Erfüllt eine Restschuldversicherung ausnahmsweise nicht die Voraussetzungen eines verbundenen Vertrages, so handelt es sich jedenfalls um einen zusammenhängenden Vertrag, so dass der mit Wirkung ab 13.6.2014 zur Umsetzung von Art. 3 lit. n, 14 Abs. 4 und 15 Abs. 1 RL 2008/48 EG und Art. 15 RL 2011/83/EU erlassene § 360 BGB eingreift.338 c) Folgen des Widerrufs der Restschuldversicherung für den Darlehensvertrag 196 Ob der Widerruf des Vertrages über die Restschuldversicherung gem. § 8 VVG nach § 358 Abs. 1 BGB auf den Darlehensvertrag durchschlägt, war vor der Einfügung von § 9 Abs. 2 VVG umstritten.339 Gegen die Anwendbarkeit von § 358 Abs. 1 BGB spricht, dass die Vorschrift aufgrund ihrer systematischen Stellung grundsätzlich nur für die Widerrufsrecht iSd § 355 BGB gilt.340 Die Lücke wurde inzwischen aber durch § 9 Abs. 2 VVG gefüllt. Aus unionsrechtlicher Sicht bleibt aber die Frage, ob die Verbraucherkreditrichtlinie II für solche Fälle einen Widerrufsdurchgriff vorgibt. Ein möglicher Ansatzpunkt ist dabei 333 BGH 6.2.2013 – IV ZR 230/12, VersR 2013, 341 Rn. 23 ff. 334 Vgl. BGH 6.2.2013 – IV ZR 230/12, VersR 2013, 341; OLG Schleswig 11.9.2012 – 16 U 88/12, NJW-RR 2013, 483; OLG Hamburg 18.11.2011 – 9 U 103/11, VersR 2012, 41; OLG Stuttgart 31.1.2011 – 7 U 199/10, VersR 2011, 786 (787); OLG Bamberg 24.1.2007 – 3 U 35/06, VersR 2007, 529; Palandt/Weidenkaff Vorbem. § 506 Rn. 3; Erman/Nietsch § 506 Rn. 4; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 12; PK/Ebers § 12 Rn. 2; Hadding VersR 2010, 697 ff.; Looschelders VersR 2010, 977 ff.; Engeländer VersR 2011, 1358 ff. 335 Zur Problemstellung Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 7; Mülbert/Wilhelm WM 2009, 2241 (2242); Sänger/Wigand ZGS 2009, 447 (449). 336 BGH 15.12.2009 – XI ZR 45/09, BGHZ 184, 1 = VersR 2010, 469; BGH 18.1.2011 – XI ZR 356/09, VersR 2011, 1024; zustimmend Erman/Koch § 358 Rn. 21; vgl. auch Heinig VersR 2010, 863 ff. 337 BGH 15.12.2009 – XI ZR 45/09, BGHZ 184, 1 (11 f.). 338 Vgl. Staudinger/Herresthal BGB, Neubearb. 2017, § 360 Rn. 18. Vor dem 13.6.2014 fand sich seit 11.6.2010 eine entsprechende Regelung in § 359 a BGB aF. 339 Für einen solchen Widerrufsdurchgriff OLG Brandenburg, 14.7.2010 – 4 U 141/09, NJOZ 2010, 1980 (1981); Schürnbrand ZBB 2010, 123 ff.; aA Freitag VersR 2009, 862 (864); Heinig VersR 2010, 863 (864 ff.); Mülbert/Wilhelm WM 2009, 2241 (2242). 340 MüKo-BGB/Habersack § 358 Rn. 7; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 8.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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Art. 15 Abs. 1 RL 2008/48/EG. Hat der Verbraucher ein Recht auf Widerruf von einem Vertrag über die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen ausgeübt, so ist er nach dieser Vorschrift auch nicht mehr an den damit verbundenen Kreditvertrag gebunden. Art. 15 Abs. 1 RL 2008/48/EG setzt jedoch voraus, dass das Widerrufsrecht in Bezug auf den Vertrag über die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen auf Unionsrecht beruht. Für Verträge über Restschuldversicherungen gibt es ein unionsrechtliches Widerrufsrecht indes nur im Fernabsatz (Art. 6 RL 2002/65/ EG); im Übrigen beruht das Widerrufsrecht nach § 8 VVG allein auf nationalem Recht.341 Im Verhältnis von Darlehen und Restschuldversicherung handelt es sich auch nicht um einen „verbundenen Kreditvertrag“ iSd Art. 3 lit. n RL 2008/48/EG, weil der Kredit nicht „ausschließlich“ der Finanzierung des Vertrages über die Restschuldversicherung dient (Art. 3 lit. n Unterbuchst. i RL 2008/48/EG).342 Außerhalb des Anwendungsbereichs der Fernabsatzrichtlinie II war der deutsche Gesetzgeber also unionsrechtlich nicht verpflichtet gewesen, einen entsprechenden Widerrufsdurchgriff in § 9 Abs. 2 VVG vorzusehen. Die vorstehenden Überlegungen offenbaren zwei Defizite des Unionsrechts. Zum einen 197 fehlt im Unionsrecht ein allgemeines Widerrufsrecht für Versicherungsverträge. Zum anderen erscheint die Beschränkung der „verbundenen Kreditverträge“ auf Fälle, in denen der Kredit „ausschließlich“ der Finanzierung des Vertrages über die Lieferung der Waren oder die Erbringung der Dienstleistung dient, in Bezug auf die Restschuldversicherung als zu eng. 6. Unanwendbarkeit der Verbraucherrechte-Richtlinie Die Verbraucherrechte-Richtlinie ist nach Art. 3 Abs. 3 lit. d RL 2011/83/EU nicht auf 198 Verträge über Finanzdienstleistungen und damit auch nicht auf Versicherungsverträge anwendbar. Das Gleiche galt schon für die Haustürgeschäfte-Richtlinie (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. d RL 85/577/EWG).343 Da das Widerrufsrecht nach der Fernabsatzrichtlinie II nur für Fernabsatzverträge gilt, weist das Unionsrecht bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Versicherungsverträgen (mit Ausnahme von Lebensversicherungsverträgen) eine Schutzlücke auf. Aus welchen Gründen der Verbraucher beim Abschluss von Versicherungsverträgen in diesen Fällen weniger schutzwürdig sein soll als beim Abschluss anderer Verträge, ist indes nicht ersichtlich.344 Im deutschen Recht wird diese Schutzlücke aber durch das allgemeine Widerrufsrecht nach § 8 VVG geschlossen.345 7. AVB-Kontrolle nach der Klausel-Richtlinie Die Versicherung wird als unsichtbares „Rechtsprodukt“346 maßgeblich durch die dem je- 199 weiligen Vertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) geprägt. Bei den AVB handelt es sich um die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) der Versicherer. Es kann daher nicht verwundern, dass die AGB-Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB und der dahinter stehenden Klausel-Richtlinie (RL 93/13/EWG) bei Versicherungsverträgen überaus große praktische Bedeutung hat.347 Die allgemeinen Fragen, die mit der 341 Vgl. Heinig VersR 2010, 863 (866). 342 Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann § 8 Rn. 8. 343 Vgl. EuGH 1.3.2012 – C-166/11, NJW 2012, 1709 – Lorenzo González Alonso (betr. Fondsgebundene Lebensversicherung). 344 Krit. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Vorbem C. Rn. 35. 345 Vgl. Looschelders VersR 2011, 421 (423). 346 Dreher, S. 148. 347 Allgemein dazu Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 1 ff.; Pohlmann in Looschelders/Pohlmann Vorbem. B. Rn. 1 ff.; Reiff in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Klauseln, Rn. V 61 ff.; Wandt, Rn. 176 ff.; einschränkend Werber VersR 2010, 1253 ff.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht Klausel-Richtlinie verbunden sind, müssen hier nicht näher behandelt werden. Es gibt aber einige Probleme, die im Versicherungsvertragsrecht verstärkt auftreten. a) Missbrauchskontrolle und Abgrenzung des kontrollfreien Bereichs

200 Die größten Schwierigkeiten bei Versicherungsverträgen bereiten die Bestimmung der Reichweite der Missbrauchskontrolle und die Abgrenzung des kontrollfreien Bereichs. Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG sieht vor, dass die Beurteilung der Missbräuchlichkeit weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und der Gegenleistung betrifft, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind. Erwägungsgrund 19 Satz 1 erläutert dies dahin gehend, dass Klauseln, die den Hauptgegenstand eines Vertrages oder das Preis-/Leistungsverhältnis beschreiben, für die Zwecke der Richtlinie nicht als missbräuchlich anzusehen sind. Für Versicherungsverträge wird daraus in Satz 3 abgeleitet, dass „die Klauseln, in denen das versicherte Risiko und die Verpflichtung des Versicherers deutlich festgelegt oder abgegrenzt werden, nicht als missbräuchlich beurteilt werden, sofern diese Einschränkungen bei der Berechnung der vom Verbraucher gezahlten Prämie Berücksichtigung finden.“ Dahinter steht der Gedanke, dass die Produktgestaltung und das Preis-/Leistungsverhältnis mit Rücksicht auf den Grundsatz der Privatautonomie keiner richterlichen Missbrauchskontrolle unterliegen sollen.348 201 Vor diesem Hintergrund ist die genaue Reichweite des kontrollfreien Bereichs nach Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG bei Versicherungsverträgen umstritten. In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, dass der Ausschluss der Missbrauchskontrolle für sämtliche Risikoausschlüsse gilt, weil diese in jedem Fall bei der Bemessung der Prämie berücksichtigt werden.349 Dieser Ansatz kann sich auf die englische und französische Fassung des Erwägungsgrundes 19 Satz 3 RL 93/13/EWG stützen, nach denen der Rekurs auf die Berücksichtigung von Risikoabgrenzungen bei der Prämie keine einschränkende Voraussetzung („sofern“) für den Ausschluss der Missbrauchskontrolle darstellt, sondern diesen Ausschluss rechtfertigt („since“, „dès lors que“).350 Die hM in Deutschland befürwortet dagegen in Anknüpfung an die deutsche Sprachfassung ein engeres Verständnis des nach der Klausel-Richtlinie kontrollfreien Bereichs. Der Ausschluss der Missbrauchskontrolle nach Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG soll danach nur dann in Betracht kommen, wenn sich die Risikoabgrenzung für den Verbraucher erkennbar auf das Preis-/Leistungsverhältnis auswirkt; die Berücksichtigung bei der internen Kalkulation des Versicherers soll allein nicht ausreichen.351 Für diese Auffassung lässt sich anführen, dass die Reichweite der Missbrauchskontrolle sonst entgegen dem Sinn und Zweck des Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG übermäßig eingeschränkt wird.352

348 Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 52; Bruns in Langheid/Wandt, Bd. 3, BGB Vor § 307 Rn. 24 ff. 349 So etwa Langheid NVersZ 2000, 63 ff.; Fausten VersR 1999, 413 (416 ff.); Reinhard VersR 1996, 497 (498 f.) 350 Zum Problem der verschiedenen Sprachfassungen MüKo-BGB/Kieninger, 5. Aufl. 2007, § 307 Rn. 154. 351 So etwa Reiff in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Klauseln, Rn. V 161; Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 52; Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 205; vgl. auch Looschelders JR 2001, 397 (398 f.); krit. zur Relevanz von Erwägungsgrund 19 S. 3 Bruns in Langheid/Wandt, Bd.3, BGB Vor § 307 Rn. 23. 352 Vgl. Reiff in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Klauseln, Rn. V 161; Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 205.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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b) Zulässigkeit einer Einschränkung des kontrollfreien Bereichs Versteht man den kontrollfreien Bereich nach Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG in einem wei- 202 teren Sinne, so geht die Missbrauchskontrolle bei Versicherungsverträgen nach deutschem Recht (§ 307 Abs. 3 S. 1 BGB) deutlich über das unionsrechtlich vorgegebene Maß hinaus.353 Nach der Rechtsprechung des BGH sind nämlich nur solche Leistungsbeschreibungen des Versicherers von der Missbrauchskontrolle ausgenommen, „ohne deren Vorliegen mangels Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit des wesentlichen Vertragsinhalts ein wirksamer Vertrag nicht mehr angenommen werden kann“.354 Klauseln, die das Hauptleistungsversprechen des Versicherers einschränken, verändern, ausgestalten oder modifizieren, sind dagegen kontrollfähig.355 In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, dass eine Ausweitung der Missbrauchskontrolle über das in Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG vorgegebene Maß mit dem Unionsrecht nicht vereinbar sei; der nach § 307 Abs. 3 S. 1 BGB kontrollfähige Bereich müsse daher im Wege der richtlinienkonformen Auslegung eingeschränkt werden.356 Dem ist aber entgegenzuhalten, dass die KlauselRichtlinie nur eine Mindestharmonisierung anstrebt. Nach Art. 8 RL 93/13/EWG ist es den Mitgliedstaaten daher erlaubt, auf dem durch die Richtlinie geregelten Gebiet strengere Bestimmungen zu erlassen, um ein höheres Schutzniveau für den Verbraucher zu gewährleisten. Eine Einschränkung des nach Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG kontrollfreien Bereiches ist somit unionsrechtlich zulässig.357 c) Kein Ausschluss der Transparenzkontrolle Nach dem klaren Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG sind auch der Hauptgegen- 203 stand des Vertrages und die Angemessenheit des Preis-/Leistungsverhältnisses daraufhin zu überprüfen, ob die einschlägigen Klauseln klar und verständlich abgefasst sind. Das deutsche Recht enthält eine entsprechende Regelung in § 307 Abs. 3 S. 2 BGB. Auch bei Versicherungsverträgen findet damit eine uneingeschränkte Transparenzkontrolle statt.358 d) Grundsätze der Missbrauchskontrolle Die unionsrechtlichen Vorgaben für die Missbrauchskontrolle ergeben sich aus Art. 3 204 RL 93/13/EWG. Nach Art. 3 Abs. 1 RL 93/13/EWG ist eine Vertragsklausel als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Parteien verursacht. Der EuGH hat diesen sehr allgemein formu353 Die hM geht davon aus, dass der kontrollfähige Bereich nach § 307 Abs. 3 S. 1 BGB auch nach ihrem Verständnis des Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG in einzelnen Fällen über den unionsrechtlich vorgegebenen Kontrollbereich hinausgehen kann (vgl. Reiff in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Klauseln, Rn. V 161). Insofern stellt sich auch nach der hM die Frage nach der Zulässigkeit einer Ausweitung des Kontrollbereichs. 354 BGH 21.4.1993 – IV ZR 33/92, VersR 1993, 830 (831); BGH 23.6.1993 – IV ZR 135/92, VersR 1993, 957 (958); BGH 16.6.2004 – IV ZR 257/03, VersR 2004, 1037 (1038). 355 BGH 9.5.2001 – IV ZR 121/00, BGHZ 147, 354 (360); BGH 12.7.2017 – IV ZR 151/15, VersR 2017, 1076 Rn. 14; zustimmend Armbrüster in Prölss/Martin Einl. Rn. 92; Pohlmann in Looschelders/Pohlmann Vorbem. B. Rn. 60 ff.; Reiff in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Klauseln, Rn. V 158; Beckmann in Bruck/Möller Einl. C. Rn. 202 ff.; Looschelders JR 2001, 397 (398); Römer in FS E. Lorenz, S. 449 (465 ff.); ders. in FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, S. 375 (379); Dreher, S. 298 ff. 356 So namentlich Langheid NVersZ 2000, 63 (65 f.). 357 So auch BGH 22.11.2000 – IV ZR 235/99, VersR 2001, 184 (186); BGH 15.2.2006 – IV ZR 192/04, VersR 2006, 641 (642); Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 205; Loacker/Perner in Looschelders/ Pohlmann Einleitung C. Rn. 52; Reiff in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Klauseln, Rn. V 161; Looschelders JR 2001, 397 (399). 358 Vgl. Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 202 und 232; Reiff in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Klauseln, Rn. V 163.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

lierten Standard noch nicht konkretisiert. Inwieweit dem Gericht in dieser Frage überhaupt eine Entscheidungskompetenz zusteht, ist auch umstritten.359 Die Richtlinie enthält aber selbst einige Konkretisierungen, die auch im Hinblick auf Versicherungsverträge relevant sind. So verweist Art. 3 Abs. 3 RL 93/13/EWG auf den Anhang der Richtlinie; dieser enthält „eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können“. Die in dem Anhang angeführten Klauseln weisen keinen spezifischen Bezug zu Versicherungsverträgen auf.360 Insoweit können zB Nr. 1 lit. g iVm Nr. 2 lit. a für Kündigungsklauseln, Nr. 1 lit. j iVm Nr. 2 lit. b und Nr. 1 lit. k für Änderungsklauseln und Nr. 1 lit. l für Prämienanpassungsklauseln aber durchaus Bedeutung gewinnen.361 Das normative Gewicht des Anhangs für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit ist umstritten.362 Aus der Formulierung „Hinweis“ in Art. 3 Abs. 3 RL 93/13/EWG folgt, dass die betreffenden Klauseln einerseits nicht generell als missbräuchlich anzusehen sind.363 Andererseits zeigt die Wendung „nicht erschöpfende Liste“ aber auch, dass die Aufzählung nicht abschließend ist. Erwägungsgrund 17 RL 93/13/EWG weist dementsprechend zu Recht darauf hin, dass die Liste der Klauseln im Anhang für die Anwendung der Richtlinie nur Beispiele geben kann. 205 Art. 4 Abs. 1 RL 93/13/EWG nennt außerdem einige Kriterien, die bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel zu berücksichtigen sind. In der Literatur wird teilweise darauf verwiesen, dass das in der Vorschrift geregelte Gebot zur Berücksichtigung aller den Vertragsschluss begleitenden Umstände in einem Spannungsverhältnis zum versicherungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung aller Versicherungsnehmer steht.364 Indessen trifft den Versicherer keine uneingeschränkte Gleichbehandlungspflicht.365 Davon abgesehen ändert die mögliche Berücksichtigung individueller Umstände nichts daran, dass bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit von einer generalisierenden Betrachtung auszugehen ist.366 Da Art. 4 Abs. 1 RL 93/13/EWG „unbeschadet“ von Art. 7 gilt, müssen die in Frage stehenden individuellen Umstände bei Verbandsklageverfahren ohnehin außer Betracht bleiben. e) Grundsätze der Transparenzkontrolle 206 Die unionsrechtlichen Vorgaben für die Transparenzkontrolle finden sich außer in Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG vor allem in Art. 5 S. 1 RL 93/13/EWG, wonach alle gegenüber einem Verbraucher verwendeten Klauseln „stets klar und verständlich abgefasst sein“ müssen. Speziell für den Versicherungsvertrieb sieht Art. 20 Abs. 1 und Abs. 4 IDD vor, dass dem Kunden die Informationen über das Versicherungsprodukt „in verständlicher Form“ zu erteilen sind. Der deutsche Gesetzgeber hat das Transparenzgebot in § 307 Abs. 1 S. 2 BGB umgesetzt. Darüber hinaus schreibt § 7 Abs. 1 S. 2 VVG für Versicherungsverträge vor, dass die notwendigen Mitteilungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 VVG einschließlich der AVB klar und verständlich zu übermitteln sind.367 Der zur Umsetzung der IDD neu eingefügte § 6 a VVG spricht in Abs. 1 Nr. 2 ebenfalls davon, dass der nach § 6 359 Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 54; Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 13. 360 Vgl. BK/Roth, Europ. VersR, Rn. 124. 361 Vgl. Bruns in Langheid/Wandt, Bd. 3, BGB Vor § 307 Rn. 35. 362 Dazu Bruns in Langheid/Wandt, Bd. 3, BGB Vor § 307 Rn. 32 ff.; Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, Anh. RL, Rn. 1 ff. 363 Zutreffend Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 11. 364 Bruns in Langheid/Wandt, Bd. 3, BGB Vor § 307 Rn. 36. 365 Zu den Einzelheiten Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 1 Rn. 61 ff. 366 Vgl. Pfeiffer in Wolf/Lindacher/Pfeiffer Art. 4 RL Rn. 5. 367 Vgl. Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 232.

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VVG zu erteilende Rat dem Versicherungsnehmer „in klarer, genauer und für den Versicherungsnehmer verständlicher Weise“ zu übermitteln ist. Der Gesetzgeber hat damit dem Gedanken Rechnung getragen, dass das unionsrechtliche Transparenzgebot den Verbraucher nicht nur mit den Mitteln des AGB-Rechts schützen, sondern auch die Beratungsund Informationspflichten des Unternehmers flankieren soll.368 Die Transparenzkontrolle hat bei Versicherungsverträgen besonders große praktische Be- 207 deutung.369 Gerade im Versicherungsrecht sind einige rechtlich vorgeschriebene oder übliche Gestaltungen (zB Berechnung des Rückkaufwerts und der Überschussbeteiligung in der Lebensversicherung) allerdings so komplex, dass dem Versicherer eine transparente, für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständliche Ausgestaltung seiner Klauseln kaum möglich ist.370 Dies hat in der Literatur zu der kritischen Frage geführt, „ob die Vorgaben des Transparenzgebots nicht bisweilen eine Wunschvorstellung des europäischen Gesetzgebers reflektieren, deren Nichtumsetzbarkeit zulasten des Verwenders geht“.371 Die Kritik lässt sich freilich entkräften, wenn man auch für das unionsrechtliche Transparenzgebot anerkennt, dass von dem Verwender nichts Unmögliches verlangt werden kann.372 So lässt sich die Verwendung juristischer oder (versicherungs-)technischer Begriffe nicht immer vermeiden.373 Im Einzelfall mag es genügen, dass die einschlägigen Klauseln dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer einen zutreffenden Gesamteindruck davon vermitteln, mit welchen Vor- und Nachteilen er zu rechnen hat. Der Versicherungsnehmer ist dann ggf. darauf verwiesen, für konkrete Fragen den Rat eines Fachmanns einzuholen.374 8. Außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten Im deutschen Versicherungsrecht hat die außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten 208 zwischen Versicherungsnehmern und Versicherern oder Versicherungsvermittlern seit längerem eine erhebliche Bedeutung. Zu nennen sind der Versicherungsombudsmann eV und der Ombudsmann Private Kranken- und Pflegeversicherung.375 Auch diese privatrechtlich organisierten Einrichtungen haben teilweise unionsrechtliche Hintergründe. So schreibt Art. 14 Abs. 1 RL 2002/65/EG den Mitgliedstaaten vor, die Einrichtung oder Weiterentwicklung angemessener und wirksamer Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren für die Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten über Finanzdienstleistungen im Fernabsatz zu fördern. Die Vorschrift ist durch § 48 e VVG aF (jetzt: § 214 VVG) in das deutsche Recht umgesetzt worden. § 48 e Abs. 1 VVG aF sah die Einrichtung einer Schlichtungsstelle für entsprechende Streitigkeiten über Versicherungen bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen vor. Das Bundesministerium der Justiz hat diese Aufgabe jedoch aufgrund einer Ermächtigung in § 48 e Abs. 2 VVG aF durch die VVG-Schlichtungsstellenverordnung vom 16.2.2005376 auf den Versicherungsombudsmann eV und den Ombudsmann Private Kranken- und Pflegeversicherung übertragen.377

368 Vgl. Bruns in Langheid/Wandt, Bd. 3, BGB Vor § 307 Rn. 37. 369 Zu den Einzelheiten vgl. Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 230 ff.; Pohlmann in Looschelders/ Pohlmann Vorbem. B. Rn. 63 ff. 370 Zur Problemstellung vgl. Looschelders JR 2001, 504 (505). 371 Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 53. 372 BGH 3.6.1998 – VIII ZR 317-97, NJW 1998, 3114 (3116); Beckmann in Bruck/Möller Einf. C. Rn. 232. 373 Bruns in Langeheid/Wandt BGB Vor § 307 Rn. 48. 374 Vgl. Looschelders JR 2001, 397 (400); Römer NVersZ 1999, 97 (104). 375 Näher dazu Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 214 Rn. 8 ff. 376 BGBl. I 257. 377 Näher dazu Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 214 Rn. 3.

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209 Einen zweiten wichtigen Aufgabenbereich haben die genannten Schlichtungsstellen auf dem Gebiet des Versicherungsvertriebs. So hat schon Art. 11 RL 2002/92/EG den Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, angemessene und wirksame Beschwerde- und Abhilfeverfahren zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen Versicherungsvermittlern und Kunden zu schaffen, ggf. unter Rückgriff auf bestehende Stellen. Das Bundesministerium der Justiz hat auch bei der Umsetzung dieser Vorgabe auf die bestehenden Schlichtungsstellen im Bereich der Versicherungen zurückgegriffen und den Versicherungsombudsmann eV sowie den Ombudsmann Private Kranken- und Pflegeversicherung nach § 48 k VVG aF (§ 214 VVG nF) als entsprechende Einrichtungen anerkannt.378 Art. 15 IDD weitet die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Schaffung angemessener und wirksamer Beschwerde- und Abhilfeverfahren jetzt auf Streitigkeit zwischen Versicherungsvertreibern und Kunden über die aus der Richtlinie erwachsenden Rechte und Pflichten aus. Da dabei ggf. wieder auf bestehende Stellen zurückgegriffen werden kann, gibt es in Deutschland hierdurch keinen besonderen Umsetzungsbedarf. 210 Der persönliche Schutzbereich der unionsrechtlich vorgeschriebenen Schlichtungsstellen ist unterschiedlich. Während Art. 14 Abs. 1 RL 2002/65/EG sich auf den Schutz von Verbrauchern beschränkt, beziehen Art. 11 RL 2002/92/EG und Art. 15 Abs. 1 S. 1 IDD Streitigkeiten zwischen Versicherungsvermittlern (Versicherungsvertreibern) und sämtlichen Versicherungsnehmern bzw. Kunden ein. Diese unionsrechtlichen Vorgaben spiegeln sich in den Zuständigkeiten der betreffenden Ombudsleute wider (vgl. § 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 VVG). Bei Streitigkeiten aus Versicherungsverträgen kann der Versicherungsombudsmann nach § 2 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung allerdings auch Beschwerden von Kleingewerbetreibenden behandeln.379

III. Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote 211 Große praktische Bedeutung haben im Versicherungsrecht die unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote. Im Vordergrund stehen dabei die Antirassismus-Richtlinie (RL 2000/43/EG) und die Gender-Richtlinie (RL 2004/113/EG), die in Deutschland für den Zivilrechtsverkehr in den §§ 19 ff. AGG umgesetzt worden sind.380 1. Ungleichbehandlung wegen Rasse und ethnischer Herkunft 212 Die RL 2000/43/EG verbietet Diskriminierungen aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit ist nicht vorgesehen.381 Dies gilt auch im Hinblick auf das Versicherungsvertragsrecht.382 Dass die Antirassismus-Richtlinie für Versicherungsverträge gilt, ergibt sich aus Art. 3 lit. h RL 2000/43/EG. Es handelt sich nämlich um Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.383 Für Versicherungsverträge haben Rasse und ethnische Herkunft allerdings keine spezifische Bedeutung, weil beide Merkmale nicht zu den Kriterien gehören, die für die Risikokalkulation eines Versicherers typischerweise relevant sind. Soweit sich in Ausnahmefällen doch eine Risikorelevanz feststellen lassen sollte, muss das Interesse des Versicherers an der Berücksichtigung des betreffenden Merkmals aus übergeordneten Gründen zurücktreten. Der Ausschluss 378 Zu den Einzelheiten Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 214 Rn. 2. 379 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 214 Rn. 12; Römer NJW 2005, 1251 (1253); E. Lorenz (VersR 2004, 541 (546)) spricht treffend von „verbraucherähnlichen Personen“. 380 Vgl. Looschelders in Looschelders/Pohlmann Einleitung A. Rn. 40 ff.; ders. VersR 2011, 421 (423); Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 58. 381 MüKo-BGB/Thüsing AGG § 20 Rn. 2; Haberl, S. 175; Looschelders JZ 2012, 105 (110). 382 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 1 § 1 Rn. 68; PK/Ebers Einleitung, Rn. 46. 383 Vgl. Erman/Armbrüster AGG § 19 Rn. 21.

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der Rechtfertigungsmöglichkeit rechtfertigt sich in diesen Fällen daraus, dass die Merkmale der Rasse und der ethnischen Herkunft einen besonders engen Bezug zur Menschenwürde und zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen haben.384 Eine Diskriminierung wegen der Rasse oder ethnischen Herkunft kann sich im Einzelfall 213 aus der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ergeben.385 Im Versicherungsrecht ergaben sich insofern aber schon seit längerem keine Probleme, weil eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit des Versicherungsnehmers oder des Versicherten oder an deren Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe nach § 81 e VAG aF bereits aufsichtsrechtlich unzulässig war. Die Aufhebung der Vorschrift hat nicht zur aufsichtsrechtlichen Zulässigkeit einer Anknüpfung an die Staatsaneghörigkeit geführt. Dahinter stand vielmehr die Erwägung, dass die Vorschrift im Hinblick auf § 19 AGG obsolet sei.386 Auf der primärrechtlichen Ebene ist jede Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 AEUV verboten. 2. Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts a) Versicherungstechnische Relevanz des Risikomerkmals „Geschlecht“ In Deutschland waren Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts bei privaten Versi- 214 cherungsverträgen bis in neuere Zeit sehr verbreitet. Für die substitutive Krankenversicherung war die Berücksichtigung der Geschlechtsabhängigkeit des Risikos bei der Prämienberechnung nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 VAG aF sogar gesetzlich vorgeschrieben.387 Die große Bedeutung des Geschlechts bei der Ausgestaltung von Versicherungsverträgen war darauf zurückzuführen, dass das Geschlecht bei vielen Versicherungen ein wesentlicher Faktor für die Einschätzung des Risikos ist. So wurden die höheren Tarife für Frauen in der privaten Krankenversicherung mit der höheren Lebenserwartung und der stärkeren Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch Frauen gerechtfertigt.388 Bei der privaten Rentenversicherung wurde auf die höhere Lebenserwartung von Frauen abgestellt.389 Auf der anderen Seite waren die Prämien der Frauen bei der Risikolebensversicherung, der Unfallversicherung und der Kfz-Haftpflichtversicherung meist niedriger als jene der Männer, weil das Risiko des Eintritts eines Versicherungsfalles hier aus statistischer Sicht bei Männern erheblich höher ist.390 Inwieweit das höhere Risiko von Frauen oder Männern auf biologischen Unterschieden 215 beruht, kann bei den einzelnen Versicherungszweigen nicht einheitlich beurteilt werden. Selbst bei der Krankenversicherung haben biologische Unterschiede wohl nur ein geringes Gewicht.391 Das Problem besteht indes darin, dass die meisten Alternativkriterien (zB Ernährungsgewohnheiten, berufliche Situation, Wohnort) mehr oder weniger häufigen Änderungen unterworfen sind. Demgegenüber muss sich der Versicherer bei der Kalkulation der Prämien an den Verhältnissen bei Abschluss des Versicherungsvertrages orientieren. Gerade bei langdauernden Versicherungsverhältnissen wie der Lebens-, Renten- und Krankenversicherung, die vom Versicherer auch nicht ohne Weiteres an eine erhöhte Gefahrenlage angepasst oder gekündigt werden können, wurde das Geschlecht daher auf384 385 386 387 388 389

Vgl. Looschelders JZ 2012, 105 (110). Vgl. Erman/Armbrüster AGG § 1 Rn. 5. Brand in Looschelders/Michael, S. 7, 18. Zur Bedeutung dieser Vorgabe Armbrüster ZVersWiss 2006 (Suppl.), 477 (481); Danzl, S. 85. Näher dazu Dörfler/Wende ZVersWiss 2010, 17 ff. Vgl. Mönnich VersR 2011, 1092 (1100); Schareck in FS E. Lorenz, S. 687, 702; Looschelders in Looschelders/Michael, S. 37, 48. 390 Vgl. Sahmer, Unisex-Tarife – Gleicher als gleich?, PKV Publik 2003, S. 99; Präve VersR 2004, 39; Looschelders VersR 2011, 421 (424); Birk DB 2011, 819; Mönnich VersR 2011, 1092 (1097 ff.). 391 Ausführlich Danzl, S. 59 ff.; Dörfler/Wende ZVersWiss 2010, 17 ff.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht grund seiner Unveränderlichkeit als ein ideales Kriterium zur Bewertung des versicherten Risikos betrachtet.392 b) Die Vorgaben der Gender-Richtlinie für Versicherungsverträge

216 Die Kommission hatte in ihrem ursprünglichen Vorschlag für eine Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen vom 5.11.2003393 vorgesehen, dass für die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei der Berechnung der Prämien und Leistungen im Bereich des Versicherungswesens ein striktes Verbot gelten soll. Dieser Vorschlag ist aber sowohl bei der Versicherungswirtschaft394 als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur395 auf erhebliche Kritik gestoßen. Letztlich hat der europäische Gesetzgeber sich dann für einen Kompromiss entschieden. Einerseits hatten die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 1 RL 2004/113/EG dafür Sorge zu tragen, „dass spätestens bei den nach dem 21.12.2007 neu abgeschlossenen Verträgen die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei der Berechnung von Prämien und Leistungen im Bereich des Versicherungswesens und verwandter Finanzdienstleistungen nicht zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führt.“ Andererseits konnten die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG vor dem 21.12.2007 beschließen, „proportionale Unterschiede bei den Prämien und Leistungen zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.“ Der Kompromisscharakter der Regelung spiegelt sich auch in den Erwägungsgründen wider. Während Erwägungsgrund 18 Satz 2 RL 2004/113/EG das Postulat aufstellt, dass die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren zur Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen nicht zu Unterschieden bei den Prämien und Leistungen führen sollte, räumt Erwägungsgrund 19 Satz 1 RL 2004/113/EG ein, dass bestimmte Risikokategorien bei Männern und Frauen unterschiedlich sein können. Der deutsche Gesetzgeber hat von der Option des Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG Gebrauch gemacht und in § 20 Abs. 2 S. 1 AGG aF eine entsprechende Rechtfertigungsmöglichkeit für geschlechtsspezifische Tarife eröffnet.396 c) Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-236/09 (Test-Achats) 217 Der EuGH hat der vorstehend beschriebenen Rechtslage in einer Grundsatzentscheidung vom 1.3.2011 in der Rechtssache Test-Achats397 für die Zukunft eine Absage erteilt. Auf ein Vorabentscheidungsersuchen der belgischen Cour constitutionelle nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist der EuGH zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ausnahmeregelung des Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG mit Wirkung vom 21.12.2012 für ungültig zu erachten ist. Der Gerichtshof ist damit im Wesentlichen den Schlussanträgen der Generalanwältin Juliane Kokott gefolgt.398 Zur Begründung verweist der EuGH auf die Vorschriften der Art. 21 und 23 GRC, wonach „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts“ 392 Vgl. Armbrüster VersR 2010, 1578 (1581 f.); Looschelders in Leible/Schlachter, S. 141, 142 ff.; ders. VersR 2011, 421 (426 f.). 393 KOM(2003) 657 endg. abgedruckt in VersR 2004, 41 ff. 394 Sahmer, PKV-Publik 2003, 99. 395 Präve in Prölss VAG § 11 Rn. 12; ders. VersR 2004, 39 ff.; Riesenhuber/Franck JZ 2004, 529 (533 ff.). 396 Zu den Einzelheiten Thüsing/v. Hoff VersR 2007, 1 (4); Looschelders in Leible/Schlachter, S. 141 (146); Mönnich VersR 2011, 1092. 397 EuGH 1.3.2011 – C-236/09, NJW 2011, 907 – Test-Achats = VersR 2011, 377. 398 GA Kokott 30.9.2010 – C-236/09, VersR 2010, 1571 mAnm Armbrüster – Test-Achats; krit. dazu Sagmeister VersR 2011, 187 ff.; Schwintowski VersR 2011, 164 ff.; Karpenstein EuZW 2010, 885 ff.

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verboten sind und die „Gleichheit von Frauen und Männern … in allen Bereichen“ sicherzustellen ist. Der EuGH sieht zwar, dass die Grundrechte-Charta bei Erlass der RL 2004/113/EG noch nicht in Kraft war. Er rechtfertigt die Anwendung der Art. 21 und 23 GRC aber zutreffend damit, dass Erwägungsgrund 4 der RL 2004/113/EG auf diese Bestimmungen Bezug nimmt.399 Nach Ansicht des EuGH ist die Aufrechterhaltung der geschlechtsspezifischen Tarifierung 218 bei der schrittweisen Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für eine Übergangszeit nicht zu beanstanden; die Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG eröffne den Mitgliedstaaten aber die Möglichkeit, die Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten. Dies laufe dem mit der RL 2004/113/EG verfolgten Ziel der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und sei mit den Art. 21 und 23 CRC unvereinbar.400 Bei der Bemessung der Übergangsfrist orientiert sich der EuGH an der in Art. 5 Abs. 2 S. 3 RL 2004/113/EG geregelten Pflicht der Mitgliedstaaten, ihre Entscheidung für die Nutzung der Ausnahmemöglichkeit fünf Jahre nach dem 21.12.2007 zu überprüfen. Der Übergangszeitraum endet deshalb am 21.12.2012.401 Die Entscheidung des EuGH ist im deutschen Schrifttum zu Recht auf deutliche Kritik 219 gestoßen.402 Beanstandet wird insbesondere, dass der EuGH nicht auf die mögliche sachliche Rechtfertigung der geschlechtsspezifischen Tarifierung eingeht, sondern die Vergleichbarkeit der Lage von Frauen und Männern in Bezug auf die Prämien und Leistungen bei Versicherungsverträgen unter Hinweis auf das in Art. 5 Abs. 1 RL 2004/113/EG zum Ausdruck kommende Ziel der Richtlinie und den Erwägungsgrund 18 bejaht.403 Die entgegenstehenden Argumente aus Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG und Erwägungsgrund 19 werden dagegen ebenso wenig gewürdigt wie die Interessen der Versicherer und der anderen Mitglieder der Versichertengemeinschaft, die bei einer geschlechtsneutralen Tarifierung höhere Prämien zahlen müssen. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung findet ebenfalls nicht statt.404 Letztlich wendet der EuGH sich nur gegen die fehlende innere Kohärenz der Richtlinie, ohne sich mit den primärrechtlichen Diskriminierungsverboten als solchen auseinanderzusetzen.405 Außerdem hätte die Entscheidung über die strikte Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei Versicherungsverträgen ab dem 21.12.2012 nicht vom EuGH getroffen werden dürfen, sondern dem europäischen oder nationalen Gesetzgeber überlassen bleiben müssen.406

399 EuGH 1.3.2011 – C-236/09, Rn. 17; vgl. dazu Kahler NJW 2011, 894; Looschelders VersR 2011, 421 (424); Purnhagen EuR 2011, 690 (697 f.). Für Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta auf ältere Richtlinien bereits EuGH 9.11.2010 – C-92/09 und C-93/09, EuZW 2010, 939 (941) Rn. 46 – Schecke. 400 EuGH 1.3.2011 – C-236/09, Rn. 23 ff., 31 f. 401 Näher dazu Looschelders VersR 2011, 421 (424 f.). 402 Vgl. MüKo-BGB/Thüsing AGG § 20 Rn. 58; Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 62 f.; Loacker HAVE 2011, 351 (352 ff.); Armbrüster LMK 2011, 315339; Lüttringhaus EuZW 2011, 296 ff.; Kahler NJW 2011, 894 ff.; Looschelders VersR 2011, 421 (425 ff.); ders. in Looschelders/Michael, S. 37 (48); ders. JZ 2012, 105 (109); Purnhagen EuR 2011, 690 ff.; differenzierend Mönnich VersR 2011, 1092 ff.; zustimmend Rolfs/Binz VersR 2011, 714 ff. 403 EuGH 1.3.2011 – C-236/09, Rn. 30. 404 Krit. Loacker HAVE 2011, 351 (354); Lüttringhaus EuZW 2011, 296 (298). 405 Krit. Purnhagen EuR 2010, 690 (697). 406 Vgl. zu diesem Aspekt Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 62; Looschelders VersR 2011, 421 (425); ders. JZ 2012, 105 (109); Sagmeister VersR 2011, 189 (190).

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht d) Gestaltungsspielraum des nationalen und europäischen Gesetzgebers

220 In der Literatur ist darauf hingewiesen worden, dass die Kompetenzen des europäischen und der nationalen Gesetzgeber durch die Übergangsfrist bis zum 21.12.2012 wenigstens in einem gewissen Maße gewahrt blieben.407 Die den jeweiligen Gesetzgebern verbleibenden Spielräume waren jedoch gering. So hatten die nationalen Gesetzgeber keine andere Möglichkeit, als die geschlechtsspezifische Tarifierung ab dem 21.12.2012 für Neuverträge für unwirksam zu erklären. Für Altverträge wurde die Rechtslage dagegen durch das Urteil des EuGH nicht vorgegeben, da der Gerichtshof entgegen den Schlussanträgen der Generalanwältin408 darauf verzichtet hat, die Ausnahmeregelung des Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG nach Ablauf der Übergangsfrist auch im Hinblick auf bestehende Verträge für ungültig zu erklären.409 221 Ob der europäische Gesetzgeber die RL 2004/113/EG dahin gehend ändern könnte, dass die geschlechtsspezifische Tarifierung unter engen Voraussetzungen weiter für zulässig erklärt werden kann, ist ebenfalls zweifelhaft. Für eine solche Gestaltungsmöglichkeit spricht, dass der EuGH sich bei seiner Argumentation primär auf den Zweck und die Systematik der RL 2004/113/EG gestützt hat.410 Auf der anderen Seite hat sich der Gerichtshof aber von der Erwägung leiten lassen, dass die Union nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV und Art. 8 AEUV die Aufgabe hat, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern.411 Darüber hinaus schreibt der vom Gerichtshof in Bezug genommene Art. 23 Abs. 1 GRC unmissverständlich vor, dass die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen sicherzustellen ist. Der Gerichtshof hat im Weiteren zwar eingeräumt, dass der Unionsgesetzgeber bei der schrittweisen Verwirklichung dieser Gleichheit über den Zeitpunkt seines Tätigwerdens selbst bestimmen kann. Wenn ein solches Tätigwerden beschlossen sei, müsse er aber in kohärenter Weise auf die Erreichung des verfolgten Ziels hinwirken.412 Die (Wieder-)Zulassung der geschlechtsspezifischen Tarifierung durch den Unionsgesetzgeber wäre damit ein Rückschritt, der mit den primärrechtlichen Vorgaben unvereinbar ist.413 e) Der Leitfaden der Kommission für die Anwendung der RL 2004/113/EG 222 Die Kommission hat am 22.12.2011 Leitlinien für die Anwendung der RL 2004/113/EG auf Versicherungen im Lichte der Test-Achats-Rechtsprechung des EuGH festgelegt.414 Die Kommission betont zunächst, dass die Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 RL 2004/113/EG ab dem 21.12.2012 für Neuverträge ohne Ausnahme erfüllt werden müssen. Eine Anpassung von Altverträgen sei dagegen nicht erforderlich. Als Neuverträge sieht die Kommission alle Vereinbarungen an, bei denen die letzte Vertragserklärung ab dem 21.12.2012 abgegeben wurde. Unter dieser Voraussetzung soll auch die Ergänzung eines bestehenden Vertrages einen Neuvertrag darstellen.415 Art. 5 Abs. 1 RL 2004/113/EG verbiete den Versicherern im Übrigen nicht, das Geschlecht bei der eigenen (internen) Risikokalkulation oder bei der Berechnung der Prämien für eine Rückversi407 So Kahler NJW 2011, 894 (896 f.). 408 GA Kokott 30.9.2010 – C-236/09, Slg 2011, I-800 – Test-Achats = VersR 2010, 1571 Rn. 81. 409 Vgl. Armbrüster LMK 2011, 315339; Kahler NJW 2011, 894 (896); Purnhagen EuR 2011, 690 (702 ff.); Looschelders. VersR 2011, 421 (428). 410 Vgl. Kahler NJW 2011, 894 (897). 411 EuGH 1.3.2011 – C-236/09, Rn. 19. Zur primärrechtlichen Gleichstellungspflicht vgl. auch Meyer/ Hölscheid/Hölscheid NK-EuGRCh GRC Art. 21 Rn. 40. 412 EuGH 1.3.2011 – C-236/09, Rn. 20 f. 413 Looschelders VersR 2011, 421 (429); im Ergebnis auch Armbrüster LMK 2011, 315339. 414 COM(2011) 9497 final; ausführlich dazu Mönnich VersRdsch 2012, 20 (22 ff.). 415 COM(2011) 9497 final, Rn. 11.

