Europa und der 11. September 2001 9783205791386, 9783205786771

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Europa und der 11. September 2001
 9783205791386, 9783205786771

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Margit Reiter/Helga Embacher (Hg.)

Europa und der 11. September 2001

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung die Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7 und aus den Mitteln des Projekts P 21207-G18 des Wissenschaftsfonds (FWF).

Korrektorat: Karin Leherbauer-Unterberger Umschlaggestaltung: Michael Haderer Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78677-1 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ä­ hnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau.at http  ://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst GmbH, Köln

Inhalt Margit Reiter/Helga Embacher Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hanna K. Ulatowska Eine Geschichte vom Überleben: Rückkehr in die Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Eugen Freund 400 Meter über dem Meer Erinnerungen an das World Trade Center . . . . . . . . . . . . . 35 Margit Reiter „Uneingeschränkte Solidarität“? Wahrnehmungen und Deutungen des 11. September in Deutschland . . . . . . . . . . . 43 Helga Embacher „A Special Relationship“ Der 11. September und seine Folgen in Großbritannien . . . . . . . 77 Christian Muckenhumer Von der Allianz zur Dissonanz Der 11. September 2001 in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . 107 Filip Fetko Der 11. September und das „Neue Europa“ Reaktionen in Ostmitteleuropa am Beispiel Polen . . . . . . . . . 137 Margit Reiter Signaturen des 11. September 2001 in Österreich . . . . . . . . . 161 Reinhard Heinisch Ungeliebt und unverstanden – Die Beziehungen zwischen den USA und Europa aus amerikanischer Sicht . . . . 193

Wolfgang Aschauer Die terroristische Bedrohung, kulturelle Wandlungsprozesse und Islamophobie in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Monika Bernold 9/11 als transnationales Medienereignis Wissensproduktionen und Diskursstränge 2001–2010 . . . . . . 249 Chronologie 2001–2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Literaturauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Kurzbiographien der Autor/inn/en . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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Einleitung Am Morgen des 11. September 2001 steuerten islamistische Selbstmordattentäter drei amerikanische Flugzeuge in symbolträchtige zivile und militärische Gebäude in den USA: Um 8.46 Uhr Ortszeit raste eine entführte Maschine der American Airlines in den Nordturm des World Trade Centers (WTC) in New York, 17 Minuten später, um 9.03 Uhr, flog ein zweites Flugzeug der ­United ­Airlines in den Südturm des WTC. Nach verzweifelten Rettungsmaßnahmen und dramatischen Szenen, die weltweit live am Bildschirm verfolgt werden konnten, stürzten die Zwillingstürme des WTC nach 56 Minuten (Südturm) bzw. 102 Minuten (Nordturm) schließlich ein. Ein weiteres entführtes Flugzeug der American Airlines war unterdessen in das Pentagon in Washington gerast (9.37 Uhr) und hatte dort einen Großbrand ausgelöst. Das Anschlagsziel der vierten entführten Maschine der United Airlines Flug 93 blieb unbekannt, denn sie stürzte um 10.03 Uhr nach Gegenwehr von Passagieren und Besatzung in Somerset County, Pennsylvania ab. Insgesamt kamen am 11. September 2.973 Menschen ums Leben, mehr als 2.500 davon allein im World Trade Center. Auch die 19 Attentäter1 befanden sich unter den Toten.2 In den USA wurde dieses traumatische Ereignis als „Krieg gegen Amerika“ interpretiert und mit dem Kürzel 9/11 versehen. Bald war klar, dass nicht – wie im ersten Moment vermutet – radikale palästinensische Organisationen hinter den Anschlägen steckten, sondern die von Osama bin Laden angeführte und von Afghanistan aus operierende Terrororganisation Al Kaida. Das Wissen um Al Kaida war im Jahr 2001 im Allgemeinen noch gering, obwohl sie am 11. September nicht zum ersten Mal in Erscheinung getreten ist: Bereits 1993 hatte die islamistische Terrororganisation die Verantwortung für einen Sprengstoff­ anschlag in der Tiefgarage des WTC übernommen und auch die Bombenattentate auf die US-Botschaft in Kenia und Tansania im Jahr 1998 und der 1 2

Unter den 19 jungen Männern waren 15 saudische Staatsbürger, zwei Libanesen, ein Ägypter und ein Staatsbürger der Vereinigten Arabischen Emirate – drei von ihnen hatten als sogenannte „Schläfer“ in Deutschland (Hamburg) gelebt und die Anschläge vorbereitet. Thomas H. Kean (Hg.), The 9/11 Commission Report, New York 2004; Stefan Aust/Cordt Schnibben (Hg.), 11. September, Geschichte eines Terrorangriffs. Mit neuen Fahndungsergebnissen, München 2002.

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Selbstmordanschlag auf das Kriegsschiff USS Cole (DDG-67) im Jemen im Jahr 2000 gingen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Konto von Al Kaida. Trotz des enormen Schocks und entgegen der Vergeltungsrhetorik von ­Präsident George W. Bush („dead or alive“, „Kreuzzug“) reagierten die USA ­anfangs zurückhaltend und der befürchtete Gegenschlag blieb vorerst aus, da man im Kampf gegen den Terrorismus ein koordiniertes Vorgehen mit der NATO und der UNO anstrebte. Am 12. September 2001 rief die NATO erstmals seit i­hrem Bestehen den „Bündnisfall“ aus und auch der Sicherheitsrat der Vereinten ­Nationen verurteilte die Anschläge einstimmig (Resolution 1368) und ­forderte von Afghanistan die Auslieferung Bin Ladens und die Schließung aller ­Al Kaida-Ausbildungslager. Am 20. September hielt der amerikanische Präsident eine richtungsweisende Rede, in der er dem Terrorismus den Kampf ansagte. Bush stellte Afghanistan, wo seit 1996 die radikalislamistischen Taliban an der Macht waren und Bin Laden Unterschlupf gefunden hatte, ein Ultimatum: Sollten die Taliban den Terrorchef nicht sofort ausliefern, käme es zu einem militärischen Angriff auf Afghanistan. Gleichzeitig forderte er die internationale Staatengemeinschaft auf, sich dem „War on Terror“ (‚Krieg gegen den Terror‘) anzuschließen und er unterstellte mit den Worten „With us or against us“ allen Staaten, die sich nicht auf die Seite der USA stellten, eine Komplizenschaft mit den Terroristen. Da Afghanistan den Forderungen der USA nicht Folge leistete, kam es am 7. Oktober 2001 unter US-amerikanischer Führung zur militärischen Intervention. Das fundamentalistische Taliban-Regime konnte zwar Mitte November gestürzt werden, das Hauptziel des Afghanistankrieges – den Hauptverantwortlichen für die Terroranschläge Osama bin Laden zu finden und Al Kaida zu zerschlagen – wurde jedoch nicht erreicht. Vielmehr kam es zu weiteren Eskalationen der Gewalt in der gesamten Region, in die nach wie vor auch europäische Truppen involviert sind. Am 2. Mai 2001 wurde Osama bin Laden von einer US-Spezialeinheit in Pakistan getötet. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass mit dem Tod Bin Ladens der ,Krieg gegen den Terror‘ ein Jahrzehnt nach dem 11. September als beendet gelten kann. Aus der zeitlichen und emotionalen Distanz von zehn Jahren soll nun ein Rückblick auf dieses weltpolitische Ereignis und seine Folgen vorgenommen werden. Der Fokus unseres Buches liegt auf den Wahrnehmungen und ­Deutungen des 11. September 2001 in Europa, wobei exemplarisch die westeuropäischen Kernländer Deutschland, Großbritannien und Frankreich, aber auch Ostmitteleuropa am Beispiel Polen sowie das neutrale Österreich näher behandelt werden.

Einleitung

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Die Beiträge beschäftigen sich unter anderem mit folgenden Fragen und Aspekten: Wie hat man in Europa auf die Terroranschläge reagiert? Wie wurden sie in den einzelnen europäischen Staaten wahrgenommen und gedeutet und welche politischen Konsequenzen haben sich daraus ergeben? Auch die europaweiten Debatten über den Irakkrieg und das damit einhergehende brüchige Verhältnis zwischen Europa und den USA werden sowohl aus europäischer als auch amerikanischer Perspektive beleuchtet. Seit dem 11. September haben sich in Europa zwei zentrale Diskursstränge herausgebildet – der über die USA und Antiamerikanismus einerseits und jener über ‚die Muslime‘ und Islam(feindlichkeit) andererseits. Diese Themenfelder werden in einzelnen Beiträgen unseres Buches ebenfalls nachgezeichnet und exemplarisch diskutiert.

Die Solidarität bekommt Risse Unmittelbar nach dem 11. September herrschte in weiten Teilen Europas ­Solidarität mit den USA. Doch schon bald nach den Anschlägen wurde Kritik an der amerikanischen Politik laut und das Image der USA hat sich weltweit, auch in Europa, stark verschlechtert. Trotz der anfänglichen Solidarität sanken die Sympathiewerte für die USA vor allem unter dem Eindruck des (drohenden) Irakkrieges auffallend schnell. Wie Meinungsumfragen3 belegen, gilt dieser Trend für ganz Europa, wobei einige Tendenzen festzustellen sind: An der Spitze der amerikafreundlichen Staaten steht meist Polen, knapp gefolgt von Großbritannien; am anderen Ende der Skala befinden sich Länder wie Spanien und ­Griechenland mit den geringsten Sympathiewerten für die USA. Die beiden großen westeuropäischen Länder Deutschland und Frankreich bewegen sich meist im europäischen Mittelfeld, wobei trotz aller Kritik die Sympathien für die USA gegenüber der Ablehnung knapp überwiegen. In all diesen Ländern, selbst in den traditionell amerikafreundlichen, haben sich die Imagewerte der USA seit 2001 massiv verschlechtert, wobei der größte Gesinnungswandel in Deutschland festzustellen ist. Die internationalen Umfragen zeigen, dass es nach dem 11. September ­einen Riss durch die transatlantische Gemeinschaft gegeben hat: Europäer und 3

Vgl. dazu The Pew Research Center for the People and the Press, Survey Reports 2000–2006 (www.people-press.org); German Marshall Fund of The United States, Transatlantic Trends 2000-2006 (www.gmfus.org).

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­ merikaner hatten zwar ähnliche Wahrnehmungen und Einschätzungen der A Bedrohungen (Terrorismus), aber unterschiedliche Vorstellungen über den Umgang damit (z.B. über Führungsrolle der USA, Unilateralismus, Militäreinsatz). Der amerikanische neokonservative Vordenker Robert Kagan stellte daher eine Entfremdung zwischen Europa und den USA fest, die er auf grundsätzlich unterschiedliche Interessen und Prinzipien („Venus“ versus „Mars“) zurückführte.4 Besonders deutlich wurde dieser Gegensatz in der massiven Ablehnung des Irakkrieges, die in den großen europaweiten Anti-Kriegs-Demonstrationen am 15. Februar 2003 kulminierte. Diesen Protest interpretierten europäische ­Intellektuelle (u. a. Jürgen Habermas, Jacques Derrida, Umberto Eco) in einem gemeinsam verfassten und in den wichtigsten europäischen Tageszeitungen ­publizierten Manifest als „Wiedergeburt Europas“.5 Mit der bewussten Abgrenzung des ‚friedlichen Europa‘ von den USA erfuhr Robert Kagans Vorstellung von Amerika als das aktive, kriegerische Prinzip (Mars) im Gegensatz zum ­seiner Ansicht nach zögerlich-untätigen Europa (Venus), ironischerweise eine positive Umdeutung. Denn viele Europäer (ob in der politischen Elite oder in der Bevölkerung) interpretierten ihre pazifistische Haltung positiv als Ausdruck ihrer ‚Lern- und Demokratiefähigkeit‘ nach 1945 und stilisierten sich gewissermaßen als die ‚besseren Amerikaner‘. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die oft mit dem Gestus der moralischen Überlegenheit vorgebrachte Ablehnung des Irakkrieges teilweise nicht auch als Kompensation für die reale politische Machtlosigkeit Europas im weltpolitischen Kontext zu deuten ist.

Antiamerikanismus als europäische „lingua franca“? Vor diesem Hintergrund wurde bald der Vorwurf laut, dass die Kritik an den USA und am Irakkrieg oft über eine politische Kritik hinausging und in ­vielen Fällen letztendlich nichts anderes als Antiamerikanismus sei. Dieser Vorwurf wurde zuerst in den Feuilletons wichtiger europäischer Medien vorgebracht und bald auch in Buchform publiziert.6 Der amerikanische Soziologe Andrei 4 5 6

Robert Kagan, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York 2003. Vgl. Daniel Levy/Max Pensky/John Torpey (Hg.), Old Europe, New Europe, Core Europe. Transatlantic Relations After the Iraq War, London-New York 2005; Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt/Main 2004. Vgl. exemplarisch Henryk M. Broder, Kein Krieg nirgends. Die Deutschen und der Terror, Berlin 2002.

Einleitung

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Markovits hat antiamerikanische Denk- und Argumentationsmuster akribisch gesammelt und in diesem Zusammenhang – etwas überspitzt, wie wir meinen – vom Antiamerikanismus als europäischer „lingua franca“ gesprochen.7 Der bekannte britische Intellektuelle Tony Judt bezeichnete 2005 den gegen­wärtigen Antiamerikanismus als „master narrative of the age“8 und von m ­ anchen wurde das noch junge 21. Jahrhundert sogar kurzerhand zum „antiameri­kanischen Jahrhundert“9 erklärt. Selbstverständlich kann und soll nicht jede Kritik an den USA seit 2001 als antiamerikanisch qualifiziert werden. Vielmehr ist immer zu klären, wie Antiamerikanismus definiert wird und um welche konkreten Formen es sich dabei handelt. Entscheidendes, allgemein akzeptiertes Definitionsmerkmal ist die ­Unterscheidung, ob sich die Kritik ‚nur‘ gegen bestimmte politische Handlungen der Vereinigten Staaten richtet oder ob sie darüber hinaus geht und sich generalisierend gegen ‚Amerika‘ als solches wendet.10 Oder, wie es die Politologen Peter Katzenstein und Robert Keohane pointiert ausdrücken: „We have to distinguish between the views of what the United States is and what the United States does. “11 Der Befund eines allumfassenden europäischen Antiamerikanismus nach 2001 muss unserer Ansicht nach relativiert werden: Erstens gab/gibt es durchaus auch starke proamerikanische Haltungen in Europa (die oft auch die Realpolitik bestimmen), zweitens kann nicht von einer einheitlichen europäischen Position ausgegangen werden und drittens erscheint der europäische Antiamerikanismus trotz aller Hartnäckigkeit von Ressentiments als vergleichsweise gemäßigt.12 7 8 9 10

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Andrei S. Markovits, Amerika, dich haßt sich‘s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004. Tony Judt, A New Master Narrative? Reflections on Contemporary Anti-Americanism, in: ders./Denis Lacorne (Hg.), With Us or Against Us. Studies in Global Anti-Americanism, New York 2005, 11–33. Vgl. Ivan Krastev, The Anti-American Century, in: ders./Alan McPherson (Hg.), The AntiAmerican Century, Budapest-New York 2007, 7–25. Zu verschiedenen Definitionen und Kategorien von Antiamerikanismus vgl. u.a. Paul Hollander, Anti-Americanism. Critiques at Home and Abroad 1965-1990, New York 1992, 339; Konrad H. Jarausch, Missverständnis Amerika: Antiamerikanismus als Projektion, in: Jan C. Behrends/Árpád von Klimo/ Patrice G. Poutrus (Hg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005, 34-49; Gesine Schwan, Antiamerikanismus und demokratisches Bewusstsein in der Bundesrepublik von 1945 bis heute, in: Frank Kelleter/ Wolfgang Knöbel (Hg.), Amerika und Deutschland. Ambivalente Begegnungen, Göttingen 2006, 73–85. Peter J. Katzenstein/Robert O. Keohane (Hg.), Anti-Americanisms in World Politics, IthacaLondon 2007, 10. Ebd., 28 ff.

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Nicht Europa ist heute das Kerngebiet des Antiamerikanismus, sondern seine radikalsten Formen finden sich mittlerweile in den Peripherien der Globalisierung: im arabischen Raum sowie auch in Teilen Lateinamerikas, Südost­asiens und Afrikas.13 Die Anschläge vom 11. September 2001 stellten zweifellos die ­extremste Form eines gewalttätigen, die USA fundamental negierenden Antiamerikanismus dar. Dennoch gibt es auch in Europa Überreste von Antiamerikanismus, die dem historischen Fundus der europäisch-amerikanischen Geschichte entnommen und nach 2001 in modifizierter Form in Erscheinung getreten sind. Der ­folgende historische Abriss über die ambivalenten Beziehungen zwischen ­Europa und den USA bildet den Hintergrund und die Grundlage für die ­einzelnen Beiträge im Buch.

Die Beziehungen zwischen den USA und Europa – ein historischer Überblick Der Gegensatz ‚Altes Europa‘ versus ‚Neue Welt‘ hat eine lange europäische Tradition.14 Amerika war immer schon das Objekt europäischer Imagination, ­einerseits positiv als ein Ort der Faszination und andererseits im negativen Sinne als eine Projektionsfläche kollektiver Ängste, die oft als Negativfolie ­Europas herhalten muss.15 Einen ersten Höhepunkt erlebte der europäische Antiamerikanismus in der deutschen Romantik, die „wohl produktivste Werkstätte langlebiger amerikafeindlicher Bilder und Metaphern“.16 Klagen über die angebliche Vorherrschaft des Geldes, Gleichmacherei und Kulturlosigkeit Amerikas finden sich im 18. und 19. Jahrhundert zuhauf, unter anderen in Schriften von Romantikern wie Nikolaus Lenau oder Heinrich Heine. Die europäischen aristokratischen Herrscher zeigten sich vom amerikanischen Gemeinwesen (ohne Autoritäten, 13 14 15 16

Vgl. u.a. Sigrid Faath (Hg.), Antiamerikanismus in Nordafrika, Nah- und Mittelost. Formen, Dimensionen und Folgen für Europa und Deutschland, Hamburg 2003; March Lynch, AntiAmericanism in the Arab World, in: Katzenstein/Keohane (Hg.), Anti-Americanisms, 196-224. Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München (1993) 2003, 13-41; Georg Kreis (Hg.), Antiamerikanismus. Zum europäisch-amerikanischen Verhältnis zwischen Ablehnung und Faszination, Basel 2007. Jarausch, Missverständnis Amerika, 34–49. Diner, Feindbild Amerika, 42–65.

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Stände und Rang) zutiefst irritiert und lehnten die amerikanische Demokratie als niedrigere Gesellschaftsform ab. Gleichzeitig wurde Amerika für viele europäische Oppositionelle und Abenteurer zum politischen Fluchtpunkt und übte als Land der Freiheit und der „unbegrenzten Möglichkeiten“ große Faszination aus. Auch die seit Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzenden Auswanderungswellen aus europäischen Ländern wie Irland, Italien, Deutschland, Polen und der Habsburger Monarchie unterstreichen die große politische und ökonomische Anziehungskraft Amerikas. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betraten die Vereinigten Staaten erstmals auch die politische Bühne Europas. Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 mutierten sie – je nach politischer Konstellation – zum politischen Gegner oder zum Verbündeten. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges haben die Verlierer (Deutschland und Österreich) die USA zum Feindbild ­erklärt. Die Zwischenkriegszeit zeichnete sich durch große Ambivalenzen aus: Es kam zu einer ersten (teilweise positiv aufgenommenen) ‚Amerikanisierung‘ einerseits und zu einem radikalen Antiamerikanismus aufseiten der Rechten andererseits.17 Im Nationalsozialismus erreichte der antisemitisch und rassistisch aufgeladene Antiamerikanismus seinen drastischen Höhepunkt. Vor allem ab dem Kriegseintritt der USA 1941 richtete sich die NS-Propaganda ein­deutig gegen das „verjudete Amerika“ im Allgemeinen und gegen den verhassten ­amerikanischen Präsidenten Roosevelt im Besonderen.18 Für andere europäische Staaten stellte sich die Beziehung zu den Vereinigten Staaten etwas anders dar: Wie bereits im Ersten Weltkrieg stand Groß­britannien auch im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Amerikaner. Das Kriegsende 1945 konnte Großbritannien ebenso wie das 1944 von den Amerikanern befreite Frankreich aufseiten der Sieger im Kampf gegen den Nationalsozialismus ­feiern. In Deutschland und Österreich hingegen wurde 1945 oft nicht als ­Befreiung erlebt und die amerikanische Nachkriegspolitik (Entnazifizierung, Reeducation) als ‚Siegerjustiz‘ abgelehnt. Andererseits übten die amerikanischen Besatzungssoldaten und die bald einsetzenden populärkulturellen Einflüsse Amerikas ( Jazz, Rock‘n Roll, Konsumgüter etc.) auf die Jugend auch große Faszination aus.19 17 18 19

Peter Berg, Deutschland und Amerika 1918–1929. Über das Amerikabild der zwanziger Jahre, Lübeck-Hamburg 1963; Diner, Feindbild Amerika, 66–89. Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 19331945, Stuttgart 1997; Frank Becker/Elke Reinhardt-Becker (Hg.), Mythos USA. „Amerikanisierung“ in Deutschland seit 1990, Frankfurt-New York 2006. Vgl. u.a. Holger Afflerbach/Christoph Cornelißen (Hg.), Sieger und Besiegte: materielle und

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Die für ganz (West-)Europa gültige Gleichzeitigkeit von antiamerikanischen ­Ressentiments einerseits und einem unaufhaltsamem Prozess der ‚Amerikanisierung‘ andererseits bezeichnet der Historiker Günter Bischof zu Recht als „two sides of the coin“.20 Vor allem in Frankreich kam es – aus einer tief sitzenden Haltung kultureller Überheblichkeit heraus – immer wieder zu Abwehrkämpfen (Sprachpolitik, Kultur, Wirtschaft) gegen eine vermeintliche ‚Amerikanisierung‘ der französischen Gesellschaft.21 Im Kontext des Kalten Krieges haben sich die westeuropäischen Staaten politisch weitgehend an den Westen gebunden, wohingegen der Großteil Osteuropas unter den Einfluss der Sowjetunion geriet und die dortigen Regime einen dogmatischen linken Antiamerikanismus propagierten.22 Ab den 1960erJahren gerieten die USA durch den Vietnamkrieg weltweit ins Kreuzfeuer der Kritik. Unter dem politischen Etikett des Antiimperialismus und Antikapitalismus gehörte der Antiamerikanismus in den folgenden Jahrzehnten zum fixen ideologischen Bestandteil der europäischen (Neuen) Linken.23 Er setzte sich in den 1980er-Jahren in der Friedensbewegung im Kampf gegen die ‚Wiederauf­ rüstung‘ fort und kulminierte schließlich erneut in der Ablehnung des Golf­ krieges von 1991 unter dem Motto „Kein Blut für Öl“.24 In Osteuropa hingegen wurden die USA von der regimekritischen Opposition und Teilen der Bevölkeideelle Neuorientierungen nach 1945, Tübingen-Basel 1997; Reinhold Wagnleitner, Coca-­ Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 1991; Ingrid Bauer, Welcome Ami Go Home. Die amerikanische Besatzung in Salzburg 1945-1955, Salzburg 1998. 20 Günter Bischof, Two Sides of the Coin: The Americanization of Austria and Austrian-AntiAmericanism, in: Alexander Stephan (Hg.), The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945, New York-Oxford 2007, 147–184. 21 Philippe Roger, L’ ennemi américain. Généalogie de l’antiaméricanisme français, Paris 2002; Jean-François Revel, L’ obsession anti-américaine. Son fonctionnement, ses causes, ses inconséquences, Paris 2002; Richard F. Kuisel, Seducing the French. The Dilemma of Americanization, Berkeley-Los Angeles-London 1993. 22 Vgl. Beiträge in Behrends/Klimó/Poutrus (Hg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert; ­Stephan (Hg.), The Americanization of Europe; Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999; sowie Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, BadenBaden 1999; 23 Michael Hahn, Nichts gegen Amerika. Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte,­ Hamburg 2003; Philipp Gassert, Antiamerikaner? Die deutsche Neue Linke und die USA, in: Behrends/Klimó/Poutrus (Hg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert, 250–269; Diner, ­Feindbild Amerika, 115–62. 24 Dan Diner, Der Krieg der Erinnerungen und die Ordnung der Welt, Berlin 1991.

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rung positiv wahrgenommen, da sie Freiheit, materiellen Reichtum und Demokratie verkörperten.25 Das Jahr 1989 markierte den Zerfall des Kommunismus und damit ein­ hergehend das Ende des Kalten Krieges, aus dem die USA als einzig verbliebene Weltmacht gewissermaßen als ‚Sieger‘ hervorgegangen sind. Schon vor dem 11. September 2001 hatte man sich Gedanken über die neue Rolle der USA nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung gemacht.26 Zahlreiche europäische Intellektuelle befassten sich ebenfalls kritisch mit dem neu zu ordnenden Verhältnis zwischen Europa und den USA und haben teilweise positive ­Gegenentwürfe entwickelt.27 Auch auf der politischen Ebene versucht die Europäische Union seit Ende des Kalten Krieges, sich gegenüber den USA verstärkt als ­politische und ökonomische Gegenmacht zu positionieren. Das damit einhergehende Bemühen um eine „europäische Identität“ erfolgte sehr stark über die Abgrenzung von den USA, die in Europa nach wie vor in vielerlei Hinsicht als positives und negatives Gegen-Bild fungieren.

Terrorismus, Islam, Muslime: Der Islam als Herausforderung für Europa Als zweiter zentraler Diskursstrang kristallisierte sich nach dem 11. September jener über ‚die Muslime‘ und die steigende Islamfeindlichkeit heraus. Islamfeindlichkeit gibt es in Europa allerdings nicht erst seit dem 11. September 2001, sondern spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges wurde das alte Feindbild Kommunismus teilweise mit dem Islam ersetzt. Vor allem die Herrschaft des fundamentalistischen Taliban-Regimes in Afghanistan fügte dem Islam weltweit einen massiven Imageschaden zu und verfestigte das seit der iranischen Revolution 1979 verbreitete Bild vom gewaltbereiten und radikalen Islam. In Europa war vor allem Frankreich schon vor 2001 von der Entwicklung des 25

Vgl. u.a. Andrzej Antoszek/Kate Delaney, Poland: Transmissions and Translations, in: Stephan (Hg.), The Americanization of Europe, 218–250; Janos Matyas Kovacs, „Little America“. ­Eastern European Economic Culturs in the EU, in: Krastev/McPherson (Hg.), The AntiAmerican Century, 27–47. 26 Francis Fukuyama, End of History and the Last Man, 1992; Samuel Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. 27 Ulrich Beck/Natan Sznaider (Hg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München 2003; Emmanuel Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf, München 2003; Timothy Garton Ash, Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise, München-Wien 2004.

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i­slamistischen Fundamentalismus betroffen, als in den 1990er-Jahren durch eine Art Transfer des algerischen Bürgerkrieges eine Reihe von Anschlägen das Land erschütterte.28 In der Europäischen Union ist der Islam innerhalb der letzten Jahrzehnte mit schätzungsweise zwölf bis 20 Millionen Menschen zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft angewachsen. Muslime strömten nach dem Zweiten Weltkrieg als Teil einer globalen Migrationsbewegung aus ehemaligen europäischen Kolonien (Nordafrika, indischer Subkontinent) in das wirtschaftlich boomende Europa, vor allem nach Frankreich, Großbritannien und die Niederlande. Deutschland, die Schweiz und Österreich holten aus armen Mittelmeerländern wie der Türkei und Jugoslawien sogenannte ‚Gastarbeiter‘ ins Land. Die muslimische Bevölkerung in diesen Ländern hat seither sehr stark zugenommen: In Frankreich leben derzeit rund 6 Millionen Muslime, die vorwiegend aus dem Maghreb und ehemaligen französischen Kolonien in Afrika stammen, in Deutschland leben mittlerweile 3,8 bis 4,2 Millionen Muslime vorwiegend türkischer Herkunft und in Großbritannien zwischen 2,5 und 3 Millionen Muslime, die zu rund zwei ­Drittel aus Pakistan und Bangladesh stammen.29 Aufgrund der unterschied­ lichen Herkunftsländer und der unterschiedlichen Integrationskonzepte (Multi­kulturalismus, Laizismus, Gastarbeitermodell), mit denen die Einwanderer/innen in Europa konfrontiert waren, ist die Vorstellung einer einheitlichen muslimischen Community in Europa infrage zu stellen. Während der Islam der Einwanderungsgeneration noch stark von der Tradition der jeweiligen Herkunftsländer geprägt war und kaum politische Züge aufwies, machte in den späten 1980er-Jahren die zweite Generation durch ein neues Selbstbewusstsein auf sich aufmerksam, wobei auf unterschiedliche F ­ acetten des Islam zurückgegriffen wurde. In Großbritannien löste die Salman Rushdie Affäre 1989 heftige Debatten aus, und das laizistische Frankreich war im selben Jahr mit einer ersten Kopftuchdebatte konfrontiert. Ab den 1990er-Jahren konnte auch ein Transfer von internationalen Konflikten (Golfkrieg 1990/91, Bosnienkrieg, Zweite Intifada seit Herbst 2000) nach Europa beobachtet werden: Viele europäische Muslime identifizierten sich mit den Opfern dieser militärischen Auseinandersetzungen, wobei sie dem Westen und vor allem den USA die Ver28 Zur Entwicklung des politischen Islam vgl. exemplarisch Gilles Kepel, Jihad. The Trail of Political Islam, Cambridge/Massachusetts 2002. 29 Vgl. exemplarisch Jytte Klausen, The Islamic Challenge. Politics and Religion in Western ­Europe, New York 2005, 45; Lorenzo Vidino, The Muslim Brotherhood in the West, New York 2010.

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antwortung dafür zuschoben. Mit dem Krieg in Afghanistan und dem Irakkrieg haben sich bei vielen Muslimen die eigene Opferrolle und damit auch das Feindbild „Westen“ noch weiter verfestigt. Die damit einhergehende Heraus­ ‑bildung einer transnationalen muslimischen Identität gilt außerdem als Ausdruck einer tief empfundenen Entfremdung aufgrund der in Europa erfahrenen Marginalisierung und Diskriminierung. 30 Europa zeigte lange wenig Interesse am Islam und dessen unterschied­ lichen Ausprägungen. Nach dem 11. September trug die Angst vor dem globalen ­islamistischen Terrorismus wesentlich dazu bei, dass sich in der Wahrnehmung die Grenzen zwischen Islam, Islamismus und terroristischen Extremismus zu vermischen begannen. Mit den Anschlägen in Madrid (2004) und in London (2005) richtete sich der Blick zunehmend auf die Gefahren des Islam im ­eigenen Land. Das starke Wachstum der muslimischen Bevölkerung ließ sogar Warnungen vor einem „Eurabia“ laut werden, womit gemeint war, dass Europa in einigen Jahrzehnten vom Islam (manche sprachen vom „Islamofaschismus“) dominiert werden würde.31 Die seit Jahrzehnten kursierenden Islambilder verdichteten sich somit zu­ sehends zum „Feindbild Islam“, der als homogene, dem Westen unterlegene und somit die eigenen Werte und Nation bedrohende Kultur wahrgenommen ­wurde.32 Der Karikaturenstreit (2006), der in Dänemark seinen Ausgang genommen hat, verlieh der Islamdebatte eine neue Dimension, indem Fragen nach der Demokratie- und Integrationsfähigkeit des Islam und nach den Grenzen der Toleranz in den Vordergrund rückten.33 Der massive Wandel, den das Islambild nach dem 11. September erfahren hat, widerspiegelte sich auch in der Immigrationsdebatte, in der mittlerweile nur noch selten von „Gastarbeitern“ und „Ausländern“ (Deutschland/Österreich), „blacks“ und „asiens“ (Groß­ britannien) oder „beurs“ (Frankreich) gesprochen wird, sondern häufig nur mehr von „Muslimen“. Während kulturelle und religiöse Fragen, wie der Bau von ­Moscheen und Minaretten, das Kopftuch oder Zwangverheiratung die Debatte 30 Zum Wandel muslimisch/islamischer Identitäten vgl. Oliver Roy, Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München 2006. 31 Bat Ye‘or, Eurabia: The Euro-Arab Axis, Madison, N.J. 2005. Zur Kritik an diesem Begriff vgl. exemplarisch Kenan Malik, From Fatwa to Jihad. The Rushdie Affair and its Legacy, London 2009, 136 ff. 32 Nina Clara Tiesler, Muslime in Europa. Religion und Identitätspolitiken unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, Münster 2006. 33 Ian Buruma, Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh, München 2007.

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zu dominieren begannen, rückten politische und gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung und Marginalisierung stark in den Hintergrund. Die Meinung, dass der Islam in Europa nicht integrierbar sei und von ihm für die Zukunft des Kontinents eine Gefahr ausgehen würde, blieb nicht mehr auf das rechte politische Lager beschränkt, Islamfeindlichkeit wurde in vielen europäischen Ländern zu einem Phänomen der Mitte.34 Auch während der Debatte um die Verfassung der Europäischen Union35 und den EU-Beitritt der Türkei wurde deutlich, dass der Islam keineswegs als integraler Teil eines „christlichen“ und, wie mittlerweile auch hinzugefügt wird, „jüdischen“ Europa betrachtet wird.36 Diese zumeist sehr emotional geführten Diskussionen verlaufen längst quer durch politische und religiöse Denkschulen. Während beispielsweise Teile der Linken und Feministinnen sich gegen jede Form von Fundamentalismus aussprechen und, wie zuletzt in der Schweiz, den Kampf gegen den Bau von ­Minaretten unterstützen, fungieren viele traditionelle Linke weiterhin als ­Anwälte der sogenannten Dritten Welt und als Fürsprecher des Multikulturalismus.37 Prominente Rechtspopulisten wie z.B. Geert Wilders in den Niederlanden, aber auch der Vlaams Belang in Belgien, Le Pens Front National und sogar die British National Party stellen sich immer öfter an die Seite der jüdischen Minderheit, während sie den Islam als „faschistische Ideologie“ aburteilen. Als positive Entwicklung zeichnet sich eine immer regere Beteiligung von Muslimen an den diversen Debatten ab. Wurde in den meisten europäischen Ländern nach dem 11. September meist noch über sie diskutiert, so greifen mittlerweile viele unterschiedliche muslimische Repräsentanten sowie bekannte Intellektuelle, die sich häufig als säkular verstehen, selbst in die Debatte ein. Die Bandbreite dieser Stimmen reicht von Tariq Ramadan, der einen europäischen Islam propagiert bis hin zu Ayaan Hirsi Ali, die nicht nur dem Islam abgeschworen hat, sondern Religion an sich infrage stellt.38 Bis heute besteht allerdings noch 34 35 36 37 38

Vgl. dazu exemplarisch Walter Laquer, Die letzten Tage von Europa. Ein Kontinent verändert sein Gesicht, Berlin 2008; Christopher Caldwell, Reflections on the Revolution in Europe: Immigration, Islam and the West, London 2009; Klausen, The Islamic Challenge, 3. Dabei ging es um die Frage, ob in der Präambel ein Bezug zum „christlichen Erbe“ hergestellt werden sollte. Vgl. dazu exemplarisch Matti Bunzl, Anti-Semitism and Islamophobia. Hatreds Old and New in Europe, Chicago 2007. Roy, Der islamische Weg, 321 ff. Vgl. dazu Thierry Chervel/Anja Seeliger (Hg.), Islam in Europa. Eine internationale Debatte, Frankfurt/Main 2007.

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kein Konsens über die exakte Definition des Begriffes der Islamophobie39 und Islamexpert/inn/en sind sich auch noch keineswegs über das tatsächliche Ausmaß der Islamfeindlichkeit in den unterschiedlichen europäischen Ländern ­einig.40

Die Beiträge Die unmittelbaren Reaktionen auf den 11. September waren in Europa in ihren­Grund­zügen sehr ähnlich. Die anfängliche Anteilnahme und Solidarität mischte sich mit Misstönen von Schadenfreude und Opferaufrechnungen, die bald einsetzenden Erklärungsversuche gerieten oft zu vereinfachenden Schuldzuweisungen gegenüber den USA und bald schon dominierten vor allem im westlichen Europa die Sicherheits-, Kriegs- und Islamdebatten. Die Grenze zwischen der häufig durchaus berechtigten Kritik an der Politik der USA und Antiamerikanismus war dabei nicht immer klar auszumachen. Neben diesen Ähnlichkeiten gab es aber auch nationale Besonderheiten, die sich unter ­anderem auf die unterschiedlichen historischen und politischen Rahmenbedingungen zurückführen lassen und in den einzelnen Beiträgen herausgearbeitet werden.41 Als wichtige Grundlage des Buches fungiert der Beitrag von Margit Reiter über die Wahrnehmungen und Deutungen des 11. September in Deutschland. Die im Beitrag aufgezeigten Reaktionen und Argumentationsmuster haben auch für die anderen untersuchten Länder Gültigkeit, sie weisen aber auch einige historische und politische Besonderheiten auf. Das Verhältnis Deutschlands zu den USA ist vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte zu sehen (Befreiung 39

Christopher Allen, Was ist Islamophobie? - Ein evolutionärer Zeitstrahl, in: Urs Altermatt/­ Mariano Delgado/Guido Vergauwen (Hg.), Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart 2006, 67-78. Vgl. dazu auch den Beitrag von Wolfgang Aschauer in diesem Band. 40 Christopher Allen und Jorgen S. Nielsen thematisieren in dem von ihnen im Auftrag der EUMC verfassten Summary Report on Islamophobia in the EU after 11 September 2001 (Wien 2002) die Problematik der exakten „Messung“ von Islamfeindlichkeit. 41 Einige Anmerkungen zur verwendeten Schreibweise: Eigennamen und Begriffe aus dem ­Arabischen (z.B. Al Kaida, Dschihad usw.) wurden der üblichen deutschen Schreibweise ­angepasst und vereinheitlicht. Zum Zwecke der besseren Lesbarkeit wurde die geschlechtsspezifische Schreibweise teilweise vereinfacht/aufgehoben, so z.B. bei pauschalen Staatszu­ gehörigkeiten (Amerikaner, Franzosen, Polen) und Religionszugehörigkeiten ( Juden, Muslime).

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1945, Unterstützung im Kalten Krieg und bei der ‚Wende‘ 1989), mit der auch die viel beschworene ‚deutsch-amerikanische Freundschaft‘ begründet wurde. Nach den Anschlägen 2001 erklärte Deutschland den USA die „uneingeschränkte Solidarität“, die allerdings bald abgeschwächt wurde und in eine massive Ablehnung des Irakkrieges mündete. Margit Reiter zeichnet die Debatten um eine deutsche Beteiligung am ‚Krieg gegen den Terror‘ nach, die das pazifistische Selbstverständnis Deutschlands stark infrage gestellt haben. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die NS-Vergangenheit auch die Wahrnehmungen des 11. September und die damit einhergehenden Amerika-Bilder in Deutschland nachhaltig bestimmt hat. Helga Embacher geht in ihrem Beitrag „A Special Relationship“ – Der 11. September und die Folgen in Großbritannien den britischen Reaktionen nach, die sich durch eine besondere Nähe („shoulder to shoulder“) zu den USA auszeichneten. Im Unterschied zu Deutschland und Frankreich hielt Premierminister Tony Blair auch während des Irakkrieges an der „Special Relationship“ mit den USA fest, wobei der gemeinsame Kampf gegen Hitlerdeutschland und in­direkt auch Großbritanniens koloniale Vergangenheit bemüht wurden. Während die politische Elite am Irakkrieg festhielt, stellte sich die britische Bevölkerung allerdings mehrheitlich auf die Seite der Kriegsgegner. Die politisch äußerst h ­ eterogene Stop the War Coalition gilt als die bisher größte Protestbewegung des L ­ andes, an der sich auch britische Muslime aktiv beteiligt haben. Großbritannien wurde auch als erstes europäisches Land durch die Anschläge in der Londoner U ­ -Bahn (2005) mit einem „homegrown terrorism“ konfrontiert. Dadurch ­erhielten die seit 2001 geführten Debatten um den „Islam im eigenen Land“ und das mittlerweile häufig infrage gestellte Konzept des Multikulturalismus eine neue Dimension. Im Beitrag Von der Allianz zur Dissonanz untersucht Christian Muckenhumer die Reaktionen in Frankreich nach dem 11. September vor dem Hintergrund der langen und wechselvollen französisch-amerikanischen Beziehungen. Die französische Regierung trat nach der anfänglichen Solidarisierung mit den USA bald als klare Gegnerin des Irakkrieges auf und wurde somit (neben Deutschland) zur vorrangigen Zielscheibe amerikanischer Kritik am „alten ­Europa“. Allerdings gab es in Frankreich auch proamerikanische Haltungen, die der Autor am Beispiel der Positionen von französischen Intellektuellen (‚Neue Philosophen‘) deutlich macht. Der 11. September erwies sich in Frankreich, wo etwa 6 Millionen Muslime und rund 500.000 Juden leben, auch als eine ­Nagelprobe für die jüdisch-muslimischen Beziehungen, die seit den Unruhen

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in den Vorstädten im Kontext der Zweiten Intifada äußerst angespannt w ­ aren. In Frankreich haben sich – ähnlich wie in Großbritannien – die aktuellen ­Debatten oft indirekt mit der Auseinandersetzung um die koloniale Vergangenheit des Landes vermengt. Die spezifischen Reaktionen und Argumentationen auf den 11. September in Ostmitteleuropa hat Filip Fetko in seinem Beitrag Der 11. September und das „Neue Europa“ nachgezeichnet. Der Beitrag konzentriert sich vor allem auf ­Polen, stellt fallweise aber auch Vergleiche und Bezüge zu Tschechien, der Slowakei und Ungarn her. Manche Regierungen der osteuropäischen Staaten haben sich nach den Anschlägen vom 11. September und hinsichtlich des ­Irakkrieges als besonders loyale Partner der USA und der NATO erwiesen, was vor allem mit ihrer kommunistischen Vergangenheit zu erklären ist. Wie der Beitrag zeigt, kann der im Vorfeld des Irakkrieges konstruierte Gegensatz vom „alten und neuen Europa“ nicht aufrechterhalten werden. Ähnlich wie in Großbritannien, Spanien und Italien unterstützte zwar die politische Elite den Krieg, während sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dagegen aussprach. Im Laufe des Irakkrieges kühlte sich nicht nur im traditionell amerikafreundlichen Polen das Verhältnis zu den USA merklich ab, was auch im Kontext des 2004 erfolgten EU-Beitritts von Polen und einer Reihe weiterer osteuropäischer Staaten gesehen werden muss. Im Beitrag von Margit Reiter über die Signaturen des 11. September 2001 in Österreich dient vor allem Deutschland aufgrund einer ähnlichen historischen Ausgangskonstellation als Vergleichsfolie. Neben einigen Ähnlichkeiten (auch zu den anderen Ländern Europas) gibt es aber auch entscheidende Unterschiede in den österreichischen Reaktionen und Diskussionen nach 2001, wobei vor allem die Frage der Neutralität eine entscheidende Rolle spielte. Neben den Debatten darüber, wie sich das kleine neutrale Österreich zum ‚Krieg gegen den Terror‘ verhalten sollte, wird auch die ungewöhnlich aktive Reisediplomatie im Umfeld der schwarz-blauen Regierung in den Nahen und Mittleren Osten (u.a. Irak-Reisen von Jörg Haider) kritisch beleuchtet. Am Beispiel Österreichs geht Margit Reiter auch stellvertretend der für ganz Europa gültigen Frage nach, ob und inwieweit die nach dem 11. September einsetzende Kritik an den USA antiamerikanisch war und auf welche Traditionen von Antiamerikanismus dabei gegebenenfalls zurückgegriffen wurde. Der Beitrag von Reinhard Heinisch verlässt die europäische Ebene und beleuchtet die Beziehungen zwischen den USA und Europa aus amerikanischer Sicht. Dabei wird deutlich, dass es in den USA in Bezug auf den 11. September und

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die erforderlichen Reaktionen darauf eine andere Sicht- und Herangehensweise als in Europa gab, die auch die amerikanische Politik nach den Terror­an­ schlägen wesentlich beeinflusst hat. Vor allem die Ablehnung des Irak­krieges und die zunehmende Kritik an den USA haben von amerikanischer Seite zu einer massiven Kritik am „alten Europa“ und zu Vereinahmungsversuchen ­gegenüber dem „neuen Europa“ geführt. Der Autor zeigt auch auf, dass die transatlantischen Gegensätze bereits eine längere Vorgeschichte haben und ­somit in ­einem ­größeren politischen Kontext einzuordnen sind. Durch diesen ­Perspektivenwechsel wird deutlich, dass die in den anderen Beiträgen aufgezeigten ­europäischen Debatten nicht isoliert zu betrachten, sondern immer auch in Interaktion mit dem amerikanischen Diskurs zu verstehen sind. Der Soziologe Wolfgang Aschauer geht in seinem Beitrag Terroristische ­Bedrohung, kulturelle Wandlungsprozesse und Islamophobie in Europa der Frage nach, ob zehn Jahre nach den Anschlägen in den USA in europäischen Gesellschaften kulturelle Veränderungsprozesse konstatiert werden können. Der ­Beitrag analysiert das in europäischen Medien transportierte Islambild und zeichnet aktuelle Debatten über den Islam nach. Auf der Basis von unterschiedlichen empirischen Untersuchungen, die zum welt- und europaweiten Stimmungsbild gegenüber dem Islam vorliegen, analysiert Wolfgang Aschauer die Einstellungen der autochthonen Mehrheitsbevölkerung gegenüber der muslimischen Minderheit. Die von ihm beleuchteten europäischen Wertestudien konnten die These eines Anstiegs islamophober Tendenzen jedenfalls für einige europäische Länder nicht bestätigen. Der abschließende Beitrag von Monika Bernold über 9/11 als transnationales Medienereignis beschäftigt sich mit einem Aspekt, der bereits unmittelbar nach den Anschlägen ein zentrales Thema in der Öffentlichkeit war. Das Medien­ ereignis 9/11 hat sich auch sehr schnell in den wissenschaftlichen Diskurs eingespeist, der seit nunmehr zehn Jahren mit verschiedenen Erkenntnisinteressen und disziplinären Herangehensweisen an dessen Verfestigung (mit)beteiligt ist. Die Autorin zeichnet diesen wissenschaftlichen Diskurs nach und entwickelt dabei drei wesentliche Phasen der Wissensproduktion – die erste Phase fokussierte auf den Zusammenhang von Medien und Terrorismus; in einer zweiten Phase standen medienkulturelle Verarbeitungsformen von 9/11 im Zentrum und in der dritten und aktuellsten Phase geraten die Deutungen von 9/11 selbst als kulturelle Chiffre ins Blickfeld der Wissenschaft. Nicht nur ihr Beitrag, auch der ­gesamte vorliegende Band ist als Bestandteil und Produkt eben dieses von ­Monika Bernold aufgezeigten wissenschaftlichen Diskurses über den 11. September 2001 zu verstehen.

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Als Einstieg in das Buch haben wir zwei persönliche Beiträge von Autor/inn/ en gewählt, die in ihrem jeweiligen Bereich als Expert/inn/en gelten und ihre sehr persönliche Sicht auf den 11. September 2001 aus einer amerikanischen und einer europäischen Perspektive beschreiben. Hanna K. Ulatowska arbeitet als anerkannte Neurolinguistin an der University of Texas in Dallas. Sie ist in Polen geboren und hat als Kind die Bombardierung Warschaus im September 1939 miterlebt. In ihrem Beitrag Eine Geschichte vom Überleben schildert sie eindringlich, wie diese traumatische Kindheitserfahrung im Kontext des 11. September plötzlich wieder präsent war und sie sich dadurch zum ersten Mal mit ihrem neuen Heimatland USA völlig identifizieren konnte. Am Beispiel der vielfältigen (autobiographischen) Literatur und einiger wissenschaftlichen Studien zeigt Hanna Ulatowska schlaglichtartig die unterschiedlichen Verarbeitungsformen von 9/11 in der so heterogenen amerikanischen Gesellschaft auf. Eugen Freund, langjähriger ORF-Korrespondent in Washington und ­Kenner der USA, beschreibt in seinem Beitrag auf sehr persönliche Weise seine ­Erinnerungen an das World Trade Center, wobei er auf eine lange ­Erfahrung mit New York und den nunmehr zerstörten Türmen des WTC zurückgreifen kann. Erst kurz zuvor aus Washington nach Österreich zurückgekehrt, war er am 11. September 2001 in den ersten aufregenden Stunden der Live-­Berichterstattung des ORF zum Terror in den USA als Moderator tätig. ­Eugen Freund schildert in seinem Beitrag den Grenzgang eines erfahrenen Journalisten zwischen Emotion und Professionalität. Beim Zustandekommen eines Sammelbandes sind immer zahlreiche Personen beteiligt, denen wir an dieser Stelle danken wollen. Unser besonderer Dank gilt natürlich den Autorinnen und Autoren, die sich bereit erklärt ­haben, einen Beitrag zu unserem Sammelband beizusteuern und mit uns kooperativ zusammengearbeitet haben. Wir bedanken uns auch beim Böhlau Verlag und dabei besonders bei Ursula Huber und Bettina Waringer für die produktive ­Zusammenarbeit und bei Karin Leherbauer-Unterberger für das Lektorat. ­Unser Dank gilt auch Christian Pape für seine Mitarbeit an der formalen Endredaktion der Beiträge, die er rasch und mit großer Umsicht durchgeführt hat. Last but not least bedanken wir uns herzlich bei Mel Greenwald für seine Unterstützung bei der Übersetzung des Beitrags von Hanna Ulatowska und bei Günther Sandner für die kritische Lektüre einiger Texte.

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Eine Geschichte vom Überleben: Rückkehr in die Vergangenheit1 „In memory…we find the most complete release from the narrowness of presented time and place… the picture is one of human beings confronted by a world in which they can be masters only as they…discover ways of escape from the complete sway of immediate circumstances.“ ~ F.C. Bartlet2

Am Morgen des 11. September 2001 fuhr ich vom Schwimmen nach Hause und hörte Radio. Plötzlich kam die Nachricht, dass die Türme des WTC angegriffen wurden. Mein erster Gedanke war: Das muss in einem fremden Land passiert sein. Ich konnte nicht sofort begreifen, was geschehen war. Ich beeilte mich nach Hause zu kommen, hastete ins Haus und schaltete den Fernseher ein. Lange saß ich davor, betäubt und entsetzt zugleich, als ich verfolgte, wie die Flugzeuge in die Doppeltürme rasten. Ich konnte einfach nicht glauben, was passiert war. Ich ging nicht zur Arbeit. Ich rief in Warschau an, um mit meiner Familie zu sprechen. Etwas hatte sich in mir verändert, aber zuerst wusste ich nicht, was genau es war. Und dann kehrte ich gedanklich in meine Vergangenheit zurück, weit zurückliegend im Zweiten Weltkrieg in Warschau. Die albtraumartigen Ereignisse, die ich dort erlebt hatte, begannen sich erneut abzuspielen. Es war der 25. September 1939 als die ersten massiven Bombardierungen einer europäischen Stadt im Gange waren. Die deutsche Luftwaffe warf 500 Tonnen hochexplosives Material und 72 Brandbomben ab. Gleichzeitig ­begannen massive Angriffe durch die deutsche Wehrmacht. An diesem Tag ­kamen in Warschau 40.000 Zivilist/inn/en ums Leben. Der Angriff vom 25. September führte französischen und britischen ­Politikern die Verwundbarkeit von Städten durch einen einzigen Militär1 2

Der Beitrag wurde von Helga Embacher und Mel Greenwald aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Frederic C. Bartlett, Remembering. An Experimental and Social Study, Cambridge 1932, 301.

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schlag vor Augen. Bei diesem Angriff trafen drei Bomben auch das Haus, in dem sich meine Familie in einem Keller versteckt hielt. Unser gesamtes ­Gebäude sank in sich zusammen, die meisten Menschen, die sich in den oberen Stockwerken aufhielten, kamen ums Leben. Meine Familie überlebte und die Soldaten zogen uns aus den Ruinen hervor. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Soldaten, der den Eindruck ­erweckte, er werde wahnsinnig, als er schrie: „Gebt mir eine Säge, um einen Soldaten zu retten, der unter einem schweren Holzpfeiler begraben ist.“ Bis heute kann ich seine Stimme nicht vergessen. Es war meine erste Begegnung mit dem Massensterben. Danach gingen wir durch ein Inferno von brennenden Häusern. Ein ­Soldat trug mich auf seinen Schultern, damit meine Mutter mit dem Bruder an der Hand gehen konnte. Jahre später berichteten Zeitungen von unserer Rettung. Wenn ich in Warschau bin, gehe ich regelmäßig an diesem Gebäude vorbei (oder zumindest an der Stelle, wo es sich befunden hat) und durchlebe erneut unsere wundersame Rettung. Einige Jahre später, während des Warschauer Aufstandes 1944, traf eine Bombe das höchste Gebäude der Stadt: Das Prudential. Das Bild von diesem in Flammen stehenden Gebäude, das dem der Doppeltürme in New York so ähnlich ist, wurde zum Symbol für die totale Zerstörung von ­Warschau, die Erfüllung von Hitlers 1944 getätigter Drohung: „Warschau muss be­ruhigt werden und das heißt, dem Erdboden gleichgemacht.“ Und genau dieses Bild hatte ich vor Augen, als ich die Szenen am 11. September sah. Was hatte sich in mir verändert, nachdem diese alten Erinnerungen wieder hochgekommen sind, die ein Gefühl von Verwundbarkeit als Folge von Krieg und Terrorismus entstehen lassen? Am 14. September verkündete das Titelblatt des Times Magazine, dass der 11. September 2001 seit dem Bürgerkrieg der blutigste Tag auf US-amerikanischem Boden sei. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung war damit konfrontiert, dass sich ihre bisher nicht hinterfragte Annahme einer persönlichen und nationalen Unverwundbarkeit als fatal erwiesen hatte. Groß­ angelegte Umfragen, die nach dem 11. September durchgeführt wurden, suggerierten, dass die vom Fernsehen übertragenen Bilder so schockierend waren, dass sie bei einem beachtlichen Teil der Erwachsenen in den USA ein posttraumatisches Stresssymptom auslösen können. Die Bilder vom Zusammenbruch des World Trade Centers lösten aber auch eine Welle von Hilfsbereitschaft aus. Menschen spendeten nicht nur Blut und andere wichtige Dinge,

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das American Red Cross erhielt bis Ende 2001 auch insgesamt 667 Millionen Dollar an Spenden. In der Bevölkerung zeigte sich auch ein größeres Ausmaß an Dankbarkeit, Hoffnung, Freundlichkeit, Zusammenarbeit und Spiritualität als sonst.3 In mir löste es eine tiefe Empathie mit den Menschen in dem von mir adoptierten Land aus und mir wurde meine doppelte Loyalität ­bewusst: zu meinem Herkunftsland Polen und zu den USA. Die gemeinsame Erfahrung von Verletzbarkeit hatte eine neue Verständnisbasis geschaffen. Im Folgenden möchte ich einen Perspektivenwechsel vollziehen, und zwar von der ‚Betroffenen und Zeugin des Krieges in Polen‘ und einer ‚Beobachterin der Tragödie von 9/11 in New York‘ hin zur Neurolinguistin, die sich als Wissenschafterin mit Geschichten, Reaktionen und Erinnerungen der vom Terrorangriff betroffenen Amerikanern auseinandergesetzt hat. Ich erhoffe mir davon, die Auswirkungen, die dieses Ereignis auf viele Überlebende hatte, besser verstehen zu können. Sie sollen im Folgenden in einem mir vertrauten wissenschaftlichen Rahmen diskutiert werden. Ich suchte zuerst Literatur, in der die Reaktionen von Augenzeug/inn/en beschrieben werden. Dabei stieß ich auf eine interessante Stelle in der von Laura Bush kürzlich publizierten Autobiographie Spoken from the Heart, in der sie ihr Treffen mit Ted Kennedy in seinem Büro am Tag des Terror­angriffs beschreibt.4 Laura ist zutiefst besorgt um ihren Ehemann und im Fernsehen überhäufen sich die Bilder der Zerstörung. Sie war sehr erstaunt darüber, dass Ted Kennedy diesen Bildern keine Aufmerksamkeit schenkte und einfach weiter über völlig andere Dinge sprach: „Senator Kennedy wandte sein Gesicht von den Fernsehbildern ab. Stattdessen führte er mich in seinem Büro herum und deutete auf verschiedene Bilder, Möbel und Erinnerungsstücke (…).“5 Jahre später kommentiert Laura Bush diese Szene wie folgt: „Ich habe oft überlegt, ob Ted Kennedy mit seinem Smalltalk an diesem Morgen einen Abwehrmechanismus gezeigt hat. Ob er nach so vielen Tragöden (…) einfach nicht mehr fähig war, sich auf eine weitere Tragödie einzulassen.“6 Ted Kennedys Reaktionen und Laura Bushs Interpretation erinnern mich an das Schweigen von so vielen Holocaust-Überlebenden, die eben3 4 5 6

Vgl. Christopher Peterson/Martin E. P. Seligman, Character Strengths and Virtues. A Handbook and Classification, Oxford 2004. Laura Bush, Spoken from the Heart, New York 2010. Ebd., 52. Ebd., 53.

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falls ihre Bilder aus der Vergangenheit nicht mehr hochkommen lassen können. Auch in Bilderbüchern für Kinder, die sich mit 9/11 befassen, wird die Frage nach der Darstellbarkeit der durch diese Katastrophe in uns ver­ festigten Bilder aufgeworfen. Da die gesamte Gesellschaft die Angriffe als traumatisierend und beispiellos empfunden hat, kann angenommen werden, dass es Kindern besonders schwer gefallen ist, dieses Ereignis in sich aufzunehmen. Mordicai Gerstein bietet mit seinem Bilderbuch The Man Who Walked Between the Towers7 dafür eine interessante Lösung an, indem er das Ereignis 9/11 in den Hintergrund der Handlung rückt und somit minimiert. Ins Zentrum der Geschichte rückt Gerstein den berühmten Seiltänzer P ­ hilippe Petit, der durch sein Balancieren zwischen den beiden Türmen ­diesen eine neue Bedeutung verliehen und gleichzeitig die Bedeutung von 9/11 abgeschwächt hat. Es ist interessant, dass die Geschichte mit einem konventionellen Erzählmuster: „Es waren einmal zwei Türme, die nebeneinander gestanden sind“ beginnt und am Erzählende einen indirekten Bezug zu den Anschlägen herstellt: „Und jetzt sind die Türme weg. Aber in der Erinnerung sind sie noch da, als ob sie im Himmel einen Abdruck hinterlassen hätten. Und ein Teil davon ist die Erinnerung an den freudigen Morgen des 7. August 1974 als Philippe Petit zwischen den beiden Türmen in der Luft balancierte.“8 Zu den Opfern des Anschlages wird nicht Bezug genommen. Der Autor verweigert auch jeglichen Kommentar, der es Erwachsenen ­erleichtert hätte, den Kindern das Verschwinden der Türme zu er­klären. Gersteins Buch wurde 2004 mit der Caldecott Medal ausgezeichnet, die jedes Jahr von der American Library Association für das beste amerikanische ­Bilderbuch für Kinder vergeben wird. Nach weiteren Literaturrecherchen wählte ich zwei Geschichten von Menschen aus, die im zusammenstürzenden WTC eingesperrt waren. Eine Geschichte, die mich besonders beeindruckte, fand ich im großartigen Buch The Third Man Factor9. Dieses Buch handelt von Überlebenden, die traumatischen Erfahrungen entkommen sind und dabei die Anwesenheit von einem Helfer oder Beschützer verspürt haben, der als der sogenannte „Dritte Mann“ erscheint. Nachdem die üblichen Methoden – Erfindergeist, 7 Mordicai Gerstein, The Man Who Walked Between the Towers, New York 2003. 8 Ebd. 9 John Grigsby Geiger, The Third Man Factor. Surviving the Impossible, Edinburgh 2009.

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Mut und Ausdauer – erschöpft sind, kann somit noch immer eine mysteriöse Kraft angerufen werden. Der Psychologe Peter Suedfeld, der sich mit diesem Phänomen beschäftigt hat, beschreibt es als entschlossenen Überlebenskampf, auch wenn die Situation fast aussichtslos erscheint.10 Es gibt für dieses Phänomen auch einige psychologische Erklärungen, die sich zum Teil auf die geistige Verfassung der Betroffenen beziehen oder der rechten Gehirnhälfte im Menschen dafür große Bedeutung beimessen. Im Folgenden habe ich eine ganz besondere Geschichte ausgewählt, die auf einem Interview basiert, das der Verfasser von The Third Man Factor, John Geiger, mit einem Überlebenden im Südturm geführt hat. Ein Auszug daraus: Viele Menschen haben an diesem Tag sekundenschnell Entscheidungen getroffen, die bestimmten, ob sie leben oder sterben würden. Ron DiFrancesco hingegen überlebte, weil er in einem kritischen Moment Hilfe von außen erhalten hat. Er hatte das Gefühl „jemand hob mich hinauf“. Er fühlte, dass ihn wer lenkte: „Ich wurde zu den Stiegen geführt. Ich glaube nicht, dass wer meine Hand genommen hat, aber ich wurde definitiv geführt.“ Er ging weiter hinunter und erblickte einen Lichtstrahl. Er folgte ihm, erkämpfte sich einen Weg durch Berge von Fertigputz und anderen Trümmern, die von den Mauern heruntergefallen waren und das Stiegenhaus blockierten. Flammen schlugen ihm entgegen. Er wich vom Feuer zurück. Aber es war ihm noch immer wer behilflich: „Ein Engel“ spornte ihn an: „Es war noch immer gefährlich, also hat er mich zum Stiegenhaus geführt, trieb mich an, durchzubrechen und durchs Feuer zu laufen…. Da war offensichtlich wer, der mich dazu ermutigt hat. Du gehst nicht hier, du gehst nicht durch das Feuer…“ Er bedeckte seinen Kopf mit den Unterarmen und lief nach unten. Das Feuer hatte ihn versengt. Er glaubte, dass drei ganze Stockwerke in Flammen standen. Endlich erreichte er ein hell beleuchtetes Stiegenhaus unterhalb des Feuers im 76. Stockwerk. Erst da hörte das Gefühl, von einem wohlwollenden Helfer, der 5 Minuten bei ihm war, beschützt zu sein, auf. Dazu DiFrancesco: „Ich glaube, an dieser Stelle hat er mich gehen lassen.“11 10 11

Paul Suedfeld, Homo Invictus. The Indomitable Species, in: Canadian Psychology, 38, 1998. Geiger, The Third Man Factor, 5.

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DiFrancesco kann nicht verstehen, warum er überlebt hat, während so viele andere starben. Aber er hat keine Zweifel an der Ursache seiner Rettung. Als ein Mensch mit einer tief religiösen Überzeugung führt er diese auf eine göttliche Intervention zurück. Die zweite Erzählung, die ich ausgewählt habe, hat mit Heldentum zu tun, dokumentiert in 102 Minutes, einem der besten Bücher über den Überlebenskampf im World Trade Center. Verfasst wurde das Buch von den beiden Journalisten Jim Dwyer and Kevin Flynn, die dafür den National Book Award erhalten haben.12 Die Schilderung ist eine hinreißende Geschichte über extremen Mut, Selbstlosigkeit und Tod: Die Emotionen, die ich an diesem Tag verspürte, verloren mit der Zeit an Stärke. Sie sind aber immer noch äußerst kraftvoll. Der 36 Jahre alte Esmerlin Salcedo hatte zumeist Nachmittagsschicht im Trade Center, wo er als Sicherheitsbeamter häufig im Keller bei der Überwachungszentrale eingesetzt war und die Sprechanlage der Aufzüge und andere Notfalleinrichtungen kontrollierte. Da seine Schicht erst um 3 Uhr Nachmittag begann, war er nicht anwesend, als die Flugzeuge eindrangen. Er befand sich auch nicht im Keller, auf Level B-1, als die ersten Notrufe aus den Aufzügen kamen und Leute aus den oberen Stockwerken anriefen und um Anweisungen baten. Er befand sich aber nur einen Häuserblock entfernt, wo er im Chubb Institute, einer Business School, einen Computerkurs besuchte. In der Überwachungszentrale hatte niemand Zeit, darüber nachzudenken, wer nicht anwesend war. Die Hilfeschreie drangen auf die Mitarbeiter ein, unaufhörlich. „Leute riefen aus den Aufzügen, aus den Stockwerken, flehten uns an, sie herauszuholen“, erinnert sich die Mitarbeiterin Roselyn Braud. Sie brach zusammen, als sie an ihre Kinder zu Hause dachte. Plötzlich ging die Tür auf. Esmerlin Salcedo trat ein. „Er flog regelrecht herunter, warf seine Tasche mit den Büchern auf den Boden und begann, das Telefon zu beantworten“, erzählte Braud. 12

Jim Dwyer/Kevin Flynn, 102 Minutes. The Untold Story of the Fight to Survive Inside the Twin Towers, New York 2005.

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Sie war zu fertig, um weiterzumachen. Salcedo bot an, sie nach oben zu begleiten. „Wir verschränkten die Arme und er führte mich hinauf“, sagte Braud. Er führte mich zum Ausgang neben der Church Street. „Er sagte zu mir ‚Lauf , lauf um dein Leben‘, und das war das Letzte, was ich von ihm sah.“ Salcedo wurde ein letztes Mal gesehen, wie er anderen Sicherheitsleuten geholfen hat, kurz bevor der Südturm in sich zusammengefallen ist. Für seinen freiwilligen Einsatz stand ihm kein Lohn zu; im Dienst betrug sein Stundenlohn 10,51 Dollar, damit unterstützte er seine Frau und vier Kinder.13 Neben Literatur, die sich mit den Erzählungen und Reaktionen von Betroffen der Tragödie von 9/11 beschäftigt, wurden mittlerweile auch in unterschiedlichen wissenschaftlichen Journalen Studien publiziert, die die Erinnerung an das Ereignis, die belastenden Emotionen rund um das Ereignis, und die psychologischen Nachwirkungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Fokus rücken. Ich werde im Folgenden einige Themen diskutieren, die von diesen Forscher/inne/n aufgriffen wurden und mir geholfen haben, die unmittelbaren und längerfristigen Nachwirkungen des Desasters auf Betroffene besser zu verstehen. Eine von den meisten Arbeiten abweichende Studie zum 11. September hat Cheryl Mattingly mit ihren Mitarbeiterinnen14 durchgeführt. Unter Berücksichtigung der Kategorie Race und Gender hat das Team die ­Reaktionen von Frauen aus der African American Community in Los Angeles untersucht, die mehrheitlich der Arbeiterschicht angehörten und über ein geringes Einkommen verfügten. Mich interessierten die Lebensgeschichten dieser Frauen, nicht nur, weil ich selbst bereits mit dieser Bevölkerungsgruppe gearbeitet habe, sondern weil die Studie vor allem auf deren kulturelle Identität fokussierte. Ein Charakteristikum von Erzählungen ist, dass diese öffentliche, kollektive Ereignisse enthüllen und interpretieren und gleichzeitig subjektive, individuelle Eindrücke verarbeitet werden können. Somit können Erzählungen mehrere Perspektiven aufweisen, in diesem Fall 13 14

Ebd., 275. Cheryl Mattingly/Mary Lawlor/Lanita Jacobs-Huey, Narrating September 11th. Race, Gender, and the Play of Cultural Identities, in: American Anthropology, 104 (3), 2002.

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jene der amerikanischen, weiblichen, schwarzen Unterschicht. Während vor 9/11 viele Amerikaner ihr Land für unbesiegbar angesehen haben, fühlten sich die amerikanischen Minderheiten schon vorher mit ‚home-grown‘Terrorismus und einer rassistisch aufgeladenen Umwelt konfrontiert. Eine Afro-Amerikanerin bringt diese unterschiedliche Situation in den folgenden Worten zum Ausdruck: „Als das ganze Ding passierte, habe ich nur gedacht, dass das die Realität von uns schwarzen Menschen ist. Jetzt ist es nur geballter aufgetreten und zu einem amerikanischen Problem geworden. Aber das ist nichts Neues für uns. Es ist nichts Neues.“15 In der Erzählung einer anderen Frau kommt eine ähnliche Einstellung zum Ausdruck: Aber das mit dem 11. September hat mich nicht wirklich geärgert. Es hatte mehr Auswirkungen auf meine Familie als auf mich. Meine Kinder haben mir Fragen gestellt wie „Warum wollte wer diese Menschen umbringen?“ Ich habe keine Erklärung dafür. Ich sagte, ihr wisst, ­„irgendetwas stimmt nicht mit ihm [Osama bin Laden]. Niemand hat ihm Liebe oder desgleichen gezeigt.“16 Es scheint, als ob der 11. September die Welt von Afro Americans, die schon viel länger Opfer von Gewalt gewesen sind, nicht allzu dramatisch ver­ ändert hat. Der 11. September löste bei diesen Erzählerinnen aufgrund einer gemeinsamen Opfergeschichte aber auf einer globalen Ebene eine Identifikation mit farbigen Menschen aus. Die Erkenntnis dieser Frauen ist, wie sie selbst festgestellt haben, dass sie zu Amerika gehören und auch wieder nicht dazugehören, aber für sich auch keinen anderen Ort finden können. Auf dem Gebiet der Psychologie entstanden viele Studien, in denen Ereig­ nis­erinnerungen („event memory“) mit autobiographischen Erinnerungen („autobiographical memory“) verglichen werden. Diese Untersuchungen wurden häufig an Collegestudent/inn/en durchgeführt, zumeist zu zwei unterschiedlichen Zeiten und häufig an verschiedenen Orten. Die Ereignis­ erinnerung wurde mit Fragen untersucht, die auf konkrete Ereignisse, die während des Anschlages passiert sind, abzielten, während die auf die 15 16

Ebd., 9. Ebd., 8.

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autobiographische Erinnerung bezogenen Fragen auf die eigenen Erfahrungen zum Zeitpunkt des Ereignisses ausgerichtet waren: Wann haben sie zum ersten Mal von den Anschlägen gehört, wo waren sie, wer hat es ihnen gesagt hat und was haben sie zu diesem Zeitpunkt getan? Es wurde angenommen, dass stressauslösende Ereignisse und die autobiographische Erfahrung getrennt verarbeitet werden und das Ergebnis somit getrennte Erinnerungen sind. An der von Kathy Pazdeks17 durchgeführten Studie an Collegestudent/inn/en in Manhattan, Kalifornien und Hawaii wurde deutlich, dass die New Yorker Untersuchungsgruppe, die direkt betroffen und am aufgewühltesten war, sich am genauesten an das Ereignis erinnern konnte, während die autobiographische Erinnerung wesentlich weniger detailliert war, als zu erwarten gewesen wäre. Aus den Antworten der Student/inn/en ging auch hervor, dass sie, und vor allem jene aus New York, den Großteil des 11. September damit verbracht haben, mit Freund/inn/en und Verwandten zu telefonieren, um über das Geschehen am Laufenden zu bleiben und sich zu versichern, dass alle unversehrt waren. Ein ähnliches Untersuchungsparadigma wurde in einer neuropsychologischen Studie verwendet, die die Ereigniserinnerung und die autobiographische Erinnerung von Patient/inn/en mit Alzheimer und anderen Erinnerungsstörungen untersucht.18 Es sollte herausgefunden werden, ob Stress und emotionelle Aufregung als Folge der Terrorangriffe von 9/11 die Erinnerungsfähigkeit verbessert haben. Derartige Studien sind somit die ultimative Herausforderung für das Statement, das George W. Bush in seiner Rede an die Nation formulierte: „Keiner von uns wird jemals diesen Tag vergessen.“19 Können alle diese Geschichten und Studien über den 11. September nun erklären, was sich in uns verändert hat? Warum ist bei mir die Erinnerung an das Trauma meiner frühen Kindheit noch immer intakt geblieben und warum kann dessen Rückkehr durch ähnliche Ereignisse ausgelöst wer17 18

19

Kathy Pazdek, Event Memory and Autobiographical Memory for the Events of September 11, 2001, in: Applied Cognitive Psychology, 17, 2003. A. Budson/J. S. Simons/A. L. Sullivan/J. S. Beier/P. R. Soloman/L. F. Scinto/K. R. Daffner/D. L. Schacter, Memory and Emotions for the September 11, 2001, Terrorist Attacks in Patients with Alzheimer’s Disease, Patients with Mild Cognitive Impairment and Healthy Older Adults, in: Neuropsychology, 18 (2), 2004. George W. Bush, 9/11 Address to the Nation: “A Great People Has Been Moved to Defend a Great Nation”. Delivered September 11th, 2001.Washington, D.C.

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Hanna K. Ulatowska

den? Warum erzählen Auschwitz-Überlebende ihre Erfahrungen auf eine bestimmten Art und Weise? Warum reden Schlaganfallpatient/inn/en über ihr Kriegstrauma, nachdem der Schlaganfall ihre Sprache beeinträchtigt hat und warum erinnern sich Demenzkranke an diese Erfahrungen, obwohl die Krankheit ihnen bereits den Großteil ihrer Erinnerungsfähigkeit genommen hat? Vielleicht sind diese Fragen auch nur teilweise zu beantworten, aber ­allein die Reflexion darüber kann sicherlich viel Verschüttetes ans Licht bringen. Wenn ich mich während meiner häufigen Reisen auf internationalen Flughäfen aufhalte, denke ich oft daran, wie stark der 11. September ­alles verändert hat. Traurig frage ich mich häufig, ob es möglich ist, unsere ­Freiheit, unsere multikulturelle Demokratie und unseren Rechtsstaat aufrechtzuerhalten und gleichzeitig auch Sicherheit zu gewährleisten.