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cherung zu verwenden. Entscheidend sei, dass die individuellen Prämien der Versicherungsnehmer nicht nach dem Geschlecht differenziert werden. Die Verwendung anderer Risikofaktoren bleibe auch dann zulässig, wenn dies zu einer mittelbaren Diskriminierung führe. So dürfe bei der Berechnung der Prämien für eine Kfz-Versicherung an die Größe des Fahrzeugmotors angeknüpft werden, auch wenn Männer statistisch betrachtet Fahrzeuge mit stärkeren Motoren fahren.416 Im deutschen Recht enthält § 33 Abs. 5 AGG eine Übergangsregelung. Bei vor dem 21.12.2012 begründeten Versicherungsverhältnissen bleibt danach eine unterschiedliche Behandlung wegen des Geschlechts zulässig, wenn dessen Berücksichtigung bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist. f) Kosten von Schwangerschaft und Mutterschaft Im Hinblick auf Versicherungsverträge schreibt Art. 5 Abs. 3 RL 2004/113/EG weiter vor, 223 dass Kosten im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft auf keinen Fall zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führen dürfen. Es handelt sich hierbei um ein absolutes Differenzierungsverbot, das keine Rechtfertigung zulässt. Erwägungsgrund 20 verweist zur Begründung darauf, dass die Schlechterstellung von Frauen aufgrund von Schwangerschaft und Mutterschaft eine Form der direkten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt und daher im Bereich der Versicherungsdienstleistungen nicht zulässig sein dürfe. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgabe in § 20 Abs. 2 S. 1 AGG (§ 20 Abs. 2 S. 2 AGG aF) umgesetzt. Sachlich lässt sich die Regelung damit legitimieren, dass die Kosten von Schwangerschaft und Mutterschaft nicht allein von der Mutter verursacht werden; der Vater ist vielmehr ebenso dafür „verantwortlich“.417 Auch wenn die Privatversicherung keinen sozialen Ausgleich bezweckt, ist der europäische oder nationale Gesetzgeber doch nicht gehindert, sie punktuell zur Verwirklichung sozialer Zwecke heranzuziehen.418 Nachdem die in § 20 Abs. 2 S. 1 AGG aF vorgesehene Möglichkeit der Rechtfertigung geschlechtsspezifischer Differenzierungen entfallen ist, stellt die generelle Unzulässigkeit der Schlechterstellung von Frauen wegen der Kosten von Schwangerschaft und Mutterschaft allerdings keine Besonderheit mehr dar.419 Für Altfälle bleibt die generelle Unzulässigkeit einer Anknüpfung an die Kosten von Schwangerschaft und Mutterschaft nach § 33 Abs. 5 S. 2 AGG dagegen weiter eine Ausnahme von der grundsätzlichen Möglichkeit der Rechtfertigung geschlechtsspezifischer Differenzierungen. Welche Differenzierungen Art. 5 Abs. 3 RL 2004/113/EG (§ 20 Abs. 2 S. 1 AGG) im Ein- 224 zelnen verbietet, ist unklar. Bei einem engen Verständnis ist der Versicherer lediglich daran gehindert, die Kosten von Schwangerschaft und Mutterschaft ungleich zu verteilen. Die Einführung eines Risikoausschlusses für die Kosten einer bei Vertragsschluss bestehenden Schwangerschaft wäre nach diesem Verständnis zulässig.420 Gegen ein solches Verständnis spricht jedoch, dass Art. 5 Abs. 3 RL 2004/113/EG ausweislich von Erwägungsgrund 20 die „Schlechterstellung von Frauen aufgrund von Schwangerschaft oder Mutterschaft“ als Form der direkten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verhindern soll. Dass die Einführung eines Risikoausschlusses für die Kosten einer bestehenden Schwangerschaft zu einer einseitigen Belastung der Mütter führt, ist offensichtlich. Die Schlechterstellung der 416 COM(2011) 9497 final, Rn. 17 m. Fn. 15. 417 Zur rechtspolitischen Rechtfertigung der Regelung vgl. Looschelders in Looschelders/Pohlmann Vorbem. A. Rn. 45; ders. in Leible/Schlachter, S. 141 (152 f.); Armbrüster ZVersWiss 2006 (Suppl.), 477 (486); E. Lorenz VW 2004, 1640; Danzl, S. 155 ff. 418 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 1, § 1 Rn. 68; ders. JZ 2012, 105 (110). 419 MüKo-BGB/Thüsing AGG § 20 Rn. 58. 420 So AG Hannover 26.8.2008 – 534 C 5012/08, VersR 2009, 348; Erman/Armbrüster AGG § 20 Rn. 17; Palandt/Grüneberg AGG § 20 Rn. 8.

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Mütter lässt sich auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, der Risikoausschluss beruhe auf versicherungstechnischen Regeln.421 Denn Art. 5 Abs. 3 RL 2004/113/EG soll eine Rechtfertigung mit versicherungstechnischen Regeln gerade ausschließen. Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass der Ausschluss von Leistungen für eine bestehende Schwangerschaft mit Art. 5 Abs. 3 RL 2004/113/EG unvereinbar ist.422 225 Wie das OLG Hamm schon zum alten Recht überzeugend dargelegt hat, werden auch die Kosten für die Behandlung von Schwangerschaftskomplikationen von dem Verbot in § 20 Abs. 2 S. 2 AGG aF (S. 1 nF) und Art. 5 Abs. 3 RL 2004/113/EG) erfasst. Wenn der Versicherer im Hinblick auf diese Kosten keine Differenzierungen vornehmen dürfe, so sei er auch nicht berechtigt, den Versicherungsvertrag wegen Verschweigens der zugrundeliegenden Komplikationen zu kündigen oder durch Rücktritt aufzulösen.423 Das unionsrechtlich fundierte Verbot der Differenzierung wegen der Kosten von Schwangerschaft und Mutterschaft schränkt somit im Ergebnis die vorvertragliche Anzeigepflicht der Versicherungsnehmerin ein, weil es sich insoweit um keine gefahrerheblichen Umstände iSd § 19 Abs. 1 VVG handelt.424 g) Die sonstigen Merkmale in § 19 Abs. 1 AGG 226 Neben der Rasse, der ethnischen Herkunft und dem Geschlecht nennt § 19 Abs. 1 AGG die Religion, eine Behinderung, das Alter und die sexuelle Identität als Merkmale, die nicht zu einer Benachteiligung führen dürfen. Bei Versicherungsverträgen ist eine Anknüpfung an diese Merkmale allerdings schon dann gerechtfertigt, wenn die Differenzierung auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruht (§ 20 Abs. 2 S. 3 AGG). Da die RL 2004/113/EG nicht auf diese Merkmale abstellt und die RL 2000/787/EG sich nur auf arbeitsrechtliche Sachverhalte bezieht, ist dies aus unionsrechtlicher Sicht unproblematisch.425 227 Ob die Merkmale Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Identität im zivilrechtlichen Teil des AGG nach den Grundsätzen des Unionsrechts auszulegen sind, ist umstritten. Fest steht, dass es aus unionsrechtlicher Sicht keine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gibt.426 Dies gilt auch für den schwer zu bestimmenden Begriff der Behinderung.427 Die hM orientiert sich im Anschluss an die Gesetzesbegründung428 am deutschen Sozialrecht (§ 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX).429 Dies führt im Regelfall zu den gleichen Ergebnissen wie die Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet des Arbeitsrechts.430 Für das Versicherungsrecht ist wichtig, dass der Begriff der Behinderung nicht mit dem Begriff der Krankheit gleichgesetzt werden darf. Im gleichen Sinne hat der EuGH festgestellt, dass eine

421 So aber Erman/Armbrüster AGG § 20 Rn. 17. 422 Looschelders VersR 2011, 421 (429). 423 OLG Hamm 12.1.2011 – 20 U 102/10, NJW-RR 2011, 762 = VersR 2011, 514; zustimmend auch MüKo-BGB/Thüsing AGG § 20 Rn. 58. 424 Looschelders in Looschelders/Pohlmann § 19 Rn. 27; ders. VersR 2011, 697 (699); Armbrüster in Prölss/Martin § 19 Rn. 10; Brand VersR 2009, 715 (718). 425 MüKo-BGB/Thüsing AGG § 19 Rn. 9; Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 61. 426 Vgl. Palandt/Ellenberger Einl. AGG Rn. 8; Looschelders in Looschelders/Pohlmann Einleitung A. Rn. 48. 427 MüKo-BGB/Thüsing AGG § 20 Rn. 67; für Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH dagegen Armbrüster in Prölss/Martin Einleitung Rn. 311 ff. 428 BT-Drs. 16/1780, 31. 429 Vgl. OLG Karlsruhe 27.5.2010 – 9 U 156/09, VersR 2010, 1163 (1164); OLG Saarbrücken 9.9.2009 – 5 U 26/09, VersR 2009, 1522 (1524); Thüsing/v. Hoff VersR 2007, 1 (7). 430 Vgl. Looschelders in Looschelders/Pohlmann Vorbem. A. Rn. 48.

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Kündigung wegen Krankheit keine unzulässige Diskriminierung wegen einer Behinderung darstellt.431 Die Europäische Kommission hat am 2.7.2008 den Vorschlag für eine neue Richtlinie vor- 228 gelegt, die sich gegen Diskriminierungen aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung außerhalb des Arbeitsmarktes wendet.432 Der Erlass einer solchen Richtlinie hätte zur Folge, dass die zusätzlichen Merkmale des § 19 Abs. 1 AGG für den Zivilrechtsverkehr eine unionsrechtliche Fundierung erhielten; außerdem müsste das Merkmal der Weltanschauung in den Katalog des § 19 Abs. 1 AGG aufgenommen werden. Besonders problematisch sind bei Versicherungsverträgen die Merkmale des Alters und der Behinderung. So kommt dem Alter bei der Risikokalkulation in den meisten Personenversicherungen (insbesondere Kranken-, Lebens-, Rentenversicherung) eine zentrale Bedeutung zu, während bei der Behinderung das Problem der Abgrenzung zur Krankheit besteht. Diese Ausgangslage wird von Erwägungsgrund 15 des Entwurfs anerkannt. Art. 2 Abs. 7 des Entwurfs erlaubt den Mitgliedstaaten daher, bei der Bereitstellung von Finanzdienstleistungen verhältnismäßige Ungleichbehandlungen zuzulassen, wenn für das fragliche Produkt die Berücksichtigung des Alters oder einer Behinderung ein zentraler Faktor bei der auf relevanten und exakten versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ist.433

IV. Unionsrechtliche Vorgaben für die Rechtsschutzversicherung Die Vorschriften des deutschen Rechts über die Rechtsschutzversicherung (§§ 125–129 229 VVG; §§ 158 l–158 o VVG aF) beruhen auf der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie (RL 87/344/EWG), die mit Wirkung vom 1.1.2016 in die Sovency II-Richtlinie (Art. 198– 205 RL 2009/138/EG) integriert wurde. Zentrale Bedeutung hat der Grundsatz der freien Anwaltswahl in Art. 4 RL 87/344/EWG (Art. 201 RL 2009/138/EG). Hiernach muss jeder Rechtsschutz-Versicherungsvertrag ausdrücklich vorsehen, dass es dem Versicherten freisteht, welchen Rechtsanwalt er für die Wahrnehmung seiner Interessen in einem Gerichtsoder Verwaltungsverfahren wählt. Außerhalb eines Gerichts oder Verwaltungsverfahrens muss der Versicherte den Rechtsanwalt nur dann frei wählen können, wenn eine Interessenkollision entsteht. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben in § 127 Abs. 1 VVG (§ 158 m Abs. 1 VVG aF) und § 3 Abs. 3 BRAO überschießend umgesetzt. Das Recht des Versicherungsnehmers auf freie Wahl seines Rechtsanwalts besteht danach nicht nur für die Vertretung in Gerichts- oder Verwaltungsverfahren, sondern auch für die sonstige Wahrnehmung rechtlicher Interessen.434 Ob das Recht auf freie Anwaltswahl durch eine mitgliedstaatliche Regelung oder die AVB 230 des Versicherers unzulässig eingeschränkt wird, kann im Einzelfall fraglich sein und hat den EuGH daher auch bereits mehrmals beschäftigt. So hat der EuGH in der Rechtssache Eschig klargestellt, dass das Recht der Versicherten auf freie Anwaltswahl auch bei Massenschadensfällen besteht.435 Nach der Rechtsprechung des EuGH kann der Versicherer in seinen AVB auch nicht festlegen, dass rechtlicher Beistand grundsätzlich von seinen Mitarbeitern gewährt wird und die Kosten für einen vom Versicherungsnehmer frei gewählten

431 Vgl. EuGH 11.7.2006 – C-13/05, Slg 2006, I-6467 = NZA 2006, 839 (840). 432 KOM(2008) 426; vgl. dazu Armbrüster in Prölss/Martin Einleitung Rn. 321. 433 Vgl. Mönnich VersRdsch 2012, 20 (24). Zur Würdigung dieser Ausnahme unter ökonomischen Aspekten Vandenberghe ZEuP 2011, 235 ff. (248 ff.). 434 Eingehend dazu Looschelders VersR 2017, 1237 ff. 435 EuGH 10.9.2009 – C-199/08, NJW 2010, 355 – Eschig.

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Rechtsanwalt nur übernommen werden, wenn der Versicherer der Ansicht ist, dass die Bearbeitung der Angelegenheit einem externen Rechtsvertreter übertragen werden muss.436 231 Art. 2 Abs. 1 RL 87/344/EWG (Art. 198 Abs. 1 RL 2009/138/EG) beschreibt die Rechtsschutzversicherung dahin gehend, dass ein Versicherungsunternehmen zusagt, gegen Zahlung einer Prämie die Kosten des Gerichtsverfahrens zu übernehmen und andere sich aus dem Versicherungsvertrag ergebende Leistungen zu erbringen. Eine vergleichbare Umschreibung der Rechtsschutzversicherung findet sich in § 125 VVG. Die offenen Formulierungen machen deutlich, dass der konkrete Inhalt des Vertrages nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit den Parteivereinbarungen überlassen ist. Im Hinblick auf die Leistungspflicht des Versicherers ist dabei zwischen zwei Elementen zu unterscheiden: der Pflicht zur Tragung der Kosten des Gerichtsverfahrens und der Erbringung sonstiger Leistungen. Das deutsche Recht schränkt die selbstständige Erbringung sonstiger (außergerichtlicher) Leistungen durch den Rechtsschutzversicherer in §§ 3, 4 RDG stark ein.437 Die Vorschriften enthalten einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56, 57 AEUV), der aber mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann.438

V. Harmonisierung des Rechts der Kfz-Haftpflichtversicherung 1. Überblick 232 Die Kfz-Haftpflichtversicherung bildet den am stärksten durch unionsrechtliche Vorgaben harmonisierten Bereich des Versicherungsvertragsrechts. Dabei geht es dem europäischen Gesetzgeber in erster Linie darum, den Schutz des Geschädigten bei Verkehrsunfällen zu verbessern.439 Weitere Ziele sind die Förderung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs und damit der Freizügigkeit in Europa sowie die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes auf dem Gebiet der Kraftfahrtversicherung.440 Den Ausgangspunkt der Entwicklung bildet das Europäische Übereinkommen über die obligatorische Haftpflichtversicherung (sog Straßburger Übereinkommen) vom 20.4.1959, das ua das Ziel hatte, die Rechte der Opfer von Kraftfahrzeugunfällen in den Mitgliedstaaten des Europarats441 durch Einführung einer Pflichtversicherung und eines Direktanspruch des Geschädigten gegen den Kfz-Haftpflichtversicherer des Schädigers (sog action directe) zu wahren. Das Übereinkommen ist indes lediglich von Deutschland442 sowie von Dänemark, Griechenland, Norwegen, Österreich und Schweden ratifiziert worden und hat daher keine große Bedeutung erlangt.443 233 Große praktische Relevanz hat dagegen das System der „Grünen Karte“, das vom „Ausschuss für Landverkehr der Europäischen Wirtschaftskommission der UNO“ in der Nachkriegszeit (1948/49) entwickelt worden und am 1.1.1953 in Kraft getreten ist.444 Das „Grüne Karte-System“ hat den Zweck, „den internationalen Kraftfahrzeugverkehr zu erleichtern, indem es die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung in Bezug auf den Ge436 437 438 439 440 441 442 443 444

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EuGH 7.11.2013 – C-442/12, VersR 2013, 1530 – Sneller = VuR 2014, 38 (Ls.). Vgl. Looschelders VersR 2017, 1237 (1243). Vgl. Looschelders in Looschelders/Paffenholz ARB Teil A. Rn. 30. Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 65; Lemor in Feyock/Jacobsen/ Lemor Europa, Rn. 1; H. Müller, Rn. 111 ff. Vgl. Erwägungsgrund 2 RL 2009/103/EG; Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 172; BK/Roth, Europ. VersR, Rn. 122. Art. 15 Abs. 1 des Übereinkommens sieht vor, dass das Übereinkommen den Mitgliedern des Europarats zur Unterzeichnung offen steht. Durch Gesetz vom 1.4.1965, BGBl. 1965 II, 281. Vgl. Lemor in Feyock/Jacobsen/Lemor, Europa, Rn. 10; Looschelders NZV 1999, 57 (58) m. Fn. 12. Zur Entstehungsgeschichte Lemor in Feyock/Jacobsen/Lemor, AuslUnf A., Rn. 10; Riedmeyer in Halm/Engelbrecht/Krahe Kap. 6 Rn. 21.

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brauch der Fahrzeuge ermöglicht, die Kriterien zu erfüllen, die im besuchten Land vorgeschrieben sind, und im Falle von Unfällen eine Entschädigungsleistung für Geschädigte zu garantieren gemäß dem nationalen Gesetz und den Regelungen dieses Landes.“445 Es geht also um den Schutz von Personen, die in ihrem Heimatstaat durch ein in einem anderen Staat zugelassenes Kfz geschädigt werden. Das Unfallopfer kann sich in diesen Fällen an das in seinem Heimatstaat errichtete Grüne-Karte-Büro wenden, welches den Schaden reguliert.446 Der Kreis der Mitgliedstaaten des „Grüne-Karte-Systems“ geht weit über die EU hinaus und umfasst ua auch Albanien, Israel, Liechtenstein, Marokko, die Schweiz, die Türkei, die Ukraine, Russland und Weißrussland.447 Neben diesen Abkommen hat der europäische Gesetzgeber von 1972–2005 fünf Richtlini- 234 en über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (sog KH-Richtlinien) erlassen, die zu einer schrittweisen Angleichung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten geführt haben. Im Einzelnen handelt es sich um die RL 72/166 EWG vom 26.4.1972, die RL 84/5/EWG vom 30.12.1983, die RL 90/232/EWG vom 14.5.1990, die RL 2000/26/EG vom 16.5.2000 und die RL 2005/14/EG vom 11.5.2005.448 Diese Richtlinien wurden durch die RL 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (kodifizierte Fassung) vom 16.9.2009 ersetzt. Erwägungsgrund 1 der RL 2009/103/EG verweist zur Begründung darauf, dass es sich aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit empfiehlt, die Richtlinien über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung zu kodifizieren. Die Richtlinie zielt auf einen Mindestschutz des Geschädigten ab. Nach Art. 28 Abs. 1 RL 2009/103/EG können die Mitgliedstaaten daher Bestimmungen beibehalten oder einführen, die für den Geschädigten günstiger sind.449 Die Kommission hat am 24.5.2018 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/103/EG vorgelegt.450 Auf einzelne Änderungsvorschläge wird nachfolgend im jeweiligen Kontext hingewiesen. Die Richtlinien sind in der Praxis von großer Bedeutung und haben den EuGH daher auch bereits häufig beschäftigt.451 Die meisten Entscheidungen beziehen sich zwar noch auf die älteren Richtlinien. Sie lassen sich jedoch im Allgemeinen auf die RL 2009/103/EG übertragen. Die nachfolgende Darstellung orientiert sich daher aus Gründen der Übersichtlichkeit an der RL 2009/103/EG. 2. Versicherungspflicht (Art. 3 RL 2009/103/EG) Ein vordringliches Anliegen der KH-Richtlinien ist die Einführung einer Pflicht-Haft- 235 pflichtversicherung für Kfz in allen Mitgliedstaaten. Art. 3 Abs. 1 RL 2009/103/EG sieht daher vor, dass jeder Mitgliedstaat alle geeigneten Maßnahmen zu treffen hat, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland 445 Internal Regulations (deutsch), Einleitung (4) (a), abgedruckt in Feyock/Jacobsen/Lemor, Texte XVIII. Die Internal Regulations haben das sog Londoner Abkommen ersetzt und sind seit dem 1.7.2003 in Kraft. Zu den Einzelheiten Lemor in Feyock/Jacobsen/Lemor, AuslUnf A., Rn. 21 ff., 27 ff. 446 Zur Funktionsweise Lemor in Feyock/Jacobsen/Lemor, AuslUnf A., Rn. 11 ff.; Bauer, Rn. 1044 ff.; Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 172; Looschelders NZV 1999, 57. 447 Vgl. Lemor in Feyock/Jacobsen/Lemor, AuslUnf A., Rn. 16; Heß/Höke in Beckmann/MatuscheBeckmann § 29 Rn. 349. 448 Zu den KH-Richtlinien vgl. Lemor in Feyock/Jacobsen/Lemor, Europa, Rn. 28 ff.; Riedmeyer in Halm/Engelbrecht/Krahe Kap. 6 Rn. 5 ff.; Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 173 ff.; BK/Roth, Europ. VersR, Rn. 122; speziell zur 4. KH-Richtlinie Looschelders NZV 1999, 57 ff.; Fuchs IPRax 2001, 425 ff.; Lemor NJW 2002, 3666 ff. 449 Vgl. BGHZ 208, 140 Rn. 29. 450 COM(2018) 336 final. 451 Vgl. den Überblick bei Riedmeyer/Bouwmann NJW 2015, 2614 ff.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht durch eine Versicherung gedeckt ist, die sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen hat. Die Mindestdeckungssummen sind in Art. 9 RL 2009/103/EG festgelegt. Für Personenschäden schreibt Art. 9 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a eine Mindestdeckung von 1.000.000 EUR je Unfallopfer und 5.000.000 EUR je Schadensfall, ungeachtet der Anzahl der Geschädigten vor; für Sachschäden sind nach Art. 9 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b ungeachtet der Anzahl der Geschädigten mindestens 1.000.000 EUR je Schadensfall erforderlich. Die Beträge werden nach Art. 9 Abs. 2 RL 2009/103/EG alle fünf Jahre ab dem 11.6.2005 überprüft und automatisch angepasst. a) Sachliche und personelle Reichweite des Versicherungsschutzes

236 Die vorgeschriebene Versicherungspflicht betrifft nach der deutschen Sprachfassung des Art. 3 Abs. 1 RL 2009/103/EG die „Haftpflicht bei Fahrzeugen“. Diese Formulierung ist allerdings verkürzt. Die englische Fassung spricht klarer von der zivilrechtlichen Haftung in Bezug auf die Verwendung von Fahrzeugen („civil liability in respect of the use of vehicles“).452 Der EuGH versteht den Begriff der „Verwendung“ in einem weiten Sinne als jede Verwendung des Fahrzeugs, die dessen gewöhnlicher Funktion als Beförderungsmittel entspricht.453 Der EuGH sieht auch das Parken und die Standzeit als „wesentlichen Bestandteil der Verwendung des Fahrzeugs als Beförderungsmittel“ an.454 Nicht erfasst wird dagegen der Fall, dass ein Traktor beim Eintritt des Unfalls nicht als Beförderungsmittel, sondern als Arbeitsmaschine eingesetzt wird, um die für den Betrieb der Pumpe einer Spritzvorrichtung für Pflanzenschutzmittel erforderliche Arbeitskraft zu erzeugen.455 Der Begriff der „Verwendung“ oder „Nutzung“eines Fahrzeugs ist nicht auf die Nutzung im Verkehr auf öffentlichen Straßen beschränkt; 456 die diesbezügliche Einschränkung der Versicherungspflicht in § 1 PflVG ist daher richtlinienwidrig.457 Ist ein Fahrzeug in einem Mitgliedstaat zugelassen und fahrbereit, so wird die Versicherungspflicht auch nicht dadurch infrage gestellt, dass es auf einem Privatgrundstück abgestellt wurde, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will.458 Nach dem Vorschlag der Kommission zur Änderung der Richtlinie 2009/103/EG soll diese Rechtsprechung aus Gründen der Rechtssicherheit durch Aufnahme einer neuen Ziff. 1 a in Art. 1 der Richtlinie kodifiziert werden.459 In personeller Hinsicht macht Art. 12 Abs. 1 RL 2009/103/EG deutlich, dass die Versicherung auch die Haftpflicht für Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers decken muss. Dahinter steht die Erwägung, dass die Fahrzeuginsassen eine „besonders stark gefährdete Kategorie potenzieller Geschädigter“ darstellen und daher besonders zu schützen sind.460 Erwägungsgrund 23 Satz 1 RL 2009/103/EG hebt hervor, dass die Einbeziehung aller Fahrzeuginsassen in den Versicherungsschutz ein wesentlicher Fortschritt des geltenden Rechts ist. Der Begriff des Fahrzeuginsassen ist in 452 Vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RL 2009/103/EG: Abdeckung der „Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers“. 453 EuGH 4.9.2014 – C-162/13, NJW 2014, 3631, Rn. 59 – Vnuk; EuGH 15.11.2018 – C-648/17, r+s 2019, 452, Rn. 34 – BTA Baltic Insurance Company; EuGH 20.6.2019 – C-100/18, VersR 2019, 1008, Rn. 36 – Línea Directa Aseguradora. 454 EuGH 20.6.2019 – C-100/18, VersR 2019, 1008, Rn. 41 – Línea Directa Aseguradora. 455 EuGH 28.11.2017 – C-514/16, VersR 2018, 156 – Andrade. 456 EuGH 4.9.2014 – C- 162/13, NJW 2014, 3631, Rn. 59 – Vnuk; 28.11.2017 – C-514/16, VersR 2018, 156, Rn. 34 – Andrade; 20.12.2017 – C-334/16, VersR 2018, 1319, Rn. 28 – Núñes Torreiro; C-100/18, VersR 2019, 1008, Rn. 35 – Línea Directa Aseguradora. 457 Vgl. Klimke in Prölss/Martin § 1 PflVG Rn. 5. 458 EuGH 4.9.2018 – C-80/17, VersR 2018, 1370 – Juliana; dazu Makowsky GPR 2019, 74 ff. 459 COM(2018) 336 final, 4 f. 460 Vgl. EuGH 9.4.2007 – C-356/05, Slg 2007, I-3067 Rn. 24 – Elaine Farell = NJW 2007, 2029 = VersRAI 2007, 33; vgl. dazu Looschelders GPR 2007, 273 (274).

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der RL 2009/103/EG nicht definiert. Der EuGH hat in dem Elaine Farrell-Urteil klargestellt, dass der Begriff des Fahrzeuginsassen autonom zu bestimmen ist. Als Fahrzeuginsassen seien hiernach auch Personen anzusehen, die in einem Teil eines Kraftfahrzeugs (konkret: Ladefläche eines Lieferwagens) mitfahren, der zu ihrer Beförderung weder bestimmt noch ausgerichtet ist.461 Die Rechtsstellung der Familienmitglieder des Versicherungsnehmers, des Fahrers oder an- 237 derer Personen, die bei einem Unfall haftbar gemacht werden können, ist in Art. 12 Abs. 2 RL 2009/103/EG in dem Sinne geregelt, dass die Betreffenden nicht aufgrund ihrer familiären Beziehungen von der Personenschadenversicherung ausgeschlossen werden dürfen. Erwägungsgrund 21 stellt klar, dass die Familienangehörigen jedenfalls bei Personenschäden einen vergleichbaren Schutz wie andere Geschädigte erhalten sollen. Dies stellt einen deutlichen Fortschritt gegenüber dem Straßburger Übereinkommen von 1959 dar, das es den Vertragsstaaten in Anhang I Art. 4 Abs. 1 lit. b und c noch erlaubt hatte, die Ehegatten und Familienangehörigen der versicherten Personen von Versicherungsleistungen auszuschließen. Bei Verkehrsunfällen mit Kfz bilden Fußgänger, Radfahrer und andere nicht motorisierte 238 Verkehrsteilnehmer einen besonders schutzwürdigen Kreis von Geschädigten. Art. 3 Abs. 3 RL 2009/103/EG sieht vor, dass die Kfz-Haftpflichtversicherung auch die Personen- und Sachschäden dieser Verkehrsteilnehmer zu decken hat.462 Voraussetzung ist aber, dass die Betreffenden nach dem anwendbaren einzelstaatlichen Zivilrecht einen Anspruch auf Schadensersatz aus einem Unfall haben. Schutzlücken bestehen daher in den Mitgliedstaaten, die für den Betrieb von Kfz keine generelle Gefährdungshaftung kennen (zB Belgien).463 Fehlt es an einem Verschulden des Fahrers, so kommen Fußgänger und Radfahrer aus unionsrechtlicher Sicht hier nicht in den Genuss des Versicherungsschutzes, weil ihnen nach dem anwendbaren einzelstaatlichen Zivilrecht kein Schadenersatzanspruch zusteht. In einigen Mitgliedstaaten sieht das autonome Recht zwar eine entsprechende Ausweitung des Versicherungsschutzes vor.464 Eine umfassende Lösung kann jedoch nur durch die unionsrechtliche Einführung einer verschuldenunabhängigen Haftung des Kfz-Halters für alle Unfallschäden verwirklicht werden. b) Unzulässigkeit von Ausschlüssen und Selbstbeteiligungsklauseln Art. 13 RL 2009/103/EG schreibt vor, dass bestimmte gesetzliche oder vertragliche Aus- 239 schlüsse vom Versicherungsschutz im Hinblick auf die Ansprüche des geschädigten Dritten für wirkungslos zu erachten sind. Dazu gehören insbesondere gesetzliche oder vertragliche Regelungen, nach denen ein Fahrzeuginsasse keinen Versicherungsschutz genießt, weil er wusste oder hätte wissen müssen, dass der Fahrer zum Zeitpunkt des Unfalls unter dem Einfluss von Alkohol oder einem anderen Rauschmittel stand (Art. 13 Abs. 3 RL 2009/103/EG).465 Erwägungsgrund 23 führt hierzu aus, dass das von der Richtlinie verfolgte Ziel einer Einbeziehung aller Fahrzeuginsassen in den Versicherungsschutz durch solche Ausschlusstatbestände in Frage gestellt würde, zumal die Fahrzeuginsassen im Allgemeinen nicht in der Lage seien, den Grad der Intoxikation des Fahrers einwandfrei zu 461 EuGH 9.4.2007 – C-356/05, Slg 2007, I-3067 Rn. 24 – Elaine Farell. 462 Vgl. dazu EuGH 4.9.2014 – C-162/13, NJW 2014, 3631, Rn. 55 – Vnuk; EuGH 14.9.2017 – C-503/16, NJW 2018, 139 Rn. 39 – Delgado Mendes. 463 Zum belgischen Haftungsrecht vgl. v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. I, Rn. 112 ff. 464 So für Personenschäden von Fußgängern und Radfahrern das belgische Recht (Art. 29 belg. Haftpflichtversicherungsgesetz von 1989); vgl. v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. II, Rn. 369. 465 Vgl. zu dieser Konstellation schon EuGH 28.3.1996 – C-129/94, Slg 1996, I-1829 – Ruiz Bernáldez = EuZW 1996, 735 = VersRAI 1997, 17 (Ls.); EuGH 30.6.2005 – C-537/03, Slg 2005, I-5745 – Candolin = EuZW 2005, 593 = VersRAI 2006, 34; eingehend Looschelders VersR 2008, 1 (3).

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beurteilen. Im deutschen Recht werden die Fälle der Mitfahrt bei einem erkennbar alkoholisierten Fahrer mithilfe des § 254 BGB gelöst; der Geschädigte muss also ggf. eine Anspruchskürzung hinnehmen.466 Nach der Rechtsprechung des EuGH sind solche materiellrechtlichen Lösungen mit dem Unionsrecht vereinbar, weil die KH-Richtlinien nicht auf die Harmonisierung des Haftungsrechts in den Mitgliedstaaten abzielen.467 So hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass die KH-Richtlinien nationalen Rechtsvorschriften über die Haftpflicht nicht entgegenstehen, nach denen der Anspruch eines Unfallopfers auf eine Entschädigung im Rahmen der Haftpflichtversicherung des an dem Unfall beteiligten Kfz auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung des ausschließlichen oder anteiligen Beitrags des Opfers zu seinem Schaden ausgeschlossen oder begrenzt werden kann.468 Dem nationalen Gesetzgeber steht es auch frei, die Haftung bei einem von keinem Beteiligten verschuldeten Zusammenstoß zweier Fahrzeuge entsprechend dem Anteil aufzuteilen, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben, und bei Zweifeln in dieser Hinsicht festzulegen, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben.469 Führt eine nationale Haftpflichtregelung dazu, dass dem allein für den Unfall verantwortlichen Fahrzeugführer kein Anspruch auf Ersatz seines durch den Tod seiner mitfahrenden Ehefrau entstandenen Vermögensschadens zusteht, so ist dies ebenfalls allein eine Frage des anwendbaren Haftpflichtrechts; ein Verstoß gegen die KHRichtlinien liegt daher nicht vor.470 240 Nach Art. 17 RL 2009/103/EG können sich Versicherungsunternehmen bei der nach Art. 3 RL 2009/113/EG vorgeschriebenen Haftpflichtversicherung gegenüber Unfallgeschädigten auch nicht auf Selbstbeteiligungen berufen. Eine entsprechende Einschränkung des Versicherungsschutzes gegenüber dem Versicherungsnehmer selbst ist aber zulässig. 241 Nach deutschem Recht steht dem Geschädigten auch dann kein Anspruch auf Versicherungsleistungen gegen den Haftpflichtversicherer des schädigenden Kfz zu, wenn der Schädiger den Schaden vorsätzlich herbeigeführt hat (vgl. § 115 Abs. 1 S. 2 iVm § 117 Abs. 3 VVG).471 Dieser Ausschluss verstößt nicht gegen das Straßburger Übereinkommen von 1959, weil die Bundesrepublik Deutschland von einem entsprechenden Vorbehalt in Anhang II Nr. 3 des Übereinkommens Gebrauch gemacht hat.472 Der BGH hat die Zulässigkeit des Vorsatzausschluss in neuerer Zeit auch im Hinblick auf die KH-Richtlinien mit dem Argument bejaht, dass diese nicht zur Unwirksamkeit des von der Bundesrepublik Deutschland zuvor in zulässiger Weise erklärten Ausschlusses des Versicherungsschutzes für vorsätzlich verursachte Schäden führen würden.473 Die Richtlinienkonformität bleibt

466 Grundlegend BGH 14.3.1961 – VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355 (360 ff.); ausführlich dazu Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 443 ff. 467 Vgl. EuGH 9.4.2007 – C-356/05, Slg 2007, I-3067 Rn. 35 – Elaine Farell – m. Aufs. Looschelders GPR 2007, 273 ff.; EuGH 17.3.2011 – C-484/09, NJW 2011, 2633, Rn. 38 ff. – Carvalho Ferreira Santos; EuGH 23.10.2012 – C-300/10, BeckRS 2012, 82187, Rn. 34 ff. – Marques Almeida; EuGH 7.9.2017 – C-516/16, BeckRS 2017, 123569, Rn. 28 ff. – Neto de Sousa – m. Aufs. Looschelders GPR 2018, 299. 468 EuGH 9.6.2011 – C-409/09, VersRAI 2012, 2 – Ambròsio Lavrador und Olival Ferreira Bonifácio. 469 EuGH 17.3.2011 – C-484/09, NJW 2011, 2633 – Carvalho Ferreira Santos = VersRAI 2011, 34. 470 EuGH 7.9.2017 – C-506/16, BeckRS 2017, 123569, Rn. 33 ff. – Neto de Sousa. 471 Vgl. BGH 15.12.1970 – VI ZR 97/69, NJW 1971, 459 = VersR 1971, 239; OLG Düsseldorf 28.2.2003 – 14 U 167/02, VersR 2003, 1248; W.-T. Schneider in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 117 Rn. 32; Klimke in Prölss/Martin § 117 Rn. 22; Schwartze in Looschelders/Pohlmann § 117 Rn. 17; Looschelders VersR 2008, 1 (2). 472 Vgl. BGH 18.12.2012 – VI ZR 55/12, NJW 2013, 1163, Rn. 17; OLG Koblenz 12.8.2002 – 12 U 823/01, ZfS 2003, 68 (69); Heitmann VersR 1997, 941; Looschelders VersR 2008, 1 (3). 473 BGH 18.12.2012 – VI ZR 55/12, NJW 2013, 1163, Rn. 17.