Eugen Freund

400 Meter über dem Meer Erinnerungen an das World Trade Center Meine erste Begegnung mit den Türmen des World Trade Centers geht auf den September 1978 zurück. Es war gleichzeitig mein erster Aufenthalt in New York, mit den Schluchten, dem großen, rechteckigen Park im Herzen der Stadt, mit den ungewöhnlichen Verhaltensweisen der Menschen. Als ordnungsgewohnter Österreicher verstand ich lange nicht, wie jemand bei ROT die Strasse überqueren konnte. Sogar der österreichische Außen­ minister und seine Begleitung – vorwiegend US-affine Personen – hielten sich nicht an das DONT WALK – sie marschierten schnurstracks weiter, zumindest dann, wenn kein Auto in der Nähe war. Und wenn dann doch eines auf sie – oder uns – zukam, dann bremste der Fahrer doch tatsächlich ab, nicht wie in Österreich, wo gehupt und aufs Gas gestiegen wird. Es war aufregend, alles schien sich schneller zu bewegen, zumindest am Gehsteig, rasch hatte man die Regel herausgefunden, dass man von einem Block zum andern (also zum Beispiel von der 65. zur 66. Straße) ziemlich genau eine Minute benötigte. So konnte man sich gut ausrechnen, wie lange man etwa von der 69th Street, wo das Konsulat untergebracht war, bis zur 42nd Street brauchen würde. Bis hinunter zum World Trade Center, das war klar, würde man es zu Fuß nicht schaffen. Aber eines Abends waren wir dort, eingeladen zum Abendessen, noch dazu im Windows on the World, dem Restaurant im letzten Stock. Schon die Lobby des WTC war überwältigend: Sie glich einer Kathe­ drale, nicht zuletzt auch wegen der nach oben zugespitzten Fenster. So einen hohen Raum hatte ich noch nie gesehen und so viel Platz – nichts stand herum, alles war frei (erst später wurde mir klar, warum: täglich gingen dort zehntausende Menschen ein und aus, die meisten aus der U-Bahn kommend in die Büros über ihnen). Man musste auch nicht unbedingt ein Landkind sein, um von der Fahrt nach oben fasziniert zu sein. Es gab zwar nicht 106 Knöpfe im Lift, für jeden Stock einen, aber es waren unzählige und ich erinnere mich, die ersten in der Kabine, die wir benützten, begannen mit der Zahl 70 – wer weniger

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weit hinauf wollte, musste eben einen anderen Lift benützen. Und dann die Beschleunigung: Ich hatte das Gefühl, es würde mich leicht zusammenpressen, jedenfalls zu Beginn, dann ging es gleichmäßig und mit hoher Geschwindigkeit weiter, bis die Kabine am Ende wieder abgebremst wurde und man in eine Art Schwebezustand verfiel. Dann öffnete sich die Tür und – man sah vorerst nichts. Es war dunkel, getäfelt, eine Garderobe verstellte den Blick, auf den man sich schon eingestellt hatte. Aber dann, nach ein paar Schritten ums Eck, war es plötzlich da: ein Lichtermeer, wohin man auch blickte. Der Süden war noch am wenigsten eindrucksvoll: dort war das Meer, oder jedenfalls der Zusammenfluss von East River und Hudson River (all das wusste ich damals noch nicht so genau, erst später, als ich ein paar Jahre in der Stadt wohnte, hatte ich mich mit den Besonderheiten der Stadt vertraut gemacht), man konnte die Freiheitsstatue erkennen, Governors Island und viele Schiffe, einige von ihnen waren auf dem Weg zu oder von Staten Island. Im Osten zeigte sich ein viel spannenderes Bild: Wenn man ganz vorne am Fenster stand, konnte man drei beleuchtete Brücken sehen, die Manhattan mit Brooklyn und Queens verbinden – die Brooklyn, die Manhattan und die Williamsburg Bridge (leicht zu merken: BMW), auf allen dreien funkelten die Lichter der Fahrzeuge, die sie überquerten. Und Queens, selbst eine Millionenstadt, zog sich meilenweit gegen den Osten. Wenn man genauer schaute, konnte man sogar die Flugzeuge sehen, die vom John F. Kennedy-Flughafen starteten und landeten, kleine leuchtende Punkte, die langsam aus dem schwarzen Himmel in jenes schmale Viereck eintauchten, das von schnurgeraden Lichtern umrahmt war, der Start- und Landebahn. Im Norden zeigte sich die ganze majestätische Pracht von Manhattan: die Avenues, die wie von einem Lineal gezogen parallel, fast im Unendlichen endeten und diese eine breite Straße, die fast so etwas wie Chaos in die Ordnung brachte, mit ihrem schrägen Verlauf, keine Rücksicht nehmend auf das schachbrettartige Muster: der Broadway. Und dann die vielen monumentalen Hochhäuser. Die meisten waren einen guten Kilometer entfernt, zwischen ihnen und dem World Trade Center erstreckten sich relativ niedrige Wohn- und Bürogebäude. Das Empire State Building war nicht zu übersehen, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Farben, in denen die letzten Stockwerke um die Aussichtsplattform herum beleuchtet waren; das Chrysler Building, mit dem Art Deco ähnlichen spitzen Turm. Nicht

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­ eniger beeindruckend war das Citicorp Center, dieser quadratische, silw berne Zeigefinger, der in den Nachthimmel ragte, oben um 45 Grad geneigt, wie ein stark vergrößertes Barthaar, das von einer Rasierklinge abgeschnitten wurde. Und gegen Westen war am Horizont noch eine letzte Spur der untergegangenen Sonne zu erkennen, dazwischen wieder das Lichtermeer von Hoboken, Jersey City und ganz vorne, am Hudson River, eine riesige Uhr neben der leuchtend roten COLGATE-Lichtreklame. Ich konnte von dem Ausblick nicht genug bekommen. Zum Glück hatte ich meinen Fotoapparat bei mir und so wurde all das Geschilderte auch entsprechend festgehalten (und hilft auch dem Gedächtnis gelegentlich auf die Sprünge). Die hochrangigen Gäste wurden langsam unruhig, schließlich hatte ich mich immer wieder entfernt, um die atemberaubende Kulisse zu genießen. Aber ich war das kleinste Rädchen in der Gruppe: Neben Außenminister Willibald Pahr waren noch der damalige UNO-Botschafter und spätere Bundespräsident Thomas Klestil und seine Frau dabei, Pahrs Kabinettschef Anton Prohaska und noch ein weiteres Ehepaar, das ich nur dem Namen nach kannte: Es mag fast eine Ironie des Schicksals sein, aber an meinem einzigen Abendessen im Windows on the World nahm auch noch Professor Friedrich Hacker teil. Hacker war damals Mitte sechzig und gehörte zu den bekanntesten Aggressionsforschern in den USA. Die Brutalisierung der modernen Welt (1971) und Terror. Mythos, Realität, Analyse (1975) sind jene Standardwerke, die ihn berühmt gemacht hatten. Niemand von uns konnte ahnen, dass der Platz, auf dem wir saßen, fast auf den Tag genau 23 Jahre später, nach einem Terroranschlag, aus 400 Meter Höhe in die Tiefe krachen würde. Während meiner Tätigkeit als Presseattaché in New York, die 1979 begann, war eine meiner Aufgaben, österreichischen Politikern und deren Begleitung die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. Eines Tages kam Viktor Reimann zu Besuch, wenn ich mich richtig erinnere in Begleitung von Jörg Haider (oder umgekehrt?). Reimann war Kulturchef der Kronen Zeitung. Er war Mitbegründer des VdU, des Verbandes der Unabhängigen, einer Vorläuferorganisation der FPÖ. Landesweit bekannt wurde er aber erst durch eine 41-teilige Artikel-Serie, die die Kronen Zeitung „Die Juden in Österreich“ nannte und im Jahr 1974 publizierte. Als rechtskonservativer Autor war er in diesem Zusammenhang dem Vorwurf ausgesetzt, den Nährboden für ein Wiederaufleben des Antisemitismus zu bereiten. Um sich

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auch in New York einen entsprechenden Überblick zu verschaffen, wollten die Besucher auch die Aussichtsplattform auf dem WTC besichtigen. Und während ich mich bemühte, den Gästen die einzelnen Sehenswürdigkeiten zu erklären, fragte Viktor Reimann völlig unvermittelt: „Sagen Sie, wie hoch liegt eigentlich New York über dem Meeresspiegel?“ Zum Glück wusste ich, wie hoch wir uns gerade befanden, und konnte daher eine einigermaßen überzeugend klingende Antwort liefern. Noch ein weiterer Besuch in diesem Gebäude blieb mir in Erinnerung, ein Besuch, der, sieht man die Fotos von damals an, einen mit Gänsehaut erfüllt. Ed Fagan war ein amerikanischer Anwalt, der sich darauf spezialisiert hatte, sich Ereignisse mit besonderer medialer Strahlkraft zu eigen zu machen (das ist die Formulierung für ein persönliches und juridisches Verhalten, die nicht geklagt werden kann …). Im Jahr 2000 hatte Fagan gerade wieder einmal einen derartigen Fall aufgegriffen und der ORF war interessiert daran, mit ihm darüber zu sprechen. Und weil der Anwalt auch nach außen blenden wollte, lud er mich in den 70. Stock des World Trade Centers zum Interview ein. Während meine Kollegen die Videogeräte und die Scheinwerfer einrichteten, bemerkte ich, dass eines der Fenster leicht gekippt war und man darunter den Platz zwischen den beiden Türmen sah: So hielt ich meine Kamera durch den offenen Spalt und fotografierte die Aussicht: nicht mehr als kleine Pünktchen waren die Personen weit unten – es war, wie sich beim Attentat auf das WTC herausstellen sollte, ziemlich genau jener Bereich – und jener Ausblick – den die verzweifelten Büroangestellten hatten, die sich aus dem Gebäude stürzten, um dem Inferno zu entgehen. Was muss in ihren Köpfen dabei vorgegangen sein: hinter ihnen die Feuersbrunst, vor ihnen der Abgrund – haben sie Zeit gehabt, sich zu überlegen, was ihren Tod erträglicher machen würde: der lange Sturz nach unten oder doch im Stockwerk auszuharren und im Feuer zu verbrennen? Entscheidungen über Tod oder Tod. Nicht zu übersehen waren die beiden Türme auch beim Anflug auf New York. Wenn man vom Süden kam und auf La Guardia landete, lag die Einflugschneise entweder westlich oder östlich an den Gebäuden vorbei – in beiden Fällen war man so nahe dran, dass man die Besucher auf der Aussichtsterrasse sehen konnte. Ich war immer wieder von der Klarheit, der Einfachheit dieser Wolkenkratzer beeindruckt. Was sie für Menschen mit fotografischem Interesse auch so faszinierend machte war, dass man um sie nicht herum kam. Ich sah sie von meinem

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Blick vom World Trade Center, aufgenommen von Eugen Freund im Jahr 2000

Fenster der Wohnung im 16. Stock auf der Second Avenue, als Reflexion im UN-Plaza Hotel, wie goldene Zaunpfähle am Ende von Manhattan, wenn man sie im Abendlicht von New Jersey aus betrachtete, als markante Begrüßungspfeiler für Schiffsreisende, als beleuchtete Kulisse beim Feuerwerk für die 100- Jahr-Feier der Brooklyn Bridge, oder als beeindruckende Wolkenkratzer, deren oberste Stockwerke an manchen Wintertagen in den Wolken verschwanden – Manhattan war für mich ohne das WTC undenkbar. Einmal hatte ich sogar das Glück, gleich zwei Blitzeinschläge in die oberste riesige Antenne fotografieren zu können. Wir waren bei einem Fotoshooting in einem Atelier irgendwo in Downtown, ein bildhübsches Modell sollte dort für eine Ö3-Kampagne gefilmt werden, plötzlich zog ein schweres Gewitter auf. Durch das Fenster konnte man beide Türme sehen – als erfahrener ‚Blitzfotograf ’ war es für mich nur eine Frage der Zeit, bis der Blitz auch in die Antenne einschlagen würde. Und tatsächlich: Einer kam fast senkrecht von oben und versenkte seine Millionen Volt in die Stahlnadel, der zweite schien es sich noch ein wenig zu überlegen, machte erst einen Bogen, fühlte sich dann aber doch vom Metall so angezogen, dass er sich ebenfalls in der Spitze entlud. (Zwei Anmerkungen dazu: am Tag lassen

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sich Blitze nur dann fotografisch festhalten, wenn man in dem Moment auf den Auslöser drückt, in dem man den Blitz mit dem Auge durch den Sucher wahrnimmt – viel Zeit bleibt da nicht. Und: im Zeitalter der Digitalfotografie ist es auch notwendig darauf hinzuweisen, dass ich das Ergebnis erst Tage später nach dem Entwickeln der Negative überprüfen konnte – es hätte genauso gut auch gar nichts drauf sein können …). Die Türme waren mir – wenn dieser Ausdruck bei vorwiegend ökonomisch genutzten Gebäuden gestattet ist – quasi ans Herz gewachsen. Und ich kannte jeden Quadratmeter von ihnen. 11. September 2001, 14 Uhr 30, ORF-Zentrum Wien: Die gesamte Redaktionskonferenz trifft sich wie jeden Tag im Sitzungszimmer, um über die Themen für die Zeit im Bild (ZIB 1) um 19.30 Uhr zu beraten. Es ist ein schwacher „News“-Tag ohne herausragende Themen: Aus Bayern wird ein BSE-Fall gemeldet, Australien muss einige hundert Bootsflüchtlinge doch aufnehmen, Österreich überlegt, wie es sich für die bevorstehende Verkehrslawine aus den mittel- und osteuropäischen Ländern rüsten kann … genug also, um eine ZIB zu füllen. Mein Aufenthalt als US-Korrespondent in Washington ist gerade erst vorüber, seit Anfang September muss ich mich wieder an die Routine der ‚normalen’ Auslands-Redaktions-Tätigkeit gewöhnen. Im Konferenzzimmer stehen zwei TV-Geräte, die aber nicht immer eingeschaltet sind. Um ca. 14.50 Uhr drücke ich bei einem auf den Knopf, er ist auf CNN programmiert. Nach ein paar Sekunden, bis sich die Röhre aufwärmt, sehe ich plötzlich die Nahaufnahme eines brennenden Gebäudes: Rauch steigt auf, offenbar schon einige Minuten, denn die markanten Außenwände sind bereits schwarz eingefärbt. Ich rufe in den Raum: „Das ist das World Trade Center in New York, es brennt…“ Als die Kamera dann die Totale zeigt, ist jeder Zweifel zerstreut: Es ist die Südspitze von Manhattan und eines der markantesten Gebäude ist dort in Flammen. Ich laufe sofort in mein Zimmer, um dort in Ruhe – so glaubte ich – CNN weiter zu verfolgen. Meine Kollegin Hannelore Veit eilt ins Studio und geht knapp vor 15 Uhr auf Sendung. Ein paar Minuten später holt mich eine Sekretärin: „Du musst schnell zu Hannelore, wir machen weiter, live.“ Ohne ein Blatt Papier, ohne sonstige Unterlagen (und ohne Schminke) setze ich mich an den Moderationstisch, die Signation einer Sonder-ZIB läuft ab und wir zeigen die Bil-

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der, die CNN in die ganze Welt ausstrahlt.1 Hannelore Veit meldet sich mit einer „kurzen Sonderausgabe der ZIB“ und berichtet, „zwei Flieger sind in die Türme des World Trade Centers geflogen und haben dort riesige Löcher hineingerissen…“, „Wir erwarten in den nächsten Sekunden ein Video, auf dem man sieht, wie das zweite Flugzeug in den zweiten Turm des World Trade Centers hinein geflogen ist“, füge ich hinzu. „Hier sehen Sie am unteren Bildrand die Explosion…“. Mir kommt zugute, dass ich den Tatort, im engeren und weiteren Sinn, fast wie meine sprichwörtliche Westentasche kenne. „Das Attentat, wenn man davon ausgehen kann, dass es ein solches war, hat sich vor etwa einer Dreiviertelstunde ereignet“, informiere ich die Zuseher, die sich erst jetzt zugeschaltet haben, „es ist zu hoffen, dass zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viele Personen in dem Gebäude beschäftigt waren …“ Um ca. 15 Uhr 30 meldet sich Präsident George W. Bush zu Wort. Erst später erfahren wir, dass er in Florida ist, dort Schulkindern aus einem Märchenbuch vorliest. Andrew Card, ein enger Mitarbeiter des Präsidenten, kommt in den Raum, flüstert ihm etwas ins Ohr. Bush bleibt unbewegt. In der kurzen Rede danach spricht er davon, man werde die Terroristen jagen und zur Verantwortung ziehen. Im Laufe des Nachmittags überschlagen sich die Ereignisse, Gerüchte sind von Tatsachen kaum mehr zu trennen: Explosionen vor dem US-Außenministerium in Washington werden gemeldet, ebenso, dass das Washington Monument gesprengt worden sei; ein Hubschrauber sei direkt vor dem Pentagon explodiert, danach stellt sich heraus, ein weiteres Flugzeug ist in das amerikanische Verteidigungsministerium gerast. Das Capitol, wo Senat und Repräsentantenhaus untergebracht sind, soll das nächste Ziel eines Anschlags werden, ebenso das Weiße Haus – alle Bundesgebäude werden evakuiert. Der Sears Tower in Chicago, das höchste Bauwerk der USA, soll ebenfalls im Visier von Terroristen sein. Apropos Terroristen: Es wird heftig spekuliert, wer hinter den Anschlägen stehen könnte. Meine Überlegungen damals: „Wir sollten vorsichtig sein, was Schuldzuweisungen betrifft. Auch bei dem Anschlag auf das staatliche Bürogebäude in Oklahoma City im April 1995 wurde spekuliert, dass arabische Terroristen dafür verantwortlich seien. Danach hat sich herausgestellt, dass es ein einheimischer Rechtsradikaler war, der diesen grausamen Anschlag mit über 150 Toten ausgeführt hat …“ 1

Zur ORF-Berichterstattung am 11. September 2001 vgl. auch den Beitrag von Margit Reiter zu Österreich in diesem Band.

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Experten im Studio helfen uns aus, die Lücken zu füllen. Der oberste Feuerwehrchef von Wien wird über die Rettungsmöglichkeiten befragt, wie hoch Leitern hinauf reichen, ob die Sprinkler noch funktionieren … Alles läuft irgendwie automatisch ab: In einem Ohr steckt die Audio-Verbindung zu CNN, im anderen Ohr höre ich den Antworten zu, die Augen blicken auf den Bildschirm, der jeweils das aktuelle Geschehen wiedergibt. Zeit zum Nachdenken, zum Atemholen, zum Verarbeiten der Bilder bleibt keine – alles passiert rasend schnell, mehr als ein Vierteljahrhundert Erfahrung mit dem Medium lassen keine Emotionen zu. Im Hinterkopf ist mir während der ganzen Zeit klar, dass das ganze ‚live‘ abrollt, dass man keine Schwächen zeigen darf. Der ‚Reporter’ steht an erster Stelle, der ‚Mensch‘ hat im Hintergrund zu bleiben.

Margit Reiter

„Uneingeschränkte Solidarität“? Wahrnehmungen und Deutungen des 11. September in Deutschland „Uneingeschränkte Solidarität“ In Deutschland herrschte unmittelbar nach den Anschlägen in den USA – wie überall in Europa – Entsetzen und tiefe Betroffenheit. Die deutschen Reaktionen auf den 11. September sind im Kontext der nicht widerspruchsfreien historischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA zu sehen, wie sie in der Einleitung bereits grob skizziert worden sind. Mit den Terroranschlägen von 2001 wurde die in Deutschland oft beschworene ‚deutsch-amerikanische Freundschaft‘ auf die Probe gestellt, dies umso mehr, als seit 1998 eine rot-grüne Koalition (SPD und Grüne) regierte. Mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem ­grünen Vizekanzler Joschka Fischer waren Männer an der Macht, die pauschal den ‚68ern‘ zugerechnet wurden und deshalb tendenziell als amerikakritisch oder gar antiamerikanisch galten. Vor diesem Hintergrund erhielten die offiziellen Stellungnahmen zu den Terroranschlägen besondere Brisanz. In einer ersten Reaktion am frühen Abend des 11. September verurteilte Kanzler Schröder, mit seinem Koalitionspartner Fischer an seiner Seite, die „verabscheuungswürdigen Anschläge“ aufs Schärfste und sprach von einer „Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“.1 In einem Beileidsschreiben an US-Präsident Bush bekräftigte Schröder, dass „das deutsche Volk in dieser schweren Stunde an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika“ stünde und benutzte bereits in diesem Zusammenhang das viel zitierte und später relativierte Wort von der „uneingeschränkten Solidarität“ Deutschlands.2 Am Tag nach den Anschlägen trat der deutsche Bundestag zusammen, der Bundeskanzler nahm in einer Regierungserklärung noch einmal ­ausführlich zu den Anschlägen Stellung und es kam zu Solidaritätsbekun­ 1 2

Süddeutsche Zeitung (SZ), 12.9.2001, 6. http://zeus.zeit.de/text/archiv/2001/38/bundesregierung_beileid.xml (28.2.2006).

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dungen über alle Parteigrenzen hinweg. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck betonte, dass die Anschläge nicht nur Tausende von Amerikanern getroffen hätten, sondern die ganze Welt, und er prägte unter dem Eindruck der Schreckensbilder aus New York die viel zitierte Formel: „Heute sind wir alle Amerikaner“.3 Diese Solidaritätsbekundung hatte in Deutschland (im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien) eine zusätzliche Bedeutung, denn damit bezog man sich implizit auf den zur Legende gewordenen Ausspruch von John F. Kennedy 1963 in der geteilten Stadt Berlin: „Ich bin ein Berliner“. So wie die Amerikaner im Kalten Krieg Westdeutschland politisch und militärisch unterstützt hatten und sich dieses im Gegenzug politisch am Westen orientiert hatte4, so wollte sich nun auch das wiedervereinigte Deutschland solidarisch an die Seite der USA stellen. In den ersten Reaktionen der politischen Elite wurde die Solidarität mit den USA vor allem mit der globalen Bedrohung und mit der aus der jüngsten Geschichte resultierenden Dankbarkeit der Deutschen gegenüber den Amerikanern begründet. So verurteilte der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz die Anschläge als „Angriffe des Bösen schlechthin, (als) Menschenverachtung und Barbarei“ und verwies auf die besondere Verpflichtung zur Solidarität mit den Amerikanern: „Wir stehen in diesen schwersten Stunden an der Seite Amerikas. Wir wissen, wo unser Platz ist. Wir alle säßen heute nicht hier, im Deutschen Bundestag in Berlin, wenn nicht die Amerikaner vor 50 Jahren Solidarität mit uns Deutschen gezeigt hätten. Ich meine, dass niemand so viel Grund hat, nun Solidarität mit Amerika zu zeigen, wie wir.“5 Eine Woche nach den Anschlägen, am 19. September 2001, trat der Bundestag erneut zusammen, um über einen Entschließungsantrag über die Solidarität mit Amerika abzustimmen. Dieser schloss sowohl die politische und wirtschaftliche Hilfe als auch die Bereitstellung militärischer Mittel zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus mit ein. In seiner Regie3

4 5

Plenarprotokoll vom 12.9.2001, zitiert nach Michael Schwab-Trapp, Kampf dem Terror. Vom Anschlag auf das World Trade Center bis zum Beginn des Irakkrieges. Eine empirische Studie über die politische Kultur Deutschlands im zweiten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung, Köln 2007, 80. Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999; Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999. Zitiert nach Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 49.

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rungserklärung schwächte der Kanzler die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands allerdings bereits ab, indem er betonte: „Zu Risiken, auch im Militärischen, ist Deutschland bereit, zu Abenteuern (aber) nicht“.6 Der Antrag wurde mit überwältigender Mehrheit – mit 565 gegen 40 Stimmen (und 6 Enthaltungen) – angenommen.7 Die Appelle, dass parteipolitische Differenzen angesichts der Katastrophe zurückstehen müssten, stießen zwar anfangs auf fruchtbaren Boden, bald schon bekam der breite politische Konsens über die „uneingeschränkte Solidarität“ aber leichte Risse. Durch den Bündnisbeschluss der NATO vom 12. September stand die Frage nach einer möglichen Beteiligung der deutschen Bundeswehr am ‚Krieg gegen den Terror‘ im Raum. Diese anstehende Entscheidung sollte noch heiß diskutiert werden und die deutsche Innenpolitik und den öffentlichen Diskurs der folgenden Wochen bestimmen. Auch die deutsche Öffentlichkeit reagierte in Deutschland mit ungläubigem Entsetzen und Betroffenheit auf die Anschläge, die ihr durch die um die Welt gehenden dramatischen Fernsehbilder vermittelt wurden.8 Überall wehten die Fahnen auf Halbmast, Wahlkämpfe, Volksfeste und die an­stehende Eröffnung des neuen Jüdischen Museum in Berlin wurden abgesagt, es gab Schweigeminuten für die Opfer sowie Gedenkgottesdienste und Beileidsbekundungen der Bevölkerung vor und in der amerikanischen Botschaft in Berlin. Am Freitag, den 14. September fand in Berlin unter dem Motto „Keine Macht dem Terror – Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika“ eine öffentliche Gedenkveranstaltung vor dem Brandenburger Tor statt, an der rund 200.000 Menschen teilnahmen. Diese große Solidaritätswelle in der deutschen Bevölkerung betitelte Die Welt als „Aufstand der Anständigen“.9 In den deutschen Printmedien nahm das ‚Medienereignis 9/11‘ ebenfalls breiten Raum ein und die Anschläge beherrschten für Tage und Wochen die Berichterstattung. Die Reaktionen unterschieden sich anfangs wenig, Nuancen zeigten sich lediglich im Grad der emotionalen Betroffenheit und der 6 7 8 9

Auszüge aus der Regierungserklärung vom 19. September 2001, in: Die Zeit, Nr. 39, 20.9.2001, 6. Von den 40 Gegenstimmen entfielen eine Stimme auf die SPD und vier Stimmen auf die Grünen, die PDS stimmte abgesehen von zwei Enthaltungen geschlossen gegen den Antrag. Vgl. dazu Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 35-90. Ausführlich zur TV-Berichterstattung in Deutschland Stephan Alexander Weichert, Die Krise als Medienereignis. Über den 11. September im deutschen Fernsehen, Köln 2006. Die Welt, 15.9.2001, 5.

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(späteren) inhaltlichen Gewichtung der Berichterstattung. Der anfängliche Schock über die Anschläge schlug sich vor allem in einer sehr emotionalisierten Sprache und dem Hang zu Superlativen nieder. So war in einem ersten Leitartikel in der Welt pathetisch von einer „abgrundtief abstoßenden, einer widerwärtigen Überwältigung der Vereinigten Staaten von Amerika durch das Böse“ und von einem „Schlüsseltag des neuen amerikanischen Jahrhunderts“ die Rede.10 In der Zeit sprach Mitherausgeber Josef Joffe schockiert von einem „monströsen Verbrechen“ und einem „Zivilisationsbruch“, vergleichbar mit jenem, der sich „an den Namen Hitler, Stalin und Pol Pot festmachen“ ließe.11 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) brach angesichts der Ereignisse sogar mit ihrer Tradition, auf die Titelseite keine Bilder zu setzen und brachte in ihrer Ausgabe vom 12. September zwei Fotos von den Anschlägen. Die Schlagzeile „Krieg gegen Amerika“ war ebenso allgegenwärtig wie der Vergleich mit Pearl Harbour und die Rede vom „Kampf der Kulturen“. Über alle ideologischen Grenzen hinweg herrschte Einigkeit, dass dieses Ereignis eine unverrückbare Zäsur darstellte, die weitreichende, noch schwer absehbare Konsequenzen haben werde. Besonders emotional berichtete die konservative Tageszeitung Die Welt, die eine auch später in Kriegszeiten anhaltende unbedingte proamerikanische Blattlinie vertrat. In dem bereits erwähnten Leitartikel vom 12. September war man sich sicher, dass Amerika zurückschlagen werde, denn: Die USA „werden nicht ruhen, bis die Verantwortlichen für den Luftangriff gefasst worden sind (…), bis ihre Ehre wieder hergestellt und Genugtuung für ihre Toten geleistet worden ist. Das kann auch bedeuten, dass ein Sympathisantenstaat (…) in die Steinzeit zurückgebombt wird“.12 Diese Bejahung eines militärischen Angriffs als Antwort auf den Terror fand sich auch in vielen anderen Kommentaren der ersten Tage wieder. Als Konsequenz aus dieser „globalen Kriegserklärung“ – so hieß es – müsse die „zivilisierte Welt“ nun „eng an der Seite Amerikas“ stehen, vor allem Deutschland, das den USA so vieles zu verdanken habe. Das Fazit daraus lautete: „Amerika muss sich wehren dürfen, moralisch und militärisch. (…) Denn eines gilt in dieser Woche ganz besonders: Wir sind alle Amerikaner.“13 Diese hundertprozentige Positionierung für die USA wurde in der eben10 11 12 13

Thorsten Krauel, Die Demokratien im Krieg, in: Die Welt, 12.9.2001, 8. Die Zeit, Nr. 38, 13.9.2001, 1. Die Welt, 12.9.2001, 8. Wolfram Weimer, Wir sind Amerika, in: Die Welt, 13.9.2001, 1.

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falls zum Springer-Konzern gehörenden BILD-Zeitung auf die Spitze getrieben. Schlagzeilen wie „Großer Gott, steh uns bei! Tausende Tote in Amerika! Die Welt in Angst! Gibt es Krieg?“14 verdeutlichen die für das viel gelesene Boulevardblatt typische Emotionalisierung und Dramatisierung ihrer Berichte. Chefredakteur Kai Diekmann sprach in seinem ersten Kommentar von einer „Kriegserklärung an die Menschheit“ und dem Recht, ja der Pflicht Amerikas, sich zu wehren. In der BILD-Zeitung wurde die Solidarität mit den USA nach dem 11. September zum integralen Teil der Verlagsverfassung erklärt und für eine Woche war neben dem Zeitungslogo auf der Titelseite eine amerikanische Fahne zu sehen. Auch in den folgenden Tagen gab es eine überaus umfangreiche Berichterstattung über die Anschläge, die zwischen Mitgefühl mit den Opfern und Dämonisierung der Täter oszillierte und einen teilweise sehr oberflächlichen Proamerikanismus propagierte.15

Reaktionen in der muslimischen Community in Deutschland Schon wenige Tage nach den Anschlägen wurde bekannt, dass drei der 19 Selbstmordattentäter einige Jahre lang unauffällig als sogenannte „Schläfer“ in Deutschland gelebt und sich dort offenbar politisch radikalisiert hatten. Vor diesem Hintergrund bekamen die Reaktionen der in Deutschland lebenden Muslime besonderes Gewicht. Da es in Deutschland keine zentrale Interessensvertretung aller Muslime gibt, haben sich Sprecher der verschiedenen islamischen Gruppierungen einzeln zu Wort gemeldet. Der Tenor der ersten Reaktionen war weitgehend identisch: Der Zentralrat der Muslime und der Islamrat verurteilten die Anschläge klar und beklagten die vielen Opfer; zugleich verwahrten sie sich aber gegen eine Gleichsetzung des Islam mit dem Terrorismus der Al Kaida, von dem sie sich entschieden distanzierten. Der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime, Nadeem Elyas, betonte, dass die „Hintermänner dieser blutigen Tat (…) beim Islam keine Rechtfertigung (dafür) finden können.“16 Führende Vertreter muslimischer 14 15 16

BILD-Zeitung, 12.9.2001, 1. So wurden beispielsweise von (semi)prominenten Deutschen wie etwa Boris Becker kurze Stellungnahmen mit banal-alltäglichen Antworten abgedruckt, warum sie „jetzt alle Amerikaner“ seien; vgl. BILD-Zeitung, 13.9.2001 und 14.9.2001. Zitiert nach SZ, 14.9.2001, 12.

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Gemeinden nahmen mit jüdischen und christlichen Würdenträgern an gemeinsamen Gebeten gegen Gewalt und für die Opfer teil.17 Unverhohlene Genugtuung über die Anschläge gab es nur in marginalen, semiöffentlichen Bereichen, so etwa vereinzelt in Jugendclubs von Migrant/inn/en in Berlin, wo Jugendliche vor Freude getanzt und sogleich den Amerikanern die Schuld zu­geschoben haben sollen.18 Auch unter Anhängern der fundamentalistischen Muslim­bruderschaft und der Hisbollah in Deutschland kam es zu offenen Freudenbekundungen, wohingegen deren Führung öffentlich zur Besonnenheit mahnte.19 Die vom Verfassungsschutz beobachtete türkische Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) distanzierte sich ebenfalls von den Anschlägen und rief zum Dialog der Religionen auf, obwohl in ihrer Zeitung Milli Gazete wiederholt antiamerikanische, antijüdische und anti­ israelische Artikel erschienen.20 Trotz aller Distanzierungsbemühungen vonseiten der verschiedenen islamischen Organisationen waren sie immer wieder mit dem Vorwurf der mangelnden Selbstkritik und der Doppelzüngigkeit konfrontiert. 21 Viele Migrant/inn/en muslimischer Herkunft befürchteten nach den Anschlägen eine zunehmend aggressive Stimmung und warnten vor einer Pauschalverurteilung aller deutschen Muslime, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Einstellung zur Religion. Besonders die in Deutschland lebenden Palästinenser sahen sich angesichts der Jubelbilder aus dem ­Gazastreifen und dem Westjordanland Beschimpfungen und Drohungen und einem Rechtfertigungszwang ausgesetzt – gerade so „als seien wir die fünfte Kolonne von Saddam Hussein oder Osama bin Laden“, wie der Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde in Deutschland klagte.22 Insgesamt ist es in Deutschland nach dem 11. September – abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen – aber weder zu einer offenen Zustimmung zu den Anschlägen in der muslimischen Gemeinde noch zu größeren Übergriffen gegen Muslime gekommen. 17 18

SZ, 15.9.2001, 10. Susanna Harms, „Antisemitismus – ein Problem unter vielen“, in: „Die Juden sind schuld“. Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch-sozialisierter Milieus. Bericht der Amadeu Antonio Stiftung, Berlin 2009, 84. 19 Verfassungsschutzbericht 2001 (hg. vom Bundesministerium des Innern), Berlin 2002, 208 ff. 20 Ebd., 216. 21 Günther B. Ginzel, „Wo bleibt die Selbstkritik“, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Nr. 20, 26.9.2001, 2. 22 Zitiert nach SZ, 14.9.2001, 12.

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Anders als etwa in Frankreich und Großbritannien blieb die deutsche muslimische Minderheit im öffentlichen Diskurs über den 11. September ­weitgehend marginalisiert. Das hatte einerseits mit der Zusammensetzung der Migrationsgesellschaft zu tun, denn die überwiegende Mehrheit der rund 3,5 Millionen Muslime in Deutschland sind ehemalige türkische ‚Gastarbeiter‘, die sich selten als Meinungsträger an den öffentlichen Debatten be­teilig(t)en.23 Es hat andererseits auch mit der spezifischen deutschen Diskussionskultur zu tun, denn wie so oft sprachen auch 2001 weniger die ‚Betroffenen‘ selbst, sondern es wurde über sie gesprochen bzw. die sich zu Wort meldenden deutschen Intellektuellen sprachen/schrieben letztendlich über sich selbst. Der Schriftsteller Navid Kermani war eine der wenigen Ausnahmen, der durch seine Herkunft (er ist 1967 im Iran geboren, lebt aber seit Jahrzehnten in Deutschland) und seine Ausbildung (er ist Orientalist) zum begehrten Interviewpartner sowie Verfasser zahlreicher Artikel wurde. Bereits am 13. September erschien in der Süddeutschen Zeitung sein Kommentar mit dem bezeichnenden Titel „Vier aus einer Milliarde“, in dem er betonte, dass sowohl die Terroristen, als auch die jubelnden Palästinenser eine kleine Minderheit wären und somit vor pauschalen Schuldzuweisungen und einem kulturkämpferischen „Feindbild Islam“ zu warnen sei.24 Unterstützung bekam er vom israelischen Autor Amos Oz, der ebenfalls darauf hinwies, dass „die überwältigende Mehrheit der Araber und Moslems keine Komplizen des Verbrechens“ seien.25 Weitere Gastkommentare kamen von der indischen Schriftstellerin Arundathi Roy, dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk und einigen anderen aus dem Nahen Osten stammenden und in Deutschland lebenden Autor/inn/en.26 ‚Muslimische‘ Meinungen wurden in Form von Gastbeiträgen ‚importiert‘, wobei man oft auf dieselben Autor/inn/en zurückgriff, unabhängig davon, ob sie sich bisher als Experten für den Islam hervorgetan hatten oder nicht. Allein die Tatsache, aus dem Nahen oder Mittleren Osten zu stammen und publizistisch tätig zu 23

Lorenzo Vidino, The Muslim Brotherhood in the West, New York 2010, 147-165; Jytte Klausen, The Islamic Challenge. Politics and Religion in Western Europe, New York 2005; Nikola Tietze, Islamische Identitäten. Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2001. 24 SZ, 13.9.2001, 17. Ähnlich Navid Kermani in: SZ, 18.9.2001, 15. 25 SZ, 13.9.2001, 17. 26 Orhan Pamuk in: SZ, 28.9.2001, 15; Ahdaf Soueif in: SZ, 17.9.2001, 15.

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sein, schien Berechtigung genug zu sein, in den deutschen Feuilletons über den Terror und den Islam Auskunft zu geben bzw. danach befragt zu werden. Mittlerweile hat sich die Marginalisierung insofern verändert, als nun vermehrt auch deutsche Muslime als Meinungsträger fungieren und den öffentlichen Diskurs selbstbewusst mitbestimmen, wie etwa die SarrazinDebatte von 2010 gezeigt hat.

Die Solidarität bekommt Risse Der anfängliche Schock und die Trauer um die Opfer dauerten nicht lange an. Zu all der ehrlichen Anteilnahme und Solidarität mischten sich auch Reaktionen, die nicht immer frei waren von einer gewissen Genugtuung über die „Demütigung“ der USA, deren „Hochmut und Arroganz“ mit ein Grund für die Anschläge gewesen sei. Den Umstand, dass die amerikanische Supermacht nun verwundbar geworden sei, und zwar erstmals auf eigenem Territorium (wie man selten hinzuzufügen vergaß), nahm man teilweise mit „klammheimlicher Freude“27 zur Kenntnis. Dass die Täter darüber hinaus „nur mit Messern bewaffnet“ waren, wurde als zusätzliche „Demütigung der stolzen und zutiefst verwundeten Nation“ interpretiert.28 Hämische Bemerkungen nach dem Motto: ‚Jetzt hat es die Amerikaner selbst einmal erwischt‘ wurden zwar großteils im schützenden Mantel der Anonymität (Internetforen, Leserbriefe) oder im privaten Bereich geäußert, waren aber aufgrund ihrer Häufigkeit beileibe keine Einzelmeinung. Für die dabei typische Vermengung einer kaum verhohlenen Schadenfreude steht exemplarisch der folgende Leserbrief: „Die Opfer mögen mir verzeihen, aber beim Anblick der zerstörten Gebäude Pentagon und Twin Towers huscht mir auch ein Lächeln über das Gesicht. Bislang haben die Amerikaner immer nur Zerstörungen außerhalb ihres Landes angerichtet. Jetzt erfahren sie einmal selber, was es heißt, Opfer zu sein.“29 Solche Reaktionen zeigen, wie schwer es offenbar manchen Deutschen fiel, die USA auch einmal vorbehaltlos als Opfer gelten zu lassen.

27 So ein Vorwurf in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung, Nr. 20, 26.9.2001, 3. 28 Der Spiegel, Nr. 45, 5.11.2001, 142. 29 Leserbrief in: Die Welt, 21.9.2001, 9.

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Schon bald nach den Anschlägen wurde auch Unmut über die Trauerbekundungen für die Opfer vom 11. September laut und auf andere, wenig beachtete Opfer von weltweiten Konflikten und Katastrophen (z.B. in Afrika) verwiesen.30 Derartige Klagen über ein ‚zweierlei Maß‘ fanden sich vor allem im linken, friedensbewegten und globalisierungskritischen Milieu und wurden häufig in Leserbriefen und bei Podiumsdiskussionen vorgebracht.31 Relativierungen der Opferzahlen gab es beispielsweise in der linksalternativen TAZ, worin es heißt: „So bedauerlich der Tod von 7.000 Menschen in New York“ auch sei, „gemessen an dem, was sonst noch geschieht auf der Welt“, handle es sich „vergleichsweise um eine Lappalie“.32 Auch Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein meinte, dass der 11. September „objektiv gesehen“ zwar das „schwerste Unglück (gewesen sei), das Einzeltäter verüben könnten“, aber in Hiroshima und Nagasaki, wo die Amerikaner die Täter gewesen wären, habe es noch viel mehr Tote gegeben.33 Neben der Kritik an der übermäßigen Moralisierung des Ereignisses wurde vielfach auch ein Überdruss am vermeintlichen Solidaritätszwang artikuliert. So mokierte sich unter anderem der Humorist Wiglaf Droste in seiner TAZ-Kolumne, dass er sich nicht vorschreiben lassen wolle, was er an­gesichts der Anschläge zu empfinden habe und er sprach von „Gleichschaltung“ und „Gehirnwäsche“.34 Manche sprachen angesichts der anfänglichen Solidarisierungswelle sogar von einer Art ‚Zensur‘, als deren Opfer sie sich stilisierten. So klagte beispielsweise der bekannte Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter im Rückblick über eine „Gedankenpolizei“ in Deutschland, die Kritik an der amerikanischen Politik unterdrückt und Kritiker/innen zu Apologet/inn/en Bin Ladens gestempelt hätte.35 Zweifellos herrschte in Deutschland unmittelbar nach den Anschlägen ein breiter Konsens über die Solidarität mit den USA, von ‚Zensur‘ konnte aber keine Rede sein. Vielmehr ist auffallend, wie 30 Vgl. exemplarisch Leserbriefe in der TAZ vom 14. bis 21. September 2001; aber auch in: Die Welt, 19.9.2001 oder 21.9.2001. 31 Vgl. Podiumsdiskussion im Haus der Kulturen in Berlin am 13. September 2001. Dazu kritisch Jens Bisky, Rückzugsgefecht, in: SZ, 15.9.2001, 13; Henryk M. Broder, Kein Krieg, nirgends, Berlin 2002, 27-42. 32 Wiglaf Droste in: TAZ, 12.9.2001, zitiert nach Broder, Kein Krieg, 200. 33 Der Spiegel, Nr. 45, 5.11.2001, 142. 34 Vgl. TAZ, 13.9.2001, 23 und TAZ, 14.9.2001, 22 und 24. 35 Horst-Eberhard Richter, Zeit zum Umdenken, in: Volkhard Windfuhr/Georg Stein, Ein Tag im September, Heidelberg 2002, 54 f.

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schnell nach den Anschlägen amerikakritische Töne zu hören waren und wie schnell sich somit der Diskurs verlagert hat. Angesichts mancher Reaktionen auf die Anschläge und der bald einsetzenden Schuldzuweisungen an die USA erhärtete sich der Verdacht, dass es sich dabei um „vertraute Reflexe“ eines altbekannten Antiamerikanismus handeln könnte.36

Erklärungen – Deutungen – Schuldzuweisungen Schon bald nach den Anschlägen begann – nicht nur in Deutschland – die Suche nach Erklärungen und nach der ‚Schuld‘. Eine politische Analyse über mögliche Ursachen der Terrorangriffe war nahe liegend und wichtig und erfüllte zudem die Funktion der Rationalisierung und Bewältigung des unvorstellbaren Ereignisses. Viele dieser Erklärungsversuche waren nicht grundsätzlich falsch, aber oft zu vereinfachend und zu einseitig und wurden den komplexen Ursachen der Anschläge nicht immer gerecht. Während die eine (eher im konservativen Lager angesiedelte) Seite die Anschläge vor allem kulturell-religiös als „Kampf der Kulturen“ deutete und zu Dämonisierungen neigte, suchte die andere (eher dem linksliberalen Spektrum zuzuordnende) Seite vor allem nach politischen und sozialen Ursachen und tendierte zu Verharmlosungen des Terrors. Im Wesentlichen wurden drei Hauptschuldige ausgemacht: Zum ersten die Situation in der sogenannten Dritten Welt und die Kluft zwischen Arm und Reich, zweitens die Politik und Wesensart der USA und drittens der ungelöste Palästinakonflikt und Israel. Diese Erklärungsmuster vermengten sich häufig und gerieten fallweise zu einer schleichenden Opfer-Täter-Umkehr. Tatsächlich ließen die Schuldzuweisungen an die USA nicht lange auf sich warten. Der bekannte deutsche Moraltheologe Eugen Drewermann behauptete noch am Abend des 11. September in einer Radiosendung, dass der Terror die „Sprache der Ohnmächtigen“ sei, die zur „Ersatzsprache“ Gewalt greifen müssten, weil sonst „berechtigte Anliegen nicht gehört“ würden.37 Nach dem Motto: ‚Wer Wind sät, wird Sturm ernten‘, schob er die Verantwortung auf die USA und bediente damit ein beliebtes Argumenta36 Vgl. exemplarisch Richard Herzinger, Vertraute Reflexe. Der übliche Antiamerikanismus, http://www.zeit.de/2001/40/VertrauteReflexe (20.12.2010); Alan Posener, Das steinerne Herz, in: Die Welt, 25.9.2001, 3; Stefan Kornelius, Der verhasste Freund, in: SZ, 18.9.2001, 4. 37 Zitiert nach Broder, Kein Krieg, 15 ff.

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tionsmuster der folgenden Wochen: Schuld am Terror seien das vom Westen mitverschuldete Elend der Dritten Welt, die dort herrschende Unter­ drückung und das Gefälle zwischen Arm und Reich, Nord und Süd. Als Antwort auf den 11. September müsse man die Ursachen (Ungerechtigkeit) und nicht die Symptome (Terrorismus) bekämpfen. In gebündelter Form findet sich diese Argumentation in einer ersten Stellungnahme des Friedensforschers Ernst-Otto Czempiel, der die Anschläge als eine „Reaktion auf die Globalisierung“ interpretierte und die USA und Europa sofort zu einer konsequenten Konfliktlösung im Nahen und Mittleren Osten aufforderte. Er glaube nicht an einen „Clash of Civilizations“, sondern eher an einen „Clash zwischen den Weltherrschermächten“ (d.h. den Industriestaaten) und den von diesen Mächten Beherrschten. Das Fazit des Friedensforschers lautete: „Diese vielen Tausend Toten in Amerika sind eine einzige Anklage auch gegen die westliche Politik. Natürlich tragen die Täter Verantwortung dafür (…), aber man muss sich auch fragen: Wie sind wir überhaupt in eine Situation gekommen, in der solche Attentäter entstehen? Das (…) ist die entscheidende Frage, die der Westen an sich selbst richten muss.“38 Derartige simple Erklärungsmuster, die nicht nur in Deutschland weit verbreitet waren, blieben aber keineswegs unwidersprochen, vereinzelt auch von selbstkritischen arabischen Intellektuellen.39 Der Historiker Walter Laqueur beharrte darauf, dass „Terroristen nicht Unglückliche, sondern Fanatiker“40 wären und auch andere Kommentare wiesen die Wahrnehmung Bin Ladens als „Robin Hood der arabischen Welt“ als leicht durchschaubare Selbststilisierung zurück.41 Auch der prominente Grünpolitiker Daniel Cohn-Bendit stellte später im Zusammenhang mit dem Afghanistankrieg unmissverständlich fest: „Eine faschistoide, frauenfeindliche Ideologie wie die des Taliban-Regimes in Afghanistan ist nicht das Ergebnis des Unglücks in der Welt, einer ungerechten Weltordnung oder des tödlichen Handelns der Israelis in Palästina.“42 Ungeachtet dieser Einwände war das Verständnis für die (vermeint­ lichen) Motive der Täter in Teilen der Öffentlichkeit offenbar groß, ebenso 38 39 40 41 42

Die Welt, 13.9.2001, 6. Die Zeit, Nr. 45, 1.11.2001, 11. Die Welt, 13.9.2001, 9. Stefan Kornelius, Bin Ladens Krieg, in: SZ, 9.10.2001, 4. Zitiert nach Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 51.

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wie das Bedürfnis, einen Teil der Verantwortung – oft geradezu reflexhaft – auf ‚den Westen‘ zu schieben. So lautete der Tenor vieler Wortmeldungen, dass man die Ursachen bei sich selbst suchen müsse, was allerdings meist selbstgerecht hieß: bei den USA. So meinte die Grünpolitikerin Antje Vollmer wenige Tage nach den Anschlägen, dass die Amerikaner nun „darüber nachdenken (müssten), was ihnen zugestoßen ist und warum.“43 Und auch der Nahostexperte Udo Steinbach forderte vom Westen künftig mehr Zurückhaltung, „um nicht unablässig das Selbstwertgefühl der Muslime zu verletzen.“44 Während es manche unpassend, pietätlos oder gar antiamerikanisch fanden, sofort mit den Schuldzuweisungen an die USA zu beginnen, hielten andere wie z.B. der bekannte Politikwissenschafter Ekkehard Krippendorff, es geradezu für einen „Akt intellektueller Redlichkeit“, an die amerikanische Außenpolitik zu erinnern, denn seiner Ansicht nach waren „die Geister, die eine derart zynische Außenpolitik rief, nun zu Monstern geworden, die wir selbst genährt haben.“45 Ein weiteres beliebtes Deutungsmuster, das ebenfalls in Schuldzuweisungen münden konnte, war die Interpretation der Anschläge als Angriff auf den Kapitalismus, den viele offenbar in New York und besonders im World Trade Center verkörpert sahen. In geradezu retardierender Weise wurden beispielsweise im Spiegel (aber nicht nur dort) die eingestürzten Türme des WTC zu „Ikonen des selbstbewussten Kapitalismus, der seinen Reichtum offen zur Schau stellt“, erklärt.46 Der deutsche Schriftsteller Botho Strauss verstieg sich, befragt nach den Terroranschlägen, zu einem fragwürdigen Sprachbild, demzufolge die Türme in Manhattan als „Schwurfinger des Geldes, mit einem fürchterlichen Schlag abgehackt“ worden seien.47 Auch der deutsche Modeschöpfer Wolfgang Joop (der selbst teilweise in New York lebte) bedauerte nicht, dass es die Türme des WTC, die er als Symbole der „kapitalistischen Arroganz“ bezeichnete, nicht mehr gab. Er interpretierte die Anschläge als Protest gegen Globalisierung und Amerikanisierung und darüber hinaus als „Resultat männlichen Frusts“, denn seiner Deutung nach waren gedemütigte arabische Männer zu „Killermaschinen, zu Rächern im Namen des Propheten“ geworden, die zuerst gegen ihre eigenen Frauen vor43 44 45 46 47

Zitiert nach Die Zeit, Nr. 39, 22.9.2001, 7. Udo Steinbach, Die kühle Entente, in: SZ, 4.10.2001, 15. TAZ, 15.9.2001, 12. Ähnliche Argumentation auch in: Der Spiegel, Nr. 38, 15.9.2001, 132-134. Der Spiegel, Nr. 38, 15.9.2001, 16 ff. Der Spiegel, Nr. 41, 8.10.2001, 225.

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gingen und dann mit der „Zerstörung der phallischen Symbole des WTC (…) zur globalen Rache“ angetreten waren.48 Dass manche Erklärungsversuche nicht immer fundierten politischen Analysen entsprachen (die es natürlich auch gab), zeigt die Tatsache, dass häufig das gesamte ‚Sündenregister‘ der USA aufgelistet wurde, nicht nur die verfehlte Außenpolitik der USA, sondern angefangen von der Sklaverei über die Rassenunruhen bis hin zur Todesstrafe und dem Kyoto-Protokoll – das heißt viele durchaus kritikwürdige Punkte, die jedoch nicht direkt mit den aktuellen Ereignissen zu tun hatten. Hinter all diesen Aufzählungen stand die Logik, dass ‚die Amerikaner es gar nicht besser verdient‘ hätten – eine Logik, die der sozialdemokratische Innenminister Otto Schily als „verheerend“ und als „wirklich schlimme Entgleisung“ kritisierte.49 Der Schriftsteller Günter Grass wies diese öffentliche Schelte stellvertretend von sich und titulierte den deutschen Minister im Gegenzug als „McCarthy“.50 Das „Amerika-Bashing“ – laut Klaus Harpprecht ein „beliebter Intellektuellen-Sport“ in Europa51 – erfolgte oft mit dem Verweis auf kritische Amerikaner/innen wie z.B. Susan Sontag, Noam Chomsky, Gore Vidal oder später den in Europa gefeierten Michael Moore. Vor allem ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) von Susan Sontag, die sich zum Zeitpunkt der Anschläge in Berlin aufhielt, bekam große Aufmerksamkeit.52 Darin kritisierte Sontag die Reaktionen in den USA auf den Terroranschlag und erinnerte unter anderem an die Bombenabwürfe der Amerikaner auf den Irak, die sie als eigentliche Feigheit bewertete, wohingegen man ihrer Ansicht nach den Terroristen keine Feigheit vorwerfen könne, denn diese wären immerhin bereit selbst zu sterben. Diese implizite Glorifizierung der Täter verdeckte beinahe die Hauptzielrichtung ihrer Kritik, die sich in erster Linie gegen die patriotische und „frömmlerische“ Rhetorik der US-Regierung wandte und vor der Gefahr der Manipulation warnte: „Lasst uns gemeinsam trauern, aber lasst nicht zu, dass wir uns gemeinsam der Dummheit ergeben.“ 53 Solche Statements sind vor allem im inneramerikanischen, stark polarisierten Dis48 Interview mit Wolfgang Joop in: Profil, Nr. 42, 15.10.2001, 110-112. 49 Zitiert nach Broder, Kein Krieg, 92. 50 Ebd. 51 Klaus Harpprecht, America-Bashing, http://www.zeit.de/2001/40/Amerika-Bashing (20.12.2009). 52 Susan Sontag, Feige waren die Mörder nicht, in: FAZ, 15.9.2001, 45. 53 Ebd.

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kussionskontext zu sehen, sie erhielten aber durch die Publikation in deutschen Medien eine besondere Brisanz. Viele Deutsche sahen sich dadurch in ihrer eigenen Kritik an den USA bestätigt und nicht selten wurden die BushKritiker/innen als ‚Kronzeugen‘ instrumentalisiert: Sie konnten das offen aussprechen, was in Deutschland angeblich nicht möglich war, ohne sofort unter den Verdacht des Antiamerikanismus zu geraten, wie häufig beklagt wurde.54

„Kernproblem“ Israel-Palästina? Auch wenn kein direkter Zusammenhang zwischen den Anschlägen in den USA und dem Nahostkonflikt bestand, so wurde diese Verbindung – gerade vor dem Hintergrund der Zweiten Intifada – von vielen Seiten sofort hergestellt.55 Die Rede vom „Kernproblem Palästina“ war bald nach dem 11. September fixer Bestandteil des öffentlichen Diskurses. So erklärte beispielsweise der Leiter des Orientinstituts in Hamburg, Udo Steinbach, bei einer Podiumsdiskussion die Palästina-Frage zum „Nukleus der ganzen Geschichte“ und kam zu dem verkürzten Schluss: „Ohne Palästina kein Bin Laden, ohne Israel kein Terror.“56 Wenige Tage nach dem Anschlag stellte Gernot Rotter, Professor für Gegenwartsbezogene Orientwissenschaft, im Spiegel die Frage: „Woher kommt der Hass?“ und widmete dabei einen großen Teil seines Essays dem Palästinakonflikt, womit er die im Titel gestellte Frage schlussendlich auch selbst beantwortete.57 Dass der Nahost­ konflikt die ‚emotionale Kraftquelle‘ des Terrors sei, war allgemeiner Konsens und dieses Erklärungsmuster wurde argumentativ auch vom israelischen F ­ riedensaktivisten Uri Avnery unterstützt: Für ihn war der Terror „die Waffe der Schwachen und der Ohnmächtigen“ und er kam zu dem Schluss: „Die Terroristen sind Moskitos, der große Sumpf ist das Palästinaproblem“ und letzteres somit der „Nährboden für den Terror.“58 Dieser Befund wurde 54 55 56 57 58

Vgl. exemplarisch Rudolf Augstein, Große Knüppel, kleine Geister, in: Der Spiegel, Nr. 49, 3.12.2001, 172 f. Diese Verknüpfung wurde auch von jüdischer/israelischer Seite vorgenommen, vgl. Michael Wolffsohn in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Nr. 20, 26.9.2001, 1; Meir Shalev, Dschihad in Manhattan, in: Die Welt, 14.9.2001, 32. Zitiert nach Broder, Kein Krieg, 178. Der Spiegel, Nr. 39, 24.9.2001, 176 f; vgl. auch Gernot Rotter, Die Terrorfalle, in: TAZ, 15.9.2001, 12. Uri Avnery, Der Sumpf und die Moskitos, in: TAZ, 14.9.2001, 15.

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jedoch nicht überall geteilt. Vielmehr wurde dagegen argumentiert, dass sich der „suizidale Hass der Täter“ nicht allein mit dem erneut eskalierenden Nahostkonflikt erklären ließe, sondern die Anschläge zeigten, dass „etwas Grundsätzliches zwischen dem Westen und der nahöstlichen Welt nicht in Ordnung“ sei; abgesehen davon gäbe es im Nahen Osten viele andere lokale Krisenherde, die ebenfalls zur Radikalisierung beigetragen hätten.59 Mit der Fokussierung auf den Nahostkonflikt rückte die verfehlte amerikanische Nahostpolitik (Golfkrieg 1990/91, die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien, Sanktionen gegen den Irak, Unterstützung Israels) als einer der Hauptgründe für die Anschläge ins Zentrum. Die Kritik an der amerikanischen Außenpolitik hatte durchaus ihre Berechtigung, war aber auch nicht immer widerspruchsfrei: Während einerseits die bisherige Untätigkeit und „fatalistische Gleichgültigkeit“60 der USA im Nahen Osten beanstandet wurde, beklagten andere wiederum die zu starke Einflussnahme der Amerikaner in dieser Region. Jedenfalls, so lautete der Tenor vieler Analysen, müssten die USA ihre bisherige Nahostpolitik radikal infrage stellen und „umdenken“.61 Nun sei die „Stunde der Wahrheit“ gekommen: „Die USA können diesem Hass, auch wenn sie es wollen, nicht entkommen – also müssen sie sich ihm stellen. Das erfordert ein neues und starkes Engagement zur Konfliktlösung in Nahost.“62 Für manche Kommentator/inn/en erschienen die Anschläge sogar als „Chance“ zur Lösung des Nahostkonflikts, denn bereits öfter hätten sich nach einer Eskalation der Gewalt Verhandlungs­optionen aufgetan. In diesem Sinne argumentierte etwa Susanne Knaul in der TAZ: „Es mag zynisch klingen, aber die Terroranschläge in Amerika könnten eine Wende für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern bedeuten.“63 Mit den impliziten Schuldverschiebungen gingen immer auch Warnungen vor einer Instrumentalisierung der Anschläge durch Israel einher. So z.B. befürchtete die grüne Vizepräsidentin des Bundestages Antje Vollmer sofort, dass Israel „im Schatten eines Krieges seine Fronten bereinigen“ könnte.64 59

Wolfgang Günter Lerch, Jahrzehntelang von der Welt betrogen, in: FAZ, 13.9.2001, 1; ders., Terror und Nahost-Politik, in: FAZ, 15.9.2001, 14. 60 So z.B. Der Spiegel, Nr. 39, 24.9.2001, 152 f. 61 Vgl. Tony Judt, Schmerzhafte Lehre, in: SZ, 16.9.2001, 13. 62 Peter Münch, Früchte des Zorns, in: SZ, 13.9.2001, 4. 63 Susanne Knaul, Kein Frieden ohne Krieg, in: TAZ, 20.9.2001, 14. Ähnlich auch Navid Kermani, ­Vor der Entscheidung, in: SZ, 18.9.2001, 15. 64 Zitiert nach Die Zeit, Nr. 39, 22.9.2001, 7.

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Diese präventive Angst muss vor dem Hintergrund der damals noch andauernden Zweiten Intifada gesehen werden. Tatsächlich hatte der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon, der sich in seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber den Palästinensern bestätigt sah, von Arafat als „Bin Laden Israels“ gesprochen. Erwartungsgemäß stellte sich Israel voll hinter die USA, durfte sich aus realpolitischen Gründen aber nicht in die Anti-Terror-­ Koalition einreihen. Trotzdem galt Israel vielen als der eigentliche ‚Profiteur‘ von 9/11. So erklärte beispielsweise Der Spiegel ein Jahr nach den Anschlägen Sharon zum „größten Nutznießer der Zeitenwende“, weil er seitdem sein hartes Vorgehen gegen die Palästinenser als Teil des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus ausgeben könnte.65 Auch der israelkritische Nahostexperte Ludwig Watzal beklagte, dass es Sharon gelungen sei, „Arafat als seinen Bin Laden im amerikanischen Bewusstsein zu verankern“ und damit die „berechtigten Anliegen des palästinensischen Volkes“ und den „legitimen Widerstand gegen die militärische Besatzung“ zu diskreditieren.66 Von der impliziten Frage ‚Cui bono‘ also: Wem nützen die Anschläge? war es nicht mehr weit zu diversen Verschwörungstheorien zum 11. September, die Hochkonjunktur hatten. In der linksalternativen TAZ waren bereits kurz nach den Anschlägen „verschwörungstheoretische Anmerkungen“ von Mathias Bröckers zu lesen.67 In den folgenden Jahren sind weitere Publikationen mit Verschwörungstheorien erschienen, von denen einige überaus erfolgreich in den Bestsellerlisten vertreten waren und teilweise von bekannten Autoren stammen.68 Darin wurden angebliche ‚Ungereimtheiten‘ im Zusammenhang mit den Anschlägen ‚aufgedeckt‘ und entweder die USA selbst (sprich: die amerikanische Regierung, der CIA) und/oder ‚die Juden‘ (sprich: Israel, der Mossad) der Mittäterschaft beschuldigt.69 Diese Verschwörungstheorien, bei denen sich Antiamerikanismus und Anti­ 65 Der Spiegel, Nr. 36, 2.9.2002, 100. 66 Ludwig Watzal, Der Nahostkonflikt nach dem 11. September 2001, in: Windfuhr/Stein, Ein Tag im September, 338–349, hier 348 und 339. 67 TAZ, 13.9.2001, 23 und 14.9.2001, 24. Vgl. dazu auch Mathias Bröckers, Verschwörungen. Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9., Frankfurt/Main 2002; Mathias Bröckers/Andreas Hauß, Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9., Frankfurt/Main 2003. 68 Vgl. u.a. Andreas von Bülow, Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste, München 2003; Gerhard Wisnewski, Operation 9/11. Angriff auf den Globus, München 2003; ders. Mythos 9/11. Der Wahrheit auf der Spur. Neue Enthüllungen, München 2004. 69 Vgl. dazu die Reportage „Das kann nur der Mossad“, in: Der Spiegel, Nr. 40, 1.1.2001, 40 f.

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semitismus wie kaum sonst aufs Engste vermengten70, sind in ihrer radikalen Ausprägung nur in marginalen, extrem rechten und fallweise auch extrem linken Kreisen anzutreffen und somit gesellschaftlich nicht sehr relevant. In abgeschwächter, diffuser Form aber reicht die Vorstellung, dass bei den Anschlägen 2001 ‚nicht alles mit rechten Dingen zugegangen‘ sei, allerdings weit in den deutschen Mainstream-Diskurs hinein.71

Feindbild Bush? George W. Bush war im September 2001 noch kein Jahr im Amt, weshalb die Terroranschläge allgemein als ‚große Bewährungsprobe‘ für den neuen Präsidenten angesehen wurden. Da bereits seine Wahl im November 2000 überwiegend kritisch aufgenommen worden war, pendelte nun die Erwartungshaltung gegenüber Bush zwischen großer Skepsis und vorsichtiger Hoffnung. Seine ersten Reaktionen auf die Anschläge schienen vorerst den Skeptikern Recht zu geben. Die Zeit konstatierte, dass die Äußerungen von Bush „nichts Gutes ahnen“ ließen.72 Und in der Süddeutschen Zeitung hieß es, dass Bush „bisher keine gute Figur gemacht“ habe, man ihm aber konzedieren müsse, dass es eine schwierige Herausforderung sei und er sich eben noch bewähren müsse.73 In der TAZ war man weniger zurückhaltend und meinte zu Bushs erster Rede an die amerikanische Bevölkerung, er habe „wie immer die falschen Worte gefunden“, wobei besonders seine Wortwahl vom ‚Kreuzzug‘ auf Ablehnung stieß.74 Häufig bespöttelte man die ihm ins Gesicht geschriebene Ratlosigkeit bei Erhalt der Schreckensnachricht als Ausdruck von ‚Dummheit‘ und machte sich über Bush als „Knallcharge“ lustig, der „sich als Führer der freien Welt aufspielen (darf ) und keiner lacht“.75 Aber nicht überall war sein Image so negativ, wie es die spätere Entwicklung vermuten lässt, besonders von konservativer Seite bekam der ameri70 Vgl. Tobias Jaecker, Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September, Münster 2004. 71 So kam eine international vergleichende Studie zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2008 immerhin 23 Prozent der Deutschen der US-Regierung die Hauptverantwortung für die Anschläge zuwiesen, vgl. http://sueddeutsche.de/politik/793/309728/text/ (11.9.2008). 72 http://zeus.zeit.de/text/archiv/2001/38/200138_bush.xml (28.2.2006). 73 Wolfgang Koydl, Bushs erste Bewährung, in: SZ 14.9.2001, 4. 74 TAZ, 12.9.2001, 3; Bernd Pickert, Lapsus Bush, in: TAZ, 18.9.2001, 1. 75 Wiglaf Droste, Bin ich Ami, bin ich Laden, in: TAZ, 14.9.2001, 24.

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kanische Präsident zunächst einen Vertrauensvorschuss und später viel Lob und Zustimmung. So zeigte sich ein Kommentator in der Welt positiv überrascht von Bush, in dessen Umfeld nichts „von Leere und Substanzlosigkeit, nichts von Kraftmeierei und Muskelspiel und kopflosen Aktionismus“ zu bemerken sei; im Gegenteil, überall herrschten „Umsicht und Besonnenheit“.76 Vor allem die Bush-Rede vom 20. September 2001, bei der er den Kampf gegen den internationalen Terrorismus ankündigte, kam gut an: Es sei eine „große Rede“ gewesen, „leidenschaftlich, aber doch ernst, kämpferisch, aber besonnen“, so die wohlwollende Einschätzung.77 Unter dem bezeichnenden Titel „Cowboy in Zügeln“ bescheinigte man Bush auch in der FAZ, dass er sich nach den ersten „eher missglückten“ Auftritten ­„rhetorisch verbessert“ habe und nun „mit Raffinesse“ operiere.78 Abgesehen von diesen verteidigenden Stimmen überwog aber bereits 2001 ein tendenziell negatives Image von Bush, das sich später zu einem Feindbild verdichten sollte. Es gab in den folgenden Monaten und Jahren wohl keine Demonstration gegen die amerikanische Politik ohne schmähende Parolen gegen den US-Präsidenten („Bush go home“, „Kindermörder“ usw.) und unendlich viele Kommentare, Covers (vor allem des Spiegel) und Karikaturen mit den immergleichen negativen Zuschreibungen und Klischees, die sich oft im Assoziationsfeld des ‚Wilden Westens‘ bewegten.79 Als Abwertung gemeinte Titulierungen wie „Sheriff“, „verrückt gewordener Cowboy“ und „Rambo“ sowie Bilder von einem ‚dümmlich‘ und überfordert drein­blickenden Bush waren weit verbreitet. Nicht nur in der Süddeutschen Zeitung mokierte man sich über Bushs politische Unbedarftheit und sein „Jäger- und Fallensteller-Vokabular“80, eine Kommentatorin in der TAZ bezeichnete Bushs Rhetorik gar als „monumentale Idiotie“, nicht ohne sich aber sogleich präventiv gegen den Vorwurf des Antiamerikanismus abzu­ sichern.81 Präsident Bush hat durch seine Politik und Rhetorik sowie seinen­ Habitus zweifellos viel zu diesem negativen Image beigetragen – auf Bill 76 Jaques Schuster, Der besonnene Präsident, in: Die Welt, 14.9.2001, 8. 77 Jaques Schuster, Eine große Rede, in: Die Welt, 22.9.2001, 1; Frank Schirrmacher, Die Rede, in: FAZ, 22.9.2001, 41. 78 FAZ, 22.9.2001, 44. 79 Exemplarisch dazu: Der Spiegel, Nr. 39, 24.9.2001, 15. 80 SZ, 20.9.2001, 4. 81 Andrea Böhm, Das Land der Zwischentöne, in: TAZ, 21.9.2001, 12.

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Vor und nach dem Irakkrieg: Die Bush-Krieger. Spiegel-Covers vom 18. Februar 2002 und vom 27. Oktober 2008 ( Jean Pierre Kunkel)

Clinton oder Barack Obama wären diese Wildwest-Klischees nicht anwend­b ar (gewesen). Die Häufigkeit und Reflexhaftigkeit dieser Zuschreibungen lässt aber doch auf tief sitzende antiamerikanische Vor­ urteile schließen. Die aus einem europäischen Überlegenheitsdünkel herrührende Vorstellung, dass ‚die Amis‘ nicht nur kriegerisch und aggressiv, sondern auch kulturlos, oberflächlich und dumm seien, scheint nach wie vor im allgemeinen Bewusstsein verankert zu sein und fand in der Person von George W. Bush offenbar seine ideale Entsprechung.82 Während Bush für manche als Verkörperung eines ‚bösen Amerika‘ schlechthin galt, versuchten andere sehr wohl zwischen dem Auftreten des ‚Texaners‘ und der Politik der Regierung zu differenzieren. Dabei wurde vor allem der Gegensatz zwischen dem ‚kriegerischen‘ Bush und dem diplomatischen Außenminister Colin Powell betont, der bezeichnenderweise als „die sanfte Hand am Colt des Sheriff“83 galt. Andere Stimmen räumten verteidigend ein, dass Bush entgegen aller Behauptungen nicht dem „Klischee 82 83

Zu dieser Tradition des Antiamerikanismus vgl. u.a. Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2003; Andrei S. Markovits, Amerika, dich haßt sich‘s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004. SZ, 1.10.2001, 3.

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vom schnell schießenden Cowboy aus Texas“ entspräche und somit seine Kritiker widerlegt habe.84 Die personalisierende Fokussierung auf George W. Bush fand in Osama bin Laden, den mutmaßlichen Drahtzieher des Terroranschlages, seinen idealtypischen Gegenpol.85 Die öffentliche Wahrnehmung von bin Laden oszillierte zwischen Dämonisierung („Terrorbestie“), Mystifizierung („Messias“) und Verharmlosung („Vertreter der Dritten Welt“). Das Wissen um seine Verantwortung einerseits und sein scheinbar sanftes Auftreten andererseits führten offensichtlich zu Irritationen: „Wer ist dieser Mann mit dem ewigen rätselhaften Lächeln und der stets griffbereiten Kalaschnikow – ein Provokateur aus der Wüste und damit nicht viel mehr als eine Projektionsfläche für westliche Rachegefühle?“86 – fragte etwa Der Spiegel. Während man für den amerikanischen Präsidenten oft nur Häme und Geringschätzung übrig hatte, war so manche Annäherung an Bin Laden getragen von einer kaum verhüllten negativen Faszination, die sich vor allem an seinem hybriden äußeren Erscheinungsbild festmachte: „Blütenweiß sind die Gewänder des hochgewachsenen, selbstverliebten Heilands der Berghöhlen, weich und fließend die Gebärden seiner schönen Hände, sinnlich die Lippen, die den Hass verströmen. Prophetenhaft wirkt sein wallender Bart, sanft und melodisch klingt seine Stimme, und die Gebrechlichkeit seines Körpers gibt ihm eine eigentümliche Würde.“87 Diese Mystifizierung lief oft auf eine Verharmlosung hinaus, ebenso wie die direkten Vergleiche zwischen Bush und bin Laden, die nicht ­selten zu Gleichsetzungen wurden. So bezeichnete die indische Schriftstellerin Arundhati Roy in einem FAZ-Kommentar Osama bin Laden als „dunklen Doppelgänger“ von Bush.88 Auch wenn dieser Vergleich in der deutschen Öffentlichkeit als überzogen angesehen wurde, so hat man ihn ihr als Vertreterin der sogenannten Dritten Welt in gewisser Weise ‚verziehen‘. 84

Vgl. exemplarisch Nikolaus Blome, Worte des Präsidenten, in: Die Welt, 21.9.2001, 1; K.F., Was dahinter steckt, in: FAZ, 15.9.2001, 1; Klaus Harpprecht, America-Bashing, http://www.zeit. de/2001/40/Amerika-Bashing (20.12.2009). 85 Andrea Nachtigall, Von Cowboys, Staatsmännern und Terroristen. Männlichkeitskonstruktionen in der medialen Inszenierung des 11. September und des Krieges in Afghanistan, in: Margareth Lüneborg (Hg.), Politik auf dem Boulevard, Bielefeld 2009, 196–231. 86 Der Spiegel, Nr. 39, 24.9.2001, 15. 87 Ebd. Zur Wahrnehmung Bin Ladens vgl. Nachtigall, Von Cowboys, Staatsmännern und Terroristen, 215-220. 88 Arundhati Roy, Wut ist der Schlüssel, in: FAZ, 28.9.2001, 50.

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Wesentlich mehr Empörung rief hingegen ein ähnlicher Vergleich aus deutschem Munde hervor: Der bekannte Nachrichtenmoderator Ulrich Wickert hatte in einem kritischen Artikel Bush und Bin Laden als „Brüder im Geiste“ bezeichnet und war – den Gedanken von Roy aufgreifend – zu folgendem Schluss gekommen: „Bush ist kein Mörder und Terrorist. Aber die Denkstrukturen sind die gleichen“.89 Dieser Vergleich entfachte einen Aufschrei der Empörung gegen „Wickerts Entgleisung“ und es wurde sogar ein TV-Verbot für den Nachrichtensprecher gefordert.90 Angesichts dieser heftigen Reaktionen entschuldigte sich dieser öffentlich im Fernsehen und zog seinen Vergleich zurück. Während Wickert den in den ersten Wochen herrschenden Solidaritäts-Konsens mit seinen Äußerungen empfindlich gestört hatte, fiel Roy offenbar nicht unter diese deutsche Konsenspflicht. Wolf Biermann stellte dazu kategorisch fest: „Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy darf so etwas, Wickert nicht“.91 Ein Jahr später, im Vorfeld des Irakkrieges, kam es zu einem ähnlichen Eklat: Die sozialdemokratische Ministerin Herta Däubler-Gmelin hatte im September 2002 bei einer Wahlkampfveranstaltung Kritik an der amerikanischen Politik geäußert und unter anderem gesagt: „Bush will von seinen innenpolitischen Problemen ablenken. Das ist eine beliebte Methode. Das hat auch Hitler schon gemacht.“92 Diese als Bush-Hitler-Vergleich interpretierte Äußerung stieß trotz aller Bush-kritischen Stimmung im Land auf wenig Akzeptanz und hatte politische Folgen. Trotz aller Dementis vonseiten der Ministerin und einem Entschuldigungsschreiben von Kanzler Schröder führte diese Aussage zu einer Verstimmung in Washington und die Ministerin musste nach der Wahl auf ihr Ministeramt verzichten.

Die Präsenz der NS-Vergangenheit Die Vergangenheit war in Deutschland in den Reaktionen auf den 11. September 2001 in vielfacher Weise präsent. Wie bereits eingangs erwähnt, haben vor allem führende Vertreter der politischen Elite in ihren ersten 89 Ulrich Wickert, Einige Gedanken über Brüder im Geiste und den Umgang mit Wahrheiten, in: Max, 4.10.2001. 90 Die Welt, 5.10.2001, 1 und 4; BILD-Zeitung, 4.10.2001, 1 f und 5.10.2001, 1 f. 91 Zitiert nach BILD-Zeitung, 5.10.2001, 2. 92 Zitiert nach http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,15118,215291,00.html (2.11.2010).

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Reaktionen auf die Anschläge immer wieder auf die aus der jüngsten Vergangenheit resultierende Dankbarkeit und Verpflichtung der Deutschen gegenüber den USA verwiesen. Geradezu exemplarisch untermauerte Bundeskanzler Schröder sein Plädoyer für die Solidarität der Deutschen in der Bundestagssitzung vom 19. September: „Gerade hier in Berlin werden wir Deutschen niemals vergessen, was die Vereinigten Staaten für uns getan haben. Es waren die Amerikaner, die ganz entscheidend zum Sieg über den Nationalsozialismus beigetragen haben, und es waren unsere amerikanischen Freunde, die uns nach dem Zweiten Weltkrieg einen Neuanfang in Freiheit und Demokratie ermöglicht haben.“ Mit dem Hinweis auf die Unterstützung der Amerikaner für Westberlin und die Wiedervereinigung kam der Kanzler schließlich zum entscheidenden Schluss: „Die Form der Solidarität, von der ich gesprochen habe, ist die Lehre, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben (…) Zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts steht Deutschland auf der richtigen Seite.“93 Auch in vielen weiteren Wort­ meldungen fand sich eine ähnliche Argumentation, so meinte etwa FDPPolitiker Guido Westerwelle: „Deutschland hat den Tyrannen nicht aus eigener Kraft überwunden, sondern mithilfe der Amerikaner und ihrer Verbündeten.“ Diese Feststellung, so Westerwelle weiter, sei „weit mehr als nur eine dankbare Floskel“, sondern geradezu eine besondere historische Verpflichtung Deutschlands im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.94 Auch in konservativen Medien fehlte in kaum einem Kommentar der Verweis auf die jüngste deutsche Geschichte, um die propagierte Unterstützung der USA zu legitimieren. So hieß es beispielsweise in der Welt: „Die USA haben mit unerschütterlichem Optimismus zwei Weltkriege für andere geführt; nun ist es an der Zeit, dass andere für Amerika einstehen.“95 Ähnlich argumentierte auch der bekannte Liedermacher Wolf Biermann, der mit dem Verweis auf den Nationalsozialismus seine Auffassung untermauerte, dass in bestimmten Situationen, wie z.B. im aktuellen Kampf gegen islamistische Fundamentalisten, Gewaltlosigkeit kein probates Mittel sein könnte.96 Solche historisch abgeleiteten Argumentationen waren vor allem in der politischen und kommunikativen Elite anzutreffen, vereinzelt 93 94 95 96

Zitiert nach Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 47. Ebd., 49. Ähnlich auch Bundespräsident Johannes Rau in: SZ, 13.9.2001, 8. Torsten Kraul, Die Demokratien im Krieg, in: Die Welt, 12.9.2001, 8. Die Welt, 15.9.2001, Beilage: Die literarische Welt, 1 und 4.

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tauchten sie aber auch als Lesermeinung auf. So hieß es in einem Leserbrief im Spiegel lapidar: „Ich bin jedenfalls dankbar für die Befreiung Deutschlands vom Nazi-Regime. Die Menschen in Kabul sind wahrscheinlich auch dankbar für die Befreiung vom Taliban-Regime.“97 Die NS-Vergangenheit war nach dem 11. September auch noch in anderer­ Weise präsent: Die Schreckensbilder aus New York wurden in der deutschen Wahrnehmung oft von apokalyptischen Erinnerungsbildern an den Bombenkrieg überblendet und evozierten – wie kaum sonst wo – Gefühle des Mitleids und alte/neue Ängste vor einem drohenden (Dritten) Weltkrieg. Diese memorative Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkriegs war weit verbreitet und zeigte sich vor allem bei denjenigen, die die NS-Zeit bereits selbst miterlebt hatten. So bekannte Theodor Ebert ( Jg. 1937), Professor der Politikwissenschaft und Vertreter der deutschen Friedensbewegung, dass ihn bereits angesichts der Trauerfeier in New York ein „ungutes Gefühl“ beschlichen­habe, denn der drohende Krieg erinnerte ihn an seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und er schloss mit der Forderung an die USA, auf einen „Rachefeldzug zu verzichten“.98 Horst-Eberhard Richter ( Jg. 1923) bezog sich ebenfalls auf seine Erinnerungen an die Städtebombardements der Alliierten, die seiner Ansicht nach nur „Hitler geholfen (hätten), länger durchzuhalten“ und leitete daraus seine Ablehnung eines amerikanischen Militärangriffs ab.99 Auch den Schriftsteller Dieter Forte ( Jg. 1940) holten seine Erinnerungen als Kleinkind im Bombenkrieg ein, die sich in seiner Wahrnehmung mit den TV-Bildern von den Anschlägen 2001 überlappten, weshalb er sich stark mit den nur knapp dem Tode entronnenen Überlebenden von New York identifizierte.100 Es mussten nicht immer eigene Erinnerungen sein, die die Vergangenheit wieder lebendig werden ließen. So wurde ein Mann bei einer Gedenkfeier für die Opfer von New York vor dem Berliner Dom zitiert: „So müssen sich unsere Eltern gefühlt haben, bevor der Zweite Weltkrieg losging“.101 Auch der 1962 geborene Schriftsteller Durs Grünbein, der in der FAZ ein Tagebuch zum 11. September veröffentlichte, hatte angesichts der Bilder von New York sofort Assoziationen zum Zweiten Weltkrieg: „So hat 97 98 99 100 101

Leserbrief in: Der Spiegel, Nr. 49, 3.12.2001, 8. Zitiert nach Broder, Kein Krieg, 60 ff. Ebd., 73. Die Welt, 15.9.2001, Beilage: Die literarische Welt, 2. Der Spiegel, Nr. 38, 15.9.2001, 33.

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man sich die Vernichtung europäischer Städte im Zweiten Weltkrieg vorzustellen. Es sind Bilder wie man sie von Coventry und Dresden her kennt. (…) Die Angst der Großelterngeneration kehrt zurück und ist plötzlich schrecklich real.“102 Abgesehen von dem ähnlichen Bilderszenario des teilweise ‚in Schutt und Asche‘ liegenden Manhattan erscheinen Assoziationen mit dem Zweiten Weltkrieg aber unpassend. In der Stunde, in der die USA selbst gerade Opfer eines menschenverachtenden Terroranschlags geworden waren, wurde ein deutsches Opferkollektiv evoziert und damit den Amerikanern implizit die Täterrolle zugewiesen. Daraus sprechen sowohl tief liegende kollektive Ängste, als auch Ressentiments gegen die Amerikaner als ‚Befreier‘, die in der deutschen Gesellschaft offenbar noch immer latent vorhanden sind. Die besonders in halbprivaten Äußerungen und in Leserbriefen getätigten Verweise auf die Bombardierungen deutscher Städte im Zusammenhang mit dem 11. September erfolgten fast immer im Aufrechnungszusammenhang mit der Tendenz zur nachträglichen Schuld-Entlastung. Die Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit und die damit einhergehenden Aufrechnungen waren 2001 generationsübergreifend wirksam und sowohl im politisch rechten als auch (seltener) im linken Spektrum zu finden. Dass dabei auch kein Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland festzustellen ist, zeigte die öffentliche Debatte um drei sächsische Lehrerinnen: Diese hatten vor ihren Schulklassen offen ihre Genugtuung über die Anschläge geäußert und dies mit den alliierten Bombenangriffen auf Dresden begründet.103 Dass sie damit keineswegs allein waren, zeigen die vielen Leserbriefe, die sich mit den kritisierten Lehrerinnen solidarisierten und ebenfalls die Bombardierung Dresdens 1945 und die Anschläge von 2001 gegeneinander aufrechneten.104

Die ‚deutsche Kriegsangst‘ Noch während die Trümmer in New York rauchten, bestimmte die Angst vor einem Vergeltungsschlag der USA die öffentliche Stimmung. Warnun102 FAZ, 19.9.2001, 53. 103 Der Spiegel, Nr. 46, 12.11.2001, 52 ff; Die Welt, 22.9.2001, 8. 104 Zustimmende Leserbriefe in: Der Spiegel, Nr. 48, 26.11.2001, 11 f; Die Welt, 21.9.2001, 9.

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gen vor einem „unverhältnismäßigen“ und „unüberlegten“ Gegenschlag der USA wurden zwar überall auf der Welt artikuliert, erreichten aber in Deutschland eine besondere Intensität: Sofort wurde ein „Dritter Weltkrieg“ imaginiert und die Solidaritätsbekundungen vermengten sich mit Bitten an die US-Regierung, diese möge Vernunft walten und sich nicht von „blinder Rache“ leiten lassen. So fand sich bereits am 11. September vor der US-Botschaft, zwischen Blumen und Kerzen, ein Transparent mit der Aufschrift: „No Revenge, please. No World War 3“.105 In den ersten Wochen nach dem 11. September ging es noch nicht um das tatsächliche Handeln der USA, sondern um den ihr unterstellten potentiellen ‚Rachefeldzug‘, der projektiv aus der vermeintlichen amerikanischen „Rambomentalität“ abgeleitet wurde. Die Warnungen vor einem Krieg waren nicht immer frei von einer moralischen Überheblichkeit und entsprachen fallweise dem antiamerikanischen Zerrbild des schießwütigen Amerikaners mit alttestamentarischer Vergeltungslogik. Selbst erklärte Amerika-Freunde wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt, die eine entschlossene Reaktion der USA auf die verheerenden Anschläge durchaus befürworteten, forderten von den USA immer wieder „Besonnenheit“ ein.106 Theo Sommer, der bereits den Dritten Weltkrieg kommen sah, warnte die USA: „Die Entschlossenheit, die Schuldigen zu bestrafen, darf nicht dazu verführen, besinnungslos einen ideologiebesessenen Kampf der Kulturen auszulösen.“107 Und in der Zeitschrift Stern hieß es am 27. September, zwei Wochen vor Beginn des Afghanistankrieges, fatalistisch lapidar: „Die größte Militärmacht der Erde, gedemütigt und zugleich berauscht von sich selbst, bricht auf zu einem Feldzug ins Leere, gegen einen unsichtbaren Feind … wir können nicht aussteigen … wir sind dazu verurteilt, mitzuspielen“.108 Zweifellos entsprang die allgegenwärtige Forderung nach Besonnenheit auch der weit verbreiteten Sorge, dass Präsident Bush durch sein unüberlegtes Handeln Deutschland in einen Krieg hineinziehen könnte.109 In diesem 105 Keine Rache bitte. Reportage über Reaktionen auf die Anschläge in Berlin, http://zeus.zeit.de/ text/archiv/2001/38/flugzeug_stock.xml (28.2.2006). 106 Helmut Schmidt, Das Mammut-Verbrechen, in: Die Zeit, Nr. 38, 13.9.2001, 1. 107 Theo Sommer, Wir trauern mit, http://zeus.zeit.de/text/archiv/2001/38/200138_beitext.sommer.xml (28.2.2006). 108 Zitiert nach Broder, Kein Krieg, 140. 109 Einer Umfrage zufolge hatten 72 Prozent der Deutschen diese Angst; vgl. Der Spiegel, Nr. 39,

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Kontext fiel auch die oftmalige Warnung, dass Deutschland bzw. Europa sich nicht zum „Hilfssheriff“ der Amerikaner machen lassen dürfe.110 Auf die Ängste der Deutschen vor einem amerikanischen Gegenschlag angesprochen, wandte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zu Recht kritisch ein, dass diese „angesichts der kollektiven Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg (…) zwar verständlich“ wären, aber er wollte auch daran erinnern, „dass die Angst vor einem Krieg, vor einer möglichen Katastrophe nicht die Betroffenheit verdrängen sollte, dass die Katastrophe ja schon stattgefunden“ habe.111 Tatsächlich geriet durch die düsteren Visionen über einen möglichen amerikanischen Vergeltungsschlag der Terror selbst beinahe aus dem Blickfeld. So hieß es in unzähligen Leserbriefen, dass man zwar entsetzt über die Anschläge sei, aber die amerikanische Kriegspropaganda und der mögliche kommende Krieg wären noch schlimmer. Auch der Schriftsteller Günter Grass stimmte in diesen Chor ein, als er, nur wenige Tage nach den Anschlägen, bei einer Lesung meinte: „Schreckliches ist geschehen, doch die Wörter in den Reaktionen haben mich ebenfalls erschreckt.“112 Debatten über militärische Gewalt und Krieg und noch dazu unter möglicher Beteiligung der deutschen Bundeswehr haben in Deutschland aufgrund ihrer jüngsten Geschichte eine besondere Brisanz. Viele Deutsche tun sich – bis heute – mit militärischen Einsätzen schwer, sowohl im eigenen Land als auch anderswo. Dies ist unter anderem auf eine positive „zivile Wende“ nach 1945 zurückzuführen: Durch die Niederlagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg war das bisher vorherrschende (Selbst)Bild des heroischen, kriegerischen Deutschland nachhaltig diskreditiert, was nach 1945 zu einer vollständigen Absage an den Krieg führte. Das pazifistische Postulat ‚Nie wieder Krieg‘ hat sich im Nachkriegsdeutschland als die zentrale identitätsstiftende ‚Lehre aus der Vergangenheit‘ herauskristallisiert.113 Seit dem Vietnamkrieg und besonders stark auch im Rahmen des Golfkrieges von 1990/91 galten die USA als neues imperiales Schreckbild, von dessen kriegerischer Gewalt (die man selbst überwunden glaubte) man sich rigo22.9.2001, 13. 110 Vgl. exemplarisch Theo Sommer, Die Achse der Betonköpfe, http://zeus.de/text/archiv/2002/10/200210_transatlantik.xml (10.11.2010). 111 Interview mit Wolfgang Thierse im Deutschlandfunk, http://zeus.zeit.de/text/archiv/2001/38/200138_dlfinterview_0919.xml (28.2.2006). 112 Die Welt, 24.9.2001, 27. 113 Christian Schwaabe, Antiamerikanismus. Wandlungen eines Feindbildes, München 2003, 12.

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ros abgrenzte. In diesem Kontext sind auch die besondere ‚deutsche Kriegsangst‘ und die (vorauseilende) Anti-Kriegshaltung von 2001 zu sehen, die immer auch zur Vergewisserung der eigenen geläuterten Identität und der Abkehr von der eigenen, belasteten Vergangenheit diente. Die weit verbreiteten Befürchtungen über eine vorschnelle Racheaktion der USA haben sich vorerst nicht bewahrheitet. Deren anfängliche Zurückhaltung und deren Bemühen um eine umfassende Anti-Terror-Allianz wurden in der deutschen Öffentlichkeit erstaunt als „dramatischer Schwenk von ihrer bisherigen globalen Selbstherrlichkeit“ zur Kenntnis genommen.114 Selbst die amerikakritische TAZ befand zehn Tage nach dem Anschlag, dass es bisher „keine blindwütigen Attacken“ gegeben habe und „George W. Bush ein Lob (verdiene) – noch“, wie allerdings sofort hinzugefügt wurde. Auch wenn die Zurückhaltung der USA vor allem politisch-militärischen Notwendigkeiten geschuldet war, so gäbe der Umstand, dass sich die USRegierung bisher „sehr sehr klug“ verhalten habe, doch Anlass zur Hoffnung für eine Änderung der US-Politik.115

Die Deutschen und der ‚Krieg gegen den Terror‘ Der anfängliche Konsens über die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands mit den USA wurde zunehmend brüchig. Allerorts wurden kritische Stimmen laut, die den USA das Recht auf eine militärische Antwort zwar nicht grundsätzlich absprachen, aber vor einem amerikanischen Alleingang und einer möglichen Eskalation der Gewalt warnten. Schon bald ging es nicht nur mehr um die Frage über Notwendigkeit und Sinn eines amerikanischen Militärschlages an sich, sondern um eine mögliche deutsche Beteiligung am ‚Krieg gegen den Terror‘ und somit um eine hochpolitische Diskussion, die zum „Härtetest für Rot-Grün“116 werden sollte. Während alle Parteien in ihrer Haltung für (CDU/CSU, FDP und SPD) oder gegen (PDS) eine militärische Unterstützung weitgehend geschlossen auftraten, waren die mitregierenden, traditionell pazifistischen Grünen in dieser Frage gespalten. Letztendlich siegte aber die Koalitionsdisziplin und 114 Der Spiegel, Nr. 41, 8.10.2001, 23. 115 Bernd Pickert, George W. Bush verdient ein Lob - noch, in: TAZ, 21.9.2001, 12. 116 So eine Schlagzeile in: Der Spiegel, Nr. 39, 24.9.2001, 35.

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die grüne Partei stimmte dem Bündnisbeschluss vom 19. September mehrheitlich zu, womit sie allerdings „keinen Blankoscheck“ für einen etwaigen Bundeswehreinsatz ausgestellt sehen wollte, wie die Parteivorsitzende Claudia­Roth betonte.117 Ungeachtet dessen entbrannte innerhalb der Grünen eine heftige Debatte über eine deutsche Beteiligung am Krieg, wobei sich als bekanntester Kritiker der pragmatischen Parteispitze um Außenminister Joschka Fischer der grüne ‚Veteran‘ Christian Ströbele hervortat. Er und seine Mitstreiter plädierten für eine Fortsetzung der pazifistischen Tradition der Grünen und traten für eine „kritische Solidarität“ mit den USA ein, womit sie die Begrenzung des Einsatzes deutscher Soldaten auf humanitäre und polizeiliche Aufgaben meinten.118 Andere Grüne wiederum distanzierten sich von den „Ströbeles mit ihren stets erhobenen moralischen Zeigefingern“ und deren als politisch naiv eingeschätzten Positionen.119 Diese innerparteilichen Debatten, die an den pazifistischen Grundfesten der Partei rüttelten, wurden gewissermaßen „stellvertretend für die gesamte Gesellschaft“120 geführt, denn auch in der deutschen Öffentlichkeit und vor allem in den Kommentar- und Leserbriefseiten der Medien waren die Für und Wider eines militärischen Angriffs auf Afghanistan Gegenstand heftiger Diskussionen.

Vom Afghanistankrieg … Als am 7. Oktober 2001 der Krieg in Afghanistan begann, wurde aus den bisher theoretischen Diskussionen politische Realität – statt symbolischer Politik war nun Entscheidungspolitik gefragt.121 Die jeweiligen Positionen waren zu Beginn des Krieges bereits weitgehend festgelegt, nichtsdestotrotz setzten sich die Debatten über den ‚Krieg gegen den Terror‘ in den folgenden Wochen und Monaten in der deutschen Politik und Öffentlichkeit fort. Zwar war die Mehrheit der Bevölkerung immer noch für einen Militärschlag und hielt auch die Haltung der eigenen Regierung in dieser Frage 117 Interview mit Claudia Roth: „Wir brauchen jetzt den Dialog der Kulturen“, http://zeus.zeit. de/text/archiv/2001/38/200138_dlfinterview_0914.xml (28.2.2006). 118 Vgl. Härtetest für Rot-Grün, in: Der Spiegel, Nr. 39, 24.9.2001, 36. 119 Interview mit Henning Sussebach, zitiert nach Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 151. 120 Interview mit Fritz Kuhn, zitiert nach Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 57. 121 Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 91.

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mehrheitlich (69%) für richtig122, gleichzeitig formierte sich aber auch eine Antikriegsbewegung auf vielen Ebenen. Bereits vor und vor allem während des Afghanistankrieges kam es zu mehreren Friedensdemonstrationen in deutschen Städten, die größte davon Mitte Oktober 2001 in Berlin. Obwohl zu dieser Demonstration rund 140 Gruppierungen aus verschiedenen politischen Lagern aufgerufen hatten, nahmen nur etwa 30.000 Menschen teil, was im Vergleich zu den 200.000 Teilnehmer/inne/n der Solidaritätsdemonstration mit den USA relativ wenig war. Manche Kommentatoren sprachen deshalb schon von einem „Niedergang der Friedensbewegung“.123 Trotz erster Erfolge in Afghanistan (Sturz des Taliban-Regimes) hielt die Kritik am Afghanistankrieg an. So erschien am 15. November 2001 die Zeitschrift Stern mit dem Titel „Stoppt diesen Krieg“, worin zahlreiche Prominente (u.a. Herbert Grönemeyer, Dieter Hildebrandt, Walter Jens, Alice Schwarzer, Martin Walser) gegen den Krieg in Afghanistan und die deutsche Beteiligung daran auftraten. Der Aufruf war begleitet von drastischen Worten, wie beispielsweise vonseiten des Dramatikers Franz Xaver Kroetz, der meinte, er „schäme sich immer öfter, Deutscher zu sein. Wir sind nämlich auf dem Weg – zurück! – ins Kriegsverbrechergeschäft“.124 Der deutsche Modeschöpfer Wolfgang Joop stellte den Afghanistankrieg überhaupt als „Genozid“ dar: „Ich könnte jeden Tag über dieses schöne stolze Volk weinen, das jetzt Opfer eines solchen Genozids wird“.125 Und die ehemals ostdeutsche Schauspielerin Käthe Reichel soll auf einer Berliner Friedensdemonstration am 13. Oktober 2001 sogar von einem „demokratischen Auschwitz“ in Afghanistan gesprochen haben.126 Während es in Frankreich, gerade aus dem Bereich der Intellektuellen, auch prononcierte Befürworter eines „gerechten Krieges“ gab, blieben diese unter den deutschen Intellektuellen und Künstler/inne/n eine Ausnahme. Einer von ihnen war der Schriftsteller Peter Schneider, ein ehemaliger ‚68er‘, der 2001 einen Aufruf zur „Unterstützung der bündnistreuen Haltung der 122 The Pew Research Center for the People and the Press, Survey Report 2002, vgl. http://peop­le­press.org/report/153/americans-and-europeans-differ-widely-on-foreign-policy-issues (7.10.2010). 123 Andreas Zumach, Forderungen gegen den Krieg, in: TAZ, 1.10.2001, 1; Philip Gessler, Es fehlen die Bilder - noch, in: TAZ, 15.10.2001, 19. 124 Zitiert nach Broder, Kein Krieg, 150. 125 Profil, Nr. 42, 15.10.2001, 111. 126 Zitiert nach Broder, Kein Krieg, 74. Zu den Pro und Contras zum Afghanistankrieg vgl. auch Axel Birkenkämper, Gegen Bush oder Amerika? Zur Anfälligkeit der Deutschen für Antiamerikanismus, Bonn 2006, 104-111.

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Bundesregierung“ unterzeichnete. Zur Begründung verwies er auf die fatalen Konsequenzen eines Nichteingreifens, wie sie sich im Falle Bosnien und Ruanda gezeigt hätten.127 Seine rhetorische Frage, warum ausgerechnet die Deutschen, die 1945 selbst befreit werden mussten, derartige Skrupel hätten und starr an ihrer Losung ‚Nie wieder Krieg‘ festhielten, berührte in der Tat einen zentralen Aspekt der Diskussionen über den Afghanistan- und den Irakkrieg. Die Befürwortung des Afghanistankrieges ging meist mit einer heftigen Kritik am Pazifismus und einer Abwertung der Kriegsgegner einher. Peter Schneider brandmarkte den Antikriegs-Konsens als „bequem und selbstgerecht“ und kritisierte den „schwer zu ertragenden Tonfall einer moralischen Überlegenheit“.128 Diese Kritik richtete sich pauschal gegen die Linke und die Friedensbewegung, die vielfach als politisch naiv, weltfremd und ideologisch verblendet und oft auch als antiamerikanisch dargestellt wurden.129 Der Vorwurf des Antiamerikanismus, der in diesem Zusammenhang tatsächlich oft zu schnell und pauschal vorgebracht wurde, provozierte wiederum Abwehr und Gegenangriffe. So beklagte sich etwa der Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein: „Als antiamerikanisch wird hier zu Lande schon denunziert, wer die Frage stellt, ob die US-Militärs noch die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren, wenn sie international umstrittene Streu­ bomben auf Afghanistan regnen lassen. (…) Ist ein Anti-Amerikaner, wer das anprangert? Undankbar trotz der Care-Pakete nach dem Zweiten Weltkrieg und alles anderen Guten, was wir Deutschen den USA verdanken?“.130 Am 16. November 2001 wurde schließlich im Bundestag über die Frage der Bereitstellung von 3.900 deutschen Soldaten für den Krieg gegen Afghanistan abgestimmt, wobei Bundeskanzler Schröder diese überaus brisante politische Entscheidung mit der Vertrauensfrage verknüpfte. In seiner Regierungserklärung versuchte er noch einmal die Position der Regierung darzulegen und die Skeptiker/innen (auch innerhalb der Koalition) zu überzeugen.131 Die rot-grüne Führungsspitze war bemüht, die Befreiung 127 Peter Schneider, Moralische Geiselhaft, in: Die Zeit, Nr. 46, 8.11.2001, 42. 128 Ebd. 129 Cordt Schnibben, Stehen die Türme noch, in: Der Spiegel, Nr. 47, 19.11.2001, 223 f; vgl. auch diverse Kommentare von Henryk M. Broder in verschiedensten deutschen Medien und im Fernsehen sowie sein Anfang 2002 erschienenes Buch „Kein Krieg, nirgends“. 130 Der Spiegel, Nr. 49, 3.10.2001, 172 f. 131 Vgl. Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 93 f.

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Afghanistans vom Schreckensregime der Taliban und die humanitären Zielsetzungen des Militäreinsatzes hervorzuheben. Eine ähnliche Argumentation hatte es bereits 1999 im Rahmen des Kosovokrieges gegeben, als sich Deutschland für einen militärischen Einsatz der Amerikaner im Kosovo ausgesprochen und dies mit dem historischen Verweis ‚Nie wieder Auschwitz‘ begründet hatte. So wie der Einsatz im Kosovo als Präventivkrieg galt, um Schlimmeres zu verhindern, wurde der Afghanistankrieg nun vorrangig als Friedensmission präsentiert. Mit dieser (Um)Deutung sollten die Kriegsgegner/innen in den eigenen Reihen offenbar umworben und beruhigt werden, denn aus dieser Perspektive war die Kriegsbefürwortung kein Bruch mit der bisherigen pazifistischen Tradition der Grünen, sondern die Fortsetzung ihres Projekts einer gerechten Weltordnung.132 Die Verknüpfung der Sachfrage mit der Vertrauensfrage führte zu der paradoxen Situation, dass die Regierungsparteien SPD und Grüne trotz kritischer Bedenken in den eigenen Reihen aus Loyalität mit dem Bundeskanzler für die militärische Beteiligung Deutschland stimmten, wohin­ gegen die Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP, die eigentlich für die Entsendung der Soldaten waren, aufgrund der Vertrauensfrage gegen den Antrag und somit gegen ihre Überzeugung stimmten. Einzig die PDS blieb bei ihrer bisherigen Position, da sie den Krieg als Mittel im Kampf gegen den Terror grundsätzlich ablehnte und vor einer Militarisierung der deutschen Außenpolitik warnte. Diese verworrene Konstellation erklärt auch das knappe Abstimmungsergebnis von 336 Stimmen für und 326 gegen die Entsendung deutscher Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan.

… zum Irakkrieg Die Haltung im Herbst 2001 stand im diametralen Gegensatz zur Positionierung der deutschen Regierung zum späteren Irakkrieg, der sich bereits im Laufe des Jahres 2002 abgezeichnet hatte. Die rot-grüne Regierung stellte sich nun klar gegen einen militärischen Angriff der USA gegen den Irak, der nicht mehr als Teil eines ‚Kampfes gegen den Terror‘ anerkannt wurde. Gerhard Schröder ließ sein „bedingungsloses Nein“ zum Irakkrieg auch massiv in den 132 Gemeinsame Erklärung der bündnisgrünen Abgeordneten, Plenarprotokoll vom 16.11.2001, abgedruckt in: Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 102.

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Bundestagswahlkampf von 2002 einfließen, wobei nach wie vor umstritten ist, ob diese Positionierung tatsächlich – wie oft behauptet – ausschlaggebend für seinen knappen Wahlsieg war.133 Joschka Fischer, der ebenfalls noch ein Jahr zuvor vehementer Befürworter des Afghanistankrieges gewesen war, zeigte sich von der Notwendigkeit eines Militärschlages im Irak nicht überzeugt, wie er mit seinem leidenschaftlichen Einspruch „I‘m not convinced“ gegenüber dem amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2003 klar zum Ausdruck brachte.134 Neben vielen politisch durchaus berechtigten Argumenten gegen einen militärischen Angriff auf den Irak, erfolgte auch in diesem Zusammenhang wieder ein Rekurs auf die deutsche Vergangenheit. Bemerkenswert dabei war, dass die gleichen Argumente, die man ein Jahr zuvor für eine deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg vorgebracht hatte, nun mit derselben Verve gegen den (drohenden) Irakkrieg einsetzte: Das deutsche Nein zum Irakkrieg galt als Ausdruck der politischen Reife Deutschlands und als Beweis dafür, dass man aus seiner Geschichte die richtigen Lehren gezogen hätte.135 Die Ablehnung des Irakkrieges von offizieller Seite fand breite Unterstützung in der deutschen Bevölkerung und im öffentlich-medialen Diskurs. Die ursprüngliche Welle der Solidarität mit den USA war mittlerweile von zahlreichen Demonstrationen gegen den (drohenden) Irakkrieg und gegen die Politik der USA abgelöst worden. Viele prominente Intellektuelle (u.a. Jürgen Habermas, Oskar Negt) und prominente Künstler/innen (Christa Wolf, Günter Grass) formulierten ihren Protest gegen den Irakkrieg in einem öffentlichen Aufruf unter dem Titel „Kein Krieg in unserem Namen!“136 Wie Meinungsumfragen belegen, hatte sich mittlerweile auch die öffentliche Stimmung in ihr Gegenteil verkehrt: Während den Afghanistankrieg immerhin 61 Prozent der Befragten befürwortet haben, sprachen sich ein Jahr später 69 Prozent der Befragten klar gegen einen Krieg im Irak aus.137 Anders als beispielsweise in Großbritannien, wo es zu einer enormen 133 Detlev Claussen, Is there a new Anti-Americanism? Reflections on Germany in Times of global simultaneity, in: Tony Judt/Denis Lacorne (Hg.), With Us or Against Us. Studies in global Anti-Americanism, New York 2005, 75-92, 83. 134 Vgl. dazu Joschka Fischer, „I am not convinced“. Der Irakkrieg und die rot-grünen Jahre, München 2011. 135 Schwab-Trapp, Kampf dem Terror, 171-240. 136 Birkenkämper, Gegen Bush, 11 f. 137 The Pew Research Center for the People and the Press, Survey Reports 2002 und 2003, vgl. http://people-press.org/report/153/americans-and-europeans-differ-widely-on-foreign-poli-

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Kluft zwischen der proamerikanischen politischen Elite und der Bevölkerung kam, herrschte in Deutschland in Bezug auf den Irakkrieg ein gesamtgesellschaftlicher Konsens wie sonst kaum in einer politischen Frage.138 Deutschland hat sich 2003 an die Spitze der europäischen Ablehnungsfront gegen die USA gestellt, was zu einer merklichen Verschlechterung der deutsch-amerikanischen Beziehungen führte.139 Gleichzeitig haben sich – trotz aller rhetorischen Ablehnung eines Krieges – seit dem 11. September 2001 die außenpolitischen Realitäten in Deutschland erheblich verändert. Der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan bedeutete de facto eine Beteiligung am internationalen ‚Krieg gegen den Terror‘, auch wenn über Jahre hinweg die Illusion einer reinen Friedensmission aufrechterhalten wurde. Militärische Einsätze der deutschen Bundeswehr im Ausland sind nun – zehn Jahre nach dem 11. September – nicht mehr grundsätzlich tabu und insofern kann von einer ‚Normalisierung‘ Deutschlands im gesamteuropäischen Kontext gesprochen werden. Auch die durch die Ablehnung des Irakkrieges verursachte Verschlechterung der deutsch-amerikanischen Beziehungen war entgegen aller Unkenrufe und Warnungen nicht tief­ greifend und nicht von langer Dauer: Nach dem Regierungswechsel im November 2005 kam unter der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Annäherung an die USA und Präsident George W. Bush zustande, die bei vielen Gelegenheiten (wie z.B. den Deutschland-Besuchen des amerikanischen Präsidenten 2006 und 2007) demonstriert wurde. Besonders seit dem Wahlsieg von Barack Obama, der gerade in Deutschland euphorisch aufgenommen wurde – erinnert sei an die viel umjubelte Rede Obamas vor der Berliner Siegessäule im Juli 2008 – hat sich die viel beschworene ‚deutsch-amerikanische Freundschaft‘ wieder weitgehend gefestigt.

cy-issues und http://people-press.org/report/175/americas-image-further-erodes-europeanswant-weaker-ties (7.10.2010). 138 Karl-Heinz Harenberg/Marc Fritzler (Hg.), No War. Krieg ist nicht die Lösung, Mr. Bush, München 2003; Klaus Kocks u.a., Vom gerechten Krieg. Berichterstattung der deutschen Presse zum Irak-Krieg, Münster 2003; Uwe Srp, Antiamerikanismus in Deutschland. Theoretische und empirische Analyse basierend auf dem Irakkrieg 2003, Hamburg 2005. 139 Vgl. Beiträge in Rudolf von Thadden/Alexandre Escudier (Hg.), Amerika und Europa. Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen 2004.

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„A Special Relationship“ Der 11. September und seine Folgen in Großbritannien „Apocalypse. New York. September 11, 2001“ und „War Zone. It’s Armageddon“ titelten britische Boulevardblätter einen Tag nach den Terroranschlägen in den USA. Sogar vom „Holocaust in America“ war die Rede.1 Premierminister Tony Blair nahm mit über 2.000 Trauergästen am Gedenkgottesdienst in der St. Pauls Cathedral teil, wo der Altar mit dem Sternenbanner geschmückt war. Auch Queen Elisabeth unterbrach ihre Ferien in Balmoral für den Gottesdienst und wischte sich nach der Kampfhymne der Republik (The Battle Hymn of the Republic) eine Träne ab. Im Buckingham Palace ließ sie die Goldstream Guards bei der Wachablöse die amerikanische Nationalhymne anstimmen, eine Geste, die besonders amerikanische Touristen rührte. In der US-Botschaft trugen sich Tausende Menschen, unter ihnen auch die frühere Premierministerin Margret Thatcher und, was besonders positiv vermerkt wurde, Vertreter der britischen Muslime, ins Kondolenzbuch ein.2 Gleichzeitig wuchs die Angst vor Terroranschlägen im eigenen Land, denn viele fürchteten, dass aufgrund der engen Beziehung zwischen Großbritannien und den USA der nächste Anschlag der Finanzmetropole London gelten könnte. Nicht zuletzt trugen Schätzungen von bis zu Tausend britischen Opfern3 im World Trade Center (tatsächlich kamen 67 Briten ums Leben) zur Emotionalisierung bei. Die britische Regierung unter Tony Blair, der seit 1997 mit New Labour regierte, stellte sich von Beginn an auf die Seite der USA und hielt auch während des Irakkrieges an der „Special Relationship“ mit den USA fest. Die britische Außenpolitik war nach dem 11. September mehr als andere ­europäische Länder durch die starke Dominanz des Premierministers gekennzeichnet, weshalb viele Beobachter auch von „Blairs Krieg“ sprachen. Auch ehemalige enge Mitarbeiter warfen ihm einen Alleingang vor.4 Die 1 2 3 4

Daily Mail, 12.9.2001, 1 und 13.9.2001, 18; Mirror, 12.9.2001, 2. The Times, 15.9.2001, 1; Daily Mail, 15.9.01, 2. The Sun, 13.9.2001, 1. Vgl. dazu Peter Riddell, Hug Them Close. Blair, Clinton, Bush and the „Special Relationship“,

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spätere Beteiligung an den Kriegen in Afghanistan und vor allem im Irak, spaltete jedoch die britische Gesellschaft und löste heftige Debatten über die internationale Bedeutung und somit auch Zugehörigkeit des Inselstaates (Europa oder USA?) aus. Der 11. September wurde zum Kristallisationspunkt von gesellschaftspolitischen Debatten (Asylpolitik, Islamophobie, Multikulturalismus und nationale Identität), die in der britischen Öffentlichkeit bereits vor 9/11 ausgetragen wurden5 und nun eine neue Dimension erhalten sollten.

„Shoulder to Shoulder“: Tony Blair als amerikanischer Botschafter Tony Blair bereitete sich in Brighton gerade auf eine sehr schwierige Rede für die Jahrestagung der Trade Union vor, als er von den Anschlägen erfuhr. Noch am selben Tag erklärte er, dass Großbritannien „Schulter an Schulter mit dem amerikanischen Volk in dieser tragischen Stunde gegen den Massenterrorismus als das neue Böse“ stehen werde. Da die Anschläge nicht nur den USA, sondern der gesamten freie Welt gegolten hätten, forderte er diese zum gemeinsamen „Kampf gegen das Böse“ auf.6 Dieser Appell wurde auch von der Opposition, den konservativen Tories und den Liberaldemokraten, unterstützt.7 Blair hatte schnell erkannt, dass sich die USA im Unterschied zu Europa einer massiven Bedrohung ausgesetzt sahen. Die Boulevardpresse unterstützte Blairs Haltung mit „The tragedy of September 11 has made us all locals“, „We are all Americans now“ und „This is our battle too“.8 Ersten Umfragen zufolge stimmten 83 Prozent der Bevölkerung Blairs Politik zu, 75 Prozent unterstützten zwar grundsätzlich militärische Aktionen, allerdings nur 43 Prozent wollten einen Militäreinsatz, wenn auch zivile Opfer zu befürchten waren.9 Viele Kriegsbefürworter/innen zweifelten aber auch am

5 6 7 8 9

London 2004. Blair selbst nahm in seiner Autobiographie mehrmals zu diesen Vorwürfen Stellung. Vgl. Tony Blair, A Journey, London 2010. Ende 2000 hatte der von Bhikhu Parekh im Auftrag der Commission on the Future of MultiEthnic Britain veröffentlichte Bericht The Future of Multi-Ethnic Britain heftige Debatten ausgelöst; vgl. The Independent, 18.10.2000, 4. Guardian, 12.9.2001, 15. Vgl. dazu auch Blair, A Journey, 352. The Times, 13.9.2001, 6; 14.9.2001, 12; 21.9.2001, 1. The Sun, 14.9.2001, 13; 18.9.2001, 10; Daily Mail, 12.9.2001, 8. The Times, 15.9.2001, 10.

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Erfolg eines Krieges gegen den Terrorismus.10 Zu diesem Zeitpunkt war das Wissen um das Terrornetzwerk von Osama bin Laden noch sehr gering, in Downing Street 10, dem Sitz des britischen Premierministers, hielten manche Al Kaida für eine „amerikanische Obsession“. Ein Mitarbeiter von Blair besorgte schließlich ein Buch über die Taliban, das zur Wissensvertiefung herumgereicht wurde.11 Blairs Politik zeichnete sich nach dem 11. September durch intensivste Bemühungen um eine größtmögliche Koalition gegen den Terrorismus aus. Nach Telefonaten mit Wladimir Putin und den europäischen Regierungschefs Schröder, Chirac und Berlusconi reiste Blair – mit „dem Koran im Handgepäck“, wie er selbst hervorhob – mit Zwischenstopps in Berlin und Paris nach New York und Washington. Auf seinem Flug in die USA telefonierte er mit dem iranischen Präsidenten Mohammad Khatami, der als politisch gemäßigt galt und im sunnitischen Taliban-Regime eine Konkurrenz zum schiitischen Iran sah. Wie mit Bush abgesprochen, entsandte Blair Ende September seinen Außenminister Jack Straw nach Teheran, – ein diplomatischer Akt, der den USA nicht möglich gewesen wäre.12 Im Oktober flog Blair zu Putin nach Russland und begab sich auch auf äußerst schwierige Missionen nach Pakistan, Syrien, Saudi-Arabien, Israel und Gaza. Seit dem 11. September hatte er innerhalb von acht Wochen 54 Treffen mit führenden Politikern absolviert und 40.000 Meilen mit dem Flugzeug zurückgelegt. Damit verfestigte sich zunehmend das Bild vom britischen Premierminister als „Botschafter“ der USA. Mit dieser regen Reisediplomatie unterschied sich Blair grundsätzlich von den übrigen europäischen Regierungschefs, die eine eher abwartende Haltung eingenommen hatten. Den Höhepunkt von Blairs Reisediplomatie bildete die Einladung in den Kongress in Washington, als George W. Bush am 20. September seine richtungsweisende Rede („Either you are with us, or you are with the terrorists“) gehalten hat. In den demonstrativ an Blair gerichteten Abschlussworten sprach der amerikanische Präsident auch die besonders engen Beziehungen zwischen den beiden Staaten an: „Amerika hat keinen engeren Freund als Großbritannien; erneut haben wir in einer wichtigen Angelegenheit zusammengefunden. Danke fürs Kommen, mein Freund.“13 10 11 12 13

The Times, 18.9.2001, 19. Riddell, Hug Them Close, 145. The Times, 15.9.2001, 10 und 20.9.2001, 1. Riddell, Hug Them Close, 154.

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Nach dem 11. September wurde von unterschiedlichsten Seiten die ­„Special Relationship“ zwischen den USA und Großbritannien bemüht, die eine lange historische Tradition hat. Sie geht auf den Zweiten Weltkrieg und das Treffen zwischen Präsident Franklin D. Roosevelt und Premierminister Winston Churchill im August 1941 auf einem Kriegsschiff vor der Küste Neufundlands zurück. Vor versammelter britischer und amerikanischer Mannschaft soll damals gemeinsam die evangelische Hymne Onward Christian Soldiers angestimmt worden sein, was als eines der prägnantesten Verbrüderungsrituale des 20. Jahrhunderts gilt. Zu diesem Zeitpunkt waren die USA offiziell allerdings noch nicht in den Krieg eingetreten, wohingegen Großbritannien bereits seit der Besetzung Frankreichs 1940 allein gegen Hitlerdeutschland kämpfte.14 Der Zweite Weltkrieg wird in Großbritannien daher auch als „Britain’s finest hour“, als heroischer Kampf gegen den Aggressor Nazideutschland unter Winston Churchills großartiger Führung erinnert.15 Churchill verkörperte aber nicht nur den britischen Überlebens- und Durchhaltewillen, sondern auch eine bestimmte Strategie der britischen Außenpolitik: Da Großbritannien seine eigentliche Berufung in der Rolle einer Führungs- und Ordnungsmacht sah, sollte das sich nach 1945 in Auflösung befindliche britische Empire durch die „Special Relationship“ mit den USA weiterhin weltpolitischen Einfluss ausüben. Als einst vorbildliche Kolonialmacht könne es der unerfahrenen, neuen Weltmacht USA mit wertvollen internationalen Erfahrungen als Vorbild dienen. Die in Großbritannien verbreitete Meinung, dass „sie die Geldsäcke und wir den Grips“ besitzen, verdichtete sich nach 1945 zu der beliebten Metapher von den ­„britischen Griechen“, welche die „amerikanischen Römer“ kultiviert und in der Kunst der Weltpolitik unterwiesen hätten. Traditionell war diese Haltung eher in konservativen Medien zu finden, wurde aber in dieser ausgeprägten Form seit den 1960er-Jahren nicht mehr öffentlich ausgesprochen.16 14 15 16

Timothy Garton Ash, Freie Welten. Europa, Amerika und die Chance der Krise, MünchenWien 2004, 70. Angus Calder, Thy Myth of the Blitz, London 1991; Clive Pontin, 1940: Myth and Reality, London 1990. Lothar Kettenacker, Der Zweite Weltkrieg als Bestandteil des britischen Nationalbewusstseins, in: Holger Affenbach/Christoph Cornelißen (Hg.), Sieger und Besiegte. Materielle und ideelle Neuorientierungen nach 1945, Tübingen-Basel 1997, 75–84; Paul Gilroy, After Empire: Melancholia or Convivial Culture, London 2004.

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Nach dem 11. September wurde sowohl die Rede von der „Special Relationship“ als auch die heroische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zur moralischen Untermauerung des Afghanistan- und Irakkrieges instrumentalisiert. Wie einst Roosevelt und Churchill im Kampf gegen Hitler zusammengefunden hätten, sollten jetzt Bush und Blair „Schulter an Schulter“ gegen das „neue Böse“ kämpfen, verkörpert in den ebenso gefährlichen Feinden Al Kaida und Saddam Hussein.17 „Our forebears fought Nazism. We are fighting a similar extremism“, konstatierte die Sun.18 Blair selbst hatte bereits einen Tag vor seinem Besuch in Washington diesen britischamerikanischen Verbrüderungsmythos bemüht, als er nach dem Gedenkgottesdienst in Manhattan Bürgermeister Rudy Giuliani versicherte, dass Großbritannien dem amerikanischen Volk ebenso zur Seite stehen werde wie die USA den Briten nach dem Blitz, den massiven Angriffen der Deutschen Luftwaffe auf London 1940/41, in der „Stunde der Not“.19 Gleichzeitig machte Blair kein Geheimnis daraus, dass er die engen Beziehungen ­zwischen Großbritannien und den USA als Instrument zur eigenen Macht­ erweiterung betrachtete, wie er zuletzt auch in seinen 2010 publizierten Memoiren bekannte. Das britische Volk würde, so resümierte Blair darin, von seinem Premierminister verlangen, dass dieser auch auf dem internationalen Parkett einen Eindruck hinterlasse und selbst seine Gegner seien auf seine Performance als „big player“ stolz gewesen.20

„We will lead the World to victory“: Großbritanniens Führungswunsch Während Blair Bill Clinton bewunderte und ihm nicht nur politisch, sondern auch persönlich sehr nahe stand, schien er mit dessen konservativen Nachfolger George W. Bush nur wenig gemeinsam zu haben. Clinton selbst hatte Blair nach seinem Abgang geraten, zu seinem Nachfolger eine gute Beziehung aufzubauen.21 Der 11. September sollte dann wesentlich zur weiteren Annäherung der beiden Politiker beitragen. Tony Blairs Engagement für die 17 18 19 20 21

Daily Mail, 21.9.2001, 1 und 4 sowie 18.9.2001, 13. The Sun, 10.10.2001, 8. The Times, 22.9.2001, 4 f. Blair, A Journey, 410. Riddell, Hug Them Close, 199 ff.

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Bildung einer Koalition verhalf ihm auch zu großer Beliebtheit in den USA und festigte zudem seine Position im eigenen Land. Für die Sun wurde er (ebenso wie Bush) in dieser Woche endgültig erwachsen22 und für den linkspopulistischen Mirror entpuppte er sich vom „old phoney Tony“ zum „second Winston Churchill“.23 Selbst Blair-kritische Medien fanden bei aller Kritik auch lobende Worte für die außenpolitische Performance ihres Premierministers.24 Mit seiner Beliebtheit stieg aber auch die in ihn gesetzte Erwartung, dass Großbritannien im Kampf gegen den Terrorismus die Führung übernehmen sollte. Damit war häufig eine Abwertung des amerikanischen Präsidenten verbunden, dem trotz des engen Bündnisses mit den USA auch in Großbritannien ein ähnlich negatives Image anhaftete wie im übrigen Europa. Unmittelbar nach dem 11. September traute man Bush selbst im engsten Regierungskreis nur wenig staatsmännisches Handeln zu und vor allem auch in der britischen Öffentlichkeit war die Angst, dass der politisch unerfahrene amerikanische Präsident allzu schnell und unüberlegt zurückschlagen werde, ­ live“, weit verbreitet.25 Seine ersten öffentlichen Aussagen („Wanted Dead or A „A crusade against evil“) verfestigten wie überall das Klischee vom aus der „Hüfte agierenden Cowboy“ und gerade in Großbritannien mokierte man sich über dessen als „allzu simpel“ und „kriegerisch“ empfundene Sprache, häufig mit einem Verweis auf die glänzenden rhetorischen Fähigkeiten des eigenen Premierministers.26 Hier zeigten sich einmal mehr Überreste eines kulturellen Antiamerikanismus, der auch in Großbritannien eine lange Tradition aufweist und sowohl im linken als auch im konservativen Lager in unterschiedlichen Ausprägungen und Kontexten immer wieder an die Oberfläche trat.27 Nach dem britisch-amerikanischen Verbrüderungsakt im Kongress in Washington bestätigten bedeutende britische Medien dem amerikanischen Präsidenten zwar einen Wandel vom „stunned cowboy“ zum „world 22 23 24 25 26

The Sun, 24.9.2001, 8. Mirror, 22.9.2001, 1. Vgl. exemplarisch The Independent, 23.9.2001, 4. Vgl. exemplarisch New Statesman, 24.9.2001, 21; Guardian, 15.10.2001, 4; Mirror, 17.9.2001, 3. Vgl. exemplarisch The Times, 12.9.2001, 15; 14.9.2001, 1–3; 19.9.2001, 12; Guardian, 12.9.2001, 25; 19.9.2001, 17; Mirror, 13.9.2001, 3; 15.9.2001, 11; Daily Mail, 12.9.2001, 12. 27 Zum britischen Antiamerikanismus vgl. Robert Singh, Anti-Americanism in the United Kingdom, in: Brendon O’Connor (Hg.), Anti-Americanism. History, Causes, and Themes, vol. 3, Comparative Perspectives, Oxford 2007, 183–212; Michael Mosbacher/Digby Anderson, Recent Trends in British Anti-Americanism, in: Paul Hollander (Hg.), Understanding AntiAmericanism, Chicago 2004, 90–109.

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leader“28, dem Vergleich mit Tony Blair konnte Bush allerdings weiterhin nicht standhalten. Wie es oft hieß, habe Blair in dieser schwierigen Situation wesentlich souveräner und ohne ‚Einsager‘ gehandelt, womit ausgedrückt werden sollte, dass die Entscheidungen in Washington nicht von Bush selbst, sondern von seinen Beratern gefällt wurden.29 Mit der Angst vor einer Ausdehnung des Konflikts auf den Irak wuchs der Druck auf den „weltpolitisch erfahrenen Blair“, auf den „politisch unerfahrenen Bush“ Anspielung auf die weit verbreitete Kritik, einen m ­ äßigenden Einfluss auszuBlair habe sich zum „Pudel von Bush“ üben30 und die Zügel in die Hand degradiert. New Statesman-Cover vom 28. zu nehmen.31 Es scheint, als wollten Jänner 2001 die „britischen Griechen“ einmal mehr die „amerikanischen Römer“ kultivieren und in der Kunst der Weltpolitik unterweisen. Der offensichtlich noch immer stark vorhandene Wunsch nach einer britischen Führungsrolle kam vor allem in EU-skeptischen Medien zum Ausdruck.32 Im Vorfeld des Afghanistankrieges pries die Sun diese „neue, sehr machtvolle Rolle“ im „Krieg gegen den Terrorismus“ und in Daily Mail hieß es: „We will lead the World to victory“.33 Getragen vom Stolz über Großbritanniens neuen Machtgewinn an der Seite der USA kamen einmal mehr Ressentiments gegenüber Deutschland, Frankreich und der EU zum Tragen. 28 29 30 31 32

33

Mirror, 22.9.2001, 12. Daily Mail, 17.9.2001, 19; Guardian, 15.9.2001,19; The Independent, 20.9.2001, 3. The Times, 26.9.01, 16; 19.01.2001, 12; 10.10.2001, 22; Guardian, 11.10.2001, 23. The Times, 13.9.2001, 16; 14.9.2001, 13; Daily Mail, 19.9.2001, 12; Guardian, 11.10.2001, 23; Mirror, 13.9.2001, 8; 14.9.2001, 8; 6.10.2001, 6. Vgl. dazu Peter J. Anderson, A Flag of Convenience? Discourse and Motivations of the London-Based Eurosceptic Press, in: Robert Harmsen/Menno Spiering (Hg.), Euroscepticism: Party Politics, National Identity and European Integration, Amsterdam-New York 2004, 151– 170. Daily Mail, 14.9.2001, 12.

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Wie es oft hieß, hätten Schröder und Chirac schnell kalte Füße bekommen, wohingegen Großbritannien im Unterschied zum „zitternden Europa“ und einem zögerlichen Russland wie im Zweiten Weltkrieg seine Loyalität gegenüber den USA bedingungslos unter Beweis stellen würde.34 Voll des neuen Nationalstolzes schloss sich auch der an und für sich pro-europäische Mirror mit „We back the U.S. with or without EU“ dieser Haltung an.35 Und im April 2002 freute sich die Sun über die als international sehr einflussreich erachtete Rolle des kleinen Landes unter der Führung von Bush und Blair.36 Auch in Blairs politischer Rhetorik nach dem 11. September kam der Wunsch nach einer Führungsrolle in der Weltpolitik klar zum Ausdruck.37 Nur einige Tage vor Kriegsbeginn nutzte er den Labour-Parteitag in Brighton, um seine Kriegsziele darzulegen. Da die NATO-Beistandpflicht sowohl innerhalb der Labour Party als auch bei der Opposition kaum auf Widerstand stieß, richtete sich seine Rede primär an die USA. Die Ausführungen basierten auf seiner 1999 in Chicago vor dem Economic Club gehaltenen Rede, worin er sich zur humanitären Intervention, wenn notwendig auch mit militärischen Mitteln, bekannt hatte. Darauf aufbauend rechtfertigte Blair auch 2001 nicht nur den Militäreinsatz in Afghanistan, sondern propagierte eine völlige Neuordnung der Welt, vergleichbar etwa mit der Neugestaltung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989. In der ihm eigenen religiösen Rhetorik versprach er den Hungernden und Unterdrückten von Nordafrika bis zu den Slums in Gaza eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Wie ihm vorschwebte, sollte aus dem „Schatten des Bösen“ „dauerhaft Gutes“ entstehen. Als Orientierung für diese fundamentale Umgestaltung dienten die USA, die aufgrund ihrer vorbildlichen Verfassung allen Bürgern dieselben Rechte und sozialen Aufstiegschancen garantieren und nach wie vor Demokratie und Freiheit symbolisieren würden.38 Den Palästinensern stellte Blair explizit einen eigenen Staat in Aussicht, vor allem auch deshalb, da er im Unterschied zur amerikanischen Regierung die Lösung des Nahostkonflikts im Kampf gegen den Terrorismus als zentral betrachtete. 34 35 36 37 38

Vgl. exemplarisch The Sun, 20.9.01; 1.10.2001, 8; 22.5.2002, 8; Daily Mail, 14.9.2001; 12.20.9.2001, 1–4. Mirror, 22.9.2001, 1. The Sun, 6.4.2002, 8. Anne Deighton, The Past in the Present: British Imperial Memories and the European Question, in: Jan-Werner Müller (Hg.), Memory and Power in Post-War Europe, Cambridge 2002, 116-120. Vgl. exemplarisch Mirror, 3.10.2001, 2; The Sun, 3.10.2001, 4 f.

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Abgesehen von einigen kritischen Kommentaren war die britische Presse voll des Lobes über die Rede ihres Premierministers.39 In der Times sprach Alice Miles in Anspielung auf Churchill von „Blair’s finest hour“40 und selbst im linken Independent schrieb der bekannte Journalist David Aaronovitch von der „lebendigsten und international orientiertesten Rede“, die ein britischer Politiker seit Churchill gehalten habe.41 Unmittelbar vor Kriegsbeginn stimmten in Großbritannien nach wie vor 82 Prozent einer direkten Intervention in Afghanistan zu, wobei die größte Zustimmung junge Männer und Labour-Anhänger aufwiesen und Frauen sich grundsätzlich skeptischer zeigten.42 Das links-liberale Lager, von dem am ehesten Proteste zu erwarten waren, war wie bereits bei den Debatten zum Krieg im Kosovo (1999) und dem Bürgerkrieg in Sierra Leone (2000) gespalten.43 Als am 7. Oktober der Krieg in Afghanistan begann, hielt die Sun fest: „Die Nation sollte heute auf sich stolz sein. Sehr stolz. Wieder einmal steht Großbritannien auf der Seite unseres teuersten Freundes. Den Vereinigten Staaten von Amerika. (…).“44

„America, you had it coming“: Schuldzuschreibungen Als am 14. September wie in zahlreichen anderen europäischen Städten auch in London Tausende Menschen in Schweigeminuten der Opfer in den USA gedachten, warnte der Journalist Simon Jenkins in der Times, dass Amerika derzeit zwar von seiner besten Seite gesehen werde, diese Sympathie allerdings schnell wieder verloren gehen könne. Bereits einen Tag zuvor hatte die sehr populäre BBC-Talkshow Question Times eine erste Debatte über den britischen Antiamerikanismus ausgelöst. Rund 5,6 Millionen Zuseher/innen verfolgten wie ein ausgewähltes Publikum, darunter viele junge Muslime, mit einigen Gästen diskutierte. Dabei wurde den USA selbst die Schuld für die Anschläge zugeschrieben und die zutiefst angeschlagene Weltmacht mit einem langen Schuldenregister konfrontiert. Viele waren über die respektlose Behandlung entsetzt, die Philip Lader, dem pensionierten ameri39 40 41 42 43 44

Daily Mail, 3.10.01, 1; Mirror, 4.10.01, 6; 3.10.2001, 8. The Times, 10.10.2001, 22. The Independent, 3.10.2001, 1. Vgl. The Times, 28.9.2001, 12; The Independent, 24.9.2001, 6. The Times, 21.9.2001, 12; The Independent, 19.10.2001, 3. The Sun, 8.10.2001, 8.

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kanischen Botschafter in London, in der Sendung als geladener Teilnehmer zukam.45 Für Daily Mail war Großbritannien über Nacht antiamerikanisch geworden und die Sun schrieb von einem der dunkelsten Momente von BBC.46 Bei der Fernsehanstalt gingen innerhalb kürzester Zeit Tausende Beschwerdemails ein und BBC-Direktor Greg Dyke musste sich für die Sendung entschuldigen. Doch nicht alle Zuseher/innen konnten in der vorgebrachten Kritik an den USA einen Antiamerikanismus erkennen und fanden die Entschuldigung des Direktors überflüssig und peinlich.47 Die Journalistin Yasmin Alibhai-Brown, die an der Diskussion teilgenommen hatte, verteidigte Question Times im linken Independent damit, dass die USA immer wieder „blutige Tyrannen“ unterstützt hätten und sich somit kritische Fragen gefallen lassen müssten. Zur Lösung des Terrorismusproblems gab sie der Weltmacht den Rat, in sich zu gehen und über die eigenen Verfehlungen nachzudenken.48 Auch in Großbritannien fiel vielen Linken und Liberalen Empathie mit den USA (wie übrigens auch mit Israel) oft schwer, auch wenn diese wie nach dem 11. September eindeutig als Opfer zu gelten hatten. „A bully with a bloody nose is still a bully“, konstatierte dazu die Schriftstellerin und Journalistin Charlotte Raven im Guardian.49 Wie nach einer derartigen Katastrophe zu erwarten war, begann unmittelbar nach 9/11 auch in den britischen Medien die Suche nach den Ursachen und Schuldigen. Viele Erklärungsversuche deckten sich im Wesentlichen mit jenen in Deutschland und Frankreich: Die Kluft zwischen Arm und Reich in der sogenannten Dritten Welt, die auf den eigenen Machterhalt ausgerichtete Außenpolitik der USA, insbesondere die unkritische Parteinahme für Israel sowie „Amerika an sich“ wurden für die Anschläge mitverantwortlich gemacht.50 In Großbritannien sahen viele auch in den von der UNO mitgetragenen Boykott des Irak als Folge des ersten Golfkrieges eine Ursache für die Anschläge. Damit verbunden war ein gewisses Verständnis für die Attentäter, denen, wie es oft hieß, angesichts ihrer aus45 46 47 48

Philip Lader war von 1997 bis März 2001 unter Clinton US-Botschafter in London. The Sun, 15.9.2001, 10. Vgl. New Statesman, 24.9.2001, 20 f. Yasmin Alibhai-Brown , We share our grief. You must share our concerns, in: The Independent, 15.9.2001, 5. 49 Charlotte Raven, A bully with a bloody nose is still a bully, in: Guardian, 18.9.2001, (Online­ ausgabe: www.guardian.co.uk) (5.3.2003). 50 Vgl. exemplarisch The Independent, 15.9.2001, 4; 16.9.2001, 31; New Statesman, 17.9.2001, 2; 24.9.2001, 9 ff.

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sichtslosen Lage keine Alternative bleiben würde. Diese vor allem in linken und liberalen Medien verbreiteten Deutungsmuster blieben allerdings nicht unwidersprochen. Vor allem der Guardian, mit einer Auflage von über 350.000 Exemplaren Leitmedium links-liberaler Debatten, musste sich bald dem Vorwurf des Antiamerikanismus stellen. Während Großbritannien trauere, hätten nicht nur Palästinenser getanzt, sondern auch der Guardian radikalen Linken eine Stimme verliehen, denen angesichts der Katastrophe nichts anderes eingefallen sei, als „You had it coming“, kritisierte beispielsweise der konservative Politiker und Journalist Michael Gove in der Times.51 Die offizielle Blattlinie des Guardian muss zwar als wesentlich differenzierter betrachtet werden als Goves Vorwurf suggeriert, tatsächlich gab es aber in sehr vielen Gastkommentaren, Beiträgen und Leserbriefen52 mehr oder weniger deutliche Schuldzuschreibungen gegenüber den USA.53 Am 13. September, also nur zwei Tage nach den Anschlägen, warf etwa der bekannte linke Journalist Seuma Milnes den „übermächtigen Amerikanern“ vor, in ihrer „schamlosen Arroganz“ gefangen zu sein und nicht erkennen zu können, dass die Welt sie aufgrund der ungerechten Politik ihrer Regierung hasse: „Americans simply don’t get it.“54 In der ersten Ausgabe nach den Anschlägen veröffentlichte der Guardian mehrere Gastkommentare­ von bekannten Intellektuellen und Politikern, die auch die USA selbst für die Katastrophe verantwortlich machten. Zu einem Zeitpunkt, als die Täter noch keineswegs feststanden, konstatierte die bekannte Soziologin und Globalisierungs- und Städteforscherin Saskia Sassen sehr schnell, dass die Täter als Sprachrohr einer durch die Globalisierung verarmten und vom Westen ignorierten und unterdrückten Bevölkerung fungieren würden.55 Umstritten waren vor allem die Gastkommentare von Faisal Bodi (freiberuflicher Journalist für Muslim Weekly, den Guardian und seit 2003 Mitarbeiter von Al Jazeera) und George Galloway. Galloway, damals noch Abgeordne51

Willing guardian of the designer terrorist, in: The Times, 15.9.2001,18; vgl. auch Guardian, 18.9.2001, 19. 52 So wurden beispielsweise am 13. September 2001, zwei Tage nach den Anschlägen, nur USkritische Leserbriefe veröffentlicht. 53 Vgl. exemplarisch die Gastkommentare und Kommentare im Guardian von Norton-Taylor und Rana Kabbani vom 13.9.2001, 23, Ahdaf Soueif vom 15.9.2001, 20; Seumas Milne vom 13.9.2001, 23; Hywel Williams vom 19.9.2001, 17; John Pilger vom 21.9.2001, 22. 54 Guardian, 13.9.2001; Andrew Stephen, The day that nobody would take charge, in: New Statsman, 17.9.2001, 8 ff. 55 Saskia Sassen, A message from the global south, in: The Guardian, 12.9.2001, 23.

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ter der Labour Party und vielen auch für seinen Handschlag mit Saddam ­Hussein in Bagdad 1994 in Erinnerung, zeigte als „Antiimperialist“56 großes Verständnis dafür, dass Menschen in Ländern wie Somalia, dem Irak, Palästina und Afghanistan als Opfer der amerikanischen Politik eine gewisse Freude darüber verspürten, dass die USA jetzt ihre eigene bittere Medizin schlucken müssten.57 Auch Faisal Bodi, der bereits am 3. Jänner 2001 im Guardian Israel das Existenzrecht abgesprochen hatte, bemühte sich um eine Entlastung der Terroristen und all jener Muslime, die die Zerstörung des „Satan Amerika“ feierten. 58 Wie er zu bedenken gab, hätten die Doppeltürme des World Trade Centers für viele Muslime nicht Macht, Prestige und den Triumph der Demokratie symbolisiert, sondern „Terror und Unterdrückung“, was die Schadenfreude über deren Einsturz verständlich machen würde. Wie Bodi zudem betonte, würde die muslimische Welt nichts so sehr erzürnen wie die unqualifizierte amerikanische Unterstützung Israels. Auch Galloway, der ebenfalls das israelische Existenzrecht infrage stellte und sich später noch als Anhänger der Hisbollah outen sollte, betrachtete die Nahostpolitik der USA als wesentliche Ursache für die Anschläge in den USA. Auch der New Statesman, das Sprachrohr linker Intellektueller und seit 1996 in Besitz des Labour-Abgeordneten Geoffrey Robinson, löste mit seiner ersten Ausgabe nach dem 11. September heftige Kritik aus. Das Editorial vom 17. September machte nicht nur die auf „Macht und Gier“ ausgerichtete amerikanische Regierung, sondern die gesamte amerikanische Gesellschaft mit ihren „schalen und heuchlerischen Werten“ für die Terroranschläge verantwortlich. Da das amerikanische Volk trotz Alternativen (Al Gore und Ralph Nader) in einer freien und demokratischen Wahl Bush gewählt habe, müsse es jetzt die Verantwortung tragen: „These are harsh judgments, but we live in harsh times.“59 Die Leserschaft des New Statesman zeigte sich über den Leader gespalten: Manche reagierten mit empörten Leserbriefen, während andere dem Verfasser des Editorials zustimmten. Offensichtlich resistent gegenüber dem Vorwurf des Antiamerikanismus veröffentlichte das Wochenmagazin bereits in seiner nächsten Ausgabe weitere Beiträge, die das amerikanische Volk kollektiv als „durch und durch verdorben“ verurteilten 56 57 58 59

Interview mit George Galloway in: Guardian, 19.9.2002, (Onlineausgabe:www.guardian.co.uk) (4.6.2003). George Galloway, Reaping the whirlwind, in: Guardian, 12.9.2001, 24. Faisal Bodi, Symbols of oppresson, in: Guardian, 12.9.2001, 23. New Statesman, 17.9.2001, 2.

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oder die amerikanische Kultur als egoistisch und besonders aggressiv und kriegerisch – „eine Nation geschaffen für den Krieg“ – verachteten.60 Auch im britischen Intellektuellendiskurs konnte eine gewisse Häme über die Angeschlagenheit der „arroganten Weltmacht“ und den „Niedergang Amerikas“ beobachtet werden. In der 9/11 gewidmeten Ausgabe der renommierten London Review of Books bekannte Mary Beard (Professorin an der University of Cambridge) freimütig, dass nach dem ersten Schock viele zumindest insgeheim dachten, dass die USA den Anschlag als Strafe für ihre Ignoranz gegenüber den Terroristen hinnehmen müssten. Denn: „World bullies, even if their heart is in the right place, will in the end pay the price.“61 Die Mehrheit der Beiträge in diesem Sonderheft der London Review of Books vertrat eine ähnliche Haltung.62 In Granta, dem bekannten vierteljährlich erscheinenden Magazin of New Writing, das ebenfalls ein 9/11-Sonderheft herausgab, ließ sich die Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing zu einem Pauschalurteil über die amerikanische Psyche und das amerikanische Auserwähltheitsdenken hin­reißen. Aus ihrer Sicht hätten die Amerikaner vom Beginn des Kalten Krieges (McCarthy) bis zum militanten Feminismus und den Forderungen nach politischer Korrektheit immer zu Extremen und zu einem hysterischen Verhalten geneigt. So auch nach den Terroranschlägen von 2001, weshalb die amerikanischen Reaktionen für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar gewesen seien. Vor allem stieß sie sich an einem „um sich greifenden patriotisches Fieber“, das sie an den Zweiten Weltkrieg erinnerte. Völlig zu Unrecht würden sich die Amerikaner als „einzigartige, belagerte und missverstandene Nation“ verstehen und durch jedwede Kritik verraten fühlen.63 Deshalb würde auch die Ansicht, dass „Amerika es verdient habe“, falsch interpretiert werden; ihrer Meinung nach war damit nur gemeint, dass Amerika jetzt zumindest gelernt habe, wie jedes andere Land auch, Verwundungen hinzunehmen. Nicht nur sie erhoffte sich, dass die USA dadurch jetzt mehr Verständnis für andere verwundete Nationen aufbringen würden.64 Besonders deutlich rechnete Harold Pinter, der (mittlerwei60 61 62 63 64

New Statesman, 24.9.2001, 8; 19.11.2001, 32 f. London Review of Books, vol. 23, Nr. 19, 4.10.2001, 20. Vgl. Nick Cohen, What’s Left? How Liberals Lost Their Way, London 2007, 275 f. Doris Lessing, What We Think of America, in: Granta, no. 77, London 2002, 54. Vgl. dazu exemplarisch The Independent, 3.10.2001, 5; New Statesman, 17.9.2001, 8 ff; Mirror, 22.9.2001, 12.

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le verstorbene) Literaturnobelpreisträger (2005) und in den 1970er-Jahren meistgespielte Dramatiker Großbritanniens, in Granta mit dem „wahren Schurkenstaat“ USA ab. Er betrachtete die USA als die „gefährlichste Macht der Welt“, die nur eine Sprache kennen würde: „Bomben und Tod“. Nicht Al Kaida, sondern die USA hätten der Welt den Krieg erklärt – „ohne Pause zur Reflexion“.65 Als Pinter 2006 nach seiner Krebsoperation in Turin mit dem renommierten Europäischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde, ­wiederholte er seine Auffassung, dass die Ursache für 9/11 im „Staatsterrorismus“ der amerikanischen Welt liegen würde und die Katastrophe vorhersehbar gewesen sei. 66 Die bekannte Schriftstellerin Eva Hoffmann bezeichnete im Independent derartige Haltungen als „Reflex-Antiamerikanismus“ und warnte davor, die keineswegs fehlerlosen USA zum ‚großen Satan‘ zu stilisieren. Damit würden nicht nur die unfähigen korrupten Führer in der sogenannten Dritten Welt entlastet werden, sondern auch deren Opfern wenig Respekt zukommen. Die Meinung, dass die USA zur Lösung des islamistischen Terrorismus mehr Verständnis für die Täter von 9/11 aufbringen und lernen müssten, warum die Welt sie hasse, betrachtete sie als völlig absurd.67

„Islam is not an evil religion“: Britische Muslime im Rampenlicht In Großbritannien machte sich bald nach den Anschlägen Angst vor einem Racheakt an britischen Muslimen breit. Tatsächlich wurden einzelne ­Muslime und – offensichtlich aus Unwissen und Ignoranz – auch einige turbantragende Sikhs angegriffen, Moscheen angezündet, Friedhöfe und sogar Kindergärten geschändet.68 „British Muslims under siege“, warnten daher The Muslim News.69 Das Jahr 2001 war in Großbritannien bereits als das „Jahr der riots“ bekannt: Von der rechtsradikalen British National Party geschürt, war es im Sommer in den krisengeschüttelten, einstig erfolgreichen Textilstädten Oldham, Burnley und Bradford zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen, an denen vorwiegend Jugendliche mit pakistani65 66 67 68 69

Granta, What We Think of America, no. 77, 67 ff. Mosbacher/Anderson, Recent Trends, 98. Eva Hoffman, Such a facile response to terrorism, in: The Independent, 27.9.2001, 5. Vgl. exemplarisch Guardian, 22.9.2001, 9; The Independent, 19.9.2001, 2. The Muslim News, 28.9.2001.

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schem Hintergrund beteiligt waren.70 Die Erleichterung war somit groß, als das Muslim Council of Britain (MCB), seit 1997 offiziell anerkannte Schirmorganisation der britischen Muslime, sowie Moscheenvereine und einzelne Imame die Terroranschläge in den USA sofort verurteilten und lediglich kleine radikale Gruppen öffentlich den „Sieg gegen die USA“ ­feierten. Den Solidaritätserklärungen wurde allerdings häufig beigefügt, dass britische Muslime keinesfalls für die Anschläge verantwortlich gemacht werden dürften und Al Kaida und radikale Prediger mit dem Islam nichts gemein hätten.71 Tony Blair, der schon länger großes Interesse am Islam gezeigt hatte, war sich der explosiven Situation bewusst. Zur Beruhigung der Bevölkerung hob er den friedensliebenden Charakter dieser Religion besonders hervor. Die Anhänger Bin Ladens hätten mit dem „wahren Islam“ nichts zu tun und seien Terroristen, „pure and simple“. Auch Vizepremier John Prescott rief zur Solidarität mit den britischen Muslimen auf: Wie während der Heiligen Kommunion in der Kirche sollte ihnen jetzt als Akt der Solidarität auf der Straße die Hand gereicht werden.72 Viele Printmedien schlossen sich dieser Haltung an. „Islam is not an evil religion“, versicherte beispielsweise die Boulevardzeitung The Sun ihrer Leserschaft. 73 Mit derartigen Aussagen erfuhr der Islam unmittelbar nach dem 11. September einerseits eine unkritische Überhöhung und problematische Wertschätzung, während andererseits in den Medien Berichte über den radikalen Islam die Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Fast täglich war über junge ­Briten zu lesen, die sich in Ausbildungslagern in Kaschmir, Bosnien und Afghanistan auf den Dschihad vorbereiteten.74 „Züchten wir uns ein Monster, über das uns die Kontrolle zu entgleiten droht?“, fragte Stephen Glover in Daily Mail.75 Die Debatte um den Islam im eigenen Land konzentrierte sich zunehmend auf die britische Asylpolitik und die Gefahren von „Londonistan“, womit gemeint war, dass die britische Hauptstadt seit den 1980er-Jahre durch ein sehr liberales Asylgesetz zum Refugium eines weltweit agierenden 70 Milan Rai, 7/7. The London Bombings, Islam and the Iraq War, London-Ann Arbor 2006. 71 Vgl. exemplarisch The Times, 13.9.2001, 14; 19.9.2001, 20; Q-News, September 2001, 9; Guardian, 22.9.2001, 9. 72 The Muslim News, 28.9.2001; The Times, 9.10.2001, 5; 27.9.2001, 5. 73 The Sun, 5.11.2001, 8; 14.9.2001, 17.9.2001 (Editorial); 19.9.2001, 8. 74 Vgl. exemplarisch Guardian, 17.9.2001, 9; Mirror, 18.9.2001, 9. 75 Stephen Glover, Are we waking a monster we can’t control, in: Daily Mail, 8.10.2001.

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islamistischen Extremismus geworden sei.76 Keineswegs nur rechte Medien kritisierten den Asylmissbrauch durch Anhänger eines Islamismus aus arabisch-muslimischen Ländern, die in aller Öffentlichkeit gegen die USA, Israel, Juden und Homosexuelle Hassreden führten.77 Viele Stimmen forderten deren Auslieferung, was sich jedoch aufgrund der Gesetzeslage als nicht einfach erwies. Der Immigration Act von 1970 erlaubte zwar eine Deportation von kriminell gewordenen Asylanten, allerdings schloss der Human Rights Act deren Abschiebung in all jene Staaten aus, in denen Folter oder Todesstrafe drohten. Solange radikale Muslime für Großbritannien keine Bedrohung darstellten, wurde ihnen Freedom of Speech gewährt und sie blieben vor einer Abschiebung verschont. Manche, wie beispielsweise der Historiker Robert Wistrich, vermuteten, dass Islamisten nur deshalb in Ruhe gelassen wurden, damit sie britischen Boden mit ihrem Terror verschonten.78 Keineswegs jede Kritik am Asylmissbrauch war unberechtigt, durch den hohen Stellenwert, der radikale Islamisten mit oft nur ein paar Tausend Anhängern in den Medien zukam, verzerrte sich jedoch das Bild von den britischen Muslimen und die gesamte Asylproblematik wurde auf ein Problem des Islam reduziert. Radikale Prediger und Splitterorganisationen wiederum nutzten das ihnen entgegengebrachte Medieninteresse, um mit provokanten Aussagen auf sich aufmerksam zu machen. Der radikale Prediger Abbu Hamza, der ursprünglich aus Ägypten stammte, schrieb in einem BBC-Interview dem „CIA, Freimaurern und Zionisten“ die Anschläge zu, während seine Anhänger in der Finsbury Park Moschee mit Rufen wie „Good Bless the Dead D ­ ollar“ die Verwundung Amerikas feierten.79 Hamza wirkte allein schon durch sein Äußeres besonders abstoßend: Ein Glasauge und zwei Eisenhaken als Ersatz für seine Arme, die er angeblich bei einer Explosion in Afghanistan verloren hatte. Auch der in Damaskus geborenen Omar Bakri, der seit 1986 mit einer Aufenthaltserlaubnis in London lebte und als „Tottenham Ayatollah“ die Errichtung eines Scharia-Staates gefordert hat76 Melanie Philipps, Londonistan. How Britain is Creating a Terror State within, London 2006; John Kampfner, They call us Londonistan, in: New Statesman, 9.1.2002, 18–21. 77 Rod Liddle, Hamza’s horrid – but we must tolerate him, in: Guardian, 28.8.2002. (Onlineausgabe: www.guardian.co.uk) (6.4.2003) 78 Vgl. Robert Wistrich, A Lethal Obsession. Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jiahd, New York 2010; ders., Muslim, Antisemitism and Multiculturalism: The Uneasy Connection, in: Posen Paper in Contemporary Antisemitism, No 5, Hebrew University Jerusalem 2007. 79 Vgl. Sean O’Neill/Daniel McGrory, The Suicide Factory. Abu Hamza and the Finsbury Park Mosque, London-New York-Toronto-Sydney 2006.

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te, wusste die ‚Gunst der Stunde’ und somit das Interesse der Medien zu nutzen. Bakri verurteilte zwar die Anschläge auf das World Trade Center, da er die Scharia auf friedlichem Weg einführen wollte, zeigte jedoch Verständnis für den Anschlag auf das Pentagon, das er als „Teil der amerikanischen Kriegsmaschinerie für die Tötung Tausender Menschen“ verantwortlich machte. Auch palästinensische Selbstmordanschläge in Israel, selbst wenn sich diese gegen Frauen und Kinder richteten, bewertete er als „Akt eines legitimen Widerstandes“. Zudem ließ er mit einer Fatwa (= Rechtsgutachten) gegen den pakistanischen Präsidenten General Musharaf, dem Islamisten die Kooperation mit den USA vorwarfen, aufhorchen. Während er selbst bereits im Ersten Golfkrieg zur Ermordung des damaligen Premierministers John Major aufgerufen hatte, distanzierte er sich nach dem 11. September von der von ihm in Großbritannien gegründeten, global agierenden islamistischen Splittergruppe Al-Muhajiroun, als diese zur Ermordung von Tony Blair aufrief.80 Omar Bakri und Abbu Hamza wurden auch beschuldigt, junge Briten in ihren Moscheen radikalisiert und für den Dschihad geworben zu haben.81 Zu ihnen zählten Richard Reid, der im Gefängnis zum Islam konvertierte Shoe Bomber aus Brixton, der nach dem 11. September eine American­ Airlines Maschine mit dem in seinen Schuhen versteckten Sprengstoff sprengen wollte. Auch Zacarias Moussaoui, Franzose marokkanischer Herkunft und in den USA wegen Mithilfe zur Vorbereitung von 9/11 zu lebenslanger Haft verurteilt, soll in der Finsbury Park Moschee verkehrt haben.82 Bei vielen britischen Muslimen entstand schnell der Eindruck, dass sie in einem Klima der allgemeinen Angst trotz aller Distanzierung von Al K ­ aida und radikalen Imamen pauschal als deren „Fünfte Kolonne“ beargwöhnt ­wurden und der Islam zunehmend mit Terrorismus gleichgesetzt werde. Der Krieg in Afghanistan, den über 90 Prozent der britischen Muslime ablehnten, ­wurde für sie zur großen Herausforderung. Während sich The Muslim News, eine der bedeutendsten britisch-muslimischen Zeitungen, unmittelbar nach dem 11. September noch mit der britischen Regierung solidarisierte, konnte Blair die britischen Muslime nicht davon überzeugen, dass der Krieg in Afghanistan nicht gegen den Islam, sondern gegen den Terror geführt werde.83 80 The Times, 19.9.2001, 1; Jytte Klausen, The Islamic Challenge. Politics and Religion in Western Europe, New York 2005, 45. 81 Vgl. exemplarisch Daily Mail 19.9.2001, 7; 7.10.2001, 3; The Times, 15.9.2001, 8. 82 The Times, 28.9.2001, 3; 9.10.2001,1; Guardian, 17.9.2001, 9. 83 The Muslim News, 28.9.2001; Faisal Bodi, Of course it’s a war on Islam, in: Guardian, 17.10.2001.

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Das MCB und andere muslimische Organisationen kritisierten vor allem die Doppelmoral und Verlogenheit des Westens: Während großes Aufheben um die Opfer in den USA (und Israel, wie oft gleichzeitig betont wurde) gemacht werde, würde für das Leid der Muslime in Tschetschenien, im Irak, im Nahen Osten oder in Kaschmir niemand Empathie zeigen. Die USA seien erstmals zum Opfer geworden, Muslime hingegen würden jeden Tag schweigend leiden.84 Mit dem Krieg in Afghanistan und dem drohenden Irakkrieg verfestigte sich die muslimische Opferrolle, die sich bereits mit dem ersten Golfkrieg und in Großbritannien insbesondere mit dem Bosnienkrieg herauszubilden begonnen hatte.85 Zunehmend definierten sich Muslime auch als Opfer der britischen Politik: So interpretierten in einer Umfrage zwei Drittel die Einführung neuer Antiterror-Gesetze wie den Crime and Security Act (ATCSA) als „Krieg gegen die Muslime im eigenen Land“.86 Muslime, teilweise unterstützt von linken und liberalen Journalisten, begannen auch Vergleiche zwischen dem Antisemitismus der 1930er-Jahre und der gegenwärtigen Islamophobie zu ziehen; manche setzten das Ausmaß der Islamfeindschaft sogar mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung gleich.87 Während sich einerseits viele britische Muslime primär als Opfer des Westens verstanden, mussten sich andererseits ihre Organisationen dem Vorwurf einer zu geringen Distanz zum radikalen Islam und einer mangelnden Selbstkritik stellen. Die Grenzen zwischen radikalen und gemäßigten Haltungen waren tatsächlich oft sehr fließend. Viele Muslime zeigten sich nach dem 11. September anfällig für krudeste Verschwörungstheorien, wonach „die CIA und das zionistische Israel“ für 9/11 verantwortlich seien und Israel als wahrer Profiteur zu gelten habe.88 Laut einer Umfrage der Sunday Times fanden im Dezember 2001 rund 40 Prozent der befragten Muslime, dass Osama bin Laden einen gerechten Krieg gegen Amerika führen würde und unterstützten

84 Vgl. exemplarisch The Muslim News, 11.9.2001; 9.10.2001; The Independent 9.10.2001, 9; Guardian, 17.9.2001, 2. 85 Vgl. Philip Lewis, Young, British and Muslim, New York 2007, 129 ff. 86 Alan Travis, Desire to integrate on the wane as Muslims resent “war on Islam”, in: Guardian, 16.3.2004, (Onlineausgabe:www.guardian.co.uk) (4.6.2004). 87 Maleiha Malik, Muslims are now getting the same treatment Jews had a century ago, in: The Guardian, 2.2.2007 (Onlineausgabe:www.guardian.co.uk); Muslims as new Holocaust fodder?, in: The Muslim News, October 2006. 88 Vgl. Ed Husain, The Islamist, London 2007, 203; Q-News, September 2001, 10 f; Andrew Anthony, The Fallout. How a Guilty Liberal lost his Innocense, London 2007, 136.

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den Kampf von jungen Briten in Afghanistan.89 Repräsentanten des ­Muslim Council of Britain distanzierten sich zwar von Al Kaida, hießen allerdings Selbstmordattentate in Israel als Akt eines legitimen Widerstandes gegen eine Besatzungsmacht gut oder zeigten zumindest Verständnis dafür.90 Zaki Badawi, der mittlerweile verstorbene Gründer des Muslim College in London, war einer der ganz wenigen offiziellen Vertreter, der jede Ermordung von Zivilist/inn/en klar und eindeutig verurteilte. Das MCB hingegen protestierte, als Hamas und Hisbollah nach dem 11. September als terroristisch eingestuft wurden und deren Konten eingefroren werden sollten.91 Wie wir noch sehen werden, lebte mit dem Irakkrieg und dem Terroranschlag in London 2005 die Debatten über die schwierige Grenzziehung zwischen gemäßigten und radikalen Ansichten und die Frage der Repräsentativität muslimischer Organisationen, insbesondere des MCB, erneut auf.

„Stop the War“: Proteste gegen den Krieg im Irak Der Irakkrieg war spätestens im Herbst 2002 für viele Beobachter beschlossene Sache. Manche interpretierten bereits Blairs Treffen mit Bush auf d ­ essen Ranch in Crawford, Texas im April 2002 als britische Zustimmung zum Krieg.92 Während Frankreich und Deutschland sich auf die Seite der Kriegsgegner stellten, hielt Großbritannien weiterhin vehement an der „Special Relationship“ fest und stellte sich an die Seite der USA. Allerdings unterschieden sich die britischen Positionen in einigen wesentlichen Punkten von jenen des amerikanischen Präsidenten und den Neokonservativen um Donald Rumsfeld und Dick Cheney. Tony Blair war zwar auch der Auffassung, dass vom Irak eine große Bedrohung ausgehen würde und Saddam Hussein in Besitz von Massenvernichtungswaffen sei, deren Existenz er im Herbst 2002 mit einem für viele zweifelhaften Dossier beweisen wollte. Anders als die Amerikaner sah er hinsichtlich der Terroranschläge aber keine direkte Verbindung zwischen Saddam Hussein und Al Kaida. Während die Briten nach wie vor auf die Lösung 89 Zitiert nach Farrukh Dhondy, An Islamic Fifth Column, in: Wall Street Journal, 27.12.2001, 5. 90 David Hirst, The shame of Palestine, in: Guardian, 25.9.2001, 24; Terrorised by the law, in: Q-News, April 2001; Daily Mail, 25.9.2001, 10. Vgl. John Lloyd, The beginning of a virtual revolution, in: New Statesman, 17.9.2001, 6 ff. 91 Guardian, 27.9.2001, 23; Muslim News, 10.9.2002 und 22.2.2002, 1. 92 Riddell, Hug Them Close, 191 f.

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des Nahostkonfliktes drängten, wollten die USA mit Arafat nicht mehr verhandeln und erhofften sich vom Irakkrieg eine Lösung für die gesamte Region. Die Neokonservativen in den USA waren auch wenig davon begeistert, dass Blair vehement auf ein gemeinsames Vorgehen mit der UNO drängte.93 Die am 8. November 2002 vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Resolution 1441 gilt als zumindest kurzfristiger diplomatischer Erfolg des britischen Premierministers. Die UNO-Resolution war für Blair vor allem aufgrund der zunehmenden Proteste im eigenen Land sehr wichtig. Nach einer Umfrage der Times stimmten im Februar 2003 zwar drei Fünftel der Briten einem Krieg zu, allerdings nur mit einem UN-Mandat.94 Auch die Labour Party war in dieser Frage zunehmend gespalten. Die Liberaldemokraten unter der Führung von Charles Kennedy stellten sich als einzige größere Partei geschlossen gegen den Krieg. Unterstützung bekam die Regierung allerdings von wichtigen britischen Medien: The Times, Daily Mail und das mit fast 3 Millionen Lesern auflagenstärkste Boulevardblatt The Sun zählten zu den Kriegsbefürwortern, der Guardian hingegen lehnte einen Krieg ohne UN-Mandat ab, wobei einige Journalisten jedoch den Krieg unterstützten.95 Für viele unerwartet war die Positionierung des Observer, der Sonntagsausgabe des Guardian, der sich auf die Seite Blairs stellte, allerdings auch zahlreiche kriegskritische Beiträge veröffentlichte. Neben dem linken Independent mit einer relativ unbedeutenden Auflage fungierte der linkspopulistische Mirror, immerhin mit einer Auflage von 1,2 Millionen, als Sprachrohr der Friedensbewegung und der global agierenden Kampagne Not In My Name. Spätestens im Herbst 2002 musste auch die Stop the War Coalition ernst genommen werden. Diese äußerst heterogene Bewegung wurde bereits im September 2001 als Protest gegen den Afghanistankrieg gegründet, unterstützt von der Campaign for Nuclear Disarmament96, Pax Christi, der Communist Party of Britain, der trotzkistischen Socialist Workers Party sowie einigen Abtrünnigen der Labour Party. Die organisationserprobten Trotzkisten 93 Claus Telp, Schoßhund Amerikas oder eigenständiger Akteur: Großbritanniens Position in der Irakdebatte, in: Bernd W. Kubbig (Hg.), Brandherd Irak. US-Hegemonieanspruch, die UNO und die Rolle Europas, Frankfurt– New York 2003, 198–203. Vgl. dazu auch den Beitrag von Reinhard Heinisch im vorliegenden Band. 94 Riddell, Hug Them Close, 241. 95 Daphna Marqam, Disenchantment. The Guardian and Israel, Guardian Books, 2004, 215 f. 96 CND trat seit 1957 für einen einseitigen Abbau von Nuklearwaffen und in den 1980er Jahren gegen die Stationierung der Pershing Raketen ein.