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gleichwohl zweifelhaft.474 Die vorsätzliche Verursachung des Schadens gehört zwar nicht zu den Deckungsausschlüssen, die von der Richtlinie ausdrücklich verboten werden. Der Ausschluss vorsätzlich verursachter Schäden könnte aber dem Ziel der Richtlinie widersprechen, einen angemessenen Versicherungsschutz des Geschädigten bei Verkehrsunfällen zu gewährleisten. Der EuGH hat zu dieser Frage noch nicht Stellung genommen. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Delgado Mendes475 betrifft zwar den Versicherungsschutz für einen vorsätzlich herbeigeführten Verkehrsunfall. Da das vorlegende Gericht klargestellt hatte, dass der Versicherer nach dem anwendbaren – portugiesischen – Recht verpflichtet ist, Schäden aus dem vorsätzlichen Herbeiführen zu decken, musste der EuGH auf diesen Aspekt jedoch nicht näher eingehen. Im deutschen Recht wird die Problematik dadurch entschärft, dass dem Geschädigten in den Vorsatzfällen ein Anspruch gegen den Entschädigungsfonds zusteht (§ 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 PflVG). 476 Die Notwendigkeit für die Einräumung eines solchen Anspruchs ergibt sich dabei zumindest nicht unmittelbar aus Art. 10 RL 2009/103/EG. Denn danach muss die Entschädigungsstelle nur solche Schäden abdecken, die durch ein nicht versichertes oder nicht ermitteltes Fahrzeug verursacht werden. Art. 9 des Straßburger Übereinkommens von 1959 sieht demgegenüber allerdings vor, dass die Entschädigungsstelle auch dann eingreifen soll, wenn ein nach Anhang II des Übereinkommens zulässiger Versicherungsausschluss vorliegt. Ob eine solche Gestaltung mit dem Unionsrecht vereinbar ist, muss aber letztlich der EuGH entscheiden. c) Entschädigungsstelle Die Haftpflichtversicherung hilft dem Unfallopfer nicht weiter, wenn das schädigende 242 Fahrzeug nicht versichert war oder nicht zu ermitteln ist. Art. 10 RL 2009/113/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten deshalb zur Einrichtung einer Stelle, die für Sach- und Personenschäden, welche durch ein nicht ermitteltes oder nicht versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen der Versicherungspflicht Ersatz zu leisten hat. Eine solche Verpflichtung zur Einrichtung eines Entschädigungsfonds hatte schon Art. 9 des Straßburger Übereinkommens von 1959 begründet. Der Vorschlag der Kommission zur Änderung der RL 2009/103/EG sieht vor, die Deckungspflicht der Entschädigungsstelle auf den Fall zu erstrecken, dass der Kfz-Haftplfichtversicherer zahlungsunfähig ist.477 In Deutschland werden die Aufgaben des Entschädigungsfonds von einem rechtsfähigen Verein („Verkehrsopferhilfe eV“)478 wahrgenommen. Die einschlägigen gesetzlichen Regelungen finden sich in §§ 12 ff. PflVG. Den Mitgliedstaaten steht es nach Art. 10 Abs. 1 UAbs. 2 RL 2009/113/EG frei, Bestimmungen zu erlassen, durch die der Rückgriff der Entschädigungsstelle „auf den oder die für den Unfall Verantwortlichen sowie auf andere Versicherer oder Einrichtungen der sozialen Sicherheit … geregelt wird“. Bei welchen Personen die Entschädigungsstelle Regress nehmen kann, ist unionsrechtlich nicht vorgegeben. Hierfür ist vielmehr allein das Recht des jeweiligen Mitgliedstaats maßgeblich. Die Mitgliedstaaten können daher auch vorsehen, dass die Entschädigungsstelle nicht nur bei dem oder den für den Unfall Verantwortlichen Regress nehmen kann, son-

474 Klimke in Prölss/Martin § 117 Rn. 22; Heitmann VersR 1997, 941; Koch in FS Schwintowski, S. 99 ff.; Looschelders GPR 2007, 273 (275); ders. VersR 2008, 1 (3); ders. VersR 2015, 1491 (1493); Franck VersR 2014, 13 ff. 475 EuGH 14.9.2017 – C-503/16, NJW 2018, 139 – Delgado Mendes. 476 Vgl. PK/Huber § 117 Rn. 12; Looschelders VersR 2015, 1491 (1493). 477 Vgl. Begründung COM(2018) 336 final, 2. 478 Vgl. Elvers in Feyock/Jacobsen/Lemor § 12 PflVG Rn. 1.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht dern auch bei der Person, welche die Pflicht zum Abschluss der Haftpflichtversicherung verletzt hat, ohne für den Unfall verantwortlich zu sein.479 3. Direktanspruch des Geschädigten gegen den Versicherer

243 Ein zentrales Mittel zur Stärkung der Stellung des Geschädigten bei Straßenverkehrsunfällen ist die Einführung eines Direktanspruchs gegen den Versicherer des schädigenden Kfz. Die Einführung eines solchen Direktanspruchs war schon im Straßburger Übereinkommen von 1959 vorgesehen (vgl. Anhang I Art. 6 Abs. 1). Auf der unionsrechtlichen Ebene wurde der Direktanspruch durch Art. 3 iVm Art. 1 RL 2000/26/EG zunächst nur für Unfälle eingeführt, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat des Geschädigten ereignet hatten.480 Art. 4 d RL 2005/14/EG hat den Direktanspruch dann „zur Erleichterung einer effizienten und raschen Regulierung von Schadensfällen und zur weitestmöglichen Vermeidung kostenaufwändiger Rechtsverfahren … auf die Opfer aller Kraftfahrzeugunfälle ausgedehnt“.481 Die entsprechende Regelung findet sich jetzt in Art. 18 RL 2009/103/EG. 4. Regulierung von Auslandsunfällen (Art. 20 ff. RL) 244 Besondere praktische Probleme ergeben sich bei der Regulierung von Unfällen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzstaat des Geschädigten ereignet haben. Die 4. KH-Richtlinie (RL 2000/26/EG) hat hierfür ein besonders Instrumentarium eingeführt, um die außergerichtliche Schadensregulierung zu verbessern.482 Die einschlägigen Regelungen finden sich nun in Art. 20–26 RL 2009/103/EG. Schwerpunkt ist die Einführung von Schadensregulierungsbeauftragten. Nach Art. 21 RL 2009/103/EG hat jeder KfzHaftpflichtversicherer in allen anderen Mitgliedstaaten einen Schadensregulierungsbeauftragten zu benennen, der für die Bearbeitung und Regulierung der Unfälle im Wohnsitzstaat des Geschädigten zuständig ist. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgabe in § 163 VAG umgesetzt. Art. 21 Abs. 6 RL 2009/103/EG stellt klar, dass der Schadensregulierungsbeauftragte nicht als Niederlassung im Sinne der VO (EG) Nr. 44/2001 gilt. Dem Geschädigten wird also kein zusätzlicher Gerichtsstand am Sitz des Schadensregulierungsbeauftragten gemäß Art. 5 Nr. 5 VO (EG) Nr. 44/2001 (jetzt: Art. 7 Nr. 5 VO (EU) Nr. 1215/2012) eröffnet.483 245 Art. 23 RL 2009/103/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Schaffung oder Anerkennung von Auskunftsstellen, die es dem Geschädigten im Einzelfall ermöglichen sollen, das zuständige Versicherungsunternehmen und dessen Anschrift zu ermitteln. Hat das Versicherungsunternehmen oder sein Schadensregulierungsbeauftragter binnen drei Monaten nach der Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs keine mit Gründen versehene Antwort auf die im Schadensersatzantrag enthaltenen Darlegungen erteilt, so kann der Geschädigte den Schadensersatzantrag gem. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a RL 2009/103/EG an die Entschädigungsstelle im Wohnsitzmitgliedstaat richten. Das Gleiche gilt nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 lit. b RL 2009/103/EG für den Fall, dass das Versicherungsunternehmen im Wohnsitzmitgliedstaat des Geschädigten keinen Schadensregulierungsbeauftragten benannt hat. Nach Art. 25 RL 2009/103/EG kann der Geschädigte sich schließlich

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EuGH 4.9.2018 – C-80/17, VersR 2018, 1370 – Juliana (zu Art. 1 Abs. 4 RL 84/5/EWG). Vgl. dazu Looschelders NZV 1999, 57 (59 f.). Erwägungsgrund 21 Satz 3 RL 2005/14/EG. Zu den Einzelheiten Looschelders NZV 1999, 57 ff. Vgl. Kropholler/von Hein Art. 8 EuGVO Rn. 3; Rauscher/Staudinger Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 11 a; Looschelders NZV 1999, 57 (60); ders. IPRax 2018, 360 (363); Riedmeyer in FS G. Müller, S. 473, 482.

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auch dann an die Entschädigungsstelle in seinem Wohnsitzmitgliedstaat halten, wenn das Fahrzeug nicht oder das Versicherungsunternehmen nicht binnen zwei Monaten nach dem Unfall zu ermitteln ist. Der Geschädigte kann seinen Schadensersatzanspruch auch gerichtlich gegen die Entschädigungsstelle geltend machen. Voraussetzung ist jedoch, dass die außergerichtlichen Verhandlungen mit der Entschädigungsstelle erfolglos geblieben sind.484 Die Bundesrepublik Deutschland hat die Vorgaben des Art. 23 RL 2009/103/EG in § 12 a PflVG umgesetzt. Zuständig ist ebenfalls der Verein „Verkehrsopferhilfe eV“ (§ 13 a PflVG).485 Das Verhältnis von Ansprüchen gegen das Behandelnde Büro nach dem Grüne-Karte-System und Ansprüchen gegen die Entschädigungsstelle nach den KH-Richtlinien kann im Einzelfall zweifelhaft sein.486 Im Ausgangspunkt muss hier danach unterschieden werden, ob es sich für den Geschädigten um einen Inlandsunfall mit Beteiligung eines ausländischen Kfz (Grüne Karte-System) oder um einen Auslandsunfall (KH-Richtlinien) handelt. 5. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht a) Klägergerichtsstand für Direktklage des Geschädigten Die gerichtliche Zuständigkeit für die Direktklage des Geschädigten gegen den Versicherer 246 richtet sich seit dem 10.1.2015 nach der Brüssel Ia-VO vom 12.12.2012 (VO [EU] Nr. 1215/2012). Vorher war die die Brüssel I-VO vom 22.12.2000 (VO [EG] Nr. 44/2001) anwendbar. Konkret einschlägig ist Art. 13 Abs. 2 Brüssel Ia-VO (Art. 11 Abs. 2 Brüssel IVO), der auf die besonderen Zuständigkeiten für Versicherungssachen nach Art. 10, 11 und 12 Brüssel Ia-VO (Art. 8, 9 und 10 Brüssel I-VO) verweist. Ob der Geschädigte den Versicherer aufgrund dieser Verweisung entsprechend Art. 9 Abs. 1 lit. b Brüssel I-VO auch an seinem eigenen Wohnsitz – also am Wohnsitz des Geschädigten – verklagen kann, war zunächst unklar und in der Literatur sehr umstritten.487 Mit Art. 5 Nr. 1 RL 2005/14/EG hat der europäische Gesetzgeber dann in die RL 2000/26/EG einen neuen Erwägungsgrund 16 a eingefügt, aus dem sich ergibt, dass der Geschädigte nach Art. 11 Abs. 2 iVm Art. 9 Abs. 1 lit. b VO (EG) Nr. 44/2001/EG berechtigt ist, den Haftpflichtversicherer in dem Mitgliedstaat zu verklagen, in dem er (der Geschädigte) seinen Wohnsitz hat. Das Gleiche ergibt sich nunmehr aus Erwägungsgrund 32 RL 2009/103/EG. Der EuGH hat dieses Verständnis auf Vorlage durch den BGH488 mit Urteil vom 13.12.2007 bestätigt.489 Das Inkrafttreten der Brüssel Ia-VO hat hieran nichts geändert.490 Bei der Direktklage gegen den Versicherer steht dem Geschädigten somit ein eigener Klägergerichtsstand zu. Das Gleiche gilt für die Erben eines Verkehrsunfallopfers491 sowie für den Arbeitgeber, der das Entgelt an den verletzten Arbeitnehmer fortgezahlt hat und in dessen

484 EuGH 17.1.2013 – C-541/11, BeckRS 2013, 80259 – Grilc; dazu Riedmeyer/Bouwmann NJW 2015, 2614 (2619); Riedmeyer in Looschelders/Michael (Hrsg.), 8. Düsseldorfer Verkehrsrechtsforum, S. 41 (52 f.). 485 Riedmeyer in Looschelders/Michael (Hrsg.), 8. Düsseldorfer Verkehrsrechtsforum, S. 41 (50 ff.). 486 Vgl. hierzu Looschelders IPRax 2018, 360 ff.; Schwarz in Looschelders/Michael (Hrsg.), 8. Düsseldorfer Verkehrsrechtsforum, S. 35 ff. 487 Zum Meinungsstand vgl. Looschelders VersR 2005, 1722 mwN. 488 BGH 26.9.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 mAnm Staudinger = VersR 2006, 1677 = IPRax 2007, 324 m. Aufsatz Fuchs IPRax 2007, 302 ff. 489 EuGH 13.12.2007 – C-463/06, Slg 2007, I-11321 – FBTO/Jack Odenbreit = NJW 2008, 819 mAnm Leible = VersR 2008/111 mAnm Thiede/Ludwichowska; näher dazu Looschelders ZZPInt. 12 (2007), 247 ff. 490 EuGH 31.1.2018 – C-106/17, VersR 2018, 1020, Rn. 36 – Hofsoe; Rauscher/Staudinger Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6 a. 491 EuGH 17.9.2009 – C-347/08, Slg 2009, I-8663 – Vorarlberger Gebietskrankenkasse = EuZW 2009, 855 = VersR 2009, 1512 Rn. 44.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht Schadensersatzansprüche eingetreten ist.492 Demgegenüber ist der Sozialversicherungsträger des Geschädigten nicht berechtigt, den im Wege der Legalzession auf ihn übergegangenen Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer vor den Gerichten im Staat seiner eigenen Niederlassung geltend zu machen.493 Da der Soizialversicherungsträger nicht zu den durch Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO geschützten schwächeren Parteien gehört, greift allerdings auch die Sperrwirkung des Art. 10 Brüssel Ia-VO nicht ein.494 Der Sozialversicherer kann die Direktklage gegen den Versicherer daher nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO (Art. 5 Nr. 3 Brüssel I-VO) vor dem Gericht am Ort des schädigenden Ereignisses erheben495 oder den Versicherer nach Art. 8 Nr. 2 Brüssel Ia-VO (Art. 6 Nr. 2 Brüssel I-VO) vor dem Gericht des Hauptprozesses verklagen.496 Einer natürlichen Person, deren gewerbliche Tätigkeit in der Geltendmachung abgetretener Ansprüche aus Verkehrsunfällen gegen Versicherer besteht, kommt der Klägergerichtsstand nach Art. 13 Abs. 2 Brüssel Ia-VO ebenfalls nicht zugute.497 b) Rom II-VO und Haager Übereinkommen über Straßenverkehrsunfälle

247 Das auf die Haftung im Straßenverkehr anwendbare Recht ergibt sich aus Sicht der deutschen Gerichte aus der VO (EG) Nr. 864/2007 vom 11.7.2007 (sog Rom II-VO). Nach der Tatortregel des Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist im Allgemeinen das Recht am Unfallort maßgeblich.498 Bei den im Verkehrsunfallrecht seltenen Distanzdelikten (Divergenz von Handlungs- und Erfolgsort)499 kommt es allein auf den Erfolgsort an.500 Hatten der Ersatzpflichtige und der Geschädigte zur Zeit des Unfalls ihren gewöhnlichen Aufenthalt im selben Staat, so ist nach dem vorrangigen Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO das Recht am gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt anwendbar. Praktische Bedeutung hat dies vor allem für die nicht seltenen Auslandsunfälle, bei denen sowohl der Ersatzpflichtige als auch der Geschädigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat; hier führt Art. 4 Abs. 2 Rom IIVO zur Anwendbarkeit des deutschen Haftungsrechts.501 Demgegenüber wird die Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO zugunsten einer offensichtlich engeren Verbindung mit einem anderen Staat bei Straßenverkehrsunfällen in der Praxis eher selten relevant. Eine gewisse Bedeutung mag hier noch der Fall haben, dass die engere Verbindung durch einen Beförderungsvertrag oder ein Mitfahrverhältnis konstituiert wird.502 Eine nach Art. 14 Rom II-VO wirksame Rechtswahl geht in allen Fällen vor.503

492 EuGH 20.7.2017 – C-340/16, VersR 2017, 1481 – MMA IARD. 493 EuGH 17.9.2009 – C-347/08, Slg 2009, I-8663 – Vorarlberger Gebietskrankenkasse = EuZW 2009, 855 = VersR 2009, 1512; Kropholler/von Hein Vor Art. 8 EuGVO Rn. 7; Rauscher/Staudinger Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6 e; Lüttringhaus VersR 2010, 183 ff. 494 EuGH 21.1.2016 – C-521/14, DAR 2016, 79 – SOVAG – mAnm Staudinger. 495 Österr. OGH 19.1.2012 – 2 Ob 210/11 p, JBl. 2012, 382 mAnm Garber = IPRax 2013, 364 m. Aufs. Looschelders IPRax 2013, 370; Looschelders in FS Fenyves, S. 633, 646 ff.; für Anwendbarkeit von Art. 13 Abs. 2 iVm Art. 12 Satz 1 Brüssel Ia-VO (Art. 11 Abs. 2 iVm Art. 10 S. 1 Brüssel I-VO) Rauscher/Staudinger Art. 13 Brüssel Ia-VO, Rn. 6 f. mit Verweis auf den Vorrang der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO. Diese Auffassung beruht jedoch auf der Prämisse, dass die Sperrwirkung des Art. 10 Brüssel Ia-VO (Art. 8 Brüssel I-VO) gilt. 496 EuGH 21.1.2016 – C-521/14, DAR 2016, 79, Rn. 30 f. – SOVAG – mAnm Staudinger. 497 EuGH 31.1.2018 – C-106/17, VersR 2018, 1020 Rn. 41 ff. – Hofsoe; näher dazu Tereszkiewicz GPR 2018, 280 ff.; Nordmeier NZW 2018, 567 ff.; vgl. auch Fendt VersR 2012, 34 (35). 498 Vgl. MüKo-BGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 96. 499 Zur Problemstellung vgl. auf der Grundlage von Art. 40 EGBGB Looschelders VersR 1999, 1316 f. 500 Palandt/Thorn Art. 4 Rom II-VO Rn. 1; NK-BGB/Lehmann Art. 4 Rom II-VO Rn. 75, 77. 501 Zu dieser Konstellation MüKo-BGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 95. 502 Vgl. BeckOK-BGB/Spickhoff Art. 4 VO (EG) 864/2007 Rn. 20; MüKo-BGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 97; zur parallelen Vorschrift des Art. 41 EGBGB Looschelders VersR 1999, 1316 (1320). 503 Zum Vorrang der Rechtswahl Palandt/Thorn Art. 4 Rom II-VO Rn. 4.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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Für den Direktanspruch des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer des Ersatz- 248 pflichtigen enthält Art. 18 Rom II-VO eine Sonderregelung. Der Direktanspruch kann danach schon dann geltend gemacht werden, wenn dies nach dem Deliktsstatut oder dem für den Versicherungsvertrag maßgeblichen Recht vorgesehen ist. Es handelt sich dabei um eine Alternativanknüpfung, die den Geschädigten begünstigen soll.504 Da alle EU-Staaten aufgrund der 4. KH-Richtlinie einen Direktanspruch eingeführt haben, beschränkt sich die praktische Bedeutung dieser Alternativanknüpfung allerdings auf Verkehrsunfälle in Drittstaaten.505 Für die Haftung bei Unfällen im Straßenverkehr hat die Rom II-VO indessen nicht zu 249 einer EU-weiten Vereinheitlichung des IPR geführt, weil fast die Hälfte der EU-Staaten (ua Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Polen, Spanien und Tschechien) Vertragsstaaten des Haager Straßenverkehrsunfall-Übereinkommens (HStrÜ) vom 4.5.1971 sind.506 Die Rom II-VO lässt die Anwendung solcher internationalen Übereinkommen nach Art. 28 unberührt. In den betreffenden Staaten wird das auf Unfälle im Straßenverkehr anwendbare Recht damit nach dem Haager Übereinkommen bestimmt.507 In den übrigen EU-Staaten ist die Rom II-VO dagegen nach ihrem Art. 3 auch im Verhältnis zu diesen Staaten anwendbar.508 Das Problem des „forum shopping“ bleibt insoweit also weiter ungelöst.509

VI. Internationales Versicherungsvertragsrecht nach der Rom I-VO Das internationale Schuldvertragsrecht ist durch die VO (EG) Nr. 593/2008 (Rom I-VO) 250 für alle ab dem 17.12.2009510 geschlossenen Schuldverträge vereinheitlicht worden. Die Rom I-VO gilt auch für Versicherungsverträge unter Einschluss der Rückversicherung.511 Nicht erfasst sind nach Art. 2 Abs. 1 lit. j Rom I-VO allerdings bestimmte Versicherungsverträge im Zusammenhang mit der betrieblichen Altersversorgung. Der Ausschlusstatbestand gilt allerdings nicht für Versicherungsverträge, die mit einer in Art. 2 RL 2002/83/EG genannten Einrichtung – insbesondere einem Lebensversicherungsunternehmen – geschlossen werden.512 1. Historische Entwicklung Vor Inkrafttreten der Rom I-VO gab es für das Internationale Versicherungsvertragsrecht 251 in der EU keine einheitliche Rechtsquelle. Vielmehr war zwischen Direktversicherungsverträgen über innerhalb der EU bzw. des EWR belegene Risiken und Direktversicherungs504 Vgl. EuGH 9.9.2015 – C-240/14, NJW 2016, 385, Rn. 37 ff. – Prüller-Frey; NK-BGB/Nordmeier Art. 18 Rom II-VO Rn. 1; MüKo-BGB/Junker Art. 18 Rom II-VO Rn. 1; Looschelders in FS Danzl, S. 603 (619). 505 Palandt/Thorn Art. 18 Rom II-VO Rn. 3; MüKo-BGB/Junker Art. 18 Rom II-VO Rn. 4; NK-BGB/ Nordmeier Art. 18 Rom II-VO Rn. 27. Für die Unanwendbarkeit des Art. 18 Rom II-VO auf die Direktansprüche eines Sozialversicherungsträgers des Geschädigten nach einer cessio legis MüKo-BGB/ Junker Art. 18 Rom II-VO Rn. 7; Lüttringhaus VersR 2010, 183 (188 ff.). 506 Näher dazu MüKo-BGB/Junker Art. 28 Rom II-VO Rn. 17 ff. 507 Zu den damit verbundenen Divergenzen bei der Anknüpfung des Direktanspruchs gegen den Versicherer vgl. Looschelders in FS Danzl, S. 603 (612 ff.). 508 Zum Verhältnis zwischen Rom II-VO und HStrÜ Staudinger in FS Kropholler, S. 691 ff. 509 Krit. BeckOK-BGB/Spickhoff Art. 4 VO (EG) 864/2007 Rn. 19; Palandt/Thorn Art. 4 Rom II-VO Rn. 18. 510 Zum zeitlichen Anwendungsbereich vgl. Art. 28 Rom I-VO. 511 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 5 f.; Schäfer in Looschelders/Pohlmann, Anh. EGVVG, Rn. 53; Roth in Beckmann/Matusche-Beckmann § 4 Rn. 2; speziell zur Rückversicherung Looschelders in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 67; ders. VersR 2012, 1 (7 ff.) 512 Zu den Einzelheiten MüKo-BGB/Martiny Art. 1 Rom I-VO Rn. 78.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

verträgen über außerhalb der EU bzw. des EWR belegene Risiken sowie Rückversicherungsverträgen zu unterscheiden.513 Die Anknüpfung von Direktversicherungsverträgen über Risiken innerhalb der EU bzw. des EWR richtete sich nach den Art. 7–15 EGVVG aF. Diese dienten der Umsetzung der Versicherungs-Richtlinien514 und stellten dem Grundsatz nach auf den Ort des belegenen Risikos ab; die Rechtswahlmöglichkeiten waren bei Massenrisiken sehr begrenzt.515 Für Direktversicherungsverträge über außerhalb der EU bzw. des EWR belegene Risiken sowie Rückversicherungsverträge waren dagegen die auf dem Römischen EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 19.6.1980 (EVÜ) beruhenden Vorschriften der Art. 27 ff. EGBGB aF maßgeblich, die der Rechtswahlfreiheit der Parteien weiten Raum ließen.516 252 Die unterschiedliche Reichweite der Rechtswahlfreiheit nach den Versicherungsrichtlinien und dem Römischen Schuldvertragsübereinkommen erklärt sich im Wesentlichen mit den unterschiedlichen aufsichtsrechtlichen Schutzstandards.517 Im Bereich der EU und des EWR zwangen die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit die nationalen Gesetzgeber dazu, den aufsichtsrechtlichen Schutz des Versicherungsnehmers deutlich einzuschränken. Die damit verbundenen Schutzlücken sollten durch die Restriktion der Rechtswahlfreiheit bei Massenrisiken kompensiert werden. In Bezug auf Versicherungsunternehmen aus Drittstaaten blieb es dagegen bei einer strengen aufsichtsrechtlichen Kontrolle (vgl. §§ 105 ff. VAG); daher erschien hier keine so weitreichende Einschränkung der Rechtswahlfreiheit erforderlich. Bei Rückversicherungsverträgen stellen sich von vornherein keine entsprechenden Fragen, weil keine Partei als besonders schutzbedürftig anzusehen ist. 253 Das Nebeneinander zweier unterschiedlicher Rechtsmaterien für die Anknüpfung von Versicherungsverträgen mit Auslandsberührung ist in der Literatur auf berechtigte Kritik gestoßen.518 Beanstandet wurde insbesondere die übermäßige Komplexität der Regelungen. Bei den Arbeiten an der Rom I-VO hat der europäische Gesetzgeber gleichwohl zunächst dazu tendiert, Direktversicherungsverträge über Risiken innerhalb der EU vom Anwendungsbereich der Verordnung auszunehmen und es insoweit weiter mit der Anwendbarkeit des IPR der Versicherungsrichtlinien bewenden zu lassen.519 Er hat sich letztlich aber doch dafür entschieden, das gesamte internationale Versicherungsvertragsrecht in der Rom I-VO zu regeln. Inhaltlich ist es freilich im Wesentlichen bei der hergebrachten Spaltung geblieben. Der für Versicherungsverträge maßgebliche Art. 7 Rom I-VO unterscheidet bei Direktversicherungsverträgen über Massenrisiken nämlich weiter danach, ob das versicherte Risiko in einem Mitgliedstaat der EU (unter Einschluss von Dänemark; zum Begriff des Mitgliedstaats s. → Rn. 256 ff.) oder in einem Drittstaat belegen ist. Für Direktversicherungsverträge über Massenrisiken innerhalb der EU enthält Art. 7 Rom I-VO Sonderregelungen, die den bisherigen Regelungen im Wesentlichen entsprechen; dies gilt

513 Zu dieser Differenzierung Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 13; ders. in FS E. Lorenz, S. 441, 454 ff.; NK-BGB/Leible Art. 7 Rom I-VO Rn. 1; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG, Rn. 226. 514 Zum Umsetzungsprozess BK/Dörner Vorbem. Art. 7 EGVVG Rn. 13 ff.; Schäfer in Looschelders/ Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 4 ff.; zum IPR der Versicherungs-Richtlinien Woopen EuZW 2007, 495 (497 f.). 515 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR Rn. 18 ff.; ders. IPR Art. 37 EGBGB Rn. 23 ff. 516 Vgl. E. Lorenz in FS Kegel, S. 303 ff. 517 Zu diesem Zusammenhang Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 222 ff.; Gruber, S. 7 ff. 518 Zur Kritik vgl. Basedow/Scherpe in FS Heldrich, S. 511, 517; Heiss ZVersWiss 2007, 503 (506 ff.); Looschelders in FS E. Lorenz, S. 441, 455. 519 So noch der Kommissionsentwurf, KOM(2005), 650 endg.; krit. Heiss ZVersWiss 2007, 503 ff.; Staudinger in Ferrari/Leible, S. 225 ff.; zusammenfassend MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 2.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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insbesondere für die weitgehende Einschränkung der Rechtswahlfreiheit. Für Direktversicherungsverträge über Massenrisiken außerhalb der EU gelten dagegen die allgemeinen Regeln der Art. 3–6 Rom I-VO,520 die der Rechtswahlfreiheit – ebenso wie das EVÜ – einen viel weiteren Raum lassen. Ein gewisser Fortschritt besteht darin, dass Art. 7 Rom I-VO Direktversicherungsverträge 254 über Großrisiken iSd RL 73/239/EWG (dazu → Rn. 154 f.) ohne Rücksicht auf die Belegenheit des Risikos erfasst. Nach Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 Rom I-VO gilt hier der Grundsatz der Rechtswahlfreiheit. Dies beruht darauf, dass der Versicherungsnehmer bei Verträgen über Großrisiken aufgrund seiner geschäftlichen Erfahrung mit Versicherungen auch in kollisionsrechtlicher Hinsicht keines besonderen Schutzes bedarf.521 Rückversicherungsverträge sind dagegen nicht in die Sonderregeln des Art. 7 Rom I-VO einbezogen (Art. 7 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO). Insoweit gelten also die allgemeinen Anknüpfungsregeln der Art. 3 ff. Rom I-VO.522 Die uneinheitliche Ausgestaltung der Anknüpfungsregeln bei Massenrisiken nach der Be- 255 legenheit des Risikos kann nicht überzeugen.523 Denn die Schutzbedürftigkeit des Versicherungsnehmers hängt trotz der unterschiedlichen aufsichtsrechtlichen Regelungen für Versicherer aus EU-Staaten und aus Drittstaaten nicht vom Lageort des versicherten Risikos ab. Beim Erlass der Rom I-VO war dem europäischen Gesetzgeber offenbar selbst bewusst, dass er für das Kollisionsrecht der Versicherungsverträge noch keine befriedigende Lösung entwickelt hat. Art. 27 Abs. 1 lit. a Rom I-VO sieht deshalb vor, dass die Kommission dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss bis spätestens 17.6.2013 einen Bericht über die Anwendung der Rom I-VO vorzulegen hat, der ua eine Untersuchung über das auf Versicherungsverträge anzuwendende Recht und eine Abschätzung der Folgen etwaiger einzuführender Bestimmungen enthalten muss.524 Die geltende Regelung des Art. 7 Rom I-VO erscheint insofern als bloßer Zwischenschritt für eine einheitliche und stimmige Regelung des Internationalen Versicherungsvertragsrechts. Der Bericht wurde bislang allerdings noch nicht vorgelegt.525 2. Begriff des Mitgliedstaats in Art. 7 Rom I-VO Wegen der differenzierenden Anknüpfung bei Versicherungsverträgen über Massenrisiken 256 stellt sich zunächst die Frage, was unter einem Mitgliedstaat zu verstehen ist. Nach Art. 1 Abs. 4 S. 1 Rom I-VO bezeichnet der Begriff „Mitgliedstaat“ grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten der EU, auf welche die Verordnung anwendbar ist. Dies trifft auf Dänemark nicht zu (vgl. Erwägungsgrund 46). Art. 1 Abs. 4 S. 2 Rom I-VO sieht aber vor, dass der Begriff „Mitgliedstaat“ in Art. 7 Rom I-VO sämtliche Mitgliedstaaten der EU umfasst.

520 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 120; MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 28; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 63, 159; Staudinger/Armbrüster BGB Vorbem. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 13; Perner IPRax 2009, 218 (220); Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (8); anders nur Fricke VersR 2008, 443 (448), der insoweit von einem Redaktionsversehen ausgeht. 521 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 64; BK/Dörner Art. 10 EGVVG Rn. 9. 522 Vgl. MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 17 ff.; Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 5 ff.; PWW/Ehling Art. 7 Rom I-VO Rn. 17; Palandt/Thorn Art. 7 Rom I-VO Rn. 3; Looschelders in Langheid/ Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 39; ders. VersR 2012, 1 (7); ders. in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 67; Lagarde/Tenenbaum Rev. crit. DIP 97 (2008), 727 (764, 767); Lando/Nielsen CML Rev. 45 (2008), 1687 (1711); Armbrüster in FS v. Hoffmann, S. 23, 32. 523 Sehr krit. dazu auch Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 57; Roth in Beckmann/MatuscheBeckmann § 4 Rn. 25; Heiss in FS Kropholler, S. 459 ff.; Magnus IPRax 2010, 27 (39). 524 Vgl. MüKo-BGB/Martiny Art. 27 Rom I-VO Rn. 4; Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (10). 525 BeckOGK/Kindler Rom I-VO Art. 27 Rn. 5.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

257 Problematisch erscheint, dass die anderen EWR-Staaten (Island, Liechtenstein und Norwegen) nach dieser Definition nicht zu den Mitgliedstaaten iSd Art. 7 Rom I-VO gehören. Auf Versicherungsverträge über Massenrisiken in einem anderen EWR-Staat wären damit die allgemeinen Anknüpfungsregeln der Art. 3–6 Rom I-VO anwendbar.526 Da die für die Differenzierung maßgeblichen Versicherungs-Richtlinien auch in den EWR-Staaten gelten, die keine Mitgliedstaaten der EU sind, lässt sich eine Einordnung dieser Staaten als Drittstaaten bei Art. 7 Rom I-VO sachlich jedoch nicht rechtfertigen. Hinzu kommt, dass eine Differenzierung zwischen den EU-Staaten und den sonstigen EWR-Staaten mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 4 EWR-Abkommen unvereinbar erscheint.527 Im Rahmen des Art. 7 Rom I-VO lässt sich die Differenzierung auch nicht damit rechtfertigen, dass die sonstigen EWR-Staaten keine Mitgliedstaaten der Rom I-VO sind. Denn die Gleichbehandlung von Dänemark mit den Mitgliedstaaten der Rom I-VO zeigt, dass es nach Sinn und Zweck des Art. 7 Rom I-VO allein auf die Geltung der Versicherungs-Richtlinien in dem betreffenden Staat ankommt. Es erscheint daher geboten, die sonstigen Mitgliedstaaten des EWR bei der Anwendung des Art. 7 Rom I-VO wie Mitgliedstaaten zu behandeln.528 Die Argumente für die Gleichstellung der anderen EWR-Staaten im Rahmen des Art. 7 Rom I-VO werden dadurch verstärkt, dass der Gemeinsame EWR-Ausschuss die Solvency II-Richtlinie mit Beschluss vom 1.7.2011529 in den Anhang IX (Finanzdienstleistungen) des EWR-Abkommens übernommen hat. Art. 178 der Solvency II-Richtlinie wird dabei durch Art. 1 Nr. 3 lit. g des Beschlusses dahin gehend konkretisiert, dass er der Vorschrift des Art. 7 Rom I-VO entspricht. Die anderen EWR-Staaten sind damit verpflichtet, entsprechende Umsetzungsgesetze zu erlassen. In Bezug auf die von Art. 7 Rom I-VO erfassten Versicherungsverträge bestehen damit in allen EWR-Staaten einheitliche Kollisionsregeln.530 258 Für die Zukunft ergibt sich die Lösung aus Art. 178 RL 2009/138/EG. Die Vorschrift verpflichtet die Mitgliedstaaten, die nicht der Rom I-VO unterliegen, die Bestimmungen der Verordnung gleichwohl anzuwenden, um das für die von Art. 7 Rom I-VO erfassten Versicherungsverträge maßgebliche Recht zu ermitteln. Da es sich bei der RL 2009/138/EG um einen Text mit Bedeutung für den EWR handelt, ist damit zu rechnen, dass die Richtlinie durch den Gemeinsamen EWR-Ausschuss verabschiedet wird, so dass es auf diesem Wege zu einer Vereinheitlichung des Kollisionsrechts für Versicherungsverträge über Großrisiken und die innerhalb des gesamten EWR belegenen Massenrisiken kommt.531 Die Sonderstellung von Versicherungsverträgen über Risiken in Drittstaaten wird hierdurch allerdings weiter vertieft, weil die betreffenden EWR-Staaten insoweit ihr eigenes Kollisionsrecht anwenden werden. 3. Bestimmung der Risikobelegenheit nach Art. 7 Abs. 6 Rom I-VO 259 Für die Bestimmung der Risikobelegenheit verweist Art. 7 Abs. 6 Rom I-VO auf Art. 2 lit. d RL 88/357/EWG (Zweite Richtlinie Schaden) und Art. 1 Abs. 1 lit. g RL 2002/83/EG (Gesamtrichtlinie Leben). Art. 310 RL 2009/138/EG sieht vor, dass diese Verweisung mit 526 Vgl. MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 16. 527 So auch Heiss in FS Kropholler, S. 459, 463; Armbrüster in FS v. Hoffmann, S. 23, 24. 528 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 40; Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Art. 7 Rom I-VO Rn. 3; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 51 f., 67; Heiss in FS Kropholler, S. 459, 463; Armbrüster in FS v. Hoffmann, S. 23, 24; einschränkend MüKo-BGB/ Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 16. 529 Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 78/2011 vom 1.7.2011 zur Änderung von Anhang IX (Finanzdienstleistungen) des EWR-Abkommens, ABl. L 262 v. 6.10.2011, 45. 530 Vgl. Dörner in Bruck/Möller Art. 7 Rom I-VO Rn. 3; Looschelders in Kronke/Melis/Kuhn Teil C. Rn. 208; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 52. 531 Näher dazu Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 51, 67.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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der Aufhebung der RL 88/357/EWG und der RL 2002/83/EG am 1.11.2012 durch eine Verweisung auf die entsprechenden Regelungen in Art. 13 Nr. 13 und 14 RL 2009/138/EG ersetzt wird. Inhaltlich werden sich hierdurch jedoch keine Änderungen ergeben.532 a) Nichtlebensversicherung Für den Bereich der Nichtlebensversicherung differenziert Art. 2 lit. d RL 88/357/EWG 260 (Art. 13 Nr. 13 RL 2009/138/EG) nach dem Gegenstand des Versicherungsvertrages. Betrifft die Versicherung ein Gebäude, so ist das Risiko nach Spiegelstrich 1 in dem Mitgliedstaat zu verorten, in dem das Gebäude belegen ist. Das Gleiche gilt für die Versicherung der in dem Gebäude befindlichen Sachen, sofern sie durch die gleiche Police erfolgt. Diese Voraussetzung trifft auf die Versicherung von Inventar im Regelfall zu, nicht aber auf die Hausratversicherung.533 Entgegen dem Wortlaut der deutschen Fassung gilt die Regelung des Art. 2 lit. d Spiegelstr. 1 RL 88/357/EWG nicht nur für die Versicherung von Gebäuden, sondern von allen unbeweglichen Sachen.534 Erfasst wird also auch die Haftpflichtversicherung des Eigentümers in Bezug auf ein unbebautes Grundstück. Die französische Fassung verwendet insoweit präziser den Begriff „immeubles“.535 Die Risikobelegenheit in Bezug auf die Versicherung von zugelassenen Fahrzeugen aller 261 Art ist in Art. 2 lit. d Spiegelstr. 2 RL 88/357/EWG geregelt. Die Vorschrift stellt auf den Mitgliedstaat ab, in dem die Zulassung erfolgt ist. Die Versicherung von Reise- und Ferienrisiken über höchstens vier Monate unterliegt nach Spiegelstrich 3 dem Recht des Mitgliedstaates, in dem der Versicherungsnehmer den Vertrag geschlossen hat.536 Bei allen übrigen Nichtlebensversicherungen greift die Auffangregel des Art. 2 lit. d Spie- 262 gelstr. 4 RL 88/357/EWG ein. Das Risiko ist danach in dem Mitgliedstaat belegen, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Handelt es sich um eine juristische Person, so kommt es stattdessen darauf an, in welchem Mitgliedstaat die Niederlassung des Versicherungsnehmers liegt, auf die der Vertrag sich bezieht. Das Gleiche gilt für Personengesellschaften und sonstige Personenvereinigungen, sofern sie die Stellung eines Versicherungsnehmers haben können. Der Begriff der „juristischen Person“ soll nämlich alle Versicherungsnehmer erfassen, die keine natürlichen Personen sind.537 Bei Einzelkaufleuten und anderen Einzelunternehmern scheidet eine Einordnung als juristische Person aus. Berücksichtigt man bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts die Wertung des Art. 19 Abs. 2 Rom I-VO, so kann man bei gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Personen aber ebenfalls an die maßgebliche Niederlassung anknüpfen.538

532 So auch Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Vorbem. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 15. 533 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 44; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG, Rn. 143; Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Vorbem. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 18. 534 Vgl. Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Vorbem. zu Art. 7 Rom I-VO, Rn. 16. 535 Ausführlich dazu Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 141 f. 536 Zur Lokalisierung des Vornahmeortes Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 49; Staudinger/Armbrüster BGB Neubearb. 2016, Vorbem. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 21. 537 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 57; Staudinger/Armbrüster BGB Neubearb. 2016, Vorbem. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 24; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 156; MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I VO Rn. 53; Basedow/Drasch NJW 1991, 885 (788). 538 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 58; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 155; MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 53; aA Rauscher/Wendt Art. 7 Rom IVO Rn. 55.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht b) Lebensversicherung

263 Für die Belegenheit des Risikos bei der Lebensversicherung verweist Art. 7 Abs. 6 Rom IVO auf den Staat der Verpflichtung iSd Art. 1 Abs. 1 lit. g RL 2002/83/EG (Art. 13 Nr. 14 RL 2009/138/EG). Anknüpfungspunkt ist hiernach wiederum der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers bzw. bei juristischen Personen die Niederlassung des Versicherungsnehmers, auf die der Vertrag sich bezieht. Die Anknüpfung entspricht also der Auffangregel für die Nichtlebensversicherung in Art. 2 lit. d Spiegelstr. 4 RL 88/357/EWG. c) Zusammenfassung 264 Die Vorschriften zur Bestimmung der Risikobelegenheit tragen dem Umstand Rechnung, dass das versicherte Risiko nicht bei allen Versicherungen am gleichen Ort lokalisiert werden kann.539 Auf der anderen Seite ergibt sich aber doch ein klarer Vorrang des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts bzw. der Niederlassung des Versicherungsnehmers. Diese Anknüpfung ist nicht nur bei der Lebensversicherung, sondern über die Auffangregel des Art. 2 lit. d Spiegelstr. 4 RL 88/357/EWG auch bei den meisten Nichtlebensversicherungen maßgeblich. Hinzu kommt, dass die Sonderanknüpfungen des Art. 2 lit. d Spiegelstr. 1–3 RL 88/357/EWG im Regelfall ebenfalls zum Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts bzw. der Niederlassung des Versicherungsnehmers führen. Denn dort wird meist das versicherte Gebäude oder Grundstück liegen; dort wird im Allgemeinen auch das versicherte Fahrzeug zugelassen oder die Reiseversicherung abgeschlossen worden sein. 4. Versicherungsverträge über Großrisiken 265 Bei Versicherungsverträgen über Großrisiken kommt es nicht auf die Belegenheit des Risikos an. Die Anknüpfung wird vielmehr generell durch den Grundsatz der Rechtswahlfreiheit (Art. 3 Rom I-VO) beherrscht (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 Rom I-VO).540 Bei Fehlen einer Rechtswahl unterliegt der Versicherungsvertrag nach Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 Rom I-VO grundsätzlich dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherers. Dies entspricht der Anknüpfung von Dienstleistungsverträgen an den gewöhnlichen Aufenthalt des Dienstleisters nach Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO. Der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherers bestimmt sich nach Art. 19 Rom I-VO. Für Gesellschaften, Vereine und juristische Personen ergibt sich aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Rom I-VO, dass der gewöhnliche Aufenthalt der Ort ihrer Hauptniederlassung ist. Wird der Vertrag im Rahmen des Betriebs einer Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung des Versicherers geschlossen, so ist nach Art. 19 Abs. 2 Rom I-VO auf den Ort der betreffenden Niederlassung abzustellen. 266 Nach der Ausweichklausel des Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 Rom I-VO ist das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherers nicht anzuwenden, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Vertrag eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen Staat aufweist; in diesem Fall gilt das Recht des betreffenden anderen Staates. Das Merkmal „offensichtlich“ macht deutlich, dass es sich um eine Ausnahmevorschrift handelt, die aus Gründen der Rechtssicherheit eng auszulegen ist. Dass der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat hat, kann daher auch dann nicht ausreichen, wenn das versicherte Risiko in demselben anderen Staat belegen ist. Da gewöhnlicher Aufenthalt und Risikobelegenheit regelmäßig zusammenfallen, würde die 539 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 42; Basedow/Drasch NJW 1991, 785 (787). 540 Zu den Einzelheiten Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 11; Roth in Beckmann/Matusche-Beckmann § 4 Rn. 32 ff.; MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 21 ff.; Armbrüster in FS v. Hoffmann, S. 23, 29 f.; Bělolávek, Bd. 1, Rn. 07.56 ff.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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Regelanknüpfung des Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 Rom I-VO sonst weitgehend entwertet.541 Der europäische Gesetzgeber hat sich bei der objektiven Anknüpfung von Versicherungsverträgen über Großrisiken dafür entschieden, die Anknüpfungsinteressen des Versicherers in den Vordergrund zu stellen. Diese Wertentscheidung darf nicht durch einen extensiven Rückgriff auf die Ausweichklausel des Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 Rom I-VO unterlaufen werden. 5. Direktversicherungsverträge über Massenrisiken innerhalb der EU a) Objektive Anknüpfung Bei Versicherungsverträgen über Massenrisiken innerhalb der EU steht die objektive An- 267 knüpfung im Vordergrund. Nach Art. 7 Abs. 3 UAbs. 3 Rom I-VO ist bei Fehlen einer Rechtswahl das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich, in dem das versicherte Risiko zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses belegen ist. Eine Rechtswahl ist nach Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 Rom I-VO nur in engen Grenzen möglich. Dahinter steht das Bestreben, den Versicherungsnehmer bei Versicherungsverträgen über Massenrisiken vor einer für ihn ungünstigen Rechtwahl zu schützen.542 Insbesondere will der europäische Gesetzgeber sicherstellen, dass die Rechtswahl nicht zu einer Rechtsordnung führen kann, zu welcher der Sachverhalt – namentlich der Versicherungsnehmer – keine Verbindung hat.543 b) Begrenzte Rechtswahlfreiheit Zu den nach Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 Rom I-VO wählbaren Rechtsordnungen gehören das 268 Recht am Ort der Risikobelegenheit in einem Mitgliedstaat (lit. a) und das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers (lit. b). Beide Wahlmöglichkeiten haben keine große praktische Bedeutung, weil das Recht am Ort der Risikobelegenheit schon kraft objektiver Anknüpfung maßgeblich ist und der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers in den meisten Fällen mit dem Ort der Risikobelegenheit übereinstimmt.544 Betrifft der Versicherungsvertrag mehrere Risiken, die in verschiedenen Mitgliedstaaten belegen sind, so ermöglicht Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 lit. a Rom I-VO es den Parteien nicht, den gesamten Vertrag dem Recht eines Mitgliedstaates zu unterstellen, in dem eines der versicherten Risiken belegen ist.545 Eine solche Rechtswahlmöglichkeit würde nämlich entgegen dem Schutzzweck der begrenzten Rechtswahlmöglichkeiten dazu führen, dass die Parteien den Vertrag im Hinblick auf ein bestimmtes Einzelrisiko einem Recht unterstellen könnten, zu dem das betreffende Risiko keine (objektive) Verbindung aufweist. Davon abgesehen lässt Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 lit. e Rom I-VO eine entsprechende Rechtswahl nur für den Fall zu, dass der Versicherungsnehmer eine gewerbliche oder industrielle Tätigkeit ausübt oder freiberuflich tätig ist. Diese zusätzliche Voraussetzung darf nicht über UAbs. 1 lit. a unterlaufen werden.