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und Kommunisten sowie einige „Labour-Rebellen“ setzten sich bald an die Spitze der Bewegung, der im Herbst 2002 bereits 100.000 Menschen einem Demonstrationsaufruf folgten.97 Schon Monate zuvor, im Frühjahr 2002, ging die Stop the War Coalition mit der Muslim Association of Britain (MAB), einer an der Muslimbruderschaft orientierten Teilorganisation des MCB, eine Koalition ein. Während konservative Muslime vor einer Zusammenarbeit mit Linken zurückschreckten und islamistische Splittergruppen (Al-Muhajiroun oder Hizb-ut-Tahrir) jede Zusammenarbeit mit Nicht-Muslimen sogar als verboten betrachteten,98 stimmte die MAB einer Zusammenarbeit zu, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen: Dazu zählte beispielsweise die Gewährleistung von nach Geschlechtern getrennten Zusammenkünften und Demonstrationsmöglichkeiten.99 Trotz einiger Bedenken wurden diese Bedingungen von den linken Kriegsgegner/inne/n letztendlich akzeptiert.100 Beiden Seiten ging es offensichtlich um einen Synergieeffekt: Die Stop the War Coalition benötigte zur Mobilisierung der massiv gegen den Krieg eingestellten Muslime eine muslimische Organisation, die MAB wiederum, die sich vorwiegend aus Mitgliedern aus arabischen Ländern zusammensetzte, wollte sich bei den britischen Muslimen, die hauptsächlich aus dem indischen Subkontinent stammten, profilieren. Die MAB sah in der Stop the War Coalition vor allem auch eine Plattform für ihr Hauptanliegen, nämlich auf die „blutende Wunde der Palästinenser“ aufmerksam zu machen.101 Zeigte die Muslim Association of Britain aus taktischen Gründen zumindest eine gewisse Toleranz gegenüber linken Gruppierungen, so verweigerte sie jede Zusammenarbeit mit Zionisten und Israeli, Israel als „zionistisches Gebilde“ wurde das Existenzrecht abgesprochen.102 Bereits im April 2002, nach heftigen und umstrittenen Kämpfen in Dschenin als Folge der Zweiten Intifada, konnte die MAB rund 80.000 Muslime zu einer Demonstration gegen Israel mobilisieren; auf Transparenten und in Reden vermischte sich dabei Israelkritik mit dem Protest gegen den 97 Andrew Murray/Lindsey German, Stop The War. The Story of Britain’s Biggest Mass Movement, London 2005, 89. 98 Lorenzo Vidino, The New Muslim Brotherhood in the West, New York 2010, 142 ff. 99 Murray/Lindsey, Stop the War, 57–63. 100 Richard Phillips, Standing Together. The Muslim Association of Britain and the Anti-War Movement, in: Race & Class 50, no.2 (2008), 100–113. 101 Murray/Lindsey, Stop the War, 82. 102 Murray/Lindsey, Stop the War, 36 f sowie 82 f; Gove, 7/7, 97.

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Irakkrieg.103 Trotzkisten und Kommunisten hatten aufgrund der eigenen antizionistischen Tradition mit israelkritischen Positionen kaum Probleme, zumal der Afghanistankrieg auch noch immer von der Zweiten Intifada überschattet war und die teilweise heftigen Konflikte zwischen Israel und den Palästinensern einen ständig neuen Nährboden zur Kritik an Israel lieferten.104 Bereits bei der ersten Großdemonstration im November 2001 waren Transparente mit „Free Palestine Now“ aufgetaucht.105 Nach der Koalitionsbildung mit der MAB änderte sich die Parole der Antikriegsbewegung „Stop the War – Feed the Poor“ in „Stop the War – Freedom for Palestine“, womit ein Zusammenhang zwischen der israelischen Besatzungspolitik und den Anschlägen vom 11. September 2001 suggeriert wurde. Auch in der Debatte um den Irakkrieg wurde schnell ein Konnex zum Palästinakonflikt hergestellt: Den USA wurde unterstellt, den Krieg für die Sicherheit Israels zu führen und auf vielen Transparenten hieß es: „Kein Krieg für Öl und Israel“ und „No war in Iraq - Justice for Palestine“.106 Lindsey German, eine der führenden Stop the WarAktivist/innen und Herausgeberin der trotzkistischen Socialist Review, vertrat bereits im Frühjahr 2002 auf einer Anti-Israel-Demonstration, dass nicht der Irak, sondern Israel mit seinem „gigantischen Waffenarsenal“ die „derzeit größte Gefahr für die Welt“ sei. Auf derselben Demonstration forderte der Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn: „Keine Waffen, kein Geld und keine Anerkennung des Staates Israel“.107 Im Vergleich zu Deutschland und auch zu Frankreich kam in der britischen Debatte um den Irakkrieg der Palästinafrage wesentlich größere Bedeutung zu. Teile der britischen Linken und Liberalen sahen sich in ihrer Meinung bestätigt, dass der Palästinakonflikt Al Kaida radikalisiert habe und somit Israel und nicht Saddam Hussein als Gefahr für den Weltfrieden zu betrachten sei. Einige waren auch der Meinung, dass die USA von einer „Jewish Lobby“ unter Druck gesetzt werde und den Krieg vorwiegend für Israel führen würden. So etwa Tam Dalyell, ein bekannter langjähriger Labour-Abgeordneter und Blair-Gegner, der hinter Blair und Bush „a cabal

103 Andrew N. Willson, Demos we can’t afford to ignore, in: Evening Standard, 15.4.2002; The Muslim News, 26.4.2002, 6 f. 104 Murray/Lindsey, Stop the War, 82. 105 Q-News, November 2001, 16. 106 Muslim News, 24.1.2003, 5. 107 Muslim News, 26.4.2002, 7.

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of Jewish advisers“ vermutete.108 Neben Blairs Nahostberater Lord Levy, der seiner Meinung Großbritannien den Krieg aufgezwungen habe, zählte er auch den Abgeordneten Peter Mandelsohn und Außenminister Jack Straw dazu, wobei sich allerdings beide nicht als jüdisch verstanden.109 Paul Foot, bekannter Antizionist und führendes Mitglied der trotzkistischen Socialist Workers Party, korrigierte Dalyell dahingehend, dass nicht von einer „jüdischen Lobby“, sondern von einer „zionistischen Lobby“ gesprochen werden müsse.110 Die Debatte um eine UNO-Resolution animierte manche zum Vergleich zwischen Saddam Hussein und Israel: Nicht der Irak, sondern Israel, das sich an keine UNO-Resolutionen halten würde und in Besitz von Nuklearwaffen sei, müsse als der „eigentliche Schurkenstaat“ verurteilt werden.111 Auch wenn selbst manche Linke und Liberale die Parolen und Zusammensetzung der Stop the War Coalition aus „radikalen Linken und militanten Muslimen“112 als problematisch erachteten, wuchs diese bald zur bisher größten Protestbewegung des Landes an. Am 15. Februar 2003, als in ganz Europa gegen den drohenden Irakkrieg protestiert wurde, folgten in London über eine Million Menschen113 dem Demonstrationsaufruf der Stop the War Coalition, Tausende demonstrierten beispielsweise auch in Belfast und Glasgow. Unter den Demonstrierenden waren bekannte Künstler/innen, Schriftsteller/innen, Gewerkschafter/innen, aber auch viele, die noch nie zuvor an einer Demonstration teilgenommen hatten. An den Demonstrationen beteiligten sich auch

108 Konkret meinte er in einem Interview in Vanity Fair über den Irakkrieg: „There is far too much Jewish influence in the United States.“,Vgl. Guardian, 6.5.2003, (Onlineausgabe: www.guardian.co.uk). (4.6.2003). 109 David Hirsh, Antizionism and Antisemitism: Cosmopolitan Reflections (YALE Initiative for the Interdisciplinary Study of Antisemitism Working Paper Series), 78, http://wwwyale.edu/ yiisa/workingpaper/hirsh/David%Hirsh%20YIISA%20Working%20Paper.pdf (10.5.2009). 110 Wörtlich schrieb er in einer Kolumne im Guardian vom 14.5.2003: „Obvious, Tam has changed his mind since, and obviously he is wrong to complain about Jewish pressure on Blair and Bush when he means Zionist pressure. But that’s a mistake that is constantly encouraged bei the Zionists.“ 111 Vgl. exemplarisch Yasmin Alibhai-Brown, It’s not anti-Semitic to connect Iraq and Israel, in: The Independent, 6.3.2003; Elham Assad Buaras, Unleasing the real tyrant, in: The Muslim News, 28.3.2003; Vgl. auch die zahlreichen Leserbriefe im Independent im Februar und März 2003. 112 Riddell, Hug Them Close, 245; Cohen, What’s Left, 280 ff; The Independent, 25.2.2003, 19. 113 Die Stop the War Coalition schätzte zwei Millionen Teilnehmer/innen.

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Die bisher größte britische Protestbewegung: Demonstration gegen den Irakkrieg in London vom 15. Februar 2003. Foto: Gary Calton

auffallend viele junge Muslime,114 die mehrheitlich keineswegs für Saddam Hussein demonstrierten oder glaubten, dass der Krieg für Israel geführt wer114 Salma Yaqoob, British Islamic Political Radicalism, in: Tahir Abbas (Hg.), Islamic Political Radicalism. A European Perspective, Edinburgh 2007, 279–294.

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de.115 Auch Vertreter der christlichen Kirchen traten gegen den Krieg auf und auch viele britische Juden schlossen sich trotz aller Skepsis gegenüber den Organisatoren und einiger als antisemitisch betrachteter Transparente dem Protest gegen den Krieg an.116 Oberrabbiner Sacks und auch andere jüdische Repräsentant/inn/en stellte sich allerdings auf die Seite von Blair.117 Nach der Großdemonstration vom 15. Februar bekannte selbst Daily Mail als Sprachrohr der Kriegsbefürworter, dass neben den üblichen Verdächtigen, die sich jeder antikapitalistischen Demonstration anschließen und teilweise am liebsten gleich Israel militärisch angreifen würden, Tausende ganz gewöhnliche Menschen teilgenommen hatten, im festen Glauben, dass ihr Land einen schrecklichen Fehler begehen würde.118 Die Sun wiederum tröstete sich damit, dass die Demonstration einem „Karneval ohne Kostüme“ geglichen habe und immerhin 58 Millionen Briten zu Hause geblieben seien.119 Im März 2003 stellte sich in einer Umfrage allerdings erstmals die Mehrheit der Briten (52%) gegen den Krieg und lediglich 29 Prozent sprachen sich dafür aus.120 Gleichzeitig hatten nur mehr 48 Prozent der Briten ein positives Bild von den USA, wobei Großbritannien diesbezüglich im Vergleich zu Deutschland (28%) und Frankreich (25%) allerdings noch immer einen recht beachtlichen Prozentsatz aufwies.121 Der Stop the War Coalition war es allerdings nicht gelungen, die eigene Regierung von der Beteiligung am Irakkrieg abzuhalten. Am 18. März 2003 stimmte das Unterhaus mit 396 zu 217 Stimmen einer britischen Beteiligung auch ohne UN-Mandat zu. Premierminister Blair konnte die Abstimmung allerdings nur mit Hilfe der oppositionellen Konservativen gewinnen, denn von den 412 Labour-Abgeordneten stimmten nur mehr 139 zu. Bereits am 17. März trat Robin Cook als Fraktionschef der Labour Party zurück, da er 115 Laut einer Umfrage waren nur 9 Prozent der befragten Muslime der Meinung, dass der Krieg für Israel geführt werde und nur 6 Prozent zeigten Sympathie für Saddam Hussein. Vgl. Q-News, March-August 2003, 20–21. 116 Vgl. exemplarisch Anne Karpf, Neither protesters nor Jews are uniform, in: Jewish Chronicle, 14.2.2003, 30. 117 Jonathan Freedland, Prophet of hope, in: Guardian, 27.8.2002, (Onlineausgabe:www.guardian. co.uk) (4.6.2003). 118 Daily Mail, 17.2.2003, 3 f. 119 The Sun, 17.2.2003, 8. 120 Umfrage zitiert nach The Independent, 13.3.2003, 17. 121 The Pew-Global Attitudes Project, Survey report: What the WORLD THINKS in 2002 (http://pewglobal.org/).

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Saddam Hussein nicht als „eindeutige Gefahr für Briten“ betrachtete und im Mai trat Clare Short aus Protest gegen einen Krieg ohne UN-Mandat als Entwicklungsministerin zurück.122 Am 20. März marschierten 45.000 britische Soldaten mit der amerikanischen Armee in den Irak ein, unterstützt von kleineren Einheiten aus Italien, Spanien und Polen. Britische Kriegsbefürworter/innen, vor allem auch Tony Blair, erhofften sich von diesem Krieg an der Seite der USA mehr weltpolitischen Einfluss für das eigene Land. Während britische Truppen in Afghanistan und im Irak einen „War on Terror“ führten, wurde Großbritannien als erstes europäisches Land Opfer eines „homegrown terrorism“.

7/7: Die U-Bahnanschläge in London Am 7. Juli 2005 sprengten sich vier junge britische Muslime in der Londoner U-Bahn und in einem roten Doppeldeckerbus in die Luft. 52 Menschen, unter ihnen auch zahlreiche Muslime, rissen sie mit in den Tod, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Seit dem 11. September 2001 hatte man zwar immer einen Terroranschlag von Al Kaida befürchtet, allerdings den beängstigenden Gedanken verdrängt, dass als erfolgreich integriert geltende britische Muslime eine derart grausame Tat verüben könnten. Mit dem schnell für den Terroranschlag verwendeten Kürzel 7/7 wollte Großbritannien zum Ausdruck bringen, dass das Land jetzt mit einem eigenen 9/11 konfrontiert war. Wie nach dem 11. September 2001 und dem Terroranschlag in Madrid am 11. März 2004 verurteilten die meisten muslimischen Organisationen den Terror in London, fügten aber zumeist hinzu, dass nicht der Islam, sondern die britische Außenpolitik dafür verantwortlich sei.123 Die britische Regierung setzte auf Kooperation und installierte einen Beratungsausschuss aus Vertretern des Muslim Council of Britain und hinzugezogenen Expert/inn/ en. Gleichzeitig wurden auch mit einzelnen Ländern Abschiebungsverträge abgeschlossen, um radikale Prediger loszuwerden. Als beispielsweise Omar Bakri kurz nach den Anschlägen von einer Libanonreise nach London zurückkehren wollte, wurde ihm die Einreise verwehrt.124 122 Riddell, Hug Them Close, 263. 123 Vgl. exemplarisch The Muslim News, 15.5.2006. 124 Richard Ford/Daniel McGrory, “Preacher of hate” is banned from Britain, in: The Times, 13.8.2005, (www.thetimes.co.uk) 6.3.2003).

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Im Sommer 2006 wurden zwei Dutzend muslimische Männer (unter ihnen auch einige Konvertiten) verhaftet, die unter Verdacht standen, Bombenattentate auf Transatlantikflüge geplant zu haben. Auch dafür gaben muslimische Organisationen erneut der britischen Außenpolitik die Schuld.125 Die Debatte eskalierte, als 40 muslimische Organisationen und drei von insgesamt vier muslimischen Labour-Abgeordneten in einem Brief an Premierminister Blair erneut diese Kritik an der britischen Außenpolitik vorbrachten und die Zusammenarbeit im Beratungsausschuss für gescheitert erklärten.126 Gleichzeitig gab die Veröffentlichung einer Reihe von Umfragen, die nach den Anschlägen in London unter britischen Muslimen durchgeführt wurden, Anlass zur Besorgnis: 127 Fast 25 Prozent der Befragten rechtfertigten die Anschläge von 7/7 damit, dass die eigene Regierung den „War on Terror“ unterstützt habe, 13 Prozent betrachteten die Täter als ‚Märtyrer‘; ein Drittel wollte nach den Gesetzen der Scharia leben, wobei die meiste Zustimmung dazu von Muslimen unter 24 Jahren mit schlechter Schulbildung kam.128 Die Jewish Chronicle­ veröffentlichte bereits Anfang 2006 das alarmierende Ergebnis einer beim Meinungsforschungsinstitut Populis in Auftrag gegebenen Umfrage, wonach 37 Prozent der 500 befragten erwachsenen Muslime auch britische Juden als legitimes Ziel im Kampf um Gerechtigkeit im Nahen Osten betrachteten; in derselben Umfrage unterstützten allerdings 52 Prozent das Existenzrecht Israels.129 Aber nicht nur Muslime sahen im Irakkrieg eine Ursache für die Radikalisierung von jungen Muslimen, sondern auch viele nicht-muslimische Briten teilten diese Meinung und forderten eine Änderung der britischen Außenpolitik. Vor allem ging es ihnen dabei um eine größere Distanz zu den USA. Prominente Kriegsgegner, wie der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone oder die ehemalige Labour-Ministerin Clare Short, betrachteten die Londoner Terroranschläge als Bestätigung für ihre Opposition zum Irakkrieg. Trotz dieser ähnlichen Einschätzungen fehlte den meisten allerdings das Verständ125 The Muslim News, 28.7.2006. 126 The Muslim News, 3.7.2006; Vgl. dazu auch Inayat Bunglawala, Its undeniable: British foreign policy is endangering all of us, in: The Times, 12.8.2006, (www.thetimes.co.uk) (6.3.2003). 127 The 1990 Trust (Hg.), Survey Muslim views: Foreign Policy and it’s effect, October 2006. 128 The “hearts and minds” battle for British Muslims that failed, in: The Times, 13.8.2006, (www. thetimes.co.uk) (6.3.2003). 129 Jewish Chronicle, 10.2.2006, 1.

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nis dafür, dass radikale Muslime aus Protest gegen die britische Außenpolitik nicht nur sich, sondern auch viele Unschuldige in die Luft sprengten.130 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass trotz der Anschläge in London und zahlreicher weiterer vereitelter Terrorversuche die Islamfeindlichkeit in Großbritannien im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ gering ausgeprägt ist.131 Mit den Anschlägen in London wurde auch die Debatte um den britischen Multikulturalismus neu belebt. Selbst Trevor Phillips, der Vorsitzende der Commission for Racial Equality, gab zu bedenken, dass das Konzept des Multikulturalismus, wenn es falsch angewendet werde, zu Separatismus und zur Indoktrination junger Muslime führen könne. Für ihn war es höchste Zeit, die religiöse und ethnische Segregation zu bekämpfen.132 Auch einige prominente muslimische Intellektuelle begannen am Modell des Multikulturalismus zu zweifeln. Kenan Malik, der sich bereits in mehreren Bücher mit der Frage des Rassismus und Multikulturalismus beschäftigt hatte, stellte nicht nur den Multikulturalismus in Frage, sondern auch das Ausmaß der Islamophobie, das seiner Ansicht nach vom MCB und anderen muslimischen Organisationen zur Untermauerung der Opferrolle übertrieben werde.133 Auch die britische Regierung hatte mittlerweile ihre Haltung gegenüber dem MCB geändert, dem unter anderem vorgeworfen wurde, die Rolle des Islam als Ideologie für die Rekrutierung der 7/7 Bomber zu ignorieren.134 Die Distanzierung von Al Kaida und radikalen Imamen reichte offensichtlich nicht mehr aus, um als gemäßigte Organisation anerkannt zu werden. Im September 2006 löste Ruth Kelly, Ministerin für Communities and Lokal Government, eine Debatte aus, indem sie von nicht verhandelbaren ­Werten („non-negotiable values“) sprach, die auch von muslimischen Organisationen und Institutionen eingehalten werden müssten. Kelly macht dem Muslim Council of Britain auch deutlich, dass der Holocaust als nicht zu hinterfragender Wert zu gelten habe und die Teilnahme am alljährlichen 130 Roy Hattersley, Either right or wrong, in: Guardian, 14.8.2006; Polly Toynbee, We can’t let god-blinded killers set our foreign policy, in: The Times, 15.8.2006, (www.thetimes.co.uk) (5.6.2005). 131 Vgl. dazu die European Values Study (http://www.europeanvaluesstudy.eu) sowie den Beitrag von Wolfgang Aschauer in diesem Band. 132 Trevor Philips, Sleepwalking into segregation along racial and religious lines, in: Guardian, 19.9.2005, (Onlineausgabe: www.guardian.co.uk) (5.4.2006). 133 Kenan Malik, From Fatwa to Jihad. The Rushdie Affair and its Legacy, London 2009; ders. What hate?, in: Guardian, 7.1.2005, (Onlineausgabe: www.guardian.co.uk) (6.2.2006). 134 Vidino, The New Muslim Brotherhood, 125.

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Holocaustgedenktag, der seit 2001 offiziell abgehalten wurde, für weitere finanzielle Unterstützung zwingend sei. Das MCB hatte eine Teilnahme bisher mit dem Argument abgelehnt, dass „Genozide“ an Muslimen (vor allem auch an den Palästinensern) ignoriert werden würden und Israel aus dem Holocaustgedenktag Profit schlagen würde.135 Der Versuch der britischen Regierung, neben dem MCB weitere Ansprechpartner/innen zu finden, scheiterte aufgrund fehlender Alternativen.136 Mittlerweile begannen auch viele britische Muslime die Repräsentativität des MCB zu hinterfragen. Wie Asim Siddiqui, der Vorsitzende von City Circle, eine von jungen Muslimen organisierte Organisation, die sich bewusst keiner der herkömmlichen Organisationen zuordnen will, in einem an das MCB gerichteten Kommentar „Not In Our Name“ meinte, habe nicht die britische Außenpolitik, sondern die radikale islamistische Ideologie, eine „Perversität des Heiligen Textes“, die Anschläge in London zu verantworten.137 In Umfragen fühlten sich nur zwischen 4 und 6 Prozent der britischen Muslime vom MCB vertreten, dem auch eine Dominanz von Anhängern der Muslimbruderschaft vorgeworfen wurde.138 In der muslimischen Community wurde der Ruf nach einer demokratischen Vertretung immer lauter, wobei sich die Kritik auch gegen die britische Regierung und gegen jene linken Organisationen (z.B. Stop the War Coalition) richtete, die sich bisher zu wenig um säkulare muslimische Organisationen bemüht zeigten.139 Im Unterschied zu Deutschland brachten sich in Großbritannien viele Muslime selbst in die Islamdebatte ein und die britische Regierung diskutierte mit muslimischen Vertretern und nicht nur über Muslime. Auch das links-liberale Lager zeigte sich hinsichtlich der Haltung zur muslimischen Minderheit und damit zum Konzept des Multikulturalismus zunehmend gespalten. Diese Krise fand auch in der Stop the War C ­ oalition ihren Ausdruck, deren Führung und somit Deutung des Irakkrieges ­extremen Linken und an der Muslimbruderschaft orientierten Muslimen 135 Vgl. exemplarisch Iqbal Sacranie, Holocaust Memorial Day is too exclusive. We must honour all victims of genocide equally, in: The Guardian, 20.9.2005, (Onlineausgabe: www.guardian. co.uk) (6.2.2006). 136 2006 näherte sich die britische Regierung beispielsweise den Sufis an, die wenig repräsentativ für den britischen Islam sind. Vgl. Isolating the extremists, in: The Times, 15.8.2006, (www. thetimes.co.uk) (4.6.2005). 137 Guardian, 3.7.2007, 23. 138 Malik, From Fatwa to Jihad, 129; Vidino, The New Muslim Brotherhood, 127. 139 Leserbrief in: Guardian, 19.10.2001, 21.

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überlassen wurde. Auch der aus der Stop the War Coalition hervorgegangenen Respect Party (2004), einer Koalition aus linken Populisten wie George ­Galloway, Trotzkisten, Gewerkschaftern sowie Vertretern der Muslim Association of Britain (MAB), war es nicht gelungen, sich links von Labour als einflussreiche politische Partei zu etablieren.140

Ausblick Obwohl sich die Mehrheit der Briten gegen den Irakkrieg aussprach, wurde Tony Blair 2005 zum dritten Mal zum Premierminister gewählt. Die Labour Party verlor aber eine erhebliche Anzahl an Stimmen, für manche kündigte sich damit schon das Ende von New Labour an.141 Die Kritik an Blair, die britische Bevölkerung hinsichtlich Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen in die Irre geführt zu haben, scheint auch mit seiner 2010 veröffentlichten Autobiographie, in der er seine alten Positionen und vor allem den Krieg im Irak im Wesentlichen verteidigte, nicht abzureißen.142 Mittlerweile überwiegt auch die Ansicht, dass Blair zwar nicht als „Schoßhund Amerikas“ fungiert habe (wie ihm häufig polemisch vorgeworfen wurde), jedoch seine und somit auch Großbritanniens Rolle in der „Special Relationship“ mit den USA oft massiv überschätzt werde. Gescheitert ist Blair auch an seinem Anspruch, als Brückenkopf zwischen den USA und Europa zu fungieren, zu eindeutig hatte er für Bush und den Irakkrieg Partei ergriffen. Erhebliche Teile seiner Partei und die Mehrheit der britischen Öffentlichkeit näherten sich hinsichtlich ihrer Ablehnung des Krieges und der Einstellung gegenüber den USA allerdings an den europäischen Kontinent an.

140 Peter Ullrich, Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland, Berlin 2008, 205 f. 141 Andrew Rawnsley, The End of the Party. The Rise and Fall of New Labour, London 2010. 142 Vgl. exemplarisch Raymond Geuss, Die Lüge als höhere Wahrheit, in: Die Zeit, Nr. 25, 14.6.2007, 54.

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Von der Allianz zur Dissonanz Der 11. September 2001 in Frankreich Laut einer Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstituts Ifop vom Dezember 2007 betrachten die Franzosen die Terroranschläge vom 11. September als „das bedeutendste Ereignis der letzten zehn Jahre“, gefolgt von der „Tsunami-Katastrophe“ 2004, der Einführung des Euro im Jahr 2002 und der Fußballweltmeisterschaft 1998, die Frankreich durchgeführt und gewonnen hat.1 Dieses eindeutige Ergebnis ist vor dem Hintergrund der wechsel­vollen Beziehungen zwischen Frankreich und den USA zu sehen, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. ‚Amerika‘ hatte in Frankreich immer einen ­hohen Stellenwert, einerseits als Ort der Freiheit und Demokratie (Unterstützung im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg), andererseits auch als politisches und kulturelles Gegenmodell, von dem sich Frankreich immer wieder abzugrenzen versuchte.2 Besonders die kulturelle Abgrenzung gegenüber ‚Amerika‘ aus der Position einer vermeintlichen kulturellen Über­ heblichkeit heraus hat in Frankreich eine lange Tradition und führt bis heute zu Kämpfen gegen eine ‚Amerikanisierung‘ der französischen Gesellschaft in verschiedenen Bereichen (Kultur, Sprache, Medien, Wirtschaft).3 Auch in politischer Hinsicht ging Frankreich, das sich nach 1945 auf die Seite der Sieger stellen konnte, besonders unter Präsident Charles De Gaulle sukzessive auf Distanz zu den USA. Obwohl 1949 Gründungsmitglied des westlichen Verteidigungsbündnisses, verließ Frankreich 1966 den militärischen 1 http://tempsreel.nouvelobs.com/actualites/international/ameriques/20071208.OBS908. (10.12.2007). 2 Vgl. dazu beispielsweise Philippe Roger, L’ ennemi américain. Généalogie de l’antiaméricanisme français, Paris 2002. 3 Zu historischen und aktuellen Formen des kulturellen Antiamerikanismus vgl. Richard F. Kuisel, Seducing the French. The Dilemma of Americanization, Berkeley-Los Angeles-London 1993; Denis Lacorne/Jacques Rupnik/Marie-France Toinet (Hg.), The Rise and Fall of AntiAmericanism: A Century of French Perceptions, New York 1990; Seth David Armus, Primacy of the Spiritual: French Resistance to America and the Formation of French Identity, Ann Arbor 1999.

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Teil der NATO und baute eine eigene Atomstreitmacht auf (force de f­ rappe). Außerdem pflegte Frankreich im Unterschied zu anderen europäischen Ländern enge wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen mit den ehemaligen Kolonialländern im Maghreb und in Teilen der arabischen Welt. Diese (von de Gaulle über François Mitterand bis hin zu Jacques Chirac vertretene) politique arabe führte immer wieder zu Spannungen mit Israel und hat auch das Verhältnis zwischen Frankreich und den USA teilweise getrübt.4

Erste Reaktionen in Frankreich: Trauer, Mitgefühl und Gegenstimmen Das offizielle Frankreich Die französische Innenpolitik war seit 1997 – also auch zum Zeitpunkt der Anschläge in den USA – durch eine Cohabitation gekennzeichnet, d.h. Präsident und Regierungschef gehörten nicht demselben politischen Lager an: Die vom sozialistischen Premierminister Lionel Jospin angeführte Regierung setzte sich aus einer Koalition von Sozialisten, Kommunisten und den Grünen zusammen, während Präsident Jacques Chirac aus dem konservativen gaullistischen Lager stammte. Unmittelbar nach dem 11. September verurteilten die gesamte Staatsspitze sowie die Vertreter der einzelnen politischen Parteien die Terroranschläge einmütig und erklärten ihre Solidarität mit den USA. Staatspräsident Chirac befand sich zum Zeitpunkt der Anschläge gerade in der Bretagne. In seiner ersten Stellungnahme verurteilte er nicht nur den Terrorismus, sondern versicherte dem amerikanischen Volk auch die Freundschaft und Unterstützung Frankreichs.5 Noch am selben Tag rief er einen verkleinerten Ministerrat ein, der den bereits seit den Anschlägen im eigenen Land ausgearbeiteten Anti-Terror-Plan Vigipirate reaktivierte. Auf dem Elysée-Palast wurde die französische Flagge auf Halbmast gesetzt, ein bisher beispielloser Solidaritätsbeweis mit den USA.6 4 5 6

Vgl. dazu Eric Aeschimann/Christophe Boltanski, Chirac d’Arabie. Les mirages d’une politique française, Paris 2006; sowie Dennis Sieffert, Israël-Palestine, une passion française. La France dans le miroir du conflit israélo-palestinien, Paris 2004. Vgl. France Soir, Spezialausgabe, 11.9.2001, 10. Vgl. Guillaume Parmentier, Diverging Divisions. France and The United States after Septem-

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Nach dem 11. September trugen auch die noch nicht allzu weit zurückliegenden Erfahrungen mit dem Terrorismus im eigenen Land zur Identifikation mit den amerikanischen Opfern bei. In den 1990er-Jahren war der Bürgerkrieg in Algerien auf französisches Territorium übergeschwappt, da algerische islamistische Fundamentalisten eine Reihe von Anschlägen (u.a. in der Pariser Metro) verübten; im Jahr 1994 konnte ein mit einem Flugzeug geplanter Anschlag auf den Eiffelturm im letzten Moment verhindert werden.7 Daraus ist auch die, bereits vor dem 11. September, kompromisslose Haltung in Frankreich gegenüber dem radikalen Islamismus zu erklären: Im Unterschied zu Großbritannien verwehrte Frankreich führenden Persönlichkeiten des auf einer internationalen Ebene agierenden arabischen Islamismus das Recht auf Asyl.8 Ausgelöst von massiven Unruhen in den französischen Vorstädten im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada in Israel/Palästina lebte ein Jahr vor dem 11. September in Frankreich erneut eine Islam- und Antisemitismusdebatte auf. Da vor allem französische Juden zu den Opfern dieser Ausschreitungen zählten, stand das Land seither international unter Beobachtung.9 Am 18. September, eine Woche nach den Terroranschlägen, besuchte ­Jacques Chirac als erster europäischer Staatsmann in Begleitung seines ­Außenministers Hubert Védrine den amerikanischen Präsidenten George W. Bush. In einer Rede vor der französischen Gemeinde in Washington betonte er, dass sich die französisch-amerikanischen Bande in historischen Krisenzeiten immer als die festesten erwiesen hätten.10 Chirac versicherte Bush erneut seine Unterstützung im Anti-Terror-Kampf, allerdings nicht mehr vorbehaltlos: Mit den Worten, dass eine Militäraktion nur nach vorheriger Abstimmung über die Ziele und die Modalitäten der Angriffe vorber 11, in: Christina V. Balis/Simon Serfaty (Hg.), Visions of America and Europe. September 11, Iraq, and Transatlantic Relations, Washington D.C. 2006, 116-136, hier 117. 7 Vgl. dazu Michel Wievorka, From Classical Terrorism to „Global“ Terrorism, in: International Journal of Conflict and Violence, Vol 1 (2) 2007, 92–104. 8 Gilles Kepel, Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Westens, München 2004, 300. 9 Beispielsweise Michel Wieviorka, L’antisémitisme est-il de retour?, Larousse 2008; ders., La tentation antisémite, Paris 2005; Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main 2004; Christian Muckenhumer, „Paris sind die Juden. Das Fernsehen sind sie. Das Kino sind sie. Das ist in ihrem Blut. Es ist der Handel, es ist das Geld.“ Der gegenwärtige Antisemitismus in Frankreich als „kultureller Code“, in: Kirche und Israel 23 (2008) 1, 57-67. 10 Vgl. http://www.elysee.fr/elysee/root/bank/print/3087.htm (6.3.2007).

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stellbar sei, wollte er zum Ausdruck bringen, dass die Verbündeten in die militärischen Pläne der USA eingeweiht werden müssten.11 Manche Stellungnahmen von französischen Politiker/inne/n gingen über eine reine Verurteilung der Anschläge hinaus und versuchten bereits eine Deutung der Ereignisse mitzuliefern. Diese Erklärungen gerieten dabei oft zu Schuldzuschreibungen an die USA, die aufgrund ihrer Politik für die Anschläge mitverantwortlich gemacht wurden. So ortete beispielsweise Noël Mamère, prominenter Europa-Abgeordneter der Grünen, in der seiner Ansicht nach selektiven egoistischen amerikanischen Außenpolitik die Wurzeln des Hasses.12 Auch in seinen späteren amerikakritischen Publikationen finden sich solche einseitigen Erklärungsmuster mit teilweise verschwörungstheoretischen Ansätzen.13 Höchst unterschiedliche Reaktionen kamen aus den Reihen der seit 1999 gespaltenen extremen Rechten: Während Bruno Mégret, Gründer der Mouvement national républicain (Republikanische Nationalbewegung) appellierte, der vom Islamismus ausgehenden Gefahr ins Auge zu sehen14, fand Jean-Marie Le Pen als Vorsitzender der Front National sehr kritische Worte für die Politik der USA: „Man kann keine Machtpolitik, die arrogant und zuweilen kriminell ist, betreiben, ohne unsühnbaren Hass auf sich zu ziehen.“15 Damit wird deutlich, dass die französische extreme Rechte nach 2001 je nach Bedarf und ideologischer Ausrichtung sowohl die USA wie auch den Islam als Feindbilder zu instrumentalisieren wusste und sich (wie die extreme Rechte im übrigen Europa auch) nicht immer klar zwischen ihrem traditionellen Antiamerikanismus und der neuen Islamfeindlichkeit entscheiden konnte.

Reaktionen in der Bevölkerung Nach dem 11. September hatte die Solidarität der französischen Bevölkerung mit den Opfern und dem amerikanischen Volk in Frankreich ein seit den Tagen der Landung der Alliierten in der Normandie und der Befreiung 1944 11 12 13

Vgl. Libération, 20.9.2001, 3 und La Croix, 20.9.2001, 6. Libération 25.9.2001, 15. Noël Mamère/Patrick Farbiaz, Dangereuse Amérique: Chronique d’une guerre announcée, Paris 2003 sowie Noël Mamère/Olivier Warin, Non merci, Oncle Sam, Ramsay 1999. 14 Le Monde, 14.9.2001, 21. 15 Ebd.

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nie mehr gekanntes Ausmaß erreicht.16 In einer am 12. September durchgeführten Meinungsumfrage erklärten sich 96 Prozent der Bevölkerung mit der US-Bevölkerung „gänzlich oder weitgehend“ solidarisch.17 Dieses tief empfundene Mitgefühl offenbarte sich auch in vielen symbolischen Gesten und Handlungen: Anlässlich der weltweit begangenen Gedenkminuten am 14. September begaben sich mehrere Dutzend Personen zur Freiheits­statue von Paris bei der Pont de Grenelle, entzündeten Kerzen und schwenkten amerikanische Flaggen, andere versammelten sich vor der US-Botschaft und legten dort Kränze und Blumen nieder.18 Besonders in der Normandie, wo 1944 die US-Truppen bei der Befreiung an Land gegangen waren, kam diese historisch begründete Verbundenheit der Bevölkerung besonders stark zum Ausdruck.19 Teilweise wurde die breite Solidarität mit den USA aber auch als staatlich verordnet empfunden und stieß daher besonders in linken Kreisen und in globalisierungskritischen Organisationen wie Attac nicht immer auf ungeteilte Zustimmung. Vor allem aus dem Umkreis der Kommunistischen Partei, die seit 1997 der Koalitionsregierung angehörte, kamen Proteste. Als beim alljährlichen Sommerfest der kommunistischen Parteizeitung L’Humanité, das 2001 zufällig am Wochenende nach den Anschlägen stattfand, eine Schweigeminute für die Opfer in den USA abgehalten werden sollte, wurden schon nach wenigen Sekunden Pfiffe laut, da – so wurde geklagt – anderen Opfern politischer internationaler Konflikte und Kriege ein derartiges Gedenken verwehrt bliebe.20 Konkret gemeint waren damit die Opfer von Hiroshima und Nagasaki sowie des Vietnamkrieges, allesamt also Opfer der amerikanischen Politik. Häufig wurde auch auf das Schicksal der Palästinenser verwiesen: Obwohl jeden Tag von Bomben bedroht, würde ihrer niemand gedenken.21 Während sich ein Flügel der Partei dem Protest gegen „das mediale Getöse rund um dieses Attentat“ anschloss und diese „groteske Form des Mitleids“22 verurteilte, distanzierten sich andere von

16 17 18 19 20 21 22

Parmentier, Diverging Visions, 116. http://www.csa-tmo.fr/dataset/data2001/opi20010912a.htm (19.7.2007). Vgl. La Croix, 17. 9.2001, 10 und France Soir, 15.9.2001, 12. Libération, 13.9.2001, 29. Bericht darüber in: Libération, 17.9.2001, 23. Berichte darüber in: France Soir, 17.9.2001, 13. http://clubobs.nouvelobs.com/article/2001/10/11/20011011.OBSH113807.xml (16.2.2007).

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diesem „unwürdigen und verachtenswerten Verhalten“.23 Parteichef Robert Hue bekam jedenfalls den Druck der kommunistischen Basis zu spüren, die mehrheitlich einen drohenden Militärschlag in Afghanistan ablehnte und seine unmittelbar nach dem 11. September abgegebene Solidaritätserklärung als eine Anerkennung der „imperialistischen amerikanischen Position“ kritisierte.24

Jüdische und muslimische Reaktionen Als Folge der Dekolonialisierung hat sich in Frankreich nach 1945 sowohl die nach den USA und Russland größte muslimische Community (ca. 6 Millionen) als auch die größte jüdische Diaspora (ca. 500.000) Europas angesiedelt. Nur knapp ein Jahr nach den heftigen Ausschreitungen in den französischen Vorstädten wurden die Anschläge in den USA zu einer weiteren Nagelprobe für die ohnehin gespannten jüdisch-muslimischen Beziehungen. Die Erleichterung war somit groß, als die bedeutendsten muslimischen Organisationen, die zum damaligen Zeitpunkt noch keine gemeinsame Interessenvertretung hatten, den Terrorakt sofort verurteilten und bei Freitagsgebeten der Opfer gedachten.25 In der jüdischen Community machte sich dennoch Angst breit. Offizielle jüdische Vertreter sahen bereits in der Anti-Rassismus-Konferenz in Durban, die kurz vor dem 11. September von der UNO einberufen wurde, den Auftakt zu den Anschlägen der Al Kaida.26 Den jüdischen Feiertagen, die mit dem Neujahrsfest am 17. September begannen, sah man daher mit großer Anspannung entgegen, viele fühlten sich trotz aller getroffenen Sicherheitsmaßnahmen im Umkreis von Synagogen nicht sicher.27 Aus Sicherheitsgründen wurden in Paris alle für September und Oktober angesetzten jüdischen Veranstaltungen abgesagt oder verschoben. 23

Vgl. ebd. sowie Jean-François Revel, L’ obsession anti-américaine. Son fonctionnement, ses causes, ses inconséquences, Plon 2002, 71, der in diesem Buch ebenfalls auf diese Veranstaltung Bezug nimmt. 24 Libération, 17.9.2001, 23. 25 Le Figaro, 14.9.2001, 13. 26 Tribune Juive, 27.9.2001, 8; Roger Cukierman, Durban prémonitoire, in: Le Figaro, 18.9.2001, 15; vgl. dazu auch Ariel Colonomos, L’intolérable prix de la haine, in: Libération, 18.9.2001, 24 und Annette Wieviorka, L’ étrange défaite, in: Le Monde, 19.9.2001, 14. 27 La Croix, 18.9.2001, 7; Le Figaro, 14.9.2001, 13 und 18.9.2001, 11.

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Wie in vielen anderen europäischen Ländern zeichnete sich die jüdische Gemeinde durch eine besondere Solidarität mit den USA aus. Bereits einen Tag nach den Anschlägen nahmen in der Großen Synagoge in Paris mehr als 1.500 Menschen an einem Gedenkgottesdienst für die Opfer teil.28 Jean Kahn, Präsident des Konsistoriums, der zentralen religiösen Vertretungsinstanz des französischen Judentums, wies in seiner ersten Stellungnahme darauf hin, dass die USA in zwei Weltkriegen Frankreich gerettet hätten und es daher jetzt geboten sei, auf ihrer Seite für die Freiheit und die Demokratie zu kämpfen.29 Jüdische Gemeindevertreter stellten auch schnell einen Konnex zwischen Israel und den Terrorangriffen in den USA her, indem sie die antisemitischen Motive der Terroristen betonten und den Anschlag auch als Kriegserklärung an Israel interpretierten.30 Auch der Vizepräsident der Union des étudiants juifs (Vereinigung der jüdischen Studenten Frankreichs), Jonathan Arfi, forderte eine verstärkte Unterstützung des jüdischen Staates, da dieser aus seiner Sicht derselben Form von Gewalt ausgesetzt sei wie die USA.31 Wenig Verständnis fand man daher für den von den USA aus real­politischen Gründen betriebenen Ausschluss Israels aus der weltweiten ‚Koalition gegen den Terror‘. Die jüdische Wochenzeitung L’Actualité Juive sprach von Israel als „Bauernopfer“ und einmal mehr galt die von Europa geduldete Politik der USA als ein Zeichen dafür, dass Israel letztendlich wieder einmal allein gelassen werde und nur auf die eigene Verteidigungsfähigkeit vertrauen könne.32 Während französische Juden das Wiederaufflammen antisemitischer Ausschreitungen befürchteten, saß auch bei den Muslimen Frankreichs der Schock über die Anschläge tief: Die Mitglieder des Rates zur Einsetzung einer Vertretungsinstanz des Islams in Frankreich33 verurteilten die Attentate und warnten gleichzeitig immer vor einer Gleichsetzung von Terrorismus und Islam. Auch in den Moscheen von Lille, Lyon, Marseille, Paris und Straßburg riefen die Vorstände zu einem Ende der Stigmatisierung 28 29 30 31 32 33

La Croix, 18.9.2001, 7 und Le Figaro, 18.9.2001, 11. Tribune Juive, 27.9.2001, 8. L’Arche, Oktober/November 2001, 34 f. Tribune Juive, 27.9.2001, 8. Actualité Juive, 25.9.2001, 6, 5.10.2001, 3 und 1.11.2001, 6. CFCM (Conseil français du culte musulman): Konstituierendes Gremium zur Einsetzung einer zentralen Vertretungsinstanz der Muslime in Frankreich, die im April 2003 erstmals gewählt wurde.

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des Islams auf, da man eine Zunahme des Rassismus befürchtete.34 Auch muslimische Intellektuelle wie der bekannte und umstrittene Philosophie­ professor Tariq Ramadan35 meldeten sich in führenden Printmedien zu Wort. Ramadan verurteilte die Anschläge in den USA, allerdings nicht ohne davor zu warnen, dass nun der Islam zum „neuen Feind“ mutieren könnte und das Weltgeschehen künftig durch die Schwarz-Weiß-Brille betrachtet werden würde.36 Doch trotz aller Kalmierungsversuche von oben gärte es innerhalb der muslimischen Bevölkerung unter der Oberfläche, wie auch aus Reportagen und Stimmungsberichten vor Ort herauszulesen war: Mancherorts wurden Stimmen der Schadenfreude oder „ein Gefühl der Rache für alle leidenden Palästinenser“ laut, manche spreizten Zeige- und Mittelfinger zu einem „V“ für „Victory“ und skandierten „Allah Akbar“ („Gott ist groß“).37 Im Pariser 18. Bezirk, der einen hohen muslimischen Bevölkerungsanteil aufweist, feierten einzelne Muslime den Umstand, dass es Bin Laden ‚den Amerikanern gezeigt‘ habe und drohten damit, dass Frankreich das nächste Opfer sein werde. Noch Wochen nach den Anschlägen war die Stimmung sehr aufgeheizt, wie ein Fußballländerspiel zwischen Frankreich und Algerien im Oktober 2001 im Beisein der französischen Staatsspitze sehr gut illustriert. Bei diesem Freundschaftsspiel wurde im Pariser Stade de France von algerischen Fans, darunter vielen jungen Muslimen aus den französischen Vorstädten, die französische Nationalhymne ausgebuht und während des Spiels wurden wiederholt „Bin Laden, Bin Laden“-Rufe skandiert. Schließlich stürmten Hunderte von ihnen beim Spielstand von 4:1 für die ehemalige Kolonialmacht Frankreich das Spielfeld und erzwangen einen Abbruch des als ‚historisch‘ geltenden Matches.38 An diesen heftigen Reaktionen zeigte sich einmal mehr, dass sich in der zweiten Generation der französischen Muslime seit den späten 1980er-Jahren aufgrund eines Gefühls ­sozialer Marginalisierung, Diskriminierung und kultureller Entwurzelung eine 34 35

36 37 38

Vgl. Le Monde, 16./17.9.2001, 8, La Croix, 17.9.2001, 9 und La Medina, Oktober 2001, 9. Tariq Ramadan, Enkel des Gründers der Muslimbruderschaft, unterrichtet seit 2005 an der Universität Oxford und gilt als Vertreter eines Euroislam; vgl. z.B. sein auch auf Deutsch vorliegendes programmatisches Buch Tariq Ramadan, Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München 2009. Le Monde, 3.10.2001, 17. Zitiert nach France Soir, 13.9.2001, 15. Le Point, 12.10.2001, 66.

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g­ lobale muslimische Identität herausgebildet hat, wobei neben dem Nahostkonflikt auch der kolonialen Vergangenheit Frankreichs eine Katalysatorenrolle zukam.39 Während im ersten Golfkrieg 1991 in Teilen der muslimischen Community eine gewisse Solidarisierung mit Saddam Hussein beobachtet werden konnte, kam es in Frankreich wie in anderen europäischen Ländern nach dem 11. September zu einer Stärkung von islamistischen Organisationen, die die Terroranschläge verurteilten und sich von Al Kaida distanzierten, jedoch häufig auch zu Weltverschwörungstheorien neigten und dem israelischen und amerikanischen Geheimdienst für 9/11 verantwortlich machten.40 In Frankreich profitierte vor allem die an der Muslimbruderschaft orientierte UOIF (l’Union des Organisations islamiques de France), die zwar in den Vorstädten zur Beruhigung der Jugendlichen beitrug und die Gewalt in Frankreich verurteilte, allerdings einen Schariastaat anstrebt.41 Auf Betreiben von Innenminister Nicolas Sarkozy wurde 2002 der CFCM (Conseil français du culte muselman) als offizielle Interessensvertretung aller französischen Muslime ins Leben gerufen. Bei den ersten Wahlen 2003 ging die UOIF als Siegerin hervor, womit sich erstmals auch der französische Staat die Frage nach einer Zusammenarbeit mit der Muslimbruderschaft stellten musste.42

„Wir sind alle Amerikaner“ – Sind wir alle Amerikaner? Am 13. September erschien in der linksliberalen Tageszeitung Le Monde ein Leitartikel von Jean-Marie Colombani mit dem für die französische Presse ungewöhnlich euphorischen Titel „Wir sind alle Amerikaner“ („Nous sommes tous Américains“43). Ähnlich den Slogans „Wir sind alle deutsche Juden“ bei den 68er-Demonstrationen in Frankreich oder „Wir sind alle Hisbollah“ bei den Kundgebungen gegen den Krieg im Libanon 2006 fungierte 39

Vgl. dazu Paul A. Silverstein, Algeria in France. Transpolitics, Race, and Nation, Bloomington 2004 und International Crisis Group, La France face à ses musulmans. Emeutes, jihadisme et dépolitisation, Rapport Europe Nº 172 – 9 mars 2006. 40 Kepel, Die neuen Kreuzzüge, 331 f. 41 Gilles Kepel, Les banlieues de l’Islam. Naissance d’une religion en France, Paris 1991. Eine positive Sicht auf die Arbeit der Muslimbruderschaft vertritt Dounia Bouzar, L’Islam des Banlieues. Prédicateurs musulmans-nouveaux travailleurs sociaux?, Paris 2001. 42 Lorenzo Vidini, The Muslim Brotherhood in the West, New York 2010, 204 ff. 43 Jean-Marie Colombani, Nous sommes tous américains, in: Le Monde, 13.9.2001, 1 und 18.

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diese Überschrift jetzt gleichsam als Chiffre für die vorbehaltlose Solidarität mit den USA. Tatsächlich führen viele internationale Kommentatoren diesen Leitartikel immer wieder als Beispiel der französischen Solidarität, ja als Symbol für die Solidarität des gesamten Westens an.44 Bei genauer Lektüre zeigt sich jedoch, dass sich in diese vermeintlich vorbehaltlose Solidarisierung bereits äußerst kritische Töne mischten. Der Verfasser, Jean-Marie Colombani, von 1994 bis 2007 Le Monde-Herausgeber, verwies zwar einleitend auf die positive Rolle der USA im Zweiten Weltkrieg und betonte Frankreichs Dankbarkeit für seine Befreiung, konzentrierte sich dann aber auf die vielen negativen Auswirkungen, mit denen die Welt durch die Dominanz der USA nach dem Fall der Mauer zu kämpfen habe. Seiner Ansicht nach habe die USA in weiten Teilen der Welt an Attraktivität verloren und nunmehr als einzige verbliebene Supermacht (hyperpuissance) ohne machtpolitisches Gegengewicht Neid und Hass auf sich gezogen. Es folgte eine Aufzählung des gesamten ‚Sündenregisters‘ der USA, wie einerseits der Isolationismus und andererseits die falsche Akzentuierung der amerikanischen Außenpolitik u.a. im Kosovo und in Israel, wo die USA einseitig Partei ergriffen hätten. Auch der Vorwurf, dass Bin Laden ein Produkt des CIA sei, findet sich in der rhetorischen Frage, ob nicht die USA den Dämon selbst hervorgebracht habe, der sie jetzt vernichten würde. Trotz dieser Kritik an den USA lassen zahlreiche ablehnende Leserzuschriften annehmen, dass selbst diese oberflächliche Solidarität des Le Monde- Leitartikels keineswegs auf allgemeine Zustimmung stieß.45 Es gibt Hinweise, dass das Bekenntnis „Wir sind alle Amerikaner“ auch innerhalb der Le Monde-Redaktion manchen zu weit gegangen ist.46 All das belegt, dass eine Reduktion des mittlerweile prominent gewordenen Le Monde-Leitartikels auf seinen Titel seiner vielschichtigen, bereits offen US-kritischen Argumentation nicht gerecht wird. Der Leitartikel ist auch insofern von Bedeutung, da er keineswegs nur einer links-liberalen Haltung entsprach, sondern eine allgemeine Tendenz der französischen Berichterstattung zum 11. September wiedergibt.47 Nicht nur in der links­ 44 Vgl. exemplarisch Timothy Garton Ash, Freie Welten. Europa, Amerika und die Chance der Krise, München-Wien 2004, 21; Raimund Löw, Einsame Weltmacht. Die USA im Abseits, Salzburg 2007, 5. 45 Vgl. die US-kritischen Leserbriefe in Le Monde, 16./17.9.2001, 18. 46 Vgl. den Artikel von Robert Solé, Tous Afghans? als Replik auf den Artikel von Colombani in: Le Monde, 23./24.9.2001, 16. 47 Vgl. dazu auch Le Monde, 13.9.2001, 18; Libération, 14.9.2001, 4; 19.9.2001, 22; 20.1.2001, 17;

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liberalen Libération48 zogen prominente Verfasser von Leitartikeln und Editorials ähnliche Schlüsse wie Jean-Marie Colombani, auch der rechtskonservative Le Figaro veröffentlichte bereits am 13. September Leserbriefe, die die amerikanische Außenpolitik vom ersten Golfkrieg bis zum Kosovokonflikt für die Terroranschläge verantwortlich machten.49 Jean-François Revel, 2006 verstorbenes Mitglied der Académie française und überzeugter Verteidiger der USA, fasste die Tendenz der 9/11-Berichterstattung wie folgt zusammen: „Am 11. und 12. September, vor den Trümmern und den Tausenden Leichen, waren wir ‚alle Amerikaner‘. Aber nach 48 Stunden wurden Misstöne hörbar. Musste/sollte man nicht nach den ­tiefer liegenden Ursachen, nach den ‚Wurzeln‘ des Übels, das die Terroristen zu ihrer zerstörerischen Handlung verleitet hatte, fragen? Trugen die Vereinigten Staaten nicht eine Teilverantwortung für ihr eigenes Unglück? Sollte man nicht das Leiden der armen Länder und den Kontrast ihrer Armut mit dem amerikanischen Reichtum in Betracht ziehen?“50 Wesentlich stärker als in Deutschland wurde in Frankreich wie auch in Großbritannien das Themenfeld Israel/Palästina mit den Anschlägen vom 11. September verknüpft. Exemplarisch kann dafür das französische Wochenmagazin L’Express angeführt werden, das bereits in seiner ersten Ausgabe nach den Anschlägen den Konnex Israel-9/11 in der Karikatur eines Trauerzuges zum Ausdruck brachte.51 Darin wurde Israel einmal mehr durch militärische Symbole (Ariel Sharon in einem Panzer die palästinensische Fahne überrollend), die auf problematische Weise mit einem Davidstern verbunden sind, dargestellt. Die Karikatur transportierte aber noch eine weitere Botschaft: Indem der Trauerzug von der zerstörten Stadt New York angeführt wird und ein kriegerischer Sharon den Abschluss bildet, werden die beiden Narrative (9/11 und Intifada) miteinander verwoben und die Anschläge in den USA somit als Ursache von Sharons brutaler Politik gegenüber den Palästinensern gedeutet. Noch deutlicher formulierte es der Verfasser eines Leserbriefes in der rechtskonservativen Zeitung Le Figaro: L’Express, 13.9.2001, 17. Vgl. Serge July (Mitbegründer von Libération und von 1973 bis 2006 Direktor dieser Zeitung), Die neue Weltunordnung, in: Libération, 13.9.2001 sowie das von Jacques Amalrich verfasste Editorial vom 14. September 2001, 4. 49 Le Figaro, 13.9.2001, 20. 50 Revel, L’Obsession Anti-Américaine, 113 f. 51 L’Express, 20.9.2001, 3. 48

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Karikatur eines Trauerzuges: Israels Politik gegenüber den Palästinensern als Ursache für die Anschläge in New York? Karikatur aus L’Express vom 20. September 2001.

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Sharon habe mit dem von den USA geduldeten Tempelberg-Besuch den Palästinensern nicht nur Verachtung entgegengebracht, sondern mit den Terroranschlägen vom 11. September einen „Dritten Weltkrieg“ ausgelöst.52

Aktuelle Formen des französischen Antiamerikanismus In Frankreich gibt es seit dem 18. Jahrhundert einen Antiamerikanismus, der neben politischen vor allem auch zahlreiche kulturelle Facetten aufweist und in konjunkturellen Schüben immer wieder manifest wurde.53 Auch nach dem 11. September vermischte sich die Kritik an der Politik der USA teilweise mit mehr oder weniger verhüllten Ressentiments gegen die amerikanische Gesellschaft und deren Wertvorstellungen an sich. Noch bevor der Krieg in Afghanistan beschlossen war, wurden die USA beispielsweise als eine aggressive, kriegerische Nation charakterisiert.54 Besonders deutlich kam diese weit verbreitete Zuschreibung in einer in Le Monde veröffentlichten Karikatur des bekannten Karikaturisten Plantu zum Ausdruck: Darin wurde die verwundete und erniedrigte amerikanische Nation schlagartig zu einer kriegerischen Macht, symbolisiert in den Stahlruinen des zerstörten WTC, die sich zu Raketen verwandelten. 55 Viele französische Medien griffen auch auf den klassischen antiamerikanischen Bilderfundus zurück und machten Materialismus, Gewinnsucht, Sitten- und Kulturlosigkeit, Uniformität, Wurzellosigkeit und Dekadenz 52 53

54 55

Le Figaro, 13.9.2001, 20. Zum Antiamerikanismus in Frankreich gibt es neben den bereits genannten Büchern noch eine Fülle von Sekundärliteratur z.B. Richard F. Kuisel, The Gallic Rooster Crows Again. The Paradox of French Anti-Americanism, in: French Politics, Culture & Society 19 (2001), 1–16; Richard Golsan, From French Anti-Americanism and Americanization to the “American Enemy”, in: Alexander Stephan (Hg.), The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945, New York-Oxford 2007, 44–68; Colin Nettelbeck, AntiAmericanism in France, in: Brendon O’Connor (Hg.), Anti-Americanism. History, Causes, and Themes, Oxford 2007, 131–154; Denis Lacorne, Anti-Americanism and Americanophobia: A French Perspective, in: ders./Tony Judt, With Us or Against Us. Studies in Global AntiAmericanism, New York-Basingstoke 2005, 35–58; Pierre Rigoulot, Antiamerikanische Stereotypen im heutigen Frankreich, in: Rudolf von Thadden (Hg.), Amerika und EuropaMars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen 2004, 123–132. Zum Stereotyp der „kriegerischen Nation“ vgl. exemplarisch Libération, 17. 9.2001, 4; France Soir, 17.9.2001, 2. Karikatur abgebildet in: Le Monde, 16/17.9.2001, 1.

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Anspielung auf das Klischee vom „kriegerischen Amerika“. Karikatur aus Le Monde, 16./17.9.2001, 1; Zeichnung: Plantu © Published with Plantu’s authorization.

als Ursache für die Terroranschläge mitverantwortlich. Diese traditionelle Form eines populären oder kulturellen Antiamerikanismus vermischte sich häufig mit einer Suada gegen die amerikanische Außenpolitik.56 Neben dem Vorwurf der Arroganz57 und Rachsucht taucht immer wieder der Vorwurf der Dummheit im Sinne von naiv, unintellektuell, bigott und nicht zuletzt uneinsichtig und somit resistent gegenüber jeder Form von Kritik auf. In einem Interview mit der kommunistischen L’Humanité charakterisierte Eric Rouleau, langjähriger Le Monde-Journalist und ehemaliger französischer Botschafter in Tunis, die USA als eine vom Materialismus dominierte „ungebildete Gesellschaft“ mit einer tendenziell rechten politischen Kultur, deren Nation allein durch den Glauben an die Marktwirtschaft, den freien Wettbewerb und die Konkurrenz zusammengehalten werde. Daraus zog er den Schluss, dass die amerikanische Bevölkerung unfähig sei, sich mit den realen Anforderungen der Welt auseinanderzusetzen.58 56 57 58

Vgl. exemplarisch den Artikel von Denis Jeambar und Alain Louyot in: L’Express, 13.9.2001, 17 sowie den Kommentar des Politikprofessors Sami Naïr in: Libération, 25.9.2001, 15. Exemplarisch dazu Le Monde, 27.9.2001, 12. http://www.humanite.fr/popup_print.php3?id_article=250798 (16.11.2006).

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Teilweise wurde auch Präsident Bush, der in Frankreich mit ähnlichen Stereotypen behaftet war wie im übrigen Europa, zum Symbol für die gesamte US-amerikanische Gesellschaft. Stellvertretend dafür vertrat Eric Le Braz in der konservativen Tageszeitung France Soir die Ansicht, dass Bush ein Volk verkörpere, „dessen Werte ein Kondensat des Alten Testaments und der Eroberung des Westens bilden, die Bibel in der einen Hand, die Winchester mit abgesägtem Lauf in der anderen.“59 Auch in Teilen der französischen Gesellschaft lebte nach dem 11. September die uralte Vorstellung in modifizierter Form wieder auf, dass Städte, die sich nur dem Kommerz und dem Vergnügen und nicht der religiösen Verehrung verschrieben, mit Bestrafung zu rechnen hätten.60 Die Metropole New York fungierte – und das schon lange vor 9/11 – weltweit als Objekt sowohl negativer als auch positiver Imaginationen und Projektionen, als Verkörperung der Moderne mit all ihren positiven und negativen Auswirkungen. Auch in einem Kommentar in der Libération wurde New York zum Symbol für eine verdorbene sündige Stadt, zum „Babel des 20. Jahrhunderts“.61 Louis-Marie Nindorera, damals Sekretär der burundischen Menschenrechtsliga in Frankreich, sprach in einem Kommentar in derselben Zeitung von New York als einem „modernen, künstlich erzeugten Eldorado“, in dessen „vollgestopften Straßen die Menschen wie Goldsucher herumwühlen (würden), künstlich beleuchtet von der Firma Dreamworks“. Zu guter Letzt rief die amerikanische Konsumgesellschaft mit ihrem übersteigerten Materialismus in ihm, den Aktivisten aus der sogenannten Dritten Welt, die biblische Erzählung vom ‚Goldenen Kalb‘ und dem göttlichen Zorn, den dessen Verehrung entfesselt habe, wach.62 Auch in Intellektuellenkreisen bediente man sich – wenn auch anders formuliert – ähnlicher Denk- und Argumentationsschemata. Am 3. November erschien in Le Monde der aus der Feder des postmodernen Philosophen und Medientheoretikers Jean Baudrillard (1929–2007) stammende Kommentar „Der Geist des Terrorismus“.63 Für Baudrillard hatte die amerikanische Supermacht durch ihre „unerträgliche Übermacht“ und ihren 59 France Soir, 26.9.2001, 17. 60 Dazu vgl. auch Ian Buruma/Avishai Margalit, Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, Wien 2005, 28 f. 61 Kommentar der Ethnologin und Anthropologin Anne Raulin in: Libération, 5.10.2001, 7. 62 Kommentar von Louis-Marie Nindorera in: Libération, 3.11.2011, 11. 63 Le Monde, 3.11.2001, 10. Alle folgenden Zitate sind diesem Artikel entnommen.

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Machtzuwachs nicht nur die Gewalt, sondern auch die „terroristische Fantasie“ selbst geschürt. Speziell die Türme des World Trade Centers verkörperten für den Philosophen eine „Verdoppelung dieser Macht“, die bei vielen Menschen Abneigung erzeugt und somit zu ihrer eigenen Zerstörung beigetragen habe. Die Terroristen hätten, so Baudrillard weiter, zwar den Anschlag geplant, letztendlich hätten sich aber „alle“ danach gesehnt. Damit sei der Westen an seiner eigenen Zerstörung mitbeteiligt gewesen und habe der Welt den „Vierten Weltkrieg“ (den Kalten Krieg bezeichnete er als den „Dritten Weltkrieg“) erklärt, der nunmehr um oder besser: gegen die Globalisierung geführt werde. Obschon in eine hochtheoretische Rhetorik gekleidet, reproduzierte Baudrillard damit die allgemein verbreiteten Argumentationslinien des Antiglobalisierungsdiskurses und der Schuldumkehr. Diese Ausführungen blieben allerdings nicht unwidersprochen: So warf Alain Minc dem Starphilosophen Baudrillard vor, einen „Terrorismus des Geistes“ zu betreiben und er sah darin sogar die „Wiederauferstehung der alten Dämonen des intellektuellen Totalitarismus“.64 Auch der Philosoph Bernard-Henri Lévy fand Baudrillards These, dass die „USA als Speerspitze der Globalisierung“ gewissermaßen selbst schuld an ihrem Unglück wären und den Terrorismus selbst erschaffen hätten, schlichtweg als „widerwärtig“.65 Dennoch wurde der Text umgehend ins Deutsche übersetzt und erschien noch 2001 in einem Sammelband.66

„Advocati Diaboli“ – Französische Intellektuelle an der Seite Amerikas Im Unterschied zu Deutschland und Großbritannien gab es in Frankreich Intellektuelle, die sich mehr oder weniger vorbehaltlos an die Seite der USA stellten und im öffentlichen Diskurs große Aufmerksamkeit erhielten. Französische Leitmedien und das Fernsehen boten ihnen eine öffentliche Plattform, wodurch sie die Debatten nach dem 11. September nicht unwesentlich mitgestaltet haben. Zu den ‚Anwälten‘ der USA zählten vor allem die 64 Le Monde, 7.11.2001, 1 und 15. 65 Interview mit Bernard-Henri Lévy, in: Der Spiegel, Nr. 49, 3.12.2001, 212. Zur Kritik an Baudrillard vgl. Denis Lacorne, Anti-Americanism and Americanophobia, in: Judt/Lacorne, 49 f. 66 Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, in: Hilmar Hoffmann/Wilfried F. Schroeder (Hg.), Wendepunkt 11.September 2001. Terror, Islam und Demokratie, Köln 2001, 53–64.

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in Frankreich allgemein als ‚Neue Philosophen‘ bekannten Intellektuellen wie André Glucksmann, Pascal Bruckner, Alain Finkielkraut und BernardHenri Lévy: Als Anhänger maoistisch-marxistischer Theorien gehörten sie zu den Wortführern der 68er-Bewegung, hatten aber – desillusioniert von den blutigen und gewaltsamen Ausprägungen und Entwicklungen des Realsozialismus (z.B. Niederschlagung des Prager Frühlings 1968) – mittlerweile eine ideologische Neuorientierung vollzogen. Zu den Kennzeichen ihrer Philosophie gehört unter anderem die Annahme, dass ‚das Böse‘ die Welt immer und überall durchdringe und dies in bestimmten Fällen auch militärische Gewalt, wie beispielsweise im Jugoslawienkrieg, rechtfertige.67 Die ‚Neuen Philosophen‘ wurden in den letzten Jahren wiederholt als Unterstützer Israels und der USA sowie als Vertreter des Neoliberalismus und der wirtschaftlichen Globalisierung wahrgenommen, was ihnen in l­inken und globalisierungskritischen Kreisen den Ruf als „neue Reaktionäre“ einbrachte.68 Im Unterschied zur weit verbreiteten Meinung, dass Armut und Unterentwicklung in der sogenannten Dritten Welt und der ungelöste Nahostkonflikt als Ursache für die Anschläge vom 11. September zu gelten hätten, sahen sie auf Seiten der Täter einen puren Hass gegen „den Westen“ am Werk, gegen den auch eine veränderte Politik der USA nichts ausrichten könne. Pascal Bruckner führte dazu in Le Monde aus: „Wenn morgen die amerikanischen Truppen ihre Stützpunkte in Saudi-Arabien räumen würden, wenn die UN-Blockade gegen den Irak aufgehoben wäre, wenn sogar Israel von der Landkarte ausradiert wäre, würden sie um nichts weniger ihren tödlichen Kreuzzug fortsetzen. Wir können gerne mit dem Finger auf die USA zeigen, die lange Sündenliste herunterbeten, uns über die ihnen zugefügte Erniedrigung freuen, aber wir sitzen alle im selben Boot.“69 Die Triebfeder für den islamistischen Terrorismus sieht Bruckner hingegen im Nihilismus, einem Todes- und Zerstörungstrieb, der auch für andere faschistische Systeme kennzeichnend sei und sich nunmehr durch den Einsatz moderner Technik zu einem „monströsen Fundamentalismus“ 67 Vgl. Yves Bizeul, André Glucksmanns Weg zum Leitintellektuellen – Aufstieg und Fall, in: Harald Bluhm/Walter Reese-Schäfer (Hg.), Die Intellektuellen und der Weltlauf. Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945, Baden-Baden 2006, 171–193, hier 180. 68 Vgl. den Artikel von Maurice T. Maschino in der Ausgabe von Le Monde diplomatique, Oktober 2002 (CD-ROM). 69 Le Monde, 26.9.2001, 13.

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verbinde.70 Der Philosoph André Glucksmann stellte in Abwandlung der cartesianischen Formel „Ich denke, also bin ich“ folgende „nihilistische Gleichung“ auf: „Ich töte und sterbe, also bin ich“.71 Seiner Meinung nach ist dem Nationalsozialismus, dem Kommunismus wie auch dem Islamismus diese Vernichtungsmotivation immanent. Da ‚das Böse‘ heute vor allem in Gestalt des religiös (sprich islamistisch) motivierten Terrorismus daherkomme, sprach er in diesem Zusammenhang von einem „grünen Faschismus“. Glucksmann wies allerdings auch kritisch darauf hin, dass sowohl die USA als auch Russland durch ihre Politik in Afghanistan sowie unter Präsident Putin in Tschetschenien den islamistischen Fundamentalismus „gezüchtet“ hätten.72 Generell kann man festhalten, dass die ‚neuen Philosophen‘ nach dem 11. September trotz einiger kritischer Zwischentöne letztendlich für die USA Partei ergriffen und Antiamerikanismus als Zeichen der Schwäche des „alten Kontinents“ zu entlarven versuchten.73 Wie wir noch sehen werden, nahmen sie auch in den Diskussionen über den Irakkrieg 2003 in Frankreich eine überaus exponierte Haltung ein, die der öffentlichen Mehrheitsmeinung im Land diametral entgegenstand.

Der ‚Krieg gegen den Terror‘: Solidarität, Zweifel und erste Proteste Unmittelbar nach den Anschlägen in den USA rief die NATO den „Bündnisfall“ aus, der sich nach Artikel 5 des NATO-Vertrages auf das gesamte Bündnis bezog und somit auch Frankreich, das damals dem militärischen Teil der NATO nicht angehörte, mit einschloss. Trotz Frankreichs ambi­ valenter Beziehung zur NATO hatten sich die politischen Vertreter mit dem „Bündnisfall“ solidarisch erklärt. Was eine militärische Beteiligung Frankreichs am Afghanistankrieg betraf, gab es aber in den jeweiligen politischen Fraktionen unterschiedliche Sichtweisen und Akzentuierungen: Vertreter 70 Le Figaro, 13.9.2001, 17. 71 Ebd. 72 Le Figaro, 27.9.2001, 12 und Bizeul, André Glucksmanns Weg zum Leitintellektuellen, 182 und 186; vgl. weiters André Glucksmann, Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt, Wien 2005. 73 Vgl. Pascal Bruckner, Les Paradoxes de l’Antiaméricanisme, in: Le Meilleur des mondes (Frühling 2006) 1, 35–39 und Le Figaro, 13.9.2001, 17.

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des proamerikanischen, sogenannten atlantischen Flügels rechtskonser­ vativer Oppositionsparteien (z.B. Pierre Lellouche, Alain Madelin) postulierten eine unumschränkte, „totale“ Solidarität auch in militärischen Belangen und propagierten ein enges, gemeinsames Vorgehen gegen den „islamischen Faschismus“.74 In der linken Regierungskoalition hingegen ging die Angst um, dass die Diskussionen über eine militärische Beteiligung Frankreichs wie bereits 1991 im Laufe des ersten Irakkrieges zu einem schweren Zerwürfnis führen könnten. Damals war der Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement zurückgetreten, da er die vom damaligen Präsidenten François Mitterrand befürwortete Beteiligung Frankreichs an einer Militärintervention im Irak nicht mittragen wollte.75 Die französischen Grünen und die kommunistische Partei forderten eine „richtige“ parlamentarische Debatte mit anschließender Abstimmung über die Entsendung militärischer Kontingente nach Afghanistan, wie sie auch 1991 geführt worden war.76 Unmittelbar vor Beginn der Kampfhandlungen in Afghanistan legte Premierminister Lionel Jospin nochmals die grundsätzliche Haltung Frankreichs dar, die man mit der Formel „Auf Seiten der USA, nicht dahinter“77 resümieren kann. In anderen Worten ausgedrückt: Frankreich wollte als gleichberechtigter Partner der USA anerkannt werden und nicht blind den Befehlen aus Washington Folge leisten. Die französische Bevölkerung befürwortete Meinungsumfragen zufolge mehrheitlich einen US-Militärschlag in Afghanistan, sowohl vor als auch nach Ausbruch der Kampfhandlungen.78 Sympathisanten der Linken standen den Angriffen allerdings ablehnender gegenüber als Anhänger der Rechten. In der Frage einer französischen Beteiligung an der Militäroffensive sprach sich ebenso die Mehrheit für ein Engagement aus, wobei auch hier wiederum

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Le Figaro, 19.9.2001, 15 und Libération, 14.9.2001, 28. Auch der frühere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing (1974-1981) sprach sich für eine „unverbrüchliche Solidarität“ und ein gemeinsames militärisches Vorgehen aus; vgl. Le Monde, 22.9.2001, 15. 75 http://www.humanite.fr/popup_print.php3?id_article=251587 (14.5.2007); Vgl. auch Le Monde, 22.9.2001, 4. 76 Le Monde, 12.10.2001, 20. 77 Vgl. einen Auszug der Grundsatzrede des damaligen Premierministers Lionel Jospin in: Le Monde, 5.10.2001, 3. 78 Vgl. dazu die Ergebnisse der Umfragen des französischen Meinungsforschungsinstitutes CSA unter http://www.csa-tmo.fr/dataset/data2001/opi20010915a.htm (19.7.2007) und http://www. csa-tmo.fr/dataset/data2001/opi20011013a.htm (19.7.2007).

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ein Links-Rechts-Gefälle feststellbar ist.79 Vier Wochen nach dem Ausbruch der Kämpfe in Afghanistan war die französische Bevölkerung allerdings nicht mehr vom Erfolg derselben überzeugt: 47 Prozent befürchteten ein Scheitern und nur 17 Prozent glaubten weiterhin an einen Erfolg.80 Eine überwiegende Mehrheit (77%) stimmt der Aussage zu, dass die Luftschläge den Konflikt auf andere Länder der Region auszuweiten drohen und mehr als zwei Drittel der Befragten (69%) meinten, dass „die Amerikaner ihre eigenen Interessen in dieser Angelegenheit verteidigen.“81 Diese Befürchtungen änderten aber nichts daran, dass im Jahr 2002 noch immer 63 Prozent der Franzosen ein positives Bild von den USA hatten.82 Gegen die Militärintervention in Afghanistan formierte sich auch in Frankreich eine Oppositionsbewegung, die vor allem von linken Gewerkschaften, politisch linksorientierten Parteien und humanitären Organisationen getragen wurde und ähnliche Argumente gegen einen Militärschlag vorbrachte wie im restlichen Europa. Die Antikriegsbewegung erzielte ­allerdings noch nicht die Breitenwirksamkeit der späteren Proteste im Vorfeld des Irakkrieges. Einer landesweiten Demonstration am 11. Oktober schlossen sich in Paris nur zwischen 6000 und 7000 Personen an, nur ­einige hundert in anderen Großstädten des Landes.83 Eine Medienkontroverse löste insbesondere die exponierte Haltung des prominenten Vertreters der französischen Grünen Noël Mamère84 aus, der die Bombardements als „Kriegsakt gegen das afghanische Volk“ und später als Racheakt bezeichnete.85 Auch Flugblätter und Appelle gegen den Afghanistankrieg kursierten in der Öffentlichkeit: Mehr als 600 französische Intellektuelle unterzeichneten den Aufruf „Dieser Krieg ist nicht der unsrige“86. Darin sprachen sie sich nicht nur gegen einen „imperialen Kreuzzug“ der USA in Afghanistan aus, sondern stellten auch 79 http://www.csa-tmo.fr/dataset/data2001/opi20011013a.htm (19.7.2007). 80 Vgl. das Ergebnis des französischen Meinungsforschungsinstituts IPSOS http://www.ipsos.fr/ Canalipsos/poll/7445.asp?rubId=26&print=1 (19.7.2007). 81 Vgl. http://www.csa-tmo.fr/dataset/data2001/opi20011013a.htm (19.7.2007). 82 Vgl. das Ergebnis des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research http://people-press.org/ report/165/what-the-world-thinks- in-2002 (6.10.2010). 83 La Croix, 31.10/1.11.2001, 5. 84 Noël Mamère: Langjähriger Abgeordneter der französischen Grünen, 1994–1997 EUAbgeordneter und 2002 Präsidentschaftskandidat der Grünen. 85 Kommentar des ehemaligen Direktors des Büros des „Time Magazin“ in Paris in: Le Monde., 20.10.2001, 16 sowie die Replik von Noël Mamère in: ebd., 31.10.2001, 16. 86 Flugblatt im Besitz des Verfassers.

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eine Beziehung zum israelisch-palästinensischen Konflikt her, indem sie die bedingungslose Rückgabe der seit 1967 von Israel besetzten Gebiete und die unverzügliche Anerkennung eines souveränen palästinensischen Staates forderten. Ein anderes Autorenkollektiv, darunter der Verfasser des Schwarzbuch des Kommunismus Stéphane Courtois und der Historiker Pierre Rigoulot, reagierte mit der Gegendarstellung „Dieser Krieg ist der unsrige“, worin der Afghanistankrieg mit der Begründung gerechtfertigt wurde, dass „angesichts einer totalitären Organisation, die vor keiner Form der Gewalt zurückschreckt“, Staatsgewalt rechtmäßig sei. In dem Aufruf findet sich auch noch ein historischer Verweis auf die Befreiung Frankreichs 1943/44, die ebenfalls zivile Opfer gefordert habe und es dennoch niemand in den Sinn gekommen wäre, die Bombardements der Alliierten infrage zu stellen.87 Trotz dieser kritischen Stimmen in den Reihen der linksliberalen Regierung erklärte sich die politische Führung Frankreichs mit der US-Militäraktion in Afghanistan einverstanden und entsandte auch Kriegsschiffe in die Region. Die sowohl innerhalb der politischen Parteien wie in der Zivilgesellschaft aufgebrochenen Risse konnten 2001 noch weitgehend gekittet werden, die nationale Allianz gegen den Terror zerbröckelte allerdings endgültig im Vorfeld des Irakkrieges.

Irakkrieg 2003: Pazifismus und humanitärer Interventionismus Bereits im Vorfeld des Krieges musste Frankreich im Zuge der Präsidentschaftswahlen eine heftige innenpolitische Kraftprobe durchstehen. Im Frühjahr 2002 gelangte Jean-Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat des rechtsextremen Front National in die zweite Runde und forderte den amtierenden Präsidenten Jacques Chirac in einem zweiten Wahldurchgang heraus. Mit landesweiten Anti-Le-Pen-Demonstrationen sowie einem eindeutigen Votum von mehr als 80 Prozent der Stimmen für Chirac demonstrierte Frankreich jedoch einen nationalen Schulterschluss gegen den Rechtsextremismus. Bei den anschließenden Parlamentswahlen ging die konservative UMP als siegreiche Partei hervor, somit war die Cohabitation beendet und Präsident (Chirac) und Premierminister ( Jean-Pierre Raffarin) gehörten wieder derselben politischen Couleur an. Durch eine 87

Le Monde, 8.11.2001, 16 und 10.11.2001, 16.