541 Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Art. 7 Rom I-VO Rn. 9; Looschelders in Langheid/ Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 67; Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (4); weitergehend Rauscher/ Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 12; MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 23; Fricke VersR 2008, 443 (447). 542 Vgl. Erwägungsgrund 32; ferner MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 25; Bělohlávek, Bd. 1, Rn. 07.62. 543 Vgl. PWW/Ehling Art. 7 Rom I-VO Rn. 10; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 70. 544 Vgl. Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Art. 7 Rom I-VO Rn. 12; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 71 f.; Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 17. 545 Staudinger/Armbrüster BGB Art. 7 Rom I-VO Rn. 11; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 74; Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (5); Heiss in FS Kropholler, S. 461, 466.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

269 Bei Lebensversicherungen gibt Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 lit. c Rom I-VO den Parteien darüber hinaus die Möglichkeit, das Recht des Mitgliedstaates zu wählen, dem der Versicherungsnehmer angehört. Bei Doppel- oder Mehrstaatern kann jede Staatsangehörigkeit gewählt werden. Erforderlich ist aber, dass es sich um einen Mitgliedstaat handelt. Die Wahl eines drittstaatlichen Rechts ist nach lit. c nicht möglich.546 Der europäische Gesetzgeber will damit gewährleisten, dass der Versicherungsnehmer bei Risikobelegenheit innerhalb der EU trotz Rechtswahl in jedem Fall durch ein mitgliedstaatliches Recht geschützt bleibt.547 Da die Versicherungs-Richtlinien auch in den sonstigen EWR-Staaten gelten, muss die Rechtswahlmöglichkeit aber auf die betreffenden Rechtsordnungen erstreckt werden.548 270 Bei bestimmten Versicherungen ist denkbar, dass die Risiken sich auf Schadensfälle beschränken, die nicht im Mitgliedstaat der Risikobelegenheit, sondern nur in einem anderen Mitgliedstaat eintreten können. Ein Beispiel ist die Produkthaftpflichtversicherung für inländische Produkte, die ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat vertrieben werden. Für solche Fälle erlaubt Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 lit. d Rom I-VO den Parteien, das Recht dieses Mitgliedstaates zu wählen. Dahinter steht der Gedanke, dass der Sachverhalt eine ausreichende Beziehung zu dem betreffenden Mitgliedstaat aufweist und die Rechtswahl wegen des Gleichlaufs mit dem anwendbaren Deliktsrecht die Abwicklung erleichtert.549 271 Deckt der Versicherungsvertrag mehrere Risiken ab, die in verschiedenen Mitgliedstaaten belegen sind, so kann der Versicherungsnehmer ein berechtigtes Interesse an der Geltung eines einheitlichen Rechts für alle Versicherungsverträge haben. Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 lit. e Rom I-VO trägt diesem Interesse durch eine entsprechende Rechtswahlmöglichkeit Rechnung. Voraussetzung ist aber, dass der Versicherungsnehmer eine gewerbliche, industrielle oder freiberufliche Tätigkeit ausübt und die versicherten Risiken mit dieser Tätigkeit in einem Zusammenhang stehen. In diesem Fall lässt sich die erweiterte Rechtswahlmöglichkeit damit rechtfertigen, dass der Versicherungsnehmer in geringerem Maße als ein Verbraucher vor einer nachteiligen Rechtswahl geschützt werden muss.550 272 Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 Rom I-VO erlaubt den Parteien, von einer erweiterten Rechtswahlmöglichkeit Gebrauch zu machen, die in den Fällen nach den Buchstaben a, b oder e von den betreffenden Mitgliedstaaten eingeräumt wird. Die Vorschrift enthält einerseits eine Ermächtigung an die Mitgliedstaaten, den Parteien eine größere Rechtswahlfreiheit einzuräumen; andererseits werden die jeweils anderen Mitgliedstaaten verpflichtet, die entsprechenden Regelungen anzuerkennen.551 Der deutsche Gesetzgeber hat hiervon keinen Gebrauch gemacht. So wurden auch die vor dem 17.12.2009 vorgesehenen Ausweitungen der Rechtswahlfreiheit für die Korrespondenzversicherung (Art. 9 Abs. 4 EGVVG aF) und die Versicherung mehrerer Risiken bei gewerblicher oder beruflicher Tätigkeit (Art. 10 Abs. 2 EGVVG aF) aufgegeben.552 Dies ist mit Blick auf die von der Rom I-VO angestrebte Rechtsvereinheitlichung zu begrüßen.553 Auf der anderen Seite wird die Rechtswahlfreiheit damit aber noch stärker eingeschränkt.554

546 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 78; Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (5 f.) 547 Vgl. BK/Dörner Art. 9 EGVVG Rn. 49. 548 Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (6). 549 Staudinger/Armbrüster BGB Art. 7 Rom I-VO, Rn. 14. 550 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 85; Fricke VersR 2008, 443 (448). 551 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 96; Perner IPRax 2009, 218 (221). 552 Staudinger/Armbrüster BGB Neubearb. 2016, Art. 7 Rom I-VO Rn. 16. 553 Vgl. Nordmeier in Gebauer/Wiedmann Kap. 37 Rn. 81; Leible/Lehmann RIW 2008, 528 (539). 554 Vgl. Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (7); Armbrüster in FS v. Hoffmann, S. 23, 32.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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c) Pflichtversicherung Art. 7 Abs. 4 Rom I-VO enthält ergänzende Sonderregeln für Versicherungsverträge über 273 Risiken, für die ein Mitgliedstaat eine Pflichtversicherung vorschreibt. Nach Art. 7 Abs. 4 lit. a Rom I-VO genügt der Versicherungsvertrag nur dann der Versicherungspflicht, wenn er den besonderen Bestimmungen entspricht, die von dem die Versicherungspflicht anordnenden Mitgliedstaat vorgeschrieben sind. Im Konfliktfall geht das Recht des die Versicherungspflicht anordnenden Mitgliedstaats dem Recht des Mitgliedstaats der Risikobelegenheit vor. Nach Art. 7 Abs. 4 lit. b Rom I-VO kann ein Mitgliedstaat darüber hinaus vorschreiben, dass der Versicherungsvertrag nicht dem nach Abs. 2 und 3 an sich anwendbaren Recht, sondern dem Recht des die Versicherungspflicht vorschreibenden Mitgliedstaats unterliegt. Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Ermächtigung in Art. 46 d EGBGB (bis 30.6.2018: Art. 46 c EGBGB aF) Gebrauch gemacht. Die Anwendbarkeit des Rechts eines die Versicherungspflicht anordnenden ausländischen Staates wird dabei allerdings auf den Fall beschränkt, dass der betreffende Staat die Anwendung seines Rechts selbst vorschreibt (Art. 46 d Abs. 1 EGBGB).555 Ergibt sich aus dem deutschen Recht eine Versicherungspflicht, so unterliegt der Versicherungsvertrag nach Art. 46 d Abs. 2 EGBGB dem deutschen Recht.556 Die Sonderregeln des Art. 7 Abs. 4 Rom I-VO tragen dem berechtigten Interesse des die 274 Versicherungspflicht anordnenden Mitgliedstaats Rechnung, dass die entsprechenden Verträge den Anforderungen seines Rechts genügen bzw. seinem Recht unterliegen sollen. Auf drittstaatliche Versicherungspflichten ist Art. 7 Abs. 4 Rom I-VO nicht anwendbar. Eine Analogie ist grundsätzlich ebenfalls ausgeschlossen. Eine Ausnahme gilt nur für Versicherungspflichten, die von einem EWR-Staat angeordnet sind, der kein Mitgliedstaat der EU ist. Eine Diskriminierung ist auch insoweit unzulässig.557 Art. 46 d EGBGB bezieht daher zu Recht Versicherungspflichten aus allen EWR-Staaten ausdrücklich in den Anwendungsbereich ein. 6. Direktversicherungsverträge über Massenrisiken außerhalb der EU a) Rechtswahlfreiheit Für Direktversicherungsverträge über Massenrisiken, die außerhalb der EU bzw. des 275 EWR belegen sind, gelten die allgemeinen Anknüpfungsregeln der Art. 3, 4 und 6 Rom IVO.558 Die Parteien genießen damit nach Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO Rechtswahlfreiheit. Anders als bei Massenrisiken innerhalb der EU (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 Rom I-VO) können sie auch die Anwendbarkeit eines Rechts vereinbaren, zu dem der Vertrag keine objektiven Verbindungen aufweist. Die Einschränkungen der Rechtswahlfreiheit bei reinen Inlandsoder Binnenmarktfällen (Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I-VO) können hier keine praktische Bedeutung gewinnen, weil die Verbindung zum Recht eines Drittstaates in jedem Fall durch die Belegenheit des versicherten Risikos hergestellt wird. b) Objektive Anknüpfung Bei Fehlen einer Rechtswahl unterliegen Versicherungsverträge über Massenrisiken außer- 276 halb der EU dem Recht des Staates, in dem der Versicherer seinen gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 19 Rom I-VO) hat. Dies ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO. Die Vor555 Vgl. MüKo-BGB/Martiny Art. 46 d EGBGB Rn. 4 ff.; NK-BGB/Leible Art. 7 Rom I-VO Rn. 62; Dörner in Bruck/Möller Begr.9, Art. 46 c EGBGB, Rn. 10; Nordmeier in Gebauer/Wiedmann Kap. 37 Rn. 83; Armbrüster in FS v. Hoffmann, S. 23, 34. 556 Näher dazu Böttger VersR 2012, 156 (161); Katschthaler/Leichsenring r+s 2010, 45 (50). 557 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 109 f. 558 Vgl. MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 13, 28.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

schrift ist anwendbar, weil Versicherungsverträge als Dienstleistungsverträge zu qualifizieren sind.559 Erwägungsgrund 17 Rom I-VO stellt hierzu nämlich ausdrücklich klar, dass der Begriff „Erbringung von Dienstleistungen“ in gleicher Weise wie bei Art. 5 VO (EG) Nr. 44/2001 (sog Brüssel I-VO) auszulegen ist. Dort werden Dienstleistungsverträge aber allgemein als Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen qualifiziert.560 277 Nach der Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO kommt eine Durchbrechung der Regelanknüpfung in Betracht, wenn der Vertrag nach der Gesamtheit der Umstände eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen Staat hat. Bei der Anwendung der Ausweichklausel ist nach allgemeinen Grundsätzen große Zurückhaltung geboten. Bei Versicherungsverträgen kommt hinzu, dass der europäische Gesetzgeber sich entschieden hat, die Anknüpfung an den Ort der Risikobelegenheit nach Art. 7 Abs. 3 UAbs. 3 Rom IVO auf Versicherungsverträge über Massenrisiken innerhalb der EU zu beschränken und im Übrigen die allgemeinen Anknüpfungsregeln für maßgeblich zu erklären. Eine generelle Durchbrechung des Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO zugunsten des Rechts am Ort der Risikobelegenheit wäre hiermit unvereinbar.561 De lege ferenda erscheint es aber sachgemäß, die Anknüpfung von Versicherungsverträgen über Massenrisiken dahin gehend zu vereinheitlichen, dass das Recht am Ort der Risikobelegenheit generell anwendbar ist. c) Schutz des Versicherungsnehmers als Verbraucher 278 Ist der Versicherungsnehmer Verbraucher, so kommt ihm der kollisionsrechtliche Schutz durch Art. 6 Rom I-VO zugute.562 Nach Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO unterliegt der Vertrag dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Verbrauchers, sofern der Unternehmer – hier also der Versicherer – seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit in diesem Staat ausübt oder auf diesen Staat bzw. auf mehrere Staaten einschließlich dieses Staats ausrichtet.563 Die Parteien können zwar eine Rechtswahl treffen; nach Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO darf der Verbraucher hierdurch aber nicht den Schutz durch die zwingenden Vorschriften des Rechts an seinem gewöhnlichen Aufenthalt verlieren. Aus rechtspolitischer Sicht kann diese Lösung nicht überzeugen. Der Günstigkeitsvergleich zwischen zwei Rechtsordnungen ist bei Versicherungsverträgen unpraktikabel, weil die Versicherung als „Rechtsprodukt“ auf eine bestimmte Rechtsordnung zugeschnitten werden muss.564

559 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 152; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 179 ff.; Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Anh. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 6; MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 28; Dörner in Bruck/Möller Art. 4 Rom I-VO Rn. 5; Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (8); aA Fricke VersR 2008, 443 (452 f.). 560 Vgl. Kropholler/von Hein EuGVVO Art. 5 Rn. 44. 561 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 154 f.; Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 182 ff.; Roth in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 177 f.; Mankowski IHR 2008, 133 (137); Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (8); aA Fricke VersR 2008, 443 (452). 562 MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 28; Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Anh. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 5; Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 30 ff.; Looschelders in Langheid/ Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 134; Leible/Lehmann RIW 2008, 528 (539); Böttger VersR 2012, 156 (157 ff.); aA Bělohlávek, Bd. 1, Rn. 07.71 unter Berufung auf Erwägungsgrund 32. Der dort angesprochene Ausschluss von Art. 6 Rom I-VO für Versicherungsverträge setzt jedoch die Anwendbarkeit des Art. 7 Rom I-VO voraus. 563 Zu den räumlich-situativen Voraussetzungen des Art. 6 Rom I-VO vgl. Staudinger/Magnus BGB, Neubearb. 2016, Art. 6 Rom I-VO Rn. 102 ff.; MüKo-BGB/Martiny Art. 6 Rom I-VO Rn. 38 ff.; Dörner in Bruck/Möller Art. 6 Rom I VO, Rn. 5 ff.; Nordmeier in Gebauer/Wiedmann Kap. 37 Rn. 75; Böttger VersR 2012, 156 (158 f.). 564 Vgl. Basedow/Scherpe in FS Heldrich, S. 511, 524; Looschelders in FS E. Lorenz, S. 441, 459; Looschelders/Smarowos VersR 2010, 1 (9); Roth in FS E. Lorenz, S. 631 (651 ff.); Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 31; ders. VersR 2008, 443 (451 f.); aA Rühl in FS v. Hoffmann, S. 364, 375.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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7. Anknüpfung von Rückversicherungsverträgen a) Rechtswahl Rückversicherungsverträge sind nach Art. 7 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO vom Anwendungsbe- 279 reich der Sonderregeln für Versicherungsverträge ausgeschlossen und unterliegen daher unabhängig von der Risikobelegenheit den allgemeinen Anknüpfungsregeln der Art. 3 ff. Rom I-VO. Nach Art. 3 Rom I-VO gilt der Grundsatz der Rechtswahlfreiheit. Da Rückversicherungsverträge nicht notwendig Verbindungen zu anderen Staaten bzw. Drittstaaten aufweisen, können die Einschränkungen der Rechtswahlfreiheit für reine Inlandsfälle (Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO) und reine Binnenmarktfälle (Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO) Bedeutung gewinnen. Dagegen können Rückversicherungsverträge per se nicht als Verbraucherverträge angesehen werden, so dass ein Rückgriff auf Art. 6 Rom I-VO in diesem Bereich von vornherein ausgeschlossen ist.565 b) Objektive Anknüpfung Welches Recht bei Fehlen einer Rechtswahl auf Rückversicherungsverträge anwendbar ist, 280 wird in Deutschland und in den anderen europäischen Staaten seit langem kontrovers diskutiert. Vor Inkrafttreten der Rom I-VO wurde in Deutschland und in den meisten anderen kontinentaleuropäischen Staaten überwiegend auf den Sitz des Erstversicherers abgestellt.566 Für diese Auffassung spricht, dass der Erstversicherer die Gefahrengemeinschaft organisiert und das Geschäftsführungsrecht ausübt. Außerdem vermeidet die Anknüpfung an den Sitz des Erstversicherers das Problem der Statutenspaltung, das bei einer Anknüpfung an den Sitz des Rückversicherers auftritt, wenn mehrere Rückversicherer die Deckung übernehmen. Auf der Grundlage der Rom I-VO führt die objektive Anknüpfung nach Art. 4 Abs. 1 lit. b 281 zum Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Rückversicherers.567 In der deutschen Literatur wird zwar teilweise unter Hinweis auf die Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom IVO für eine generelle Durchbrechung der Regelanknüpfung bei Rückversicherungsverträgen zugunsten des Rechts am Sitz des Erstversicherers plädiert.568 Dem ist aber entgegenzuhalten, dass Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO nur im Einzelfall aufgrund einer umfassenden Würdigung der Umstände herangezogen werden darf.569 Dies führt freilich zu Rechtsunsicherheit, die nur durch Rechtswahl vermieden werden kann.570 In der Praxis wird das Problem dadurch entschärft, dass die meisten Rückversicherungsverträge eine Rechts565 Vgl. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd.3, IntVersR, Rn. 148; ders. VersR 2012, 1 (7). 566 Grundlegend E. Prölss, Zwischenstaatliches Rückversicherungsrecht, 1942, S. 36 ff.; dem folgend v. Hoffmann in Soergel, Bd. 10, Art. 28 EGBGB Rn. 144; Looschelders IPR Art. 28 EGBGB Rn. 52; E. Lorenz in FS Kegel, S. 303, 327 f.; ebenso im französischen Recht Dubuisson in Mélanges Dalcq, S. 111 (131 ff.); aA Deutsch/Iversen, Rn. 131; Mankowski VersR 2001, 1177 ff. Zur abweichenden Sichtweise des englischen Rechts Merkin J. PIL 5 (2009), 69 (74). 567 Palandt/Thorn Art. 7 Rom I-VO Rn. 3; PWW/Brödermann/Wegen Anh. zu Art. 4 Rom I-VO Rn. 64; PK-VVG/Pisani Art. 4 Rom I-VO Rn. 3; Nordmeier in Gebauer/Wiedmann Kap. 37 Rn. 77; Katschthaler/Leichsenring r+s 2010, 45 (48 f.); Leible/Lehmann RIW 2008, 529 (539); Magnus IPRax 2010, 27 (39); Perner IPRax 2009, 218 (220); Bělohlávek, Bd. 1, Rn. 07.77; aus englischer Sicht Dicey/Morris/Collins, Rn. 33R-232; Merkin J. PIL 5 (2009), 69 (74); aus spanischer Sicht Calvo Caravaca/Carascosa Gonzáles, Bd. 2, S. 632; für teleologische Reduktion des Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Anh. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 8. 568 So etwa MüKo-BGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 19; Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 7; ders. VersR 2008, 443 (446). 569 So Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 159; ders. in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 121; ders. VersR 2012, 1 (8); Schäfer in Looschelders/Pohlmann Anh. EGVVG Rn. 186; Roth in Beckmann/Matusche-Beckmann § 4 Rn. 28. 570 Vgl. Looschelders in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 126; ders. Vers R 2012, 1 (8); Dubuisson in Mélanges Dalcq, S. 111 (133).

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht wahlklausel enthalten. Außerdem findet sich zumeist eine Schiedsgerichtsklausel. Bei Schiedsverfahren ist die Rom I-VO zumindest nicht unmittelbar anwendbar.571 So kann das anwendbare Recht bei Schiedsverfahren nach der ZPO gem. § 1051 Abs. 2 ZPO generell auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung nach dem Grundsatz der engsten Verbindung bestimmt werden; diese Abwägung dürfte im Regelfall zu der traditionellen Anknüpfung an den Sitz des Erstversicherers führen.572 Bei der Überprüfung des internationalen Versicherungsvertragsrechts der Rom I-VO sollte der europäische Gesetzgeber gleichwohl die Gelegenheit für eine klarstellende Regelung nutzen. Sachgemäß erscheint eine Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erstversicherers.573 Diese Lösung würde dem allgemeinen Gedanken entsprechen, dass Versicherungsverträge generell dem Recht am Ort der Risikobelegenheit unterliegen sollten. Denn bei der Rückversicherung ist das versicherte Risiko am gewöhnlichen Aufenthalt des Erstversicherers belegen.574 8. Eingriffsnormen und ordre public

282 Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO stellt klar, dass die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts (lex fori) durch die Anknüpfungsregeln der Rom I-VO nicht in Frage gestellt wird. Nach der Definition des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO handelt es sich bei Eingriffsnormen um zwingende Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird, dass sie ohne Rücksicht auf das nach der Rom I-VO maßgebliche Vertragsstatut anzuwenden sind. Im deutschen Versicherungsvertragsrecht finden sich allerdings nur wenige Eingriffsnormen. Die meisten zwingenden Vorschriften im VVG dienen dem Schutz des Versicherungsnehmers als schwächere Partei und verfolgen damit keine öffentlichen Interessen, sondern sollen einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den beteiligten Privatrechtssubjekten verwirklichen.575 Der Schutz des Versicherungsnehmers bzw. Verbrauchers wird zudem schon über Art. 6 und 7 Rom I-VO gewährleistet. In neuerer Zeit haben Versicherungsverbote im Rahmen von Embargomaßnahmen allerdings eine gewisse Relevanz erlangt.576 283 Nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO kann ausländischen Eingriffsnormen ebenfalls „Wirkung verliehen“ werden. Dabei geht es allerdings nur um die Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind. Die Lokalisierung des Erfüllungsorts bereitet bei Versicherungsverträgen Schwierigkeiten. Sachgemäß erscheint, auf den Sitz des Versicherers oder den gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers abzustellen.577 Soweit es um die bloße Berücksichtigung drittstaatlicher Eingriffsnormen als tatsächliche Umstände auf der materiellrechtlichen Ebene geht, entfaltet Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO allerdings keine Sperrwir-

571 Vgl. MüKo-BGB/Martiny Vor Art. 1 Rom I-VO Rn. 102; Looschelders in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 58 ff.; ders. VersR 2012, 1 (8); aus englischer Sicht Merkin J. PIL 5 (2009), 69 (75 ff.). 572 Vgl. Roth in Beckmann/Matusche-Beckmann § 4 Rn. 137; Looschelders in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 122; ders. VersR 2012, 1 (9). 573 So auch (allerdings schon de lege lata) Rauscher/Wendt Art. 7 Rom I-VO Rn. 7. 574 Vgl. v. Hoffmann in Soergel, Bd. 10, Art. 37 EGBGB Rn. 144; Looschelders in FS E. Lorenz, S. 441, 458. 575 Vgl. Staudinger/Armbrüster BGB, Neubearb. 2016, Art. 7 Rom-I VO Rn. 32 und Anh. zu Art. 7 Rom I-VO, Rn. 61, 75; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 169; Gruber NVersZ 2001, 442 ff. 576 Vgl. LG Hamburg 3.12.2014 – 401 HKO 7/14, VersR 2015, 1024 mAnm Looschelders; Wandt VersR 2013, 257 ff. 577 Dörner in Bruck/Möller, Art. 9 Rom I-VO Rn. 3.

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kung.578 Bei deutschem Versicherungsvertragsstatut können drittstaatliche Verbotsgesetze daher auch dann weiter über §§ 138 Abs. 1, 275, 313 BGB berücksichtigt werden, wenn es sich nicht um solche des Rechts am Erfüllungsort handelt.579 Hier geht es vor allem darum, drittstaatlichen Versicherungspflichten angemessen Rechnung zu tragen.580 Davon abgesehen wäre es nicht sachgemäß, ausländische Eingriffsnormen in stärkerem Maße als inländische zu berücksichtigen. Die praktische Bedeutung ausländischer Eingriffsnormen ist daher bei Versicherungsverträgen gering. Die Anwendbarkeit ausländischen Rechts wird auch bei Versicherungsverträgen durch 284 den Vorbehalt des Ordre public (Art. 21 Rom I-VO) begrenzt.581 Da die Vorbehaltsklausel nach allgemeinen Grundsätzen nur restriktiv herangezogen werden darf, ist ihre praktische Bedeutung im Bereich des Versicherungsvertragsrechts indes ebenfalls gering. So sind etwa Produkterpressungs- und Lösegeldversicherungen nach heute überwiegender Ansicht nicht mehr mit dem inländischen Ordre public unvereinbar.582 Eine andere Beurteilung wird dagegen weiterhin im Hinblick auf Geldstrafen- und Bußgeldversicherungen befürwortet.583

VII. Internationale Zuständigkeit in Versicherungssachen nach der Brüssel Ia-VO 1. Anwendungsbereich Die internationale Zuständigkeit für Klagen aus Versicherungsverträgen beurteilt sich 285 nach der VO (EG) Nr. 1215/2012 vom 12.12.2012 (sog Brüssel Ia-VO), welche die Brüssel I-VO (VO [EG] Nr. 44/2001) vom 22.12.2000 mit Wirkung vom 10.1.2015 abgelöst hat.584 Die Brüssel Ia-VO enthält in Art. 10–16 einen eigenen Abschnitt über die Zuständigkeit in Versicherungssachen, der dem Schutz des Versicherungsnehmers und bestimmter anderer Beteiligter (des Versicherten, des Begünstigten und des Geschädigten in der Haftpflichtversicherung) dient585 und den allgemeinen Zuständigkeitsregeln nach Art. 4–6 Brüssel Ia-VO sowie den besonderen Zuständigkeitsregeln nach Art. 7-9 Brüssel Ia-VO gem. Art. 10 Brüssel Ia-VO grundsätzlich vorgeht.586 Der Begriff der Versicherungssache ist unionsrechtlich-autonom auszulegen.587 Nach dem Schutzzweck ist eine weite Auslegung geboten. Erfasst werden alle Streitigkeiten, die sich auf den Abschluss, die Auslegung, die Durchführung und die Beendigung des Versicherungsvertrags beziehen.588 Art. 45 Abs. 1 lit. e i) Brüssel Ia-VO schließt daher auch die Anerkennung eines gerichtlich

578 579 580 581 582 583 584 585 586

587 588

EuGH 18.10.2016 – C-135/15, EuZW 2016, 940, Rn. 51 – Nikiforidis – mAnm Duden. Dörner in Bruck/Möller Art. 9 Rom I-VO Rn. 4. Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 171. Staudinger/Armbrüster, BGB Neubearb. 2016, Art. 7 Rom I-VO Rn. 33; Looschelders in Langheid/ Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 179. Dörner in Bruck/Möller Art. 21 Rom I-VO Rn. 1. Vgl. Staudinger/Armbrüster BGB Anh. zu Art. 7 Rom I-VO Rn. 81; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 182, jeweils mwN. Geimer IZPR, Rn. 245 c. Zum Schutzzweck der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO vgl. Schlosser in Schlosser/Hess EuZPR EuGVVO Art. 10 Rn. 1; Heiss in Magnus/Mankowski, Introduction to Articles 10–16 Brussels Ibis Regulation, Rn. 1; ders. in Reichert-Facilides/Schnyder, S. 105, 108 ff. Zum Vorrang der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO (Art. 8 ff. Brüssel I-VO) vgl. Kropholler/von Hein EuGVVO Vor Art. 8 Rn. 1; Rauscher/Staudinger Art. 10 Brüssel Ia-VO Rn. 1; zu den Vorläuferregelungen im Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen von 1968 (EuGVÜ) Looschelders IPRax 1998, 86 ff. Zur Ausgestaltung der Zuständigkeit für Versicherungssachen bei der geplanten Reform der Brüssel I-VO Fricke VersR 2009, 429 ff. Schlosser in Schlosser/Hess EuZPR EuGVVO Art. 10 Rn. 5. BGH 15.2.2012 – IV ZR 194/09, NJW 2012, 2113 Rn. 27; Dörner in Bruck/Möller, Int. VersProzR, Rn. 5.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

genehmigten Vergleichsplans nach englischem Gesellschaftsrecht („Scheme of Arrangement“) betreffend eine Lebensversicherung aus, wenn die Genehmigung unter Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften nach Art. 14 Abs. 1 Brüssel Ia-VO erfolgt ist.589 286 Die Art. 10–16 Brüssel Ia-VO sind nach ganz hM auch auf Versicherungsverträge über Großrisiken anwendbar.590 Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Art. 10–16 Brüssel Ia-VO keinen entsprechenden Ausschlusstatbestand vorsehen. Zum anderen erweitert Art. 15 Nr. 5 iVm Art. 16 Brüssel Ia-VO die Zulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen im Hinblick auf Fälle, in denen sich die Versicherung auf ein Großrisiko bezieht. Das bedeutet im Gegenschluss, dass die Art. 10–16 Brüssel Ia-VO dem Grundsatz nach auch bei Großrisiken anwendbar sind.591 287 Auf Rückversicherungsverträge sind die Art. 10–16 Brüssel Ia-VO nach der Rechtsprechung des EuGH nicht anwendbar.592 Der EuGH stützt diese Einschränkung darauf, dass beide Parteien eines Rückversicherungsvertrages im Bereich der Versicherungen gewerblich tätig sind; im Verhältnis zwischen Erst- und Rückversicherer sei daher kein besonderer Schutz erforderlich.593 Bei Rückversicherungsverträgen richtet sich die internationale Zuständigkeit damit nach den allgemeinen Regeln der Art. 4 ff. Brüssel Ia-VO.594 Gerichtsstandsvereinbarungen sind nach Art. 25 Brüssel Ia-VO zulässig, ohne dass die spezifischen Grenzen des Art. 15 Brüssel Ia-VO beachtet werden müssen.595 Nimmt ein Versicherungsnehmer oder ein begünstigter Dritter einen Rückversicherer unmittelbar in Anspruch, was insbesondere bei einer Insolvenz des Erstversicherers denkbar erscheint, so sind die speziellen Vorschriften der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO dagegen anwendbar.596 288 Die Art. 10–16 Brüssel Ia-VO sind auch nicht auf eine Klage auf Gewährleistung zwischen Versicherern anwendbar, die auf eine Mehrfachversicherung gestützt wird. Die Unanwendbarkeit der speziellen Vorschriften für Versicherungssachen beruht auch hier darauf, dass beide Parteien auf dem Versicherungssektor gewerblich tätig sind und daher nicht durch die Zuständigkeitsregeln der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO geschützt werden müssen.597 2. Zuständigkeit für Klagen gegen den Versicherer 289 Die wichtigste Besonderheit der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO besteht darin, dass der Versicherer nicht nur vor den Gerichten des Mitgliedstaates verklagt werden kann, in dem er seinen Wohnsitz hat (Art. 11 Abs. 1 lit. a Brüssel Ia-VO). Der Versicherungsnehmer, der Versicherte oder der Begünstigte kann seine Ansprüche gegen den Versicherer vielmehr auch vor dem Gericht am eigenen Wohnsitz geltend machen (Art. 11 Abs. 1 lit. b Brüssel Ia-VO). Dieser sog Klägergerichtsstand dient dem Schutz der schwächeren Prozesspar-

589 BGH 15.2.2012 – IV ZR 194/09, NJW 2012 2113, Rn. 27 (noch zu Art. 35 iVm Art. 12 Abs. 1 Brüssel I-VO). 590 Kropholler/von Hein EuGVVO Vor Art. 8 Rn. 6; Rauscher/Staudinger Art. 10 Brüssel Ia-VO Rn. 15; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 192; Heiss in Magnus/Mankowski Art. 10 Brussels Ibis Regulation Rn. 8. 591 Vgl. Kropholler/von Hein EuGVVO Vor Art. 8 Rn. 6. 592 EuGH 13.7.2000 – C-412/98, Slg 2000, I-5925 – Group Josi Reinsurance = NJW 2000, 3121 = VersR 2001, 123. 593 EuGH 13.7.2000 – C-412/98, Slg 2000, I-5925 Rn. 65 – Group Josi Reinsurance. 594 Vgl. Looschelders in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 19 ff.; ders. VersR 2012, 1 (9). 595 Vgl. Looschelders in Kronke/Melis/Kuhn Teil. C Rn. 198; ders. VersR 2012, 1 (9). 596 EuGH 13.7.2000 – C-412/98, Slg 2000, I-5925 Rn. 75 – Group Josi Reinsurance; Heiss in Magnus/ Mankowski Art. 10 Brussels Ibis Regulation Rn. 6; Rauscher/Staudinger Art. 10 Brüssel Ia-VO Rn. 14; Looschelders in Lüer/Schwepcke § 9 Rn. 18. 597 EuGH 26.5.2005 – C-77/04, Slg 2005, I-4509 ff. Rn. 66 – Groupement d´intérêt économique (GIE) Réunion européenne = EuZW 2005, 594 = VersR 2005, 1001 mAnm Heiss.

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C. Versicherungsvertragsrecht

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tei598 und kommt bei der Haftpflichtversicherung nach Art. 13 Abs. 2 Brüssel Ia-VO auch dem geschädigten Dritten zugute, der eine Direktklage gegen den Versicherer erheben kann (→ Rn. 246). Bei einer Mehrheit von Versicherern sieht Art. 11 Abs. 1 lit. c Brüssel Ia-VO im Interesse einer Konzentration des Verfahrens darüber hinaus vor, dass ein Mitversicherer auch vor dem Gericht eines Mitgliedstaates verklagt werden kann, bei dem der federführende Versicherer verklagt wird. Hat der Versicherer seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, so kann er nach Art. 10 iVm 290 Art. 7 Nr. 5 Brüssel Ia-VO auch in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem er eine Zweigniederlassung, eine Agentur oder eine sonstige Niederlassung hat. Voraussetzung ist allerdings, dass die Streitigkeit aus dem Betrieb der betreffenden Niederlassung herrührt. Daneben bleibt eine Klage vor den Gerichtsständen des Art. 11 Abs. 1 Brüssel Ia-VO möglich.599 Hat der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates keinen Wohnsitz, wohl aber eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung, so wird er für Streitigkeiten aus deren Betrieb so behandelt, wie wenn er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates hätte (Art. 11 Abs. 2 Brüssel IaVO). Der Anwendungsbereich der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO wird damit entgegen der allgemeinen Regel des Art. 6 Abs. 1 Brüssel Ia-VO auf Versicherer ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates erweitert.600 Für die Haftpflichtversicherung und die Versicherung von unbeweglichen Sachen hält 291 Art. 12 Brüssel Ia-VO einen zusätzlichen besonderen Gerichtsstand vor. Versicherungsnehmer und Versicherte können den Versicherer danach auch vor dem Gericht des Ortes verklagen, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist. Dieser Gerichtsstand ist auch in dem Fall eröffnet, dass sowohl bewegliche als auch unbewegliche Sachen in ein und demselben Versicherungsvertrag versichert und von demselben Schadensfall betroffen sind. Der Zweck der Vorschrift besteht darin, dem Kläger aus Gründen der Verfahrensökonomie einen einheitlichen Gerichtsstand für vertragliche Klagen gegen den Versicherer und deliktische Klagen gegen den Schädiger zu gewähren. Der Ort des schädigenden Ereignisses ist daher bei Art. 12 Brüssel Ia-VO im gleichen Sinne wie bei Art. 7 Nr. 2 Brüssel IaVO zu verstehen.601 Die Klage kann also sowohl am Handlungs- als auch am Erfolgsort erhoben werden.602 3. Zuständigkeit für Klagen des Versicherers Art. 14 Abs. 1 Brüssel Ia-VO sieht vor, dass der Versicherer grundsätzlich nur vor den Ge- 292 richten des Mitgliedstaates klagen kann, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich bei dem Beklagten um den Versicherungsnehmer, einen Versicherten oder einen Begünstigten handelt. Die Vorschrift soll die Betreffenden davor schützen, dass sie vom Versicherer außerhalb ihres Wohnsitzstaates verklagt werden.603 Eine Durchbrechung des actor sequitur forum rei-Prinzips ist insoweit also nicht zulässig.604 Unter den Voraussetzungen des Art. 7 Nr. 5 Brüssel I-VO kann

598 Zum Schutzzweck des Klägergerichtsstands vgl. Kropholler/von Hein EuGVVO Art. 9 Rn. 1; Looschelders IPRax 1998, 86 ff.; ders. in FS Fenyves, S. 633, 641 ff. 599 LG Stuttgart 9.2.1996 – 10 O 184/95, IPRax 1998, 100; Looschelders IPRax 1998, 86 ff. 600 Vgl. Rauscher/Staudinger Art. 11 Brüssel Ia-VO Rn. 8; Kropholler/von Hein EuGVVO Art. 9 Rn. 5; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 195. 601 Rauscher/Staudinger Art. 12 Brüssel Ia-VO Rn. 3. 602 Geimer in Geimer/Schütze A. 1, Art. 10 Rn. 2; Dörner in Bruck/Möller, Int. VersProzR, Rn. 14; Heiss in Magnus/Mankowski Art. 12 Brussels Ibis Regulation Rn. 2. 603 Zum Schutzzweck des Art. 14 Abs. 1 Brüssel Ia-VO Rauscher/Staudinger Art. 12 Brüssel Ia-VO Rn. 1. 604 Vgl. Geimer in Geimer/Schütze A. 1 Art. 12 Rn. 2.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht der Versicherer nach Art. 10 Brüssel I-VO allerdings auch am Ort der Niederlassung des Versicherungsnehmers etc klagen.605 4. Gerichtsstandsvereinbarungen

293 Bei Versicherungssachen sind Gerichtsstandsvereinbarungen nach Art. 15 Brüssel Ia-VO nur in engen Grenzen zulässig.606 Der europäische Gesetzgeber will damit verhindern, dass der von Art. 10–14 Brüssel Ia-VO bezweckte zuständigkeitsrechtliche Schutz der schwächeren Partei durch Gerichtsstandsvereinbarungen unterlaufen wird.607 Die Zulässigkeitstatbestände des Art. 15 Brüssel Ia-VO sind daher als Ausnahmen eng auszulegen.608 Nach Art. 15 Nr. 1 Brüssel Ia-VO ist eine Gerichtsstandsvereinbarung insbesondere dann zulässig, wenn sie nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird. Dahinter steht der Gedanke, dass die schutzbedürftige Partei erst nach der Entstehung der Streitigkeit die Vorteile und Risiken der Gerichtsstandsvereinbarung hinreichend genau abschätzen kann.609 Der Schutzzweck der Art. 10 ff. Brüssel Ia-VO steht auch keinen Vereinbarungen entgegen, welche die Gerichtsstände zugunsten des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten erweitern; solche Gerichtsstandsklauseln sind daher nach Art. 15 Nr. 2 Brüssel Ia-VO ohne zeitliche Beschränkungen zulässig. Die Zuständigkeitsvereinbarung wirkt auch zugunsten eines Dritten (zB des Versicherten), der an der Vereinbarung selbst nicht beteiligt war.610 294 Haben der Versicherungsnehmer und der Versicherer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im selben Staat, können sie nach Art. 15 Nr. 3 Brüssel Ia-VO eine Vereinbarung treffen, die die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates auch für den Fall begründet, dass das schädigende Ereignis im Ausland eintritt, sofern eine solche Vereinbarung nach dem Recht des betreffenden Staates zulässig ist. Der Gerichtsstand am Ort des schädigenden Ereignisses (Art. 12 Brüssel Ia-VO) und der Gerichtsstand der Interventionsklage (Art. 13 Abs. 1 Brüssel Ia-VO) können damit für Klagen gegen den Versicherer ausgeschlossen werden.611 Darüber hinaus kann sich der Versicherer durch die Vereinbarung auch davor schützen, vom Versicherungsnehmer nach einem Umzug an dessen neuen Wohnsitz verklagt zu werden.612 Einem aus dem Versicherungsvertrag begünstigten Dritten wie dem Versicherten bei der Versicherung für fremde Rechnung kann die Vereinbarung nicht entgegengehalten werden, wenn er der Klausel nicht ausdrücklich zugestimmt hat und seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Versicherer und der Versicherungsnehmer hat.613

605 Dörner in Bruck/Möller, Int. VersProzR, Rn. 20; Nagel/Gottwald § 3 Rn. 109; Geimer in Geimer/ Schütze A. 1 Art. 8 Rn. 25. 606 Zu den Einzelheiten Heinig, S. 244 ff. 607 Vgl. Geimer in Geimer/Schütze A. 1 Art. 13 Rn. 1; Schlosser in Schlosser/Hess EuZPR Art. 15 EuGVVO Vor Rn. 1; Looschelders in FS Fenyves, S. 633, 648. 608 EuGH 12.5.2005 – C-112/03, Slg 2005, I-3707 – Société industrielle et financière du Pelloux = NJW 2005, 2135 = VersR 2005, 1261. 609 Vgl. Dörner in Bruck/Möller, Int. VersProR, Rn. 24; Heinig, S. 246. 610 EuGH 14.7.1983 – C-210/81, Slg 1983, I-2503 Rn. 20 – Gerling = NJW 1984, 2760 = IPRax 1984, 259 m. Aufsatz Hübner 237 ff.; Dörner in Bruck/Möller, Int. VersProzR, Rn. 25; Geimer in Geimer/ Schütze A. 1 Art. 13 Rn. 6; Kropholler/von Hein EuGVVO Art. 13 Rn. 3. 611 Geimer in Geimer/Schütze A. 1 Art. 13 Rn. 7; Kropholler/von Hein EuGVVO Art. 13 Rn. 4; Heinig, S. 255; Looschelders/Heinig JR 2008, 265 (271). 612 Vgl. Rauscher/Staudinger Art. 15 Brüssel Ia-VO Rn. 6; Schlosser in Schlosser/Hess EuZPR EuGVVO Art. 15 Rn. 3; Heinig, S. 257; Looschelders/Heinig JR 2008, 265 (271); aA Hub, S. 164. 613 EuGH 12.5.2005 – C-112/03, Slg 2005, I-3707 – Société industrielle et financière du Pelloux; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 202; Dörner in Bruck/Möller, Int. VersProzR, Rn. 26; krit. Fricke VersR 2009, 429 (434 f.)