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neue Welle antijüdischer Anschläge in französischen Vorstädten nach einer neuerlichen Eskalation der Zweiten Intifada geriet Frankreich im Frühjahr 2002 erneut in den Fokus der Weltöffentlichkeit und wurde teilweise auch als das „antisemitischste Land“ Europas apostrophiert.88 Am 1. Jänner 2003 übernahm Frankreich turnusmäßig den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Zu diesem Zeitpunkt hatte Frankreich eine Beteiligung am Irakkrieg unter bestimmten Bedingungen, wie die Zustimmung der UNO, noch nicht prinzipiell abgelehnt. Noch in seiner Neujahrsansprache an die Abordnungen der französischen Armee am 7. Jänner 2003 schloss Chirac einen Krieg nach Ausschöpfen aller diplomatischen Mittel als Ultima ratio nicht kategorisch aus und forderte die Militärs auf, sich bereitzuhalten.89 In den folgenden Tagen und Wochen spitzten sich allerdings die unterschiedlichen Positionen mehr und mehr zu: Vor allem die Aussage des damaligen amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, der von einem „alten“ und „neuen“ Europa sprach, erzürnte den französischen Präsidenten. Das Prädikat „alt“ hatte Rumsfeld vor allem abwertend auf Frankreich (und auch Deutschland) gemünzt und mit „neu“ die Verbündeten Spanien, Großbritannien sowie einige osteuropäische Staaten (Vilnius 10) gemeint, die den USA ihre volle Unterstützung bekundet hatten. Chirac, der diese Zuschreibung als Beleidigung empfand, reagierte mit einer heftigen Schelte in Richtung dieser osteuropäischen Verbündeten der USA, indem er sie als „schlecht Erzogene“ bezeichnete, die eine „gute Gelegenheit, zu schweigen verpasst“ hätten und er drohte ihnen mit einem französischen Veto gegen ihren anvisierten EU-Beitritt.90 Im UNO-Sicherheitsrat drohte der französische Präsident mit einem Veto gegenüber einer weiteren Resolution, sofern diese bei Nichtbeachtung eines Ultimatums für den Irak einen Kriegsautomatismus inkludiert hätte. In öffentlichen Statements warnte er auch vor einer Zunahme von Extremismus und Terrorismus in der muslimischen Welt als Folge eines Krieges.91 Abgesehen von diesen aktuel88

Vgl. dazu Pierre-André Taguieff, Angesichts einer neuen Judeophobie: Eine Herausforderung für Frankreich, in: Christina von Braun/Eva-Maria Ziegel (Hg.), Das bewegliche Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, 193–199 und Muckenhumer, Der gegenwärtige Antisemitismus als „kultureller Code“, 64 und 65. 89 Vgl. L’Humanité, 9.1.2003, 4. 90 Zitiert nach Aeschimann/Boltanski, Chirac d’Arabie, 280. 91 Vgl. Philipp H. Gordon/Jeremy Shapiro, Allies at War. America, Europe, and the Crisis over Iraq, New York 2004, 90.

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len real- und geopolitischen Divergenzen mit den USA haben in Frankreich sicher auch dessen koloniale Vergangenheit, Chiracs persönliche Erlebnisse im Algerienkrieg sowie die Angst vor einer sich aufschaukelnden Gewaltspirale auch im eigenen Land, die Debatte um den Irakkrieg stark beeinflusst.92 Frankreich gehörte somit neben Deutschland zu jenen Ländern, in denen nicht nur die Bevölkerung sondern auch die politische Führung einen militärischen „Präventivschlag“ der USA gegen den Irak ohne UN-Mandat ablehnte. Die USA betrachteten Frankreich als Anführer der Antikriegsallianz, das daher zunehmend Spott und Hohn ausgesetzt war: Die „French Fries“ wurden in den USA demonstrativ in „Freedom Fries“ umbenannt und Präsident Chirac wurde als Profiteur vom Ende der Sanktionen gegen ­Saddam Hussein, der bei Frankreich hoch verschuldet war, hingestellt. Polemisch zugespitzt charakterisierte der konservative US-Intellektuelle Robert Kagan die Konfrontation zwischen Frankreich und den USA als Dichotomie von „Mars“ und „Venus“.93 Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen hat sich das Amerikabild in der französischen Bevölkerung wieder zusehends verschlechtert: 2003 hatten nur noch 42 Prozent ein positives Bild von den USA und 2004 waren es lediglich 37 Prozent.94 Während Chirac in den USA und auch in der britischen Boulevardpresse zur Feindfigur wurde, konnte er sich im eigenen Land zunehmender Beliebtheit erfreuen. In Le Figaro verlieh ihm ein Leserbriefschreiber sogar den Titel „Ehrenretter Frankreichs“95 und gemeinsam mit seinem Außenminister Dominique de Villepin wurde Chirac als Verkörperung des „französischen Widerstands gegenüber dem amerikanischen Vormachtstreben“96 hingestellt. Die Veto-Haltung Chiracs evozierte auch einen Vergleich mit 92 Vgl. dazu Irwin M. Wall, Anti-Americanism in France and the Crisis over Iraq, in: O’Connor/ Griffiths (Hg.), Anti-Americanism, 19–39, besonders 32, und Heiko Engelkes, König Jacques. Chiracs Frankreich, Berlin 2005, vor allem 224. 93 Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003; Le Figaro, 6.3.2003, 1 und 12 sowie die Interviews mit dem französischen USA-Experten Philippe Roger in Le Point, 14.3.2003, 36/37 und Le Monde, 13.3.2003, 17; vgl. dazu auch den Beitrag über die US-amerikanische Sicht auf Europa von Reinhard Heinisch im vorliegenden Band. 94 Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts PEW http://people-press.org/ report/185/views-of-a-changing- world-2003 (7.10.2010). 95 Dazu den Leserbrief in Le Figaro, 20.3.2003, 16. 96 Le Figaro, 20.3.2003, 4.

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der US-kritischen Politik Charles de Gaulles in den 1960er-Jahren, als dieser versucht hatte, Frankreich durch eine Politik der Äquidistanz zwischen den beiden Machtblöcken und durch eine Annäherung an die blockfreien Staaten und die arabische Welt als Großmacht zu etablieren.97 Vereinzelt wurde Chirac auch der Status von anderen bedeutenden Politikern Frankreichs wie Aristide Briand98 oder des früheren US-Präsidenten Woodrow Wilson attestiert.99 Im Gegensatz zum ersten Golfkrieg 1991, in dem sich Frankreich der Kriegsallianz gegen Saddam Hussein unter UN-Mandat angeschlossen hatte, herrschte zwölf Jahre später zwischen der konservativen Regierung und der Opposition weitgehend Konsens darüber, dass ein Angriff auf den Irak verhindert werden müsse und sich Frankreich daran nicht beteiligen dürfe. Dieser „concorde antiguerre“100 (Eintracht gegen den Krieg) umfasste mit wenigen Ausnahmen das gesamte Parteienspektrum Frankreichs. Auch ehemalige hochrangige Politiker, wie die sozialistischen Premierminister Lionel Jospin und Laurent Fabius oder Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement, unterstützten in Kommentaren in unterschiedlichen Medien die offizielle Position Frankreichs.101 Eine besonders US-kritische Haltung nahmen sämtliche Parteien an den rechten Rändern ein: Die Front National von Jean-Marie Le Pen hatte bereits 1991 gegen einen Einsatz französischer Truppen im Irakkrieg votiert und demonstrative Solidarität mit dem Regime von Saddam Hussein und der irakischen Bevölkerung bekundet, zwölf Jahre später verurteilte die Partei erneut die „anglo-amerikanische Armada, die die Kolonialpolitik des Kanonenbootes zu neuem Leben erweckt“.102 Wie in anderen europäischen Ländern mehrten sich im Jänner 2003 die Kundgebungen gegen einen Krieg im Irak, wozu ein „Kollektiv“ von vierzig linken, muslimischen und NGO-Organisationen aufgerufen hatte.103 Die 97 Le Monde, 23./24.2.2003, 12. 98 Der mehrfache Minister und Friedensnobelpreisträger Aristide Briand galt als Mann des Ausgleichs und der Versöhnung mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, der amerikanische Präsident Wilson war Hauptinitiator des Völkerbundes und Proponent des „Prinzips des Selbstbestimmungsrechts der Völker“ nach 1918. 99 Vgl. Aeschimann/Boltanski, Chirac d’Arabie, 275 und Libération, 1./2.3.2003, 37. 100 Libération, 20.3.2003, 15. 101 Vgl. Le Monde, 11.1.2003, 1 und 4; Le Figaro, 25.2.2003, 12 und 28.2.2003, 1 und 12. 102 Zitiert nach Le Monde, 8.2.2003, 8. 103 Vgl. L’Humanité, 17.1.2003, 3; Marianne, 20.–26.1.2003, 19.

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zuerst von linken Gruppierungen dominierte Opposition gegen den Irakkrieg entfaltete auch in Frankreich eine Mobilisierungsdynamik, die bald breite Bevölkerungskreise einschloss. Wie in vielen anderen europäischen Metropolen fanden auch in Frankreich die größten Demonstrationen am 15. Februar 2003 statt: In 72 Städten des gesamten Landes versammelte sich ungefähr eine halbe Million Menschen, unterstützt von Politiker/inn/n aller politischen Schattierungen, von Marie-George Buffet (Kommunistische Partei), Yves Cochet (Grüne) über François Hollande (Sozialistische Partei) bis hin zur rechtsextremen Marine Le Pen, der Tochter von Jean-Marie Le Pen.104 Manche fühlten angesichts dieser heterogenen Anti-Kriegskoalition auch ein gewisses Unbehagen: Alain Juppé, der frühere französische Premierminister und Parteikollege Chiracs, stellte sich zwar vorbehaltlos auf die Seite der Regierung, verspürte aber wenig Freude, Seite an Seite mit „Pazifisten aller Art und Profis des Antiamerikanismus“ zu marschieren.105 Im Vergleich zu Deutschland, Italien und Großbritannien gingen in Frankreich am 15. Februar allerdings wesentlich weniger Demonstranten gegen den drohenden Irakkrieg auf die Straße. Mit den Antikriegsprotesten griffen auch wieder Intellektuelle vermehrt in die Debatte ein. Einen Anstoß dafür gab der von prominenten US-Wissenschaftern und -Künstlern (z.B. Noam Chomsky, Edward Saïd, Martin Luther King III) unterzeichnete Appell „Nicht in unserem Namen“, der von zahlreichen französischen Kollegen wie dem Philosophen Jacques Derrida oder dem Historiker Pierre Vidal-Naquet für Europa adaptiert wurde.106 Im Fokus der Kritik am Irakkrieg standen der „US-Imperialismus“ und die politische sowie wirtschaftliche Hegemonie der USA über den Nahen Osten unter dem Deckmantel der Demokratisierung der Region. Allerdings wurde der Krieg gleichzeitig auch als „Ausdruck der Auflösung eines gescheiterten gesellschaftlichen Regimes, jenes der kapitalistischen Ausbeutung, das sich auf das Privateigentum der Produktionsmittel gründet“ gesehen.107 Teilweise erfolgte darin auch eine Verknüpfung der aktuellen Ereignisse mit dem Nahostkonflikt, der im Unterschied zu Großbritannien jedoch eher als Hintergrundfolie fungierte. Mehrmals wies man auch 104 105 106 107

Vgl. Le Figaro, 17.2.2003, 5. Zitiert nach Marianne, 24.2.–2.3.2003, 17. Vgl. Libération, 19.1.2003, 3. Flugblatt der Parti des Travailleurs (Partei der Arbeiter) als Kopie im Besitz des Verfassers; vgl. dazu auch Le Point, 14.3.2003, 37.

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polemisch darauf hin, dass sich die USA in den 1980er-Jahren im Krieg zwischen dem Irak und Iran auf die Seite Saddam Husseins gestellte hatte. Auch die Haltung der eigenen Regierung wurde nicht uneingeschränkt gebilligt: Die linke Splittergruppe Partisan warf Chirac und der „französischen Bourgeoisie“ vor, nicht aus humanitären Gründen (Verteidigung des irakischen Volkes), sondern aus kapitalistischen Interessen, vor allem an Waffen- und Ölgeschäfte mit dem Irak, ihr Veto gegen die US-Militäraktion eingelegt zu haben.108 Wie bereits nach den Anschlägen vom 11. September stellten sich 2003 manche französische Intellektuelle auf die Seite der USA. Eine Sonderstellung, eine dezidierte Befürwortung des Irakkriegs, nahm der Rechtsanwalt Arno Klarsfeld ein, Sohn von Serge und Beate Klarsfeld, die ehemalige NSKriegsverbrecher öffentlichkeitswirksam vor Gericht gebracht hatten. Seine in Le Monde abgedruckte Stellungnahme „Für den Krieg“, in der alle Sätze mit „Ich bin für den Krieg gegen den Irak, weil …“ beginnen, zeichnete sich durch eine häufige Bezugnahme zu den Verbrechen das Nationalsozialismus aus. Der erste Satz lautet beispielsweise: „Ich bin für den Krieg gegen den Irak, weil man mich im Gymnasium gelehrt hat, dass, wenn sich Frankreich aufgelehnt hätte, um Hitler 1936 an der Remilitarisierung des Rheinlandes zu hindern, es wahrscheinlich keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte.“109 Durch die vielen NS-Bezüge erscheint Saddam Hussein bei Klarsfeld gleichsam als ‚neuer Hitler‘, eine gewaltsame präventive Beseitigung seines Regimes würde demnach den Schlüssel für eine demokratische Ordnung in der gesamten Region bilden. Auch die Lösung des Nahostkonfliktes war seiner Meinung nach nur durch einen „totalen Sieg“ über den Terrorismus möglich. Die NS-Vergleiche und die damit einhergehende Dämonisierung der gesamten arabischen Welt stießen allerdings auch auf Kritik. In einem Leserbrief in Le Monde wurde Klarsfelds Aufruf beispielsweise als „eng­ stirniger und arroganter Rassismus“110 verurteilt. Auf der US-freundlichen Seite standen wiederum die ‚neuen Philosophen‘, die wie 2001 in der französischen Öffentlichkeit die Debatte zur ‚causa prima‘ der Weltpolitik im Winter und Frühjahr 2002/03 nicht un­wesentlich mitbestimmten, allerdings mit unterschiedlichen Nuancen. 108 Flugblatt als Kopie im Besitz des Verfassers. 109 Le Monde, 11.2.2003, 17. 110 Leserbrief in Le Monde, 19.2.2003, 13.

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Alain Finkielkraut und Bernard-Henry Lévy hielten einen Krieg moralisch für gerechtfertigt, befürchteten aber im Gegensatz zur militärischen Intervention der NATO im Kosovo 1999 eine Destabilisierung der Region.111 Auf Seiten der deklarierten Kriegsbefürworter standen André Glucksmann und Pascal Bruckner, die deswegen auch als „Falken“112 und „Kriegshetzer“113 bezeichnet wurden. Gemeinsam mit dem Filmemacher Romain Goupil brachte Glucksmann in einem Kommentar in Le Monde klar und pointiert zum Ausdruck, dass Saddam Hussein noch grausamer und gefährlicher sei als Slobodan Milosevic und appellierte an die internationale Staatengemeinschaft, aus dem Völkermord in Ruanda 1994 und dem Tschetschenien-Krieg, wo sie untätig zugesehen habe, ihre Lehren zu ziehen. 114 Im Fokus von ­Pascal Bruckners Stellungnahmen stand die generelle Kritik am Pazifismus, einer „alten französischen Leidenschaft“, verbunden mit einer „Dritte-WeltIdeologie“ und mit Schuldkomplexen gegenüber den ehemaligen Kolonien.115 Der Pazifismus richte sich Bruckner zufolge immer nur gegen die USA und fordere keinen Sturz von Saddam Hussein ein.116 In einem weiteren Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro präzisierte er seine Position dahingehend, dass er nicht „pro-Krieg“, sondern „anti-­Saddam“ eingestellt sei.117 Die der Linken zugeschriebene „abgrundtiefe Abneigung für die USA“ kommentierte er – polemisch überspitzt – mit folgenden Worten: „Wenn die Landung vom Juni 1944 heute stattfinden würde, wetten wir, dass Onkel Adolf (gemeint ist Adolf Hitler, C.M.) die Sympathie von unzähligen Humanisten und Radikalen der extremen Linken genießen würde, aus dem Grund, weil Onkel Sam (gemeint sind die USA, C.M.) versuchen würde, ihn zu vernichten.“118 111 Vgl. Le Monde, 1.1.2003, 6, Libération, 11.2.2003, 5 und file://C:\DOKUME~1\CHRIST~1\ LOKALE~1\Temp\X2WAAWA9.htm (14.8.2008). 112 Le Point, 14.3.2003, 39. 113 http://www.politis.fr/article514.html (14.8.2008). 114 Kommentar „Saddam muss weg, freiwillig oder mit Gewalt“ von Pascal Bruckner in: Le Monde, 4.3.2003, 15. 115 Diesen beiden miteinander verwobenen Themen widmete er mehrere Werke, darunter Das Schluchzen des weißen Mannes. Europa und die Dritte Welt. Eine Polemik, Berlin 1984 und zuletzt Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa, München 2008. 116 Le Monde, 4.2.2003, 14 und http://clubobs.nouvelobs.com/article/2003/02/27/20030227. OBSH119088.xml (18.10.2007). 117 Le Figaro, 25.3.2003, 12. 118 Le Monde, 4.2.2003, 14.

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Christian Muckenhumer

Einseitig auf die Seite der USA und des Krieges stellte sich der bekannte Philosophieprofessor Robert Redeker, der in jüngster Zeit vor allem aufgrund seiner Islamkritik für Schlagzeilen gesorgt hatte und von islamistischer Seite sogar mit einer Fatwa bedroht wurde.119 Gemeinsam mit anderen Wissenschafter/inne/n unterzeichnete er ein „Manifest“ gegen die Demonstration vom 15. Februar 2003 und wenige Tage nach Beginn des Krieges veröffentlichte er in Le Monde einen Kommentar, der sich wie eine Abrechnung mit der Friedensbewegung – Redeker spricht von „Neopazifisten“ – und wie ein proamerikanisches Gesellschaftsplädoyer liest.120 Auch die Befreiungsrhetorik wurde in diesem Zusammenhang wiederum bemüht: Amerika habe Europa vom Kommunismus beschützt und die Entfaltung einer prosperierenden und freien Gesellschaftsordnung ermöglicht: „…dank der USA, der Stärke der amerikanischen Armee, und trotz des Hasses der Pazifisten sind wir heute weder ‚rot‘ noch ‚tot‘!“121 Die heftige USA-Kritik der Friedensbewegung verglich er sogar mit der antiamerikanischen und antisemitischen NS-Propaganda des Vichy-Regimes. Derartige eindeutige Parteinahmen für die USA und einen Krieg im Irak waren im Gegensatz zum Golfkrieg 1991 sowie zur Militärintervention in Afghanistan 2001 zwar in der Minderheit, erhielten aber große mediale Aufmerksamkeit. Die französische Regierung, die politische Opposition sowie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnten den Krieg massiv ab, weshalb Frankreich bald pauschal als das zentrale Sprachrohr des Antiamerikanismus galt.122 Allerdings unterschieden sich die Franzosen in ihrer Einstellung gegenüber den USA letztendlich kaum von den meisten europäischen Ländern.123 Bereits 2007 hatten 75 Prozent der Franzosen in Umfragen wieder eine positive Meinung von den USA, womit Frankreich Großbritannien (69%) und Deutschland (64%) sogar überholt hat. Mit dem Ende der BushRegierung hat sich das Image der USA weiter verbessert und auch auf der politischen Ebene kam es zur Annäherung, denn seit 2009 ist Frankreich 119 Grund dafür war ein islamkritischer Artikel in der Tageszeitung Le Figaro am 19.10.2006. 120 Vgl. Le Figaro, 15./16.2.2003, 13. 121 Onlinefassung des Le Monde-Artikels von Redeker unter http://www.nuitdorient.com/n347. htm (26.6.2008). 122 The Economist, 6.12.2005 sowie Timothy Garton Ash, Anti-Europeanism in America, in: New York Review of Books, February 13, 2003, 32-34. 123 Sophie Meunier, The Distinctiveness of French Anti-Americanism, in: Peter J. Katzenstein/ Robert O. Keohane (Hg.), Anti-Americanisms in World Politics, Ithaca-London 2006, 129.

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wieder Vollmitglied der NATO.124 Die traditionellen Ressentiments gegenüber den USA sind im kollektiven Gedächtnis Frankreichs aber noch immer präsent und können offenbar jederzeit wieder aktiviert werden, so wie nach den Anschlägen vom 11. September, als die USA als zu starker weltpolitischer Akteur auftraten und – obwohl ein augenscheinliches ‚Opfer‘ der Anschläge – bald in die Rolle des ‚Täters‘ versetzt wurden.

124 http://pewglobal.org/2009/07/23/confidence-in-obama-lifts-us-image-around-the-world/ (13.2.2011).

Filip Fetko

Der 11. September und das „Neue Europa“ Reaktionen in Ostmitteleuropa am Beispiel Polen 1999, zehn Jahre nach dem Ende des Kommunismus, wurden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik in die NATO aufgenommen, erst fünf Jahre später bot die Europäische Union diesen Ländern im Rahmen der bisher größten EU-Erweiterung 2004 die Mitgliedschaft an.1 Nach den An­schlägen vom 11. September 2001 haben sich diese Staaten als besonders loyale Partner der USA und der NATO erwiesen und Polen war im Wettrennen um den treuesten Verbündeten kaum zu schlagen.2 Polen steht daher auch im Zentrum der folgenden Ausführungen, wobei aber nach Möglichkeit immer wieder Vergleiche mit der Slowakei, Ungarn und der Tschechischen Republik gezogen werden. Die Reaktionen osteuropäischer Staaten auf den 11. September 2001 ­müssen im Kontext ihrer spezifischen Geschichte, vor allem ihrer kommunistischen Vergangenheit und dem Erbe des Kommunismus, analysiert werden. Es gab in den osteuropäischen Staaten unter dem Etikett des ‚Antiimperialismus’ einen staatlich propagierten dogmatischen linken Antiamerikanismus. Dieser fand bei der Bevölkerung in diesen Ländern aber allein deshalb wenig Anklang, da ihn die kommunistischen Regime im Kalten Krieg zur Staatsdoktrin erhoben hatten.3 Nach dem Ende des Kalten ­Krieges dienten die USA und der ‚American way of life‘ als Vorbild für den Aufbau einer eigenen Demokratie. Vor allem aus Sicht der Polen hatte nicht nur die westeuropäische Ostpolitik, sondern vor allem Ronald Reagans Konfrontationspolitik zum Zerfall der Sowjetunion und somit zu ihrer 1 2 3

Zu den neuen Aufnahmeländern zählten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. Vladimír Krivý, Vzťah slovenskej verejnosti k USA – sekundárna analýza výsledkov výskumu, in: Grigorij Mesežnikov, USA a transatlantická spolupráca v názoroch politických strán, občanov a médií na Slovensku, Bratislava 2003, 7–36, 11–17. Vgl. Árpád von Klimó/Gyula, Virág, Antisemitismus statt Antiamerikanismus? Antimoderne und „deutscher“ Antiamerikanismus in Ungarn (1916-1949), in: Jan C. Behrends/Árpád von Klimó/Patrice G. Poutrus (Hg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005, 88–112.

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Befreiung beigetragen. In kollektiver Erinnerung blieb die symbolträchtige Aufforderung „Tear down this wall“, die der amerikanische Präsident 1987 in einer Rede vor dem Brandenburger Tor in Berlin an Michael Gorbatschow gerichtet hatte. Im Unterschied zum Westen weinten diese Länder nach 1989 dem Ende der bipolaren Welt wenig Tränen nach. Während Westeuropa, vor allem Frankreich und Deutschland, die Rolle der USA als nunmehr alleinige Weltmacht mit großer Skepsis betrachteten und dieser häufig die Alleinverantwortung für die Schattenseiten der Globalisierung zuschoben, hatten Osteuropäer mit einem starken Amerika weniger Probleme, zumal sich viele der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa noch immer von Russland bedroht fühlten. Gerade auch deshalb betrachtete man nicht nur in Polen, sondern in ganz Osteuropa, die USA und die NATO als ein Symbol von Freiheit und Sicherheit. Diese grundsätzlich positive Sichtweise hat noch eine weitere historische Grundlage. Zum einem kam es im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu großen Auswanderungswellen aus Osteuropa in die ‚Neue Welt‘. Durch die große Zahl von osteuropäischen Immigrant/inn/en in den USA gab es immer eine besondere Verbundenheit zwischen dem ursprünglichen ­Herkunftsland und der USA. Zum anderen war es tief im kollektiven Gedächtnis verankert, dass die osteuropäischen Staaten den USA, und insbesondere Wilsons Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen von 1918, nach dem Zerfall des Habsburgerreiches ihre staatliche Selbstständigkeit zu verdanken hatten. In Warschau erinnert beispielsweise der Woodrow-Wilson-Platz an den Beitrag, den die USA nach dem Ersten Weltkrieg zur Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit geleistet haben. Die USA werden auch positiv als Sieger über das nationalsozialistische Deutschland wahrgenommen, wohingegen den europäischen Alliierten vorgeworfen wurde, durch ihre Appeasement-Politik (Münchner Abkommen von 1938) die ostmitteleuropäischen Staaten Hitler ausgeliefert zu haben. Es wurde auch nicht übersehen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die USA zumindest einem Teil Europas ein Leben in Freiheit, Frieden und Wohlstand ermöglicht hatten. Auch die ethnischen Säuberungen am Balkan wurden aus osteuropäischer Sicht erst durch das militärische Eingreifen der USA unter der Schirmherrschaft der NATO beendet, während die EU in den 1990erJahren noch zu keiner gemeinsamen Außenpolitik fähig zu sein schien. Im Unterschied zur NATO galt die EU daher lange als Vertreterin von ‚wei-

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chen Sicherheitsmaßnahmen‘ und somit als kein wirklicher Ersatz für das transatlantische Militärbündnis. Daraus erklärt sich auch der breite Konsens dieser Gesellschaften für den NATO-Beitritt.4 Auch das amerikanische Wirtschaftsmodell, dem keine Nähe zum Sozialismus nachgesagt werden konnte, schien zumindest kurz nach dem ‚Mauerfall’ verheißungsvoller als das europäische.5 Nicht zuletzt muss die unterschiedliche Bedeutung, die „1968“ den jeweiligen Gesellschaften zugekommen ist, berücksichtigt werden: Während sich in Westeuropa die Studentenproteste gegen Faschismus und Kapitalismus im eigenen Land und gegen die imperialistischen USA richteten, erhoben sich die Student/inn/en in Polen gegen das eigene autoritäre kommunistische Regime und erklärten die Sowjetunion zum Feind. Der ‚amerikanische Traum’ übte besonders auf viele junge (oppositionelle) Menschen in Osteuropa eine große Faszination aus.6 Hinter der großen Loyalität Polens mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 standen allerdings auch politische Hintergedanken. Als die größte neue osteuropäische Demokratie bemühte sich Polen bereits seit den 1990er-Jahren um gute Beziehungen zu den USA, da es damit zum amerikanischen Hauptpartner in der Region und somit zum wichtigsten Akteur in Osteuropa werden wollte. Lange ein geopolitischer Spielball zwischen Deutschland und Russland, erhoffte sich das Land durch diese politische Aufwertung das Ende seines langen Schattendaseins auf der politischen Bühne Europas.7 Im Zuge des Irakkrieges hoffte Warschau auch, dass die USA ihre Militärbasen aus dem „undankbaren Deutschland“ nach Polen verlegen würden.8 4

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Marek Šťastný/Rastislav Havran, Postoje politických aktérov na Slovensku k vybraným otázkam zahraničnej politiky a medzinárodných vzťahov po 11. septembri 2001, in: Mesežnikov, USA a transatlantická spolupráca v názoroch politických strán, občanov a médií na Slovensku, 48–54, 48. Jacques Rupnik, America’s Best Friends in Europe. East-Central European Perceptions and Policies toward the United States, in: Tony Judt/Denis Lacorne (Hg.), With Us or against Us. Studies in Global Anti-Americanism, New York 2005, 93–113, 98. Deutsche Version: Jacques Rupnik, Amerikas beste Freunde in Europa, in: Transit. Europäische Revue, Heft 27/2004, 29–54, 7. Andrej Antoszek/Kate Delaney, Poland, Transmissions and Translations, in: Alexander Stephan, The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945, New York-Oxford 2006, 218–250, 219. Vgl. Rupnik, Amerikas beste Freunde in Europa, 7. Ebd., 37.

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„Alle für einen, einer für alle“ – Reaktionen der politischen Eliten Vor diesem historischen und politischen Hintergrund dominierte 2001 nicht nur in Polen, sondern in allen osteuropäischen Ländern, eine überwiegend positive Einstellung gegenüber den USA, die sich, wie wir sehen werden, allerdings spätestens mit dem Krieg im Irak etwas abkühlen sollte. Es kann daher nicht verwundern, dass sich die politische Elite und der Großteil der Bevölkerung unmittelbar nach dem Terroranschlag vom 11. September mit den USA und den Opfern der Anschläge solidarisierten. Der polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski sprach von einem bisher unvorstell­ baren Akt des Terrorismus und übermittelte den Familienangehörigen und Freunden der Opfer dieses grausamen Anschlags sein Mitgefühl.9 Auch der polnische Premierminister Jerzy Buzek (Akcja Wyborcza Solidarność/Die Wahlaktion Solidarność) brachte in einem Schreiben an Präsident Bush sein tief empfundenes Beileid und die Solidarität mit dem amerikanischen Volk zum Ausdruck. Buzek hielt zudem fest, dass die polnische Gesellschaft von diesem Terrorakt auf amerikanische Städte zutiefst erschüttert sei und sein Land jede Form von Terrorismus verurteile.10 Ähnlich reagierten auch führende Staatsmänner in anderen ostmitteleuropäischen Ländern. Der slowakische Präsident Rudolf Schuster (Strana občianskeho porozumenia/Partei der bürgerlichen Verständigung), dessen Land erst 2004 in die NATO aufgenommen werden sollte, verurteilte die Anschläge noch am 11. September als einen „organisierten terroristischen Akt gegen unschuldige Menschen“. Da der Terrorismus keine Regeln und Grenzen kenne, müssten „wir alle gemeinsam“, so Schuster, dagegen ankämpfen.11 Zwei Tage später unterstrich er erneut, dass sich die Angriffe nicht nur gegen die USA, sondern als „ein Terrorakt gegen die gesamte demokratische Welt“ gerichtet hätten. Somit sei auch die Slowakei davon betroffen und könne nicht so tun, als ob sie das Ganze nichts anginge.12 Aussagen wie jene von Anna Malíková, der Vorsitzenden der rechten Slovenská Národná Strana/Slowakische Nationale Partei13, gehörten in diesen Tagen 9 10 11 12 13

Rzeczpospolita, 12.9.2001, archiwum na płycie, 3 kwartał 2001 (Diese Zeitung lag nicht im Original vor, sondern als CD, weshalb auch im folgenden keine Seitenangaben erfolgen können). Rzeczpospolita, 12.9.2001. Pravda, 12.9.2001, 2. Sme, 13.9.2001, 11. Die Partei wurde 1990 gegründet und erregte durch ihre Feindschaft gegenüber der unga-

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zur Ausnahme: Die Politikerin machte die USA aufgrund ihrer fehlgeleiteten Außenpolitik der letzten Jahrzehnte selbst für die Terroranschläge verantwortlich und sie interpretierte die Terroranschläge daher als „einen Akt der Rache an den USA für die Bomben auf Tripolis, Irak (gemeint ist der Erste Golfkrieg 1990/91; F.F.) und Jugoslawien.“14 Auffallend schnell und eindeutig – vor allem im Vergleich zu Deutschland und Frankreich – bekundete die politische Elite der ostmitteleuropä­ ischen Länder ihre Bereitschaft, im Falle eines militärischen Vorgehens der USA als enge Verbündete bereitzustehen. Bereits am 12. September zitierte die auflagenstarke katholisch-konservative Tageszeitung Rzeczpospolita (Die Republik)15 einen diplomatischen Vertreter Polens bei der NATO, der versicherte, dass sich Polen im Falle eines NATO-Bündnisbeschlusses an die Musketier-Regel halten werde: „Alle für einen und einer für alle“ („wszyscy za jednego i jeden za wszystkich“).16 Auch das mitte-rechts orientierte Leitmedium Sme (Wir sind)17 unterstützte diese politische Linie und rief das Land dazu auf, als neuer Mitgliedsstaat der NATO diese einmalige Chance zu nutzen, um seine Unabkömmlichkeit unter Beweis zu stellen.18 Wie es in Zeitungskommentaren hieß, sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, den USA für ihre vielen Hilfeleistungen in Europa Dankbarkeit zu zeigen.19 Auch der tschechische Präsident Václav Havel bekannte am 14. September, dass sein Land jederzeit bereit sei, sich einem gemeinsamen Vorgehen der NATO anzuschließen.20 Nach einem Treffen mit dem tschechischen Präsidenten in Prag erklärte auch der ungarische Präsident Ferenc Mandl, dass Ungarn sich im Rahmen seiner Möglichkeiten aktiv am Kampf gegen den Terrorisrischen Minderheit und auch gegenüber Ungarn selbst Aufsehen. Von 1998–2006 mit 5–10 Prozent Oppositionspartei, zog sie 2006 als drittstärkste Partei in die Regierung ein. Bei den Wahlen 2010 schaffte sie nur knapp die 5 Prozent-Quote für den Einzug ins Parlament. 14 Marián Leško, Ako reflektovali udalosti v Amerike slovenskí politici, in: Sme, 17.9.2001, 7. 15 Rzeczpospolita hatte 2003 eine Auflage von 250.000, die Leserschaft wird auf 600.000 geschätzt. Einen besonders hohen Leseranteil weisen Intellektuelle und Wirtschaftskreise auf. 16 Rzeczpospolita, 12.9.2001. 17 Sme ist eine meinungsbildende slowakische Zeitung und hatte 2001 eine Auflage von 60.000. Sme wurde 1993 gegründet und gilt als die wichtigste oppositionelle Zeitung gegen die autoritäre Regierung von Vladimír Mečiar (1993–1998). 18 Rzeczpospolita, 19.9.2001. 19 Vgl. exemplarisch Marek Chorvatovič, Európski spojenci testujú svoju historickú pamäť, in: Sme, 20.9.2001; Maciej Rybiński, Czas na spłatę długu, 14.9.2001. 20 Rzeczpospolita, 14.9.2001.

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mus beteiligen werde.21 In der Slowakei drückten Politiker gegenüber amerikanischen Diplomaten ihr Mitgefühl aus.22 Obwohl die Slowakei zu diesem Zeitpunkt der NATO noch nicht angehört hatte, brachte auch der slowakische Ministerpräsident Mikuláš Dzurinda die Bereitschaft seines Landes „zur Verteidigung der Demokratie und den Werten der westlichen Zivilisation“ zum Ausdruck.23 Wie aus den Worten František Šebejs, dem Vorsitzenden des Integrationsgremiums für den Eintritt in die NATO, herauszuhören war, wollte die Slowakei durch die verbale Unterstützung des militärischen Vorgehens der NATO den eigenen angestrebten NATO-Beitritt beschleunigen.24 Auch in Osteuropa stand der 14. September im Zeichen des Gedenkens. Es gab Gedenkminuten und Gedenkfeiern und der polnische Ministerpräsident Jerzy Buzek und Präsident Aleksander Kwaśniewski sprachen vom „Tag der Solidarität mit den Opfern der Katastrophe“.25 Rzeczpospolita veröffentlichte Beiträge von Vertretern der politischen Elite des Landes sowie von anderen prominenten Persönlichkeiten, die darin ihr Mitgefühl und ihre Trauer für die Opfer in den USA zum Ausdruck brachten. Die polnische Solidarität mit den USA erhielt durch die tragende Rolle, die an diesem Gedenktag der katholischen Kirche zukam, eine eigene Note. In An­betracht der starken christlichen Traditionen in Polen schenkte beispielsweise R ­ zeczpospolita katholischen Gedenkveranstaltungen (Gedenkmessen) und Stellungnahmen von Amtsträgern der katholischen Kirche besondere Beachtung. So wurde beispielsweise die Predigt von Bischof Tadeusz Pieronek in der Krakauer Basilika des Heiligen Florian zitiert, in der er darauf hinwies, dass „nicht nur die USA verwundet wurden“, sondern die Anschläge auch als Versuch, „den Menschen in seiner Größe und Güte zu treffen“ interpretiert werden müssten.26 Bischof Jan Chrapek führte in Rzeczpospolita die Anschläge auf eine „tief verwurzelte ethnische Feindseligkeit“ zurück.27 Die polnische Bevölkerung legte auch spontan vor der amerikanischen Botschaft Blumen nieder, zündete Kerzen an, einzelne drückten in Gedichten ihre

21 Rzeczpospolita, 20.9.2001. 22 Sme, 14.9.2001, 11. 23 Ebd., 14. 24 Pravda, 12.9.2001, 2. 25 Rzeczpospolita, 13.9.2001. 26 Ebd. 27 Ebd.

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ehrliche Trauer und Betroffenheit aus.28 Abgesehen von vereinzelter Kritik von zumeist am rechten Rand der Gesellschaft angesiedelten Parteien und Gruppierungen demonstrierte die politische Elite und vor allem auch die Bevölkerung in Ostmitteleuropa eine besondere Anteilnahme und Nähe zu den USA.

„Atak na Ameryką“ (Angriff auf Amerika) Unmittelbar nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon wurde das offizielle polnische Fernsehprogramm durch die Berichterstattung von CNN aus New York und Washington unterbrochen. Nach dem Angriff auf den zweiten Turm des WTC wurde vom ursprünglichen TV-Programm endgültig abgelassen, es folgten – wie überall auf der Welt – viele emotionale Berichte über die Katastrophe in den USA und den ganzen Tag lang wurden die Bilder vom Einflug des zweiten Flugzeuges in den zweiten Turm und der Zusammensturz des WTC gesendet.29 Auch die Berichterstattung in den polnischen Printmedien zeichnete sich durch eine sehr starke Solidarität mit den USA und einen hohen Grad von Emotionalität aus. Es kamen viele Betroffene in New York zu Wort und die Korrespondentenberichte direkt vor Ort ließen die Ereignisse noch näher rücken.30 So lauteten beispielsweise die Schlagzeilen der auflagenstarken polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita (Die Republik) vom 12. September: „Die Türme des World Trade Centers dem Boden gleichgemacht“, „Tausende Todesopfer“ und auch der mögliche Täter wurde bereits benannt: „Der Verdächtige – Osama bin Laden“. Einen Tag nach den Anschlägen konstatierte Maciej Łukasiewicz in Rzeczpospolita, dass man sich selbst in den schlimmsten Katastrophenfilmen kein derartiges Szenarium ausmalen hätte können. Im Unterschied zum Kino werde es in New York aber kein „Happy End“ geben, warnte Łukasiewicz.31 Bis zum 10. Oktober erschien in ­Rzeczpospolita darüber hinaus täglich eine Sonderbeila28

Rzeczpospolita, 14.9. 2001 und vgl. auch Tomasz Płudowski, September 11 in Poland. America’s most Enthusiastic Ally in Europe, in: Tomasz Płudowski (Hg.), How the World’s News Media reacted to 9/11, Essays from around the Globe, Washington 2007, 138–144, 141. 29 Płudowski, September 11 in Poland, 139. 30 Ebd., 142. 31 Rzeczpospolita, 12.9. 2001.

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ge mit dem Titel „Atak na Ameryką“ (Angriff auf die USA).32 Immer wieder wurde den Leser/inne/n versichert, dass die polnischen Sicherheitsorgane zum Schutz der Bevölkerung alles erdenkliche unternehmen würden und für Polen keine unmittelbare Gefahr bestehen würde. Auch die linksliberale Gazeta Wyborcza33 (Die Zeitung der Wahlen) vertrat eine eher proamerikanische Blattlinie, sie sprach vom „Krieg mit den USA“ („Wojna z USA“) und auf der Titelseite wurde ein weinendes amerikanisches Mädchen mit der Bildunterschrift „Amerika in Tränen“ abgebildet. Neben einer genauen Abfolge des Geschehens wurde auch in dieser Zeitung äußerst emotional über die letzten Telefonate, die Passagiere mit ihren Verwandten geführt hatten, und auch über jene Menschen, die in Panik aus dem Fenster des WTC gesprungen sind, berichtet. Auch Bilder von den ersten identifizierten Opfern des WTC wurden veröffentlicht.34 Der polnische Medienexperte Tomasz Płudowski hob auch hervor, dass die polnische Presse von Beginn an der Tatsache, dass die Terroristen Araber gewesen seien, großen Raum eingeräumt hat.35 Exemplarisch dafür ist der Beitrag von Dawid Warszawski („Wer ist schuld?“) in der Rzeczpospolita, worin vor einem Rachefeldzug gegen alle Araber und Muslime gewarnt wird, selbst dann, wenn terroristische Gruppierungen im Nahen Osten als Attentäter festgemacht werden würden.36 In den slowakischen Medien finden sich ähnliche Headlines und Bilder. Am 12. September 2001 veröffentlichte die mitte-links orientierte Pravda 37 auf der Titelseite Bilder vom durch Staubwolken verschleierten Manhattan, von brennenden Türmen des World Trade Centers und vom Angriff auf das Pentagon. Die Headline dazu lautete: „Schrecklicher terroristischer Angriff auf die USA“.38 Auch Sme erschien am 12. September mit einem Bild von 32 33

Rzeczpospolita, von 11.9. bis 8.10.2001. Gazeta Wyborcza ist die zweitgrößte Tageszeitung in Polen mit einer Auflage bis zu 500.000, wobei die Leserzahl doppelt so hoch geschätzt wird. Im rechtsorientierten Gesellschaftsspektrum wird die Zeitung als ‚jüdische Zeitung‘ denunziert. 34 Gazeta Wybrocza 12.9.2001, 1. Vgl. auch Płudowski, Septmeber 11 in Poland, 140. 35 Płudowski, Septmeber 11 in Poland, 140. 36 Rzeczpospolita, 14.9. 2001. Dazu vgl. auch Dziennik Polski (Das polnische Tagesblatt) vom 17.9.2001, 6. Die mitte-rechts orientierte Zeitung erscheint in Kleinpolen mit dem Zentrum Krakau in einer Auflage von 73.000. 37 Pravda (die Wahrheit) war ursprünglich eine offizielle Regimezeitung, gegründet nach dem Vorbild der russischen Pravda. 2001 lag die Auflage bei 60.000, mittlerweile ist sie in Besitz eines britischen Medienkonzerns. 38 Pravda, 12.9.2001, 1.

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den in sich zusammenfallenden Türmen des World Trade Centers mit der Überschrift: „Der Angriff auf die USA veränderte die Welt“. Neben dem Foto wurde die von Martin M. Šimečka verfasste Kolumne „Ein Angriff gegen uns“ abgedruckt. Darin betonte Šimečka, dass „wir alle als potentielle Opfer dieses Terrors zu gelten“ hätten und die Toten in den USA Opfer „eines Hasses geworden (wären), der auch gegen uns gerichtet war.“ Außerdem zog er einen Vergleich zwischen der angespannten Atmosphäre nach den Angriffen vom 11. September und dem Vorabend des Zweiten Weltkrieges, wobei er kategorisch feststellte: Die Täter sind als „ebenso verrückt“ zu bezeichnen wie Adolf Hitler.39 Vergleicht man die Berichterstattung von polnischen und slowakischen Medien, so entsteht schnell der Eindruck, dass die vorwiegend sehr proamerikanischen polnischen Zeitungen der Bevölkerung aus der Seele geschrieben haben, während slowakische Medien eine Art Appellfunktion übernehmen mussten. Offensichtlich war es in Polen nicht mehr notwendig, die Bevölkerung von einer Beteiligung am ,Kampf gegen den Terror‘ zu überzeugen (in einer Umfrage stimmten 80 Prozent dafür)40, wohingegen sich die Bevölkerung in der Slowakei noch gespalten zeigte und von der Notwendigkeit eines Krieges gegen den Terrorismus noch überzeugt werden musste; die Zustimmung lag letztendlich bei 57 Prozent.41 Aus einer europäisch-vergleichenden Perspektive ist eine Medienanalyse des polnischen Medienexperten Tomasz Płudowski durchaus interessant.42 Er hält am Beispiel der Berichterstattung der proamerikanischen Gazeta Wyborcza für die ersten Tage nach den Anschlägen folgende Tendenz fest: Die Zeitung habe die Ereignisse in den USA weit über die Fakten hinaus dramatisiert und sie habe – im Gegensatz zu linken und liberalen Medien in Westeuropa – lange keine Analysen und Schuldzuschreibungen vorgenommen. Płudowski führt dies auf die allgemeine Stimmungslage zurück, wonach die Terrorangriffe auf amerikanische Städte in Polen als unentschuldbar gegolten hätten.

39 Sme, 12.9.2001, 1. 40 Rzeczpospolita, 22.9.2001. 41 Ebd. 42 Płudowski, September 11 in Poland, 139.

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Offener und „verschleierter“ Antiamerikanismus? Auch wenn sich die auflagenstarken Medien in Ostmitteleuropa nahezu bedingungslos auf die Seite der USA stellten und im Falle eines eventuellen Krieges eine aktive militärische Beteiligung ihres Landes unterstützten, finden sich bei genauer Analyse dennoch amerikakritische Töne, allerdings kaum als Leitartikel, sondern vorwiegend auf den Leserbriefseiten oder in Gastkommentaren. Rzeczpospolita druckte beispielsweise auf der Kommentarseite Freie Tribüne den Beitrag des bekannten polnischen Soziologen, Schriftstellers und Journalisten Andrzej Ziemilski ab, der zwar Mitgefühl mit den amerikanischen Opfern bekundete, anschließend aber dazu überging, die „Auswüchse der amerikanischen Kultur“ anzuprangern. Konkret kritisierte er vor allem Hollywood, das er als „Drehbuchautor der Apokalypse“ („Scenarzyści apokalipsy“) – so auch der Titel seines Beitrages – bezeichnete. Bereits einleitend stellte er mit einem ironischen Unterton die rhetorische Frage, wo sich „Figuren wie der Texas Ranger, FBI-Agenten oder James Bond“ nach den Anschlägen aufgehalten hätten, als sie dringend gebraucht worden wären. Der seiner Meinung nach von Gewalt geprägten Filmindustrie in Hollywood warf er vor, nicht nur seit Jahren polnische Kinder negativ beeinflusst, sondern nun auch islamistische Fanatiker inspiriert zu haben.43 Diese Verwerfung Hollywoods als Synonym für Verbrechen und Kommerzialisierung ist exemplarisch für einen Antiamerikanismus, der häufig mit Ressentiments gegen die EU verbunden ist und sich seit den 1990er-Jahren am rechten (katholischen) Rand der Gesellschaft (z.B. Radio Maria, Liga der polnischen Familie) herauszubilden begann.44 In polnischen Leitmedien finden sich vereinzelt auch Verschwörungstheorien, die nach folgendem Muster gestrickt waren: Es wird zwar nicht abgestritten, dass Islamisten die Anschläge verübt haben, doch werden gleichzeitig die rhetorischen Fragen aufgeworfen: „Wer waren die Drahtzieher?“ und „Wer profitierte am meisten von dem Angriff auf die USA?“. Ein Beispiel dafür ist der in Rzeczpospolita am 15. September 2001 abgedruckte Gastkommentar „Kto mógł przygotować atak?“ (Wer könnte den Angriff vorbereitet haben?), verfasst von Andrzej Wilk, einem Verteidigungsexperten im staatlich finanzierten Institut Ośrodek studiów wschodnich (Zentrum 43 Rzeczpospolita, 15.9.2001. 44 Antoszek/Delaney, Poland, 242 f.

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für Oststudien) in Warschau. Für den Autor standen aufgrund historischer Erfahrungen „hinter jedem Anschlag Kräfte oder Regierungen, die daraus Profit ziehen würden“, wobei er selbst in erster Linie Israel als Profiteur der Anschläge ausmachte: Da sich nach 9/11 die ganze Aufmerksamkeit auf die USA gerichtet habe, könnte Israel unbeobachtet von der Weltöffentlichkeit erneut Dörfer im Westjordanland einnehmen. Allerdings räumte er ein, dass auch China und Russland zu den Profiteuren zählen könnten; warum, ließ er offen.45 Eindeutiger drückte sich der Verfasser eines Leserbriefes in Rzeczpospolita aus, der offensichtlich anonym bleiben wollte. Aus seiner Sicht war eindeutig eine mächtige „jüdische Lobby in den USA“ für die Katas­trophe vom 11. September verantwortlich, da diese die amerikanische ­Nahostpolitik stark beeinflussen würde. Seiner Ansicht nach hatte vor allem die israelische Besatzungspolitik den Hass der arabischen Welt auf die USA geschürt, weshalb alle, die an der Seite Israels stehen, sich fragen sollten, ob sie nicht auch für den 11. September mitverantwortlich seien.46 Auch Mladá Fronta Dnes ( Junge Front Heute), bis 1990 Sprachrohr der Sozialistischen Front und danach eine mitte-rechts orientierte Zeitschrift in der Tschechischen Republik, veröffentlichte Leserbriefe, in denen die Schuld an den Anschlägen den USA selbst zugeschrieben wurde.47 In ihrer Online-Ausgabe, wo Leser/innen zu einzelnen Artikeln ihre Meinung äußern konnten, kommentierte ein Leser aus Liberec die Anschläge vom 11. September mit folgenden Worten: „In den letzten Jahren sind die USA immer flegelhafter und arroganter geworden. Sie wollten die Welt beherrschen, deshalb ist ihnen jetzt eines der Symbole von New York niedergerissen worden.“48 Dieses Beispiel ist insofern interessant, als in der tschechischen Presse bereits mehrmals von antiamerikanischen Zwischenfällen in der Region Liberec berichtet wurde. Neben antiamerikanischen Flugblättern waren dort auch Plakate mit der Ankündigung eines „Rachefeldzugs gegen die Ausbeuter der Dritten Welt“ aufgetaucht.49 Nur wenige Tage nach dem 11. September verteidigten im Nordwesten der Tschechischen Republik auch etwa dreißig Anhänger des rechtsextremen Národně-socialni blok 45 46 47 48 49

Andrzej Wilk, Kto mógł przygotować atak?, in: Rzeczpospolita, 15.9.2001. Rzeczpospolita, 15.9.2001. Mladá Fronta Dnes, 31.10.2001, 10. Vgl. Marián Leško, Ako reflektovali udalosti v Amerike slovenskí politici, in: Sme, 17.9.2001, 7. Mladá Fronta Dnes, 2.10.2001, 1.

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Bush-Karikatur: „Wo immer sich Osama bin Laden aufhält, ich kriege ihn: Tod oder lebendig“, in: Pravda, 26. September 2001. Zeichnung: Danglar.

(National-sozialistischer Block) die terroristischen Angriffe auf die USA.50 In Ungarn neigte die Wochenzeitschrift Magyar Demokrata (Ungarischer Demokrat), damals ein wichtiges Sprachrohr christlich-nationaler Kreise, zu Verschwörungstheorien. In ihrer ersten Ausgabe nach den Terroranschlägen, erschienen am 20. September, fragte beispielsweise Sebestýen Gorka: „Wer stand hinter den Anschlägen und wem nützen sie?“51 László Dobos konstatierte in einem Beitrag in derselben Ausgabe, dass weder die Palästinenser noch die muslimische Welt, sondern einzig und allein Israel aus dem Terror vom 11. September Profit schlagen würde.52 An einer anderen Stelle wird Károly Berg, der ungarische Botschafter in der Tschechischen Republik, zitiert, der den russischen Geheimdienst hinter den Anschlägen vermutete.53 Auch in slowakischen Medien finden sich vereinzelt Verschwörungs­ theorien. Am 25. September 2001 veröffentlichte das populistisch-nationalistische Wochenblatt Zmena (Wechsel) einen Beitrag von Jaroslav Kmeť mit dem provokanten Titel: „Man kann nicht ausschließen, dass den Terroranschlag auf die USA nicht die USA selbst verübt hatten“. Die Annahme, dass Araber hinter den Anschlägen stehen würden, bezeichnete Kmeť als „skrupellose Manipulation“ der Medien zugunsten des „internationalen Zionismus“ und er holte in Form rhetorischer Fragen zum Gegenschlag aus: „Warum erfolgte der Anschlag auf das World Trade Center bereits zwischen 8.45 und 9.03 Uhr am Vormittag, als abgesehen von den polnischen Liftbe50 51 52 53

Vgl. Sme, 17.9.2001, 8. Magyar Demokrata, 20.1.2001, 28–29. Für die Hinweise danke ich Dora Kovacs, die am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg zum ungarischen Antiamerikanismus eine BAC-Arbeit verfasst hat. Magyar Demokrata, 20.1.2001, 21 f. Ebd., 38.

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treuern und Putzfrauen, die ‚großen Chefs’ noch nicht anwesend waren?“ Im Januar 2002 durfte Jaroslav Kmeť in Zmena unter dem Titel „Ewige Gerechtigkeit oder unendliches Verbrechen?“ seine kruden Verschwörungstheorien erneut ausbreiten. Unter dem Eindruck des Afghanistankrieges wiederholte er den Vorwurf, dass die USA die Anschläge selbst durchgeführt hätten und er warf der Weltmacht vor, den ‚Krieg gegen den Terror‘ für die Errichtung einer „Diktatur der Globalisierungsbefürworter“ zu instrumentalisieren und damit die „Masse der Menschen zu versklaven“. Seine antiamerikanischen und antisemitischen Tiraden gipfelten in der Behauptung, dass die gesamte Macht „dann den USA“ oder präziser gesagt „den Freimaurern, den Dienern des Antichristen“ gehören würden.54 Interessanterweise finden sich auch in der Pravda mehrere Beiträge über Weltverschwörungstheorien, allerdings – und das ist der entscheidende Unterschied – wurden sie darin nicht bestätigt, sondern für völlig absurd erklärt und zurückgewiesen.55 Das mehrmalige Aufgreifen dieser Thematik lässt jedoch vermuten, dass derartige Ansichten sowie auch das Gerücht, dass der Mossad mit dem CIA die Terroranschläge gemeinsam geplant habe56, doch eine gewisse Verbreitung gefunden haben. Der slowakische Sozialwissenschaftler Martin Danko vom Inštitút pre veréjne otázky (Institut für öffentliche Fragen) kam nach seiner Analyse der Berichterstattung zum 11. September in den bedeutendsten slowakischen Printmedien zu folgendem Schluss: Das Meinungsspektrum reichte vom konservativ-liberalen Domino Fórum, das sich bedingungslos auf die Seite der USA stellte und die Politik von Bush verteidigte bis hin zu rechtsnationalen Medien wie Zmena, Slovo und Literárny týždeň mit extrem antiamerikanischen (und teilweise antisemitischen) Positionen. Der liberalen Práca (Arbeit)57 und der gemäßigt linksorientierten Pravda (Die Wahrheit)58, beide gelten als wichtige Leitmedien in der Slowakei, unterstellte er hingegen einen „verschleierten Antiamerikanismus“. Diesen verortete Danko darin, dass – ähnlich linken und liberalen Medien in Westeuropa – sofort den 54

Martin Danko, Vzťah k USA a prejavy antiamerikanizmu vo vybraných slovenských periodikách v období po 11. septembri, in: Mesežnikov, USA a transatlantická spolupráca v názoroch politických strán, občanov a médií na Slovensku, 55–65, 62. 55 Martin Hric, Pršteky Mosadu, in: Pravda, 27.9.2001, 6. 56 Panczová, Konšpiračné teórie na stránkach internetu, 155. 57 Die Zeitung wurde 2002 wegen finanzieller Schwierigkeiten von Sme (mitte-rechts) aufgekauft. 58 Die Zeitung war während des Kalten Krieges nach dem Vorbild der russischen Pravda offizielle Regimezeitung.

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USA bzw. deren Außenpolitik die Verantwortung für die Anschläge zugeschoben und vor einem „umbarmherzigen amerikanischen Gegenschlag“ gewarnt wurde.59 Die Pravda habe sich als Blattlinie insgesamt zwar um eine neutrale Berichterstattung bemüht, gleichzeitig aber zahlreiche Beiträge ­publiziert, die aus einer linken Position heraus die Politik der USA kritisierten und in ihr die Ursache für die Terroranschläge sahen.60 Außerdem hegte die Pravda zwei Wochen nach den Anschlägen an den von den USA vorgelegten Beweisen für die Täterschaft Osama bin Ladens gewisse Zweifel.61 Hier sieht man exemplarisch, dass es trotz der unterschiedlichen Konstellationen und Geschichten nach dem 11. September in Ost- und Westeuropa teilweise durchaus ähnliche Argumentationsmuster gegeben hat. In der slowakischen Presse finden sich auch amerikakritische Beiträge, die von westlichen Medien übernommen wurden. Die mitte-rechts orientierte Sme veröffentlichte einen Beitrag von Michal Friš, der sich vom The Economist Anleitungen holte für das äußerst negative Bild, das er vom amerikanischen Präsidenten entwarf.62 Sme übernahm auch einen Artikel aus dem Le Figaro, in dem die militärischen Reaktionen der USA als „ein zynisches Spiel des Präsidenten, der nur die US-amerikanischen Waffen ausprobieren und die Kontrolle über die Erdölreserven erlangen wollte“, verurteilt wurden.63 Das rechtsnationale literarische Wochenblatt Literárny týždenník,64 das seit 1989 einen gewaltigen Leserschwund hinnehmen musste und 2001 als mitte-rechts einzuordnen war, ließ am 4. Oktober 2001 Nadia Khouri-Dagher mit einem Beitrag zu Wort kommen, der bereits in Le Monde veröffentlicht worden war. Im Wesentlichen findet sich darin die im Westen weit verbreitete Sicht, dass die Globalisierung als ein von den USA der Welt aufgezwungenes „amerikanisches Modell“ zu betrachten sei und weltweit einen massiven Widerstand gegen die USA ausgelöst habe.65 59

Vgl. Danko, Vzťah k USA a prejavy antiamerikanizmu vo vybraných slovenských periodikách v období po 11. Septembri, 64. 60 Ebd., 56 f. 61 Pravda, 24.9.2001, 4. 62 Sme, 27.9.2001, 10. 63 Danko, Vzťah k USA a prejavy antiamerikanizmu vo vybraných slovenských periodikách v období po 11. Septembri, 59. 64 Literárny týždenník verzeichnete seit 1989 einen Rückgang seiner Auflage von 25.000 auf 3.000 (2003). Das Wochenblatt kritisiert offen die Unabhängigkeit von Kosovo und setzt Homosexualität mit Pädophilie gleich. 65 Literárny týždenník, 4.10.2001.

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Die sich ebenfalls im Niedergang befindliche, bürgerlich-liberale Národná obroda (Nationale Erneuerung) übernahm eine Woche nach Beginn der M ­ ilitäroffensive in Afghanistan von Spiegel-Online ein Interview mit ­Günter Grass, der – in etwas anderen Worten ausgedrückt – den Vorwurf von Nadia Khouri-Dagher wiederholte. Auch aus seiner Sicht hatten die Amerikaner als letzte verbliebene Weltmacht dem Rest der Welt vor allem ihre ökonomischen Interessen aufgezwungen, weshalb sie weltweit auf wenig Verständnis, ja Ablehnung und Hass, gestoßen wären.66 Die in unterschiedlichen ostmitteleuropäischen Medien geäußerte ­Kritik an den USA weicht somit kaum von den vielen Ursachen-Analysen und Schuldumkehr-Tendenzen in vor allem linken und liberalen westlichen Medien ab. Vielmehr konnte eine gewisse Zusammenarbeit und ein Austausch zwischen westlichen und osteuropäischen Medien beobachtet werden, z.B. indem die slowakische Presse Beiträge aus bedeutenden französischen und deutschen Leitmedien übernommen hat. Das zeigt, dass die Berichterstattung zum 11. September nicht nur im engen nationalen Kontext zu sehen ist, sondern als Teil einer mittlerweile transnationalen Medienwelt zu begreifen ist. Auch die teilweise Überschneidung von linker und rechter Amerikakritik ist kein osteuropäisches Phänomen, sondern findet sich auch in Westeuropa67 sowie in der transnational organisierten Antiglobalisierungsbewegung. Im Unterschied zu den links-liberalen westlichen Medien wie der französischen Le Monde oder dem britischen Guardian nahm die Amerikakritik nach dem 11. September in den auflagenstarken ostmitteleuropäischen Medien insgesamt aber nur wenig Raum ein, es überwogen Solidarität und Empathie.

Eine „Koalition der Willigen“?: Die Kriege in Afghanistan und im Irak Auch als es im Vorfeld des Afghanistankrieges um konkrete militärische Hilfeleistungen ging, stellten die neuen NATO-Mitglieder in Ostmitteleuropa diese keineswegs infrage. In Polen unterstützten sowohl die 66 Danko, Vzťah k USA a prejavy antiamerikanizmu vo vybraných slovenských periodikách v období po 11. Septembri, 56–61. 67 Vgl. dazu die nationalen Länderstudien im vorliegenden Band.

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s­ ozialdemokratische Regierung als auch der sozialdemokratische Präsident Kwaśniewski den Krieg in Afghanistan. Sämtliche im Sejm (polnisches Parlament) vertretenen Parteien waren sich darüber einig, dass den Amerikanern im Falle eines Krieges sowohl moralische als auch politische Unterstützung zukommen müsse.68 Auch die Tschechische Republik und die Slowakei stellten sich in dieser Frage auf die Seite der USA, womit, in den Worten des tschechischen Präsident Havel ausgedrückt, die „Kräfte des Guten“ gegen die „Kräfte des Bösen“ unterstützt werden sollten.69 Am 24. September stimmten auch im ungarischen Parlament mit Ausnahme der rechtsextremen MIÉP (Magyar Igazság és Élet Pártja/Die Partei der ungarischen Gerechtigkeit und des Lebens)70 alle Parlamentsparteien einer Überflugsgenehmigung für die Operation Enduring Freedom zu. Die von István Csurka angeführte MIÉP begründete ihre Haltung damit, dass sie Ungarns NATO-Beitritt nie zugestimmt habe und daher auch die Nutzung des ungarischen Luftraumes durch die USA ablehnen würde. Im Vorfeld der Abstimmung hatte Csurka die Anschläge vom 11. September als einen „verständlichen Protest“ gegen die Globalisierung bezeichnet und Amerikas Verantwortung für die zahlreichen Probleme der Welt herausgestrichen.71 In Polen wurde die militärische Unterstützung des Afghanistankrieges nicht nur damit legitimiert, dass Polen als NATO-Mitgliedsland dazu ­verpflichtet sei, sondern auch mit dem Verweis auf die zahlreichen Polen, die im World Trade Center ums Leben gekommen sind.72 Auch polnische Medien berichteten ausführlich über die polnischen Opfer in den USA, womit indirekt auch die lange polnische Auswanderungstradition in die USA ins Bewusstsein gerufen wurde: 2001 wurden rund zehn Millionen Amerikaner polnischen Ursprungs geschätzt, die im Gegensatz zu deutschen Auswanderern einen wesentlich engeren Kontakt mit dem Mutterland gehalten haben. Auch nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs sahen viele Polen die USA erneut als begehrtes Einwanderungsland.73 68 Rzeczpospolita, 19.9.2001. 69 Mladá Fronta Dnes, 1.10.2001, 5. 70 1996 empfingen die Parteirepräsentanten Jean-Marie Le Pen in Budapest. Vgl. Pierre Milza, Evropa v černých košilích, Praha 2005, 428. 71 Pravda, 25.9.2011, 4. 72 Płudowski, Septmeber 11 in Poland, 143. 73 Timothy Garton Ash, Freie Welten. Europa, Amerika und die Chance der Krise, MünchenWien 2004, 107.

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In einer Umfrage sprachen sich 80 Prozent der Polen für einen ‚Krieg gegen den Terror‘ aus, wobei 57 Prozent der Befragten auch eine direkte militärische Beteiligung Polens unterstützten; 16 Prozent lehnten einen Krieg hingegen ab.74 Die polnische Regierung erteilte den USA nicht nur eine Überflugsgenehmigung, sondern entsandte auch 300 Soldaten nach Afghanistan, darunter eine chemische Einsatztruppe und Experten aus dem Institut für Hygiene und Epidemiologie in Puławy.75 Wie polnische Medien berichteten, hat sich Präsident Bush kurz vor Kriegsbeginn beim polnischen Präsidenten persönlich in einem Telefongespräch für diese Unterstützung und Solidarität bedankt.76 Als sich im Vorfeld des Irakkrieges Europa über die Frage einer gemeinsamen Position in der UNO und gegenüber den USA zu spalten begann,77 stellten sich osteuropäische Regierungen weiterhin auf die Seite der USA. Im Januar 2003 unterzeichneten die Regierungen Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik (damals noch EU-Beitrittskandidaten) den auf Initiative von Großbritannien und Spanien verfassten offenen Brief ­United We Stand, der später als Brief der Acht bekannt geworden ist.78 Kurz darauf erklärten sich zehn weitere postkommunistische Länder79 im Brief von ­Vilnius bereit, sich einer internationalen Koalition zur Entwaffnung des Iraks anzuschließen. Der darüber verärgerte französische Präsident Chirac qualifizierte diese Staaten abwertend-überheblich als „wenig wohlerzogene Kinder“; Lob kam hingegen vom amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der mit seiner mittlerweile viel zitierten Aussage und fragwürdigen Terminologie vom „alten und neuen Europa“ allerdings wenig diplomatisch agiert hat.80 74 75 76 77 78 79 80

Rzeczpospolita, 22.9.2001. Vgl. Website des Verteidigungsministerium von Polen – Mission in Afghanistan unter http:// www.isaf.wp.mil.pl/pl/15.html. Vgl. Exemplarisch Rzeczpospolita, 5.10.2010. Einige führende Mitgliedsstaaten wie Großbritannien, Spanien, Italien sprachen sich für eine Beteiligung am Krieg aus, Frankreich und Deutschland gehörten zu den Kriegsgegnern, ­Schweden und Österreich verhielten sich mehr oder weniger neutral. Zudem unterzeichneten Italien, Portugal und Dänemark. Vgl. The Wall Street Journal, 30.1.2003. Albanien, die baltischen Staaten, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Vgl. dazu die Beiträge zu Frankreich und zur amerikanischen Sichtweise auf Europa in diesem Band.

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Gerade Polen galt weiterhin als Musterbeispiel für die Solidarität mit den USA. Im Jänner 2003 meinte beispielsweise einmal der polnische Präsident Kwasniewski: „Wenn das die Sichtweise des Präsidenten Bush ist, so ist es auch meine“.81 Als die USA am 20. März 2003 im Irak einmarschierten, war Polen mit einer Spezialeinheit von 2000 Soldaten beteiligt und übernahm die Aufsicht über die Regionen Babil und Karbala. Auch die Tschechische Republik und die Slowakei schlossen sich der aus 45 Staaten bestehenden „Koalition der Willigen“ an. Auch Ungarn entsandte eine 300-Mann-starke Einsatzgruppe, die mit 26 anderen Nationen den Multinationalen Truppen im Irak (MNF.I) unterstanden. Vor Kriegsbeginn stellte die ungarische Luftwaffe ihre Militärbasen in Kaposvar der US-Luftwaffe zur Verfügung.82 ­Interessanterweise haben auch prominente Vertreter der Dissidentenbewegung und Verfechter einer gewaltlosen Veränderung in Mitteleuropa den Irakkrieg im Namen eines demokratischen Regimewechsels unterstützt: Vaclav Havel in der Tschechoslowakei, der ehemalige Herausgeber von Gazeta­ Wyborcza, Adam Michnik in Polen und der Schriftsteller György Konrad in Ungarn, der wenige Jahre zuvor den NATO-Einsatz in Jugo­ slawien noch abgelehnt hatte. Für Michnik hatte der islamistische Terror den osteuropäischen Kommunismus als neue totalitäre Bedrohung abgelöst. In seinem Beitrag „Warum ich den Krieg unterstützte“, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 12. Februar 2003 veröffentlichte, konstatierte er: „Der Sturz eines ehemaligen Tyrannen kann einem Dissidenten nur Recht sein“.83 Auch Milan Simecka, slowakischer Dissident und Herausgeber der Tageszeitung Sme, sprach im Vorfeld des Krieges von den USA als einer „Dissidentenmacht“, da sie bereit sei, auch gegen den Rest der Welt demokratische Werte zu verteidigen. Aber auch unter den Veteranen des S ­ owjetkommunismus befanden sich eifrige Unterstützer der amerikanischen Führungsrolle und des Irakkrieges. Zu ihnen gehörte Polens Ministerpräsident Leszek Miller, der sich noch gegen den von den USA angeführten Kosovo-Krieg ausgesprochen hatte. Manchen Exkommunisten diente die Parteinahme für den Irakkrieg auch zur Entlastung ihrer kommunistischen Vergangenheit, als Beweis dafür, dass sie jetzt auf der Seite der Demokraten stehen würden.84 81 82 83 84

Rupnik, Amerikas beste Freunde in Europa, 37. Website des ungarischen Außenministeriums, http://www.mfa.gov.hu/kum/en/bal/foreign_ policy/security_policy/hungary_in_nato/hungary_role_in_iraq/ (9.2.2011). FAZ, 12. 2. 2003. Rupnik, Amerikas beste Freunde in Europa, 38.

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Als am 15. Februar 2003 in ganz Westeuropa Millionen Menschen gegen den bevorstehenden Krieg im Irak protestierten, blieb es in Osteuropa ­weitgehend ruhig. Die größte Demonstration fand mit rund 20.000 Teil­nehmer/inn/n­in Budapest statt, wo auch einige Tausend Menschen auf der Brücke der Freiheit eine Menschenkette bildeten und Papierschiffe als Friedensbotschaft in die Donau warfen. Auch an die 200 Anhänger des neo­faschistischen Kulturvereins Blut und Ehre protestierten gegen einen weiteren „imperialistischen Krieg der USA“.85 In Prag gingen rund 2000 Anhänger der Initiative gegen den Krieg und Sympathisant/inn/en von Greenpeace unter der Parole „Kein Blut für Öl“ auf die Straße. An die 1000 Demonstrant/inn/en schlossen sich einer von der kommunistischen Partei organisierten Demonstration gegen den Irakkrieg und vor allem gegen eine tschechische Beteiligung, an. Die Demonstration endete vor der amerikanischen Botschaft, wo dem Botschafter ein Protestbrief übergeben wurde. Kleinere Gruppen demonstrierten auch in Brno/Brünn und Moravská Ostrava/ Mährisch-Ostrau, wobei auch ein Transparent mit „Bush=Hitler“ auftauchte. In der Slowakei organisierte die global agierende Initiative Nicht in unserem Namen in Bratislava eine kleine Demonstration. In polnischen Medien wurde zwar über die weltweiten Antikriegsdemonstrationen berichtet, allerdings findet sich kein Hinweis auf eine Demonstration im eigenen Land.86 Das im Vergleich zum westlichen Europa geringe Ausmaß an Antikriegsdemonstrationen in Osteuropa sollte allerdings nicht den Eindruck vermitteln, dass die dortige Bevölkerung den Irakkrieg mehrheitlich befürwortete.87 Aus mehreren unabhängigen Meinungsumfragen geht hervor, dass die Menschen in den neuen EU-Mitgliedsstaaten dem Irakkrieg ebenso kritisch gegenüberstanden wie die Menschen im „alten Europa“. Zwischen 70 und 75 Prozent lehnten eine militärische Intervention ab und selbst in Polen lag die Zustimmung zum Krieg nie höher als 42 Prozent.88 Auch rund 70 Prozent der Befragten in den Baltischen Ländern, die zu den sogenannten Vilnius 10 zählten, sprachen sich gegen eine militärische Interventi85

Vgl. Online-Archiv der Zeitung Sme: http://www.sme.sk/c/815321/cesi-sa-pripojili-k-protestom-proti-vojne-v-iraku.html (4.2.2011). 86 Ebd. 87 Ash, Freie Welten, 111. 88 Beata Roguska/Michał Wenzel, The End of Anti-Anti-Americanism? Attitudes towards the USA in Poland, in: Oľga Gyárfášová (Hg.), Nurturing Atlancitists in Central Europe. The Case of Slovakia and Poland, Bratislava 2008, 98–108, 107.

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on im Irak aus.89 Ähnlich wie in Großbritannien, Spanien oder Italien traten somit auch in postkommunistischen Staaten tiefgehende Meinungsunterscheide zwischen der politischen Elite und der Bevölkerung zutage.90 In Umfragen, in denen die Einstellung europäischer Länder gegenüber den USA gemessen wurde („Thermowerte für die USA“ – Skala der Transatlantic Trends), kündigte sich eine Abkühlung des transatlantischen Verhältnisses an. Gemeinsam mit Großbritannien wies Polen 2003 in Europa noch die größte Zustimmung auf (61 Grad auf einer 100-stufigen Skala). Ein Jahr später waren die Werte zwar auf 56 Grad zurückgegangen, doch lagen diese noch immer wesentlich höher als beispielsweise in der Slowakei (unter 50 Grad).91 Wie aus weiteren Umfragen (Transatlantic Trends) hervorgeht, zeigten sich auch die Polen zunehmend skeptisch gegenüber der amerikanischen Außenpolitik. Die Frage „Wie wünschenswert ist für Sie eine starke Führungsrolle der USA in internationalen Angelegenheiten?“ beantworteten 53 Prozent der Befragten im Jahr 2002 positiv, was aber e­ inen Rückgang von 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutete. Zwischen 2002 und 2003 stieg der Prozentsatz jener, die mit „nicht wünschenswert“ antworteten, von 22 auf 34 Prozent.92 Gleichzeitig konnte auch eine Verschlechterung des Amerikaimages festgestellt werden: Hatten im Jahr 2000 noch 79 Prozent der Polen ein positives Bild von den USA, so waren es im März 2003 nur mehr 50 Prozent. Im Vergleich zu Deutschland (2003: 25%), Frankreich (2003: 31%) und Italien (2003: 34%) erwiesen sich die Polen allerdings immer noch wesentlich proamerikanischer und waren wieder einmal mit den britischen Werten (2003: 48%) vergleichbar.93 Mit der verstärkten Ablehnung des Irakkrieges und der zunehmenden Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik wurden auch Stimmen laut, die die Abberufung der polnischen Soldaten aus dem Irak und aus Afghanistan forderten: 2005 sprachen sich bereits 75 Prozent gegen eine weitere Entsendung von polnischen Truppen in den Irak aus. Ein Jahr zuvor hatten auch nur mehr 24 Prozent einer Entsendung von polnischen Soldaten nach 89 Rupnik, Amerikas beste Freunde in Europa, 51. 90 Ebd., 40. 91 Transatlantic Trends 2004: http://www.gmfus.org/trends/doc/2004_german_key.pdf (21.9.2001). 92 Transtlantic Trends 2003: http://www.gmfus.org/trends/doc/2003_german_key.pdf (21.9.2010). 93 The Pew Global Attitudes Project, What the World Thinks in 2003 (Opinion of the United States: Do you have a favorable or unfavorable view of the U.S.?) (www.people-press.org).

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Afghanistan zugestimmt.94 Dieser Meinungsumschwung in der polnischen Bevölkerung zwang offensichtlich auch die politischen Parteien zu einer Haltungsänderung.95 Als 2005 über die Abberufung der polnischen Soldaten aus dem Irak diskutiert wurde, trat sogar die SLD (Sojusz Lewicy Demokraticznej/Bund der demokratischen Linken), die 2003 als Regierungspartei für die Entsendung der polnischen Truppen in den Irak verantwortlich war, für deren Rückholung ein. Lediglich die PiS (Prawo i Spraviedliwość/Recht und Gerechtigkeit), die seit den Wahlen 2006 mit Jaroslaw Kaczynski an der Spitze die Regierung bildet, unterstützte weiterhin die militärische Unterstützung der amerikanischen Irakpolitiik. Jaroslaw Kaczynskis Zwillingsbruder Lech Kaczynski, der 2005 zum Präsidenten gewählt wurde, untermauerte zwar die Bedeutung einer weiterhin engen Zusammenarbeit mit den USA, zog letztendlich aber ein größeres polnisches Kontingent aus dem Irak ab.96 Neben Polen holten allerdings auch andere Staaten wie Spanien (als Reaktion auf den Terroranschlag in Madrid), Italien oder die Philippinen ihre Truppen allmählich aus dem Irak zurück.97

Der Weg nach Europa: Neue Bündnispartner und alte Loyalitäten Die Abkühlung des Verhältnisses der polnischen Bevölkerung zur USA, vor allem zur amerikanischen Außenpolitik, muss auch im Kontext der polnischen Annäherung an die EU gesehen werden, wobei vor allem wirtschaftliche Interessen von Bedeutung waren. Nachdem die EU 2002 eine Empfehlung zur EU-Osterweiterung ausgesprochen hatte, waren die Verhandlungen voll im Gange und in den einzelnen Ländern wurde im Sommer 2003 ein Referendum durchgeführt. Bereits im Juli 2001 hat94 Transatlantic Trends 2004: http://www.gmfus.org/trends/doc/2004_german_key.pdf (21.9.2010); Roguska/Wenzel, The End of Anti-Anti-Americanism?, 107. 95 Vgl. Anna Horolets, Representation of the United States in Polish Public Discourse, in: Oľga Gyárfášová (Hg.), Nurturing Atlancitists in Central Europe. Case of Slovakia and Poland, Bratislava 2008, 47–72, 51–55. 96 Vgl. Jarolím Antal/Michal Greguška/Igor Mištík, Volebný rok v Poľsku. Kde sa nachádza Poľsko, in: Slovenská politologická revue 4/2006: http://www.ucm.sk/revue/2006/4/tretiaci. pdf (25.9.2010). 97 Julia E. Sweig, Friendly Fire. Losing Friends and Making Enemies in the Anti-American Century, New York 2006, 93.

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te Bronislaw Geremek (Historiker, Außenminister von 1997 bis 2000 und Abgeordneter) die polnische Außenpolitik seit ihrer Unabhängigkeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als Annäherungsversuch an den Westen charakterisiert, insbesondere an die USA und NATO, ohne jedoch dabei den Blick auf Europa und die EU außer Acht zu lassen.98 Am 19. September 2001, also nur wenige Tage nach den Anschlägen in den USA, hob Premierminister Jerzy Buzek die Bedeutung einer effektiven wirtschaftlichen Integration in Europa besonders hervor.99 Mittlerweile weiß man, dass der EU-Beitritt Polens auch das Verhältnis zu den USA beeinflusst hat. Nicht zuletzt veränderte sich damit die Selbstwahrnehmung der Polen, die sich als EU-Mitglied jetzt als Teil des Westens verstanden und im ständigen Vergleich mit den Westeuropäern nicht nur eigene Schwächen zugeben mussten, sondern auch selbstbewusst ihre Stärken erkannt haben. Zunehmend assoziierten sie ihren steigenden Lebensstandard mit der Zugehörigkeit zur EU, vor allem auch nachdem einige EU-Staaten wie Großbritannien und Irland ihren Arbeitsmarkt für die neuen EU-Bürger geöffnet hatten. Großbritannien und Irland bildeten bald eine beliebte Alternative zur Arbeitsmigration in die wesentlich weiter entfernteren USA100 – 2007 wurde die Zahl der polnischen Gastarbeiter/ innen beispielsweise in Großbritannien auf 600.000 geschätzt.101 Gerade die Polen zeigten sich auch enttäuscht darüber, dass die USA ihre Loyalität im Irakkrieg nicht mit einer Einreiseerleichterung belohnt und ihr Land ins Visa Waiver-Programm102 einbezogen hatten, womit ihnen hohe Visagebühren erspart geblieben wären. Die Auffassung, dass Polen weniger zuvorkommend behandelt würden als Menschen aus anderen Ländern, die sich nicht der „Koalition der Willigen“ angeschlossen hatten, fand in Polen zunehmend Verbreitung.103 Polen und auch andere ostmitteleuropäische Länder stellten aber auch Ansprüche an die EU. Wie aus Umfragen (Transatlantic Trends) hervor98 Abschrift der Rede des Abgeordenten vom 6.6.2001, http://orka2.sejm.gov.pl/Debata3.ns f/5c30b337b5bc240ec125746d0030d0fc/5ec31d16f0ad1f9ec125749d0045bbf4?OpenDocument (15.11.2010). 99 Rzeczpospolita, 19.9.2001. 100 Roguska/Wenzel, The End of Anti-Anti-Americanism?, 102-107. 101 Der Standard, 29.10.2007, 2; Metro, 10.11.2006, 26. 102 Ein Programm, das Bürger/inne/en einiger Länder für 90 Tage die Einreise in die USA ohne Visum erlaubt. 103 Antoszek/Delaney, Poland, 243.

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geht, erwartete man sich von der EU vor allem eine dominantere Rolle in der Sicherheitspolitik. Zwischen 2002 und 2003 vertraten 63 Prozent der befragten Polen die Meinung, dass sich die EU zu einer den USA ähn­ lichen Supermacht entwickeln sollte; lediglich 10 Prozent waren dafür, dass die USA weiterhin alleinige Supermacht bleiben sollten.104 Auch 77 Prozent stimmten der Frage zu, dass Europa „in der Lage sein sollte, die eigenen Interessen unabhängig von den USA vertreten zu können“.105 Mit dem Wunsch nach einer vor allem in sicherheitspolitischer Hinsicht starken EU war allerdings keineswegs automatisch eine Absage an eine Zusammenarbeit mit den USA verbunden. Vor allem die Polen sprachen sich mehrheitlich nach wie vor für die Fortsetzung der bisherigen Zusammenarbeit mit den USA aus (bei den Slowaken waren es hingegen nur 44 Prozent) und sie wollten – wie die Briten – auch keine größere Unabhängigkeit der EU von den USA.106 Die im Zuge des Irakkrieges festgestellte zunehmend kritische Haltung mancher osteuropäischer Staaten gegenüber der amerikanischen Außenpolitik darf nicht als Absage an ‚Amerika‘ insgesamt interpretiert werden. Weiterhin übten als amerikanisch erachtete Werte wie Demokratie sowie der amerikanische Lebensstil (oder zumindest was man darunter verstand) eine große Anziehung aus. Vor allem die amerikanische Popkultur erfreut sich nach wie vor größter Beliebtheit.107 Bald kam es auch wieder zu einer Imageverbesserung, so hatten 2010 wieder 74 Prozent der Polen ein positives Bild von den USA.108 Aus den bekannten Zahlen und Trends in allen Umfragen zeigt sich, dass Polen nach wie vor relativ wenig Antiamerikanismus aufweist bzw. dieser hauptsächlich in marginalen nationalen und rechtsextremen Randgruppen anzutreffen ist.109 Oder in den Worten des polnischen Journalisten und Dissidenten Adam Michnik ausgedrückt: „Wenn Antiamerikanismus eine Krankheit ist, dann hat Polen nur eine leichte Erkältung“.110 104 Transtlantic Trends 2003: http://www.gmfus.org/trends/doc/2003_german_key.pdf (21.9.2001). 105 Transatlantic Trends 2004: http://www.gmfus.org/trends/doc/2004_german_key.pdf (21.9.2010). 106 Ebd. 107 Horolets, Representation of the United States in Polish Public Discourse, 71. 108 Vgl. Ergebnisse des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research http://people-press.org/ report/165/what-the-world-thinks- in-2002 (6.10.2010). 109 Vgl. dazu Antonszek/Delaney, Poland, 242 ff. 110 Adam Michnik, What Europe means for Poland, in: Journal of Democracy 14, no. 3 (2003),

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Der im Vorfeld des Irakkrieges konstruierte Gegensatz vom „alten Europa“ und „neuen Europa“ lässt sich jedenfalls nur aufrechterhalten, wenn die Haltung der Bevölkerung übergangen wird. Ähnlich wie in Großbritannien, Spanien und Italien unterstützte die politische Elite die amerikanische Außenpolitik, während sich selbst im grundsätzlich amerikafreundlichen Polen die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Irakkrieg stellte. Aufgrund ihrer Geschichte zeigten sich Osteuropäer allerdings wesentlich weniger ängstlich gegenüber einer Vormachtstellung der USA, auch wenn ihnen immer eine gleichwertige Beziehung zwischen der EU und der Supermacht Amerika vorschwebte. Es sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, dass viele osteuropäische Demokratien noch nicht der EU angehört hatten, als Rumsfeld sie bereits als „neues Europa“ hofiert hatte und sie sich zwischen Europa und Amerika entscheiden sollten. Wie sich die Beziehung zwischen den osteuropäischen Staaten und den USA weiterhin gestalten wird, ist schwer zu prognostizieren. Das zunehmende Erstarken rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien auch als Folge gravierender wirtschaftlicher Probleme lässt allerdings ein Anwachsen des Antiamerikanismus (in Verbindung mit Antisemitismus) befürchten.

122–134, zitiert nach Antoszek/Delaney, Poland, 244.

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Signaturen des 11. September 2001 in Österreich Erste Reaktionen: „Wir teilen den Schmerz, wir leiden mit ihnen“ Österreich wurde von den Terroranschlägen am 11. September 2001 ebenso überrascht wie der Rest der Welt. In der Zeit zuvor war man stark mit außen- und innenpolitischen Problemen beschäftigt gewesen, die sich aus der umstrittenen Regierungsbildung vom Februar 2000 ergeben hatten. Die damals geschmiedete Koalition zwischen der konservativen ÖVP unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und der weit rechts stehenden FPÖ (schwarz-blaue Koalition) war nicht nur in Österreich selbst, sondern auch im (europäischen) Ausland auf großen Widerstand gestoßen (Demon­ strationen, EU-Sanktionen). Im Herbst 2001 hatte sich die Situation zwar weitgehend beruhigt, doch innenpolitisch herrschte nach wie vor ein sehr polarisiertes Klima. Die Terroranschläge schienen diese Konflikte für eine kurze Zeit außer Kraft zu setzen, denn über alle Parteigrenzen hinweg zeigte man sich über die schrecklichen Anschläge entsetzt und beschwor den Konsens und Dialog. Die Regierung, die bei einer Sitzung mit der Nachricht über die Anschläge aufgeschreckt wurde, verurteilte das Verbrechen und zeigte sich mit den angegriffenen USA solidarisch. Als erste Politikerin kam Außenministerin Benita Ferrero-Waldner im ORF am Nachmittag des 11. September mit einigen Sätzen der Anteilnahme zu Wort. Auch Bundeskanzler Schüssel, von dem der ORF in der Fußgängerzone der Wiener Innenstadt eine erste Reaktion einholte, sprach in dem wenig staatstragenden Ambiente sein „Mitgefühl mit den Opfern dieser entsetzlichen Anschläge“ aus und wies beruhigend auf verschärfte Sicherheitsvorkehrungen in Österreich hin.1 Eine in dieser Woche anberaumte Sondersitzung des Nationalrats sowie andere innenpolitische Termine wurden abgesagt, anstatt dessen wurde am Tag nach den Anschlägen eine offizielle Gedenkfeier angesetzt. 1

ORF-Live-Sendung, 11.9.2001, 16.09 Uhr und 18.15 Uhr. Vgl. dazu Erläuterung in Fußnote 14.

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Schüssel betonte bei dieser offiziellen Trauerfeier, dass Österreich „an der Seite der USA“ stünde und bekräftigte: „Wir teilen den Schmerz, wir leiden mit ihnen.“2 Bundespräsident Thomas Klestil sprach in einer TV-Ansprache von einem „Anschlag auf die Menschlichkeit“ und einem „Terror einer neuen Dimension“, dem man nur geeint und mit Dialogbereitschaft begegnen könne.3 Auch der SPÖ-Vorsitzende Alfred Gusenbauer bezeichnete die Anschläge als „humanitäre Katastrophe“, nach der „die Welt eine andere, aber keine bessere“ sei.4 In allen offiziellen Stellungnahmen wurde auch vor einer Pauschalverurteilung aller Muslime bzw. des Islam gewarnt, was jedoch nichts an der Tatsache änderte, dass es auch in Österreich bald zu einer politischen Instrumentalisierung des ‚Feindbild Islam‘ und einer religiös-kulturellen Überlagerung der Migrationsdebatten gekommen ist.5 Die ersten Reaktionen in Österreich unterschieden sich nicht wesentlich von denen im restlichen Europa, im Vergleich mit den großen westeuropäischen, aber auch einigen osteuropäischen Staaten blieben die Solidaritäts­ bekundungen hier aber etwas verhaltener. Einer sofort durchgeführten Umfrage des Kärntner Humaninstituts zufolge empfanden 83 Prozent der befragten Österreicher/innen „spontanen Schock und Angst“ und 76 Prozent „stumme Starre und innere Lähmung“ angesichts der Katastrophenbilder.6 Laut der Ende September durchgeführten Umfrage des Integral-Meinungsforschungsinstituts waren 45 Prozent der Befragten „sehr betroffen“ und 36 Prozent „etwas betroffen“ von den Terroranschlägen, allerdings gaben immerhin 17 Prozent an, von den Ereignissen entweder „gar nicht betroffen“ oder „eher nicht betroffen“ gewesen zu sein.7 Zwar wurden auch in Österreich Gedenkminuten abgehalten, öffentliche Gebäude mit schwarzen Flaggen behisst und ausnahmsweise die Pummerin vom Stephansdom geläutet, zu spontanen Beileidsbekundungen vor der amerikanischen Botschaft oder 2 3 4 5 6 7

Die Presse, 13.9.2001, 10. Vgl. auch Trauer in Blau-Schwarz, in: Format, Nr. 38, 14.9.2001, 74–77. Zitiert nach Der Standard, 13.9.2001, 13. Zitiert nach Die Presse, 13.9.2001, 10. Auf diesen wichtigen Diskursstrang nach dem 11. September 2001 kann in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden. Vgl. John Bunzl/Farid Hafez (Hg.), Islamophobie in Österreich, Innsbruck-Wien-Bozen 2009. Umfrage des Kärntner Humaninstituts (durchgeführt 12.-17.9.2001), zitiert nach Profil, Nr. 39, 24.9.2001, 135. „America Under Fire“ (Studie im Auftrag des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschaft, durchgeführt 19.9.–2.10.2001, INTEGRAL-Meinungsforschungsinstitut), Studie 2170/01, Oktober 2001, 5.

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zu einer großen Solidaritätsdemonstration wie etwa in Berlin ist es in Österreich nach den Anschlägen jedoch nicht gekommen. Die österreichischen Medien versuchten diesem ‚Jahrhundertereignis‘ mit Sonderausgaben und einer überaus umfangreichen Berichterstattung gerecht zu werden. Schlagzeilen übten sich in Superlativen, etwa wenn am Tag danach von „Inferno“ (News) oder „Apokalypse“ (Die Presse) die Rede war und das Ereignis mit dem Verweis auf „Kain und Abel“ (­ Kronen ­Zeitung) manchmal sogar biblische Dimensionen erhielt. Ungläubigkeit und Ratlosigkeit beherrschte die Öffentlichkeit und so fragte der StandardKolumnist Hans Rauscher wohl stellvertretend für viele: „Wer bringt eine so immense kriminelle Energie für eine solche Horrortat auf ?“8 Auch die Redaktion des Profil zeigte sich tief geschockt und obwohl es ihr nicht leicht fiel, „professionelle Gelassenheit“ zu zeigen9, beschäftigten sich in der ­ersten Ausgabe nach den Anschlägen sämtliche 100 Seiten des Politikmagazins ausschließlich mit dem Terror in den USA. Die Berichterstattung mancher Medien war besonders sensationsheischend, wie etwa in News, das mit ­einem vorgezogenen Erscheinungstermin und einer umfangreichen Sonderberichterstattung mit großen Fotoreportagen auf das Ereignis reagierte. Das Boulevardmagazin schreckte auch nicht davor zurück, ein Bild von einem in Todesangst aus dem Turm springenden Menschen in Großaufnahme zu veröffentlichen10, was bei seriösen Medien aus Pietätsgründen vermieden wurde. Auch viele Personen des öffentlichen Lebens – Künstler/innen, Intellektuelle, Politiker/innen – zeigten sich von den Anschlägen tief betroffen11 und manchmal gerieten Solidaritätsbekundungen nahezu zu ‚Liebeserklärungen‘ an New York, besonders bei jenen, die einen persönlichen Bezug zu den USA hatten. So bekannte beispielsweise der Chefredakteur der Stadtzeitung Falter Armin Thurnher in der ersten Ausgabe nach den Anschlägen: „Ich bin ein New Yorker“ und zeichnete ein überaus positives Bild von New York: Die Stadt sei unsentimental, unbigott, kaltschnäuzig, multikulturell – und somit in vielerlei Hinsicht genau das Gegenteil vom restlichen ‚Amerika‘.12 Auch der Schriftsteller Michael Scharang, politisch der Linken zuzuord8 9 10 11 12

Hans Rauscher, Hassobjekt USA, in: Der Standard, 12.9.2001, 1. Editorial in: Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 7. Vgl. News, Nr. 37, 13.9.2001, 16. Stellungnahmen in: Format, Nr. 38, 14.9.2001, 64–69; News, Nr. 38, 20.9.2001, 68–70. Falter, Nr. 38, 19.9.2001, 6.

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nen, reagierte auf die Anschläge mit einem sehr positiven und nostalgischen Blick auf New York, das er als multikulturell und tolerant beschrieb, weshalb es seiner Ansicht nach auch den Hass von Fanatikern auf sich gezogen hatte.13 Interessant dabei ist, dass beide Autoren dem ‚guten‘ urbanen und intellektuellen Amerika (das sie lieben und mit dem sie sich solidarisierten) das ‚böse‘ provinzielle Amerika (das sie ablehnen) gegenüberstellten. Thurnher hat diesen Gegensatz personalisierend auf „New York = Tony Judt, Amerika = George W. Bush“ verkürzt und auch Scharang sah Präsident Bush als Verkörperung des ‚bösen‘ Amerika und bescheinigte ihm eine „ähnliche Weltsicht“ wie den Terroristen. Diese zwei Beispiele zeigen, dass manchmal selbst positive Bekenntnisse zu den USA gleichzeitig negative Amerikabilder transportieren bzw. bestätigen konnten.

Der Terror im Fernsehen14 Dem Fernsehen und seiner Berichterstattung über die Ereignisse vom 11. September kam weltweit eine überragende Bedeutung zu, so auch in Österreich. Einer entsprechenden Umfrage zufolge, hat jede/r zweite Befragte in Österreich direkt aus dem Fernsehen von den Terrorangriffen erfahren und 9 von 10 Österreicher/inne/n schalteten im Laufe des Tages der Anschläge den Fernsehapparat ein, um sich näher über die Ereignisse in den USA zu informieren.15 Welche Fernsehsender sie schließlich wählten, ist nicht eindeutig feststellbar, vermutlich wurde häufig zwischen CNN als der ­‚Originalquelle‘ und den nationalen Sendern geswitcht. Für viele Österreicher blieb der heimische Sender ORF aus unterschiedlichsten Gründen 13 14

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Michael Scharang in: Die Presse, 15./16.9.2001, Spectrum I. Im Rahmen meines Forschungsprojektes Perzeptionen von ‚Amerika‘ in Deutschland und Österreich seit dem 11. September 2001 im historischen und europäischen Kontext konnte im ORF-Archiv, Wien, die ORF-Berichterstattung zum 11. September 2001 gesichtet bzw. teilweise auch auf DVD kopiert werden. Das in diesem Beitrag zitierte ORF-Material bezieht sich auf diesen Bestand im ORF-Archiv bzw. auf die Kopien im Besitz der Verfasserin. An dieser Stelle möchte ich mich bei den Mitarbeiter/inne/n des ORF-Archivs und bei meiner Kollegin ­Monika Bernold für die Recherche und Grobauswertung des ORF-Materials bedanken. Zu 9/11 als Medienereignis vgl. auch den Beitrag von ­Monika Bernold in diesem Band. „America Under Fire“, Studie 2170/01, Oktober 2001, 4. Radio und Internet wurden in den ersten Stunden wesentlich weniger genutzt, wobei die geringe Nutzung des Internets wohl auch auf die enorme Überlastung des Netzes zurückzuführen war.

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(Rückgriff auf Vertrautes, mangelnde Englischkenntnisse usw.) die bevorzugte Informationsquelle, dies legen zumindest die hohen Einschaltquoten des ORF nahe. Bereits wenige Minuten nach der ersten Meldung hatte der ORF 548.000 Zuseher/innen, zwei Stunden später verfolgten bereits 1,3 Millionen Österreicher die ORF-Berichterstattung zum Terroranschlag und die Hauptnachrichtensendung Zeit im Bild (ZIB 1) um 19.30 Uhr erzielte mit 2,25 Millionen die höchste Einschaltquote.16 Im ORF herrschte am 11. September 2001 – wie wohl in allen Fernsehstudios weltweit – eine noch nie da gewesene Ausnahmesituation, sowohl was den Inhalt (ein live am Bildschirm zu verfolgender Terroranschlag) als auch das Ausmaß der Berichterstattung betraf. Der ORF berichtete in einer 43-stündigen Marathonsendung über die Terroranschläge in New York und Washington, das heißt: durchgehend vom Dienstag, den 11. September 15.07 Uhr bis Donnerstag, dem 13. September 10.00 Uhr. Es war damit die längste Live-Sendung in der Geschichte des ORF-Fernsehens (länger noch als die Berichterstattung über die Mondlandung von 1969), an der insgesamt 150 ORF-Mitarbeiter/innen vor und hinter dem Bildschirm beteiligt waren.17 „Vor wenigen Minuten ist ein Flugzeug, wahrscheinlich eine zweimotorige Maschine, in das World Trade Center in New York gerast und hat ein Riesenloch gerissen. Wir schalten auf CNN, um ihnen diese unglaublichen Bilder zu zeigen.“18 Mit diesen Worten der ORF-Moderatorin Hannelore Veit ging der ORF um 15.07 Uhr, also rund 20 Minuten nach dem ersten Anschlag, auf Sendung, womit der österreichische Sender im deutschsprachigen Vergleich sehr früh reagierte.19 Zum Zeitpunkt der ersten Zuschaltung war noch nicht absehbar, was die Bilder aus New York bedeuteten, ob es sich um einen Unfall oder einen Terroranschlag handelte. Erst als unmittelbar darauf ein zweites Flugzeug in den zweiten Turm des WTC raste, wurde die Befürchtung, dass es möglicherweise ein Terroranschlag gewesen sein könnte, zur Gewissheit. 16 Vgl. tv-media, Nr. 39, 22.–28.9.2001, 12. 17 Vgl. http://mediaresearch.orf.at/chronik.htm, 11.9.2001 (1.4.2010). 18 ORF, 11.9.2001, 15.07 Uhr. 19 In Deutschland waren die Privatsender n-tv (ein Partnersender von CNN) und RTL kurz vor/ nach 15 Uhr als erste auf Sendung, wohingegen die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF erst mit einiger Verzögerung (ca. 15.45 Uhr) eingehend auf die Tragödie in New York reagierten. Vgl. Stephan Alexander Weichert, Die Krise als Medienereignis. Über den 11. September im deutschen Fernsehen, Köln 2006.

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Die allerersten Stunden der Berichterstattung haben Hannelore Veit und Eugen Freund übernommen, die am 11. September Dienst hatten. Ihre Aufgabe war es, in den folgenden zwei Stunden die von CNN übernommenen und noch schwer einordenbaren Bilder moderierend und kommentierend zu begleiten. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der sich überschlagenden Ereignisse, auf die sie spontan und live reagieren mussten, war dies sicherlich die schwierigste Phase in der Berichterstattung. Die Bilder von den Ereignissen in den USA – zuerst die rauchenden Türme des WTC, dann das rauchende Pentagon in Washington und schließlich der in kurzen Abständen erfolgte Einsturz der Türme in New York – waren in diesen zwei Stunden (teilweise in Form von Split Screens) dauerhaft am Bildschirm präsent. Abgesehen von den Bildern und spärlichen CNN-Informationen gab es in den ersten Stunden der ORFBerichterstattung unter anderem zwei Live-Telefonate mit österreichischen Augenzeugen, eine erste Stellungnahme der österreichischen Außenministerin sowie eine erste telefonische Zuschaltung des USA-Korrespondenten Peter Fritz aus Washington, der erstmals um 15.52 Uhr live aus Washington berichtete und im Laufe der Sendung noch oft zugeschaltet wurde. Er war am Bildschirm in einem Büro vor einem Fenster stehend zu sehen, wobei man durch das offene Fenster wenig erkennen konnte, außer einer Rauchwolke im fernen Hintergrund. Mit dieser Einstellung wurde eine vermeintliche Augenzeugenschaft suggeriert, die jedoch nicht eingelöst werden konnte, da der Korrespondent weit vom Tatort entfernt war und keine neuen Informationen hatte. Trotz ihres beruflichen und persönlichen Bezugs zu den USA20 haben die beiden ORF-Moderator/inn/en der ersten Stunden insgesamt sehr professionell agiert und waren um eine sachliche, objektive Berichterstattung bemüht. Sie hielten sich angesichts der unklaren Situation mit Mutmaßungen und Schlussfolgerungen weitgehend zurück und versuchten, vorschnelle Spekulationen (z.B. über die Opferzahlen, die Täter) zu vermeiden bzw. zu relativieren. Vor diesem Hintergrund scheint die Kritik in der Presse, dass sie „panisch und überfordert“ gewirkt und lediglich die CNN-Bilder beschrieben hätten21, 20 Hannelore Veit hatte in den USA studiert und war von 1985 bis 1989 als Radiokorrespondentin für das Wiener Büro von Voice of America tätig gewesen. Ihr Co-Kommentator Eugen Freund hatte seit 1995 als ORF-Korrespondent in Washington gearbeitet und war erst kurz vor den Anschlägen, im August 2001, aus den USA nach Wien zurückgekommen. Vgl. dazu auch den Beitrag von Eugen Freund in diesem Band. 21 So eine TV-Kritik in: Die Presse, 13.9.2001, 34. Beipflichtend dazu ein Leserbrief in: Die Presse, 15./16.9.2001, 11.

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nicht gerechtfertigt. Nach ungefähr zwei Stunden, kurz nach 17 Uhr erfolgte ein Wechsel im Moderatorenteam. Nun trat Josef Broukal, der Anchorman der ZIB 1 ans Moderatorenpult und leitete seine Moderation mit folgenden emotionalen Worten ein: „Schichtwechsel am News Desk im ORF Wien. Amerika hat heute ein neues Pearl Harbour erlebt. Die scheinbar unverwundbare Weltmacht hat gesehen, dass sie mit Nadelstichen des Terrorismus, wenn sie mit so fürchterlicher Konsequenz geführt werden, doch sehr verwundbar ist. (...) Ein fürchterlicher Tag für New York, ein fürchterlicher Tag für die Welt.“ (17.07 Uhr) Mit dem neuen Moderator trat auch ein neuer Stil der Berichterstattung an. Nach der erzwungenen Improvisation der ersten zwei Stunden versuchte­ man nun, die Berichterstattung in geordnetere Bahnen zu lenken. Nicht mehr die Bilder standen im Zentrum, sondern die Präsentation und Ordnung neu eintreffender Informationen und die Kommentierung der Ereignisse. Auch die Person Broukal selbst verkörperte einen Wandel: Einerseits agierte er ernst und staatstragend, andererseits aber brachte er wesentlich mehr Emotion in die Berichterstattung, sowohl was seine Diktion als auch seinen Tonfall betraf. Er tendierte zu emotionalisierenden und übertreibenden Feststellungen22 und seine Kommentare waren trotz aller Betroffenheit nicht immer ganz frei von amerikakritischen Untertönen, wobei es weniger entscheidend war was, sondern wie er es sagte.23 Josef Broukal, einer der populärsten Nachrichtensprecher des ORF und politisch der SPÖ zuzuordnen, ver­körperte somit in seiner Performance geradezu idealtypisch den linksliberalen, kritisch-skeptischen Blick auf ‚Amerika‘. Er blickte von einem national bzw. europäisch kodierten Blickfeld, von ‚hier‘ auf das Ereignis ‚dort‘, eine Perspektive, die in gewisser Weise ein österreichisch situiertes ‚Wir‘ generierte. Diese integrierende Sprecherposition mag mit ein Grund für das allgemeine Lob für Broukal gewesen sein, wonach er es gewesen sei, der nach der anfänglichen „Panik im Studio“ erst „Ruhe in die Sendung“ gebracht hätte.24 22 23

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So sprach er beispielsweise einmal von „ein paar Millionen“ Menschen, die aus Manhattan evakuiert werden müssten, was von seinem Co-Kommentator Eugen Freund umgehend relativiert wurde (ORF, 11.9.2001, 17.04 Uhr). So etwa, wenn er nicht ganz ohne Genugtuung meinte: „Jetzt reagiert auch einmal die Börse mit Panik“ (ORF, 11.9.2001, 17.05 Uhr) oder wenn er feststellte, dass „Amerika, das sonst so stolz auf seine Kommunikationseinrichtungen“ sei, „nun vollends den Überblick verloren“ habe (ORF, 11.9.2001, 17.51 Uhr). Die Presse, 13.9.2001, 34.

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Unter dem Motto „Terror-Krieg gegen USA“ erhielt das Bildschirm­ ereignis 9/11 auch im ORF seine Dramaturgie.25 Allmählich trafen mehr konkrete Informationen ein und es setzten sich ein geordnetes Programmschema und eine zunehmende Inszenierung der Ereignisse durch, etwa durch die (später oft kritisierte) endlose Wiederholung der Bilder, die zum Teil mit dramatisierender Musik unterlegt wurden und dadurch eine ästhetisierende und distanzierende Wirkung hatten. Bald schon traten anstelle der aktuellen Ereignisberichterstattung zunehmend die Analysen und Deutungen in den Vordergrund. „Und schon geht das Kommentieren los“, hieß es dazu etwas mokant in einer TV-Kritik am nächsten Tag.26 Eine wesentliche Rolle dabei spielten Experten aus den verschiedensten Bereichen, die als Studiogäste in den ORF geladen wurden.27 Am Abend des 11. September war beispielsweise der bekannte ‚Welterklärer‘ Hugo Portisch im ORF zu Gast. Er interpretierte die Anschläge als eine „neue Qualität des Krieges“, betonte die logistische Schwierigkeit der aufeinander abgestimmten Flugzeugentführungen und prognostizierte die Mutierung der USA in einen „Polizeistaat“.28 ­Dieser düsteren Prognose stand die optimistischere Einschätzung von Eugen Freund entgegen, wonach die amerikanische Supermacht zwar schwer getroffen worden sei, aber eine enorme Widerstandskraft habe und sich w ­ ieder wie „ein Phönix aus der Asche“ erholen werde (20.03 Uhr). Am späten Abend des 11. September (23.03 Uhr) diskutierte man in einem ersten Runden Tisch über die Interpretation der Anschläge (‚Krieg‘ und/oder ‚Kampf der Kulturen‘) und viele weitere Diskussionen und TV-Magazine in den folgenden Tagen beschäftigten sich unter anderem mit den politischen Ursachen (Islamismus, soziale Ungerechtigkeit), Rahmenbedingungen (Versagen der Geheimdienste) und Auswirkungen (möglicher Krieg) der Anschläge.29 Diese und andere bereits am ersten Tag aufgewor25

Zu den verschiedenen Phasen ritualisierter Medienereignisse vgl. Weichert, Die Krise als Medienereignis, 258; ders., Aufmerksamkeitsterror 2001. 9/11 und seine Inszenierung als Medienereignis, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008, 686-693. 26 TV-Kritik: Die Katastrophe, in: Der Standard, 12.9.2001, 33. 27 Als erste Studiogäste traten am Nachmittag des 11. September der Wiener Branddirektor Friedrich Perner, der Nahostexperte John Bunzl und der Militärexperte Gerald Karner auf. 28 Vgl. ORF, 11.9.2001, 20.26 Uhr und 21.07 Uhr; vgl. auch Hugo Portisch, Bush, sei vorsichtig!, in: News, Nr. 37, 13.9.2001, 27. 29 Zur Progammgestaltung des ORF vgl. http://mediaresearch.orf.at/chronik.htm, 11.9.2001 (1.4.2010); Der Standard, 14.9.2001, 1; tv-media, Nr. 39, 22.-28.9.2001, 8.

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fenen Fragen und Themen sollten schließlich auch den öffentlichen Diskurs der nächsten Tage, Wochen und Monate bestimmen. Das Bemühen des ORF, dem globalen Medienereignis 9/11 gerecht zu werden, wurde offenbar wertgeschätzt. Einer vom Integral-Meinungforschungsinstitut durchgeführten Studie zufolge zeigte sich die überwiegende Mehrheit der Zuseher/innen mit dem ORF zufrieden: 90 Prozent bewerteten die Berichterstattung zu den Anschlägen mit „Sehr gut“ oder mit „gut“. Auch das Ausmaß der Berichterstattung wurde mehrheitlich (59%) als „gerade richtig“ eingestuft, ein Drittel der Befragten war allerdings auch der Ansicht, dass zu ausführlich über die Terroranschläge berichtet worden sei.30 Inhaltlich gab es ebenfalls Lob für den ORF, da er – so eine Fernsehkritik im Kurier – die wichtige psychologische Beruhigungsfunktion des Fernsehens durch gefasste Moderationen und Analysen „seriös und kompetent“ erfüllt habe.31 Vereinzelt wurden aber auch die „Maßlosigkeit“ der ORF-Berichterstattung und das Senden der immer gleichen Bilder „bis zum Erbrechen“ anstelle von sachlichen Berichten beklagt.32 Die Experten­ runden stießen hingegen auf positive Resonanz, wenn auch vereinzelt deren Zusammensetzung und deren Inhalte kritisiert wurden. So etwa wurde in Zeitungskommentaren beanstandet, dass im österreichischen Fernsehen „Professoren mit Amerika-Kritik“ auftreten durften, wobei offenbar auf amerikakritische Aussagen des norwegischen Friedensforschers Johan ­Galtung angespielt wurde, der am 12. September an einem Runden Tisch des ORF teilgenommen hatte.33

Debatten über Neutralität und Krieg So wenig sich die Reaktionen und Diskussionen nach dem 11. September in Österreich an der Oberfläche von jenen im übrigen Europa unterschieden, ein genauerer Blick zeigt doch Nuancen, die auf die spezifische politische 30 „America Under Fire“, Studie 2170/01, 4. 31 Kurier, 13.9.2001, 32. Auch andernorts bescheinigte man dem ORF Kompetenz und befand, dass die ORF-Journalist/inn/en einen „erstklassigen Job“ gemacht hätten; vgl. Format, Nr. 38, 14.9.2001, 16. 32 Vgl. exemplarisch Leserbrief in: Die Presse, 17.9.2001, 2. 33 Andreas Unterberger, Wenn der Staub sich legt, in: Die Presse, 13.9.2001, 1; Hans Rauscher, Das Opfer ist schuld, in: Der Standard, 13.9.2001, 1.

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Situation Österreichs im Jahr 2001 verweisen. Eine dieser Besonderheiten war die unmittelbar nach den Anschlägen einsetzende Neutralitätsdebatte, die Bundeskanzler Schüssel durch seine Bemerkung, dass Österreich keine „Insel der Seligen“ sei und es im Kampf gegen den Terror „keine Neutralität“ geben könne, angestoßen hatte.34 Auch andere ÖVP-Politiker forderten sogleich, dass es angesichts des ungeheuerlichen Terrors „keine Verhaltensneutralität“ mehr geben dürfe, womit keineswegs nur eine emotionale ­Parteinahme für die USA gemeint war.35 Vielmehr ging es um die Überflugsgenehmigung für amerikanische Truppentransporte, die die österreichische Regierung den Amerikanern im Falle eines künftigen Krieges gewähren wollte. Da das neutrale Österreich nicht dem NATO-Bündnisbeschluss verpflichtet war, sollte diese Überflugsgenehmigung Österreichs (bescheidener) Beitrag im Kampf gegen den Terror sein. Hinter dieser anstehenden politischen Entscheidung stand jedoch die grundsätzliche Frage, ob die Überflugsgenehmigungen mit dem neutralen Status Österreichs vereinbar wären und wie sich Österreich im Falle eines Krieges verhalten sollte. Teile der schwarz-blauen Regierung hatten bereits seit Längerem die österreichische Neutralität infrage gestellt und nutzten nun die Terroranschläge zu einer Reaktualisierung dieser alten Debatten. Demzufolge sahen hochrangige Politiker/innen der ÖVP und der FPÖ das „Ende der Neutralität“ gekommen und erklärten diese zum überholten „alten Modell“.36 Der freiheitliche Verteidigungsminister Herbert Scheibner hat sich in dieser Frage besonders exponiert und schloss auch einen NATO-Beitritt nicht kategorisch aus.37 Für andere hingegen war die Neutralität geradezu ein „Glücksfall“, da Österreich sich dadurch aus dem drohenden Konflikt heraushalten könnte.38 Die Opposition warnte die schwarz-blaue Regierung vor einer politischen Instrumentalisierung der Katastrophe für parteipolitische Interessen, was laut SPÖ-Vorsitzenden Alfred Gusenbauer „unerhört und geschmacklos“ wäre.39 Inhaltlich stimmte die SPÖ mit der Regierung aber weitgehend 34 35 36

Der Standard, 13.9.2001, 14 und 14.9.2001, 12. Interview mit Werner Fasslabend, in: Zur Zeit, Nr. 37, 14.–19.9.2001, 3. Vgl. exemplarisch Michael Spindelegger, Andreas Khol und Susanne Riess-Passer in: Kronen Zeitung, 14.9.2001, 4 und 16.9.2001, 5. 37 Kurier, 14.9.2001, 8; Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 68. 38 So der FPÖ-Politiker Karl Schweizer in: Zur Zeit, Nr. 39, 28.9.2001, 4. 39 Hannes Swoboda in: Der Standard, 15./16.9.2001, 10; Ferdinand Lacina in: News, Nr. 38, 20.9.2001, 68; Alfred Gusenbauer in: Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 66.

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überein. Sie befürwortete ebenfalls eine Überflugsgenehmigung, notfalls auch ohne Zustimmung der UNO, und plädierte für eine „pragmatische und flexible“ Anwendung der Neutralität, was allerdings häufig als unentschlossene Sowohl-als-auch-Haltung kritisiert wurde.40 Bei seiner Rede vor dem SPÖ-Bundesparteitag Ende September 2001 bekräftigte Gusenbauer noch einmal, dass es „keine Äquidistanz zwischen Terror und Freiheit“ geben könne und trat für eine gemeinsame internationale Strategie gegen den Terrorismus ein, wobei er explizit auch militärische Lösungen nicht ausschloss.41 Schließlich hat die SPÖ gemeinsam mit der Regierung einen Ent­ schließungsantrag „betreffend Solidarität gegen den Terror“ eingebracht, der am 26. September 2001 im Nationalrat mehrheitlich angenommen wurde. Die österreichischen Grünen waren in der Frage der Überflugsgenehmigungen gespalten, ähnlich wie ihre deutsche Schwesterpartei in der rotgrünen Regierung, die zeitgleich über die militärische Beistandspflicht Deutschlands diskutierte. Hier wie dort ging es um grundsätzliche Differenzen zwischen sogenannten ‚Internationalisten‘ und strikten ‚Neutralisten‘ bzw. ‚Pazifisten‘ innerhalb der grünen Bewegung. Als Ergebnis der innerparteilichen Debatten formulierten die österreichischen Grünen ihre Haltung im Kampf gegen den Terror folgendermaßen: Der Massenmord vom 11. September dürfe nicht ungesühnt bleiben und die Taliban müssten Bin Laden ausliefern, was durch internationale polizeiliche Maßnahmen bewerkstelligt werden sollte. Ein militärischer Gegenschlag bräuchte ihrer Ansicht nach einen UNO-Beschluss, den sie zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht gegeben sahen.42 Damit brachen die österreichischen Grünen aus dem eingeforderten nationalen Konsens im Schatten des Terrors aus und haben als einzige Parlamentspartei den gemeinsamen Entschließungsantrag von Regierung und SPÖ nicht mitgetragen.43 Diese ablehnende Haltung wurde vor allem vom grünen Europaabgeordneten Johannes Voggenhuber massiv kritisiert. Er warf seiner Partei eine gefährliche „Appeasement-Politik“ und Antiamerikanismus vor, was von der grünen Parteiführung umgehend zurückgewiesen wurde.44 40 Interviews mit Alfred Gusenbauer in: Kurier, 15.9.2001, 7 und in: Profil, Nr. 43, 22.10.2001, 32 ff. Kritik in: Kurier, 15.9.2001, 6. 41 Auszug der Rede abgedruckt in: Zukunft, 10/2001, 10–13. 42 Vgl. Der Standard, 21.9.2001, 10 und 24.9.2001, 9. 43 Der Standard, 27.9.2001, 9. 44 Vgl. Profil, Nr. 42, 15.10.2001, 28 f; Ulrike Lunacek, Krieg oder Nichtkrieg, das ist hier die Frage, in: Der Standard, 13.10.2001, 39.

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Am vehementesten trat die (allerdings politisch bedeutungslose) KPÖ für die Beibehaltung einer strikten Neutralität Österreichs im Kampf gegen den Terror ein.45 Für die kommunistische Linke war das Argument vom notwendigen Kampf gegen den Terror lediglich ein Vorwand, um die Neu­ tralität abzuschaffen und sie warf der österreichischen Regierung (aber auch den Oppositionsparteien SPÖ und Grüne) im Zusammenhang mit den Überflugsgenehmigungen „vorauseilenden Gehorsam“ vor.46 Der (partei)politische „Zank um die heilige Kuh Neutralität“47 setzte sich auch in den österreichischen Medien fort. Mediale Rückendeckung erhielt die Regierung vor allem von der konservativen Presse, deren Chefredakteur Andreas Unterberger in einem Kommentar am 14. September 2001 meinte, dass sich Österreich künftig nicht mehr „durchschwindeln“ könne und angesichts des drohenden Krieges „kein Platz (mehr) für neutrale Spielereien“­ sei.48 Ähnlich argumentierte auch sein Kollege Ernst Sittinger, der sich gegen das „österreichische Durchwursteln“ in Sachen Neutralität wandte: Zwar habe in gefährlichen Zeiten die „Flucht in die Neutralität einen trügerischen Reiz“, aber man müsse erkennen: „Mit einer VogelStrauß-Politik lässt sich im globalen Dorf kein Blumentopf gewinnen.“49 Das einflussreichste Boulevardblatt Österreichs, die Kronen Zeitung, propagierte hingegen die strikte Neutralität und untermauerte diese Haltung mit einer Umfrage, wonach sich 81 Prozent der Österreicher/innen für deren Beibehaltung aussprachen.50 Tatsächlich hat die Mehrheit der Bevölkerung den – wie immer gearteten – Kampf gegen den Terror zwar grundsätzlich befürwortet, allerdings mit der Einschränkung, dass sich das kleine neutrale Österreich dabei militärisch heraushalten sollte. Diese für Österreich sehr typische Haltung kommt zumindest in allen kurz nach den Terroranschlägen durchgeführten Meinungsumfragen klar zum Ausdruck.51 45 46 47 48 49 50 51

Erklärung der KPÖ zu den Anschlägen in den USA, abgedruckt in: Volksstimme, 14.9. 2001, 16. Vgl. exemplarisch Volksstimme, 20.9.2001, 1 und 27.9.2001, 2. Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 64-68. Andreas Unterberger, Freunde und Feinde, in: Die Presse, 14.9.2001, 1. Ernst Sittinger, Das Ende einer Illusion, in: Die Presse, 15.9.2001, 1. Ähnlich auch Peter Michael Lingens in: Profil, Nr. 40, 1.10.2001, 186 sowie Profil, Nr. 43, 22.10.2001, 152. Kronen Zeitung, 21.9.2001, 1 und 4 f; vgl. auch Profil, Nr. 39, 24.9.2001, 53. Exemplarisch dazu zitierte Umfragen in: News, Nr. 38, 20.9.2001, 23; Format, Nr. 39, 21.9.2001, 7; Profil, Nr. 40, 1.10.2001, 21 und IMAS-Umfrage, Terrorbekämpfung aus österreichischer Sicht, Nr. 22, Oktober 2001. Die Prozentzahlen variierten zwar im Detail (je nach Fragestellung), der Wunsch, neutral zu bleiben, ist aber aus allen Umfragen eindeutig ablesbar.

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Diese Indifferenz sowohl in Teilen der politischen Elite als auch in der österreichischen Bevölkerung stieß auf öffentliche Kritik, wobei sich besonders Format-Mitherausgeber Christian Ortner hervortat. Für ihn waren die Anschläge in den USA ein historisches Ereignis und der Beginn einer neuen globalen Auseinandersetzung, in der es keine Neutralität geben könne. Der weit verbreitete Wunsch, neutral zu bleiben, war seiner Einschätzung nach „mehr als unanständig“ und „schlichtweg eine Schweinerei“52 und führte ihn zur rhetorischen Frage, ob man denn „neutral gegenüber den Massenmördern von New York“ sein könne.53 Österreichs lasche Reaktionen auf den Terror demonstrierten seiner Meinung nach, dass das Land „noch lange nicht im Westen angekommen“ sei. Ortners unbedingte Haltung provozierte zahlreiche Leserreaktionen, wobei es sowohl Zustimmung als auch Ablehnung gab, und brachte ihm fallweise den Vorwurf ein, ein „Kriegstreiber“ zu sein.54 Im Großen und Ganzen überwog auch in Österreich eine tendenziell kritische Haltung gegenüber einem drohenden Krieg in Afghanistan, das heißt: Man gestand den Amerikanern zwar das Recht auf eine militärische Reaktion auf den Terror zu, mahnte aber gleichzeitig deren Zurückhaltung ein. Eine Ausnahme zu dieser vorsichtig-skeptischen Haltung war Peter Sichrovsky, ein bekannter jüdischer Journalist, der als FPÖ-Politiker tätig war. Während andere immer wieder vor einem unüberlegten „Rachefeldzug“ warnten, publizierte er ein „Plädoyer für Hass und Rache“, in dem er sich offen zu seinem unbändigen Hass gegenüber den Terroristen bekannte und Vergeltung forderte: „Hand in Hand mit dem Hass geht die Rache. Auch auf die will ich nicht verzichten, und ich warte sehnsuchtsvoll auf den Tag, an dem die Amerikaner gemeinsam mit ihren Verbündeten zurückschlagen. In der Situation der Notwehr gibt es keine Moral.“55 Nachdem schließlich Anfang Oktober 2001 der Angriff auf Afghanistan erfolgte, zeigte sich das offizielle Österreich mit den USA solidarisch. Es wurde zwar erneut vor der Gefahr einer Eskalation der Gewalt gewarnt, insgesamt hielt sich die Angst vor einer Ausweitung des Krieges zu einem 52 53 54 55

Christian Orter, Welcome to World War III, in: Format, Nr. 38, 14.9.2001, 15. Christian Ortner, Bei uns in Bagdad…, in: Format, Nr. 39, 21.9.2001, 7. Leserbriefe in: Format, Nr. 40, 1.10.2001, 14-15; Format, Nr. 41, 8.10.2001, 14-15 und Format, Nr. 42, 12.10.2001, 12-13; vgl. auch Armin Thurnher, A bisserl Dschihad, in: Falter, Nr. 39, 27.9.2001, 5. Peter Sichrovsky, Plädoyer für Hass und Rache, in: Format, Nr. 38, 14.9.2001, 68. Kritik daran in: Falter, Nr. 40, 4.10.2001, 21; Der Standard, 15./16.9.2001, 47.

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Der „Sheriff-Cowboy“ USA schlägt zurück. Karikatur aus der Tageszeitung Der Standard, 22./23. September 2001; Zeichnung: Oliver Schopf

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Weltkrieg aber in Grenzen.56 Die österreichische Debatte um Neutralität und Krieg von 2001 lief insofern an der außenpolitischen Realität vorbei, als es in Österreich – anders als in den NATO-Mitgliedsländern – im Falle eines Krieges nicht um konkrete Militäreinsätze ging und die erklärte Solidarität somit ohne weit reichende politische Konsequenzen blieb. Vielmehr vollzog sich die österreichische Außenpolitik nach wie vor im Rahmen der Europäischen Union, der auch 2001 wenig Spielraum für eigene Akzentuierungen ließ.

„Wiener Arabesken“ – Österreichische Nahostdiplomatie nach dem 11. September Eine weitere österreichische Besonderheit war die unmittelbar nach den Anschlägen einsetzende Reisediplomatie in den Nahen- und Mittleren Osten. Während die Staatsmänner in Großbritannien, Frankreich und Deutschland miteinander konkurrierten, wer nach den Terroranschlägen als erster von Präsident Bush zu einem offiziellen Besuch in den USA empfangen wurde, reisten österreichische Politiker/innen bevorzugt in den ‚Orient‘, wie es öfters hieß. So sagte Bundespräsident Thomas Klestil seine lang geplante Nahost-Reise trotz der Terroranschläge nicht ab und besuchte noch im September 2001 mehrere arabische Staaten, unter anderem das saudische Königsreich; und auch mehrere österreichische Minister/innen bereisten wenige Wochen nach den Terroranschlägen Syrien, Ägypten, Jordanien und den Oman.57 Bundeskanzler Wolfgang Schüssel besuchte Mitte Oktober ebenfalls Ägypten und den Iran und reiste erst Anfang November in die USA, wo er von Präsident Bush in Washington empfangen wurde und tags darauf auch den Ground Zero in New York besuchte.58 Die auffallend vielen und nicht immer koordinierten Nahost-Reisen im Schatten des Terrors wurden von politischen Beobachtern einerseits auf das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Außenministerium und der Präsidentschaftskanzlei und andererseits auf das Profilierungsbedürfnis der europaweit umstrittenen schwarz-blauen Regierung zurückgeführt. Durch die rege 56 57 58

Zu den offiziellen Reaktionen auf den Afghanistankrieg in: Der Standard, 9.10.2001, 9 und 43. Profil, Nr. 40, 1.10.2001, 32 ff und Profil, Nr. 43, 22.10.2001, 16 ff. Der Standard, 2.11.2001, 2 und 3.11.2001, 3.

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Reisediplomatie versuchte sich die ÖVP-FPÖ-Regierung im Nahen Osten als ‚neutraler Vermittler‘ zu positionieren und sich damit – zu Unrecht, wie ich meine – in die Tradition der Nahostpolitik von Bruno Kreisky zu stellen. Bundespräsident Klestil beispielsweise verkündete stolz, dass Österreich im arabischen Raum „immer noch sehr geschätzt“ werde und er bei fast jedem seiner Gespräche positiv auf die frühere österreichische Außenpolitik unter Kreisky angesprochen werde: „Wir waren das erste Land, das das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat anerkannt hat. Das hat man hier nicht vergessen.“59 Und auch der freiheitliche Verteidigungsminister Herbert Scheibner (der gleichzeitig Präsident der österreichisch-syrischen Gesellschaft war) war stolz über den „ausgezeichneten Ruf“ Österreichs in der arabischen Welt und setzte auf Österreichs Mittlerfunktion, die er ­folgendermaßen begründete: „Weil wir nicht als Oberlehrer auftreten und die arabische Welt besser verstehen als andere, kann Österreich zur ­Brücke zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten werden“.60 Der Journalist Heinz Nußbaumer, nach seiner Selbstdarstellung „Nahost-Briefträger“ für Kreisky und später außenpolitischer Berater von Kurt Waldheim, teilte ebenfalls diese Sicht und meinte, dass „gerade das neutrale, kleine Ö ­ sterreich“, das durch keine koloniale Vergangenheit belastet sei, „einen emotionalen Vorteil“ habe und sich daher besonders gut für diese Vermittlerrolle eigne.61 Dass die rechten Parteien (vor allem die ÖVP) Kreiskys Nahostpolitik früher immer vehement bekämpft hatten und aktuell keinerlei politische Perspektiven für den Nahen Osten vorlegten, wurde dabei wohlweislich verschwiegen. Außerdem ging es in erster Linie um wirtschaftliche Interessen, das heißt Österreich wollte nach den Terroranschlägen die Gunst der Stunde nutzen und seine Exportchancen im arabischen Raum steigern. Georg Hoffmann-Ostenhof hat im Profil diese „Wiener Arabesken“62 kritisch hinterfragt: Er führte die angebliche ‚Beliebtheit‘ Österreichs in den arabischen Staaten vor allem auf den dort existierenden Antisemitismus (z.B. im Kontext der ‚Waldheim-Affäre‘) zurück und rief außerdem die geringe politische Bedeutung Österreichs im internationalen Kontext in Erinnerung: „Auf die Wiener Nahost-Expertise hat aber Washington gewiss nicht gewartet. 59 60 61 62

Zitiert nach Profil, Nr. 43, 22.10.2001, 18. Ebd., 19. Zitiert nach Falter, Nr. 39, 27.9.2001, 17. Georg Hoffmann-Ostenhof, Wiener Arabesken, in: Profil, Nr. 44, 29.10.2001, 141. Ebenfalls kritisch dazu Michael Fleischhacker, Kollateralschaden, in: Der Standard, 18.9.2001, 40.

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Als Vermittler sind wir denkbar ungeeignet. Auch die EU ist nicht gerade darauf erpicht, unsere guten Ratschläge in dieser Sache zu hören. Dazu ist Österreich in Europa einfach zu marginal.“63 Noch pointierter brachte der Kolumnist Hans Rauscher die außenpolitische Bedeutungslosigkeit Österreichs zum Ausdruck: „Wir spielen im B-Team.“64 Es kann als eine Ironie der Geschichte angesehen werden, dass ausgerechnet der FPÖ-Politiker Jörg Haider, der durch seine engen Beziehungen zu Libyens ‚Revolutionsführer‘ Muammar Gaddafi Schlagzeilen gemacht hatte, als erster österreichischer Politiker kurz nach den Anschlägen anstatt einer geplanten Irak-Reise einen medial inszenierten ‚Solidaritätsbesuch‘ in New York absolvierte: Er dankte den tapferen Feuerwehrmännern von New York, lud durch den Terroranschlag verwaiste Kinder nach Kärnten ein und bemühte sich vergeblich um einen PR-trächtigen Fototermin mit dem New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani.65 Im Februar 2002, ein halbes Jahr nachdem Jörg Haider am Ground Zero gestanden war, holte er seinen verschobenen Irak-Besuch nach. Diese Reise in den international geächteten Irak und der Empfang beim irakischen Diktator Saddam Hussein schlugen inner- und außerhalb Österreichs hohe Wellen. Medienberichten zufolge soll der Kärntner Landeshauptmann Saddam Hussein die „Grüße des österreichischen Volkes“ überbracht und „die Solidarität der Österreicher mit dem Volk des Iraks und seiner weisen Führung“ ausgedrückt haben.66 Haider selbst begründete seine Reise mit „humanitären Zwecken“ – er habe medizinische Geräte für eine Blutbank überbracht – und mit einer nicht näher ausgeführten „Vermittler“-Funktion.67 Zweifellos ging es Haider dabei einmal mehr um eine politische Provokation, nicht zuletzt desavouierte er mit seinem Besuch die FPÖ-Parteivorsitzende und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer, die sich zeitgleich in den USA aufhielt. Dort versuchte sie Haiders Reise als „Privatbesuch“ und „humanitäre Aktion“ zu rechtfertigen, beeilte sich aber gleichzeitig zu versichern, dass Österreich im Kampf gegen den Terrorismus an der Seite der USA stünde.68 63 64 65 66 67 68

Hoffmann-Ostenhof, Wiener Arabesken. Der Standard, 23.10.2001, 35. Profil, Nr. 41, 8.10.2001, 32–34; News, Nr. 40, 4.10.2001, 54–58. Zitiert nach Kurier, 13.2.2002, 4. Der Standard, 14.2.2002, 6. Anneliese Rohrer, Teppichknüpfer in Bagdad, in: Die Presse, 12.2.2002, 1; Die Presse, 14.2.2002, 6. In der Eigenmächtigkeit Haiders und der parteiinternen Kritik daran zeichneten sich bereits

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In Österreich entbrannte ein Streit darüber, ob die Reise mit dem Außenministerium abgesprochen war oder nicht (was sie offenbar nicht war) und es hagelte Kritik von allen Seiten.69 Am schärfsten formulierte dabei der Grünen-Chef Alexander van der Bellen, der Haider unter Hinweis auf die Giftgasangriffe von Saddam Hussein auf die eigene Bevölkerung als „vollkommen durchgeknallt“ bezeichnete.70 Nach einigen Tagen verurteilte auch Bundeskanzler Schüssel den „Handshake mit einem Diktator, der Blut an den Händen hat“ und drückte seine Sorge aus, dass dadurch das Ansehen Österreichs in den USA nachhaltig beschädigt werden könnte.71 Tatsächlich zeigte man sich in den USA über die eigenmächtige Aktion Haiders konsterniert und das State Department kritisierte die Irak-Reise in einer ersten Reaktion als „unangebracht und kontraproduktiv“, ließ vorerst aber offen, ob damit ein Verstoß gegen die UN-Sanktionen gegen den Irak vorliege und Haiders Eigenmächtigkeit somit vor dem UN-Sicherheitsrat behandelt werden sollte. Jörg Haider ließ sich dadurch jedoch nicht beeindrucken und reiste später noch weitere Male in den Irak, worüber er 2003 ein Buch mit dem Titel Besuch bei Saddam. Im Reich des Bösen veröffentlichte.72 Jahre später wurden diese umstrittenen Reisen erneut zum öffentlichen Thema, als 2010 der Verdacht aufkam, dass Haider dabei Millionen aus dem Vermögen des irakischen Diktators außer Landes gebracht haben soll und die Reisen zudem vom deutschen Nachrichtendienst BND finanziert worden wären.73

Vom Einwirken der Vergangenheit auf die Gegenwart Wie überall auf der Welt war auch in Österreich der historische Bezug auf Pearl Harbour allgegenwärtig. In fast allen Schlagzeilen und Kommentaren der allerersten Tage war in Variationen von einem „Pearl Harbour des die schwelenden internen Richtungskämpfe und die wenige Monate später erfolgte Spaltung der FPÖ ab. 69 Kritische Kommentare u.a. von Christian Kotanko, Organisiertes Erbrechen, in: Kurier, 15.2.2002, 2; Gerfried Sperl, Haiders Missbrauch, in: Der Standard, 14.2.2002, 36. 70 Der Standard, 14.2.2002, 6. 71 Kurier, 15.2.2002, 2. Kritisch dazu Hans Rauscher, Es geht um Schüssels Autorität, in: Der Standard, 15.2.2002, 35. 72 Vgl. auch Profil-Coverstory „Haiders Hussein. Jörg Haiders eigenartige Liebe zur arabischen Welt“, in: Profil, Nr. 52, 22.12.2003. 73 Profil, Nr. 32, 9.8.2010, 14-21; Profil, Nr. 33, 16.8.2010, 16–23.

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21. Jahrhunderts“74 die Rede. Auch Josef Broukal, Moderator der ORF-­ Sendung vom 11. September sah sich angesichts der Bilder aus New York sofort an ein „neues Pearl Harbour“ erinnert, wobei er diese erste Assoziation später damit begründete, dass er wenige Wochen zuvor die Wiener Premiere des Kinofilms Pearl Harbour moderiert hatte und daher „in die Materie sehr eingelesen“ gewesen sei.75 Oft stellte bereits die Wortwahl „Kamikaze“-Angriff oder „Kamikaze-Bomber“ einen Bezug zum Angriff der Japaner von 1941 her. Ähnlichkeiten zwischen dem historischen Ereignis und dem gegenwärtigen Terror sah man zum einem im Überraschungseffekt des Angriffs und zum anderen in der (vermuteten) Reaktion der herausgeforderten Großmacht USA. So stellte man beispielsweise in der Presse fest, dass der 11. September mehr Opfer gefordert habe als der Angriff von 1941 und die „Vergeltung der USA (daher) massiv“ sein werde.76 Auch für den Kurier war der Terror vom 11. September wie der Angriff auf Pearl Harbour eine „Kriegserklärung“ an die USA, die wie bereits 1941 „in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich“ sein würden: Damals hätten sie Atombomben geworfen und auch jetzt sei Schlimmes zu befürchten, wurde prophezeit.77 Gegen diese vorschnellen historischen Vergleiche gab es aber auch sachliche Einwände, die die grundsätzlichen Unterschiede zwischen diesen zwei historischen Ereignissen betonten, besonders was den historisch-politischen Kontext und die Identität der Täter betraf.78 Widerspruch von gänzlich anderer Seite kam vom bekannten Rechtsextremisten Otto Scrinzi, der – ­offensichtlich zum Zweck der Schuldaufrechnung – in der Aula apodiktisch feststellte: „Nicht in Pearl Harbour, sondern in Dresden, Hamburg, Hiroshima, Nagasaki hat das Unheil von Manhattan begonnen.“79 Eine österreichische Besonderheit war die historische Bezugnahme auf Sarajewo 1914, das Attentat auf den österreichischen Thronfolger, das schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Auch damals, so hieß es etwa in der Presse, habe ein kleines Land (Serbien) eine Großmacht (Österreich) mit einem Terrorakt provoziert, als Reaktion darauf sei es eben74 75 76 77 78 79

Ortner, Welcome to World War III. ORF, 11.9.2001, 17.03 Uhr; Interview mit Josef Broukal in: tv-media, Nr. 39, 22.–28.9.2001, 11. Andreas Unterberger, Der Krieg, in: Die Presse, 12.9.2001, 2. Kurier, 13.9.2001, 7. Gerfried Sperl, Ins Mark getroffen, in: Der Standard, 12.9.2001, 44; Eugen Freund in: ORF, 11.9.2001, 17.13 Uhr. Otto Scrinzi, Das Menetekel vom 11. September, in: Aula 9/2001, 4.

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falls zu einem Ultimatum gekommen und diese Provokation habe schließlich die „Mechanik eines Weltkrieges“ ausgelöst.80 Auch der weit rechts ­stehende FPÖ-Funktionär Andreas Mölzer stellte „frappierende Parallelen“ zum „mörderischen Terrorakt“ von 1914 fest, wobei er vor allem auf Ähnlichkeiten bei den Attentätern und in den Reaktionen der Großmächte hinwies: „Wir wissen, wohin die Ereignisse von 1914 geführt haben“ – zum „Weltenbrand, der das alte Europa zerstörte“ und „später zum Zweiten Weltkrieg mit Völkermord und Atombombe.“ Allerdings, so der Einwand des Autors, endeten hier die Parallelen, denn in Ermangelung von konkreten Gegnern würde es diesmal zu keinem Weltkrieg kommen. 81 Wie mein Beitrag zu Deutschland in diesem Band zeigt, war dort die NS-Vergangenheit nach den Anschlägen vom 11. September in vielfältiger Weise präsent. Bemerkenswert ist, dass in Österreich, ebenfalls einem NS-Nachfolgestaat mit einer zwar nicht gleichen, aber ähnlichen vergangenheitspolitischen Ausgangsposition, 2001 kaum Bezüge zum Nationalsozialismus hergestellt wurden. Zwar sahen sich auch in Österreich einer Umfrage zufolge 62 Prozent der Befragten bei den Schreckensbildern aus New York an – wie es etwas vage heißt – Bilder mit „Kriegsmotiven ihrer Väter und Großväter“ erinnert.82 Diese historischen Assoziationen fanden aber kaum Eingang in den politischen und medialen Diskurs. Auch die von der eigenen Vergangenheit abgeleitete Kriegsangst hielt sich in Österreich in Grenzen bzw. wurde nur selten mit der eigenen Geschichte verknüpft. Laut einer ersten Umfrage unmittelbar nach den Anschlägen hielten nur 10 Prozent der befragten Österreicher/innen den „Ausbruch eines großen Krieges“ für „ziemlich wahrscheinlich“ und 39 Prozent für „eher wahrscheinlich“; die andere Hälfte rechnete aber nicht mit einem Krieg.83 Trotzdem war in manchen Medien von einem drohenden Weltkrieg die Rede. „Wir erleben den Auftakt zum Weltkrieg des neuen Jahrhunderts“ hieß es etwa in der Kronen Zeitung.84 Christian Ortner betitelte sei80 Andreas Unterberger, Krieg der Zivilisationen, in: Die Presse, 15./16.9.2001, 2. 81 Andreas Mölzer, Kein zweiter Juli 1914, in: Kronen Zeitung, 16.9.2001, 26; ders., Am Rande des Abgrunds, in: Zur Zeit, Nr. 37, 14.–27.9.2001, 1. Vgl. auch Ewald Stadler in: News, Nr. 38, 20.9.2001, 70. Kritisch dazu Raimund Löw, New York = Sarajewo?, in: Falter, Nr. 39, 27.9.2001, 5. 82 Vgl. Der Standard, 19.9.2001, 6. 83 Zitiert nach Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 20 und Profil, Nr. 42, 15.10.2001, 34. 84 Kronen Zeitung, 15.9.2001, 4. Vgl. auch Peter Rabl, Der 3. Weltkrieg ist eine reale Gefahr, in: Kurier, 16.9.2001, 2.

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nen Kommentar vom 14. September im Format mit „Welcome to World War III“ und malte ein geradezu apokalyptisches Zukunftsszenario: Die USA würden „irgendwo auf dem Planeten mit massiver militärischer Wucht zurückschlagen“ und so den „Leichenbergen von Manhattan weitere L ­ eichenberge“ hinzufügen; als Konsequenz wäre „die ganze Welt ein gigantischer Naher Osten.“85 Dieser pessimistischen Prognose widersprach umgehend der Chefredakteur des Profil, der die Möglichkeit eines Dritten Weltkrieges für „abwegig“ hielt.86 Dieser Einwand hielt das führende Politikmagazin Österreichs aber nicht davon ab, nicht nur die erste Ausgabe nach den Anschlägen mit dem Cover „Kommt der große Krieg?“87 zu versehen, sondern auch die Berichterstattung aller nachfolgenden Profil-­ Ausgaben kreisten vorrangig um das Themenfeld „Krieg“. Im deutschen politischen Diskurs 2001 hat es sehr viele positive Bezüge auf die Rolle der Amerikaner als Befreier von 1945 und als politische Verbündete im Kalten Krieg bis hin zur Wiedervereinigung 1989 gegeben. In Österreich hingegen fanden sich derartig positive historische Verweise nur vereinzelt – und das, obwohl die Befreiung Österreichs von 1945 und vor allem die positive Rolle der amerikanischen Besatzungsmacht (Care-Pakete, Marshall-Plan), gemeinhin als Basis für ein positives Amerikabild in Österreich gelten.88 Von offizieller Seite hat Bundeskanzler Schüssel bei der Parlamentsdebatte über den Terror und die nationale Sicherheit am 26. September 2001 an die „lichten, guten Taten“ der Amerikaner, die ein „großzügiges Volk“ wären, erinnert und dabei unter anderem den Kampf für die Freiheit, den Marshall-Plan, die Luftbrücke für Berlin und schließlich ihr Eingreifen in Bosnien und im Kosovo angeführt.89 Auch der Grünen-Politiker Alexander Van der Bellen verwies in derselben Nationalratssitzung auf die Leistungen der Amerikaner bei der Befreiung Österreichs vom Hitlerregime und auf deren wirtschaftliche

85 Format, Nr. 38, 14.9.2001, 15. 86 Christian Rainer, Kommt der große Krieg?, in: Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 13. 87 Die erste Ausgabe des Profil nach den Anschlägen umfasste 100 Seiten, die sich ausschließlich mit dem 11. September befassten, was in der Geschichte des Magazins einmalig war; vgl. Editorial in: Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 7. 88 Günter Bischof/Anton Pelinka/Dieter Stiefel (Hg.), The Marshall Plan in Austria, Contemporary Austrian Studies, Series 8, New Brunswick 2000; Günter Bischof/Anton Pelinka (Hg.), The Americanization/Westernization of Austria, Contemporary Austrian Studies, Series 12, New Brunswick 2004. 89 ORF-Live-Übertragung der Nationalratssitzung vom 26.9.2001 (ORF 2, 9.05–13.00 Uhr).

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Hilfe beim Wiederaufbau.90 Häufig wurde dieser historische Bezug aber auf die europäische Ebene gehoben, so etwa bei Georg Hoffmann-Ostenhof im Profil, der sein Plädoyer für eine unbedingte Solidarität Europas mit der Rolle der USA in der jüngeren Geschichte begründete: Europa sei den Vereinigten Staaten zu „historischem Dank verpflichtet“, erstens weil die Amerikaner Europa zu Hilfe geeilt wären, um „den desaströsen Ersten Weltkrieg zu beenden“, zweitens weil „Hitler ohne US-Truppen gesiegt“ hätte und schließlich weil die Amerikaner wesentlich zum Fall des Kommunismus beigetragen hätten.91 Die amerikanische Unterstützung nach 1945 wurde eher indirekt in die Diskussion eingebracht, so z.B. wenn SPÖ-Vorsitzender Gusenbauer einen „Marshall-Plan“ für die sogenannte Dritte Welt vorschlug und Bundeskanzler Schüssel später diese Forderung als europäische Präventivmaßnahme gegen weiteren Terror übernahm, ohne allerdings explizit auf das historische Vorbild Bezug zu nehmen.92 Diese Leerstelle lässt sich nur zum Teil mit dem Generationswechsel und den verblassenden Erinnerungen an den Nationalsozialismus erklären, wie der Vergleich mit Deutschland zeigt. Denn dort hat zumindest die politische und kommunikative Elite die Solidarität der Deutschen mit den USA explizit mit ihrer ‚historischen Dankbarkeit‘ begründet.93 In diesem Kontext sind auch die emphatischen Bekenntnisse in Deutschland „Heute sind wir alle Amerikaner“ zu verstehen, die in Österreich keine Entsprechung fanden.94 Dies zeigt einmal mehr, dass die NS-Vergangenheit in Österreich nach wie vor nicht der zentrale historische Bezugspunkt zu sein scheint und die Externalisierung des Nationalsozialismus somit in gewisser Weise auch in den Perzeptionen des 11. September implizit fortgeschrieben wurde.

90 Ebd. 91 Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 36. 92 Vgl. Alfred Gusenbauer bei der Nationalratssitzung vom 26.9.2001 (ORF 2, 9.05–13.00 Uhr); Interview mit Wolfgang Schüssel in: Profil, Nr. 42, 15.10.2001, 23. 93 Vgl. dazu meinen Beitrag zu Deutschland in diesem Band. 94 Vielmehr lehnten manche öffentliche Stimmen dieses Bekenntnis explizit ab und wollten ­dieses lieber mit einem „Wir sind Europäer“ (Hannes Swoboda in: Der Standard, 5.10.2001, 35) oder „Ich bin ein New Yorker“ (Armin Thurnher in: Falter, Nr. 38, 19.9.2001, 6) ersetzt sehen.

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Amerikakritik und Antiamerikanismus nach dem 11. September Auch in Österreich mischten sich unter das Entsetzen über die An­schläge und die Solidarität mit den Opfern bald kritische Töne gegenüber den USA, die wegen ihrer Fehler in der Vergangenheit und Gegenwart für die Anschläge mitverantwortlich gemacht wurden. Im Großen und G ­ anzen gab es ähnliche Argumentationsmuster wie im übrigen Europa. Auch hier vermengte sich die Kritik an den USA fallweise mit mehr oder weniger verhüllten Ressentiments gegen Amerika, was sich unter anderem in einer gewissen Genugtuung über die „riesengroße Demütigung der hilflosen Supermacht“95 manifestierte. Die Terrorangriffe interpretierten viele als ‚Lehre‘ für die USA: „Die Amerikaner haben jetzt im eigenen Land gespürt, was Krieg bedeutet. Das wird sie zum Nachdenken bringen und damit zur Besinnung auf ihre eigentliche Kraft, die aus der Pionierzeit kommt und zum Aufbau einer demokratischen Weltmacht geführt hat.“96 Hans Dichand, der Herausgeber der Kronen Zeitung und Verfasser dieser Zeilen, sprach hier vordergründig als ‚Amerikafreund‘, der die Rückbesinnung auf die ‚guten alten amerikanischen Werte‘ einforderte, von denen sich die USA längst entfernt hätten. Durch den dabei anklingenden Tonfall der moralischen Überlegenheit mutierten die Anschläge allerdings zu einer Art Strafe für die USA zum Zwecke der ‚Läuterung‘ – eine Deutung, die im öffent­ lichen Diskurs nach dem 11. September keineswegs eine Einzelmeinung war und nicht selten auf eine Täter-Opfer-Umkehr hinauslief. Bei der Suche nach den (Hinter-)Gründen für die Terroranschläge wurde oft zu simplifizierenden Erklärungen und vorschnellen Schuldzuweisungen gegriffen. Während die einen die Täter zu irrationalen religiösen und rückständigen Fanatikern stempelten, sahen die anderen die Ursachen vorrangig in der bestehenden sozialen Ungerechtigkeit auf der Welt begründet und interpretierten die Anschläge gewissermaßen als Aufstand der Armen und Unterdrückten gegen die Reichen und Mächtigen dieser Welt: „Arroganz der Mächtigen, Gewalttaten der Schwachen“ – so brachte etwa die kommunistische Volksstimme ihre Sicht der Dinge auf den Punkt.97 Der ProfilKolumnist Reinhard Tramontana interpretierte die Anschläge – wenn auch 95 So z.B. bei Günther Nenning, Alles ist anders, in: Kronen Zeitung, 13.9.2001, 10. 96 Kronen Zeitung, 13.9.2001, 2. 97 Volksstimme, 20.9.2001, 1.

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offenbar ironisch gefärbt – als „Endkampf zweier Götzen: Mohammed gegen Mammon“ und konstatierte einen „Krieg der Sein-Menschen gegen die Haben-Menschen, der Habenichtse gegen die Prasser“.98 Auch in einer Vielzahl von Leserbriefen wurden die Anschläge als Verzweiflungsakte von „Entwurzelten“ eingeschätzt, die nur durch eine „globale Rechts- und Sozialordnung“ verhindert werden könnten.99 Bemerkenswert ist, dass dieser traditionell ‚linke‘ Erklärungsansatz, der sich teilweise mit einer diffusen ‚Globalisierungskritik‘ vermengte, mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheint. So schrieb z.B. Günther Nenning, Mitbegründer der österreichischen Grünen und Kolumnist der Kronen Zeitung, unmittelbar nach den Anschlägen: „Die tiefe Wurzel des Terrors ist der himmelschreiende Gegensatz zwischen Reich und Arm auf dem Globus. Die Masse der Wut und Empörung, die fortschreitende Eskalation der Ungerechtigkeit – sie liefert die nicht versiegende Rekrutenschaft der Terror- und Todeskrieger.“100 Auch für Hans-Peter Martin, den Mitautor des Bestsellers Die Globalisierungsfalle (1996), war der Hass auf Amerika angesichts der ungerechten Verteilung des Reichtums der Welt nachvollziehbar und er kam zu dem verkürzten Schluss: „Nur Hungrige entwickeln sich zu Selbstmordpiloten.“101 Soweit wollten die meisten Kommentare zwar nicht gehen, aber ansatzweise war dieses Deutungs­ muster auch im politischen Mainstream anzutreffen. So interpretierte der ehemalige Außenminister Peter Jankowitsch die Anschläge als „schreckliche Rückkehr der Dritten Welt“102 und selbst Bundeskanzler Schüssel griff im Zusammenhang mit den Anschlägen auf dieses Erklärungsschema zurück und verwies auf die Frustration der „vielen Millionen ausgebeuteten armen Menschen, die oft am Rand des Existenzminimums dahinvegetierten“.103 Viele dieser Erklärungsversuche wurden den komplexen Ursachen der Anschläge nicht gerecht und gerieten oft zu einseitigen Schuldzuweisungen an die USA. So beobachtete der Standard-Kolumnist Hans Rauscher bereits 98 Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 134. 99 Exemplarisch dazu Leserbrief von Ernst Gehmacher in: Der Standard, 14.9.2001, 39; ders., in: Die Presse, 15./16.9.2001, Spectrum XI. 100 Kronen Zeitung, 13.9.2001, 10. 101 Hans-Peter Martin, Der Terror als Chance für Europa, in: Der Standard, 17.9.2001, 23. Vgl. auch Profil, Nr. 38, 17.9.2001, 59. 102 Die Presse, 24.9.2001, 2. 103 Zitiert nach Profil, Nr. 42, 15.10.2001, 23.

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unmittelbar nach den Anschlägen, dass die Diskussionen sowohl an den österreichischen Stammtischen aber auch in intellektuellen Journalistenkreisen oft nach dem Motto „Das Opfer ist schuld“ verliefen.104 Und selbst in der keineswegs amerikafreundlichen Volksstimme wurde kritisch vermerkt, dass man es sich trotz aller politischen Fehler der USA „gerade hierzulande nicht allzu billig machen“ dürfte.105 Die Warnung vor einseitigen Schuld­ zuweisungen und einer Täter-Opfer-Umkehr ging oft mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus einher.106 Auch von höchster politischer Stelle gab es kritische Einwände, so z.B. bekräftigte Bundeskanzler Schüssel zwar, dass man „als Freund Amerikas“ die USA auch kritisieren dürfe, distanzierte sich aber von einem „billigen Antiamerikanismus“, mit dem er „nichts am Hut“ haben wollte.107 Der Antiamerikanismus-Vorwurf wurde meist mehr oder weniger empört mit dem Einwand von sich gewiesen, dass es sich um eine legitime Kritik handle und die eingeforderte Solidarität nicht zu einer bedingungslosen Identifikation mit den USA führen dürfte. Walter ­Wippersberg, Professor an der Wiener Filmakademie, stellte beispielsweise die rhetorische Frage: „Bin ich, weil ich differenziere, antiamerikanisch?“108 Vor diesem Hintergrund ortete das Profil das Aufbrechen einer Antiamerikanismus-Debatte und ging der Frage nach, ob „die Mehrheit der Österreicher insgeheim antiamerikanisch eingestellt“ sei.109 Der Antiamerikanismus-Vorwurf im Kontext des 11. September war ­sicher oft vorschnell und pauschal – nicht jede vorgebrachte Kritik an den USA ist per se als antiamerikanisch zu qualifizieren. Aber es gab in den österreichischen Reaktionen auf die Anschläge durchaus problematische Tendenzen, die tief sitzende Ressentiments gegen ‚Amerika‘ als solches offenbaren und auf unterschiedliche Traditionslinien zurückgeführt wer-

104 Der Standard, 13.9.2001, 1. 105 Franz Schandl, Amerika. Pro oder Contra oder…?, in: Volksstimme, 4.10.2001, 9. 106 Vgl. exemplarisch Hans Rauscher, Die Politik solidarisch, das Volk neutral, in: Der Standard, 21.9.2001, 39; Michael Fleischhacker, Amerika taumelt, in: Der Standard, 13.9.2001, 10 und Josef Votzi, Die schrecklichen Ja-aber-Sager, in: News, Nr. 39, 27.9.2001, 58. 107 Zitiert nach Der Standard, 26.9.2001, 8. Warnungen vor Antiamerikanismus kamen auch von Nationalratspräsident Heinz Fischer (News, Nr. 40, 4.10.2001, 50) und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer (ORF-Live-Übertragung der Nationalratssitzung vom 26.9.2001, ORF 2, 9.05– 13.00 Uhr). 108 Der Standard, 18.9.2001, 39. 109 Profil, Nr. 39, 24.9.2001, 62–64.

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den können.110 Zum einen waren sie Ausdruck dumpfer antiamerikanischer Ressentiments, die sich aus der Niederlage im Zweiten Weltkrieg speisten und sich gegen die Amerikaner als ‚Sieger‘ richteten und vor allem im recht(sextrem)en Milieu anzutreffen sind. So herrschte in der rechtsextremen Aula eine unverblümte Genugtuung über die Anschläge, was mit der langen „Blutspur“ in der amerikanischen Geschichte, vom Bombenkrieg in Deutschland über Hiroshima bis hin zum Irak, den Balkankrieg und der bedingungslosen Unterstützung Israels, begründet wurde.111 Auch plumpe Aufrechnungen kamen in diesen Kreisen häufig vor, so etwa wenn Heinz Fidelsberger in der rechten Wochenzeitung Zur Zeit auf das „unendliche Leid der Deutschen zwischen 1942 und 1945“ hinwies (womit er auf die Bombardierungen der deutschen Städte anspielte) und zu dem Schluss kam, dass das „damals ausgelöste Grauen qualitativ und quantitativ tausendmal größer (war) als jenes entsetzliche Unheil vom 11. September“.112 Derartige Tendenzen waren aber nicht nur im Milieu der ‚Ewig­gestrigen‘, sondern – in abgeschwächter Form – auch weit darüber hinaus anzutreffen. Gerade im semiöffentlichen Bereich, vor allem in Internetforen, gab es immer wieder Äußerungen, in denen eine gewisse Schadenfreude über die Anschläge zum Ausdruck kam und sich die Trauer über die Opfer in Grenzen hielt: „Wenn in irgendeinem Land 10.000 Menschen verhungern, ist das ziemlich egal. Aber sobald 50.000 Amis draufgehen, ist es eine R ­ iesenkatastrophe. Nur weil die USA die inoffizielle Supermacht dieser Welt ist, verdient sie nicht mehr Mitleid als alle anderen.“113 In diesem Zusammenhang wurde auch oft über den „allgemeinen Trauergesang“114 und einem angeblichen „versteckten Trauer-Rassismus“115 geklagt. Die Genug­ tuung war ideologisch nicht immer eindeutig zuordenbar, oftmals kam sie aber aus linken Kreisen, in denen die Anschläge oft als eine Art ‚logische Strafe‘ für die verfehlte Politik des ‚US-Imperialismus‘ seit dem Vietnam110 Martin Draxlbauer/Astrid M. Fellner/Thomas Fröschl (Hg.), (Anti)Americanism, Wien 2004; Günter Bischof, Two Sides of the Coin. The Americanization of Austria and Austrian-AntiAmericanism, in: Alexander Stephan (Hg.), The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy and Anti-Americanism after 1945, New York-Oxford 2007, 147–184. 111 Editorial: Ein Mythos bricht zusammen, in: Aula 9/2001, 3. 112 Zur Zeit, Nr. 39, 28.9.2001, 20. Derartige Argumentationen und Aufrechnungen gepaart mit Antisemitismus exemplarisch in: Aula 10/2001, 21 ff und Aula 2/2002, 25 f. 113 Leserbrief zitiert nach Der Standard, 13.9.2001, 10. 114 Tina Leisch, Arroganz der Mächtigen, Gewalttaten der Schwachen, in: Volksstimme, 20.9.2001, 1. 115 Daniela Strigl, Sind wir Amerikaner?, in: Der Standard, 16.10.2001, 39.

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krieg bis zur Gegenwart galten. Diese linke amerikakritische Tradition war zweifellos mit ein Grund, wieso man sich 2001 auch in linksliberalen Kreisen so schwer tat, die USA auch einmal als Opfer zu sehen und warum es im Zuge der Ursachenforschung zu den bereits erwähnten Schuldzuweisungen an die USA kam. Im Laufe der nächsten Jahre erschienen in Österreich mehrere amerikakritische Bücher, so z.B. Ami go home (2003) von Wilhelm Langthaler und Werner Pirker, zwei linken Autoren, die offen einen Antiamerikanismus propagierten; des Weiteren das Buch des bekannten grünen Nationalratsabgeordneten Peter Pilz Mit Gott gegen alle (2003), der mit teilweise verschwörungstheoretischen Ansätzen „Amerikas Kampf um die Weltherrschaft“ (so der Untertitel) nachzeichnete; und schließlich das Schwarzbuch USA (2004) des Journalisten Eric Frey, der sich zwar im Vorwort klar vom Antiamerikanismus distanzierte, aber gleichzeitig auf beinahe 500 Seiten sämtliche „Sünden“ aus der amerikanischen Geschichte und Gegenwart (von der Vernichtung der Indianer bis hin zur Kriegspolitik George W. Bushs) auflistete. 116 In diese Tradition ist auch die weit verbreitete Deutung der Anschläge als Kampf gegen Kapitalismus, Neoliberalismus und Globalisierung zu stellen. In kaum einer der ersten Reaktionen fehlte der Hinweis, dass New York und die Türme des WTC das „Zentrum des Weltkapitalismus“ (Profil), das „Symbol des Kapitalismus und der Globalisierung“ (Kronen Zeitung) oder das „Symbol für den geschmähten Raubtierkapitalismus“ (Format) darstellten, wobei diese Zuschreibungen manchmal neutral, öfters aber negativ konnotiert waren. Besonders in der kommunistischen Volksstimme herrschte eine ‚antikapitalistische‘ bzw. ‚globalisierungskritische‘ Deutung der Anschläge vor – so wurde New York fast ausschließlich mit Wallstreet, Finanzkapital und Börse assoziiert und ein Autor vertrat die These: „Die One-World des Kapitals ist selber der Schoß, der den Mega-Terror gebiert.“117 Für den österreichischen Globalisierungskritiker Hans-Peter Martin wiederum war im World Trade Center „der plumpe Neoliberalismus ums Leben gekommen“118 und er sprach in diesem Kontext sogar von einem „Globalisierungs-Holocaust“.119 116 Wilhelm Langthaler/Werner Pirker, Ami go home. Zwölf gute Gründe für einen Antiamerikanismus, Wien 2003; Peter Pilz, Mit Gott gegen alle. Amerikas Kampf um die Weltherrschaft, München 2003; Eric Frey, Schwarzbuch USA, Berlin 2004. 117 Robert Kurz, Totalitäre Ökonomie und Paranoia des Terrors, in: Volksstimme, 20.9.2001, 9. 118 Der Standard, 17.9.2001, 23. 119 Zitiert nach Format, Nr. 38, 14.9.2001, 67.