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C. Versicherungsvertragsrecht

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Gegenüber Versicherungsnehmern mit Wohnsitz außerhalb eines Mitgliedstaates lässt 295 Art. 15 Nr. 4 Brüssel Ia-VO Gerichtsstandsvereinbarungen in weitem Umfang zu. Ausnahmen gelten nur bei gesetzlicher Versicherungspflicht sowie bei der Versicherung unbeweglicher Sachen in einem Mitgliedstaat.614 Bei Versicherungsverträgen über bestimmte, in Art. 16 Brüssel Ia-VO aufgeführte Großrisiken ist eine Prorogation nach Art. 15 Nr. 5 Brüssel Ia-VO uneingeschränkt zulässig, weil der Versicherungsnehmer hier keines Schutzes bedarf.615 Die Form der Gerichtsstandsvereinbarung beurteilt sich nach Art. 25 Brüssel Ia-VO.616 296 Dies gilt auch in den Fällen des Art. 15 Nr. 3 Brüssel Ia-VO. Die formellen Anforderungen des Art. 25 Brüssel I-VO werden hier also nicht durch die entsprechenden Vorschriften des Rechts am gemeinsamen Wohnsitz von Versicherer und Versicherungsnehmer verdrängt.617 5. Rügelose Einlassung Die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaates kann sich nach Art. 26 Abs. 1 Brüs- 297 sel Ia-VO auch aufgrund rügeloser Einlassung des Beklagten ergeben. Der EuGH hat hierzu ausdrücklich klargestellt, dass die internationale Zuständigkeit auch bei Versicherungssachen durch rügelose Einlassung begründet werden kann.618 Der Schutzzweck der Sonderregeln für Versicherungssachen steht einer solchen Zuständigkeitsbegründung also nicht entgegen. Da der EuGH die rügelose Einlassung als stillschweigende Zuständigkeitsvereinbarung ansieht, entspricht diese Lösung dem Art. 15 Nr. 1 Brüssel Ia-VO.619 Problematisch erscheint allerdings, dass der Versicherungsnehmer damit im Hinblick auf die internationale Zuständigkeit nach der Brüssel Ia-VO schlechter geschützt wird als im Hinblick auf die örtliche Zuständigkeit nach § 215 VVG.620 Da § 215 VVG für Klagen gegen den Versicherungsnehmer einen ausschließlichen Gerichtsstand an dessen Wohnsitz vorsieht, kann die Zuständigkeit eines anderen Gerichts nach § 40 Abs. 2 S. 2 ZPO nicht durch rügelose Einlassung begründet werden.621 Die Brüssel Ia-VO hat den Schutz des Versicherungsnehmers und der anderen schwächeren Parteien vor nicht vorhergesehenen Folgen einer rügelosen Einlassung allerdings insofern verstärkt, als das Gericht in Streitigkeiten nach den Abschnitten 3, 4 oder 5 gemäß Art. 26 Abs. 2 Brüssel Ia-VO sich erst dann nach Abs. 1 für zuständig erklären darf, wenn es sichergestellt hat, dass der beklagte Versicherungsnehmer etc über sein Recht, die Unzuständigkeit des Gerichts geltend zu machen, und über die Folgen der Einlassung oder Nichteinlassung auf das Verfahren belehrt worden ist.622

614 Näher dazu Dörner in Bruck/Möller, Int. VersProzR, Rn. 27. 615 Vgl. Österr. OGH 11.5.2011 – 7 Ob 2003/10 v. VersR 2012, 383. 616 Vgl. Kropholler/von Hein EuGVVO Art. 13 Rn. 1; Looschelders/Heinig JR 2008, 265 (271). Zu den Einzelheiten Rauscher/Mankowski Art. 23 Brüssel I-VO Rn. 14 ff. 617 Vgl. Heiss in Czernich/Tiefenthaler/Kodek Art. 13 Rn. 12; Geimer in Geimer/Schütze A. 1 Art. 13 Rn. 8; Heinig, S. 261; aA Rauscher/Staudinger Art. 15 Brüssel Ia-VO Rn. 7. 618 EuGH 20.5.2010 – C-111/09, Slg 2010, I-4545 – Česká podnikatelská pojišt’ ovna as, Vienna Insurance Group = EuZW 2010, 678 = VersR 2010, 1099 mAnm Sperlich/Wolf; vgl. dazu Mankowski RIW 2010, 667 ff.; Staudinger IPRax 2011, 548 ff.; Heinig, S. 579 ff. 619 Vgl. Staudinger IPRax 2011, 548 (549 f.); krit. Mankowski RIW 2010, 667 ff. 620 Vgl. Sperlich/Wolf VersR 2010, 1101 (1102). 621 Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 2, § 215 Rn. 54; Looschelders/Heinig JR 2008, 265 (269); Fricke VersR 2009, 15 (19). 622 Näher dazu Calvo Caravaca/Carracosa Gonzáles in Magnus/Mankowski Art. 26 Rn. 33 ff.; Looschelders in FS Fenyves, S. 633, 650.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

VIII. Einführung eines optionalen Instruments für Versicherungsverträge 1. Problemstellung 298 Die Überlegungen zum Internationalen Versicherungsvertragsrecht nach der Rom I-VO weisen auf ein Problem hin, dass die praktische Verwirklichung eines einheitlichen Binnenmarktes für Versicherungsprodukte erheblich behindert. Wenn bei Versicherungsverträgen über Massenrisiken nach Art. 7 Abs. 3 Rom I-VO in aller Regel das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers maßgeblich ist, das nur in engen Ausnahmefällen durch Rechtswahl verdrängt werden kann, muss der Versicherer seine Produkte auf das Recht des jeweiligen Mitgliedstaates zuschneiden, in dem der einzelne Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies ist bei Versicherungsverträgen besonders misslich, weil das Produkt hier erst durch seine rechtliche Ausgestaltung konstituiert wird. Eine einheitliche Produktgestaltung für den grenzüberschreitenden Vertrieb von Versicherungsprodukten ist damit ausgeschlossen.623 S. auch → Rn. 148. 299 Das Problem kann auf der kollisionsrechtlichen Ebene nicht sachgemäß gelöst werden. Denkbar wäre zwar, das Internationale Versicherungsvertragsrecht für Verträge über in der EU belegene Massenrisiken nach dem Modell der Art. 3 ff. Rom I-VO zu modifizieren. Das damit verbundene Günstigkeitsprinzip bei Verbraucherverträgen (Art. 6 Rom I-VO) wäre aber noch weniger praktikabel. Jedenfalls müsste der Versicherer bei der Ausgestaltung seiner Produkte wegen des Günstigkeitsprinzips weiter auf das Recht am jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt der Versicherten Rücksicht nehmen. Bei Versicherungsverträgen über Massenrisiken ist auch die Einführung einer unbeschränkten Rechtswahlfreiheit keine taugliche Alternative, weil gerade bei grenzüberschreitenden Versicherungsverträgen ein hohes Maß an Verbraucherschutz gewährleistet bleiben muss. 2. Das Grünbuch der Kommission vom 1.7.2010 und die weitere Entwicklung 300 Die Kommission hat am 1.7.2010 ein Grünbuch über die Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen624 vorgelegt. Die Kommission hat damit das Ziel verfolgt, Fortschritte in Richtung auf ein fakultatives einheitliches Europäisches Vertragsrecht zu erzielen, das es Unternehmen und Verbrauchern ermöglicht, leichter und kostengünstiger Verträge mit Geschäftspartnern in anderen EUStaaten zu schließen. In dem Grünbuch wird die Option einer Verordnung zur Einführung eines fakultativen europäischen Vertragsrechtsinstruments erörtert (Option 4). Für den Bereich des Kaufrechts hat die Kommission am 11.10.2011 einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt,625 der aber wegen des Widerstands der Mitgliedstaaten als gescheitert angesehen werden muss. 301 Neben Kaufverträgen haben Dienstleistungsverträge für die Verwirklichung des Binnenmarktes besondere Bedeutung. Die Kommission weist in dem Grünbuch vom 1.7.2010 zu Recht darauf hin, dass eine einheitliche Regelung von Dienstleistungsverträgen aufgrund ihrer Heterogenität nicht in Betracht kommt. Für den Bereich der Versicherungen gebe es allerdings schon die von der Projektgruppe „Restatement of European Insurance Contract Law“ ausgearbeiteten „Principles of European Insurance Contract Law“ (PEICL).626 Die Stärkung des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen steht weiter auf der Agenda der 623 Zur Problemstellung vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 70; Looschelders in Looschelders/Michael, S. 37 (44 f.); Wieser in Heiss/Lakhan, S. 51 ff. 624 KOM(2010) 348 endg. 625 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635 endg. 626 KOM(2010) 348 endg. unter Ziff. 4.3.3.; dazu Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 73. Für Rückgriff auf die PEICL bei der Verwirklichung eines optionalen Instruments auch

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EU. Nachdem die Kommission am 15.12.2015 ein „Grünbuch über Finanzdienstleistungen für Privatkunden“627 veröffentlicht hatte, hat sie am 23.7.2013 einen „Aktionsplan Finanzdienstleistungen für Verbraucher“628 vorgelegt. Die Harmoniserung des Versicherungsvertragsrechts wird darin allerdings nicht mehr erwähnt. 3. Die Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) Bei den im Grünbuch vom 1.7.2010 angesprochenen Principles of European Insurance 302 Contract Law (PEICL) handelt es sich um einen Entwurf für den Allgemeinen Teil eines Europäischen Versicherungsvertragsrechts, der am 17.12.2007 von der Projektgruppe Restatement of European Insurance Contract Law (sog Restatement Group) vorgelegt worden ist.629 Im November 2015 wurde dann eine Endfassung (PEICL 2016) publiziert,630 die um Vorschriften über die Haftpflichtversicherung, die Lebensversicherung und die Gruppenversicherungen erweitert ist. Die „Principles“ sollen nach Art. 1:101 (1) PEICL auf den gesamten Bereich der Privatversicherung einschließlich der Versicherung auf Gegenseitigkeit Anwendung finden. Ausgenommen ist nach Art. 1:101 (2) PEICL nur der Bereich der Rückversicherung. Dies wird damit begründet, dass bei der Rückversicherung kein Bedarf für entsprechende Regeln besteht, weil sich dort eine international anerkannte lex mercatoria herausentwickelt habe.631 Art. 1:102 PEICL sieht vor, dass die PEICL immer dann Anwendung finden sollen, wenn 303 die Parteien eine entsprechende Vereinbarung getroffen haben. Die Zulässigkeit einer solchen Vereinbarung wird nicht auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt.632 Da die Rom I-VO nur die Wahl einer nationalen Rechtsordnung, nicht aber die Wahl eines nichtstaatlichen Regelwerkes erlaubt,633 können die Parteien nach geltendem Recht keine kollisionsrechtliche Rechtswahl zugunsten der PEICL treffen. Eine etwaige Vereinbarung der PEICL hätte damit lediglich materiellrechtliche Wirkung, ließe die zwingenden Vorschriften des objektiven Versicherungsvertragsstatuts also unberührt (Erwägungsgrund 13 Rom I-VO).634 Der grenzüberschreitende Vertrieb von Versicherungsprodukten kann so nicht erleichtert werden. Eine völlig andere Rechtslage wäre gegeben, wenn der europäische Gesetzgeber sich nach dem Vorbild des Vorschlags für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht entschlösse, ein optionales Instrument für Versicherungsverträge einzuführen. In diesem Fall hätten die Regelungen des optionalen Instruments in den Mitgliedstaaten die Stellung eines zweiten nationalen Versicherungsvertragsrechts. Die Parteien könnten daher auf der Grundlage des jeweils anwendbaren nationalen Rechts wählen, ob das reguläre Versicherungsvertragsrecht oder das optionale europäische Regime maßgeblich sein soll. Im Fall einer Vereinbarung des optionalen Instruments würde das gesamte

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Basedow in Schulze/Stuyck, S. 169, 170 f.; ders. in Hartkamp/Hesselink/Hondius/Mak/du Perron, S. 735, 751 ff. COM(2015) 630 final. COM(2017) 139 final. Veröffentlicht mit Kommentaren in Basedow/Birds/Clarke/Cousy/Heiss, Principles of European Insurance Contract Law, 2009; dazu Basedow in Hartkamp/Hesselink/Hondius/Mak/du Perron, S. 735, 751 ff.; Mönnich in Beckmann/Matusche-Beckmann § 2 Rn. 21; Loacker VersR 2009, 289 ff.; Armbrüster ZEuP 2008, 775 ff.; Brömmelmeyer ERCL 2011, 445 ff. Veröffentlicht mit Kommentaren in Basedow/Birds/Clarke/Cousy/Heiss/Loacker, Principles of European Insurance Contract Law, 2. Aufl. 2016; näher dazu Heiss in Looschelders/Michael, 2016, S. 115 ff.; Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 75 ff. Vgl. Basedow ua, PEICL (2. Aufl.), Comments zu Art. 1:101, unter C8. Basedow ua, PEICL (2. Aufl.), Comments zu Art. 1:102, unter C4. Vgl. MüKo-BGB/Martiny Art. 3 Rom I-VO Rn. 28; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 122; Heiss in FS Kropholler, S. 459, 470 f.; Leible/Lehmann RIW 2008, 528 (533). Vgl. PWW/Brödermann/Wegen Art. 3 Rom I-VO Rn. 4; Looschelders in Langheid/Wandt, Bd. 3, IntVersR, Rn. 122; Rühl in FS Kropholler, S. 187 (190).

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autonome Versicherungsvertragsrecht der betreffenden Rechtsordnung einschließlich der zwingenden Vorschriften verdrängt.635 304 Die Einführung eines solchen optionalen Instruments ließe sich nur legitimieren, wenn es dem Versicherungsnehmer einen hohen Schutzstandard bietet.636 Diesen Anforderungen dürften die PEICL im Wesentlichen genügen. Der gegen die erste Fassung der PEICL (2009) gerichtete Einwand, dass das Instrument keine Sonderregeln für einzelne wichtige Versicherungssparten wie die Haftpflicht- und Lebensversicherung sowie die Gruppenversicherungen enthalte, hat sich mit der erweiterten Endfassung der PEICL (2016) erledigt.637 Art. 1:105 (1) 1 PEICL (2016) schließt den Rückgriff auf nationales Recht grundsätzlich aus. Dies soll auch für international zwingende Vorschriften (Eingriffsnormen) gelten.638 Dahinter steht die Erwägung, dass die PEICL ein geschlossenes System bilden, das einen angemessenen Interessenausgleich schafft. Außerdem würde die Berücksichtigung zwingenden nationalen Rechts die einheitliche Anwendung der PEICL unterlaufen und die mit dem Nebeneinander verschiedener staatlicher Rechtsordnungen für den Versicherer verbundenen Nachteile aufrechterhalten.639 Eine Ausnahme gilt nach Art. 1:105 (1) 2 PEICL (2016) nur für zwingende Vorschriften nationalen Rechts, die sich speziell auf Versicherungszweige beziehen, die in den PEICL nicht geregelt sind. Die Ausnahme betrifft somit nicht die in den PEICL 2016 geregelten besonderen Bereiche der Haftpflichtversicherung, der Lebensversicherung und der Gruppenversicherungen. Wichtigster Anwendungsbereich der Ausnahme ist damit die private Krankenversicherung.640

D. Versicherungskartellrecht I. Rechtliche Grundlagen und Entwicklung des Versicherungskartellrechts 305 Für den Versicherungssektor hatte das Kartellrecht in Deutschland lange Zeit nur geringe Bedeutung, weil das GWB in der Fassung von 1958 hierfür eine weite Bereichsausnahme vorsah (§ 102 GWB aF). Damit sollte den Besonderheiten der Versicherungsmärkte und den spezifischen Gegebenheiten der Versicherungsaufsicht Rechnung getragen werden.641 Für das europäische Kartellrecht hat der EuGH dann aber in der Feuerversicherungsentscheidung vom 27.1.1987 klargestellt, dass die einschlägigen Bestimmungen (insbesondere Art. 85, 86 EWGV; jetzt Art. 101 ff. AEUV) auf den Versicherungssektor uneingeschränkt anwendbar sind.642 Auf der anderen Seite ist aber auch auf der europäischen Ebene anerkannt, dass eine Zusammenarbeit von Versicherungsunternehmen untereinander oder im Rahmen von Unternehmensvereinigungen in bestimmten Bereichen positive Wirkungen haben kann und daher durch das Kartellrecht nicht erschwert oder verhindert werden sollte.643 Die VO (EWG) Nr. 1534/91 des Rates vom 31.5.1991644 stellt dazu in den Erwägungsgründen fest, dass „für ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Versiche635 Zu den entsprechenden Fragen beim Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht Staudenmayer, S. XVIII ff.; Gebauer GPR 2011, 227 ff.; Stürner GPR 2011, 236 ff. 636 Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 83; zur parallelen Problematik im Kaufrecht Staudenmayer, S. XXIV ff. 637 Vgl. Loacker/Perner in Looschelders/Pohlmann Einleitung C. Rn. 81. 638 Basedow ua, PEICL (2. Aufl.), Comments zu Art. 1:105, unter C4. 639 Basedow ua, PEICL (2. Aufl.), Comments zu Art. 1:105, unter C2 und C4. 640 Basedow ua, PEICL (2. Aufl.), Comments zu Art. 1:105, unter C5. 641 Zu den Einzelheiten Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 12; Körber in Looschelders/Michael, S. 21 (24). 642 EuGH 27.1.1987 – Rs. 45/85, Slg 1987, 405 (447) – Verband der Sachversicherer – „Feuerversicherung“= NJW 1987, 2150 = VersR 1987, 169. 643 Vgl. Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 17 f. 644 ABl. 1991 L 143, 1.

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D. Versicherungskartellrecht

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rungswirtschaft […] bis zu einem gewissen Grad die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen dieses Wirtschaftszweigs wünschenswert [ist]; gleichzeitig kann sie zur Wahrung der Interessen des Verbrauchers beitragen“. Vor diesem Hintergrund hat der Rat die Kommission in Art. 1 Abs. 1 VO (EWG) 306 Nr. 1534/91 dazu ermächtigt, das Kartellverbot auf dem Gebiet der Versicherungswirtschaft in Bezug auf eine Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen durch Verordnung für nicht anwendbar zu erklären. Bei den möglichen Ausnahmebereichen handelt es sich um die Festsetzung gemeinsamer Risikoprämientarife auf der Grundlage gegenseitig abgestimmter Statistiken oder des Schadensverlaufs (a), die Erstellung von Mustern für allgemeine Versicherungsbedingungen (b), die gemeinsame Deckung bestimmter Arten von Risiken (c), die Abwicklung von Schadensfällen (d), die Prüfung und Anerkennung von Sicherheitsvorkehrungen (e) sowie die Erstellung von Verzeichnissen erhöhter Risiken und den Austausch der entsprechenden Informationen (f). Am 21.12.1992 hat die Kommission auf dieser Grundlage eine Gruppenfreistellungsverordnung für den Versicherungssektor (VO [EWG] Nr. 3923/92)645 erlassen; diese wurde mit Wirkung ab 1.4.2003 durch die VO (EG) Nr. 358/2003 vom 27.2.2003646 ersetzt. Am 1.4.2010 ist dann die GVO Versicherungswirtschaft (VO [EU] Nr. 267/2010 vom 24.3.2010)647 in Kraft getreten,648 die nach ihrem Art. 9 bis zum 31.3.2017 befristet war und danach ausgelaufen ist. Nach geltendem EU-Recht gibt es für den Versicherungssektor also keine Gruppenfreistellung mehr. Die VO (EWG) Nr. 3932/92 und die VO (EG) Nr. 358/2003 hatten von der Ermächtigung 307 durch Art. 1 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 1534/91 für vier Bereiche Gebrauch gemacht: die gemeinsame Festsetzung von Risikoprämientarifen, die Erstellung von Mustern für AVB, die gemeinsame Deckung bestimmter Arten von Risiken und die gemeinsame Aufstellung von Regeln für die Prüfung und Anerkennung von Sicherheitsvorkehrungen. Erwägungsgrund 2 VO (EWG) Nr. 3932/92 begründete die Auswahl damit, dass die Kommission für diese Bereiche durch die Bearbeitung von Einzelfällen ausreichende Erfahrung gewonnen habe. Ob die Kommission für den Versicherungssektor über den 31.3.2010 hinaus eine GVO aufrechterhalten wird, war zunächst unklar.649 Die Kommission hat letztlich zwar doch noch eine neue GVO erlassen; die von der Freistellung betroffenen Bereiche wurden aber auf zwei Bereiche beschränkt.650 In ihrem Bericht an das Europäische Parlament und den Rat vom 17.3.2016 über das Funktionieren der Verordnung (EU) Nr. 267/2010 ist die Kommission schließlich zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Gruppenfreistellung auch in diesen beiden Bereichen nicht mehr erforderlich sei.651 Die horizontalen Leitlinien der Kommission (Rn. 310) wurden insoweit als ausreichend erachtet.652 Die GVO für den Versicherungssektor wurde daher nicht über den 31.3.2017 hinaus verlängert. Auch nach dem Auslaufen der Gruppenfreistellungsverordnungen verstößt eine Zusam- 308 menarbeit von Versicherungsunternehmen in den dort geregelten Bereichen keineswegs notwendig gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV. Es muss vielmehr im Einzelfall geprüft werden,

ABl. 1992 L 398, 7. ABl. 2003 L 53, 8. ABl. 2010 83, 1. Zur Entwicklung vgl. Bartel in Körber/Rauh, S. 25, 29. Vgl. Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 3. Näher dazu Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, VersKartellR, Rn. 3; Saller VersR 2010, 417 ff.; v. Hülsen/Manderfeld VersR 2010, 559 ff.; Dreher/Baubkus VersR 2010, 1389 ff.; Bartel in Körber/ Rauh, S. 25, 33 ff.; Körber in Looschelders/Michael, S. 21, 29 ff. 651 COM(2016) 153 final. 652 Vgl. Dauses/Ludwigs/Hoffmann HdBEUWiR H. Rn. 56.

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ob die Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV vorliegen.653 Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 1/2003 legt hierzu fest, dass das Kartellverbot in den Fällen des Art. 101 Abs. 3 AEUV (ex Art. 81 Abs. 1 EGV) kraft Gesetzes nicht gilt (sog Legalausnahme).654 Die Unternehmen und Verbände haben die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV damit in eigener Verantwortung zu beurteilen. Eine diesbezügliche Entscheidung der Kommission (sog Einzelfreistellung) findet seit dem 1.5.2004 nicht mehr statt. Das Auslaufen der Gruppenfreistellungen für den Versicherungssektor erhöht damit die Prüfungspflichten der Unternehmen und Verbände und verringert die Rechtssicherheit.655 Auf der anderen Seite ist aber eine flexiblere Beurteilung möglich.656 309 Bei reinen Inlandssachverhalten richtet sich die kartellrechtliche Zulässigkeit nach §§ 1 ff. GWB (vgl. Art. 3 VO [EG] Nr. 1/2003, § 22 Abs. 1 und 2 GWB).657 Inhaltlich stimmen die §§ 1 ff. GWB weitgehend mit den Art. 101 ff. AEUV überein. So entspricht die Legalausnahme nach § 2 Abs. 1 GWB derjenigen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV. § 2 Abs. 2 GWB stellt sicher, dass die Gruppenfreistellungsverordnungen auch im Rahmen des § 2 Abs. 1 GWB herangezogen werden. Für den Versicherungssektor hat diese Regelung freilich keine Bedeutung mehr.

II. Die horizontalen Leitlinien der Kommission 310 Die zunehmende Zurückdrängung branchenspezifischer Gruppenfreistellungsverordnungen hat nicht nur auf dem Versicherungssektor zu Unsicherheiten geführt. Vor diesem Hintergrund hat die Kommission schon am 14.1.2011 „Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit“658 veröffentlicht, die auch für den Versicherungssektor von großem Interesse sind. Die Leitlinien der Kommission sind zwar nicht rechtsverbindlich; für die Praxis sind sie aber sehr hilfreich, weil sie für die Kommission eine gewisse Selbstbindung entfalten.659 Problematisch ist allerdings, dass die Kommission sich in den Leitlinien meist nicht festlegt, sondern nur davon spricht, dass die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV „wahrscheinlich“ vorliegen oder erfüllt zu sein „scheinen“. Dies dient zwar der Flexiblilität der Beurteilungen. Für die Unternehmen und Verbände bleibt damit aber weiter ein „Restrisiko“ bestehen.

III. Die durch die VO (EU) Nr. 267/2010 freigestellten Bereiche 311 Da die Gruppenfreistellungen den Ausnahmetatbestand des Art. 101 Abs. 3 AEUV mit konstitutiver Wirkung konkretisierten, hatten sie für die Praxis eine überragende Bedeu-

653 Vgl. Bericht der Kommission, COM(2016) 153 final, Rn. 53; Hoffmann VersR 2016, 821 (825); Stancke VersR 2017, 518 (522); zum Auslaufen der VO (EG) Nr. 358/2003 Saller VersR 2010, 417 (418). 654 Vgl. Calliess/Ruffert/Weiß EUV/AEUV AEUV Art. 101 Rn. 153 ff.; Streinz/Eilsmansberger/Kruis EUV/ AEUV AEUV Art. 101 Rn. 159; mit Blick auf den Versicherungssektor Körber in Looschelders/ Michael, S. 21 (26); Stancke in Bürkle § 13 Rn. 31 ff. 655 Vgl. Stancke in Bürkle § 13 Rn. 34 f.; Stancke VersR 2017, 518 (522); v. Hülsen/Manderfeld VersR 2010, 559 (565 ff.). 656 Stancke VersR 2017, 518 (525). 657 Zum Vorrang des europäischen Kartellrechts bei zwischenstaatlichen Sachverhalten vgl. Dreher/ Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 5 ff.; Meessen/Kersting in Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff, Einführung in das europäische und deutsche Kartellrecht, Rn. 87 ff. 658 ABl. 2011 C 11, 1. 659 Vgl. Dauses/Ludwigs/Beckmann HdBEUWiR E. Rn. 367; Körber in Looschelders/Michael, S. 21, 33.

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tung.660 Nach ihrem Auslaufen können sie aber neben den horizontalen Leitlinien der Kommission immer noch wichtige Orientierungshilfenbieten.661 Die nachfolgende Darstellung orientiert sich daher weiter an den Gruppenfreistellungsverordnungen. 1. Gemeinsame Erhebungen, Tabellen und Studien Gemäß Art. 2 VO (EU) Nr. 267/2010 iVm Art. 101 Abs. 3 AEUV galt das Kartellverbot 312 des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht für Vereinbarungen zwischen Unternehmen des Versicherungssektors über die gemeinsame Erhebung und Verbreitung von Daten, die für bestimmte versicherungstechnische Zwecke (Berechnung von Durchschnittskosten für die Deckung eines genau beschriebenen Risikos in der Vergangenheit, Erstellung von Sterbetafeln und Tafeln über die Häufigkeit von Krankheiten, Unfällen und Invalidität) erforderlich sind (lit. a), sowie über die gemeinsame Durchführung von Studien zu bestimmten Risiken und die Verbreitung der Ergebnisse solcher Studien (lit. b). Zur Begründung hatte die Kommission in Erwägungsgrund 9 darauf hingewiesen, dass eine solche Zusammenarbeit Markteintritte erleichtern und damit nutzbringend für die Verbraucher sein könne. Dahinter stand der Gedanke, dass kleinere Versicherungsunternehmen nicht ohne Weiteres in der Lage sind, die betreffenden Erhebungen und Studien allein durchzuführen.662 Besondere Probleme ergeben sich dabei für Unternehmen, die noch nicht auf dem fraglichen Markt vertreten sind. Erwägungsgrund 11 betont daher, dass potenzielle Neuanbieter sowie Verbraucher- und Kundenorganisationen zu angemessenen Konditionen und erschwinglichen Preisen Zugang zu den betreffenden Erhebungen, Tabellen und Studien erhalten müssen.663 Aus Sicht der Kommission musste aber auch sichergestellt werden, dass die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Erhebungen und Studien auf den zur Erreichung der angestrebten Zwecke erforderlichen Umfang beschränkt wird (Erwägungsgrund 9 Satz 4). Art. 3 VO (EU) Nr. 267/2010 legte daher einschränkende Voraussetzungen fest. So durften die Erhebungen, Tabellen und Studienergebnisse weder die beteiligten Versicherungsunternehmen noch einen Versicherungsnehmer identifizieren (Abs. 2 lit. a) und keinen Hinweis auf die Höhe der Bruttoprämien enthalten (Abs. 2 lit. c). Bei der Erstellung und Verbreitung der Erhebungen und Studien musste zudem auf ihre Unverbindlichkeit hingewiesen werden (Abs. 2 lit. b).664 Andere Formen des Informationsaustauschs wurden schon vor dem 1.4.2017 nicht von der GVO erfasst und mussten daher im Einzelfall unmittelbar nach Art. 101 AEUV beurteilt werden.665 2. Gemeinsame Deckung bestimmter Arten von Risiken Nach Art. 5 VO (EU) Nr. 267/2010 war Art. 101 Abs. 1 AEUV auch nicht auf Vereinba- 313 rungen zwischen Unternehmen auf dem Versicherungssektor anwendbar, die sich auf die Bildung und die Tätigkeit von Gemeinschaften von Versicherungsunternehmen oder Gemeinschaften von Versicherungsunternehmen und Rückversicherungsunternehmen mit dem Ziel der gemeinsamen Abdeckung bestimmter Risikosparten beziehen, und zwar sowohl in der Form der Mitversicherung als auch in der Form der Mit-Rückversicherung. Erwägungsgrund 12 verweist zur Begründung darauf, dass solche Gemeinschaften erforderlich werden können, wenn die beteiligten Unternehmen die Versicherung oder Rück660 Allgemein zur Bedeutung der Gruppenfreistellungsverordnungen Calliess/Ruffert/Weiß EUV/AEUV AEUV Art. 101 Rn. 168 ff. 661 Stancke VersR 2017, 518 (522). 662 Vgl. Erwägungsgrund 11 und 12 VO (EU) Nr. 267/2010; eingehend Saller VersR 2010, 417 (419). 663 Krit. dazu Bartel in Körber/Rauh, S. 25, 36 ff. 664 Vgl. Calliess/Ruffert/Weiß EUV/AEUV AEUV Art. 101 Rn. 185; Dreher/Hoffmann in Langheid/ Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 67; v. Hülsen/Manderfeld VersR 2010, 559 (560 ff.). 665 Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 39 ff.

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versicherung von Risiken anbieten wollen, für die sie sonst nur eine unzureichende Versicherungsdeckung anbieten könnten. Auf der anderen Seite sah die Kommission aber die Gefahr, dass Versicherungsgemeinschaften zu Wettbewerbsbeschränkungen wie der Vereinheitlichung von Vertragsbedingungen, Versicherungssummen oder Prämien führen können. Die Zulässigkeit solcher Vereinbarungen sollte daher von strengen Voraussetzungen abhängig gemacht werden (Erwägungsgrund 13). 314 Die einzelnen Voraussetzungen waren in Art. 6 VO (EU) Nr. 267/2010 geregelt. Unabhängig vom Marktanteil wurden Mitversicherungs- und Mit-Rückversicherungsgemeinschaften nach Abs. 1 nur freigestellt, wenn sie ausschließlich zur Deckung neuartiger Risiken gegründet wurden; die Freistellung galt dabei lediglich für drei Jahre ab erstmaliger Gründung. Erwägungsgrund 15 begründet die Regelung damit, dass es bei wirklich neuartigen Risiken nicht vorhersehbar sei, welche Zeichnungskapazität zur Risikoabdeckung erforderlich sei. Nach drei Jahren würde das gesammelte Datenmaterial über Schadensfälle aber ausreichen, um beurteilen zu können, ob ein Bedarf für eine Versicherungsgemeinschaft besteht. Der Begriff des „neuartigen Risikos“ war in Art. 1 Ziff. 6 VO (EU) Nr. 267/2010 definiert. Grundsätzlich sollte es sich um ein Risiko handeln, das zuvor nicht existierte und nur durch ein völlig neuartiges Versicherungsprodukt, nicht aber durch Ergänzung, Verbesserung oder Ersatz eines bestehenden Versicherungsprodukts gedeckt werden kann (lit. a). In Ausnahmefällen kam auch ein bekanntes Risiko für die Freistellung nach der GVO in Betracht, wenn es sich bei objektiver Analyse so geändert hatte, dass die zur Abdeckung erforderliche Zeichnungskapazität nicht vorhersehbar war (lit. b).666 315 Sofern es sich um kein neuartiges Risiko handelte, hing die Freistellung nach Art. 6 Abs. 2 VO (EU) Nr. 267/2010 davon ab, dass der von den beteiligten Unternehmen gehaltene gemeinsame Marktanteil bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Im Fall der Mitversicherung lag die Grenze bei 20%, im Fall Mit-Rückversicherung bei 25% eines der relevanten Märkte. Erwägungsgrund 17 rechtfertigte diese Regelung damit, dass die beteiligten Unternehmen durch die Zusammenarbeit leichter die notwendige Erfahrung in der betreffenden Versicherungssparte sammeln oder von Kosteneinsparungen oder günstigeren Bruttoprämien aufgrund gemeinsamer Rückversicherung zu vorteilhaften Konditionen profitieren könnten.667 Für die Verbraucher brächten Versicherungsgemeinschaften aber nur dann Vorteile, wenn auf den relevanten Märkten hinreichender Wettbewerb herrsche. Um diese Voraussetzung zu gewährleisten, müssten für die Marktanteile der beteiligten Unternehmen Höchstgrenzen festgelegt werden. Der niedrigere Schwellenwert bei der Mitversicherung wurde damit begründet, dass in diesem Bereich einheitliche Versicherungsbedingungen und Bruttoprämien vorkommen könnten (vgl. Erwägungsgrund 18), die den Wettbewerb in besonderem Maße beeinträchtigen. Die von der Freistellung wegen Überschreitung der Marktanteilsgrenze nicht erfassten Versicherungsgemeinschaften waren im Übrigen nicht etwa generell unzulässig. Vielmehr musste nach allgemeinen Grundsätzen geprüft werden, ob eine Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 101 Abs. 1 AEUV vorlag und ob die Voraussetzungen für eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV im Einzelfall erfüllt waren.668 316 Bei der rechtspolitischen Würdigung der GVO ist zu beachten, dass nicht jeder Fall der Mitversicherung oder Mit-Rückversicherung als Versicherungsgemeinschaft zu verstehen

666 Vgl. Bartel in Körber/Rauh, S. 25, 42 f.; krit. gegenüber der Definition Dreher/Baubkus VersR 2010, 1389 (1390 ff.). 667 Vgl. zu diesem Aspekt auch Herrmann in Bruck/Möller, Einf. B., Rn. 71. 668 Vgl. Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 101 ff.; Dauses/Ludwigs/ Beckmann HdBEUWiR E. Rn. 364.

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D. Versicherungskartellrecht

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ist. Nach den Definitionen in Art. 1 Ziff. 4 und 5 VO (EU) Nr. 267/2010 wurden insbesondere keine Ad-hoc-Mit-(Rück-)Versicherungsvereinbarungen auf dem Zeichnungsmarkt erfasst, bei denen ein Teil des versicherten Risikos von einem Hauptversicherer und der verbleibende Teil von Nebenversicherern abgedeckt wird, die zur Beteiligung aufgefordert wurden. Solche Vereinbarungen erfüllen häufig schon gar nicht die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Im Übrigen muss jeweils geprüft werden, ob die Legalausnahme nach Art. 101 Abs. 3 AEUV eingreift.669 Der Anwendungsbereich der GVO war insoweit also begrenzt. 3. Rechtslage nach Aufhebung der GVO Die Kommission hat in ihrem Bericht an das Europäische Parlament und den Rat vom 317 17.3.2016670 über das Funktionieren der Verordnung (EU) Nr. 267/2010 nicht in Frage gestellt, dass der Versicherungssektor für die in der Verordnung geregelten Bereiche Besonderheiten aufweist, die zu einem erhöhten Bedarf an Zusammenarbeit führen. Mit Blick auf den Informationsaustausch durch gemeinsame Erhebungen, Tabellen und Studien hat sie jedoch darauf hingewiesen, dass die horizontalen Leitlinien ein besonderes Kapitel zu Vereinbarungen über den Informationsaustausch (Rn. 55 ff.) enthalten. Die dort vorgestellten Grundsätze würden für den Versicherungssektor in vollem Umfang gelten und eine gute Grundlage bilden, um die Zulässigkeit der gemeinsamen Erstellung und Verbreitung von Erhebungen, Tabellen und Studien selbst zu prüfen.671 So heißt es in den Leitlinien etwa, dass wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen „im Falle des Austauschs echter aggregierter Daten, dh von Daten, die nur mit hinreichender Schwierigkeit Rückschlüsse auf individuelle unternehmensspezifischen Daten zulassen, […] viel weniger wahrscheinlich als beim Austausch unternehmensspezifischer Daten“ sind.672 Außerdem würde der Austausch echter öffentlicher Informationen, zu denen alle Wettbewerber und Abnehmer gleichermaßen leicht Zugang haben, kaum einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV darstellen.673 Beide Kriterien waren auch schon in Art. 3 Verordnung (EU) 267/2010 geregelt und treffen auf den Informationsaustausch über statistische Daten in der Versicherungsbranche zu. Im Übrigen können die bisherigen Kriterien der Verordnung (EU) Nr. 267/2010 über den Informationsaustausch weiter als Leitbild herangezogen werden können.674 Im Hinblick auf Versicherungsgemeinschaften zur gemeinsamen Deckung bestimmter Ar- 318 ten von Risiken hat die Kommission festgestellt, dass diese Freistellung in der Praxis nicht mehr sehr häufig genutzt wird. In vielen Fällen würden die Voraussetzungen für die Freistellung von den Beteiligten überdies zu Unrecht bejaht. Auf der anderen Seite gäbe es in zunehmendem Umfang andere, nicht institutionalisierte und damit tendenziell wettbewerbsfreundlichere Formen der Zusammenarbeit, die nach der Verordnung (EU) Nr. 267/2010 nicht freigestellt wären.675 Die generelle Freistellung von Versicherungsgemeinschaften sei daher nicht mehr gerechtfertigt. Inwieweit die Kriterien der Verordnung (EU) Nr. 267/2010 für Versicherungsgemeinschaften weiter als Leitlinien dienen können, ist vor diesem Hintergrund fraglich.676 Auch wenn man von den Kriterien der Art. 5 und 6 669 Vgl. Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 78; Bartel in Körber/Rauh, S. 25, 41; v. Hülsen/Manderfeld VersR 2010, 559 (564). 670 COM(2016) 153 final. 671 COM(2016) 153 final, Rn. 28. 672 Leitlinie Tz. 85, ABl. 2011 C 11. 673 Leitlinie Tz. 92, ABl. 2011 C 11. 674 Stancke VersR 2017, 518 (523 f.). 675 Bericht der Kommission, COM(2016) 153 final, Rn. 43 ff. 676 Grundsätzlich bejahend Stancke VersR 2017, 518 (523).

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht Verordnung (EU) Nr. 267/2010 ausgeht, ist künftig jedenfalls eine deutlich flexiblere Beurteilung der einschlägigen Sachverhalte geboten. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, ob eine institutionalisierte Form der Zusammenarbeit wirklich erforderlich ist.677 Da die generelle Freistellung von Versicherungsgemeinschaften entfallen ist, dürfte sich in der Praxis die schon jetzt bestehende Tendenz zu anderen, nicht institutionalisierten Formen der Zusammenarbeit verstärken, was unter Wettbewerbsaspekten durchaus zu begrüßen wäre.

IV. Durch die früheren GVO zusätzlich freigestellte Bereiche 319 Schon nach der VO (EU) Nr. 267/2010 bestand keine Gruppenfreistellung mehr für die in der Praxis sehr wichtige Erstellung von Muster-AVB durch den GDV sowie für die Prüfung und Anerkennung von Sicherheitsvorkehrungen. Nach Erwägungsgrund 3 VO (EU) Nr. 267/2010 sind diese beiden Arten der Zusammenarbeit keine spezifische Besonderheit des Versicherungssektors. Da sie auch Anlass zu wettbewerbsrechtlichen Bedenken geben könnten, sei eine Selbstveranlagung angemessener.678 Die Voraussetzungen des Art. 101 AEUV mussten insoweit also schon bislang nach den allgemeinen Grundsätzen im Einzelfall geprüft werden.679 Bei der Beurteilung dieser Bereiche kann ebenfalls auf die Horizontalleitlinien der Kommission zurückgegriffen werden.680 So stellt die Kommission für die Festlegung von Standardbedingungen drei Voraussetzungen auf, unter denen mit keiner wettbewerbsbeschränkenden Wirkung zu rechnen sei: nämlich (a) die uneingeschränkte Beteiligung der Wettbewerber auf dem relevanten Markt, (b) die Unverbindlichkeit und (c) die uneingeschränkte Zugänglichkeit der Standardbedingungen.681 Beispiel 11 erläutert, dass die von einem nationalen Verband der Versicherungsbranche verbreiteten nicht verbindlichen standardisierten Bedingungen für ein Versicherungsprodukt „wahrscheinlich“ die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen, weil sie den Wettbewerb beleben, indem sie dem Verbraucher den Produktvergleich und damit den Wechsel zwischen Versicherungsunternehmen erleichtern.682 Nach Beispiel 4 haben die von einer Gruppe von Versicherungsunternehmen entwickelten nicht verbindlichen Normen für die Installation bestimmter Sicherheitsvorkehrungen bei Einhaltung der Transparenzanforderungen im Allgemeinen schon keine wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen; jedenfalls würden die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt scheinen.683

E. Gewerberechtliche Anforderungen an Versicherungsvermittler I. Systematische Vorbemerkung 320 Versicherungsvermittlerrecht hat – wie das Versicherungsrecht insgesamt – vertragsrechtliche und öffentlich-rechtliche Aspekte. Erstere wurden bereits oben berücksichtigt (zu den vertragsrechtlichen Pflichten des Versicherungsvermittlers → Rn. 168 ff.). Letztere werden hier als gewerberechtliche Anforderungen gesondert behandelt. Sie sind auch nicht Teil des ebenfalls öffentlich-rechtlichen Abschnitts über die Versicherungsaufsicht. Denn nicht 677 Vgl. Bericht der Kommission, COM(2016) 153 final, Rn. 46. 678 Vgl. auch Mitteilung der Kommission über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen und abgestimmten Verhaltensweisen im Versicherungssektor vom 30.3.2010, ABl. 2010 C 82/20, Rn. 19 und 26. 679 Vgl. Körber in Looschelders/Michael, S. 21 (32 f.). 680 Vgl. Dauses/Ludwigs/Hoffmann HdBEUWiR H. Rn. 56. 681 Leitlinien Tz. 301, ABl. 2011 C 11; vgl. auch Dreher/Hoffmann in Langheid/Wandt, Bd. 3, VersKartellR, Rn. 109. 682 Leitlinien Tz. 335, ABl. 2011 C 11. 683 Leitlinien Tz. 328, ABl. 2011 C 11.

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E. Gewerberechtliche Anforderungen an Versicherungsvermittler

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nur im deutschen, sondern auch im europäischen Recht ist das Versicherungsaufsichtsrecht an die Versicherungsunternehmen und deren Leitungsorgane gerichtet. Beim Versicherungsaufsichtsrecht handelt es sich um ein unternehmensbezogenes Spezialrechtsgebiet gegenüber dem allgemeinen Gewerberecht. Die Versicherungsvermittler hingegen, die also nicht der Versicherungsaufsicht unterliegen, sind „klassisch“ gewerberechtlich zu erfassen. Diese systematische Trennung erfolgt hier, obwohl beide Aspekte des Versicherungsvermittlerrechts durch den Europäischen Gesetzgeber in einer einzigen Richtlinie geregelt wurden. Die Trennung zwischen Privatversicherungsrecht und Aufsichts- bzw. Gewerberecht ist dem Europäischen Recht keineswegs fremd, sind auch die einzelnen Richtlinien bereichsspezifisch und damit querschnittsbezogen. Bei der gewerberechtlichen Betrachtung wird es also nicht um die Pflichten des Versiche- 321 rungsvermittlers gegenüber den Versicherungsnehmern im Einzelfall gehen, sondern um grundsätzliche Anforderungen an die Aufnahme und Ausübung der Vermittlertätigkeit. Denn mit der Richtlinie 2002/92/EG684 hat der Europäische Gesetzgeber die Vermittlertätigkeit zu einem erlaubnispflichtigen Gewerbe gemacht.685 Abgelöst wurde diese Richtlinie von der Insurance Distribution Directive (IDD).686 Eine Umsetzung der IDD in das deutsche Recht hat zum 23.2.2018 stattgefunden.687 Im deutschen Recht finden sich die Vorschriften zur Vermittlertätigkeit in §§ 11 a und 34 d GewO und in der Versicherungsvermittlung und -beratung (VersVermV). Änderungen dieser Verordnung bedürfen nach § 34 e Abs. 1 und 2 GewO nicht nur der Zustimmung des Bundesrates, sondern müssen auch den Bundestag passieren (so geschehen Ende 2018).

II. Anwendungsbereich Im Unterschied zur Richtlinie 2002/92/EG wendet sich die IDD nicht nur an Versiche- 322 rungsvermittler, sondern gilt auch für den Versicherungsvertrieb durch den Versicherer und seine Angestellten. Versicherungsvertrieb wird in Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 IDD definiert als „die Beratung, das Vorschlagen oder Durchführen anderer Vorbereitungsarbeiten zum Abschließen von Versicherungsverträgen, das Abschließen von Versicherungsverträgen oder das Mitwirken bei deren Verwaltung und Erfüllung, insbesondere im Schadensfall, einschließlich der Bereitstellung von Informationen über einen oder mehrere Versicherungsverträge aufgrund von Kriterien, die ein Kunde über eine Website oder andere Medien wählt, sowie die Erstellung einer Rangliste von Versicherungsprodukten, einschließlich eines Preis- und Produktvergleichs, oder ein Rabatt auf den Preis eines Versicherungsvertrags, wenn der Kunde einen Versicherungsvertrag direkt oder indirekt über eine Website oder ein anderes Medium abschließen kann.“ Vermittler ist dabei „jede natürliche oder juristische Person, die kein Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen oder ihre Angestellten und kein Versicherungsvermittler in Nebentätigkeit ist und die die Versicherungsvertriebstätigkeit gegen Vergütung aufnimmt oder ausübt“ (Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 IDD). Der deutsche Gesetzgeber definiert nach § 34 d Abs. 1 S. 1 GewO den Versicherungsver- 323 mittler als jemanden, der gewerbsmäßig den Abschluss von Versicherungs- oder Rückver684 V. 9.12.2002, ABl. L 9/3. 685 Bis 2006 war Deutschland das einzige Land in Europa, das für die Aufnahme von Versicherungsvermittlertätigkeiten keine Gewerbeerlaubnispflicht vorsah, vgl. Winter, S. 504. 686 Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 über Versicherungsvertrieb, ABl. L 26/19. 687 Durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 über Versicherungsvertrieb und zur Änderung weiterer Gesetze v. 28.7.2017, BGBl. I 2789 ff.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

sicherungsverträgen vermitteln will. Nach § 34 d Abs. 1 S. 2 GewO handelt es sich dabei um eine Person, die als Versicherungsvertreter eines oder mehrerer Versicherungsunternehmen oder eines Versicherungsvertreters damit betraut ist, Versicherungsverträge zu vermitteln oder abzuschließen (Nr. 1) oder als Versicherungsmakler für den Auftraggeber die Vermittlung oder den Abschluss von Versicherungsverträgen übernimmt, ohne von einem Versicherungsunternehmen oder einem Versicherungsvertreter damit betraut zu sein (Nr. 2). Nicht erfasst werden lediglich vorbereitende Maßnahmen. So soll etwa die Reparatur eines unfallgeschädigten Wagens durch die Kfz-Werkstatt nicht als „Mitwirkung bei der Erfüllung des Versicherungsvertrags im Schadensfall“688 gelten und das Überbringen des Versicherungsantrags durch einen Boten nicht bereits eine „Durchführung von Vorbereitungsmaßnahmen“689 darstellen. Auch Personen, die lediglich Kontaktdaten weitergeben oder die Möglichkeit zum Abschluss von Versicherungsverträgen aufzeigen (sog Tippgeber), sind in der deutschen Umsetzung nicht als Versicherungsvermittler iSd Gewerbeordnung anzusehen.690 Der Umsetzungsspielraum wird dadurch nicht überschritten, da es sich um eine Typisierung lediglich „beiläufiger Tätigkeiten“ iSd Art. 2 Abs. 2 a) IDD handelt. 324 Dadurch dass der deutsche Gesetzgeber darüber hinaus in § 34 d Abs. 8 Nr. 1 GewO die nicht hauptberuflich tätigen Vermittler (Gelegenheitsvermittler) unter bestimmten, eng umgrenzten Voraussetzungen von der Erlaubnispflicht befreit, geht er an die Grenzen des Umsetzungsspielraums der Art. 3 und 10 IDD. Zu beachten ist, dass auch Versicherungsvermittler in Nebentätigkeit nach Art. 3 Abs. 1 IDD bei den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten einzutragen sind. Im deutschen Recht orientieren sich die qualitativen und quantitativen Voraussetzungen des § 34 d Abs. 8 Nr. 1 GewO, die kumulativ vorliegen müssen, weitgehend an der Definition des Versicherungsvermittlers in Nebentätigkeit in Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 IDD. Damit liegt auch in Deutschland kein Gelegenheitsvermittler vor, wenn er in bedeutsamem Umfang (über 600 EUR Jahresprämien) tätig wird oder die Versicherungen nicht nur eine Zusatzleistung zur Lieferung einer Ware oder zur Erbringung einer Dienstleistung darstellen.

III. Zulassungsverfahren 325 Gemäß Art. 3 Abs. 1 IDD sind Versicherungs- sowie Rückversicherungsvermittler und Versicherungsvermittler in Nebentätigkeitbei der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates einzutragen, wobei die Eintragung von der Erfüllung der beruflichen Anforderungen nach Art. 10 IDD abhängt, so Art. 3 Abs. 4 IDD. Das europäische Recht verfolgt damit einen doppelten Ansatz: Während in Art. 10 IDD eine qualitative Hürde für diese Tätigkeit errichtet wird, gewährleistet das Eintragungsverfahren, dass diese qualitativen Voraussetzungen nicht nur vor Beginn der Ausübung der Tätigkeit auch nachgewiesen und nachgeprüft werden, sondern dass außerdem Transparenz über die Berechtigung besteht. 326 In Deutschland obliegen sowohl das Zulassungsverfahren als auch das Eintragungsverfahren den Industrie- und Handelskammern (§§ 34 d Abs. 1 S. 1; 11 a Abs. 1 S. 1 iVm 34 d Abs. 10 S. 1 GewO), so dass Zulassung und Registrierung zeitgleich erfolgen können.691 Die Einsetzung der Industrie- und Handelskammern war im Vorfeld der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG nicht ganz unumstritten, zumal die BaFin als Versicherungsauf-

688 689 690 691

894

Vgl. BT-Drs. 16/1935, 17. Vgl. auch Dörner in Prölss/Martin GewO § 34 d Rn. 6. Vgl. BT-Drs. 16/1935, 16; Dörner in Prölss/Martin GewO § 34 d Rn. 7. BT-Drs. 16/1935, 16.

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E. Gewerberechtliche Anforderungen an Versicherungsvermittler

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sichtsbehörde oder die Gewerbeämter als sinnvolle Alternativen erachtet wurden.692 Zudem wurde eingewandt, dass die Industrie- und Handelskammern für die Vermittleraufsicht ungeeignet seien, da ihnen zum einen die fachliche Qualifikation fehle und sie zum anderen mit ihren 80 Einzelkammern693 nicht für eine deutschlandweit einheitliche Verwaltungspraxis sorgen könnten.694 Die örtliche Zuständigkeit richtet sich gem. § 11 a Abs. 1 S. 2 GewO nach Landesrecht. Die Industrie- und Handelskammern unterliegen nach § 11 a Abs. 1 S. 5 GewO der Aufsicht der jeweiligen obersten Landesbehörde. Einzelheiten über Bestandteile und Inhalt des Vermittlerregisters, das Eintragungsverfahren und den Zugang zum Register sind in den §§ 5–7 VersVermV (§§ 8–10 VersVermV-Entwurf) geregelt.

IV. Niederlassung und Erbringung von Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten Für die erstmalige Aufnahme einer Vermittlungstätigkeit im Rahmen der Dienstleistungs- 327 oder Niederlassungsfreiheit in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten schreibt Art. 4 Abs. 1 und 6 Abs. 1 IDD eine entsprechende Mitteilung vor Aufnahme der Tätigkeit an die Registerbehörde des Herkunftsmitgliedstaates vor. Dabei soll der Vermittler die Absicht haben, im Ausland Versicherungen oder Versicherungsdienste anzubieten, wobei nicht nur der Sitz der Versicherungsnehmer, sondern auch die Belegenheit des versicherten Risikos im Ausland liegen sollen.695 Um Versicherungsvermittlungstätigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug effektiv über- 328 wachen zu können, sieht Art. 13 Abs. 1 IDD vor, dass die Behörden der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. Der Kern der Zusammenarbeit besteht in dem in Art. 13 Abs. 2 und 3 IDD geregelten Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten. Dieser greift vor allem auch, wenn aufgrund rechtswidrigen Verhaltens nationale Sanktionen ergangen sind bzw. die Untersagung der Vermittlertätigkeit angeordnet wurde. Es geht also auch und gerade um personenbezogene Daten. Das wirft grundrechtliche Fragen auf, die gegebenenfalls an den Maßstäben des Art. 8 GRC zu messen sind.696 In Deutschland wurden Pflichten und Verfahren gem. Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 sowie Art. 13 329 IDD in § 11 a Abs. 4, 6–8 GewO umgesetzt. § 11 a Abs. 6 GewO erläutert dabei, auf welche Weise ein Informationsaustausch zu erfolgen hat und differenziert diesbezüglich zwischen regelmäßigen Mitteilungen (Nr. 3 und 4), Mitteilungen auf Ersuchen (Nr. 1) und Mitteilungen ohne Ersuchen (Nr. 2). Die Übermittlung von Informationen an andere mitgliedstaatliche Behörden obliegt dabei dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie welches sich nach § 11 a Abs. 6 S. 2 GewO seinerseits des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) als gemeinsamer Stelle bedient.

V. Berufliche Anforderungen In Art. 10 Abs. 1 IDD ist vorgegeben, dass Versicherungs- und Rückversicherungsvertrei- 330 ber sowie Angestellte von Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen, die die Tätigkeit des Versicherungs- oder Rückversicherungsvertriebs ausüben, über die angemesse692 Die Einsetzung der Gewerbeämter wurde insbes. aus Kostengründen abgelehnt, vgl. Winter, S. 508. 693 Vgl. deutschlandweite IHK Adressen, abrufbar unter h t t p : / / w w w . d i h k . d e / i h k - f i n d e r (Stand: 28.5.2019). 694 Reiff VersR 2004, 142 (145); Winter, S. 508. 695 BeckOK-GewO/Ramos § 11 a Rn. 29. 696 Zum Verhältnis dieser Maßstäbe zu denen des nationalen Grundrechtsschutzes vgl. Michael/Morlok, Rn. 101, 104 ff.

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§ 11 Europäisches Versicherungsrecht

nen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen müssen, die sie zur ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen, wobei eine Anpassung der Anforderungen an die Tätigkeit des Vertreibers und die von ihm vertriebenen Produkte erfolgt, Art. 10 Abs. 2 IDD. Hiervon sollen insbesondere Fälle umfasst werden, in denen die Vermittlertätigkeit nicht hauptberuflich ausgeübt wird. Art. 10 Abs. 3 IDD verlangt, dass Personen, die in einem Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen oder bei einem Versicherungs- oder Rückversicherungsvermittler arbeiten und Versicherungs- oder Rückversicherungsvertrieb betreiben, einen guten Leumund besitzen. Insofern werden Mindestanforderungen vorgegeben. Danach darf der Vertreiber nicht im Zusammenhang mit schwerwiegenden Straftaten in den Bereichen Eigentums- oder Finanzkriminalität ins Strafregister oder ein gleichwertiges einzelstaatliches Register eingetragen und er darf nie in Insolvenz gegangen sein. Ausnahmen werden vorgesehen, wenn ein Vertreiber gemäß nationalem Recht rehabilitiert wurde. Zudem muss nach Art. 10 Abs. 6 IDD sichergestellt sein, dass der Vermittler finanziell in der Lage ist, die Prämien an das Versicherungsunternehmen, den Erstattungsbetrag oder eine Prämienvergütung an den Versicherten weiterzuleiten. 331 Überdies müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 2 IDD sicherstellen, dass Versicherungs- und Rückversicherungsvermittler sowie Angestellte von Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen und Angestellte von Versicherungsvermittlern den Anforderungen ständiger beruflicher Schulung und Weiterbildung genügen, um auf diese Weise ein angemessenes Leistungsniveau aufrechtzuerhalten. Nach Art. 10 Abs. 4 und 5 IDD muss der Versicherungsvermittler über eine angemessene Berufshaftpflicht verfügen. Entsprechend sieht der Katalog des § 34 d Abs. 5 GewO vor, dass der Versicherungsvermittler zuverlässig sein muss, in geordneten Vermögensverhältnissen lebt, eine Berufshaftpflichtversicherung besitzt und mittels bestandener IHK-Prüfung nachweisen kann, dass er über die für die Vermittlertätigkeit erforderliche Sachkunde über die versicherungsfachlichen (insbesondere hinsichtlich Bedarf, Angebotsformen und Leistungsumfang) und rechtlichen Grundlagen sowie die Kundenberatung verfügt. Die erforderliche Zuverlässigkeit fehlt nach Satz 2 in der Regel, wenn eine Verurteilung wegen Eigentums-, oder Vermögensdelikten vorliegt. Europarechtskonform muss es sich dafür um eine erhebliche Straftat handeln, die ins Bundeszentralregister eingetragen wurde. Da gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 3 BZRG solche Straftaten spätestens nach fünf Jahren nicht mehr im Führungszeugnis auftauchen, beschränkt sich die Überprüfung auf die letzten fünf Jahre, was wohl europrechtskonform ist, da insoweit von einer Rehabilitierung ausgegangen werden kann. Nach Satz 3 liegen ungeordnete Vermögensverhältnisse vor, wenn ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde. § 34 d Abs. 9 S. 2 sieht eine entsprechende Weiterbildungspflicht in Höhe von 15 Stunden je Kalenderjahr vor. 332 Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

C-9/56

Slg 19581

Meroni I

BeckRS 2004, 73861

EuGH

C-10/56

Slg 1958, 51

Meroni II

BeckRS 2004, 70579

EuGH

C-1/76

Slg 1976, 1017

Binnenschifffahrt

BeckRS 2004, 70561

EuGH

C-210/8

Slg 1983, I-2503, Rn. 20

Gerling

NJW 1984, 2760 = IPRax 1984, 259

EuGH

C-29/84

Slg 1985, 1661

EuGH

C-205/84

Slg 1986, I-3755

896

BeckRS 2004, 72968 Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland

NJW 1987, 572 = VersR 1986, 1225

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

EuGH

Rs. 45/85

Slg 1987, 405

Verband der Sach- NJW 1987, 2150 = VersR versicherer – 1987, 169 „Feuerversicherung“

EuGH

C-116/86

Slg 1988, 1323, 14

Kommission/ Italien

EuGH

C-58/89

Slg 1991, I-4983

EuGH

C-129/94

Slg 1996, I-1829

Ruiz Bernáldez

EuZW 1996, 735 = VersRAI 1997, 17 (Ls.)

EuGH

C-412/98

Slg 2000, I-5925

Group Josi Reinsurance Company SA

NJW 2000, 3121 = EuR 2000, 634

EuGH

C-412/98

Slg 2000, I-5925

Group Josi Reinsurance

NJW 2000, 3121 = VersR 2001, 123

EuGH

C-481/99

Slg 2001, I-9945

Heininger

NJW 2002, 281 = DB 2001, 2710

EuGH

C-537/03

Slg 2005, I-5745

Candolin

EuZW 2005, 593 = VersRAI 2006, 34

EuGH

C-112/03

Slg 2005, I-3707

Société industrielle NJW 2005, 2135 = VersR et financière du 2005, 1261 Pelloux

EuGH

C-217/04

Slg 2006, I-3771

ENISA

EuGH

C-77/04

Slg 2005, I-4509

Groupement d´in- EuZW 2005, 594 = VersR térêt économique 2005, 1001 [GIE] Réunion européenne

EuGH

C-13/05

Slg 2006, I-6467

EuGH

C-356/05

Slg 2007, I-3067

Elaine Farell

NJW 2007, 2029 = VersRAI 2007, 33

EuGH

C-412/06

Slg 2008, I-2383

Hamilton

NJW 2008, 1865 = VuR 2008, 268

EuGH

C-463/06

Slg 2007, I-11321

FBTO/Jack Odenbreit

NJW 2008, 819 = VersR 2008, 111

EuGH

C-199/08

Eschig

NJW 2010, 355

EuGH

C-347/08

Slg 2009, I-8663

Vorarlberger Gebietskrankenkasse

EuZW 2009, 855 = VersR 2009, 1512

EuGH

C-236/09

Slg 2011, I-800

Test-Achats

ABl. Nr. C 130 = NJW 2011, 907 = VersR 2011, 377

EuGH

C-92/09 und C-93/09

Schecke

ABl. 2011 Nr. C 13, 6 = NJW 2011, 1338 = EuZW 2010, 862

NVwZ 1992, 459 = EuZW 1991, 761

EuZW 2006, 369 = DVBl 2006, 835

NZA 2006, 839 (840) = EuZW 2006, 472

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897

11

11

§ 11 Europäisches Versicherungsrecht Gericht

Az.

EuGH

Sammlung

Benennung

Fundstellen

C-409/09

José Maria Ambròsio Lavrador und Maria Cândida Olival Ferreira Bonifácio

ABl. 2011 Nr. C 226, 4 = NJW Spezial 2011, 458 = VersRAI 2012, 2

EuGH

C-484/09

Manuel Carvalho Ferreira Santos

ABl. 2011 Nr. C 139, 7 = NJW 2011, 2633 = VersRAI 2011, 34

EuGH

C-111/09

Česká podnikatelská pojišt’ ovna as, Vienna Insurance Group

EuZW 2010, 678 = VersR 2010, 1099

EuGH

C-541/11

Grilc

BeckRS 2013, 80259

EuGH

C-209/12

Endress

NJW 2014, 452 = VersR 2014, 225

Slg 2010, I-4545

EuGH

C-442/12

Sneller

VersR 2013, 1530

EuGH

C-162/13

Vnuk

NJW 2014, 3631

EuGH

C-240/14

Prüller-Frey

NJW 2016, 385

EuGH

C-521/14

SOVAG

DAR 2016, 79

EuGH

C-135/15

Nikiforidis

EuZW 2016, 940 = NJW 2017, 141

EuGH

C-334/16

Núñes Torreiro

VersR 2018, 1319

EuGH

C-340/16

MMA IARD

VersR 2017, 1481

EuGH

C-503/16

Delgado Mendes

NJW 2018, 139

EuGH

C-514/16

Andrade

VersR 2018, 156

EuGH

C-106/17

Hofsoe

VersR 2018, 1020

EuGH

C-80/17

Juliana

VersR 2018, 1370

EuGH

C-648/17

BTA Baltic Insurance Company

r+s 2019, 452

EuGH

C-100/18

Línea Directa Ase- VersR 2019, 1008 guradora

BVerfG

2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92

BVerfGE 88, 203

BVerfG

2 BvR 2034/92, 2 BvR 2159/92

BVerfGE 89, 155

NJW 1993, 3047 = EuZW 1993, 1636

BVerfG

2 BvR 2661/06,

BVerfGE 126, 286 Mangold

NJW 2010, 3422 = EuZW 2010, 828

Schwangerschafts- NJW 1993, 1751 = Euabbruch II GZR 1993, 229

BVerfG

2 BvR 655/14

BVerwG

8 C 16/96

BVerwGE 107, 338

NVwZ 1999, 1114 = DVBl 1999, 399

BVerwG

7 C 15/98

BVerwGE 110, 216

NVwZ 2000, 440 = DVBl 2000, 810

BGH

VI ZR 189/59

BGHZ 34, 355

NJW 1961, 655 = VersR 1961, 284

898

VersR 2015, 693

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Verzeichnis wichtiger Entscheidungen Gericht

Az.

Sammlung

Benennung

Fundstellen

BGH

VI ZR 97/69, LM § 823 (F) BGB Nr. 29

BGH

IV a ZR 190/83

BGH

IV ZR 33/92, LM Nr. 19 § 9 (Bk) AGBGB

BGH

IV ZR 135/92

BGH

VIII ZR 317-97, LM Nr. 159 § 535 BGB

NJW 1998, 3114 = DB 1998, 2060

BGH

IV ZR 235/99, LM Nr. 6 § 9 (Bh) AGBG

NJW 2001, 1132 =VersR 2001, 184

BGH

IV ZR 121/00

BGH

IV ZR 257/03

NJW-RR 2004, 1258 = VersR 2004, 1037

BGH

IV ZR 192/04

NJW 2006, 1876 = VersR 2006, 641

BGH

VI ZR 200/05

BGHZ 176, 276

NJW 2007, 71 = VersR 2006, 1677

BGH

VIII ZR 200/05

BGHZ 179, 27, 36

NJW 2009, 427 = EuZW 2009, 155

BGH

I ZR 22/07

BGH

XI ZR 45/09

BGH

I ZR 66/08

NJW 2010, 3566 = VersR 2011, 269

BGH

IV ZR 194/09

ZIP 2012, 740 = BeckRS 2012, 07512

BGH

IV ZR 76/11

BGHZ 201, 101

NJW 2014, 2646 = VersR 2014, 817

BGH

IV ZR 73/13

BGHZ 202, 102

NJW 2014, 2723 = VersR 2014, 1065

NJW 1971, 459 = VersR 1971, 239 BGHZ 94, 356

NJW 1985, 2595 = VersR 1985, 146 NJW 1994, 520 = VersR 1993, 830

BGHZ 123, 83

BGHZ 147, 354

NJW 1993, 2369 = VersR 1993, 957

NJW 2001, 2014 = VersR 2001, 841

BeckRS 2009, 88767 BGHZ 184, 1

NJW 2010, 531 = VersR 2010, 469

BGH

IV ZR 105/13

VersR 2015, 876

BGH

IV ZR 353/16

NJW 2018, 1817

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899

11

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Allgemeines Literaturverzeichnis Diritto dell'Unione Europea: Parte Speciale, 5. Aufl.Aufl. Turin 2017 Adinolfi/Strozzi, Dir.UE Adinolfi, Adelina/Strozzi, Girolamo (Hrsg.), Diritto dell’Unione europea, 27 Aufl.Aufl. Turin 2016 Alonso García, Alonso García, Ricardo, Derecho comunitario: Sistema ConstiDer.com. tucional y Administrativo de la Comunidad Europea, Madrid 1994 Ambos, IntStrR Ambos, Kai, Internationales Strafrecht, 5.Aufl. München 2018 Basedow/Hopt/ Basedow, Jürgen/Hopt, Klaus J./Zimmermann, Reinhard Zimmermann/Bearb., (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. II, HndbEuPrivR Tübingen 2009 Bassenge/Roth, FamFG/ Bassenge, Peter/Roth, Herbert, FamFG/RPflG, 12. Aufl. HeidelRPflG berg 2009 Baur/Stürner/Bruns, Baur, Fritz/Stürner, Rolf/Bruns, Alexander ZwangsvollstreZwVllstR ckungsrecht, 13. Aufl. Heidelberg 2006 BEH/Bearb., EU Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Haag, Marcel, Die Europäische Union – Europarecht und Politik, 13. Aufl. Baden-Baden 2019 Bergmann/Lenz/Bearb., Bergmann, Jan/Lenz, Christopher (Hrsg.), Der Amsterdamer AmstV Vertrag: Eine Kommentierung der Neuerungen des EU- und EG-Vertrages, Köln 1998 Bernsdorff/Borowsky, Bernsdorff, Norbert/Borowsky, Martin, Die Charta der GrundProtokolle rechte der europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, Baden-Baden 2002 Berramdane/Rossetto, Berramdane, Abdelkhaleq/Rossetto, Jean, Droit institutionnel Dr.inst.UE de l’Union européenne, 3. Aufl. Paris 2017 Bieber/Maiani, PrécisBieber, Roland/Maiani, Francesco, Précis de droit européen, dr.eur. 2. Aufl. Bern 2011 Bleckmann, EuR Bleckmann, Albert, Europarecht, 6. Aufl. Köln u.a. 1997 Blumann/Dubouis, Blumann, Claude/Dubouis, Louis, Droit institutionnel de l’UniDr.inst.UE on européenne, 6. Aufl. Paris 2016 Boulouis, Dr.inst.UE Boulouis, Jean, Droit institutionnel de l’Union européenne, 6. Aufl. Paris 1997 Bradley, HbEUinst.law Bradley, Kieran, A handbook of the EU institutional law, Oxford 2016 Brenn, EuZP Brenn, Christoph, Europäischer Zivilprozess, Wien 2005 Cairns, Intro.Eulaw Cairns, Walter, Introduction to the European Union law, 2. Aufl. London 2002 Calliess/Ruffert/Bearb. Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.),Verfassung der Europäischen Union, Kommentar der Grundlagenbestimmungen (Teil I), München und Wien 2006 Calliess/Ruffert/Bearb. Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), Kommentar zum EUV/AEUV EUV, AEUV, 5. Aufl. München 2016 Calliess/Ruffert/Bearb. Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), Kommentar zu EUV/EGV EU-Vertrag und EG-Vertrag, 3. Aufl. München 2007 Campbell/Bearb., CM- Campbell, Alan, Common Market Law, 4 Bde., London Law 1969-1975 Cannizzarro/Palchetti/ Cannizzarro, Enzo/Palchetti, Paolo/Wessel, Ramses A. (Hrsg.), Wessel International Law as Law of the European Union, Leiden 2012 Adinolfi/Strozzi,

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901

Allgemeines Literaturverzeichnis Cartou, CE Cartou, UE Cerexhe, dr.eur. CJKS/Bearb., CEE Cloos u. a., Tr.Maastricht Colucci/Ariano, UE Constantinesco, RdEG Craig/ de Búrca, EU Law Cremona, EUExtRel. Cremona/de Witte, EUForeRel. Cuthbert, Eulaw Daniele, Dir.UE Dauses/Ludwigs/Bearb. HdbEUWiR de Ruyt, AUE Dony, Dr.UE Dörr/Grote/Marauhn EMRK/GG Dörr/Lenz EuVerwRS Dreier/Bearb. GG

Dubouis/Blumann, Dr.mat.UE Eeckhout, EUExtRel.Law Ehlermann/Bieber/Bearb., HER Ehlers/Bearb., EUGrundrechte Fairhurst, LawEC Favret, Dr.etPratiqueUE Fischer/Köck, EuR

902

Cartou, Louis, Communautés Européennes, 10. Aufl. Paris 1991 Cartou, Louis (Begr.)/Clergerie, Jean-Louis/Gruber, Annie/ Rambaud, Patrick, L’Union européenne, 7. Aufl. Paris 2010 Cerexhe, Etienne, Le droit européen: les objectifs et les institutions, Brüssel 1989 Constantinesco, Léontin-Jean/Jacqué, Jean-Paul/Kovar, Robert/ Simon, Denys, Traité instituant la CEE, Paris 1992 Cloos, Jim/Reinesch, Gaston/Vignes, Daniel/Weyland, Joseph, Le Traité de Maastricht, 2. Aufl. Brüssel 1994 Colucci, Michele/Ariano, Ylenia, L’Unione europea, Bologna 2005 Constantinesco, Léontin-Jean, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, Das institutionelle Recht, Baden-Baden 1977 Craig, Paul, de Búrca, Gráinne, EU Law: Text, Cases, Materials, 6 Aufl. 2015 Cremona, Marise (Hrsg.), Developments in EU External Relations Law, 2008 Cremona, Marise/de Witte, Bruno (Hrsg.), EU Foreign Relations Law. Constitutional Fundamentals, Oxford 2008 Cuthbert, Mike, European Union law, 8. Aufl. London 2015 Daniele, Luigi, Diritto dell’Unione europea, 5. Aufl. Mailand 2014 Dauses, Manfred, Ludwigs, Markus (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, München, Loseblattwerk, 46. Aufl. 2019 de Ruyt, Jean, L'acte unique européen, 4. Aufl. Brüssel 1997 Dony, Marianne, Droit de l’Union européenne, 4. Aufl. Brüssel 2015 Dörr, Oliver/Grote, Rainer/Marauhn, Thilo (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl. Tübingen 2013 Dörr, Oliver/Lenz, Christofer, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2. Aufl. Baden-Baden 2019. Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. Tübingen 2013; Bd. II, 2. Aufl. Tübingen 2007; Bd. III, 3. Aufl. Tübingen 2013 Dubouis, Louis/Blumann, Claude, Droit matériel de l’Union européenne, 7. Aufl. Paris 2015 Eeckhout , Piet, EU External Relations Law, 3. Aufl. Oxford 2012 Ehlermann, Claus-Dieter/Bieber, Roland (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Rechts, Baden-Baden, Loseblattsammlung, 2019 Ehlers, Dirk, (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. Berlin 2016 Fairhurst, John, Law of the European Union, 8. Aufl. Harlow 2014 Favret, J.M., Manuel, Droit et Pratique de l’Union européenne, 6. Aufl. Paris 2008 Fischer, Peter/Köck, Heribert F./Karollus Margit M., Europarecht, 4. Aufl. Wien 2002

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903

Allgemeines Literaturverzeichnis Heselhaus/Nowak/ Bearb. Hess, EurZivilprzR

Heselhaus, Sebastian/Nowak, Carsten (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2 Aufl. München 2019 Hess, Burkhard, Europäisches Zivilprozessrecht, Heidelberg 2010 Hilf/Oeter, WTO-Recht Hilf, Meinhard/Oeter, Stefan (Hrsg.), WTO-Recht, 2. Aufl. Baden-Baden 2010 Saenger/Bearb., Saenger, Ingo, Zivilprozessordnung, 8. Aufl. Baden-Baden 2019 Hk-ZPO Horspool/Humphrey, Horspool, Margot/Humphrey, Matthew, European Union law, EUlaw 10. Aufl. Oxford 2018 Isensee/Kirchhof, HStR Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1.-3. Aufl. Heidelberg 1992-2011 Immenga/Mestmäcker/ Immenga, Ulrich/Mestmäcker, Ernst-Joachim, EG-WettbeBearb., EG-Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. München 2019 werbsrecht Ipsen, GemR Ipsen, Hans Peter, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972 Isaac, Dr.UE. Isaac, Guy, Droit général de l’Union européenne, 11. Aufl. Paris 2018 Jaag, EuropaR Jaag, Tobias, Europarecht, 4. Aufl. Zürich 2015 Jacqué, Dr.Inst.UE Jacqué, Jean-Paul, Droit institutionnel de l’Union européenne, 9. Aufl. Paris 2018 Jarass, Grundrechte Jarass, Hans D., Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. München 2016 Jayme/Hausmann, Jayme, Erik/Hausmann, Rainer (Hrsg.), Internationales PrivatInt.PrivVerfR und Verfahrensrecht, 19. Aufl. München 2018 Joliet, CE Joliet, René, Le droit institutionnel des Communautés européennes, 2 Bde., 3. Aufl. Liège 1990 Kapteyn/VerLoren van Kapteyn, Paul J. G./Mc Donnel, Alison/Mortelmans, Kamiel/ Themaat, EU Timmermans, Christiaan, Kapteyn & VerLoren van Themaat, The Law of the European Union and the European Communities, 4. Aufl. Alphen an de Rijn 2008 Karpenstein/Mayer/ Karpenstein, Ulrich/Mayer, Franz, Konvention zum Schutz der Bearb., EMRK Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. München 2015 Klip, EuCrimL Klip, André, European Criminal Law, 3. ed., Cambridge 2016 Labouz, Labouz, Marie-Francoise, Droit communautaire européen géDr.com.eur.gen. néral, Brüssel 2003 Lasok/Bridge, EC Lasok, Dominik/Bridge, John W., Law and Institutions of the European Communities, 7. Aufl. London 2001 Lenaerts/Bray, Lenaerts, Koen/Bray, Robert, Constitutional Law of the EuroConst. lawEU pean Union, 3. Aufl. London 2010 Lenz/Bearb., EG-Hdb. Lenz, Carl Otto (Hrsg.), EG-Handbuch Recht im Binnenmarkt, 2. Aufl. Herne u.a. 1994 Lenz/Borchardt/Bearb., Lenz, Carl Otto/Borchardt, Klaus-Dieter (Hrsg.), EU-Verträge, EU-Verträge Kommentar, 6. Aufl. Köln u.a. 2012 Linde Paniagua, Linde Paniagua, Enrique, Principios de derecho de la Unión EuPrinc.der.UE ropea, 5. Aufl. Madrid 2012 Lowenfeld, IntEcoLaw Lowenfeld, Andreas, International Economic Law, 2. Aufl. Oxford 2008

904

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Allgemeines Literaturverzeichnis Lüke/Wax, MüKOZPO Mangas Martin/Linán Nogueras, Instit.

Lüke, Gerhard/ Wax, Peter, Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 5. Aufl. München 2017 Mangas Martin, Araceli/Linán Nogueras, Diego y der.UE J., Instituciones y derecho de la Unión Europea, 6. Aufl. Madrid 2010 Manin, UE Manin, Philippe, L’Union européenne: institutions, ordre juridique, contentieux, Paris 2005 Mathijsen, GuideEUlaw Mathijsen, Petrus S.R.F., A Guide to the European Union Law, 11. Aufl. London 2013 Maunz/Dürig/Bearb., Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, München, LoseGG blattwerk Mayer/Bearb., EUV/ Mayer, Heinz (Hrsg.), Kommentar zum EUV, AEUV, Wien, LoAEUV seblattwerk Mayr, EuZPR Mayr, Peter G., Europäisches Zivilprozessrecht, Wien 2011 Mégret/Bearb., Dr.CEE Mégret, Jacques/Waelbroek, Michel/Louis, Jean-Victor/Vignes, Denis/Dewost, Jean-Louis, Le droit de la Communauté Economique Européenne, 15 Bde., teilweise 2. Aufl. Brüssel ab 1970 Mengozzi, IsMengozzi, Paolo, Istituzioni di diritto comunitario e dell’Uniotit.dir.com.UE ne europea, 2. Aufl. Padua 2006 Meyer/Bearb., GRC Meyer, Jürgen, (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. Baden-Baden 2014 Meyer-Goßner, StPO Meyer-Goßner, Lutz, Strafprozessordnung, 54. Aufl. München 2011 Meyer-Ladewig/Nettes- Meyer-Ladewig, Jens/Nettesheim, Martin/von Raumer, Stefan, heim/v. Raumer, EMRK Europäische Menschenrechtskonvention: Handkommentar, 4. Aufl. Baden-Baden 2017 Mickel/Bergmann, EU Mickel, Wolfgang W./Bergmann, Jan M., Handlexikon der Europäischen Union, 3. Aufl. Köln 2005; 5. Aufl. Baden-Baden 2015 Mitsilegas, EUCrimL Mitsilegas, Valsamis, EU Criminal Law, Oxford 2009 Molina del Pozo, Molina del Pozo, Carlos Francisco, Derecho comunitario, BarDer.com. celona 2004 MüKo-ZPO/Bearb. Münchener Kommentar zu Zivilprozessordnung, 5. Aufl. München 2017 Musielak/Bearb., ZPO Musielak, Hans-Joachim (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 10. Aufl. München 2013 Nagel/Gottwald, IntZi- Nagel, Heinrich/Gottwald, Peter, Internationales ZivilprozessvilPrzR recht, 7. Aufl. Köln 2013 Nicolaysen, EuR I bzw Nicolaysen, Gert, Europarecht I, 2. Aufl. Baden-Baden 2002; EuR II Europarecht II, Das Wirtschaftsrecht im Binnenmarkt, BadenBaden 1996 Niedobitek/Bearb. Niedobitek, Matthias, Europarecht: Grundlagen der Union, Berlin 2014 NK-StGB/Bearb. Kindhäuser, Urs/Neumann, Ulfrid/Paeffgen, Hans-Ullrich (Hrsg.), Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. Baden-Baden 2017 Oppermann/Classen/ Oppermann, Thomas/Classen Klaus Dieter/Nettesheim Martin, Nettesheim, EuR Europarecht, 8. Aufl. München 2018

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905

Allgemeines Literaturverzeichnis Paulus, ZivilprozessR

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906

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Allgemeines Literaturverzeichnis Schütze, IntZivilprz. Schütze/Tridimas, Oxford Principles Schwappach/Bearb., EU-Rhdb. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht Schwarze/Bearb., EUKommentar Schweitzer/Hummer, EuR Sieber/Brüner/ Satzger/von HeintschelHeinegg/Bearb., EuStrR Simmonds/Bearb., Enc.ECLaw Smit/Herzog/Bearb., LawEEC Stein/Jonas, ZPO-Kommentar Stern/Sachs Streinz, EuR Streinz/Bearb., EUV/ AEUV Streinz/Bearb., EUV/EGV Strozzi, Dir.UE Terhechte/Bearb., HdBEUVerwR Tesauro, Dir.com. Tettinger/Stern/Bearb., GRC Thomas/Putzo/Bearb., ZPO Thun-Hohenstein, EUV Toth, Oxf.Enc.ECLaw

Schütze, Rolf A., Das internationale Zivilprozessrecht in der ZPO, 2. Aufl. Berlin 2011 Schütze, Robert/Tridimas, Takis (Hrsg.) Oxford Principles of European Union Law, 2018 Schwappach, Jürgen, (Hrsg.), EU-Rechtshandbuch für die Wirtschaft, 2. Aufl. München 1996 Schwarze, Jürgen, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. erw. Aufl. Baden-Baden 2005 Schwarze, Jürgen, Europäisches Wirtschaftsrecht – Grundlagen, Gestaltungsformen, Grenzen, Baden-Baden 2007 Schwarze, Jürgen, EU-Kommentar, 4. Aufl. Baden-Baden 2019 Schweitzer, Michael/Hummer, Waldemar, Europarecht, 6. Aufl. Neuwied 2005 Sieber, Ulrich/ /Satzger, Helmut/von Heintschel-Heinegg, Bernd (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2 Aufl. Baden-Baden 2014 Simmonds, Kenneth R. (Hrsg.), Encyclopedia of European Community Law, 9 Bde., London 1976, Loseblattsammlung Smit, Hans/Herzog, Peter (Hrsg.), The Law of the European Economic Community, New York, ab 1976, Loseblattwerk Stein, Friedrich/Jonas, Martin, Kommentar zur Zivilprozessordnung – Band 7 §§ 704 – 827, 22. Aufl. Tübingen 2002 Stern, Klaus/Sachs, Michael (Hrsg.), Europäische GrundrechteCharta: GRCh, München 2016 Streinz, Rudolf, Europarecht, 8. Aufl. Heidelberg 2010; 9. Aufl. Heidelberg 2012 Streinz, Rudolf (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 3. Aufl. München 2018 Streinz, Rudolf (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EGVertrag, München 2003 Strozzi, Girolamo, Diritto dell’Unione europea, 4. Aufl. Turin 2009 Terhechte, Jörg Philipp (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, Baden-Baden 2011 Tesauro, Giuseppe, Diritto dell’Unione Europea, 6. Aufl. Padua 2010 Tettinger, Peter J./Stern, Klaus (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, München 2006 Thomas, Heinz/Putzo, Hans, Zivilprozessordnung, 40. Auflage München 2019 Thun-Hohenstein, Christoph, Der Vertrag von Amsterdam, Wien 1997 Toth, Akos-G., The Oxford Encyclopedia of European Community Law, Bd. I, Institutional law, Oxford 1990; Bd. II, The law of the internal market, Oxford 2005; Bd. III, Competition Law and Policy, Oxford 2008

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Allgemeines Literaturverzeichnis Tridimas, gen.princ.EUlaw Vaughan/Bearb., LawEU Vedder/Heintschel v. Heinegg/Bearb., EVV

Wieczorek/Schütze, ZPO Wyatt/Dashwood, EULaw

Tridimas, Takis, The general principles of the EU law, 2. Aufl. Oxford 2006 Vaughan, David/Robertson Aidan (Hrsg.), Law of the European Communities, 4. Aufl. London ab 1990 Vedder, Christoph/Heintschel von Heinegg, Wolff (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, Handkommentar, 2. Aufl. Baden-Baden 2018 Vedder, Christoph/Heintschel von Heinegg, Wolff (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Handkommentar, Baden-Baden 2. Auflg. 2018 von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. Berlin, Heidelberg 2009 von der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen/Hatje, Armin (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 1–4, 7. Aufl. Baden-Baden 2015 Weatherill, Stephen/Beaumont, Paul, EC Law, 2. Aufl. London 1995; EU Law, 3. Aufl. London 1999 Wohlfahrt, E./Everling, U./Glaesner, H./Sprung, R., Kommentar zum EWG-Vertrag, Berlin 1960 Wieczorek, Bernhard/Schütze, Rolf A., Zivilprozessordnung, Band 6, . Berlin, 4. Auflage 2014 Wyatt, Derrick/Dashwood, Alan (Hrsg.), European Union Law, 6. Aufl. London 2011

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Vedder/Heintschel v. Heinegg/Bearb., Unionsrecht von Bogdandy/Bast/Bearb. von der Groeben/ Schwarze/Hatje Bearb., Unionsrecht Weatherill/Beaumont, ECLaw bzw EULaw WEGS/Bearb.