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Bemerkenswerterweise kamen solche antikapitalistischen und globalisierungskritischen Zuschreibungen auch aus einer Richtung, die sonst kaum durch klassenkämpferische Zielsetzungen aufgefallen war. Sowohl in der meistgelesenen Boulevardzeitung Österreichs, der Kronen Zeitung als auch in der rechtsextremen Aula wurde das WTC in ‚linker‘ Terminologie zum „Symbol des globalen und rücksichtslosen Turbokapitalismus“ und des „weltumspannenden, US-amerikanischen Hegemonialstrebens“ erklärt.120 Ähnliche antiamerikanische Argumentationen fanden sich 2001 übrigens auch in der rechtsextremen Szene in Deutschland, z.B. bei Horst Mahler, der die Terroranschläge als „militärische Angriffe auf die Symbole der mammonistischen Weltherrschaft“ guthieß, denn sie bedeuteten seiner Ansicht nach das „Ende des globalen Kapitalismus und damit das Ende des welt­ lichen Jahwe-Kultes, des Mammonismus“.121 Nicht selten wurde in diesem Zusammenhang auch der Mythos vom ‚Turmbau zu Babel‘ bemüht. So veröffentlichte Wolf Martin, der ‚Hofdichter‘ der Kronen Zeitung, bereits wenige Tage nach den Anschlägen folgenden, zwar holprigen, aber aussagekräftigen Reim: „Die doppeltürmige, ­zentrale / globalisierte Kathedrale / stand für den Glauben unsrer Welt. / Sein Gott und Götze ist das Geld. / New York ist seiner Kirche Nabel. / Dort stand der neue Turm zu Babel.“122 Mit dieser Anhäufung von altbekannten Stereotypen war für manche die Grenze vom klammheimlichen Antiamerikanismus zum „offenen Ami-Hass“ eindeutig überschritten.123 Referenzen auf den Turmbau von Babel fanden sich auch in bildlicher Form, so z.B. auf einem Cover der Aula, wo der Turm von Babel abgebildet und mit der Überschrift: „Die anmaßende Weltmacht“ versehen war.124 Die Botschaft dabei war klar: New York und vor allem die Twin Towers wurden negativ identifiziert mit Macht, Geld und Überheblichkeit und die Terroranschläge waren somit eine nachvollziehbare Reaktion auf die politische und wirtschaftliche Übermacht der USA und eine gerechte Strafe für die amerikanische Maßlosigkeit. Eine zusätzliche Assoziation, die mit diesen (Sprach)Bildern hergestellt werden sollte, war die Vielsprachigkeit (‚babylonisches Sprachengewirr‘) und 120 121 122 123 124

Aula, 11/2001, 19. Verfassungsschutzbericht 2001 (hg. vom Bundesministerium des Innern), Berlin 2002, 68. Wolf Martin, In den Wind gereimt, in: Kronen Zeitung, 15.9.2001, 6. Armin Thurnher, Der Bösmensch, in: Der Falter, Nr. 40, 4.10.2001, 5. Cover und Editorial in: Aula, 2/2002.

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„Turm von Babel“-Sujet: Die Anschläge als Strafe? Cover der österreichischen rechten Zeitschrift Aula. Das freiheitliche Magazin 2/2002.

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Multikulturalität New Yorks (‚Völkergemisch‘), die oft für Polemiken von rechts gegen multikulturelle Gesellschaften allgemein benutzt wurde.125 Dass derartige Vorstellungen über das marginale rechtsextreme Spektrum hinaus wirksam waren, zeigt die Behauptung des FPÖ-Parlamentariers Peter ­Westenthaler: „Die multikulturelle Gesellschaft ist am 11. September zu Grabe getragen worden“126 – womit die FPÖ die Anschläge von New York für eine verschärfte (ausländerfeindliche) Sicherheitspolitik zu instrumentalisieren versuchte.

Resümee Abschließend kann festgehalten werden, dass der 11. September 2001 in ­vielerlei Hinsicht seine Signaturen hinterlassen und sich auch in die österreichische Gegenwartsgeschichte eingeschrieben hat. Die weltweiten Debatten über die Wahrnehmungen und Auswirkungen vom 11. September in den USA und in Europa wurden – wenn auch in abgeschwächter Form – auch in Österreich fortgesetzt. Wie sich gezeigt hat, konnte sich das ‚kleine Österreich‘, obwohl es nicht direkt von den Anschlägen betroffen war, nicht aus diesen Diskussionen heraushalten. Bei diesen Debatten haben sich zentrale Themen- und Konfliktfelder der Gegenwart berührt und auf vielfältige Weise verknüpft. Vor allem die Fragen nach einem möglichen Antiamerikanismus einerseits und einer ansteigenden Islamfeindlichkeit andererseits (die hier nicht näher ausgeführt werden konnte) haben den öffentlichen Diskurs in Österreich seit 2001 bestimmt. Wie am ­Beispiel Österreich aufgezeigt wurde, gab es im Kontext des 11. September in bestimmten Segmenten der Gesellschaft Ansätze von Antiamerikanismus unterschiedlicher Art und Qualität. Diese aktuellen Formen von Antiamerikanismen speisten sich aus den jeweiligen historischen antiamerikanischen Traditionen, sie hatten unterschiedliche politische Zielrichtungen, waren unterschiedlich motiviert und wiesen auch generationsspezifische Merkmale auf. Anders formuliert: Man hat sich 2001 – je nach Generation, Sozialisation und politischem Standort – aus dem vorhandenen historischen Fundus bedient und bei Bedarf die Argumentationen an die aktuelle Situ125 Vgl. Lothar Höbelt, Multi-Kulti?, in: Zur Zeit, Nr. 39, 28.9.2001, 1. 126 Zitiert nach Der Standard, 15.10.2001, 6.

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ation adaptiert. Eine klare Trennlinie zwischen einem Antiamerikanismus ‚rechter‘ und ‚linker‘ ­Provenienz lässt sich dabei kaum mehr ziehen. Antiamerikanismus ‚in Reinkultur‘ trat nach den Anschlägen vom 11. September selten auf und wenn, dann in politisch und gesellschaftlich marginalen Bereichen; in abgeschwächter und oft auch sehr diffuser Form waren antiamerikanische ­Stereotype und amerikakritische Vorbehalte aber durchaus auch in der Mitte der Gesellschaft vorhanden. Ob es sich dabei um sehr tief sitzende antiamerikanische Ressentiments und Vorurteile handelt, die jederzeit wieder abrufbar sind oder doch eher um eine vorübergehende, unreflektierte Anwendung bestimmter antiamerikanischer Klischees ohne besonderen Tiefgang und ohne weit reichende Wirkung, wird sich erst aus einer größeren zeitlichen Distanz eindeutig beurteilen lassen.

Reinhard Heinisch

Ungeliebt und unverstanden Die Beziehungen zwischen den USA und Europa aus amerikanischer Sicht Der Tiefpunkt transatlantischer Beziehungen 2003 Der seinerzeitigen US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice wurde eine nie dementierte Maxime zugeschrieben, wonach man die Deutschen ignorieren, den Russen vergeben und die Franzosen bestrafen solle. Diese angeblich 2003 getätigte Aussage bezeichnete den Tiefpunkt transatlantischer Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg.1 In Europa war nach dem 11. September zunehmend Kritik an den USA laut geworden. Am 15. Februar 2003 gingen in ganz Europa Millionen Menschen gegen den (drohenden) Krieg im Irak auf die Straße, vor allem in Ländern wie Großbritannien, Spanien und Italien, die nach wie vor auf der Seite der Amerikaner standen. Auch viele europäische Intellektuelle grenzten sich von den USA ab und versuchten ein positives europäisches Gegenmodell zu entwickeln. Die Vereinigten Staaten zeigten sich von dieser tiefen Skepsis und Kritik aus Europa zwar verärgert, aber letztendlich unbeeindruckt und ließen sich von dem lange geplanten Krieg im Irak nicht abhalten. Im Frühjahr 2003, nach Ende des Irakkrieges, sahen sie sich jedenfalls am Höhepunkt ihrer geopolitischen Macht angekommen. Amerikas Kritikern, darunter die Westeuropäer, schien nichts anderes übrig zu bleiben, als sich an die neue Ordnung der Dinge zu gewöhnen. Im F ­ ebruar desselben Jahres war der Brief der sogenannten Vilnius 10 ver­öffentlicht worden, in dem die unterzeichnenden osteuropäischen Staaten offen ihren Bruch mit der Politik Frankreichs und Deutschlands kundtaten und die Politik Washingtons explizit unterstützten. US-Außenminister Donald Rumsfeld goss zusätzlich Öl ins Feuer, indem er die sogenannte Vilnius-Gruppe stellvertretend für die allgemeine Unterstützung US-amerikanischer Politik durch die Osteuropäer als „New Europe“ lobte und die Gegnerschaft dazu als „Old 1

Pierre Hassner, War: Who is to Blame?, in: Center for European Reform Bulletin 29 (April/ Mai 2003), 2.

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Europe“ abqualifizierte.2 Mehr noch, besonders die beiden großen westeuropäischen Länder Deutschland und Frankreich waren seiner Meinung nach sogar zu „Problemen“ geworden. Diese tiefe Kluft in den transatlantischen Beziehungen von 2003 wirft zunächst die Frage auf, wie man in diese Lage geschlittert war und wie es geschehen konnte, dass es zwischen Washington und seinen wichtigsten Verbündeten in Kontinentaleuropa zu diesem Bruch kam. Der transatlantische Bruch war nicht nur das Ergebnis der aktuellen politischen Meinungsverschiedenheiten, sondern muss auch im Zusammenhang mit einer zunehmenden gegenseitigen Entfremdung zwischen den USA und Europa gesehen werden, die bis in die 1980er-Jahre zurückreicht.3 Oder um es in den Worten Pierre Guerlains auszudrücken: Vor allem die Irak-Krise erlaubte es, den „Vorrat an Vorurteilen zu sichten, der bereits vorhanden war“4. Neben dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Auseinanderdriften waren es auch die völlig unterschiedlichen ­Lehren, die beide Seiten aus den geschichtlichen Ereignissen jener Zeit – wie dem Ende des Kalten Krieges, dem Golfkrieg 1991 und dem Krieg auf dem Balkan – zogen, welche die wechselseitige Entfremdung noch verstärkten. Während für die Europäer der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Krieges vor allem mit der Bündnispolitik der NATO und besonnenen Politikern wie Michail Gorbatschow und Helmut Kohl verbunden sind, sehen die meisten US-Amerikaner bis heute in Präsident Ronald Reagan den H ­ elden der Stunde. Dessen kompromisslose Politik gegenüber der von ihm als „Evil Empire“ apostrophierten Sowjetunion, seine Hochrüstungspolitik und erst recht seine Unterstützung antikommunistischer Bestrebungen weltweit hatten demnach Moskau zu Reformen und Gorbatschow an den Verhandlungstisch gezwungen. Außenpolitisch bedeutete die zunehmende Übereinstimmung des europäischen politischen Mainstreams mit der Politik der US-Demokraten, dass 2 3 4

Außenminister Donald Rumsfeld machte diese Bemerkung bei einem Pressebriefing im Foreign Press Center des U.S. Verteidigungsministerium am 22. Januar 2003 als Antwort auf die Frage eines holländischen Journalisten. John Peterson/Mark A. Pollak, Europe, America, Bush. Transatlantic Relations in the TwentyFirst Century, London 2003. Pierre Guerlain, Die amerikanische Hegemonie und ihre Wahrnehmung in Europa nach 1989, in: Rudolf von Thadden/Alexandre Escudier (Hg.), Amerika und Europa. Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen 2004, 86-104, 87.

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die europäische Politik, sofern man sie überhaupt in den USA wahrnahm, von den Republikanern ideologisch negativ rezipiert wurde. Aus amerikanischer Sicht war man auch endlich davon befreit, sich wie bisher so oft um die Verteidigung des alten Kontinents Europa zu kümmern und europäische Sensibilitäten besonders berücksichtigen zu müssen. Das zentrale geostrategische Problem für die USA war nicht die eigene militärische Stärke, wie dies die Europäer sahen, sondern die europäische Schwäche. Der neokonservative Theoretiker Robert Kagan formulierte diesen Punkt wie folgt: „The problem today, if it is a problem, is that the US can go it alone and it is hardly surprising that the American superpower should wish to preserve its ability to do so. Geopolitical interest dictates that Americans have a less compelling reason than Europeans in upholding multi­ lateralism as a universal principle for governing the behavior of nations.”5 Objektiv gesehen hatten die USA bei einem einseitigen Machtverzicht am meisten zu verlieren. Für die ohnehin schwächeren Europäer war es hingegen ein Leichtes, eine gerechtere Machtverteilung zu verlangen, da es den europäischen Kontinent nur aufwerten konnte. Aufgrund ihrer Schwäche, so argumentiert Kagan, hätten die Europäer auch eine andere Einstellung zu den bestehenden Gefahren als die USA. Gerade aus diesem Grund hätten europäische Regierungen auch dort, wo es tatsächlich Bedrohungen (threats) gab, nur politische Herausforderungen gesehen und die erforderlichen robusteren Antworten auf die realen Bedrohungen abgelehnt.6 Die zunehmend einflussreiche Gruppe der Neokonservativen7 sah sich durch die Erfahrungen im Umgang mit der Sowjetunion bestärkt und warf den Europäern vor, sich hinter den nuklearen Sicherheitsgarantien der USA in eine kantische Fantasiewelt des „paradiesischen Friedens“ zu flüchten, bei vollkommener Verkennung jenes Machtstrebens, das die internationale Staatenwelt seit der Antike kennzeichnet. Die von den Europäern erträumte internationale Friedensordnung funktioniere nur solange die USA diese mit „blood and treasure“, also mit teuren eigenen Ressourcen erkauften. 5 6 7

Robert Kagan, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York 2004, 39. Ebd., 32 f. „Neokonservativ“ bezeichnet hier eine heterogene Gruppe US-amerikanischer Intellektueller und Strategen, die in den 1970er-Jahren entstand und sich in der Außenpolitik für die Umsetzung amerikanischer Werte wie Freiheit und Demokratie einsetzt, wenn notwendig auch mit allen Mitteln der Macht und unilateral.

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Einer der intellektuellen Vorreiter der neuen US-Politik der Stärke war Paul Wolfowitz, der im ersten Irakkrieg 1990/91 als Unterstaatssekretär diente und mit seinem damaligen Assistenten Lewis ‚Scooter‘ Libby ein Thesenpapier verfasste, das später als Wolfowitz-Doktrin bekannt werden sollte. Dieses forderte ein vorzeitiges und einseitiges Agieren der USA, um gewisse Bedrohungen zu beseitigen, bevor sich diese zu einem größeren Problem entwickeln würden. Man fürchtete, dass gerade die Auflösung von Ordnungsmechanismen des Kalten Krieges dazu führen könnte, dass manche auf Machtvermehrung spekulierende Regime die Gunst der Stunde zum eigenen Vorteil nützen könnten, um ihre Nachbarn sowie das internationale System mit aggressiven Drohungen zu erpressen. Diese von den USA als „Schurkenstaaten“ bezeichneten Akteure wie der Iran, Nordkorea oder der Irak würden einen permanenten Herd der Instabilität darstellen, die weltwirtschaftlichen Versorgungsrouten bedrohen und radikalen Elementen eine Schutzzone bieten. Die orthodoxe und bis dato dominante amerikanische Denkschule des außenpolitischen Realismus unter Bill ­Clinton setzte jedoch auf Eindämmung und Isolation (Containment) der Gefahrenherde, wohingegen die Neokonservativen für präventives und direktes Handeln plädierten. Was in den Augen der Neokonservativen zählte, war nicht die von internationalem Recht legitimierte und institutionalisierte Allianz, sondern ein Ad-hoc-Verband, also eine Coalition of the Willing, die sich glaubhaft einem Aggressor in den Weg stellt. Für Strategen wie Wolfowitz war das Bemerkenswerte des ersten Golfkrieges nicht das gemeinsame UNO-sanktionierte Vorgehen gegen Saddam Hussein, sondern der Wille der USA, die Gunst des sogenannten unipolaren Moments US-amerikanischer Stärke zu nutzen, um die Welt nach den eigenen Wertvorstellungen zu verändern. Zwar überdeckte die demonstrative Gewogenheit der Clinton-Administration gegenüber Europa einige dieser neuen Töne,8 dennoch sorgten sich europäische Außenpolitiker zunehmend um die eigene welt­ politische Rolle, denn war es nicht tatsächlich so, wie Robert Kagan es sagte: The United States „are making the dinner and the Europeans (are) doing the dishes“?9

8 9

Fraser Cameron, The EU and US. Friends or Rivals?, European Policy Centre Brussels 2004, http://dspace.anu.edu.au/bitstream/1885/41744/2/cameron_eu_us.pdf, (16.11.2010). Kagan, Of Paradise and Power, 23.

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Die beteiligten Akteure Einen wesentlichen Anteil an der Verschlechterung der Beziehungen nach 2000 zwischen den europäischen Kontinentalmächten Frankreich und Deutschland einerseits und den USA andererseits trugen die beteiligten Politiker, allen voran der im November 2000 gewählte US-Präsident George­W. Bush. So wie viele Konservative war der neue Präsident geneigt, im „alten“ Europa ein wirtschaftliches und politisches Modell im Niedergang zu sehen, wobei er die Ursachen hierfür genau in denselben politischen Ideen und Konzepten auszumachen vermeinte, die auch seine liberalen politischen Gegner zu Hause vertraten. Sein Glaube an fundamentale und allgemeingültige Prinzipien machte es Bush schwer, kulturelle oder historische Umstände als triftige Gründe dafür anzuerkennen, dass man anderswo von den Prinzipien des US-amerikanischen Modells abwich. Für die säkular eingestellten Europäer wiederum war Bushs religiös verbrämtes Denken schwer nachvollziehbar und sein Sendungsbewusstsein, die Welt vor dem „Bösen“ zu retten, geradezu gefährlich.10 Im Laufe seiner Amtszeit sollte die Liste der politischen Zerwürfnisse mit Europa immer länger werden, welche vom Kyoto-Protokoll und dem Internationalen Strafgerichtshof bis hin zu dem Abkommen über Landminen, dem Kernwaffentest-Stopp-Vertrag, dem Abkommen gegen die Anwendung chemischer und biologischer Waffen, dem Irakkrieg, Guantanamo, und schließlich dem nationalen Raketenabwehrprogramm reichen sollte.11 Der gesamte amorphe Integrationsprozess Europas mit seiner unwegsamen Entscheidungsfindung, seinen bürokratischen Spitzfindigkeiten und seinem diplomatischen ‚Brimborium‘ musste für den eher geradlinigen und wenig feinfühlig agierenden amerikanischen Präsidenten Bush eine ungewohnte Erfahrung sein. Innerhalb der US-Administration gab es ebenfalls eine ungewöhnliche Personenkonstellation, in der Dick Cheney eine Art väterliche Beraterrolle übernahm und letztlich der mächtigste Vizepräsident der US-amerikanischen Geschichte werden sollte. Des Weiteren gehörten der Administration eine Reihe ebenso brillanter wie machtbewusster konservativer Intellektueller12 an, 10 Kurt R. Spillmann, Amerikanische und europäische Missionsideen, in: Georg Kreis (Hg.), Antiamerikanismus. Zum europäisch-amerikanischen Verhältnis zwischen Ablehnung und Faszination, Basel 2007, 29–51, 32. 11 Guerlain, Die amerikanische Hegemonie und ihre Wahrnehmung in Europa nach 1989, 92. 12 Charles Krauthammer, The New Unilateralism, in: The Washington Post, 8.6.2001, A29.

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deren Ziel es war, die augenblickliche globale Stärke der USA zum maximalen Vorteil des Landes und der eigenen ideologischen Weltsicht zu nützen. ­Darunter waren Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, sein Stellvertreter Paul Wolfowitz, der Unterstaatssekretär für Verteidigungspolitik Douglas Feith, die nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, der Unterstaatsekretär im Außenministerium für Abrüstung und Internationale Sicherheit John Bolton, der von seinen Gegnern als „Prince of Darkness“ apostrophierte Leiter des einflussreichen Defence Policy Boards Richard Perle und der Stabschef des Vizepräsidenten Lewis ‚Scooter‘ Libby. Nicht alle der hier genannten waren sogenannte Neokonservative, vertraten jedoch einen muscular approach, also ein Ausspielen der eigenen militärischen Stärke um Interessen durchzu­setzen, auch wenn dies die eigenen Bündnispartner in Aufregung versetzen sollte. Gleichzeitig signalisierte die Bush-Administration, man wolle sich von jenem inter­ nationalen Engagement zurückziehen, das nicht direkt wichtige US-Interessen beträfe. Vor allem mit Friedensmissionen, humanitären Interventionen und Nation Building, wie dies unter Bushs Vorgänger am Balkan der Fall war, wollte man diesbezüglich nichts mehr zu tun haben – so mokierte sich Sicherheitsberaterin Rice in diesem Zusammenhang, dass die 82nd Airborn (eine Elite-Luftlandeeinheit) nicht dazu da sei, Kinder in den Kindergarten zu bringen.13 Besonders im Nahostkonflikt sahen die Neokonservativen, von denen viele mit Israel und den dortigen expansionistischen Kreisen sympathisierten, einen Beweis dafür, dass korrupte arabische Diktaturen diesen Krisenherd künstlich schürten, um die eigene Bevölkerung von den miserablen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen abzulenken. Ein Regimewechsel und die Demokratisierung der Region würden somit auch den scheinbar unendlichen israelisch-palästinensischen Konflikt lösen. Die Europäer meinten vor allem in Außenminister Colin Powell einen besonnenen und verständnisvollen Partner zu haben. Als Realpolitiker und Pragmatiker setzte der ehemalige Generalstabschef auf vorsichtiges Agieren, Institutionen und Allianzen, womit er und das von ihm geführte Außen­ministerium letztlich immer stärker zur Zielscheibe der amerikanischen Hardliner wurden, die sie verächtlich als Mitglied der „Axis of Appeasement“14 apostrophierten. 13 14

Justin Logan/Christopher Preble, GOP & Nation-Building, The Cato Institute 2006, http:// www.cato.org/pub_display.php?pub_id=5427, (16.11.2010). Elizabeth Pond, Friendly Fire. The Near-Death of the Transatlantic Alliance, Washington 2010, 49.

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Auf europäischer Seite war mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder­ und dem britischen Premierminister Tony Blair ebenfalls eine neue Politikergeneration ins Amt gekommen. Schröder führte Deutschlands erste rot-­grüne Koalition und befand sich politisch in einer äußerst schwierigen Situation. Gegen erhebliche Widerstände der eigenen Partei und mit grüner Unterstützung hatte der Bundestag 1999 für den von ­Schröder und Außenminister Joschka Fischer initiierten Einsatz der Bundeswehr im NATOAusland gestimmt. In den Augen der Deutschen musste sich gerade die rotgrüne Regierung von den USA nicht vorwerfen lassen, international nicht ihren sicherheitspolitischen Beitrag zu leisten. Auffällig aus US-Perspektive war Schröders scheinbares Desinteresse an der Europäischen Union und seine eher kühlen Beziehungen zu Frankreich, galt er doch als ‚Anglophiler‘, der im Labour-Mann Tony Blair viel mehr einen politisch Gleichgesinnten erkannte als im konservativen französischen Präsidenten Jacques Chirac. Aus amerikanischer Sicht schienen besonders Frankreich und der französische Präsident Chirac international in einer wenig beneidenswerten Position. Die Wiedervereinigung Deutschlands bedeutete, dass dieses nun etwa ein Drittel größer war als Frankreich und allen Strukturproblemen zum Trotz das wirtschaftliche Schwergewicht Europas repräsentierte. Groß­britannien wiederum hatte eine rasch wachsende moderne Wirtschaft und verfügte mit London über den international bedeutendsten Finanzplatz. Geostrategisch konnten sich die Briten immer noch auf ihre ‚special relationship‘ mit Washington berufen, was es ihnen ermöglichte, über ihre tatsächlichen Möglichkeiten hinaus Einfluss auszuüben – „to punch above their weight“, wie dies der ehemalige britische Außenminister Douglas Hurd bezeichnete15. Frankreich, das sich dagegen stets der deutschen wirtschaftlichen Dominanz bedient hatte, um über seine eigene Stärke hinaus Einfluss zu haben, sah mit einem sich emanzipierenden Deutschland unter Schröder diese Möglichkeit rapide schwinden. Washington erwartete jedoch, dass im Ernstfall die Franzosen wieder die Rolle des foul-weather friends der Amerikaner einnehmen würden, die sich zwar lange bitten ließen und ihre Partner immer wieder abmahnten, aber letztlich doch im richtigen Moment eingriffen, wie dies im ersten Irakkrieg der Fall gewesen war. Tatsächlich hat Frankreich trotz aller Kritik an den USA auf der realpoli15

BBC News, news.bbc.co.uk/hi/english/static/in_depth/uk_politics/2001/open_politics/ foreign_policy/uks_world_role.stm, (11.2.2011).

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tischen Bühne nur sehr selten gegen die USA opponiert.16 Diese für Paris typische Bündnispolitik wurde in Zeiten des Kalten Krieges, als Washington jeden nur verfügbaren Verbündeten benötigte, eher goutiert als nun, da die USA als die einzige Supermacht verblieben und auf die Unterstützung durch Paris gewiss nicht angewiesen waren. Auf Seiten der US-amerikanischen Rechten hatte sich Frankreich zu einem Objekt des Hohns entwickelt und dieses Negativimage wurde auch längst von einer breiten Schicht der Öffentlichkeit geteilt: Nach diesem Zerrbild waren die Franzosen, stellvertretend für Kontinentaleuropa, eine vom Sozialstaat verweichlichte hedonistisch-arbeitsscheue Bevölkerung, welche in einem Staat lebte, der sich durch eine überregulierte Wirtschaft, mittelmäßige Universitäten, eine zahnlose Armee sowie durch politische Prinzipienlosigkeit und kulturelle Überheblichkeit auszeichnete. Niemand verkörperte dieses Bild besser als Präsident Chirac, der von seinem Habitus und Erscheinungsbild her das Gegenteil dessen darstellte, was sich Amerikaner allgemein unter einer politischen Führungspersönlichkeit vorstellen. In gewisser Weise hat diese Aversion gegenüber Frankreich auch viel mit einem inneramerikanischen Kulturkampf zu tun, in dem das Hinterland und der ‚common man‘ gegen die traditionelle Bevormundung durch die kulturellen Eliten in den Küstenmetropolen revoltieren, wobei Letztere sich durch ihre vermeintlich ‚unamerikanischen‘ Vorlieben für europäische Gepflogenheiten und Geschmäcker, prätentiöses Verhalten und ein überzogenes Joie de vivre auszeichneten.17 Insofern handelte es sich hierbei, wie etwa Jürgen Habermas bemerkt, auch um einen normativen Dissens, der letztendlich den Westen selbst spaltete.18 Der völlig unangemessene Hass und Spott, der Frankreich unmittelbar vor dem Irakkrieg von amerikanischer Seite entgegenschlug und in der damals populären Phrase der Franzosen als „cheese-eating surrender monkeys“19 zum Ausdruck kam, kann nur vor dem Hintergrund dieses inneramerikanischen Kulturkampfes verstanden werden, ebenso wie die zunehmende Assoziation Europas mit mangelnder Virilität und femininem Verhalten. Nicht zufällig schreibt der neokonservative Vordenker Robert Kagan in seinem 16 17 18 19

Guerlain, Die amerikanische Hegemonie und ihre Wahrnehmung in Europa nach 1989, 90. Zum ‚Anti-Europäismus‘ in den USA vgl. Andrei S. Markovits, Uncouth Nation. Why Europe Dislikes America, Princeton 2007, 32–37. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt/Main 2004, 35. Pond, Friendly Fire, 41.

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Schlüsselwerk Of Paradise and Power, dass die Amerikaner dem „Mars“ und die Europäer der „Venus“ entstammen würden.20 In Großbritannien wiederum machte man sich nach der Wahl George W. Bushs zum US-Präsidenten Gedanken, wie verhindert werden könne, dass Washington weiter in einen gefährlichen Isolationismus abdriftet. Da auch die eigene geopolitische Stärke nicht zuletzt von der Enge des Verhältnisses mit Washington abhing, war es für London entscheidend, in gewisser Weise auf dem internationalen Parkett die Rolle des Tutors zu übernehmen oder zumindest als Mittler zu fungieren. Im Gegensatz zu den Franzosen ­waren die Briten wie immer Pragmatiker der Macht und dazu bereit, aus der vorliegenden Situation das Beste zu machen. Doch stand London vor dem Problem, dass die neue US-Führung auch hier weder besonderes Interesse daran zeigte noch solche Bedürfnisse anmeldete. Immerhin war Premier­ minister Tony Blair oft mit Bill Clinton und dessen Politik verglichen worden, wohingegen es zwischen einem kosmopolitischen und in Oxford erzogenen britischen Berufspolitiker der linken Mitte und einem texanischen Rechten wenig Berührungspunkte zu geben schien. Über die Enge des Verhältnisses zwischen Bush und Blair wurde viel spekuliert.21 Obwohl Großbritannien zum engsten Verbündeten der USA im Irakkrieg mutierte, war den meisten Neokonservativen das Engagement Londons ein Dorn im Auge, da es den Einfluss des US-Außenministeriums auf den Präsidenten stärkte und der UNO eine Rolle zuschrieb, welche für die amerikanischen Falken inakzeptabel war. Die Ereignisse des 11. September 2001 haben die hier beschriebenen Tendenzen in vielerlei Hinsicht verstärkt, beziehungsweise die Unterschiede zwischen den einzelnen Akteuren diesseits und ­jenseits des Atlantiks schärfer hervorgebracht.

Der 11. September und die Folgen Die Terroranschläge vom 11. September haben die Kluft zwischen den USA und Europa zusätzlich vertieft, obwohl es zunächst nicht danach aussah. Die Anteilnahme Europas an den schrecklichen Ereignissen dieses Tages wurde 20 Kagan, Of Paradise and Power. Diese Zuschreibung provozierte in Europa Abwehr und Gegenentwürfe, vgl. exemplarisch den Sammelband Rudolf von Thadden/Alexandre Escudier (Hg.), Amerika und Europa. Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa, Göttingen 2004. 21 Zur Rolle Blairs vgl. den Beitrag von Helga Embacher zu Großbritannien in diesem Band.

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vielleicht am besten von der französischen Zeitung Le Monde zusammengefasst, die ihre Berichterstattung mit der Aussage übertitelte: „Wir sind alle Amerikaner“.22 Im Umstand, dass trotz aller Anteilnahme und Betroffenheit die Europäer die Ereignisse in New York City eben nicht als Amerikaner erlebten, liegt auch der wesentliche Unterschied, welcher letztendlich zu divergierenden politischen aber auch emotionalen und psychologischen Reaktionen auf die Terroranschläge führte. Die USA verharrten zunächst einmal tagelang in einem kollektiven Schockzustand, der dann langsam in Trauer und später in Zorn und letztlich in einen kollektiven Wunsch nach Abrechnung umschlug. Man konnte dies gut in der vergleichenden Berichterstattung nachvollziehen, wo die Europäer bereits kurz nach dem Ereignis in eine Art Analysephase übergingen, während in den USA wochenlang nur Trauerarbeit vonstatten ging und der Rest der Welt aus dem medialen Blickfeld und dem allgemeinen Bewusstsein verschwanden. Europäische Sympathiebezeugungen oder konkrete Hilfestellungen wie monetäre Systemstützungen durch die Europäische Zentralbank oder die in der Geschichte beispiellose Beistandserklärung der NATO-Verbündeten unter Artikel 5 des Washingtoner Vertrags gingen in den USA vollkommen unter und waren dort kein öffentliches Thema. Der 11. September war für die USA ein ausschließlich amerikanisches Ereignis, mögen auch viele Staatsbürger/ innen anderer Staaten umgekommen sein und mag auch der Westen als Ganzes im Visier der Terroristen gestanden haben. Für die USA war dies im Wesentlichen ein Angriff auf Amerika als Symbol für bestimmte Werte, eine bestimmte Regierungs- und Wirtschaftsordnung sowie seine Lebensart. Der 11. September war auch ein bewusst und kollektiv erlebtes Ereignis wie zuvor nur der Angriff auf Pearl Harbor oder die Ermordung von John F. Kennedy, welches sich gerade deshalb so tief in die amerikanische Seele eingrub, weil in der immer heterogeneren US-amerikanischen Gesellschaft singulär und gemeinsam Erlebtes kaum noch existiert. Der 11. September und die ungeklärten Anthrax-Anschläge im Herbst 2001 brachten die USAmerikaner in einer Weise zusammen, wie kaum ein Ereignis zuvor. Ein schizophrenes Problem war, dass sich die Vereinigten Staaten gleichzeitig mächtiger und verwundbarer fühlten als je zuvor – Joseph Nye

22

Jean-Marie Colombani, Nous sommes tous Américains, in: Le Monde, 13.9.2001, 1. Vgl. dazu den Beitrag von Christian Muckenhumer über Frankreich im vorliegenden Band.

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bezeichnete dies als das „Paradox of Power“.23 Der Terroranschlag verschob alle internen politischen Kalküle und Themen auf Jahre hinaus. Machten sich in den 1990er-Jahren zunehmend Strömungen bemerkbar, die in der Zentralregierung in Washington eine Gefahr für die Freiheit sahen und auf lokale Selbstbestimmung setzten, scharte sich das Land nun um seinen Präsidenten und die Bundesregierung. Jeglicher interne Dissens wurde als ‚unpatriotisch‘ oder gar als Zugeständnis an die Terroristen aufgefasst. Auch die amerikanischen Medien trugen hierzu bei, wobei es in den USA trotz vereinzelter Übergriffe nach den Terroranschlägen zu keiner Anti-Islam-Hysterie kam. Im Gegenteil, Präsident Bush beeilte sich zu betonen, dass es sich dabei um keinen Konflikt mit dem Islam als Kultur handle und versuchte seine Landsleute zu beruhigen. Erst im Laufe der Zeit wurde der Islam als Religion zunehmend Gegenstand einer politischen Diskussion, wobei die politische Rechte teilweise sehr islamkritische Positionen einnahm, um sich im politischen Wettbewerb Vorteile zu sichern. Verglichen mit verschiedenen europäischen Ländern sind die USA dennoch weit davon entfernt, eine ‚Leitkultur‘ zu definieren und respektieren nach wie vor die Trennung von Kirche und Staat. Allgegenwärtig war jedoch die Furcht vor weiteren Anschlägen, wobei die Verunsicherung selbst entlegene Orte erfasste. Durch die mangelnde Vertrautheit vieler Menschen mit internationalen Zusammenhängen konnte das Gefahrenpotential nicht richtig eingeschätzt werden, was irrationale Bedrohungsängste und entsprechenden Druck auf die Politik erzeugte. Mit dem 11. September kehrten die USA in gewisser Weise wieder zur Philosophie des Big Government zurück, begannen ihre innerstaatlichen Sicherheitsapparate auszubauen und Freiheitsrechte einzuschränken. Zum einen wurde dadurch Kritik an der Politik des Präsidenten für die Opposition zunehmend schwieriger, zum anderen standen der Außen- und Sicherheitspolitik plötzlich Ressourcen und ein Handlungsspielraum zur Verfügung, der in jüngster Zeit beispiellos war. Gleichzeitig rückte die Außenpolitik in den Blickwinkel einer breiteren Bevölkerung, die bisher diesen Dingen wenig Beachtung geschenkt hatte. Dies ermöglichte es den neokonservativen Kritiker/inne/n der bisherigen US-Außenpolitik, lang etablierte Praktiken und Dogmen infrage zu stellen und ihre eigenen politischen Vorstellungen durchzusetzen. 23

Joseph S. Nye Jr., The Paradox of American Power. Why the World‘s Only Superpower Can’t Go It Alone, Oxford 2002.

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Die Europäer schienen unmittelbar nach den Anschlägen überzeugt, die Herausforderungen des 11. Septembers und seine Konsequenzen gut gemeistert zu haben. Man hatte sich beeilt, den USA Solidarität zu zeigen und unterstützte obendrein Washingtons Vorgehen gegen die Taliban und Al Kaida in Afghanistan – immerhin stellte Deutschland nach dem Krieg mit beinahe 5000 Mann das drittgrößte Kontingent hinter den Amerikanern und den Briten in der internationalen Afghanistantruppe. Selbst der Umstand, dass mehrere Terror-Todespiloten aus einer konspirativen Hamburger Zelle radikaler Islamisten stammten und den deutschen Behörden (wie auch den amerikanischen) offensichtlich einiges entgangen war, spielte anfangs kaum eine Rolle in der öffentlichen Diskussion in den USA. Der rasche und durchschlagende Sieg in Afghanistan mit dem Sturz des Taliban-Regimes und die zunehmende Nervosität jener Staaten, die den USA feindselig gegenüber standen, bestärkten Washington in der Richtigkeit des eigenen Vorgehens. Der unverhohlene Druck auf den lang­jährigen Verbündeten Pakistan – der in Afghanistan durchaus eigene Interessen verfolgte – Überflugrechte zu gewähren und die USA entsprechend zu unterstützen, erwies sich als sehr wirksam. Die Hilfsangebote der Europäer hatten die USA hingegen höflich aber bestimmt zurückgewiesen und sich so von ‚lästigem Ballast‘ befreit – außer jenem der Briten, die sowohl bei speziellen Kommandoeinheiten als auch in der Nachrichtenaufklärung über besondere Ressourcen verfügten.24 Dieses Vorgehen machte klar, dass die USA das Bündnis mit den Europäern primär als ein Instrument ihrer Sicherheitspolitik verstanden, welches amerikanische Interessen nicht beschneiden durfte.25 Kaum etwas verdeutlichte die neue europäische ‚Hackordnung‘ deut­ licher als ein Dinner im November 2001, welches der britische Premier Blair für seine deutschen und französischen Regierungskollegen, Schröder und Chirac, geben wollte, um diese von den weiteren Plänen der USA zu unterrichten. Kaum hatten sich die Pläne vom Abendessen zu dritt in Europa herumgesprochen, luden sich die Regierungschefs von Italien, Spanien, 24 Anand Menon/Jonathan Lipkin, European Attitudes towards Transatlantic Relations 2000– 2003. An Analytical Survey, in: Survey Prepared for the Informal Meeting of EU Foreign Ministers. Research and European Issues, 26 (Mai 2003), http://www.notre-europe.eu/ fileadmin/IMG/pdf/Etud26-en.pdf, (12.11.2010). 25 Helga Haftendorn, Die NATO als Transmissionsriemen transatlantischer Politik, in: Kreis (Hg.), Antiamerikanismus, 67-81, 68.

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den Niederlanden und Belgien selber ein, begierig darauf zu erfahren, was die Supermacht als Nächstes plante. Das daraus resultierende unwürdige Spektakel, über welches in den US-Medien genüsslich berichtet wurde26, bestärkte viele in Washington, Europa in Sicherheitsfragen nicht mehr ernst zu nehmen. Der Go-It-Alone-Approach hatte sich bewährt. Von Afghanistan aus konnte man die gefährliche Region von der Grenze Chinas bis zum russischen Einflussbereich in Zentralasien sowie Indien und Pakistan und das den USA feindlich gesinnte Teheran glänzend kontrollieren. Allmählich begannen sich die Neokonservativen im sicherheitspolitischen Establishment und in der amerikanischen Regierung durchzusetzen. Das außenpolitische Establishment um Außenminister Powell – die Vertreter des sogenannten Realismus, also die Pragmatiker der Macht – hatten kaum brauchbare Konzepte anzubieten, da die Al Kaida und ähnliche terroristische Gruppen keine rationalen staatlichen Akteure darstellten, die mit herkömmlichen Politikinstrumenten neutralisiert werden konnten. Da­gegen boten die neokonservativen Intellektuellen eine Interpretation der neuen Situation, die genau der Faktenlage zu entsprechen schien und gleich­ zeitig eine wirkungsvolle Gegenstrategie versprach. Ähnlich wie früher die idealistisch-liberalen Theoretiker der US-Außenpolitik, wie etwa Präsident Woodrow Wilson, argumentierten auch die Neocons, dass Amerika nur sicher sei, wenn die Welt insgesamt sicherer werden würde, was nach 9/11 bedeute, Staaten mit Massenvernichtungswaffen und deren Regime auch präventiv auszuschalten. Jürgen Habermas bemerkte dazu aus europäischer Sicht: „Was die Neokonservativen von der Schule der ‚Realisten‘ unterscheidet, ist die Vision einer amerikanischen Weltordnungspolitik, die aus den reformistischen Gleisen der UN-Menschrechtspolitik herausspringt. Sie verrät nicht die liberalen Ziele, aber sie sprengt die zivilisierenden Fesseln, die die Verfassung der Vereinten Nationen aus guten Gründen dem Prozess der Zielverwirklichung anlegt.“27

26 CNN, 4.11.2001, http://articles.cnn.com/2001-11-04/world/ret.europe.leaders_1_europeanleaders-muslim-support-osama-bin?_s=PM:WORLD, (13.11.2010). 27 Habermas, Der gespaltene Westen, 33.

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Die Eskalation Nach dem erfolgreichen Afghanistanfeldzug hielt US-Präsident George W. Bush wie jedes Jahr im Jänner 2002 seine Rede zur Lage der Nation.28 Wenige Tage vor der Ansprache hatte sein Redenschreiber noch die Formulierung „Achse des Bösen“ eingebaut, welche auch den Irak mit einschloss und explizit den Regimewechsel im Irak forderte. Diese und andere Reden des Präsidenten waren gespickt mit Drohungen gegenüber jenen Staaten, die nach US-Auffassung dem internationalen Terror Vorschub leisteten. Wörtlich sagte Bush mehrmals, dass jede Nation eine Entscheidung zu treffen habe, entweder mit den Amerikanern zu sein oder mit den Terroristen („with us or with the terrorists“).29 Auf die empörten Reaktionen aus Europa, besonders vonseiten der Medien aber auch aus Regierungskreisen, reagierten die USA mit kaum verhaltener Verstimmung. Im Februar 2002 besuchte der stellvertretende Außenminister Paul ­Wolfowitz die jährliche Münchner Sicherheitskonferenz, die gewissermaßen ein Pflichttermin aller wichtigen Militärexperten und Verteidigungs­ politiker ist. Während sein Vorgesetzter Donald Rumsfeld die Veranstaltung schwänzte und damit signalisierte, Wichtigeres zu tun zu haben, las ­Wolfowitz den versammelten NATO-Politikern und Militärs und hier vor allem den Europäern die Leviten:30 In allen Bereichen militärischer Kapazität seien die Kontinentaleuropäer hoffnungslos im Rückstand, die technologische Revolution sei verschlafen worden und die NATO habe somit die Grenze ihrer Nützlichkeit erreicht. In Zukunft würden die USA einen Tool-Box-Approach favorisieren, das heißt, dass Washington aus einem bestehenden Angebot an möglichen Partnern, egal ob NATO oder nicht, jene heraussuchen würde, die effizient und Erfolg versprechend seien. Nie wieder sollten europäische Alliierte wie im Kosovokrieg ein Vetorecht oder Mitsprache bei Bombenzielen oder Einsatzbefehlen haben. Permanente regionale Allianzen seien überholt und angesichts des weltweiten Bedrohungsszenarios seien es „Koalitionen der Willigen“, mit denen Washington künftig diesen Herausforderungen zu begegnen gedenke.31 Die europäischen 28 29 30 31

www.washingtonpost.com/wp-srv/onpolitics/transcripts/sou012902.htm, (11.02.2011). http://www.youtube.com/watch?v=ZMj9g6WRLfQ&feature=related, (11.02.2011). Pond, Friendly Fire, 31f. Hatten die Europäer in den 1990er-Jahren noch versucht, ihren gemeinsamen Ver­tei­ digungsetat von $ 150 auf $ 180 Milliarden anzuheben, zu einer Zeit als die USA bereits über

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Regierungen, die eigentlich mit einem Lob für ihre Solidarität mit den USA und ihre jeweiligen Beiträge für den Afghanistankrieg gerechnet hatten, reagierten ob dieser Vorhaltungen vonseiten der USA mit Indignation. Wenige Wochen später fasste der viel beachtete Aufsatz Power and Weakness des neokonservativen Vordenkers Robert Kagan die Weltsicht der neuen Administration zusammen.32 Im September des gleichen Jahres folgte schließlich die Präsentation der neuen National Security Strategy der USA, die als Bush-Doktrin in die Geschichte eingehen und die neue außenpolitische Maxime Washingtons quasi offiziell verankern sollte. Die USA behielten sich nun das Recht vor, präventiv33 in anderen Staaten zu intervenieren, von denen Bedrohungen mit Massenvernichtungswaffen aus­gingen. Zur gleichen Zeit tauchte in Aussagen von US-Regierungsvertretern auch der Irak als immer größere Bedrohung und vordringliches Ziel eines militärischen Schlages auf. Vor allem Vizepräsident Cheney hielt sich dies­bezüglich kaum zurück: Auf sein Geheiß hin etablierten Rumsfeld und sein Under Secretary for Defense Policy Douglas Feith das sogenannte geheime B-Team, welches Druck auf die Geheimdienste ausüben sollte, Analysen zu liefern, die mehr der Interpretation der Hardliner entsprachen. In den Augen der USA bedeutete Multilateralismus fortan nichts anderes als eine Koalition handverlesener Staaten, die die von Washington vorgegebenen Ziele umsetzen würden. Was in erster Linie zählte, waren die Ergebnisse und die Effektivität der Umsetzung.34 Aus europäischer Sicht hingegen bestand multilaterales Agieren in einer gemeinsamen Strategie und Abstimmung der Vorgangweise, die zwar unter amerikanischer Führerschaft, aber auf Basis lang etablierter internationaler Regeln, ablaufen sollte. Die Europäer reagierten auf diese Entwicklungen mit zunehmender ­Kritik am außenpolitischen Kurs der USA. Kurz nach der WolfowitzRede in München veröffentlichte der prominente britische Konservative und EU-Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten Chris Patten einen

32 33 34

$ 280 Milliarden ausgaben, so lagen Washingtons Rüstungsausgaben mittlerweile bei $ 400 Milliarden und somit uneinholbar vorne; vgl. Kagan, Of Paradise and Power, 69. Robert Kagan, Power and Weakness, in: Policy Review 113 ( Juni/Juli 2002), 3-28. Die Doktrin spricht eigentlich von „pre-emptive” im Gegensatz zu „preventive”, was eine Ausweitung bezeichnet unter der ein Staat vorzeitig und ohne unmittelbare Bedrohung intervenieren kann. Vgl. auch die Rede von Vizepräsident Dick Cheney vor dem Council on Foreign Relations, in: New York Times, 15.2.2002, A4.

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offenen Brief in der Financial Times, in dem er die amerikanische Politik als ineffektiv und selbstuntergrabend bezeichnete und darauf hinwies, dass wahre Freundschaft auch bedeute, einander die Wahrheit zu sagen.35 In diesen Chor stimmten auch viele Leitartikel führender westeuropäischer Zeitungen ein, wobei der Unilateralismus der Bush-Regierung zunehmend ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik geriet. Kein geringerer als Richard Perle selbst antwortete auf den offenen Brief Pattens in der britischen Sun, indem er dem „nichtgewählten“ Kommissar jegliche Autorität absprach für irgend­ jemanden zu sprechen, sich Pattens „geheuchelte Freundschaft“ ebenso verbat wie Ratschläge von jenen, die jedes Mal wenn sie „in Schwierigkeiten geraten, die USA um Hilfe anrufen“.36 Außerdem fügte er noch spöttisch hinzu, dass immer wenn der britische Außenminister Jack Straw nach ­Teheran reise, dieser „die Hinterteile der Mullahs küsse“, was wohl auch „Mr. Patten selbst gerne tun würde“. Das transatlantische Zerwürfnis eskalierte weiter, nachdem der deutsche Kanzler in vollkommener Verkennung der amerikanischen Feinfühligkeit in diesen Dingen in Wahlkampfreden darauf hinwies, dass er für „Abenteuer“ im Irak nicht zu haben sei und Deutschland nicht wie zuvor in Afghanistan für entstandene Kosten aufkommen würde. Diese offene Insubordination eines Klientelstaates sollte Bush seinem deutschen Amtskollegen nie verzeihen. Von nun an herrschte diplomatische Eiszeit zwischen Washington und Berlin, weshalb der deutsche Außenminister Joschka Fischer bei seiner nächsten Reise nach Washington nur auf Protokollbasis empfangen wurde, man alle bilateralen Treffen weitgehend reduzierte und Bush im Herbst 2002 auch darauf verzichtete, Schröder zu seiner Wiederwahl zu gratulieren. Was die USA den Deutschen besonders übel nahmen, war Schröders präventive Zurückweisung einer deutschen Unterstützung der USA, welche diese gar nicht eingefordert und in dieser Form von Berlin auch nicht erwartet hätten. Washington betonte, man habe ausdrücklich versucht, auf die deutsche innenpolitische Situation (u.a. Bundestagswahlkampf ) Rücksicht zu nehmen und Berlin aus allen Planspielen herausgehalten. Nun dankte es ihnen Schröder mit einer aus amerikanischer Sicht billigen Stimmungsmache gegen die USA in einer Stunde, in der sich die ehemalige 35 36

Chris Patten, Jaw-Jaw, not War-War, in: Financial Times, 14.2.2002, http://specials.ft.com/ attackonterrorism/FT33CZ00PXC.html, (11.02.2011). Richard Perle, What Does the EU Know about the Fight on Terror, Mr. Patten?, in: The Sun, 16.2.2002, http://www.aei.org/article/13631, (16.11. 2010); vgl. Pond, Friendly Fire, 31 f.

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Schutzmacht Deutschlands einmal selbst bedroht fühlte. Als dann ­Schröder auch noch mehr als 24 Stunden zögerte, jene Ministerin zu entlassen, die Bush öffentlich mit Hitler verglich37, tat Washington alles, um Deutschland durch diplomatische internationale Isolation zu bestrafen. Schröders Vor­ gehen wurde von Bush als Vertrauensbruch und persönliche Charakterschwäche des Kanzlers ausgelegt. In den USA wurde jedoch unterschätzt, dass das eigene Verhalten nun die deutsche Regierung in die Arme Frankreichs trieb, das sich somit als ­Global Player ins Spiel bringen konnte. Ausgestattet mit einem Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat (das Deutschland fehlte), konnte Paris an Washington Forderungen stellen, wohl wissend, dass London alles versuchen würde, um das Placet des Sicherheitsrates zu bekommen und dass den Amerikanern die Allianz mit den Briten politisch unverzichtbar erschien. Frankreich war somit auch die einzige westliche Macht, an die sich die isolierten Deutschen wenden konnten und hatte somit einen unverhofften und seit dem Amtsantritt Schröders ungekannten Einfluss auf Berlin.38 Das deutsch-französische Bündnis gegen den drohenden Irakkrieg war allerdings fragil, denn der deutsche Kanzler musste zittern, dass die Franzosen nicht im letzten Moment umfallen würden und Deutschland somit vollkommen isoliert dastünde. Pläne, den irakischen Diktator zu stürzen, reichten bereits in die ­Clinton-Administration zurück, nachdem bekannt geworden war, dass ­Saddam Hussein ein Mordkomplott gegen Präsident George Bush Senior in Auftrag gegeben hatte. Die neue Bush-Administration hatte auch vor den Terroranschlägen vom 11. September kein Hehl daraus gemacht, auf einen Regimewechsel in Bagdad hinzuarbeiten. Schon bald nach den Anschlägen brachten führende Neokonservative Saddam Hussein mit der neuen Bedrohungssituation in Zusammenhang und auch Vizepräsident Cheney stieß ins gleiche Horn. Der für die Region zuständige amerikanische Armeekommandant General Tommy Franks berichtet in seinen Memoiren, dem Präsidenten bereits am 28. Dezember 2001 entsprechende Invasionspläne unterbreitet zu haben.39 Wann genau sich die Planspiele und Absichten zu konkreten Entscheidungen verdichteten, lässt sich schwer sagen.40 Fest 37 38

Vgl. dazu auch den Beitrag von Margit Reiter zu Deutschland in diesem Band. John Judis, One Cheer for Schroeder – How Isolated is the New Germany?, in: The American Prospect, 4.11.2002. 39 Tommy Franks/Malcolm McConnell, American Soldier, New York 2004, 346–356. 40 Vgl. besonders Bob Woodward, Plan of Attack, New York 2004, 54–66, hier vor allem 63 ff.

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steht jedoch, dass bereits im Sommer 2002 die wichtigsten Entscheidungen für den Krieg im Irak gefallen waren und im Herbst die Vorbereitungen dazu voll anliefen: Truppen wurden einberufen sowie gewaltige Ressourcen mobilisiert und in den Nahen Osten verfrachtet. Einzig die zurückhaltende ­Haltung der Türkei, wo die Amerikaner eine zweite Front zu errichten hofften, irritierte die US-Administration. Die Regierung in Ankara fürchtete heftige Proteste der eigenen Bevölkerung und ‚zierte‘ sich daher, die USA bei ihrem Militärschlag (indirekt) zu unterstützen.41 Die USA rechneten jedoch damit, dass ihr treuer NATO-Verbündeter letztlich einer Präsenz amerikanischer Truppen auf türkischem Boden zustimmen würde.

Das Ringen um eine gemeinsame UNO-Resolution Mit jeder Tonne Material, die im Verlauf des Herbstes und Winters in den Nahen Osten verlegt wurde, schien ein Abblasen einer Militärintervention unwahrscheinlicher. Es war klar, dass der Krieg vor der heißesten Jahreszeit vorbei sein musste und dass die gewaltige Truppenkonzentration nicht ein weiteres Jahr in der Wüste verbringen konnte. Dennoch überzeugten der britische Premier Tony Blair und der US-Außenminister Colin Powell noch im Sommer 2002 den US-Präsidenten von der Notwendigkeit, entsprechende UNO-Resolutionen zu sichern, bzw. dem Irak die Chance zur Selbstentwaffnung zu bieten. Diese von den Neokonservativen nicht vorhergesehene Entwicklung brachte Powell die unversöhnliche Gegnerschaft des Vize­präsidenten und des Verteidigungsministeriums ein. Dennoch machten die USA vor allem auf Druck der Briten ernsthafte Anstrengungen im Herbst 2002 eine entsprechende UNO-Resolution zu erwirken, die den Irak ultimativ aufforderte, allenfalls bestehende Einrichtungen zur Entwicklung von Massenvernichtungsprogrammen offenzu­ legen. Im September 2002 wandte sich sogar Präsident Bush persönlich an die Vereinten Nationen und appellierte unmissverständlich, den Irak zur sofortigen Abrüstung zu zwingen. Am 8. November 2002 bekamen Amerikaner und Briten ihre Resolution (S/RES/1441), selbst mit französisch-deutscher Unterstützung. Die USA 41

Paul Glastris, Turkey Shoot, in: Slate Magazine, 17.3.2003, http://www.slate.com/id/2080262/, (11.02.2011).

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billigten dem Irak eine letzte Chance zu und stimmten einer finalen ­Mission der UNO-Waffeninspektoren unter der Leitung von Hans Blix, dem Chef der UN-Rüstungskontrollkommission, zu. Jeder weitere Versuch von ­Saddam Hussein, seinem Abrüstungsauftrag nicht nachzukommen, würde unweigerlich einen amerikanischen Präventivangriff auslösen, hieß es dazu unmissverständlich in der Resolution.42 Für die USA sollten die Waffeninspektionen keine Mission ohne Ende darstellen, währenddessen die Truppenkontingente auf unbestimmte Zeit in einer unmöglichen Lage im Nahen Osten festsaßen. Blix und Co. waren entsandt worden, um die bedingungslose Abrüstung der vermuteten ­Massenvernichtungswaffen unmittelbar und vollständig zu verifizieren. Es ging also nicht mehr darum, im Irak herumzureisen und in versprengten Lagerhäusern nach Indizien zu suchen, sondern man legte dem Irak eine Liste mit Forderungen vor und verlangte konkrete Aufzeichnungen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass diese Anlagen vernichtet worden seien, würde es wohl zweifelsfreie Belege dafür geben, wie auch für den Verbleib von Tonnen an gefährlichem Material, für dessen Existenz sich Hinweise in ­früheren Berichten der Waffeninspektoren fanden. Dass Hussein vielleicht nur so tat, als habe er diese Waffen, um sowohl seine Nachbarn als auch die eigene Opposition einzuschüchtern, schien für Washington in der angespannten Stimmung jener Tage denkunmöglich. In einer denkwürdigen Rede am 5. Februar 2003 vor dem Sicherheitsrat präsentierte Powell scheinbar hieb- und stichfeste geheimdienstliche Beweise­dafür, dass der Irak tatsächlich an Massenvernichtungsmitteln arbeitete. Der US-Außenminister hatte sich bei CIA-Direktor George Tenet rückversichert, dass die vorgelegten Beweise entsprechend wasserdicht seien und bürgte mit seinem guten Namen für deren Qualität. Jahre später, nachdem sich die Informationen als falsch erwiesen hatten, räumte Powell ein, getäuscht worden zu sein.43 Für Washington stand fest, dass keine weitere UNO-Resolution mehr notwendig sei, denn durch die irakische Weigerung den Forderungen der Waffeninspektoren nachzukommen, war der Casus Belli automatisch gege42

„... false statements or omissions in the declarations submitted by Iraq pursuant to this resolution and failure by Iraq at any time to comply with, and cooperate fully in the implementation of this resolution shall constitute a further material breach of Iraq’s obligations.” (S/RES/1441). 43 vgl. Colin Powells’ Interview mit dem US-Sender ABC, 8.9.2005, http://abcnews.go.com/ 2020/Politics/story?id=1105979&page=1, (22.12. 2010).

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ben. Die halbherzigen Kooperationssignale aus Bagdad reichten einfach nicht aus und griffen zu kurz.44 Die US-Regierung hatte nie einen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber den Waffeninspektionen gemacht und nachdem auch diese den irakischen Diktator nicht zweifelsfrei entlasten konnten und mehr Zeit gebraucht hätten, war man in Washington mit der Geduld am Ende. Ehrlicherweise sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass es den ‚Falken‘ in der US-Administration, vor allem den Neokonservativen, nicht nur um die Massenvernichtungswaffen, sondern um ein größeres Szenario ging.45 Die Containment-Policy gegenüber Saddam Hussein, deren Kosten von den USA und Großbritannien getragen wurden, war eine (zu) teure, aber langfristig wirkungslose Strategie, Hussein zu Fall zu bringen. Der Sturz des Regimes in Bagdad würde endlich auch wieder irakisches Rohöl dem Weltmarkt zuführen und seine Wirkung auf andere Widersacher ­Washingtons nicht verfehlen. Ab diesem Zeitpunkt versagten Frankreich und Deutschland, die immer stark auf die UNO gesetzt hatten, den USA jedoch endgültig die Gefolgschaft. Im Lichte der neuerlichen Blockade im Sicherheitsrat gab sich ­Washington gegenüber Paris und Berlin besonders erzürnt, da der französische Außenminister Hubert Védrine seinem amerikanischen Amtskollegen Colin Powell im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens in New York zuvor signalisiert hatte, auf keiner weiteren Sicherheitsratsresolution zu bestehen. Der scheinbar plötzliche Schwenk von Paris mit deutscher Unterstützung schien auf Taktieren hinauszulaufen und konnte aus amerikanischer Sicht nur als unfreundlicher Akt und Wortbruch ausgelegt werden.

Nach dem Irakkrieg: Europa und die USA kehren zum Pragmatismus zurück In der Nacht vom 20. auf den 21. März 2003 begann schließlich der angekündigte Krieg im Irak. Der Vormarsch der amerikanischen und britischen Truppen ging schneller und reibungsloser vonstatten, als allgemein erwar44 CNN 5.2.2003, http://articles.cnn.com/2003-02-05/us/sprj.irq.powell.transcript_1_genuineacceptance-iraq-one-last-chance-disarmament-obligations?_s=PM:US, (12.11. 2010); The Guardian, 5.2.2003, http://www.guardian.co.uk/world/2003/feb/05/iraq.usa, (12.11.2010). 45 Vgl. ABC-Interview mit Paul Wolfowitz, 29.5.2003, http://www.abc.net.au/worldtoday/ content/2003/s867453.htm, (17.11.2010).

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tet. In den ersten Apriltagen nahm die amerikanische Armee die irakische Hauptstadt Bagdad ein und der Fall Bagdads war am 9. April mit dem Sturz einer überlebensgroßen Saddam-Statue im Zentrum der Stadt symbolträchtig besiegelt. Obwohl Saddam Hussein selbst noch nicht gestürzt war, erklärte Präsident Bush am 1. Mai 2003 an Bord des Flugzeugträgers der USS American Lincoln den Irakkrieg für beendet („mission accomplished“). Nach dem (vermeintlich) rasch gewonnenen Krieg im Irak wähnten sich die USA am Gipfel der Macht. Mit einer militärischen Präsenz vom Nahen Osten bis nach Afghanistan, Pakistan und dem ehemalig sowjetischen Zentralasien hatte die Supermacht die Konfliktregion in einem eisernen Klammergriff und war zudem nahe an den strategisch wichtigen Förderstätten des Rohstoffes Öl. Es gab lediglich einen einzigen ‚Schönheitsfehler‘, der die anfängliche Euphorie trübte: Die vermuteten Massenvernichtungswaffen und Giftlager blieben unauffindbar46, womit der von den USA ins Treffen geführte Anlassfall für die Intervention nicht gegeben war. Doch kaum ruhten die Waffen, begann für die Amerikaner im Irak alles schief zu laufen. Verhängnisvolle Fehlentscheidungen gepaart mit Überheblichkeit, Unwissenheit und Unverständnis dem kulturellen und lokalen politischen Kontext gegenüber sowie die eigene Planlosigkeit sollten den Irak letztlich an den Rand des Bürgerkrieges führen und die USA beinahe zu einem unrühmlichen Abzug zwingen.47 Das Pentagon hatte aus schwer nachvollziehbaren, offensichtlich ideologisch motivierten Gründen so gut wie kein umfassendes und praktikables Konzept für die Zeit nach dem Krieg entwickelt.48 Beinahe noch problematischer als die zunehmend prekäre Sicherheitslage im Irak und die Notwendigkeit, sich ausgerechnet auf die Schiiten als Verbündete zu stützen, war der unzureichende Zustand der USBesatzungsarmee. Für die Finanzierung der teuren Waffensysteme und um die gewaltigen Kosten von beinahe 100 Milliarden Dollar im Jahr für den Einsatz im Irak unter Kontrolle zu halten, wurde bei der Truppe eingespart. 46 Die sogenannte Iraq Survey Group stellte schließlich fest, dass der Irak sein Nuklear- und Giftgasprogramm und seine biologischen Waffenprogramme bereits 1991 eingestellt hatte, jedoch beabsichtigte, die Produktion dieser Stoffe wieder aufzunehmen, wenn die Sanktionen aufgehoben werden würden. 47 Vgl. Iraq Coalition Casuality Count, http://icasualties.org/ und http://icasualties.org/iraq/ index.aspx, (31.10.2010). 48 Vgl. Rajiv Chandrasekaran, Imperial Life in the Emerald City. Inside Iraq’s Green Zone, New York 2006.

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Es fehlte an gepanzerten Fahrzeugen für Patrouillen, Splitterschutzwesten und vor allem an Soldaten. Oft genug behalfen sich die Soldaten nun selber mit Improvisationen, um sich vor den zunehmenden guerilla­artigen Angriffen und versteckten Sprengsätzen zu schützen. Die Armee war zudem in den 1990er-Jahren sukzessive verkleinert worden, wodurch nun die etwa 700.000-Mann fassende Kampftruppe mit zwei Kriegsschauplätzen vor unlösbaren Aufgaben stand. Die USA waren schließlich gezwungen, auf alle Reserven der Nationalgarde zurückzugreifen und auch bei der Rekrutierung der Freiwilligenarmee die Standards zu senken. Das Herausreißen so vieler Reservisten aus ihrem normalen Leben und ihren Familien sowie in Folge die vielen Verwundeten und Gefallenen wurden in den kommenden Jahren zu einem großen gesellschaftlichen und politischen Problem in den USA. Die allseits fehlende Manpower konnte nur durch die Verwendung von P ­ rivatarmeen und Sicherheitsdiensten wie Blackwater und Subkontrakteuren wie Halliburton, die viele normalerweise von der Armee selbst vollbrachten Dienstleistungen erledigten, kompensiert werden, was jedoch mittel­fristig neue, große Probleme schuf. Diese Privatarmeen operierten in einer Art rechtsfreiem Raum und handelten auch entsprechend.49 Trotz zunehmender Medienberichte über die Probleme im Irak nahm die patriotisch gestimmte US-Bevölkerung diese nicht als solche wahr. Auch die Opposition, die ja mit wenigen Ausnahmen – darunter Senator Barack Obama – für den Krieg gestimmt hatte, wollte nicht unpatriotisch wirken und so dastehen als würde sie die Lage politisch ausnützen. Überhaupt wäre in dieser Situation jegliche Kritik von der Mehrheit der Bevölkerung als Kritik an der kämpfenden Truppe ausgelegt worden. Erst während der zweiten Amtszeit des Präsidenten, machte sich eine allgemeine Desillusionierung mit dem Krieg und dessen angestrebten Zielen breit. Mit den zunehmenden Kosten des Krieges und der Unabsehbarkeit der Besatzungsdauer waren die USA genötigt, eine Aussöhnung mit den Europäern und ein besseres Verhältnis zu den Vereinten Nationen zu suchen. Diese verfügten immerhin über wichtige Erfahrung und Ressourcen im Nationbuilding. Zudem erwiesen sich Amerikas (vor kurzem noch hofierte) neue Partner in Osteuropa und Zentralasien zum Teil als politisch unzu49 Eines der schlimmsten Vorkommnisse betraf eine Gruppe der Sicherheitsfirma Blackwater, die – sich bedroht fühlend – im September 2007 auf dem stark besuchten Nisour-Platz in Bagdad das Feuer eröffnete und 17 Iraker tötete.

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verlässig oder so schwach, dass für den Aufbau einer zivilen Infrastruktur im Nachkriegsirak kaum nennenswerte Ressourcen zur Verfügung standen. Als Präsident Bush 2004 die Wahlen, die gegen den Kandidaten der Demokraten, John Kerry, denkbar knapp ausfiel, zu seinen Gunsten entschied, verstärkte die US-Administration ihre Bemühungen, sich mit den Europäern auszusöhnen. Der Präsident besuchte in seiner zweiten Amtszeit mehrmals Europa, darunter sogar Brüssel und Wien, und setzte demonstrative Gesten der Versöhnung auch gegenüber Frankreich und Deutschland. Die Wiederannäherung an Deutschland wurde zweifellos durch den Umstand erleichtert, dass 2005 der Sozialdemokrat Schröder von der amerika­freundlichen Christdemokratin Angela Merkel als deutsche Bundeskanzlerin abgelöst worden ist. Auch die eigene Regierungsumbildung nach den US-Wahlen 2004, in deren Verlauf Verteidigungsminister Rumsfeld sowie andere Hardliner die Administration verließen, war ein nicht offen ausgesprochenes Signal, dass Washington wieder stärker an einer pragmatischen Politik und wechselseitig konstruktiven Beziehungen interessiert war. Ebenso war das verstärkte Engagement im Nahen Osten, als Vermittler zwischen Palästinensern und Israelis, ein Hinweis, dass man die Zeichen der Zeit verstanden hatte. Angesichts Bushs schwindender Popularität bei der eigenen Bevölkerung, der eskalierenden Krisensituation im Irak und zunehmend auch in Afghanistan sowie einer Reihe innenpolitischer Probleme, blieb der Handlungsspielraum des Präsidenten denkbar gering. Aus diesen Gründen war in den transatlantischen Beziehungen zu jener Zeit kaum mehr möglich, als der Versuch, mit der Situation pragmatisch umzugehen und Normalität zu signalisieren. Ein tief greifender Wandel der Beziehungen zwischen den USA und Europa sollte bis zu einem neuen Amtsinhaber im Weißen Haus und einer damit einhergehenden Abkehr von dogmatisch wirkenden politischen Positionen auf sich warten lassen.

„Be careful what you wish“: Die transatlantischen Beziehungen ‚nach Bush‘ Im November 2008 wurde Barack Obama zum neuen amerikanischen Präsidenten gewählt. Schon der fulminante Wahlkampf des demokratischen Kandidaten Obama, seine Nominierung und schließlich sein Sieg bei den Wahlen wurde (nicht nur) in Europa mit großem Interesse und mit Begeis-

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terung verfolgt. In Barack Obama hatten die Europäer einen US-Präsidenten, der in vielerlei Hinsicht ihren Wunschvorstellungen entsprach. Der neue Mann im Weißen Haus repräsentierte nicht nur jene Sehnsüchte, die viele Menschen der ‚alten Welt‘ gerne auf die USA projizieren – den Aufstieg des einfachen Mannes, den Schmelztiegel der Kulturen und ­Ethnien – sondern er vertrat auch eine politische Agenda, die durchaus jener europäischer Zentrumsparteien entsprach.50 Obama erschien den Europäern somit als einer der ihren. Der Höhepunkt europäischer Obama-Euphorie war zweifellos die Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo im Dezember 2009, welche von vielen Amerikanern als späte Abrechnung des liberalen Europas mit den US-Konservativen unter George W. Bush verstanden ­wurde. Mit dem innenpolitischen Absturz des Präsidenten relativ bald nach der Wahl, der sich in sinkenden Popularitätswerten, ersten regionalen Wahlniederlagen und einer erstarkenden rechten Opposition ausdrückte, verschwand die Illusion, dass das Amerika von Bush endgültig der Vergangenheit angehöre. Im Gegenteil, je mehr die rechtskonservative Basisbewegung der sogenannten Tea-Party an Stärke gewann und die Republikaner in einer Wahl nach der anderen historische Triumphe feierte, desto bewusster wurde man sich – sowohl in Europa als auch in den USA – der tiefen politischen Unterschiede im Denken, in den Werten und in den Prioritäten. Unabhängig von den innenpolitischen Entwicklungen in den USA mussten die Europäer auch erkennen, dass paradoxerweise George W. Bush doch der für sie politisch ‚angenehmere‘ Präsident gewesen sein mag. Immerhin war es leicht gewesen, die Aufforderungen nach einer opfervollen Beteiligung an US-amerikanischem Engagement von einem Mann zu ignorieren, der politisch abgelehnt wurde und in ganz Europa ein sehr negatives Image hatte.51 Sich gegen den scheinbar arroganten und ignoranten ­Texaner zu positionieren war für europäische Regierungen innenpolitisch wie außenpolitisch letztlich relativ risikolos. Mehr an internationalem Einfluss konnte man ohnehin nicht verlieren und die eigenen (amerika­kritischen) Wähler/ innen dankten es einem. Bei Präsident Obama tat man sich deutlich schwerer, denn er sprach genau die Dinge an, die die Europäer von Bush immer 50 51

Reuters, 23.7.2008, http://www.reuters.com/article/idUSL2304285220080723, (12.11.2010). Zur Wahrnehmung von Bush vgl. auch den Beitrag von Margit Reiter zu Deutschland in diesem Band.

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gerne gehört hätten. Dennoch entschied man sich in Europa für die politisch bequemere Option und überließ den Präsidenten sich selbst. Keiner der europäischen Verbündeten war bereit, jenseits bestehender Zusagen zu Obamas neuer Afghanistan-Strategie (AfPak-Strategie52) nennenswerte Beiträge zu leisten. Im Gegenteil, Amerikas Verbündete trachteten eher danach, ihre Truppen rascher als geplant zurückzuziehen. Obamas Eskalationsstrategie wurde nicht mitgetragen und auch in Sachen Export- und Finanzpolitik zeigten die Kontinentaleuropäer, allen voran die Deutschen, Washington zunehmend die kalte Schulter, was besonders beim G-20Gipfel­im November 2010 in Südkorea offensichtlich wurde. Besonders in ­Berlin zeigte man sich von den amerikanischen Belehrungen und Ermahnungen in Bezug auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik irritiert, deren Ursache man ja in den USA ausmachte.53 Keinesfalls hatte Washington in den Augen der deutschen Regierung das moralische Recht oder die politische und wirtschaftliche Stärke, Lektionen zu erteilen oder Beiträge einzufordern. Auf amerikanischer Seite lösten die eher kühlen politischen Reaktionen der europäischen Verbündeten auf Obamas Charmeoffensive ebenfalls Frustrationen und Irritationen aus. Man hatte erwartet, die Europäer würden für das Angebot einer echten Partnerschaft endlich mehr zur Lösung der internationalen Probleme beitragen und eine größere Verantwortung übernehmen. Doch beim europäischen Engagement in Afghanistan deuteten die Signale eher in eine andere Richtung und auch an anderen Konfliktherden zeigten die Verbündeten wenig Interesse. Bereits nach einem Jahr im Amt war der Obama-Administration bewusst geworden, dass man in Wirklichkeit ohne europäischen Partner dastand und so zog Obama die Konsequenzen, er sagte den nächsten geplanten Gipfel mit der EU ab und verzichtete auch im Lichte der heimischen Wirtschaftskrise vorerst auf weitere Europareisen. Nach der anfänglichen Obama-Euphorie war somit wieder eine wechselseitige Ernüchterung eingetreten und das kurzfristig verbesserte Verhältnis 52 AfPak bezeichnet die Verbindung von Afghanistan und Pakistan als ein gemeinsames Krisengebiet, für welches die Obama-Administration eine einheitliche Strategie vorsieht, um die Al Kaida und die Taliban auf beiden Seiten der Grenze zu bekämpfen. Die neue Strategie sieht auch eine massive Aufstockung der Militärpräsenz um mindestens 40 000 zusätzliche Soldaten vor. 53 Deutsche Welle, 12.11.2010, http://www.dw-world.de/dw/article/0,,6219683,00.html, (17.11.2010).

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zwischen den USA und Europa kühlte wieder merklich ab. Der Verlust geopolitischer Stärke und Führungskraft durch die USA, welcher durch zwei Kriege, die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie durch massive innenpolitische Querelen entstanden war, führte jedoch nicht zu einer gleichzeitigen Aufwertung Europas. Im Gegenteil, die relative Schwäche Washingtons wurde zunehmend zu einer Schwäche des Westens insgesamt, welcher zu Gunsten der aufstrebenden ‚neuen‘ Mächte wie China, Indien oder Brasilien an globalem Einfluss zu verlieren drohte. Paradoxerweise war ausgerechnet der Höhepunkt US-amerikanischer Stärke auch ein Triumph des Westens insgesamt und somit Europas gewesen. Es galt noch die Vorstellung, dass ausschließlich das westliche Modell der entscheidende Motor der Innovation sei, welcher bisher alle politischen und wirtschaftlichen Herausforderer zu übertreffen vermochte. Wer westlichen Reichtum und Lebensstandard wollte, musste sich dem westlichen Beispiel hin öffnen. Mittlerweile bieten China und selbst Russland Konkurrenzmodelle an, die gänzlich ohne die für die Mächtigen unangenehmen Komplikationen demokratischer Kontrollmechanismen auskommen. Im Gegenteil, immer stärker nehmen autoritäre Entwicklungspfade wichtige ökonomische und soziale Vorteile für sich in Anspruch.54 Politisch, militärisch und nach der Finanzkrise auch ökonomisch beschädigt, wirkte Obamas Versuch, international ein anderes Amerika-Bild zu präsentieren und für vorangegangene Arroganz und Verfehlungen auch Abbitte zu leisten, für viele wie ein Eingeständnis der eigenen Schwäche. Die Gesten des US-Präsidenten wurden zwar goutiert, lösten jedoch ­keine entscheidenden Verhaltensänderungen gegenüber der Supermacht aus. Weltpolitisch konnte auch Obamas anfängliches Zugehen auf Europa keinen Augenblick darüber hinwegtäuschen, dass sich mittlerweile das politische Schwergewicht nach Asien verlagert hatte und dass dort die Europäer weitgehend ohne Einfluss und sogar auf US-Hilfe angewiesen waren. In weiterer Folge machten die Europäer auch die Erfahrung, dass sie großteils allein mit der Finanz- und Wirtschaftskrise zurande kommen mussten. Erstmals spielten die Vereinigten Staaten nicht mehr die wichtige Rolle als ‚Konjunkturlokomotive‘, sondern es waren vor allem die Exporte nach 54

Etwa bei der Sicherung wertvoller Rohstoffquellen in autoritären Exportländern oder wenn im Namen des Fortschrittes ganze Bevölkerungen umgesiedelt und Industriezweige ohne nennenswerte Rücksichtnahme auf die sozialen oder ökologischen Folgen etabliert werden.

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China und Ostasien, welche die europäischen Exportwirtschaften anspringen ließen und den gemeinsamen Markt zweiteilten. In jenem Ausmaß wie Europa und die USA nun um die Gunst Chinas wetteifern und die neuen aufsteigenden Wirtschaftsmächte ihren Einfluss in internationalen Organisationen wie Währungsfond und Weltbank ausbauen, muss die trans­ atlantische Achse zwischen Europa und den USA zwangsweise an Relevanz verlieren. Auf diese Weise gehen die transatlantischen Beziehungen in eine un­gewisse Zukunft. Die früheren Höhen und Tiefen scheinen überwunden, doch gerade der Umstand, dass das europäisch-amerikanische Verhältnis keine nennenswerten Reaktionen heraufbeschwört, zeigt von dessen abnehmender Bedeutung sowohl weltpolitisch wie auch bilateral. Dort wo die USA mangels Alternativen in militärischer Hinsicht europäische Verbündete bräuchten, um etwa wie in Afghanistan Konflikte zu Ende zu bringen oder einen lokalen Militärapparat aufzubauen, fehlt den Europäern offenbar der Wille oder die Expertise, um einen nennenswerten Beitrag zu leisten. Dort wo Europa über signifikante Ressourcen und auch den Willen zum Engagement verfügt, etwa in Wirtschafts- und Finanzfragen, sind die transatlantischen Partner längst nicht mehr die einzigen Schwergewichte und außerdem durch interne Probleme geschwächt und aufgrund von unterschiedlichen Lösungsansätzen zerstritten. Jürgen Habermas verweist in diesem Zusammenhang auf den „normativen Dissens“, der den Westen seit 9/11 spaltet.55 Dass die NATO im europäischen Kontext ihre Bedeutung verloren hat und sich die Europäer mit einer global agierenden Sicherheitsallianz nicht wirklich anfreunden werden, wurde beim Gipfel des westlichen Verteidigungsbündnisses in Portugal im November 2010 nur allzu offensichtlich. Nichts mag für eine Allianz schädlicher sein, als die Erkenntnis gegenseitiger Einflusslosigkeit und Irrelevanz.

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Habermas, Der gespaltene Westen, 35.