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Stichwortverzeichnis Die fetten Zahlen verweisen auf die Paragrafen, die mageren Zahlen beziehen sich auf die Randnummern. „5+1“-Modell 4 70 Abgabenbelastungen, diskriminierende 8 13 Abgabe von Arzneimitteln 9 138 – Genehmigungsfreiheit 9 145 Abhilfemaßnahmen 4 62, 67, 82 – marktmachtabhängig 4 64 – marktmachtunabhängig 4 65 Abschottung des Marktes 9 193 Abwägung 4 96 – Vorsteuerung 4 97 Abwicklungsfonds 10 149 Abwicklungskonzept 10 151 Abwicklungsmechanismus, einheitlicher 10 1 Abwicklungspläne 10 149 Abwicklungsziele 10 150 ACER – ENISA-Entscheidung 5 147 – Entscheidungsbefugnisse 5 148 – ESMA-Entscheidung 5 147 – institutionelles Gleichgewicht 5 146 – Kompetenzgrundlage 5 149 – Meroni-Doktrin 5 145 ff. – Meroni-Kriterien 5 148 – Primärrechtskonformität 5 145 Adalat-Urteil 9 175 Adam-Urteil 2 10, 22 Administrativer Liberalisierungsansatz – Energiebinnenmarkt 5 5 Agency for the Cooperation of Energy Regulators (ACER) – Energieagentur ACER 5 135 Agenda 2000 7 45 – Systemwandel 7 48 Agenturen 1 63, 6 199, 10 101 – Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs 6 201 – Europäische Agentur für Flugsicherheit 6 202 – Europäische Eisenbahnagentur 6 200 Agrarausgaben 7 38 Agrarbeihilfen 7 94 – Agrar-De-minimis-Verordnung 7 122 – Anlastungsverfahren 7 170 – Aufsicht 7 124 – Cross Compliance 7 70, 163

– Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) 7 129 – Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) 7 129 – Gruppenfreistellungsverordnung 7 122 – Horvath-Urteil 7 25 – Niedermair-Schiemann- Urteil 7 25 – Schecke und Eifert-Urteil 7 172 – spezielles Diskriminierungsverbot 7 124 – staatliche Beihilfen 7 118 ff. – Transparenz 7 172, 174 – Unionsbeihilfen 7 118 f., 123 – Verbundbeihilfen 7 118 f., 125 – Vorabentscheidungsersuchen 7 53 Agrarbeihilfenrecht 7 118 Agrarisches Distributionssystem 7 194 Agrarkartellrecht 7 102 ff., 110 – Krisenermächtigung 7 108 f. Agrarrecht – Agrarsysteme der Zukunft 7 24 – Anwendungsbereich 7 23 f. – Ausdifferenzierung 7 29 – Bedeutung 7 7 f. – Begriff 7 9, 164 – Berufspraxis 7 92 – eigenständiges Rechtsgebiet 7 9 ff., 15 – Etymologie: „Agrar“ 7 17 – europäisches Agrarrecht 7 1 – Evaluation 7 201 – föderales Mehrebenensystem 7 27 – Gesundheitsschutz 7 79 – In-vitro-Fleisch 7 24 – künftige Rechtsentwicklung 7 201 – ländlicher Raum 7 24 – Mehrebenenbezug 7 31 – primärrechtliche Vorgaben 7 23 f. – Querschnittsklausel 7 82 – Querschnittsmaterie 7 31 – Rechtsangleichung 7 76 – Rechtsbegriffshistorie 7 28 – Rechtsetzungskompetenz 7 24, 26, 69, 71 – Rechtsetzungsverbund 7 31 – Struktur 7 92 f. – Tierschutz 7 82 f. – Vertical Farming 7 24 – weiter Begriff 7 29 f. – wohlgeordnetes Recht 7 13 Agrarsektor – Agrarkultur 7 5

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Stichwortverzeichnis – Diversifizierung 7 20 f. – föderales Mehrebensystem 7 27 – Globalisierung 7 202 – Kultursystem 7 1 – Multifunktionalität 7 20 f. Agrarumweltrecht 7 30, 68 Agrar- und Ernährungswirtschaftsrecht 7 184 Agrarwettbewerbsrecht 7 94 – Agrarwettbewerbsverordnung 7 98 – Anwendungsbereich 7 99 – Ausnahmevorschriften 7 98 – Direktzahlungenverordnung 7 98 – ELER-Verordnung 7 98 – Kartellverbot 7 102 – primärrechtliche Vorgaben 7 95, 97 – Sekundärrecht 7 98 – unlautere Handelspraktiken 7 98 – Vorrang 7 96 Agrarwettbewerbsverordnung 7 98 Agrarzahlungen-VerpflichtungsVO 7 167 Agribusiness 7 19 Agroforst 7 74 AIFM 10 72 Air Transport Association of America-Urteil 5 20 Allgemeine Regelungen im Primärrecht 6 93 – Binnenmarkt 6 94 – Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse 6 110 – EU-Grundrechte 6 103 – Grundfreiheiten 6 97 – Querschnittsklauseln 6 113 – Wettbewerbsrecht 6 107 Allgemeine Versicherungsbedingungen 11 199 Allgemeingenehmigung 4 24 Almelo-Entscheidung 5 5 Almelo-Urteil 5 112 Altgesellen 3 32 Amtshaftung 10 77 Amtshilfe 10 94 Anbieterwechsel 4 198 Angebot, kombiniertes 4 10 Angebotsumstellungsflexibilität 4 43 Anlegerentschädigungsrichtlinie 10 78 Anlegerschutz 10 76 Antiterrordatei-Urteil (BVerfG) 5 109 Apothekenmonopol 9 151 Apotheker 2 88 Arcelor-Urteil 5 20, 237

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Architekten 2 94 Arcor-Urteil 2 95 Artegodan-Urteil 9 133 Arzneimittel – Abgrenzung zu Kosmetika 9 3, 49 – Abgrenzung zu Medizinprodukten 9 52 – Abgrenzung zu Nahrungsmitteln 9 3, 41 – als Ware 9 15 – Begriff 9 3, 35 – Herstellung 9 58 – Parallelimport 9 162 – physiologische Wirkung 9 46 – Preisbildung 9 215 – Qualität und Sicherheit 9 29, 59, 135, 196 – Versandhandel 9 156 – Verschreibungspflicht 9 141 – Vertrieb 9 150 – Werbung 9 201 – wirtschaftliche Bedeutung 9 1 Ärzte 2 80, 84 – Allgemeinmedizin 2 86 – Facharzt 2 81, 85 – Tierarzt 2 81 – Zahnarzt 2 81 Ärztliche Verordnung 9 18 Association belge des consommateurs testachats ASBL-Urteil 5 126 Aufsichtskollegien 10 98 Aufsichtsmechanismus, einheitlicher 10 1 Aufsichtsversagen 10 30 Ausblick 6 214 Ausfuhrerstattungen 7 145 Ausfuhrlizenzen 7 145 Ausschuss für elektronische Kommunikation (ECC) 4 35 Ausschuss für Humanarzneimittel 9 69, 94 Außenaspekte des EU-Lebensmittelrechts 8 95 – Außenhandelskompetenz 8 28 – Codex-Alimentarius-Kommission 8 104 – Einfuhren aus Drittstaaten 8 96 – Einfuhren aus Drittstaaten, Einfuhrkontrolle 8 96 – Einfuhren aus Drittstaaten, Kontrolle vor Ort 8 96 – Einfuhren aus Drittstaaten, Lebensmittel aus ökologischer Erzeugung 8 99 – FAO 8 104 – SPS-Abkommen, Schutzstandards 8 101

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Stichwortverzeichnis – SPS-Abkommen, Verhältnis zum EURecht 8 101 – TBT-Abkommen 8 100 – World Organisation for Animal Health 8 105 – WTO-Recht 8 100 – WTO-Recht, Vorsorgegrundsatz 8 101 – WTO-Recht, WTO-induzierte Inländerdiskriminierung 8 103 Außenhandel 7 145 Außerrechtliche Maßnahmen 6 203 – Pläne 6 205 – Programme 6 205 – Soft Law 6 204 – Strategien 6 205 Austauschbarkeit auf der Nachfrageseite 4 43 Auswahlermessen 4 96 Azienda Agro-Zootecnica-Entscheidung 5 73 Bail-out-Verbot 1 20 Bankenaufsicht – direkte 10 144 – indirekte 10 145 Bankenunion 10 1, 137 Basel III 10 44 Basisprämie 7 147 Basler Ausschuss für Bankenaufsicht 10 41 Befähigungsnachweis, großer 3 6, 31 Beförderung 6 32 – Begriff 6 32 – Binnenschiffsverkehr 6 31, 157 – Eisenbahnverkehr 6 29, 120 – Kompetenzen 6 90 – Luftfahrt 6 33, 35, 176 – normative Ausgestaltung 6 88 – Seeschifffahrt 6 33, 163 – Straßenverkehr 6 30 – transeuropäische Netze 6 87 – Verhältnis zur gemeinsamen Verkehrspolitik 6 91 Beihilfenrecht 4 191 Beratungspflicht 11 168 – Form 11 174 – Umfang 11 172 – Verzicht 11 173 Beratungsverfahren 4 91 Bereichsausnahme – Handwerk 3 34 Berücksichtigungsverfahren 4 79 Berufsanerkennungsrichtlinie 2 8, 11 – Anerkennungsverfahren 3 70

– Anerkennung von Berufserfahrung 3 36, 65, 68 – Ausbildungsstandards Handwerk 3 29 – Berufsbezeichnung 3 45, 72 – Dequalifizierungsspirale 3 29 – gemeinsame Ausbildungsrahmen und Ausbildungsprüfungen 3 71 – grenzüberschreitende Dienstleistungen 3 44 – grenzüberschreitende Niederlassung 3 63 – Handwerk 3 23, 26, 48 – Kontrolle im Aufnahmestaat 3 50, 55 – partieller Zugang zu einer Tätigkeit 3 33 – Reform 3 27 – unselbstständige Tätigkeit 3 43 Berufsethik 2 26 Berufshaftpflichtversicherung 2 43 Berufsständische Vereinigungen 2 97 Besonderes Verwaltungsrecht 1 57 Besonderheit, ökonomische 4 13 Bestandsübertragung 11 141 Beteiligungsrechte 4 147 Beteiligung von Verbrauchern 4 196 Beträchtliche Marktmacht (SMP) 4 56 Betriebsleiter 3 42 Beurteilungsspielraum 4 153 Bezugsarzneimittel 9 162 Bibliografische Zulassung 9 88 Binnenmarkt 1 10, 6 94, 9 13, 16, 23 – Verkehr als Grundvoraussetzung 6 95 – Verkehrsbinnenmarkt 6 96, 207 Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen 10 33 Binnenmarktinformationssystem (IMI) 3 24 f. Binnenmarktstrategie 2 5 Binnenmarktzuständigkeit 10 103 Binnenschifffahrt 6 31, 157 – Befähigung der Schiffsführer 6 162 – Fahrgastrechte 6 159 – Frachtraten 6 159 – Kapazitätsbegrenzungen 6 159 – Navigationshilfe- und Informationssystem 6 160 – technische Anforderungen 6 161 Bioäquivalenz 9 113, 170 Biotechnologische Verfahren 9 71 Bodenrahmenrichtlinie 7 166 Bottleneck 4 65 Branchenverbände 7 106 ff., 140

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Stichwortverzeichnis Breitband 4 12 – Förderung 4 191 – Internetzugangsdienst, angemessener 4 181 Bristol-Myers Squibb-Urteil 9 187 Brüssel I-VO 11 285 – Gerichtsstand 11 289 – Gerichtsstandsvereinbarung 11 293 – Großrisiko 11 286 – Haftpflichtversicherung 11 291 – rügelose Einlassung 11 297 – Vergleichsplan 11 285 – Versicherungssache 11 285 – Versicherung von unbeweglichen Sachen 11 291 BSE-Krise 8 1, 32 – Auswirkungen auf Kompetenzlage 8 27 – Auswirkungen auf Rechtssetzung 8 32 Buchführung, getrennte 4 126 Buchgeld 10 10 Campus-Oil-Urteil 5 58, 114, 219 Capture 1 51 Cassis de Dijon-Urteil 5 115, 9 107 CCS-Richtlinie 2009/31/EG 5 27 CEIOPS 11 4, 11, 24, 73, 328 – Durchführungsbefugnisse 11 7 – Durchführungsbestimmungen 11 5 – Handlungsformen 11 7 Cipolla und Meloni-Urteil 2 50 Citiworks-Entscheidung 5 100 Committee for Orphan Medical Products 9 127 Compassionate Use 9 145 Connecting Europe-Fazilität 5 221 Contergan-Skandal 9 1 Council of European Energy Regulators (CEER) 5 134 Cross Compliance 7 54, 70, 88, 148, 163 ff. Daseinsvorsorgeziel 4 31 Dassonville-Formel 9 152 Dassonville-Urteil 5 113 Delattre-Urteil 9 39, 149, 211 Delegierte Rechtsetzung 10 59 Demokratieprinzip 10 107 De Peijper-Urteil 9 167 Deregulierung 4 24 Dezentrales Verfahren 9 63, 100 Diätetische Nahrungsmittel 9 44 Dienste der Informationsgesellschaft 4 10

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Diensteneutralität 4 161 Dienstleistung 11 37 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse 6 110 – Berücksichtigung bei der Ausgestaltung der gemeinsamen Verkehrspolitik 6 111 – Gemeinwohlorientierung der Dienstleistung 6 110 Dienstleistungsfreiheit 9 226, 10 47 – Handwerksrecht 3 16 Dienstleistungsrichtlinie 2 8 – Handwerk 3 23 – Umgehungsklausel 3 46 Digitalisierung 10 32 Digitalisierung der Landwirtschaft 7 192 Direktversicherung 10 69 Direktzahlungen 7 146 – Förderstruktur 7 147 Direktzahlungenverordnung 7 98 Diskriminierungsverbot 4 67, 11 211, 257 – Alter 11 228 – Behinderung 11 227 – ethnische Herkunft 11 212 – Gender-Richtlinie 11 216 – Geschlecht 11 214 – Krankheit 11 227 – Mutterschaft 11 223 – Rasse 11 212 – Schwangerschaft 11 223 – Test-Achats-Urteil 11 217 DocMorris-Urteil 9 152 Dokumentationspflicht 11 169, 171 Doppelkontrollen 10 61, 93 Doppelsanktionierung 7 169 Dotationskapital 10 61 Drei-Kriterien-Test 4 49 – Insuffizienz des Wettbewerbsrechts 4 52 – rechtliche Hindernisse 4 50 – strukturbedingte Zugangshindernisse 4 50 – wirksamer Wettbewerb 4 51 Drittes Binnenmarktpaket 2009 – Leitlinien 5 161 – Rechtsakte (Überblick) 5 11 – Umsetzung 5 12 – Unbundling (Entflechtung) 5 13 – Vorschläge 5 10 Drittschutz 4 151 Drittstaatenklausel – EU-Grundfreiheiten 5 219 – Gazprom-Klausel 5 219

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Stichwortverzeichnis – Letztentscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten 5 218 – spezifisches Zertifizierungsverfahren 5 215 – Vorschaltverfahren 5 216 – Zwischenverfahren 5 217 DS-GVO 4 32 Duale Preisgestaltung 9 181 Dual use-Produkte 9 42 Duphar-Urteil 9 224 Durchführungsrechtsetzung 8 41, 10 60 Dyson-Urteil 5 164 EBA 10 100 eCommerce-Richtlinie 9 158, 209 Eco-Schemes 7 195 EDP-Urteil 5 126 Effizienzkostenmaßstab (Energie) 5 184 EFSA 8 48 – Aufgaben und Handlungsformen 8 48, 50 – Organe 8 49 – Rechtsschutz gegen Maßnahmen der 8 52 Eigenkapital 10 25 – Anforderungen 10 20 – Recht 10 87 Eigenverwaltungsrecht 7 158 Einfuhrlizenzen 7 145 Einfuhrzölle 7 145 Einheitliche Europäische Akte 7 39 Einheitlicher Abwicklungsmechanismus 10 138 Einheitlicher Aufsichtsmechanismus 10 137 Einlagensicherung 10 138 Einlagensicherungsrichtlinie 10 78 Einrichtungen – gemeinsame Nutzung 4 109 Einvernehmensanwalt 2 56 Einzelverbindungsnachweis 4 197 EIOPA 10 100, 11 3, 74 – Aufgaben 11 21 – Befugnisse 11 23 – Beschwerdeausschuss 11 20 – Empfehlungen 11 25 – Exekutivdirektor 11 19 – Finanzierung 11 30 – Kompetenzwidrigkeit 11 33 – Legitimation 11 46 – Leitlinien 11 25 – Organe 11 14 – Rat der Aufseher 11 14

– Rechtsgrundlage 11 33 – Rechtsschutz 11 40 – technische Durchführungsstandards 11 24 – technische Regulierungsstandards 11 24 – Übertragung von Entscheidungsbefugnissen 11 41 – Unabhängigkeit 11 16 – Verwaltungsrat 11 17 – Vorsitzender 11 18 EIOPC 11 4 – Durchführungsbefugnisse 11 4 Eisenbahnverkehr 6 29, 120 – Genehmigung 6 121 – Infrastrukturnutzung 6 123 – Selbstständigkeit von Unternehmen 6 122 – Wettbewerb 6 120 EKEK 4 18, 21 Elektronische Kommunikation 4 4 – Ausschuss für - (ECC) 4 35 Elektronische Kommunikationsdienste 46 Elektronische Kommunikationsnetze 4 5 ELER-Verordnung 7 98 Emissionshandel – 1. und 2. Handelsperiode 5 22 – 3. Handelsperiode 5 23, 223 – 4. Handelsperiode 5 25, 223 – Allokation 5 19 – Auktionsformat 5 229 – Ausnahmen von der Versteigerung 5 226 – Backloading 5 24 – Beseitigung von Marktversagen 5 18 – Carbon Leakage 5 227 – CCS-Richtlinie 2009/31/EG 5 27 – Emissionshandelspflichtigkeit 5 20 – Energie- und Industrieanlagen 5 20 – Entwicklungslinien 5 18 – EU-Beihilfenrecht 5 234 – EU-einheitliche Obergrenze 5 224 – EU-Grundrechte 5 237 – Front-Runner-Ansatz 5 231 – kostenlose Zuteilung 5 227 – kostenlose Zuteilung (3. Handelsperiode) 5 230 – Kyoto-Protokoll 5 18 – Lastenteilungsentscheidung Nr. 406/2009 5 26 – Lastenteilungsverordnung (EU) 2018/842 5 26 – Luftverkehr 5 20 – marktkonforme Mengensteuerung 5 19

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Stichwortverzeichnis – Marktstabilitätsreserve 5 24 f., 232 – Primärallokation 5 22 – produktbezogene Emissionswerte („Benchmarks“) 5 231 – Versteigerung als Grundprinzip 5 225 – Versteigerungsverfahren 5 228 Endkundenentgelt 4 33 Endnutzer 4 193 Endnutzerentgelte 4 120 End-zu-End-Verbund von Diensten 4 101 Energieagentur ACER 5 136 – Aufgaben und Befugnisse 5 142 – Beschwerdeausschuss 5 141 – Direktor 5 140 – Einzelentscheidungsbefugnisse 5 144 – Empfehlungen und Stellungnahmen 5 143 – Organisationsstruktur 5 137 – Rahmenleitlinien 5 143 – Regulierungsrat 5 139 – Verwaltungsrat 5 138 Energieaußenpolitik 5 97, 277 – Green Network-Urteil 5 97 Energiebinnenmarkt 5 132 – administrativer Liberalisierungsansatz 55 – Drittes Binnenmarktpaket 2009 5 10, 132 – Entflechtungsregime 5 188 – Entwicklungslinien 5 4 – Erstes Binnenmarktpaket 1996/98 5 6 – institutionelles Machtgefüge 5 133 – Netzzugangs- und Netzentgeltregime 5 178 – Viertes Elektrizitätsbinnenmarktpaket 2019 5 132 – Winterpaket (Clean Energy Package) 5 132 – Zertifizierung von Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibern 5 212 – Zweites Binnenmarktpaket 2003/2005 58 Energieeffizienz – „Energieeffizienz an erster Stelle“ 5 38 – Energie- und Industrieanlagen 5 261 – Entwicklungslinien 5 33 – EU-Energielabel-Verordnung (EU) 2017/1369 5 250 – Gebäude-Richtlinie 2010/31/EU 5 259 – Industrieemissionen-Richtlinien 2010/75/EU 5 264 f. – intergrierte Klima- und Energiepolitik 5 36 – Internationalisierung und Europäisierung 5 34

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– Kennzeichnungs-Richtlinie 2010/30/EU 5 250 – KWK-Richtlinie 2004/8/EG 5 263 – Ökodesign-Richtlinie 2009/125/EG 5 253 – Ölkrisen 5 33 – Paket 2008 5 36 – Plan 2011 5 37 – Richtlinie 1999/94/EG 5 267 – sektorbezogene Regelungen 5 258 – sektorenübergreifende Regelungen 5 249 – übergreifende Strukturmerkmale 5 269 – Umbruchjahr 2000 5 35 – Verkehr 5 266 – Verordnung (EG) Nr. 443/2009 5 268 – Verordnung (EU) 2019/631 5 268 – Verordnung (EU) Nr. 510/2011 5 268 – Winterpaket 5 38, 259 Energieeffizienzrecht 5 16 Energieeffizienz-Richtlinie 2012/27/EU 5 37, 256 f., 263 – Energieaudits 5 256 – Energieeffizienzverpflichtungssystem 5 37, 256 – ganzheitlicher Ansatz 5 257 – indikative nationale Energieeffizienzbeiträge 5 256 – indikatives nationales Energieeffizienzziel 5 256 – informative Verbrauchserfassung und Abrechnung 5 256 Energiehandel – REMIT-Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 5 14 Energiekompetenzen – (indirekte)Zuständigkeiten 5 82 – Abgrenzung zu Art. 114 AEUV 5 83 – Abgrenzung zu Art. 122 AEUV 5 85 – Abgrenzung zu Art. 172 AEUV 5 84 – Abgrenzung zu Art. 192 AEUV 5 86 – Abgrenzung zu Art. 352 AEUV 5 87 – Abgrenzung zum Euratom-Vertrag 5 88 – Ad-hoc-Maßnahmen 5 85 – Energieaußenpolitik 5 97 – Energiekompetenztitel (Art. 194 AEUV) 5 61 – Entwicklungslinien 5 1 – gemischt subjektiv-objektive Methode 5 86 – Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung 5 89 – horizontale Kompetenzabgrenzung 5 82 – Kompetenzausübungsschranken 5 89 – Lissabonner Vertrag 5 2, 60

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Stichwortverzeichnis – mitgliedstaatliche Eigentumsordnung 5 95 – Ownership Unbundling 5 96 – Subsidiaritätsprinzip 5 90 – Subsidiaritätsrüge und -klage 5 91, 94 – Überblick 5 59 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 5 94 Energiekompetenztitel (Art. 194 AEUV) – Art. III-256 EVV 5 62 – Bewertung 5 78 – Binnenmarkt als Leitprinzip 5 72 – Einstimmigkeitserfordernis 5 77 – Energieeffizienz und Energieeinsparungen 5 65 – Energiemarkt 5 63 – Energiepolitische Solidaritätsklausel 5 71 – energiepolitische Ziele 5 62 – Energieversorgungssicherheit 5 64 – Handlungsermächtigung 5 74 – Klarstellungs- und Bündelungsfunktion 5 81 – Kompetenzgewinn der EU 5 79 – neue und erneuerbare Energien 5 67 f. – ordentliches Gesetzgebungsverfahren 5 75 – Souveränitätsvorbehalt (Abs. 2 UAbs. 2) 5 76 – Überblick 5 61 – Umweltschutz als Leitprinzip 5 73 Energiepolitik 7 72 – erneuerbare Energien 7 73 – Kompetenzgrundlage (EU) 7 73 Energiepolitische Leitlinien – delegierte Rechtsakte 5 163 – Drittes Binnenmarktpaket 2009 5 161 – Durchführungsrechtsakte 5 163 – Komitologie (Gassektor) 5 162 – Kritik 5 164 – Stromsektor 5 163 – Verfahren der Leitlinieneinhaltung 5 167 – Wesentlichkeitstheorie 5 164 Energiepolitischer Rahmen – Zielvorgaben (Überblick) 5 70 Energiepolitisches Handlungsinstrumentarium – Beschlüsse 5 101 – Empfehlungen und Stellungnahmen 5 102 – förmliche Rechtsakte (Art. 288 AEUV) 5 99 – Guidance Documents 5 105 – Leitlinien 5 104, 160 – Richtlinie/Richtlinienwirkungen 5 100 – ungekennzeichnete Rechtsakte 5 103 – Verordnung 5 99

Energieregulierungsverbund – CEER 5 134 – Energieagentur ACER 5 135 – ENTSO Strom bzw. Gas 5 150 – ERGEG 5 134 – EU-Kommission 5 135 – EU-Kommission (Rolle im Energiesektor) 5 158 – Europäische Organisation der Verteilernetzbetreiber („EU-VNBO“) 5 135 – EU-VNBO 5 150 – Florenz-, Madrid- London- und Kopenhagen-Foren 5 134 – Netzbetreiberverbünde ENTSO Strom bzw. Gas 5 135 – Regional Coordination Centres („RCCs“) 5 135 Energieumweltrecht – 20-20-20-Initiative 5 17 – 40-32,5-32-Initiative 5 17 – Emissionshandel 5 18, 223 – Energieeffizienz 5 33 – Energieeffizienzrecht 5 16, 248 – Entwicklungslinien 5 16 – Erneuerbare Energien 5 28, 238 – Pariser Abkommen 5 17 – Stromverbundziel 5 17 – Umweltenergierecht 5 16 – Winterpaket 5 17 Energieunion 5 278 Energieversorgungssicherheit – Aktionsplan für Energieversorgungssicherheit und -solidarität 5 43 – Energieaußenpolitik 5 44, 45, 277 – Energy-Only-Markt 5 276 – Entwicklungslinien 5 39 – Gassicherungsverordnung (EU) 2017/1938 5 272 – Grünbuch über Energieversorgungssicherheit 5 41 – Importabhängigkeit 5 39 – Kapazitätsmechanismen 5 276 – Perspektiven 5 44, 45 – Rechtsakte (Überblick) 5 42 f., 270 – Richtlinie 2009/119/EG 5 271 – Richtlinie 68/114/EWG 5 40 – Richtlinien 2005/89 5 275 – Risikovorsorge-Verordnung 2019/941 5 47, 275 – Strategie für eine sichere europäische Energieversorgung 5 45 – Stresstest 5 45 – Verordnung (EU) 2017/1938 5 46 – Verordnung (EU) Nr. 994/2010 5 272 – Winterpaket 5 47 „Energy-smart“-Landwirtschaft 7 202

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Stichwortverzeichnis Entflechtungsregime – buchhalterische Entflechtung 5 7, 190 – De-minimis-Ausnahme 5 192 – flankierender Charakter 5 188 – Gasfernleitungen aus/nach Drittstaaten 5 209 – Grundformen (Überblick) 5 189 – Independent System Operator (ISO) 5 200 – Independent Transmission Operator (ITO) 5 202 – informationelle Entflechtung 5 7, 191 – kompetenz- und grundrechtliche Bewertung 5 207 – Nord Stream 2 5 209 – operationelle Entflechtung 5 7, 192 – Ownership Unbundling (OU) 5 195 – rechtliche Entflechtung 5 9, 193 – Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber 5 194 – Verteilernetzbetreiber 5 210 – Ziel der Entflechtung 5 188 – Zweites Binnenmarktpaket 2003/2005 59 Entschließungsermessen 4 96 ENTSO Strom bzw. Gas – Gründung 5 151 – Netzkodizes 5 153 – Rechtsgrundlagen 5 150 – Zehn-Jahres-Netzentwicklungsplan 5 153 ePrivacy-RL 4 32 ePrivacy-Verordnung 4 18, 32 Erfolgsprinzip 9 209 Ernährungspolitik 7 2 Ernährungssicherheit 7 187, 188 Ernährungswirtschaftsrecht 7 30 Erneuerbare Energien – Ausschreibungsverfahren 5 240 – einheitliches Fördersystem 5 239, 240 – Einspeisevorrang 5 241 – Einstimmigkeitserfordernis 5 243 – Entwicklungslinien 5 28 – kompetenzrechtliche Perspektive 5 243 – Marktprämie 5 240 – nationale Fördersysteme 5 29 – nationale Mindestanteile 5 239, 240 – Primärrechtskonformität einer gebietsbeschränkten Förderung 5 244, 246, 247 – Richtlinie 2001/77/EG 5 29 – Richtlinie 2003/30/EG 5 30 – Richtlinie 2009/28 5 238 – Richtlinie 2009/28/EG 5 31 – Richtlinie 2018/2001 5 238 – Verkehrssektor 5 240

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– vorrangiger Netzzugang 5 241 – Winterpaket 5 32 Erneuerbare Energien Richtlinie (EU) 2018/2001 5 32 – Ausschreibungsverfahren 5 32 – Eigenversorger 5 242 – Erneuerbare-Energien-Gemeinschaften 5 242 – Genehmigungsverfahren 5 242 – Marktprämie 5 32 – Netzzugang 5 242 Erschöpfung des Markenrechts 9 191 Erstes Binnenmarktpaket 1996/98 – Binnenmarktrichtlinien Strom und Gas 56 Ersthafte-Zweifel-Mitteilung 4 80 Erwägungsgründe 11 108 Erzeugerorganisationen 7 105, 106, 108, 110, 140 ESMA 10 73, 100 ESRB 10 133, 11 12 Etikett 9 139 Etikettierungsvorgaben 8 54 – Herkunftskennzeichnung 8 19, 56 – Sprache 8 55 EU-Beihilfenrecht – Durchführungsverbot 5 119 – Notifizierungspflicht 5 119 EudraVigilance-Datenbank 9 133 EU-Energielabel-Verordnung (EU) 2017/1369 – EPREL 5 251 – Rahmenverordnung 5 252 – Zwecke 5 251 EuGH-Urteil zum EEG 2012 5 125 EU-Grundrechte 6 103 – Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten 6 104 – gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen 6 106 – unternehmerische Freiheit 6 104 EuG-Urteil zum EEG 2012 5 124 f. EU-Kartellrecht 4 92 EU-Kommission – eigene Kontrollmöglichkeiten im Rahmen der Lebensmittel-Überwachung 8 91, 9 152 – Handlungsformen 8 41 – Lebensmittel- und Veterinäramt (LVA) 8 46 – Überwachung nationaler Behörden 8 93 – Verkehrsverbot 8 92

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Stichwortverzeichnis – wissenschaftlicher Lebensmittelausschuss 8 47 EU-Kommission (Rolle im Energiesektor) – Bewertung 5 170 – Gebotszonenkonfiguration 5 169 – informationelle Verschränkungen 5 159 – Normierungsbefugnisse 5 160 – originäre Entscheidungskompetenzen 5 168, 169 – Überblick 5 158 – Vetorechte 5 165 EU-Lebensmittelrecht 8 1 – Abgrenzung zum Agrarrecht 8 4 – Abgrenzung zum Arzneimittelrecht 8 3 – Agrarpolitikkompetenz 8 26 – Außenhandelskompetenz 8 28 – Binnenmarktkompetenz 8 25 – Entwicklungsphasen 8 30 – Geltungsbereich 8 95 – Handlungsformen 8 39 – Handlungsformen, Durchführungsrechtssetzung 8 41 – Handlungsformen, Einzelfallentscheidungen 8 44 – Handlungsformen, Empfehlungen 8 45 – Handlungsformen, Sekundärrecht 8 39 – Kompetenz 8 24 – Kompetenz, Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV 8 27 – primärrechtliche Vorgaben 8 35 – primärrechtliche Vorgaben, Grundrechte 8 35 – primärrechtliche Vorgaben, Verhältnis von Grundrechten und Grundfreiheiten 8 36 – primärrechtliche Vorgaben, Verhältnis von Primärrecht und Sekundärrecht 8 21 – primärrechtliche Vorgaben, Vorsorgegrundsatz 8 14, 35 – Regelungsgegenstand 8 2 – Zielvorgaben 8 1 Euratom – Ausfuhrbegrenzung von Kernbrennstoffen 5 130 – Austrittsrecht 5 129 – Beendigung der 5 130 – Beihilfenrecht 5 130 – Kernbrennstoffsteuer 5 130 – Kernenergieausstieg 5 128 – Rechtsakte (Überblick) 5 285 – Überblick zum Primärrecht 5 127 – Urananreicherung und Brennelementeproduktion 5 130 Eurim-Pharm-Urteil 9 174 Europa-2020-Strategie 7 157

Europäische Arzneimittelagentur (EMA) 9 14, 64 – Aufgaben 9 68 – Organe 9 66 – wissenschaftliche Ausschüsse 9 69 Europäische Energiepolitik – Art. 106 Abs. 2 AEUV 5 116 – Ausblick 5 286 – Binnenmarktziel 5 51 – Campus-Oil-Urteil 5 114 – Dienstleistungsfreiheit 5 112 – einschlägige Grundrechte (Überblick) 5 110 – Elektrizität als Ware 5 112 – Energiekompetenzen 5 59 – Energieunion 5 3 – Energieversorgungssicherheitl 5 53 – Entwicklungslinien 5 1 – EU-Beihilfenrecht 5 124 – EU-Beihilfenrecht (Überblick) 5 117 – EuGH-Urteil zum EEG 2012 5 125 – EU-Grundrechte 5 107 – EuG-Urteil zum EEG 2012 5 124 f. – EU-Kartellrecht 5 126 – europäische Grundfreiheiten 5 111 – Gegenstandsbereich 5 48 – Grundrechtsmaßstab 5 108 f. – Handlungsinstrumente 5 98 – Interkonnektion der Energienetze 5 69 – „Je-desto-Formel“ (EU-Beihilfenrecht) 5 125 – Klima- und Umweltschutz 5 52, 115 – Lissabonner Vertrag 5 2, 60 – Netzssicherheit 5 115 – Niederlassungsfreiheit 5 112 – Politikziele (Rangverhältnis) 5 54 – Politikziele (Überblick) 5 50 – PreussenElektra-Urteil 5 124 – primärrechtliche Perspektive 5 49 – primärrechtliche Rahmensetzungen 5 106 – Säulen 5 3 – sekundärrechtliche Perspektive 5 131 – Vent de Colère-Urteil 5 125 – Warenverkehrsfreiheit 5 112 – Zielharmonien und Konfliktfelder 5 56 – Ziel- und Maßnahmenverschränktheit 5 58 Europäische Konferenz der Verwaltungen für Post und Fernmeldewesen (CEPT) 4 35 Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) 7 35 Europäischer Ausschuss für Systemrisiken 10 1, 133

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Stichwortverzeichnis Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) 7 50, 129 Europäischer Kodex für die elektronische Kommunikation 4 18 Europäischer Landwirtschaftsfond für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) 7 50, 129 Europäischer Pass 10 61 Europäisches Agrarrecht 7 1, 104 – Agrarbeihilfenrecht 7 118 – Agrarkartellrecht 7 100 – Agrarverwaltungsverbund 7 158 – Agrarwettbewerbsrecht 7 104 – Anlastungsverfahren 7 170 – Begriff 7 9 – Eigenverwaltungsrecht 7 158 – Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem (InVeKoS) 7 160 ff., 169 – Kompetenzgrundlagen 7 56 – ländliche Entwicklung 7 126 – Marktordnungsrecht 7 126, 131 – Unionsverwaltungsrecht 7 158 – Verwaltungsverbund, föderaler 7 158 – Verwaltungsvollzug 7 158 – wohlgeordnetes Recht 7 13 Europäisches Finanzaufsichtssystem 11 9 Europäisches System der Finanzaufsicht 10 1, 99 Europäische Verkehrspolitik 6 15 – Entwicklung 6 15 Europarecht 4 3 European Regulators Group for Electricity and Gas (ERGEG) 5 134 EU-VNBO 5 152 – Rechtsgrundlage 5 150 EU-Zulassungsverfahren – Anreicherung von Lebensmitteln 8 70 – gentechnisch veränderte Lebensmittel 8 65 – Lebensmittelbedarfsgegenstände 8 73 – Lebensmittelzusatzstoffe 8 72 – Mineralstoffe 8 70 – Missbrauchsprinzip 8 62 – Nahrungsergänzungsmittel 8 69 – neuartige Lebensmittel/Novel Food 8 63 – Verbotsprinzip 8 62 – Vitamine 8 70 – Wirkung der Zulassung 8 74 Extensivierungen 7 42 EZB 10 34, 81, 137 Facharzt 2 85 Fahrgastrechte – Binnenschifffahrt 6 159 – öffentlicher Personenverkehr 6 137

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– Seeschifffahrt 6 167 Fakultative Cross Compliance 7 46 FATF 10 41 Federutility-Urteil 5 116 Fernabsatz 11 161, 181, 190 Fernabsatzrichtlinie 9 156 Festbeträge 9 229 Feuerversicherungsentscheidung 11 305 FFH-Richtlinie 7 165 FIAP 8 72 Financial Services Action Plan 10 1 Finanzdienstleistungen 10 10 Finanzinstitute 10 1 Finanzintermediation 10 23 Finanzkrise 10 1, 74 Fintechs 10 32 Flächenstilllegungen 7 42 Florenz-, Madrid-, London- und Kopenhagen-Foren 5 134 Folgenabschätzung 7 177, 178, 179 Fontainebleau-Beschluss 7 41 Formalzulassung 9 169 Forschung und Entwicklung – Arzneimittel 9 3, 20, 31, 84 Forstpolitik 7 74 – Kompetenzgrundlage (EU) 7 74 Freiburger Schule 1 4 Freie Berufe 2 1 – Anforderungen 2 44 – Apotheker 2 88 – Arbeitnehmerfreizügigkeit 2 29 – Architekten 2 94 – Ärzte 2 84 – Begriff 2 9 – Berufsanerkennungsrichtlinie 2 8, 11, 35 – Berufsbezeichnung 2 59 – Berufsethik 2 26 – Berufsgruppe 2 28 – Berufshaftpflichtversicherung 2 43, 59 – berufsständische Vereinigungen 2 97 – Binnenmarktstrategie 2 5 – Dienstleistungsfreiheit 2 4, 14, 29, 53 – Dienstleistungsrichtlinie 2 8, 35 – europäischer Wirtschaftsraum 2 29 – fachliche Unabhängigkeit 2 24 – Fremdbesitzverbote 2 41 – Grundfreiheiten 2 29, 31, 50 – Grundrechte 2 32 – Heilberufe 2 80 – intellektueller Charakter 2 18 – Lotsen 2 47 – multidisziplinäre Tätigkeiten 2 41

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Stichwortverzeichnis – Niederlassungsfreiheit 2 4, 29, 50 – Notare 2 75 – persönliche Tätigkeit 2 22 – Pro-Forma-Mitgliedschaft 2 38 – Qualifikation 2 19 – Qualitätssicherung 2 7 – Rechtsanwälte 2 47 – reglementierte 2 13, 21 – Sprachkenntnisse 2 39 – Standesvorschriften 2 55 – Steuerberater 2 47 – unternehmerische Tätigkeit 2 16, 23 – Verantwortung 2 25 – Werbeverbote 2 40 – Wettbewerb 2 3 – wirtschaftliche Tätigkeit 2 16 – Wirtschaftsprüfer 2 47 Fremdbesitzverbote 2 41 Fremdkapital 10 25 Frequenzausschuss (RSC) 4 35 Frequenzen 4 156 Frequenzentscheidung 4 35 Frequenznutzung – Entgelt 4 170 Frequenznutzungsrechte – Beschränkung 4 174 – Wettbewerb 4 165 Frequenzübertragung 4 164 Frequenzverwaltung 4 26 Frühwarnsystem 7 168 FSB 10 41 Funkfrequenzen 4 156 – Zugang 4 26 Funkfrequenznutzung – Allgemeingenehmigung 4 173 – gemeinsam 4 172 – Koordination 4 159 Funkfrequenzpolitik 4 158 – strategische Planung 4 157 Funkfrequenzverwaltung 4 160 Funktechnische Störung 4 171 Funktionelle Trennung 4 127 – Eingriff in die unternehmerische Freiheit 4 128 Funktionsarzneimittel 9 39, 46 Fusionskontrolle 4 92 G20-Prozess 10 42 Garantiemengenregelungen 7 41 Gassicherungsverordnung (EU) 2017/1938 – nationaler Präventionsplan 5 274 – Notfallplan 5 274 – Solidarität im Krisenfall 5 274 – Solidaritätsmaßnahmen 5 273, 274

Gebhard-Urteil 2 49 Gebührenrecht 2 68 Gegenseitige Anerkennung 10 36, 61 Geistiges Eigentum 9 115 Geldmarkt 10 35 Geldpolitik 10 14, 81 Geldwäsche 2 67 Gemeinsame Agrarpolitik 1 24, 7 104, 127, 137 ff. – 1. Säule 7 126, 131 – 2. Säule 7 47, 126, 151, 153 f., 196 – Agenda 2000 7 45 – Agrarbeihilfenrecht 7 118 – Agrarkartellrecht 7 100 – Anlastungsverfahren 7 170 – Anwendungsbereich 7 23 – Bürokratie 7 200 – Cross Compliance 7 70, 163 – Delors-Paket 7 42 – Direktzahlungen 7 146 ff. – disparate Entwicklungen 7 38 – einheitliche Gemeinsame Marktordnung 7 132 – Erfolge der Entkoppelung 7 44 – erste Reform 7 40 – Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) 7 129 – Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) 7 129 – europäisches Netz 7 199 – Finanzierung 7 128 – Fischler-Reform 2003 7 49 – Föderalismus, nichthoheitlicher 7 156 – Forstpolitik 7 74 – Gemeinsame Agrarpolitik nach 2020 7 175 – gemeinsamer strategischer Rahmen 7 157 – Gesetzgebungsverfahren 7 62 – Gesundheitsschutz 7 77 – Handelspolitik, gemeinsame 7 91 – Haushaltsstruktur 7 51, 130 – Health Check 2008 7 52 – historische Entwicklung 7 32 – Horvath-Urteil 7 25, 68 – Kohäsionspolitik 7 89 – Kompetenzgrundlagen 7 56 ff. – Konferenz von Stresa 7 34 – ländliche Entwicklung 7 126 – ländlicher Raum 7 74, 131, 151 – LEADER-Programme 7 155 f. – Legislativvorschläge 7 181, 182 – MacSharry-Reform 1992 7 43 – Marktintervention 7 137 f. – Marktordnungsrecht 7 126, 131 – mehrjähriger Finanzrahmen 7 175

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Stichwortverzeichnis nationale GAP-Netze 7 199 Neujustierung 7 197 Niedermair-Schiemann- Urteil 7 25, 68 öffentliche Konsultation 7 180 öffentlicher Konsultationsprozess 7 55 Produktivitätssteigerung 7 36 Querschnittsklausel 7 66, 78 Rechtsangleichung 7 75 Rechtsetzungskompetenz 7 63 Rechtsetzungsverfahren 7 59 ff. Reform 2014–2020 7 55 Reformen der 1970er- und 1980er-Jahre 7 37 – Reformziele 7 183, 185, 187, 191 ff. – Römische Verträge 1957 7 33 – Schecke und Eifert-Urteil 7 172 – Strategiepläne 7 196, 198 f. – Strukturfonds 7 90 – Strukturpolitik 7 89, 90 – Tierschutz 7 81 – „Trips-Kompetenz“-Gutachten 7 91 – Verbraucherschutz 7 80 – Vermarktungsnormen 7 141 ff. – Verordnung über GAP-Strategiepläne 7 184 – Verzerrungen auf den Weltagrarmärkten 7 38 – Ziele 7 64 f. – Zwei-Säulen-Struktur 7 126 – zweite Reform 7 41 – Zweite Säule 7 89 Gemeinsame Marktorganisation – Anwendungsbereich 7 135 – Fischereierzeugnisse 7 134 – Regelungsstruktur 7 133, 136 Gemeinsame Nutzung von Einrichtungen 4 109 Gemeinsamer Ausschuss 11 10 Gemeinsame Verkehrspolitik 6 27, 36 – Art der Rechtsakte 6 50 – EU-Maßnahmen 6 46 – Grenzen der Gestaltungsfreiheit 6 56 – Kompetenzen 6 47 – mitgliedstaatliche Maßnahmen 6 62 – Offenheit 6 41 – Organisation 6 44 – Pflicht zur Gestaltung 6 37 – Rechtssetzungsverfahren 6 49 – Regelungsinhalte 6 51 – Unselbstständigkeit 6 39 – Verkehrsaußenpolitik 6 59, 210 Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel 9 13, 39, 74, 100, 209 Genehmigung des Inverkehrbringens 9 61 – bibliografisches Verfahren 9 88 – dezentrales Verfahren 9 100

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Geltungsdauer 9 98 Generika 9 108 Interventionsmöglichkeiten 9 104 orphan drugs 9 125 Parallelimport 9 165 Verfahren der gegenseitigen Anerkennung 9 106 – Verfahrensarten 9 63 – verkürztes Verfahren 9 109, 167 – Versagungsgründe 9 73 – zentralisiertes Verfahren 9 70 Generalklausel 11 26 Generics-Urteil 9 86, 112, 121 Generikum 9 88, 108 – Begriff 9 112 – patentrechtliche Fragen 9 115 – verkürztes Verfahren 9 109, 119 Genossenschaftsprivileg 7 105 Gentechnisch veränderte Organismen 8 65 – Spuren von 8 68 GEREK 1 64 – Büro 4 75 – Regulierungsrat 4 75 – Unabhängigkeit 4 74 – Vermittlerposition 4 76 GEREK-Verordnung 4 18, 34 Gerichtliche Kontrolldichte 4 153 Gesetzgebungskompetenzen 9 23 Gesetzliche Konkretisierung der abstrakten Richtlinienvorgaben 4 142 Gesundheitshandwerk 3 13, 36, 50, 56 Getrennte Buchführung 4 126 Gewährleistungsverwaltung 4 200 Glasfasernetz 4 12 GlaxoSmith Kline-Urteil 9 181 Gleichbehandlung – externer und interner Sachverhalte 4 125 Gleichbehandlungsverpflichtung 4 125 Good manufacturing practise 9 59 Governance-Verordnung (EU) 2018/1999 – Ambition-gap 5 282 – Bewertung 5 284 – Delivery-gap 5 283 – Integrierte nationale Energie- und Klimapläne (NECPs) 5 279 – Langfrist-Strategien 5 280 – Lückenschließungs-Mechanismus 5 282, 283 – NECPs 5 281 – Überblick 5 278 Greening 7 55, 148 Greeningprämie 7 147

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Stichwortverzeichnis Green Network-Urteil 5 97 Grenzüberschreitender Personenverkehr mit Kraftomnibussen 6 129 Grenzüberschreitendes Versicherungsgeschäft 11 132 Groenveld-Urteil 5 113 Großhandelsgenehmigung 9 150 Großrisiko 11 153, 159, 254, 265, 286 Grundfreiheiten 2 29, 6 97, 11 1 – Handwerksrecht 3 14, 37 – Niederlassungsfreiheit 6 99, 101 – Verhältnis zu den Grundrechten 8 36 – Warenverkehrsfreiheit 6 98 GrundfreiheitenVerkehrsvermittlung – Dienstleistungsfreiheit 6 100 Grundrecht auf Achtung des Privatlebens 7 173 Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten 7 173 Grundrechte 2 32, 8 35 Grundrechtseingriff 11 26, 44 Grundsatz der Kostenorientierung (Energie) 5 182 Grundsatz der Nichtregulierung neuer Märkte 4 140 Grundsatz der Normenbestimmtheit 4 139 Grüne Revolution 7 8 Gruppe für Frequenzpolitik (RSPG) 4 36 Günstigkeitsvergleich 11 278, 299 Güterkraftverkehr 6 125 – Gemeinschaftslizenz 6 127 – gewerberechtliche Voraussetzungen 6 126 Gütesiegel 8 19 Häfen 6 171 Halal-Fleisch 7 87 Handelsmonopole 8 11 Handwerkskammer 3 7, 11, 73 Handwerksrecht – Amtshilfe 3 24 – Aufsicht 3 7, 24 – Harmonisierung 3 18 – historische Entwicklung 3 4 – im europäischen Ausland 3 9 – juristische Personen 3 41 – Liberalisierung 3 1, 7 – zulassungsfreies Handwerk 3 37 – zulassungspflichtiges Handwerk 3 2, 30, 61 Handwerksrolle 3 15, 31 f., 37, 42, 53, 63, 73

Harmonisierte Bedingungen 4 35 Harmonisierung 4 1, 11 37, 68, 148, 177, 183, 186, 188, 194, 202, 232 Harmonisierungsbeschluss 4 90 Harmonisierungsempfehlungen 4 143 f. Harmonisierungskompetenz 4 89, 7 75 Harmonisierungsrichtlinien 4 16 – Handwerk 3 18 Harmonisierungsverordnung 4 16 Haustürgeschäfte 11 198 Hayek, Friedrich von 1 7 Hedgefonds 10 71 Heilberufe 2 80 Herkunftsgarantie 9 191 Herkunftskennzeichnung 7 142 Herkunftslandprinzip 8 12, 31, 9 209, 10 61 Herstellung von Arzneimitteln – Erlaubnispflicht 9 58 – good manufacturing practise 9 59 – race to the bottom 9 59 Hinkley Point C-Urteil 5 130 Höfner und Elser-Urteil 9 230 Homogenität 4 44 Horvath-Urteil 7 25, 68 Hypothetischer Monopolistentest 4 43 IASB 10 41 Importarzneimittel 9 162 Independent System Operator (ISO) 5 200 Independent Transmission Operator (ITO) – Aufsichtsorgan 5 205 – Einwirkungs- und Kontrollrechte 5 202, 205 – Entwicklungslinien 5 202 – Gleichbehandlungsbeauftragter 5 205 – Gleichbehandlungsprogramm 5 205 – Investitionspflicht 5 206 – kompetentielle Unabhängigkeit 5 204 – organisatorische Unabhängigkeit 5 204 – Shared Services 5 203 – Unabhängigkeit von Personal und Unternehmensleitung 5 204 – Vollausstattung 5 203 – zehnjähriger Netzentwicklungsplan 5 206 – zulässige Rechtsformen 5 205 Indikationserweiterung 9 121 Individuelles Frequenznutzungsrecht 4 171 Informationsasymmetrie 10 5, 26 Informationsgesellschaft 4 12

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Stichwortverzeichnis Informationspflichten 4 73, 11 156 – Rechtzeitigkeit 11 165 – Verletzung 11 167 – Verzicht 11 166 – Zeitpunkt 11 162 Informationsweitergabe – durch die Regulierungsbehörden 4 73 Infrastruktur 4 10, 12 Infrastrukturwettbewerb 4 98 Inhaltsdienste 4 10 Inländerdiskriminierung 8 22, 103 Insolvenzverwalter 2 47 Institutionelles Gleichgewicht 10 102 Integration – durch Recht 1 53 – negative 1 13 – positive 1 13 Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem(InVeKoS) 7 160 ff. Interbankenmarkt 10 14, 35 Interdependenz der Märkte 4 61 Internationale Übereinkommen 6 192 – EU und Drittstaat 6 194 – multilaterale Vereinbarungen 6 195 Internetkommunikationsdienst 4 13 Interoperabilität 4 27 – von Diensten 4 101 Interpretative Notes – Bindungswirkung 5 105 – energiepolitisches Handlungsinstrumentarium 5 105 Inverkehrbringen von Arzneimitteln – Erlaubnispflicht 9 61 Investitionsrendite 4 113 IOSCO 10 41 Jakubowska-Urteil 2 60 Joint Supervisory Teams 10 144 Junglandwirte 7 196 Junglandwirtezuschlag 7 147 Kapitalverkehr 10 7 Kapitalverkehrsfreiheit 4 14, 10 47 Kartellrecht – agrarspezifische Bereichsausnahmen 7 103 ff. – sektorspezifisch 4 11 Kartellverbot 4 92, 9 230, 11 306 – agrarspezifische Bereichsausnahmen 7 102 – Einzelfreistellung 11 308, 317 f. – Gruppenfreistellung 11 306, 319 – Legalausnahme 11 308 – Muster-AVB 11 319

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– neuartige Risiken 11 314 – Sicherheitsvorkehrungen 11 319 – Versicherungsgemeinschaft 11 313 Keck-Urteil 5 113, 9 152 Kernkraftwerke Lippe-Ems-Urteil 5 130 Kfz-Haftpflicht 11 232 – Auskunftsstelle 11 245 – Auslandsunfälle 11 244 – Ausschlüsse 11 239 – Direktanspruch 11 243, 246 – Entschädigungsstelle 11 241, 245 – Fahrzeuginsassen 11 236 – Familienmitglieder 11 237 – Gerichtsstand 11 246 – „Grüne Karte“ 11 233 – Haager Übereinkommen über Straßenverkehrsunfälle 11 247 – KH-Richtlinien 11 234 – nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer 11 238 – Rom II-VO 11 247 – Schadensregulierungsbeauftragter 11 244 – Selbstbeteiligung 11 240 – Vorsatz 11 241 Kinderarzneimittel 9 83 Klimaschutz 7 55 Klima- und Umweltschutz – Energieumweltrecht 5 16, 222 – europäische Energiepolitik 5 115 Klimawandel 7 203 Klinische Prüfung 9 6, 79 – Ausnahmen 9 87 Kohärenzsicherungsmechanismen 4 22 Kohäsionspolitik 7 89 Kohlpharma-Urteil 9 23, 171 Komitologie 10 56, 58 Komitologiefunktion 11 4 Komitologieverfahren 4 35, 91 Kommunikation – elektronische 4 4, 35 Kommunikationsausschuss 4 91 Kommunikationsdienste – elektronische 4 6 – Internet 4 8 – nummerngebundener 4 9 – nummernunabhängiger 4 9 Kommunikationsnetze – elektronische 4 5 Komplementärverpflichtung 4 95 Konnektivitätsziel 4 134 Konsolidierungsverfahren 4 68, 69 Konsultation der interessierten Kreise 4 68

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Stichwortverzeichnis Kontrolle des Zugangs zu den Endnutzern 4 99 Kontrollvakuum 4 154 Konzertierungsverfahren 9 8 Kosmetika 9 49 Kosten – der effizienten Leistungsbereitstellung 4 115 – eines effizienten Betreibers 4 115 – tatsächliche 4 115 – verkehrsunabhängige Gemeinkosten 4 116 – Wiederbeschaffungskosten 4 115 Kostendeckungsmechanismus 4 114 Kostenorientierung 4 115 Kostenrechnungsmethoden 4 114 Kostensenkungsrichtlinie (KSRL) 4 18, 37 Kreditinstitute 10 65 – Abwicklung 10 147 – bedeutende 10 143 – Zulassung 10 146 Krisensituation 11 28, 37, 42 KSRL 4 18 Kundenschutz 10 76 Lamfalussy-Verfahren 10 56, 11 4, 7, 74 Landgrabbing 7 202 Ländlicher Raum 7 74, 89, 127 – Begriff 7 151 – Entwicklung 7 47 – Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) 7 129 – Förderung 7 151 – ländliche Entwicklung 7 126 – LEADER-Programme 7 155 f. Landverkehr 6 118 – Eisenbahnverkehr 6 29, 120 – grenzüberschreitender Personenverkehr mit Kraftomnibussen 6 129 – Güterkraftverkehr 6 125 – öffentlicher Personenverkehr 6 131 – technische Regelungen 6 138 Landwirtschaft – Begriff, allgemein 7 18 – Begriff im Rechtssinne 7 22 – Energiepolitik 7 72 – Erzeugnisse, landwirtschaftliche 7 25 – Landwirtschaftsrecht 7 27 – multifunktionale 7 16, 72 – Tätigkeit, landwirtschaftliche 7 25 – Umweltschutz 7 67 – Wettbewerb 7 94 – WTO-Abkommen 7 91

Landwirtschaftliche Erzeugnisse 7 23 Landwirtschaftsrecht 7 27 Larosière-Bericht 11 9 Lastenteilungsverordnung (EU) 2018/842 5 26 Lebensmittelhygiene 8 75 – HAACP-Konzept 8 78 – HAACP-Konzept, Gestaltungsspielräume 8 82 – HAACP-Konzept, Leitlinien 8 79 – Lebensmittelhygienepaket 8 75 – Verantwortungskette 8 78 Lebensmittel-Rahmenverordnung 9 43 Lebensmittelsicherheit 8 60 – allgemeine Vorgaben 8 60 – Kontaminanten 8 61 – Rückverfolgbarkeit 8 60 Lebensmittel-Überwachung 8 84 – EU-Kommission 8 91 F, 96 F – nationale Behörden 8 85 – nationale Behörden, Überwachung 8 93 – Überwachungsbehörden 8 84 – Verfahrensvorgaben 8 87 Leerverkäufe 10 11 Legal Privilege 2 66 Legislative Strategie – Energiebinnenmarkt 5 6 Leistungsverwaltung 4 200 Leitlinien 8 45 – Bindungswirkung 5 104 – energiepolitisches Handlungsinstrumentarium 5 104 Lender of last resort 10 81 Letzte Meile 4 15 Level playing field 4 14 Liberalisierung 4 1, 15, 17 Liberalisierungserfolg 4 1 Liberalisierungsrichtlinien 4 16 Lieferkontingente 9 175 Liquidation 10 90 Liquidität 10 14 Lotsen 2 47 Luftverkehr 6 33, 35, 176 – Betriebsgenehmigung 6 179 – Bodenabfertigungsdienste 6 183 – Marktöffnung 6 178 – Passagierrechte 6 184 – Personal 6 182 – Sicherheit 6 187 – Slots 6 181 – Umweltschutz 6 190 – Wettbewerbsrecht 6 180

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Stichwortverzeichnis Makroaufsicht 10 21 Makroprudentielle Aufsicht 10 2 MaRisk (VA) 11 91 Markenrecht 9 186 Markt – räumlicher 4 44 Marktabgrenzung 4 42 – regionale 4 45 Marktabschottung 9 193 Marktanalyse 4 56 Marktanalyseleitlinien 4 56, 89 Marktanteil 4 58 Marktbeherrschung 4 57 Marktdefinition 4 42 Marktdisziplin 10 18 Märkte, länderübergreifende 4 46 Märkteempfehlung 4 42, 54, 89 – aus dem Jahre 2003 4 54 – aus dem Jahre 2007 4 54 – aus dem Jahre 2014 4 54 – Veto-Recht 4 55 Marktexklusivität 9 130 Marktinfrastrukturen 10 40 Marktintegration 10 33 Marktmaßnahmen 7 46 Marktmissbrauch 10 5 Marktrecht 1 3, 58 Marktregulierung 4 40 Marktstabilitätsreserve 5 232 Marktversagen 10 29 Marktwirtschaft, soziale 1 5 Marktzutrittsschranken 4 59 Maßnahmenkatalog 4 28 Medizinprodukte 9 52 Mehrstaatenverfahren 9 6, 11 Meroni-Doktrin 11 43 Meroni-Rechtsprechung 10 102, 148 Migration 4 132 Migrationspflicht 4 132 Mikroaufsicht 10 21 Mikroprudentielle Aufsicht 10 2 Milchfonds 7 52 Milchquote 7 52, 138 Mindestharmonisierung 10 46 Mindestlaufzeit 4 198 Mindeststandards 9 29 Ministerialfreiheit 4 71 Missbrauch der marktbeherrschenden Position 9 175, 182, 237

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Missbrauchskontrolle 11 200, 204 Missbrauchsverbot 4 92 Mobilfunkdatendienst 4 12 Mobilität 6 3 – Arten 6 6 – Begriff 6 4 – Dimensionen 6 9 Modulation 7 46, 49 – Basismodulation 7 53 – progressive Modulation 7 53 – Vorabentscheidungsersuchen 7 53 Monopol, natürliches 4 15 moral hazard 10 6 Morgenbesser-Urteil 2 72 MTF 10 35, 40 Multifunktionale Landwirtschaft 7 16, 72, 203 Nachfrageproblem 4 47 Nachhaltige Bewirtschaftung 7 55 Nachhaltigkeit – ökologische 7 189 – soziale 7 190 Nahrungsergänzungsmittel 8 69, 9 41, 44 Nahrungsmittel 9 41 Nahrungsmittelverschwendung 7 185 Nahrungsmittelversorgung – Agrar-Gesellschaften 7 6 – Domestizierung 7 4 – Historie 7 2 f. Nationale Reserveklausel 4 71 Nationalrechtliches Genehmigungsverfahren 9 63 Natürliches Monopol 4 15 NCA (National Competent Authorities) 10 141 Nebenwirkungen 9 133 NECPs – Fortschrittsberichtserstattung 5 281 – Governance-Verordnung (EU) 2018/1999 5 281 – Verschlechterungsverbot 5 281 Negative Integration 1 13 Negativlisten 9 221, 224 Netting 10 17 Netzkodizes – Änderung 5 154 – Bindungswirkung 5 155 f. – Einhaltung der 5 156, 167 Netzneutralität 4 38 Netzzugangs- und Netzentgeltregime – administrative Regulierung 5 180

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Stichwortverzeichnis Anreizregulierung 5 183 Effizienzkostenmaßstab 5 184 Entgeltmaßstab 5 181 Grundsatz der Kostenorientierung 5 182 – normierende Regulierung 5 180 – Stufenverhältnis 5 178 – System der Entgeltregulierung 5 179, 180 – Zugang Dritter 5 179, 180 Neuartige Lebensmittel 7 24 Neue und erneuerbare Energien 5 67 Niederlassung – Begriff 3 46 Niederlassungsfreiheit 4 14, 9 154, 10 47 – Handwerksrecht 3 17 – Umsetzung der BerufsanerkennungsRL in der HwO 3 64 Niedermair-Schiemann- Urteil 7 25, 68 Nitratrichtlinie 7 165 Notare 2 75 – Berufsanerkennungsrichtlinie 2 77 – Dienstleistungsrichtlinie 2 77 – Geldwäsche 2 67 – Grundfreiheiten 2 79 Notare-Urteile 2 75 Notrufnummern – einheitliche europäische 4 199 Novartis-Urteil 9 86, 112 Novel Food/Neuartige Lebensmittel 8 63 Nutzen-Risiko-Verhältnis 9 76 Nutzung des Frequenzbandes, alternative 4 162 Nutzungsrecht, individuelles 4 25 – – – –

Öffentlicher Personenverkehr 6 131 – Fahrgastrechte 6 137 – öffentlicher Dienstleistungsauftrag 6 132 – regulierter Wettbewerb 6 131 Öffentliches Gesundheitswesen 9 33, 178, 185 Off-label use 9 83, 149 Ökodesign-Richtlinie 2009/125/EG – „CE“-Kennzeichnung 5 255 – Durchführungsverordnungen 5 254 – Konformität 5 255 – Rahmenrechtsakt 5 253 Ökokonditionalität 7 195 Ökologischer Landbau 7 55, 76 Ordoliberalismus 1 30 Orphan drugs 9 71, 125 Ortscheit-Urteil 9 209 Over-the-Top-Dienste (OTT) 4 7

Ownership Unbundling – Energiekompetenzen 5 96 – Erwerbsverbot/Veräußerungsgebot 5 198 – integrierte Staatsunternehmen/öffentlichrechtliche Unternehmen 5 199 – Mehrheitsbeteiligung 5 196 – Minderheitsbeteiligung 5 196 – Verbot von Doppelmandaten 5 197 Oymanns-Urteil 9 230 Packungsbeilage 9 139, 186 Parallelimport 9 162, 197 – duale Preisgestaltung 9 181 – Lieferkontingente 9 175 – markenrechtliche Fragen 9 186 – Nachweis der Identität 9 170 – wettbewerbsrechtliche Fragen 9 184 Parlamentsvorbehalt 4 139 Partnerschaftsgesellschaft 2 63 Passagierrechte 6 184, 208 Patentrecht 9 115 – 8+2-Regelung 9 120 – ergänzendes Schutzzertifikat 9 117 Peer-Review-Verfahren 4 167 Pflichtdienste, zusätzliche – Finanzierung 4 189 Pharmakovigilanz 9 132 Physiologische Wirkung 9 46 pill-over-Effekt 1 2 Policenmodell 11 162 Positive Integration 1 13 Positivlisten 9 221, 226 Präsentationsarzneimittel 9 3, 39 Preisansage 4 197 Preisanzeige 4 197 Preisbildung 9 215 – Festbeträge 9 229 – Rabattverträge 9 234 Preisdumping 4 120 Preiskontrolle 4 115 Prepaid-Produkte 4 197 PreussenElektra-Urteil 5 115, 124, 245 Principles of European Insurance Contract Law 11 302 Private-Equity-Fonds 10 71 Produktbündelung 4 120 Produktinterventionen 10 11 Produktionsquoten 7 41 Produktregulierung 10 39 Querschnittsaufgabe 9 27

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Stichwortverzeichnis Querschnittsklauseln 6 113 – Tierschutz 6 116, 7 186 – Umweltschutz 6 114, 7 186 – Verbraucherschutz 6 115, 7 186 Quersubventionen 4 126 Rabattverträge 9 234 Race to the bottom 9 59, 80 RASFF 8 32, 88 – Rechtsschutz gegen Warnmeldungen 8 90 – Warnmeldungen 8 88 Ratingagenturen 10 17, 53, 73 Raucharomen 8 72 Raucharomen-Urteil 5 164 Rechnungsabschlussverfahren 7 171 Rechtsangleichung 11 34 Rechtsanwalt 2 48 – Ausbildungsnachweis 2 64 – Befähigungsnachweis 2 64 – Berufsanerkennungsrichtlinie 2 64 – Berufsbezeichnung 2 54 – Dienstleistungsfreiheit 2 53 – Dienstleistungsrichtlinie 2 65 – Einvernehmensanwalt 2 56 – Gebührenrecht 2 68 – Geldwäsche 2 67 – Legal Privilege 2 66 – Niederlassungsfreiheit 2 57 – Rechtsschutzversicherung 2 74 – Sozietät 2 61 – Standesvorschriften 2 55, 59 – Vorbereitungsdienst 2 71 Rechtsdurchsetzung 4 23 Rechtsprechungsübersicht 7 204 Rechtsschutz, effektiver 4 148, 150 Rechtsschutzversicherung 2 74 Rechtswahl 11 267, 272, 275, 279, 299, 303 Red Rice-Urteil 9 46 Referenzarzneimittel 9 112 – Indikationserweiterung 9 121 Referenzmitgliedstaat 9 102, 106 Regelbildung 11 88 Regional Coordination Centres (RCCs) 5 157 Regionale Konvergenz 7 152 Regulierung der Endkundenmärkte 4 69 Regulierung der Zugangsentgelte 4 112 Regulierungsbedürftigkeit 4 42 Regulierungsbehörden 4 71 – Ausstattung mit Befugnissen 4 72 – Informationsweitergabe 4 73

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– Unabhängigkeit 4 71 – Wettbewerb 4 146 Regulierungsbehörden, nationale – Ambivalenz der Regelungen 5 171 – Aufgaben und Befugnisse 5 172 – Aufsichtsstellung der Kommission 5 171 – Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung 5 177 – nationales Demokratieprinzip 5 173 – personelle Legitimation 5 173 – polische Unabhängigkeit 5 172 – sachlich-inhaltliche Legitimation 5 173 Regulierungserleichterungen 4 135 Regulierungsgrundsätze 4 21 Regulierungsrecht 1 59 Regulierungsstandards 10 43 Regulierungsverbund 4 22, 78 Re-Import 9 162 Reisehandwerk 3 38, 48 Religionsfreiheit 7 86 Remedies 4 62 REMIT-Verordnung 1227/2011 5 14 Restschuldversicherung 11 195 Retailgeschäft 10 35 Review-Prozess 2009 4 17 Review-Prozess 2018 4 17 Reyners-Urteil 2 9, 48 Rhône-Poulenc Rorer-Urteil 9 169 Richtliniengeneration 11 1, 53, 134, 141 Richtlinienpaket 2002 4 17 Richtlinie über unlautere Handelspraktiken 7 98 Risikomanagement 7 196 Risikomanagementsysteme 10 19 Risikotragfähigkeit 10 19 Risikoübernahme 10 16 Roaming, lokales 4 106 Roaming-Verordnung (Roaming-VO) 4 33 Roaminingzugangsvereinbarung 4 106 Rom I-VO 11 250 – Eingriffsnormen 11 282 – Großrisiko 11 254, 265 – Massenrisiko 11 253, 267, 275 – Mitgliedstaat 11 256 – ordre publlic 11 284 – Pflichtversicherung 11 273 – Rechtswahl 11 267, 272, 275, 279 – Risikobelegenheit 11 259 – Rückversicherung 11 279 Rückversicherung 10 69, 11 279, 287

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Stichwortverzeichnis Rufnummern, einheitliche europäische 4 199 Rufnummernmitnahme 4 198 Rulebooks 10 3 Rundfunk 4 10 Rundfunkdienst 4 10 Sanierung 10 90 Schattenbankensystem 10 64 Schecke und Eifert-Urteil 7 172 Schifffahrt 6 156 – Binnenschifffahrt 6 157 – Seeschifffahrt 6 163 „Schokoladenkrieg“ 8 30 Schumacher-Urteil 9 159 Schutz der öffentlichen Gesundheit 9 16, 25, 152, 167 – Querschnittsaufgabe 9 27 Schutzklauseln 8 74 Schutzzertifikat, ergänzendes 9 117 Seeschifffahrt 6 33, 163 – Ausrüstung 6 169 – Bau 6 169 – Beihilfen 6 165 – Betrieb 6 170 – Dienstleistungsfreiheit 6 165 – Fahrgastrechte 6 167 – Häfen 6 171 – Kontrolle 6 169 – Markt 6 164, 167 – Personal 6 174 – Unfälle 6 172 – verwaltungsmäßige Durchsetzung 6 175 – Wettbewerb 6 166 Selbstregulierung 10 18 Seltene Krankheiten 9 71, 125 SEPA 10 40 Serious doubts letter 4 80 Service public 1 14 Single-Licence-Prinzip 11 1, 135 Sitzlandbehörde 11 137, 142 Sitzlandprinzip 11 1, 133 Smith & Nephew and Primecrown-Urteil 9 162 SMP-Unternehmen 4 94, 113 soft law 10 43 Solvency I 11 53 – Eigenmittel 11 53 – Mindestsolvabilitätsspanne 11 53 – Solvenzkapitalanforderung 11 53 Solvency II 11 52, 65 – Anwendungsbereich 11 66

Auswirkung 11 68 Compliance 11 119 dritte Säule 11 64 Eigenmittel 11 61 erste Säule 11 57 Geschäftsleitung 11 129 Gesetzgebungsprozess 11 73 Governance 11 115, 127 Mindestkapitalanforderung 11 57 prinzipienbasierter Ansatz 11 55, 77 risikobasierter Ansatz 11 54 Solvency and Financial Condition Report 11 65 – Solvenzkapitalanforderung 11 57 – Unbestimmtheit 11 84 – Verhältnismäßigkeit 11 68, 99 – Ziele 11 107 – zweite Säule 11 63 Solvit 3 24 Sonderkündigungsrecht 4 199 Sonstige Maßnahmen auf dem Gebiet des Transportrechts – Agenturen 6 199 – außerrechtliche Maßnahmen 6 203 – internationale Übereinkommen 6 192 Soziale Marktwirtschaft 1 5 Soziale Sicherheit 9 19, 34, 178, 185, 213 Sozialrecht 9 213 Sperre für abgehende Verbindungen 4 197 Spezialitätsprinzip 9 49 Spill-over-Effekt 1 25 Sprachkenntnisse 2 39 Sprachkommunikationsdienst 4 181 SRM 10 6, 138, 147 SSM 10 6, 137, 139 SSNIP-Test 4 43 Stabilität der Finanzmärkte 10 29 Stabilität des Finanzsystems 10 8 Standardangebot 4 124 Standardsetting 11 70 Standardsetzer 10 41 Ständiger Lebensmittelausschuss 8 41 Steuerberater 2 47 Stoffe 9 3, 35 Straßburger Übereinkommen 11 232 Streitbeilegung 11 29, 37, 42, 208 – Verbraucherrechtsstreitigkeiten über Finanzdienstleistungen 11 208 – Versicherungsvermittlung 11 209 – zwischen Mitgliedstaaten 11 29, 37, 42 – – – – – – – – – – – –

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Stichwortverzeichnis Strukturpolitik 7 89, 90 Subsidiarität 7 197 Subsidiaritätsprinzip – Protokoll Nr. 2 5 92 Supply Chain Initiative 7 111 Sustainable Development Goals 7 144, 185 f., 202 Systemisches Risiko 10 6 Systemkrise 10 82 Systemstabilität 10 2, 81 Tabakwerberichtlinie 8 58 TARGET2 10 40 TARGET2-Securities 10 35 Tarifsystem 4 114 Tätigkeitslandaufsicht 11 139 Technische Durchführungsakte 4 177 Technische Durchführungsstandards 10 121 Technische Konvergenz 4 43 Technische Regulierungsstandards 10 119 Technologieneutralität 4 21, 161 Teilharmonisierung 10 36 Teilnehmer 4 193 Teilnehmeranschlussleitung (TAL) 4 16 Teilnehmeranschlussverordnung (TAL-VO) 4 30 Teilnehmerverzeichnis, öffentliches 4 199 Telekommunikation 4 4 – Begriff 4 4 – elektronische 4 4 Telekommunikationsrecht 4 3 Telemediendienst 4 10 Tempus Energy-Urteil 5 122 TEN-E-Verordnung 347/2013 5 104, 221 Terminierungsentgelte 4 116 Tertiärrecht 10 58 Therapeutische Wirksamkeit 9 77 Tierarzt 2 81 Tierschutz 7 81, 82, 87 – Förderung 7 88 – Querschnittsklausel 7 83 – Rechtsetzungskompetenz 7 84 f. – Sekundärrecht 7 86 – Tierschutzstrategie 7 88 – Tierwohl 7 88 Tierwohl 7 88 Transeuropäische Netze – Connecting Europe-Fazilität 5 221 – TEN-E-Verordnung 5 221

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Transparenz 10 26 Transparenzkontrolle 11 203, 206 Transparenz-Richtlinie 9 222 Transparenzverpflichtung 4 123 Transparenzvorschriften 4 195 Transport – Begriff 6 4 – im Primärrecht 6 25, 93 Transportdienst 4 10 Transportrecht 6 5 – Abstimmung mit anderen Rechtsgebieten 6 213 – allgemeine Regelungen im Primärrecht 6 93 – europäische Entwicklung 6 15 – politische Einordnung 6 18 – rechtliche Einordnung 6 21 – Systematik und Übersichtlichkeit 6 212 – Transportsekundärrecht 6 117 Transportsekundärrecht 6 117 – Landverkehr 6 118 – Luftverkehr 6 176 – Schifffahrt 6 156 Treibhausgas-Emissionsberechtigungen-Beschluss (BVerfG) 5 109 Trennungthese (BVerfG) 5 109 „Trips-Kompetenz“-Gutachten 7 91 Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber – Entflechtungsregime 5 194 Überwachung der Endkundenpreise 4 182 Überwachung des Frequenzhandels 4 164 Ultra-Vires 11 40 Umsetzung 4 1 Umsetzungsspielraum 4 1 UMTS-Frequenzen 4 175 Umweltschutz 7 39, 8 20 Umweltschutzbeihilfen – allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung 651/2014 5 120 Umweltschutzpolitik 7 54, 67 – Cross Compliance 7 70, 163 – Horvath-Urteil 7 25, 68 – Kompetenzgrundlage (EU) 7 67 – Niedermair-Schiemann- Urteil 7 25, 68 Umwelt- und Energiebeihilfeleitlinien 2014–2020 (UEBLL) 5 104, 121 – Rückgriff auf Art. 107 Abs. 3 lit. c AEUV 5 123 – Tempus Energy-Urteil 5 122 Unbundling 5 7

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Stichwortverzeichnis Unbundling-Regime – Entflechtungsregime 5 9 Unionsverwaltungsrecht 7 158 Universaldienst 4 31 – Finanzierung 4 188 – hohe Bandbreite 4 186 Universaldienstregulierung 4 179 Universaldienstunternehmen – Auswahl 4 187 – Benennung 4 187 Universaldienstverpflichtung 4 183 – Fortführung 4 184 Unlautere Handelspraktiken – Begriff 7 111 ff. Unternehmen – vertikal integrierte 4 126 Upjohn-Urteil 9 39, 46 Van Bennekom-Urteil 9 23, 39, 42 Van Binsbergen-Urteil 2 4 Vent de Colère-Urteil 5 125 Verbraucherleitbild 8 18, 59 Verbraucherrechte – Abrechnungen und Abrechnungsinformationen 5 220 – Aggregierungen/Aggregatoren 5 220 – Grundversorgung 5 220 – intelligente Messsysteme 5 220 – Lieferantenwechsel 5 220 – schutzbedürftige Kunden 5 220 – Strom- und Gassektor 5 220 – zentrale Anlaufstellen 5 220 Verbraucherschutz 8 54, 10 76, 123, 11 152 – als Rechtfertigungsgrund 8 17 – Etikettierungsvorgaben 8 54 Verbrauchersicherheit 9 13 Verbrauchervertrag 4 196 Verbriefung 10 17 Vereiniging voor Energie, Milieu en Water ua-Entscheidung 5 5 Verfahren – der gegenseitigen Anerkennung 9 63, 106 – dreischrittiges 4 41 Verfassungsrechtliche „Vorabentscheidungen“ 7 14 Verflechtungsproblem 4 86 Verhältnismäßigkeit 11 26, 68, 99 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 4 67, 109 Verhältnismäßigkeitsprüfung 4 96 Verhältnismäßigkeitsrichtlinie 3 27

Verkehr – Begriff 6 4 – im Primärrecht 6 25 – politische Dimension 6 12, 18 – rechtliche Einordnung 6 21 – Verkehrs(wirtschafts)recht 6 5, 7, 15, 19, 21 – Verkehrsaußenpolitik 6 210 – Verkehrsbinnenmarkt 6 207 – wirtschaftliche Dimension 6 10 Verkehrs(wirtschafts)recht 6 5, 7, 15, 19, 21 Verkehrsaußenpolitik 6 210 Verkehrsbinnenmarkt 6 207 Verkehrsträger 6 28 – Binnenschiff 6 31, 157 – Eisenbahn 6 29, 120 – Luftfahrt 6 33, 35, 176 – Seeschiff 6 33, 163 – Straße 6 30 Verkehrsunabhängige Gemeinkosten 4 116 Verkürztes Verfahren 9 109, 119 Verletzung von Unionsrecht 11 26, 37, 42 Vermarktungsnormen 7 141 ff. Verpflichtungszusage 4 137 Versandhandel 9 156 Verschreibungspflicht 9 141 – Verbot des Versandhandels 9 161 Versicherungskartellrecht 11 305 Versicherungsunternehmen 10 68 Versicherungsvermittlung – Beratungspflichten 11 168 – berufliche Anforderungen 11 330 – Definition 11 322 – Gelegenheitsvermittler 11 324 – gewerberechtlich 11 320 – Informationspflichten 11 156 – Vermittlerbegriff 11 322 – vertragsrechtliche 11 169 – Zulassung 11 325 Versteigerungsverfahren 4 175 Verteilernetzbetreiber – Entflechtungsregime 5 210 Vertikal integrierte Unternehmen 4 126 Vertragsverletzungsverfahren 4 86, 140 Vertrieb 9 150 Verwaltungsrecht, besonderes 1 57 Verwaltungsverbund 4 202, 7 158 Verwaltungsvollzug 7 158, 159 Verwertungsrecht 9 120, 130 Vetorecht 4 55, 128

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Stichwortverzeichnis Vetoverfahren 4 55, 80 – Vetobeschluss 4 81 Viertes Elektrizitätsbinnenmarktpaket – Regional Coordination Centres (RCCs) 5 157 – Regional Operation Centres (ROCs) 5 157 – Regional Security Coordinators (RSCs) 5 157 Vitalität ländlicher Räume 7 153 Vogelschutzrichtlinie 7 165 Vollharmonisierung 4 193, 10 46 Vollzugsverflechtung 4 152, 202 Vorleistungsregulierung 4 69 Vor-Ort-Kontrollen 10 94 Währungsunion, optimale 1 18 Warenverkehrsfreiheit 8 5, 9 23, 152, 163, 167, 193, 201, 211 – Anwendungsbereich/Fallgruppen 8 7 – Anwendungsbereich/Fallgruppen, Ausfuhrbeschränkungen 8 11 – Anwendungsbereich/Fallgruppen, Einfuhrbeschränkungen 8 7 – Rechtfertigungsmöglichkeiten, Gesundheitsschutz 8 14 – Rechtfertigungsmöglichkeiten, Umweltschutz 8 20 – Rechtfertigungsmöglichkeiten, Verbraucherschutz 8 17 – Verfahrensvorgaben 8 12 – Werbebeschränkungen 8 8 Warnhinweis 4 197 Wegerechte 4 178 Weinsektor 7 142 Weißbuch 6 214 Weiße Flecken 4 191 Werberegulierungen 8 8, 57, 58 – Health Claims 8 57 – und Grundrechte 8 57 – und Primärrecht 8 8 Werbeverbote 2 40 Werbung für Arzneimittel 9 201 Wertpapierfirmen 10 67 Wesentlichkeitslehre 4 139 Wesentlichkeitstheorie 11 110 Wettbewerb 6 208 – Passagierrecht 6 208 – Umweltschutz 6 208 – Verkehrssicherheit 6 208 – Wettbewerbsrecht 6 107 Wettbewerb der Regulierungsbehörden 4 146 Wettbewerbsfähigkeit 7 187

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Wettbewerbsrecht 6 107 – Beihilfenrecht 6 109 – Kartellrecht 6 108 Wettbewerbssicherung 4 98 Wettbewerbsverzerrungen – Verhinderung von 4 125 Wholesale-Only 4 129 Widerrufsrecht 11 176 – Beginn 11 183 – „ewiges“ 11 185 – individuelle Lebensversicherung 11 180 – Rechtsfolgen 11 187 – Restschuldversicherung 11 195 – Verbraucherkreditrichtlinie II 11 192 – Widerrufsdurchgriff 11 196 – Zusatzvertrag 11 190 Wiederbeschaffungskosten 4 115 Winterpaket 5 4, 15, 38 – Viertes Elektrizitätsbinnenmarktpaket 5 15 Wirtschaftsprüfer 2 47 Wirtschaftsrecht, sektorales 1 38 Wirtschaftsverfassung 1 30 Wissensaustausch 7 196 Wohlgeordnetes Recht 7 13 – Kriterien 7 14 Wohlgeordnetes Unionsagrarrecht 7 177 Wohnungseigentumsverwalter 2 13 Wouters-Urteil 2 16, 99 Zahlungsdienste 10 66 Zahnarzt 2 81 Zentralbanken 10 14 Zentrale Gegenparteien 10 11 Zentralisiertes Verfahren 9 9, 63, 70 – Antragsberechtigung 9 92 – Antragsunterlagen 9 92 – Versagungsgründe 9 73 Zentralisierung 4 2 Zentralverwahrer 10 35 Zertifizierung von Übertragungs-/Fernleitungsnetzbetreibern – einfaches Zertifizierungsverfahren 5 213 – spezifisches Zertifizierungsverfahren 5 215 Zollinspektor 2 13 Zuckerquote 7 138 Zugang 4 27 – Verkabelung in Gebäuden 4 103 Zugangsentgelte – Regulierung 4 112

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Stichwortverzeichnis Zugangs- und Entgeltregulierung 4 93 Zugangsverpflichtung 4 28 Zugangsverpflichtungen 4 93 Zulassungspflichtiges Handwerk – als reglementierter Beruf 3 2, 30 – Altgesellen 3 32 – Betriebsleiter 3 42 – grenzüberschreitende Dienstleistungen 3 44 – grenzüberschreitende Niederlassung 3 63 Zunftzwang 3 4 Zusammenschaltung 4 27, 101 Zusammenschaltungsverpflichtungen 4 93

Zusätzliche Pflichtdienste 4 185 Zuständigkeiten – Mehrfachabstützung 7 26 Zweifelsfallregelung 9 48 Zweigstellen 10 61 Zweites Binnenmarktpaket 2003/2005 – Entflechtungsregime 5 9 – institutionelle (Regulierungs-)Architektur 5 9 – Modell des regulierten Netzzugangs 59 – Überblick 5 8 Åkerberg Fransson-Urteil (EuGH) 5 109 Ålands Vindkraft-Urteil 5 115

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