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Die terroristische Bedrohung, kulturelle Wandlungsprozesse und Islamophobie in Europa Einleitung Das Damoklesschwert des Terrors ist seit dem 11. September 2001 auch in Europa allgegenwärtig und bleibt durch Folgeattentate (z.B. Spanien 2004, London 2005), Ankündigungen von Anschlägen oder deren Vereitelung im kollektiven Bewusstsein präsent. In diesem Beitrag soll der Frage nach­ gegangen werden, ob zehn Jahre nach dem 11. September kulturelle Veränderungsprozesse in europäischen Gesellschaften konstatiert und auf die anhaltende terroristische Bedrohung zurückgeführt werden können. Im Zentrum meiner Ausführungen stehen die Einstellungen der autochthonen Mehrheitsbevölkerung zu den muslimischen Minderheiten in einzelnen europäischen Gesellschaften. Es soll analysiert werden, welches Islambild zehn Jahre nach dem 11. September in medialen, politischen und wissenschaftlichen Dis­kursen transportiert wird und inwiefern islamkritische ­Haltungen bei den europäischen Bürger/inne/n ausgelöst werden. Um den Bogen vom terroristischen Akt des 11. September zu den aktuellen interkulturellen Beziehungen zu spannen, bedarf es in einem ersten Schritt einer eingehenden Analyse der Auswirkungen jenes Terroranschlags vor zehn Jahren, der die gesamte westliche Welt in ihren Grundfesten erschüttert hat. Die dem Beitrag zugrunde liegende These ist, dass nicht der Anschlag des 11. September an sich, sondern die damit ausge­ lösten Effekte (im gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bereich) auch in Europa längerfristig einen kulturellen Wandel bewirkt haben. Durch die ständige Präsenz der Bedrohungsszenarien durch den Islam in der Öffentlichkeit haben die islamkritische massenmediale Berichterstattung sowie auch politische Ausgrenzungsstrategien gegenüber muslimischen Immigrant/inn/en zugenommen und auch im wissenschaftlichen Diskurs finden islamkritische Ansätze zunehmend Verbreitung. Bei den europäischen Bürger/inne/n bewirkt dies ein zunehmendes Denken in

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Ingroup- und Outgroupkategorien1, wodurch wahrgenommene oder auch nur zugeschriebene Unterschiede zwischen der europäischen Mehrheits­ bevölkerung und muslimischen Minderheiten betont werden.2 Mit der Publikation des Runnymede Trust3 wurden negative Einstellungen gegenüber Muslimen erstmals umfassend analysiert und der Begriff der Islamophobie als eine Art Furcht und Hass dem Islam gegenüber gefasst. Das massive Aufkommen islamfeindlicher Tendenzen wird im Allgemeinen nicht erst mit dem 11. September angesetzt, sondern bereits auf die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückgeführt:4 Nachdem dem Westen mit dem Kommunismus sein Feindbild verloren gegangen war, ver­schoben sich in Europa und in den USA die weltweiten Bedrohungsszenarien sukzessive auf den Islam. Nach dem 11. September setzte sich der bis heute umstrittene Begriff der Islamophobie (gemeinsam mit dem Begriff der Islamfeindlichkeit) auch im deutschen Sprachraum zunehmend durch.5 In einer breiten Begriffsdefinition sind damit nicht nur generelle Ängste, sondern negativ-stereotype Haltungen gegenüber dem Islam gemeint.6 Muslime werden undifferenziert und pauschal aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ­definiert und verurteilt.7 In diesem Beitrag werden nun die aktuellen Entwicklungen seit dem 11. September nicht nur auf theoretischer Ebene betrachtet, sondern auch 1 2 3 4

5

6 7

Henry Tajfel/John Turner, An Integrative Theory of Intergroup Conflict, in: Willam Austin/ Stephen Worchel (Hg.), The Social Psychology of Intergroup Relations, Monterey 1979, 33–47. Jürgen Leibold, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie. Fakten zum gegenwärtigen Verhältnis genereller und spezifischer Vorurteile, in: Thorsten Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009, 145–154. Runnymede Trust (Commission on British Muslims and Islamophobia) (Hg.), Islamophobia. A Challenge for Us All, London 1997. Wobei einige Autoren neben über Jahrhunderte währenden latenten Ängsten auch das massive Aufkommen der Islamfeindlichkeit weit früher ansetzen, so z.B. Scott Poynting/Victoria Mason, The Resistible Rise of Islamophobia: Anti-Muslim Racism in the UK and Australia before 11 September 2001, in: Journal of Sociology, 43 (1) (2007), 61–86. Vgl. beispielsweise die differenzierte Analyse des Begriffs bei Farid Hafez, Islamophober Populismus. Moschee- und Minarettbauverbote österreichischer Parlamentsparteien, Wiesbaden 2010, 240. Vgl. auch Christopher Allen, Was ist Islamophobie? - Ein evolutionärer Zeitstrahl, in: Urs Altermatt/Mariano Delgado/Guido Vergauwen (Hg.), Der Islam in Europa. Zwischen Weltpolitik und Alltag, Stuttgart 2006, 67–78. Vgl. Heiner Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, in: Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit, 184. Vgl. Alexandra Senfft/John Bunzl (Hg.), Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost, Hamburg 2008.

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empirisch untermauert. Auf Basis von nationalen und ländervergleichenden Umfrageergebnissen soll im weltweiten und europaweiten Vergleich sowohl die These des Anstiegs der Islamophobie seit dem 11. September geprüft werden als auch eine empirisch fundierte Annäherung an das aktuelle Ausmaß islamophober Tendenzen erfolgen.

Kulturelle Wandlungsprozesse seit dem 11. September 2001 Zur Definition und Charakteristik des (islamistischen) Terrors Nach einer breit gefassten Definition wird Terror als „jegliche absichtliche, angekündigte oder unangekündigte, mit instrumentellen und/oder symbolischen Mitteln erzeugte Verbreitung von Schrecken durch alle Arten von kollektiven und individuellen Akteuren“ verstanden.8 Das Phänomen terroristischer Anschläge wird somit nicht auf spezifische Zeiträume, Bedingungen oder betroffene Personen beschränkt, sondern integriert sowohl klar definierbare Strategien der Akteure (instrumentell) als auch diffuse, undurchsichtige Mittel der Einschüchterung (symbolisch). Terroristische Aktivitäten weisen auch spezifische Eigenheiten auf, die eine Abgrenzung zur allgemeinen und politisch motivierten Gewalt ermöglichen: - Es wird vorsätzlich versucht, eine Atmosphäre extremer Angst zu schüren. - Terroranschläge zielen nicht nur auf die unmittelbaren Opfer ab, sondern sind gegen eine breite Öffentlichkeit gerichtet. - Zumeist werden zufällige oder symbolträchtige Ziele ausgewählt, wobei unschuldige Zivilisten betroffen sind. - Häufig soll das politische Verhalten von Regierungen auf internationaler, staatlicher und kommunaler Ebene beeinflusst werden.9 Neben der überwiegend innerstaatlichen Bedrohung müssen vor allem islamistische Terrorgruppen als Herausforderung für die internationale Ordnung verstanden werden. Der Begriff internationaler Terrorismus findet 8 9

Peter Gross/Ronald Hitzler, Wir Terroristen, in: Ronald Hitzler/Joe Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror, Konstanz 2003, 105. Vgl. Paul Wilkinson, The Media and Terrorism: A Reassessment, in: Terrorism and Political Violence, 9 (2) 1997, 51–64.

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Verwendung, wenn Angehörige mehrerer Staaten entweder als Opfer oder als ausführende Organe in die Anschläge involviert sind. Inbegriff dieser Entwicklung ist die Netzwerkorganisation Al Kaida, deren Aktionen von Terroranschlägen über Guerilla-Taktiken bis hin zu Formen konventioneller Kriegsführung reichen.10 Für islamistische Terrorgruppen genügt die Feindschaft gegenüber westlichen und jüdischen Sympathisanten als einigendes Band, das die Zusammenschließung zahlreicher Terrorgruppen und islamistischer Akteure in aller Welt begünstigt. Einzelne Zellen können weltweit ohne permanente Koordination und Kontrolle agieren und sind somit immun gegen Gegenstrategien. Seit den 1990er-Jahren ist zudem ein Strategiewechsel zu beobachten. Terrorismus wird nicht mehr nur als taktisches Element im Rahmen einer komplexen politisch-militärischen Strategie verwendet, sondern die Erzeugung von Schrecken ist das Ziel. Somit kann alleine schon die Androhung von Anschlägen zur Einschüchterung und wirtschaftlichen Schwächung westlicher Gesellschaften ausreichen.11 Presse, Rundfunk, Fernsehen und Internet als wichtigste Kanäle für die Verbreitung aktueller Informationen spielen im Kalkül der Terroristen eine entscheidende Rolle. Medien und Terrorgruppen gehen eine symbiotische Kooperation ein. Terroristen wollen zur Hauptsendezeit globale Aufmerksamkeit erreichen und nutzen die Medien als psychologische Waffe, um den Schrecken der Attentate weltweit zu kommunizieren.12 Für die Medien sind die transportierten Inhalte der Terrorgruppen ebenfalls von großer Bedeutung, weil sie mit einem äußerst interessierten und sensationsbegierigen Publikum verbunden sind. Durch eine ausführliche Berichterstattung mit Hintergrundberichten und Expertenbefragungen können die Auflagen gestärkt und ein breiteres Publikum gewonnen werden. Ein kommunikationswissenschaftliches Konzept, das sich auf diese Wirkungszusammenhänge bezieht, ist die vieldiskutierte Agenda-Setting-Theorie.13 Die Massenmedien bestimmen somit nicht, was wir denken, sondern worüber wir nachzudenken haben. Sie beeinflussen nicht direkt unsere Ein10 11 12 13

Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbeck bei Hamburg 2003. Vgl. Peter Bernholz, Supreme Values as the Basis for Terror, in: European Journal of Political Economy, 20, 2004, 317–333. Vgl. Wilkinson, The Media and Terrorism, 56 f. Beispielsweise Maxwell Mc Combs/Donald Shaw, The Agenda-Setting Function of Mass Media, in: Public Opinion Quarterly, 36 (1972), 176–187 oder James W. Dearing/Everett M. Rogers, Agenda-Setting, Thousand Oaks 1996.

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stellungen und Verhaltensweisen, sondern geben kognitive Inputs, wie wir die Realität wahrnehmen. Gerade wegen der verspürten Ohnmacht gegenüber Terroranschlägen besteht in der Bevölkerung ein Orientierungsbedürfnis, das die Medien zu erfüllen haben. Mit zwangsläufig vereinfachten Aussagen zu komplexen Wirkungszusammenhängen gelingt es diesen jedoch nicht, zwischen Terrorismus und Islam angemessen zu differenzieren sowie der unterschiedlichen Segmente und Strömungen innerhalb des Islam gerecht zu werden. Zu stark betrachten die Medien den Islam als Fundament des Terrors, als zentralen Ursprung für extremistische, fanatische und militante Motive.14 Insgesamt sind hoch entwickelte Gesellschaften sowie Demokratien mit einem geringen Gewaltniveau als besonders verletzlich einzustufen, weil die Effekte blutiger Attentate medial mehr zur Geltung kommen. Terroranschläge erzeugen somit eine globale „Angstkultur“15 und bieten ein gutes Beispiel dafür, wie Bedrohungen regional und national entgrenzt und somit als globale Krisen interpretiert werden. Die Auswirkungen des 11. September auf westliche Gesellschaften Im Schatten der Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Angst vor einer terroristischen Bedrohung in Europa derzeit zwar etwas in den Hintergrund getreten, was allerdings nicht über die Auswirkungen, die der 11. September in vielen Gesellschaftsbereichen hinterlassen hat, hinwegtäuschen sollte. Versucht man sich rückblickend systematisch mit den Folgen der Terroranschläge von 2001 zu befassen, so lassen sich verschiedene Reichweiten differenzieren, weil räumlich (regional, national, international und global) als auch bereichsspezifisch (rechtlich, wirtschaftlich, politisch und kulturell) unterschiedliche Effekte erkennbar sind. • Vor dem Hintergrund einer befürchteten neuen Bedrohung wurden auf der rechtlichen Ebene rasch Maßnahmen zur Herstellung der inneren Sicherheit und zur Bestrafung der Verantwortlichen gesetzt. Konkret fand diese Entwicklung ihren Ausdruck in neuen nationalen und EU-weiten 14 15

Vgl. Stephen H. Jones/David B. Clarke, Waging Terror: The Geopolitics of the Real, in: Political Geography, 25 (3) (2006), 299–306. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft revisited: Die terroristische Bedrohung, in: Hitzler/ Reicherts (Hg.), Irritierte Ordnung, 281.

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Gesetzen. Die Rahmenbedingungen der EU-Sicherheitspolitik reichen dabei von neuen Kompetenzen der Exekutive (Freiheitseinschränkung, Haftbedingungen, Überwachung) bis hin zu Beschränkungen im Rahmen der Immigrationspolitik und des Reiseverkehrs. Angesichts des globalen Terrorrisikos stehen die politischen Institutionen somit vor einem Dilemma: Entweder nachhaltig auf Kosten der Freiheit des Einzelnen eine verstärkte Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten oder die Autonomie auf Kosten des Risikos der Unberechenbarkeit beizubehalten.16 • Obwohl westliche Demokratien gegenüber den Folgen des Terrorismus wirtschaftlich resistenter sind17 und sich das Krisenmanagement der USA nach dem 11. September als effizient erwiesen hat, waren sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene deutliche wirtschaftliche Auswirkungen des Attentats zu spüren.18 Da sich Investoren zwischen vielen Ländern entscheiden können, beeinflusst bereits eine geringe terroristische Aktivität den Fluss ausländischen Kapitals.19 Allein die An­drohung von Terroraktivitäten kann die Umsätze im internationalen Handel bremsen. Durch die höheren Transportkosten, die wiederum als Folge der Sicherheitskosten entstehen, sind vor allem Länder betroffen, die hohe Außenhandelsanteile haben, die preiselastische Waren (wo höhere ­Kosten die Nachfrage verringern) exportieren und generell wegen höherer Risiken als Absatzländer gemieden werden.20 Die im November 2010 vereitelten Paketbomben-Anschläge sind ein gutes Beispiel dafür. Laut Angaben der jemenetischen Al Kaida haben die Anschläge nur minimale Kosten von € 3.000,- verursacht, zwingen jedoch die finanziell angeschlagenen westlichen Länder zu Milliardenausgaben im Bereich der Sicherheit. Al Kaida spricht in diesem Kontext bereits von einem Strategie­ wandel: Westliche Staaten sollen durch wirtschaftliche Schädigungen anstelle menschlicher Verluste finanziell ausgeblutet werden.21 16 17

Vgl. Gross/Hitzler, Wir Terroristen, 105. Vgl. José Tavares, The Open Society assesses its Enemies: Shocks, Disasters and Terrorist Attacks, in: Journal of Monetary Economics 51 (2004), 1039–1070. 18 Vgl. Wilhelm Leibfritz, Auswirkungen des Terrorismus auf die Volkswirtschaften und die Wirtschaftspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 3-4 (2004), 47–54. 19 Vgl. Bruno Frey/Simon Luechinger/Alois Stutzer, Calculating Tragedy: Assessing the Costs of Terrorism, in: Journal of Economic Surveys, 21 (1) (2007), 1–24. 20 Vgl. Leibfritz, Auswirkungen des Terrorismus, 47–54, 47 21 Der Spiegel Online, Al-Qaida feiert vereitelte Paketbomben-Anschläge , http://www.spiegel. de/politik/deutschland/0,1518,730301,00.html, (4.1.2011).

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• Politisch kann durch die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in der Tat von einer neuen Weltordnung gesprochen werden, die von der US-Administration allerdings bereits unter ­Präsident George Bush senior in den 1990er-Jahren propagiert wurde. Samuel Huntington erstellte mit seinem epochalen Aufsatz Clash of Civilizations22 die düstere Zukunftsprognose, dass die weltweiten Konflikte künftig entlang kultureller Trennungslinien verlaufen würden.23 Heute, zehn Jahre nach dem 11. September, kann festgehalten werden, dass sich die These des Kulturkampfes gleichsam im Sinne einer Selffulfilling ­Prophecy erfüllt. Der 11. September diente als endgültiger Beweis des weltweit entbrannten Kulturkampfs und ermunterte zur Aufteilung der Welt in feindliche Lager wie islamische gegen westliche Welt, Gottesstaat gegen Demokratie, Morgenland gegen Abendland.24 Der Westen bedient sich dieser Feindbilder und lädt damit militärische Konflikte und politische Reaktionen selbst kulturell auf.25 Innenpolitisch befriedigte die Strategie der US-Regierung nach dem 11. September das Bedürfnis der Bevölkerung, indem klar zwischen den ‚Guten‘ (dem Westen) und der „Achse des Bösen“ unterschieden wurde. Der Anschlag wurde als Krieg definiert, auf den man mit militärischen Mitteln antworten müsse. Ursprünglich formulierte Ziele, wie z.B. die Auslöschung von Al Kaida und die Festnahme von Osama bin Laden, wurden nachträglich umdefiniert (z.B. Sturz der Taliban) und durch die Benennung immer neuer Feinde (ab 2002 der Irak und 2006 der Iran) wurde die Bevölkerung im Glauben gelassen, dass man im Kampf gegen den Terror den Sieg davontragen könne.26 Die Option Krieg führt die US-Führung jedoch bis heute in eine Sackgasse, weil die Ausrottung 22 23

Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations, in: Foreign Affairs 72 (3) (1993) 22–50. Weil er den Westen als einzigartig im Gegensatz zu anderen Kulturen (insbesondere dem Islam) definiert, verdeutlichen seine Thesen einen neuen Rassismus, der weniger rassistisch-biologisch, sondern auf kultureller Grundlage argumentiert. Vgl. dazu Gazi Çağlar, Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt, Eine Replik auf Samuel P. Huntington, 2. Auflage, Münster 2002. 24 Mohssen Massarat, Der 11. September. Neues Feindbild Islam? Anmerkungen zu tief greifenden Konfliktstrukturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 3-4 (2002), 3–6. 25 Hans Vorländer, Die Wiederkehr der Politik und der Kampf der Kulturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53 (2001), 3–6. 26 Vgl. Gudrun Brockhaus, Die Reparatur der Ohnmacht. Zur Psychologie der politischen Reaktionen auf den 11. September 2001, in: Politische Studien, 386 (2002), 43-60.

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des Terrors durch konventionelle Kriegsführung nicht gelingen kann.27 Gleichzeitig hat die feindselige Rhetorik, die zunehmend auch in politischen und wissenschaftlichen Kreisen in westlichen Gesellschaften kursiert, bei Muslimen eine gefährliche Gegensolidarisierung bewirkt. Westliche Nationen haben bei zahlreichen politischen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten Werte wie Pluralismus, Meinungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte wenig glaubhaft vertreten, wodurch der westlich-moralische Standpunkt weder wahrgenommen noch übernommen, sondern eher langfristig verspielt wurde. Aus diesem Zusammenspiel der betroffenen Bereiche (rechtliche, wirtschaftliche und politische Auswirkungen des 11. September) resultierten schließlich auch in Europa kulturelle Wandlungsprozesse.28 In den heutigen Risikogesellschaften29 müssen globale Bedrohungen jederzeit in Kauf genommen werden; beim Terrorismus kommt als spezifisches Element noch dessen Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit hinzu. Bei einer offensichtlich terroristischen Bedrohung wird die vertraute Umwelt mit einem Schlag als unsicher erlebt und viele Menschen fühlen sich dieser unbeeinflussbaren Bedrohung hilflos ausgesetzt. Die Gefährdung bewirkt eine Flucht aus der Einsamkeit, der Schutz wird in der autochthonen Gemeinschaft gesucht und auf die eigene Gesellschaft ausgedehnt. Es entsteht ein starker Druck zur Homogenisierung der Eigengruppe (‚wir Amerikaner‘, ‚wir Europäer‘) und eine aggressive Ausgrenzung von Fremdgruppen (‚die Ausländer‘, ‚die Muslime‘). Als reiner Verteidigungsakt und Selbstschutz kommt der eigenen Kultur eine erhöhte Wertschätzung zu. Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, wie in medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen dieser neue kulturelle Rassismus30, der sich nahezu ausschließlich gegen Muslime richtet, Verbreitung findet.

27

Vgl. Daniela Klime/Rüdiger Lautmann, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, in: Hitzler/Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung, 241–260, 256 ff. 28 Die These von einer globalen „Angstkultur“ und eines „Ordnungsbruchs in westlichen Gesellschaften“ (vgl. Hitzler/Reicherts (Hg.), Irritierte Ordnung) ist in der deutschsprachigen Soziologie mittlerweile weit verbreitet. 29 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986. 30 Vgl. Stuart Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument, 178 (1989), 913–921.

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Politische, mediale und wissenschaftliche Diskurse zum Islam Seit der Jahrtausendwende und vor allem seit dem 11. September findet sich in Europa eine Verschärfung hin zu einer strikteren Asyl- und Zuwanderungspolitik. In zahlreichen europäischen Gesellschaften hat sich in der Integrationspolitik ein Wandel von multikulturellen Ansätzen hin zu einer Assimilationsideologie vollzogen. Bürgerrechte werden nach neuen Sicherheitskonzepten umgedeutet, Sprachtests und Wissenstests über die ortsansässige Kultur und Geschichte sowie kulturelle Verhaltensrichtlinien sollen die Integration in die bestehende Werteordnung zusätzlich garantieren. Die Integrationsdebatte zentriert sich heute überwiegend auf den Islam. Obwohl muslimische Migrant/inn/en bereits seit Jahrzehnten nach Europa strömen, werden insbesondere seit dem 11. September Angehörige des Islam als Bedrohung des Westens wahrgenommen. Sämtliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Armut und Marginalisierung werden durch eine kulturelle Linse betrachtet und interpretiert; soziale, ökonomische und politische Faktoren werden in der Diskussion vernachlässigt. Mittlerweile wird die Ausgrenzung von Muslimen nicht nur im rechtsextremen oder rechtspopulistischen Milieu befürwortet, sondern findet teilweise auch in der politischen Mitte Zustimmung.31 Zu diesem negativen Stimmungsbild gegenüber dem Islam tragen vor allem auch die Medien bei. Wer sich aktuell mit der Islamkritik im Internet32, in den Printmedien oder in auflagenstarken, populärwissenschaftlichen Büchern befasst, stößt teilweise auf Aussagen, die auf eindeutig feindliche Tendenzen gegenüber Muslimen hinweisen. Selbst renommierte Wochenmagazine tragen den aktuellen Bedrohungsszenarien in Titelgeschichten oder Sonderausgaben Rechnung, so etwa Der Spiegel mit dem Cover ­„Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“33 oder Fokus mit seiner Titelgeschichte „Unheimliche Gäste. Die Gegenwelt der Muslime in 31 32

33

Vgl. Eberhard Seidel, In welche Richtung verschieben sich die medialen Diskurse zum Islam?, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Band 6, Frankfurt/Main 2008, 250-259. Postings im Internet, beispielsweise auf der stark frequentierten Plattform Politically Incorrect (http://www.pi-news.net/), liefern Hinweise, dass die Feindseligkeit gegenüber Muslimen in einzelnen Bevölkerungsschichten bereits die Grenze der Volksverhetzung erreicht hat; vgl. Sabine Schiffer, Grenzenloser Hass im Internet. Wie „islamkritische Aktivisten“ in Webblogs argumentieren, in: Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit, 355–377. Vgl. Der Spiegel, Nr. 13, 26.3. 2007, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-50990508.html, (3.1.2011).

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Deutschland. Ist Multi-Kulti gescheitert?“34. Medienanalysen zeigen, dass derzeit der ­Islam im Vergleich zu anderen Religionen eine überproportional hohe Aufmerksamkeit erhält und die Verbindung zwischen Islam und Terrorismus in der Berichterstattung vorherrschend ist. Kai Hafez und Carola Richter weisen beispielsweise in einer Studie zum Islambild im deutschen Fern­sehen (ARD und ZDF) nach, dass auch in den beiden öffentlich-recht­ lichen Sendern 81 Prozent aller Thematisierungen negative Aspekte aufgreifen. Besonders häufig wird der Islam mit den die allgemeine Debatte prägenden Themen wie Terrorismus und internationale Konflikte (23%), Integrationsprobleme (16%), religiöse Intoleranz (10%), Fundamentalismus (7%) und Frauenunterdrückung (4%) in Verbindung gebracht. Nur 21 Prozent der analysierten Inhalte umfassten positive oder neutrale Themen wie beispielsweise kulturell-religiöse Eigenheiten (11%) oder Analysen des Alltags der Muslime (8%).35 Weitere Forschungsergebnisse für Länder wie Belgien oder die Niederlande36 zeigen auch die Verbindung zwischen medialer Berichterstattung und politischem Wahlverhalten auf: Je mehr Raum dem Thema der vermeintlichen ‚Überfremdung‘ Europas gewidmet wird und je stärker eine ablehnende Haltung gegenüber Einwanderern medial verbreitet wird, desto stärker ist der Zuspruch zu rechtspopulistischen Parteien. Doch es sind nicht nur rechtspopulistische Gruppierungen, die mit antiislamischen Aussagen in der Bevölkerung Anklang finden, denn seit dem 11. September gelten kritische Töne gegenüber dem Islam in Europa zunehmend als mehrheitsfähig.37 Eine erhöhte Skepsis gegenüber dem Islam wird nicht nur im konservativen politischen Lager geäußert, sie findet sich in verschiedensten Milieus der Gesellschaft. Oft stehen hinter den Vorbehalten gegenüber dem Islam unterschiedliche Motive. Während in rechtskonservativen Kreisen demographische Krisenszenarien gezeichnet werden, die auf 34 35 36

37

Cover Focus, Nr. 48, 22.11.2004. Vgl. Kai Hafez/Carola Richter, Das Islambild von ARD und ZDF, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26-27 (2007), 40-46. Vgl. für Belgien: Stefaan Walgrave/Knut de Swert, The Making of the (issues of the) Vlaams Blok. The Media and the Success of the Belgian Extreme-Right Party, in: Political Communication 21 (2007), 479–500 und für die Niederlande: Hajo G. Boomgaarden/Rens Vliegenthart, Explaining the Rise of Anti-Immigrant Parties. The Role of News Media Content, in: Electoral Studies 26 (2007), 404–417. Vgl. Alexander Häusler, Antiislamischer Populismus als rechtes Wahlkampf-Ticket, in: ders. (Hg.), Rechtspopulismus als Bürgerbewegung. Kampagnen gegen Islam und Moscheebau und kommunale Gegenstrategien, Wiesbaden 2008, 155–169.

Terroristische Bedrohung und Islamophobie

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eine schleichende Islamisierung der Gesellschaft hinweisen38, wird in linksliberalen Kreisen der Islam auch als Gefahr für emanzipatorische Errungenschaften und als Relikt militanter Religiosität betrachtet.39 Thorsten Schneiders hat im Rahmen einer qualitativen Textanalyse die zentralen Aussagen der deutschen „Islamkritiker“, die ständig in den Medien­präsent sind und durch populärwissenschaftliche Publikationen eine breite Leserschaft im deutschsprachigen Raum erreichen, analysiert.40 Er definiert als Islamkritiker jene Personen im deutschsprachigen Raum, „die nicht um eine objektive und konstruktive Kritik bemüht sind und denen aufgrund unsachlicher Argumentationsstrategien unterstellt werden muss, dass sie politische und persönliche Ziele verfolgen.“41 Es fällt auf, dass sich bei den bekannten Autor/inn/en wie Mina Ahadi, Henryk Broder, Ralph Giordano, Necla Kelek, Alice Schwarzer, Udo Ulfkotte und zuletzt Thilo Sarrazin durchaus inhaltliche und methodische Parallelen aufzeigen lassen. Die Argumente dieser deutschen Gallionsfiguren der Islamkritik sind weitgehend verallgemeinernd, durch fragwürdige Vergleiche und durch ein hohes Ausmaß an Polemik gekennzeichnet. Zahlreiche Zitate 42 verdeutlichen, wie Gegner islamkritischer Tendenzen geschmäht werden (z.B. von Ralph Giordano als „Gutmenschen vom Dienst, Multikulti-Illusionisten“) oder fiktive Bedrohungsszenarien gezeichnet werden (z.B. von Alice Schwarzer mit „Sind die Kreuzzügler auf dem Weg zur islamischen Weltherrschaft noch zu stoppen – und ist die aufgeklärte Welt überhaupt noch zu retten?“). Zusätzlich werden Sachverhalte simplifiziert und ohne statistische Quellenangaben wiedergegeben (z.B. wenn Henryk Broder behauptet, dass die Anzahl der Mädchen mit Kopftuch in der Schule „sprunghaft angestiegen“ sei), und es erfolgen implizit Aufrufe zum Patriotismus, wenn Thilo Sarrazin in seinem aktuellen Bestseller Deutschland schafft sich ab schreibt: „Ich möchte, dass auch meine Urenkel in 100 Jahren noch in Deutschland leben können, wenn sie dies wollen. Ich möchte nicht, dass 38

Udo Ulfkotte, Heiliger Krieg in Europa. Wie die radikale Muslimbruderschaft unsere Gesellschaft bedroht, Frankfurt/Main 2007. 39 Vgl. Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland, 189. 40 Vgl. Thorsten Scheiders, Die Schattenseite der Islamkritik. Darstellung und Analyse der Argumentationsstrategien von Henryk M. Broder, Ralph Giordano, Necla Kelek, Alice Schwarzer und anderen, in: ders. (Hg.), Islamfeindlichkeit, 403–432. 41 Ebd., 405. 42 Alle folgenden Zitate sind dem Aufsatz von Thorsten Schneiders entnommen, vgl. ebd., 403–432.

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das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird.“43 Autoren mit eigener Migrationsgeschichte wie Necla Kelek leiten häufig aus subjektiven Erfahrungen pauschale Urteile ab. In ihrem preisgekrönten Buch Die fremde Braut schildert die Autorin ihre negativen Kindheitserfahrungen in der Türkei und ihre Migration nach Deutschland und beruft sich auf 50 Einzelinterviews mit türkischen Frauen. 44 Bereits der Untertitel „Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“ deutet den Anspruch, repräsentativ zu sein, an. Ihre pauschalen Aussagen, wie „langsam, aber unaufhaltsam wurden aus Gastarbeitern Türken und aus den Türken Muslime“45, werden mittlerweile auch von namhaften Autor/inn/en bekannter migrationssoziologischer Lehrbücher zitiert.46 Gefährlich sind jene populärwissenschaftlichen Abhandlungen auch deshalb, weil unter Verweis auf legitime Religionskritik klar abwertende und menschenfeindliche Thesen an die Öffentlichkeit transportiert werden. Eine in einfacher Sprache und oftmals undifferenziert vorgebrachte Islamkritik erreicht eine immense Öffentlichkeitswirkung und spricht derzeit vielen Menschen, die aufgrund aktueller politischer, wirtschaftlicher und sozialer Bedrohungslagen verunsichert sind, aus der Seele. Aufgrund des enormen Verbreitungsgrads der Werke wird somit gezielt Stimmungsmache gegen Muslime betrieben. Auf Basis dieser Analyse der populärwissenschaftlichen Abhandlungen ist es nicht verwunderlich, dass auch in einzelnen internationalen Scientific Communities islamkritische Äußerungen zunehmen. Hier bemühen sich die Autor/inn/en zwar um fundierte Islamkritik, jedoch erfolgt häufig keine k­ lare Grenzziehung zu pauschalen Unterstellungen und Verallgemeinerungen. Der islamkritische Diskurs in den Sozialwissenschaften soll nun anhand von Beispielen aus den Niederlanden und aus den USA wiedergegeben werden.

43 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010. 44 Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln 2005. 45 Ebd., 131. 46 Annette Treibel, Islam und Integration. Ein Gegensatz?, in: Karin Böllert/Peter Hansbauer/ Brigitte Hasenjürgen/Sabrina Langenohl (Hg.), Die Produktivität des Sozialen – den sozialen Staat aktivieren, Wiesbaden 2006, 99–106.

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Die Niederlande wurden lange Zeit als ein Paradebeispiel einer weltoffenen und multikulturellen Gesellschaft betrachtet. Aufgrund mehrerer Ereignisse (neben dem 11. September etwa die Ermordung des Rechtspopulisten Pim Fortyn im Mai 2002 und die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh im November 2004) kann derzeit ein tief greifender gesellschaftlicher Wandel festgestellt werden. Ian Buruma betrachtet in den Nieder­ landen die traditionelle Wohlfahrtspolitik als gescheitert, da es ihr nicht gelungen sei, die Konflikte um Migration, Religion und soziale Benachteiligung zu entschärfen. Globalisierung und neu erwachte Religiosität haben seiner Meinung nach neue Gräben gezogen, die nur durch ein neues Selbstverständnis der Bürger/innen überwunden werden könne.47 Momentan muss in den Niederlanden jedoch von einer Normen- und Wertekrise gesprochen werden, die sich auch in den veränderten politischen Kräfteverhältnissen widerspiegelt. So wurde die Partei für die Freiheit (PVV) des Islamkritikers und Rechtspopulisten Geert Wilders bei den Parlamentswahlen im Juni 2010 drittstärkste Kraft und übt derzeit als Mehrheitsbeschafferin für das rechtsliberal-christdemokratische Minderheitskabinett einen erheblichen Einfluss auf die niederländische Regierungspolitik aus. Bart J. Spruyt führt die Integrationsprobleme von Muslimen in den ­Niederlanden auf ein Scheitern des Systems der „Versäulung“ zurück, das allen sozialen und kulturellen Gruppen gleiche Chancen, Rechte und Freiheiten ermöglichen hätte sollen.48 Insbesondere Einwanderer der zweiten Generation, in den Niederlanden geboren und dennoch ohne Aufstiegschancen und am unteren Rand der Gesellschaft angesiedelt, hätten der ­niederländischen Gesellschaft den Rücken zugekehrt und einen generalisierten Hass gegen den Westen entwickelt. Die demographische Entwicklung in den Niederlanden liefert den Gegnern des Multikulturalismus zusätzlich Zündstoff. Bis zum Jahr 2025 werden 25 Prozent der niederlän47 Ian Buruma, Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh, München 2007. 48 In den Niederlanden existierten bis in die 1960er-Jahre weltanschauliche Strömungen eigenständig nebeneinander und sicherten ihre parallele Existenz auch institutionell ab. Auch Muslimen sind staatliche Einrichtungen (z.B. islamische Schulen) gewährt, die auch anderen Strömungen zustehen. Insofern trug das System der Versäulung zum Aufbau eigener religiöser Institutionen und zur Mobilisierung hin zu einer Parallelgesellschaft bei. Vgl. Manfred Oberlechner, Strukturelle Versäulungen in Österreich und den Niederlanden. Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Auswirkungen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 34 (2), 2005, 181–206; Bart J. Spruyt, Can’t We Discuss This? Liberalism and the Challenge of Islam in the Netherlands, in: Orbis 51, (2007), 313–329.

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dischen Bevölkerung einen Migrationshintergrund aufweisen und schon heute ist eine Mehrheit der Bevölkerung unter 20 Jahren in Rotterdam und Amsterdam muslimisch. Auch außerhalb Europas entwerfen britische und US-amerikanische Intellektuelle düstere Zukunftsszenarien und befürchten übereinstimmend eine Entfremdung von europäischen Werten verbunden mit einer Arabisierung Europas. 49 Der Herausgeber der renommierten Zeitschrift Orbis James Kurth benennt beispielsweise drei Fronten des Heiligen Krieges gegen den Westen: den Mittleren Osten als die zentrale Front, die östliche Front in Südostasien (Afghanistan und Pakistan) und die westliche Front, die innerhalb Europas und den USA geführt wird.50 Im Konflikt mit dem Islam erschwere der Siegeszug der Demokratie in Europa die Implementierung von Sicherheitsmaßnahmen im Krieg gegen den Terror, die liberale Gesellschaft ermögliche die Massenimmigration von Flüchtlingen und die Dominanz der Marktwirtschaft führe zu einer ethnischen Unterschichtung und zur Ausbildung von Parallelgesellschaften. Kurth sieht für Europa eine größere Bedrohung als für die USA, weil muslimische Minderheiten in einzelnen Staaten (z.B. Großbritannien, Frankreich, Niederlande und Deutschland) immer mehr an Bedeutung gewännen. Im Kampf gegen die Islamisierung Europas schreibt er dem Christentum und der katholischen Kirche eine dominante Rolle zu und setzt damit den Kulturkampf fort: „Now, to win against Islamism, an extremist form of religion, the West will have to become more religious than it has been before.“51 Wissenschaftliche Analysen, die den Islam als Bedrohung sehen, rechts­ populistische Ausgrenzungsstrategien im Umgang mit muslimischen Einwanderern sowie eine stereotype mediale Berichterstattung werden der komplexen Lebenssituation der zweitgrößten Religionsgemeinschaft der Welt, die in Europa immerhin zwölf bis 20 Millionen Menschen umfasst52, weder 49 Beispiele hierfür sind die bekannten Werke von Bruce Bawer, While Europe Slept. How Radical Islam Is Destroying The West From Within, New York 2006 oder von Bat Ye´Or, Eurobia, The Euro-Arab Axis, Madison, N.J. 2005. Diese pessimistischen Zukunftsprognosen werden auch von namhaften Autoren in der deutschsprachigen Scientific-Community weitgehend geteilt, z.B. Walter Laqueur, Die letzten Tage von Europa. Ein Kontinent verändert sein Gesicht, Berlin 2006 oder Siegfried Kohlhammer, Das Ende Europas? Ansichten zur Integration von Muslimen, in: Merkur, 731 (2010), 337–347. 50 Vgl. James Kurth, Europe’s Identity Problem and the New Islamist War, in: Orbis 50 (2006), 541–557. 51 Ebd., 556. 52 Vgl. David Theo Goldberg, Racial Europeanization, in: Ethnic and Racial Studies, 29 (2) (2006), 331–364, 345.

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innerhalb der muslimischen Staaten noch außerhalb, als Minderheit in westlichen Staaten, gerecht. Da in den europäischen Aufnahmegesellschaften wenig direkter Kontakt zu Muslimen besteht, wird das Image dieser Bevölkerungsgruppe nahezu ausschließlich von medialen und politischen Diskursen geprägt. Die andauernde Präsenz der Themen Ausländerfeindlichkeit und Islamkritik begünstigt deswegen die Zunahme islamophober Tendenzen in westlichen Gesellschaften.

Einstellungen gegenüber Muslimen im globalen und europäischen Vergleich Empirische Untersuchungen, die zum weltweiten und europaweiten Stimmungsbild gegenüber dem Islam vorliegen, zeigen in der Regel starke Vorbehalte gegenüber Muslimen auf, die seit dem 11. September – zumindest in einzelnen Ländern – noch deutlich zugenommen haben. Obwohl die Einstellungen des Westens zum Islam derzeit, sei es in den USA oder in Europa, eindeutig ein bestimmendes Thema auf der politischen und massenmedialen Agenda darstellen, existiert bis heute erstaunlich wenig ländervergleichende Forschung zum Islambild in der Öffentlichkeit.53 ­Während individuelle und demographisch-sozialstrukturelle Erklärungsfaktoren der Fremdenfeindlichkeit in Europa Gegenstand wichtiger n ­ ationaler (z.B. Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften in Deutschland 1996, 2006) und kulturvergleichender Forschungs­instrumente (z.B. Spezialmodul des European Social Survey zu Einstellungen gegenüber Migrant/inn/en 2002; International Social Survey Program zur nationalen Identität 1995, 2003) sind, steckt die empirische Erforschung islamfeind­ licher Einstellungen noch in den Kinderschuhen. Weltweit beschränken sich einzelne ländervergleichende Umfragen auf die Erhebung einzelner Indikatoren zur Messung der Beziehung zu Muslimen54, und auch in europäischen Staaten existieren bis dato kaum Umfragen, die eine adäquate 53 54

Immerhin wurden fremdenfeindliche Haltungen seit mehr als 30 Jahren im Kontext der Vorurteilsforschung wissenschaftlich untersucht; vgl. Leibold, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, 145–154. Zan Strabac/Ola Listhaug, Anti-Muslim Prejudice in Europe. A Multilevel Analysis of Survey Data from 30 Countries, in: Social Science Research 37 (2008), 268–286.

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Messung der Islamfeindlichkeit gewährleisten.55 Deswegen muss sich auch diese empirische Analyse auf eine rein beschreibende Darstellung beschränken. Im folgenden Abschnitt werden nun mehrere länderver­gleichende Ergebnisse zu Einstellungen gegenüber Muslimen vorgestellt. Dabei basieren die Analysen schwerpunktmäßig auf drei ländervergleichenden Umfrageinstrumenten und Studien: • Das Pew-Global Attitudes Project (http://pewglobal.org/) wird von einem Meinungsforschungsinstitut in den USA mit Sitz in Washington durchgeführt. Die Forschungseinrichtung setzt sich seit dem Jahr 2001 das Ziel, weltweit vorherrschende Einstellungen zu weltpolitisch relevanten ­Themen abzufragen. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Forschungsberichte veröffentlicht, die auf Umfragen zu den gegenseitigen Beziehungen westlicher und islamischer Staaten basieren. • Die European Values Study (http://www.europeanvaluesstudy.eu), ­heute die umfangreichste Wertestudie im europäischen Raum, wurde 1978 durch einen informellen Zusammenschluss von Sozialforschern ins Leben gerufen. Die Studie verfolgt einen breiten Werteansatz und analysiert grundlegende Einstellungen der Europäer in den Bereichen Familie, Politik, Arbeitswelt, Religion und Gesellschaft. Im Dezember 2010 wurden die Daten der vierten Erhebungswelle 2008 (nach 1981, 1990, 1999/2000) aus insgesamt 47 europäischen Ländern veröffentlicht. Die aktuelle Studie erlaubt somit im Vergleich zur letzten Erhebungswelle 1999/2000 auch Aussagen, wie sich Einstellungen zu Muslimen seit dem 11. September verändert haben. • Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Biele­ feld entwickelte den Ansatz der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und führt seit dem Jahr 2002 zahlreiche empirische Unter­ suchungen, vorwiegend in Deutschland, durch. Es wird dabei von einem allgemeinen Syndrom der Menschenfeindlichkeit ausgegangen, wobei die Islamo­phobie neben Xenophobie, Rassismus, Antisemitismus, ­Etabliertenvorrechten und Heterophobie als eine Facette feind­ licher Haltungen gegenüber Mitmenschen konzipiert wird. Zusätzlich 55

Somit hat folgendes Urteil von J. Fetzer und C. Soper auch heute noch weitgehend Gültigkeit: „Methodically sophisticated cross national analysis of mass-level attitudes toward Muslims is virtually nonexistent”; vgl. Joel S. Fetzer/Christopher J. Soper, The Roots of Public Attitudes toward State Accomodation of European Muslims’ Religious Practices before and after September 11, in: Journal for Scientific Study of Religion 42 (2003), 247–258, 248.

Terroristische Bedrohung und Islamophobie

237

werden sowohl sozialpsychologische als auch soziologische Einfluss­ faktoren auf menschenfeindliche Haltungen untersucht. In einem langjährigen Forschungsprojekt wird derzeit die Entwicklung der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland jährlich in repräsentativen Umfragen analysiert und in der achtbändigen Buchreihe Deutsche Zustände publiziert.56 Im Sommer 2008 wurden im Rahmen des Projekts Europäische Zustände erstmals menschenfeindliche Haltungen vergleichend über acht europäische Staaten erhoben. Erste Ergebnisse dieser ländervergleichenden Erhebung werden ebenfalls hier rezipiert. In einem ersten Schritt soll nun ein weltweiter Vergleich antiislamischer Einstellungen anhand aktueller Pew-Daten (Frühjahr 2009) erfolgen. In den einzelnen Umfragen wird ungefähr jährlich die Frage gestellt, ob die Bürger/innen einzelner Nationen eine positive oder negative Haltung gegenüber Muslimen einnehmen (4-stufige Antwortvorgabe).57 In der folgenden Grafik wurden einzelne Nationen aus verschiedenen Kontinenten, die an der Umfrage teilgenommen hatten, ausgewählt. Es wird der Anteil der Bevölkerung dargestellt, der eine überwiegend negative Haltung gegenüber Muslimen demonstriert. Aufgrund des ungelösten Nahostkonflikts besteht in Israel die kritischste­ Sichtweise auf muslimische/arabische Mitbürger/innen, wobei allerdings umgekehrt auch in arabischen Staaten fast ausschließlich negative Einstellungen zu Juden vorherrschen.58 Insgesamt fällt auf, dass nicht Europa, sondern asiatische Staaten das höchste Ausmaß an islamfeindlichen Haltungen aufweisen. Sowohl in China und Indien als auch in Japan zeigen über 50 Prozent der Bevölkerung überwiegend negative Einstellungen gegenüber Muslimen. In Europa rangiert Spanien an erster Stelle, aber auch in Deutschland, Polen 56 57 58

Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Band 1 – Band 8, Frankfurt/Main 2002-2010. Die exakte Frage lautete: „Please tell me if you have a very favorable, somewhat favorable, somewhat unfavorable or very unfavorable opinion of Muslims?” In einzelnen islamischen Gesellschaften (z.B. Ägypten und Jordanien) geben über 90 Prozent der Befragten äußerst negative Haltungen gegenüber Juden an. Während Anzeichen eines klaren und offen geäußerten Konflikts zwischen Juden und Muslimen durchdringen, geben die Daten wenig Hinweise auf einen entbrannten Kulturkampf zwischen dem Westen und dem Islam. Beispielsweise polarisiert das Image der USA im Zuge der Obama-Präsidentschaft auch in islamischen Staaten und kann nicht überall als überwiegend negativ beurteilt werden (vgl. Pew Global Attitudes Project (Hg.), Survey report: Unfavorable Views of Jews and Muslims on the Increase in Europe, http://pewglobal.org/files/pdf/262.pdf, (6.1.2011).

Israel

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Israel

79

Asien

China

65

Japan

56

Indien

52

Spanien

46

Europa

Deutschland

42

Polen

39

Frankreich

35

Russland

28

Nordamerika Südamerika Afrika

Großbritannien

19

Kenya

29

Brasilien

44

Argentinien

26

Kanada

22

USA

22 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

% somewhat unfavourable, very unfavourable

Abbildung 1: Anteil der Bevölkerung in ausgewählten Staaten, die negative Haltungen gegenüber Muslimen äußert. Quelle: Eigene Darstellung auf Basis des Pew-Spring Survey 2009

und Frankreich nimmt mehr als ein Drittel der Befragten eine negative Sichtweise ein. Ein niedrigeres Niveau weisen der anglo-amerikanische Sprachraum sowie ausgewählte afrikanische und südamerikanische Staaten auf, wo mit Ausnahme von Brasilien der Anteil an negativen Sichtweisen zumeist klar unter einem Drittel liegt. Von Interesse ist jedenfalls, dass in westlichen Staaten, wo die terroristische Bedrohung seit Jahren präsent ist (Groß­

Terroristische Bedrohung und Islamophobie

239

70

60

50

40

März 2004

30

Mai 2005 Frühjahr 2006

20

Frühjahr 2008 Frühjahr 2009

10

USA

Europa

China

Japan

Indien

Spanien

Deutschland

Polen

Frankreich

Russland

Großbritannien

USA

0

Asien

Abbildung 2: Analyse kritischer Haltungen gegenüber Muslimen in ausgewählten ­Staaten im Zeitverlauf. Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Pew-Daten 2004–2009

britannien, USA), nicht unbedingt ein erhöhtes Ausmaß an Islamophobie zu erkennen ist. Hier könnte die langjährige Einwanderungsgeschichte und die progressive Einwanderungspolitik59 die Bevölkerung für eine stärkere Differenzierung zwischen Islam und Terrorismus sensibilisiert haben. Analysiert man nun islamkritische Haltungen im Zeitverlauf, so kann, weltweit betrachtet, kein einheitlicher Anstieg der Islamfeindlichkeit im letzten Jahrzehnt beobachtet werden.60 Dennoch findet sich in jenen Län59

Nach der Klassifikation von Castles und Miller wird die Einwanderungspolitik der USA dem multikulturellen und jene von Großbritannien dem assimilatorischen Politikmodell zugeordnet. In beiden Varianten wird die Naturalisation von Zuwanderern im Gegensatz zum differentiell-exklusiven Modell (z.B. Deutschland) gefördert, ist jedoch an spezifische Bedingungen geknüpft; vgl. Stephen Castles/Mark J. Miller, The age of migration. International migration movements in the modern world, Houndmills 1998, 245–250. 60 Einschränkend muss jedoch festgehalten werden, dass alle Erhebungen des Pew-GlobalAttitudes-Projekt nach dem 11. September durchgeführt wurden und in den letzten Jahren die terroristische Bedrohung etwas in den Schatten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise getreten ist.

240

Wolfgang Aschauer

dern, wo in jüngerer Zeit Terrorattentate verübt bzw. Konflikte mit muslimischen Minderheiten entbrannt sind, ein deutliches Wachstum inslamfeindlicher Tendenzen. Dies zeigt sich beispielsweise in den Ländern China und Indien, während jedoch in Japan und auch in Russland mit zunehmendem Abstand zum 11. September eine Verringerung islamfeindlicher Haltungen zu konstatieren ist.61 In Europa zeigt sich sowohl in Spanien als auch in Deutschland seit dem Jahr 2006 eine leichte Abnahme negativer Einstellungen, während in Polen und Frankreich der Höhepunkt der Islamophobie im Frühjahr 2008 gemessen wurde. In den USA und in Großbritannien ist generell ein niedrigeres Ausmaß islamfeindlicher Haltungen zu beobachten. Ein eindeutiger Trend lässt sich hier im Zeitverlauf nicht nachweisen. Zusätzlich zu diesem weltweiten Überblick auf Basis der Pew-Daten62 soll nun eine differenzierte Analyse europäischer Staaten erfolgen. In der European Values Study liegt jedoch erneut nur eine sehr oberflächliche Be­urteilung der Islamfeindlichkeit vor, womit auch diese Messung als wenig aussagekräftig betrachtet werden muss.63 Andererseits werden allgemein fremdenfeindliche Haltungen auf differenziertem Wege geprüft.64 Die Grafik repräsentiert quasi eine Landkarte von fremden- und islamfeindlichen Haltungen in Europa, wobei auf Basis der europaweiten Mittel61

Hierbei muss beachtet werden, dass die Anschläge jüngeren Datums von kaukasischen Muslimen (z.B. Anschlag auf Schnellzug im November 2009 und Anschlag auf Flughafen im Jänner 2011) in den Daten noch nicht berücksichtigt sind. 62 Die Datenqualität des Pew-Global-Attitudes-Projekts ist durchaus auch kritisch zu sehen, weil wenig Informationen über die Stichprobengewinnung sowie die Feldphase in den einzelnen Ländern zur Verfügung stehen. Obwohl es sich bei dem verwendeten Indikator um eine klare und voraussichtlich kulturell äquivalent verstandene Frage handeln könnte, sind Verzerrungen in einzelnen Erhebungen nicht auszuschließen. Insbesondere die Ergebnisse im Ländervergleich sind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren. 63 Im Zuge einer Fragebatterie müssen die Befragten in der europäischen Wertestudie beurteilen, ob verschiedene Personengruppen (z.B. AlkoholikerInnen, Rechtsextreme, MigrantInnen, Juden oder Muslime) als Nachbarn erwünscht oder nicht erwünscht sind. Es handelt sich hier also um eine dichotome Variable mit zwei Ausprägungen. In der Grafik ist der Anteil jener Personen in den einzelnen Staaten wiedergegeben, der Muslime als Nachbarn ablehnt. 64 In der folgenden Grafik ist ein Index fremdenfeindlicher Einstellungen abgebildet, der die durchschnittliche Zustimmung zur multikulturellen Gesellschaft vs. die Wahrnehmung einer ethnischen Bedrohung für jedes Land wiedergibt. Dieser Index errechnet sich aus fünf Fragen, die in der Umfrage gestellt wurden (z.B. musste die Bevölkerung beurteilen, ob Zuwanderer den Einheimischen Arbeitsplätze wegnehmen, ob das kulturelle Leben untergraben wird, ob die Kriminalitätsproblematik verschärft wird, das Sozialsystem belastet wird und ob der Anteil der Zuwanderer eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellt). Diese fünf Indikatoren, die in diesen Index einfließen, sind klassische Aussagen zur Messung fremdenfeindlicher Tendenzen.

Terroristische Bedrohung und Islamophobie

241

Abbildung 3: Fremden- und islamfeindliche Haltungen in ausgewählten europäischen Ländern. Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten der europäischen Wertestudie 2008

werte vier Quadranten unterschieden werden können. Links unten sind jene Staaten einzuordnen, wo sowohl das Niveau fremdenfeindlicher Tendenzen als auch islamfeindlicher Haltungen als gering einzustufen ist. In diesem Cluster sind vorwiegend nordeuropäische und einzelne mittel-, west- und südeuropäische Staaten vertreten, allerdings ist eine Gruppierung nach geographischen Charakteristika insgesamt nicht möglich. In Luxemburg und Schweden ist das Ausmaß fremdenfeindlicher Haltungen am geringsten ausgeprägt, und in Frankreich, Island und auch in der Schweiz stoßen muslimische Nachbarn auf relativ breite Akzeptanz. Spanien (im Unterschied zu den Pew-Studien) und auch Portugal gehören zu jenen südeuropäischen Staaten, die ebenfalls durch ein geringes Ausmaß an ethnischen Vorurteilen geprägt sind. Im benachbarten rechten Quadranten finden sich jene Staaten, die sich durch ein hohes Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit, aber geringe Vorurteile gegenüber Muslimen auszeichnen. Insgesamt muss das Ausmaß fremden-

242

Wolfgang Aschauer

feindlicher Einstellungen in Europa als durchaus hoch eingestuft werden, da die Wahrnehmung einer ethnischen Bedrohung im Vergleich zu einer Zustimmung zur multikulturellen Gesellschaft mittlerweile eindeutig überwiegt.65 Auch in der Türkei sind fremdenfeindliche Einstellungen deutlich vorhanden, während naturgemäß die Einstellungen gegenüber der eigenen Religionsgruppe überaus positiv sind. Ansonsten sind in Staaten mit einer geringen Zahl an Muslimen (z.B. Ungarn) sowie auch in Staaten mit langjähriger Migrationsgeschichte (Belgien, Westdeutschland, Großbritannien) islamophobe Haltungen im Vergleich zu allgemein kritischen Einstellungen gegenüber Zuwanderern geringer ausgeprägt. Andererseits finden sich auch im Quadranten links oben zahlreiche Staaten, wo wenig Erfahrungen mit Einwanderern bestehen, aber dennoch eine fehlende Akzeptanz von Muslimen offensichtlich ist. Vor allem Polen, Finnland, Rumänien und Italien fallen durch ein überproportional hohes Ausmaß an Islamfeindlichkeit auf, während sie, was den Grad der Fremdenfeindlichkeit betrifft, im unteren Durchschnitt liegen. Im Quadranten rechts oben sind jene Länder angesiedelt, in denen sowohl das Ausmaß fremden- als auch islamfeindlicher Haltungen ein beachtliches Niveau erreicht hat. Neben einzelnen mitteleuropäischen Staaten und Regionen (primär Österreich, Tschechien und Ostdeutschland) sind in diesem Cluster sämtliche baltische Länder zu finden, wobei in Litauen knapp die Hälfte der Bevölkerung muslimische Nachbarn als unerwünscht betrachtet. Zypern und Malta sind insgesamt durch das höchste Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit gekennzeichnet. Die feindliche Haltung der Bevölkerung ist hier vor allem durch den aktuellen Zustrom an Asylwerbern zu ­erklären, weil sowohl Zypern, als auch Malta und Griechenland häufig die erste ­Station von Flüchtlingen am Weg nach Europa darstellen. Abschließend soll noch am Beispiel einiger europäischer Staaten die These eines Anstiegs islamfeindlicher Tendenzen geprüft werden.66 Um mehr 65 Die einzelnen Fragen konnten zwischen 1 (positiver Pol) und 10 (negativer Pol) beurteilt werden. Somit läge der Skalenmittelpunkt bei 5,5. Der Durchschnitt der europäischen Staaten überschreitet jedoch deutlich den Wert 6, womit insgesamt die Wahrnehmung einer ethnischen Bedrohung überwiegt. 66 Die Wertestudien sind nach dem Wissensstand des Verfassers weltweit die einzige empirische Quelle, wo ein Anstieg der Ablehnung von Muslimen als Folge des 11. September auf Basis repräsentativer Studien vergleichend über zahlreiche Länder nachgewiesen werden kann. Hinsichtlich des genannten Indikators liegen repräsentative Messungen vor dem Terroranschlag (1999/2000) und nach dem 11. September (2008) vor.

Terroristische Bedrohung und Islamophobie

243

50 45 40 35 30 25 20 15 10

baltische Länder deutschsprachig

GB, Irland

Benelux

Nordeuropa

Spanien

Frankreich

Portugal

Island

Italien

Schweden

Dänemark

Belgien

Finnland

Niederlande

Luxemburg

Großbritannien

Irland

Northern Ireland

Bulgarien

Südosteuropa

Griechenland

Rumänien

Malta

Polen

Osteuropa

Slowakei

Slowenien

Tschechien

Österreich

Westdeutschland

Ostdeutschland

Estland

Lettland

0

Litauen

5

Südwesteuropa

Muslime als Nachbarn nicht erwünscht (% Zustimmung 1998) Muslime als Nachbarn nicht erwünscht (% Zustimmung 2008)

Abbildung 4: Anstieg der Islamfeindlichkeit in ausgewählten europäischen Staaten. Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten der europäischen Wertestudie 2008

Übersichtlichkeit zu gewährleisten, wurden einzelne Länder geographischen Regionen in Europa zugeordnet. Die Balken verdeutlichen die beiden Messungen und zeigen somit im Zeitraum von 1998 bis 2008 einen Anstieg oder eine Abnahme islamfeindlicher Tendenzen auf. Insgesamt kann die These eines Anstiegs islamophober Tendenzen anhand der europäischen Wertestudie für zahlreiche europäische Nationen bestätigt werden. Bereits die ersten Balken demonstrieren innerhalb der ­baltischen Staaten sowie auch in Deutschland und Österreich eindeutig die Zunahme islamfeindlicher Einstellungen. Auch in einzelnen osteuropä­ ischen Ländern (insbesondere in Tschechien) hat in den letzten zehn Jahren das Ausmaß der Ablehnung gegenüber Muslimen zugenommen; lediglich in der Slowakei lässt sich eine geringfügige Abnahme feststellen. Andererseits lässt sich relativ übereinstimmend in südosteuropäischen Staaten (Ausnahme Malta) eine positivere Haltung gegenüber Muslimen nachweisen. Auch in Großbritannien kann im Unterschied zu Nordirland und der Republik Irland kein Anstieg der Islamophobie festgestellt werden. In den Benelux-Staaten, in Nordeuropa und auch in Südwesteuropa sind die Vorurteile gegenüber Muslimen insgesamt geringer ausgeprägt. In jenen

244

Wolfgang Aschauer

Staaten, in denen Politik und Medien von einem islamfeindlichen Diskurs geprägt sind, lässt sich aktuell ein negativeres Stimmungsbild ausmachen. Ein besonders deutlicher Anstieg ist hier beispielsweise in Schweden, ­Italien und den Niederlanden festzustellen, während in Belgien, Frankreich und Dänemark (trotz des Karikaturenstreits im Jahr 2006) eine signifikante Abnahme der Ablehnung von Muslimen zu beobachten ist. Um das Ausmaß der Islamophobie noch stärker in den Vordergrund zu stellen, sollen hier erste Daten aus dem Projekt Europäische Zustände präsentiert werden.67 In dieser Studie wurden in acht europäischen Staaten repräsentative Bevölkerungsumfragen durchgeführt und islamophobe Tendenzen mit fünf Aussagen (vierstufige Antwortkategorien) erhoben. In der folgenden Grafik wird die Zustimmungsrate (beide positiven Antwortkategorien zusammengerechnet) zu den zwei Aussagen „Muslime im Land stellen zu viele Forderungen“ sowie „Der Islam ist eine Religion der Intoleranz“ für alle acht beteiligten Länder illustriert. Die Abbildung zeigt, dass kritische Aussagen zum Islam bereits von der Mehrheit der Bevölkerung getroffen werden. In sechs von acht Staaten ist die Bevölkerung überwiegend der Ansicht, dass der Islam eine Religion der Intoleranz sei und in sieben von acht Ländern wird mehrheitlich angegeben, dass Muslime zu viele Forderungen stellen. Das Ausmaß islamophober Tendenzen scheint in Italien, Polen und Ungarn nach den Ergebnissen dieser Studie besonders hoch ausgeprägt zu sein, während sich zwischen Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien wenig klare Unterschiede in den Haltungen zeigen. In Portugal findet sich eine deutliche Diskrepanz in der Zustimmung zu den beiden Indikatoren. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht Intoleranz als immanenten Bestandteil des Islam, während nur ein geringer Teil der Bevölkerung Muslimen zu viele Forderungen unterstellt.68 67 Zu dieser Studie liegt zurzeit noch keine wissenschaftliche Publikation vor, erste Ergebnisse sind jedoch in einem Kurzbericht nachzulesen: http://www.uni-bielefeld.de/ikg/zick/Islam_ GFE_zick.pdf, (7.1.2011). 68 Insgesamt muss jedoch auch diese Messung der Islamophobie kritisch beurteilt werden. Es finden sich auch in den jährlichen Umfragen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Deutschland wenig Informationen zur Reliabilität und Validität der Skalen, siehe Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, 2002–2010. Somit muss rein aufgrund der gewählten Items eine Überprüfung der Islamophobie mit Skepsis beurteilt werden. Aussagen wie „Muslime stellen zu viele Forderungen“ oder „Die Ansichten über muslimische Frauen widersprechen unseren Werten“ verdeutlichen nicht islamfeindliche Tendenzen, sondern repräsentieren eher islam­ kritische Haltungen, von denen nicht automatisch auf Islamophobie geschlossen werden kann.

Frankreich Deutschland Ungarn Polen Italien

52,3 52,5 53,4 61,5 60,4

52,8 54,1 60 62,3 64,7

Terroristische Bedrohung und Islamophobie

245

Italien Polen Ungarn Deutschland Frankreich Niederlande Großbritannien Portugal 0

10

20

30 40 % Zustimmung

Muslime im Land stellen zu viele Forderungen.

50

60

70

Der Islam ist eine Religion der Intoleranz.

Abbildung 5: Aussagen zum Islam in einzelnen europäischen Staaten. Quelle: Eigene Darstellung auf Basis erster Daten zum Projekt Europäische Zustände

Insgesamt kann auf Basis dieser deskriptiven empirischen Analyse nicht näher bestimmt werden, welche individuellen, gesellschaftlichen, politischen oder medialen Einflussgrößen hauptsächlich für die Zunahme islamophober Haltungen verantwortlich sind. Im letzten Abschnitt des Beitrags wird versucht, zumindest einzelne Wirkungszusammenhänge zwischen der terroristischen Bedrohung, den politisch-medialen Folgen und den Reaktionen der Bevölkerung nachzuzeichnen und eine vorsichtige Prognose über künftige Konfliktkonstellationen zwischen authochthonen Mehrheiten und muslimischen Minderheiten bereitzustellen.

Gefahrenpotentiale des interkulturellen Zusammenlebens in Europa Die Anschläge vom 11. September auf das World Trade Center und das Pentagon hatten einen globalen Krieg gegen den islamistischen Terror zur Folge. Die globale Wirkungskraft der Anschläge hat nicht nur die gesamte Welt in politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht verändert, auch

246

Wolfgang Aschauer

in kultureller Hinsicht wurden selbst davon weitgehend unbeschadete westliche Länder zu Orten der Konfliktaustragung, wobei der Islam als Religion als entscheidender Konfliktfaktor definiert wurde.69 Wie die Analyse der Islamdebatten in Politik, Medien und Wissenschaft gezeigt hat, sind begriffliche Differenzierungen zwischen Islam, Islamismus und Terrorismus oft ungenügend vorhanden und bleiben deshalb auch im Islambild der Bürger/innen folgenlos. Muslime werden überwiegend als Angehörige einer dem Westen diametral entgegengesetzten Gegenwelt präsentiert. Dies führt dazu, dass die generelle Einstellung gegenüber dem Islam von Ambivalenz bis hin zu Misstrauen und Ablehnung geprägt ist. Integrationsprobleme in westlichen Gesellschaften betreffen jedoch nicht nur muslimische Minderheiten, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft. Desintegrationswahrnehmungen, die sich gegenwärtig in einer Über­ forderung vor der ungebremsten Dynamik des Kapitalismus manifestieren, spielen als Ursache für fremden- und islamfeindliche Tendenzen eine zentrale Rolle. Der globale gesellschaftliche Wandel hin zu einer trans­nationalen Wirklichkeit ist zwangsläufig mit radikalen Gegentendenzen verbunden, und dies nicht nur bei Muslimen, sondern auch innerhalb der europäischen Mehrheitsbevölkerung. Während die wirtschaftliche, politische und kulturelle Integration weiterhin von den europäischen Eliten forciert wird, suchen die Menschen verstärkt Rückhalt innerhalb der eigenen Nation und Kultur bzw. was darunter verstanden wird. Insgesamt spaltet sich die Bevölkerung in Modernisierungsbefürworter und -gegner und es findet eine zunehmende Polarisierung in den vorherrschenden Normen und Werten statt.70 In ­Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit sind vor allem jene Gruppierungen, die als Verlierer der rapiden gesellschaftlichen Transformationen bezeichnet werden können, geneigt, sich sukzessive von einer toleranten Weltsicht zu verabschieden. Dadurch erfährt deren verunsicherte Identität eine Entlastung; Ängste werden auf ‚das Unbekannte‘, ‚das Andere‘ übertragen. Der Islam als Feindbild trägt diesen Sicherheitsbedürfnissen perfekt Rechnung, er ist in zahlreichen europäischen Gesellschaften präsent und bedroht somit als fremde Gruppe die eigenen Errungenschaften der 69 Vgl. Werner Ruf, Islamischer Fundamentalismus, in: Peter Imbusch/Ralf Zoll (Hg.), Friedensund Konfliktforschung. Eine Einführung, Wiesbaden 2010, 309–332. 70 Die Pluralisierung der Werte offenbart sich nicht nur in Europa, sondern aktuell (Februar 2011) auch in beeindruckender Weise in den Unruhen und Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern Tunesien und Ägypten.

Terroristische Bedrohung und Islamophobie

247

westlichen Zivilisation. Zudem liefern islamistische Terroranschläge diesen Vorbehalten und Ängsten ständig einen neuen Nährboden. Neben der in europäischen Gesellschaften grassierenden Fremden- und Islamfeindlichkeit, die anhand empirischer Studien nachgewiesen werden konnte, sind Desintegrationswahrnehmungen auch auf eine zunehmende Politikverdrossenheit zurückzuführen. Rechtspopulistische Parteien spielen mit den vorhandenen Ängsten, punkten vor allem durch die Befürwortung einer strikteren Migrationspolitik, gepaart mit islamfeindlichen Statements, und gewinnen seit dem 11. September in zahlreichen westeuropäischen Staaten wie Österreich (FPÖ), Dänemark (Danish People Party), den Niederlanden (Geert Wilders) und jüngst auch in Schweden (Schwedendemokraten) und Finnland (Wahre Finnen) kontinuierlich an Zuspruch. Die Tendenz eines Rechtsrucks wird sich in Europa im Zuge der langfristigen Auswirkungen der Wirtschaftskrise möglicherweise fortsetzen und das interkulturelle Klima zwischen Mehrheitsbevölkerung und muslimischer Minderheit weiter beeinträchtigen. Die politische Instrumentalisierung der Islamfeindlichkeit trägt auf beiden Seiten zur Radikalisierung bei. Gerade deshalb ist es höchste Zeit, den pauschalisierenden, undifferenzierten, beleidigenden und teils sogar hetzerischen Aussagen von Islamkritiker/ inne/n mit sachlichen Argumenten zu begegnen und stärker auf die grundlegenden europäischen Werte wie Respekt und Toleranz zu fokussieren. Die europäischen Errungenschaften der Aufklärung müssen gegen die angesprochenen gesellschaftlichen Erosionstendenzen verteidigt werden.71 Dies kann nur durch eine sorgfältige wissenschaftliche Analyse, durch eine Kritik an stereotypen Sichtweisen und durch eine Bereitschaft zur sachlichen Diskussion bewirkt werden. An dieser Stelle sind sowohl die Politik als auch die Medien und die Wissenschaft gefordert, diesen Leitlinien des Diskurses im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Islam stärker gerecht zu werden.

71

Vgl. Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland, 179.

Monika Bernold

9/11 als transnationales Medienereignis Wissensproduktionen und Diskursstränge 2001–20101 Der 11. September 2001 eröffnete das 21. Jahrhundert mit einem folgenschweren Ereignis. Bald nach den Anschlägen war klar, dass es sich dabei um eines der bedeutendsten Medienereignisse der Geschichte handeln würde. Erstmals in der langen Tradition medialer Repräsentationen von Politik wurde ein Millionenpublikum live zum Zeugen eines Terroranschlags. Das Angriffsziel waren die USA. Die Täter wurden als Islamisten identifiziert, die im Auftrag der Terrororganisation Al Kaida gehandelt hatten und mehrere US-amerikanische Passagierflugzeuge in symbolträchtige Gebäude der Städte New York und Washington gelenkt hatten. Der US-amerikanische Nachrichtensender CNN war bereits wenige Minuten nach den Anschlägen um 8.49 Uhr Ortszeit auf Sendung. Die Reporterin Carol Lin meldete sich mit den Worten: „This is just in. You are looking at obviously a very disturbing live shot there. That is the World Trade Center, and we have unconfirmed reports this morning that a plane has crashed into one of the Towers“.2 CNN hatte als erste und zunächst als einzige Fernsehstation Zugriff auf Bilder, die das Ereignis zeigten. Hunderte Fernsehstationen in aller Welt übernahmen, je nach den jeweiligen Kooperationsabkommen, in der allerersten Phase der Berichterstattung das gesendete Bildmaterial von CNN. Die Loops der epochemachenden Schlüsselbilder zeigten die Momente des Anflugs und der Einschläge der Flugzeuge in die Türme des WTC vor strahlend blauem Himmel, zunächst aus der starren Perspektive der Panoramakameras, die von umliegenden Dächern auf das WTC gerichtet gewesen waren, später aus der Bodenperspektive, die 1

2

Dieser Aufsatz entstand im Kontext des FWF-Projekts „Perzeptionen von ‚Amerika‘ in Deutschland und Österreich seit dem 11. September 2001 im historischen und europäischen Kontext“ (Projektleitung: Margit Reiter) am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Kirsten Mogensen/Laura Lindsay/Xigen Li/Jay Perkins/Mike Beardsley, How TV News ­Covered the Crisis. The Content of CNN, CBS, ABC, NBC and Fox, in: Bradley Greenberg (Hg.), Communication and Terrorism, New York 2002, 101–120, 101 f.

250

Monika Bernold

den Blick der Flüchtenden repräsentierte.3 In den ersten Minuten wurden die Bilder des Crashs von CNN teilweise noch mit „Moments ago“ untertitelt, also versuchsweise zeitlich eingeordnet. Ebenfalls nur in der ersten Stunde waren Aufnahmen zu sehen, die als Bilder aus dem ‚News ­Copter von CNN‘ ausgewiesen waren und somit die Blickperspektive auf das Ereignis gewissermaßen autorisierten. Splitscreens, farbige Laufbänder und Schriftenunterlegungen sowie Senderlogos hingegen rahmten von Beginn an durchgehend die affektgeladenen Bilder, die zum Beispiel im ORF in den ersten Stunden nach dem Anschlag auf Studiomonitoren zu dauer­präsenten Bildern der Studiodekoration wurden. Mit den Live-Fernsehbildern der Anschläge schien sich die Differenz von dem Real-Ereignis in New York und seiner visuellen Darstellung auf CNN zunehmend zu verwischen. Gleichzeitig wurde mit der weltweiten Übertragung der Bilder auch ein Bewusstsein von der weltweiten Echtzeit-Visualisierung des Anschlags mitgesendet. Das Bewusstsein davon allerdings, dass dabei nur ein ganz spezifischer und ausschnitthafter medialer Blick auf das Ereignis gerichtet blieb, dass sehr vieles nicht sichtbar wurde, was stattgefunden hat, wurde in den bald folgenden Endlosschleifen der sich wiederholenden Schlüsselbilder des Ereignisses gelöscht und wohl auch ein Stück weit verdrängt. Der Großteil der Sender dehnte die Nachrichtenprogramme bald nach den Anschlägen auf den gesamten Sendeverlauf aus. ARD und ZDF berichteten dreißig, der ORF 43 Stunden live, nahezu ohne Unterbrechung.4 Das Fernsehen fungierte, so belegen Studien für Österreich, Deutschland und die USA, unmittelbar nach den Anschlägen als das erste und wichtigste Medium der Information, als „Alarmmedium“ wie der Kommunikationswissenschafter Carsten Brosda es nennt.5 Seit dem Jahr 2001 wurden die Fernsehbilder 3 4

5

Großteils nicht zu sehen waren die Opfer, die versehrten Köper bzw. deren Reste. Auch die Bilder des rauchenden Pentagon in Washington waren in den sich endlos wiederholenden Bildsequenzen sehr selten zu sehen. Im österreichischen Fernsehen ORF waren zwischen der ersten Meldung und dem Start der Sondersendung die CNN-Bilder der rauchenden Türme ohne Ton fast eine Minute lang − gewissermaßen jenseits journalistischer Deutung und Rahmung − ‚roh‘ auf Sendung. Zur ORF-Berichterstattung am 11. September 2001 vgl. auch den Beitrag von Margit Reiter zu Österreich in diesem Band. Vgl. Carsten Brosda, Sprachlos im Angesicht des Bildes. Überlegungen zum journalistischen Umgang mit bildmächtigen Ereignissen am Beispiel der Terroranschläge des 11. September, in: Christian Schicha/Carsten Brosda (Hg.), Medien, Terrorismus und der 11. September 2001, Münster-Hamburg-London 2002, 53–75, 66; „America Under Fire“ (Studie im Auftrag des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschaft durchgeführt von INTEGRALMeinungsforschungsinstitut) 2170/01, Oktober 2001.

9/11 als transnationales Medienereignis

251

von den Anschlägen auf das World Trade Center zu einem festen Bestandteil eines „transnationalen Bildwissens, das global zirkuliert und in nationale Narrativierungen, Visualisierungen und Deutungsangebote eingeschrieben wird“.6 9/11 als transnationales Medienereignis wurde aber auch sehr schnell in einen wissenschaftlichen Diskurs eingespeist, der seit nunmehr zehn Jahren mit verschiedenen Erkenntnisinteressen und disziplinären­Verfahrensweisen an der Herstellung des Ereignisses als diskursivem ­Medienereignis (mit) beteiligt ist. Ich werde im Folgenden einige ­Tendenzen und Transformationen skizzieren, die diese wissenschaftlichen Diskurse zu 9/11 während der letzten Dekade insbesondere im deutschsprachigen Raum der Kultur- und Sozialwissenschaften kennzeichneten.7 Die Perspektiven auf das Medien­ ereignis waren im Wissenschaftskontext der USA sicherlich andere als etwa im deutschsprachigen Raum. Dennoch bestimmte ein primär nationalstaatliches Paradigma den Großteil der Untersuchungen des transnationalen Medienereignisses. Wissenschaftliche Studien, die zu der unmittelbaren Berichterstattung oder den folgenden Deutungsmustern des Ereignisses im Fernsehen oder der Presse gemacht wurden, thematisierten überwiegend und zumeist unausgewiesen nur die jeweilige nationale Perspektive der Berichterstattung. Vergleichende oder transferorientierte Zugänge hingegen blieben bis heute eher selten.8 Ich werde im Folgenden insbesondere Studien­ aus dem deutschsprachigen Raum berücksichtigen, die sich explizit mit dem Thema der Bilder und Medien beschäftigen. Auch ausgewählte US-amerikanische Arbeiten kommen exemplarisch in den Blick und in Ausnahmefällen werde ich auch wissenschaftliche Beispiele aufnehmen, in denen die Bedeutung der Medien für die Anschläge und deren gesellschaftliche Verar6 7

8

Hilde Hoffmann, Der 11. September 2001 als Fernsehereignis. Überlegungen zum deutschen Fremdsystem, in: Christian Bremshley/Hilde Hoffmann/Yomb May/Marco Ortu (Hg.), Den Fremden gibt es nicht. Xenologie und Erkenntnis, Münster 2004, 92–94, 72. Berücksichtigt wurden in erster Linie wissenschaftliche Monographien und Sammelbände zum Thema sowie ausgewählte empirische Studien und Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Zusammenschau erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Nicht berücksichtigt wurden Diplomarbeiten und Dissertationen. Eine systematische Auswertung derselben wäre sicherlich ein lohnenswertes Kapitel einer erst noch zu schreibenden Diskursgeschichte der Wissensproduktion zu 9/11 als Medienereignis. Vgl. Matthias Junge, Die Deutung des 11. September in ausgewählten Tageszeitungen, in: ­Ronald Hitzler/Jo Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung. Die Gesellschaftliche Verarbeitung des Terrors, Konstanz 2003, 125–139.

252

Monika Bernold

beitung nur am Rande oder implizit auftaucht. Das vorgeschlagene Phasenmodell versteht sich als analytisches Instrument, um dominante Manifestationen und auch Veränderungen in den wissenschaftlichen Diskursen der letzten zehn Jahre zu 9/11 als Medienereignis zu rekonstruieren. Als solche sind die Phasen als grobe Orientierungsrahmen konzipiert, deren Ränder nicht eindeutig zu ziehen sind und deren Inhalte sich teilweise überschneiden und überlagern. Trotz inhaltlich teils anderer Schwerpunkt­setzungen, die mit der größeren Betroffenheit der USA aber auch mit WahrnehmungsHierarchien in den westlichen Wissenschafts­kulturen zu tun haben, lassen sich die drei im Folgenden beschriebenen Phasen der Wissens­produktion sowohl im US-amerikanischen wie auch im deutschsprachigen Raum gleichermaßen nachweisen.

Phase 1: Krisenberichterstattung und Reflexionen des medialen Terrorismus (2001-2003) Die Erschütterung, die das Ereignis in großen Teilen der Welt auslöste, wurde sehr schnell auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung an die Frage der Bilder und der Medien geknüpft. Medienphilosoph/inn/en und Kulturwissenschafter/innen verwiesen insbesondere in der ersten Phase der Aufarbeitung auf die westlichen Medien- und Informationsgesellschaften als grundlegende strukturelle Voraussetzung für die spezifische Form der Anschläge. Der Kulturwissenschafter und Filmkritiker Georg Seeßlen und der Journalist Markus Metz deuteten die Anschläge 2002 als „visuelle Kriegserklärung“; ohne Autor und ohne Bekennerschreiben fungiere diese Kriegserklärung gewissermaßen als „reines Bild“.9 Markante Buchtitel wie Krieg der Bilder - Bilder des Krieges10 oder Bilder des Terrors - Terror der Bilder 11 kennzeichneten die frühe Tendenz der Themati-

9

Markus Metz/Georg Seeßlen, Krieg der Bilder – Bilder des Krieges. Abhandlung über die Katastrophe und die mediale Wirklichkeit, Berlin 2002, 158. 10 Ebd. 11 Michael Beuthner/Joachim Buttler/Sandra Fröhlich/Irene Neverla/Stephan Alexander Weichert (Hg.), Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September, Köln 2003.

9/11 als transnationales Medienereignis

253

sierung der Anschläge als bildzentriertes Medienereignis.12 Markiert wird in den genannten Buchtiteln nicht nur die affektive Wucht des Ereignisses durch die rhetorische Figur der Wiederholung, angesprochen ist d ­ arin auch die Frage nach dem Verhältnis von Realität und medialer Repräsentation. „Medienbilder und Realereignisse verschmelzen in der visuellen Vermittlung der Explosion“, diagnostizierte die Medienwissenschafterin Joan Kristin Bleicher 2003.13 Die Anschläge des 11. September, die Heinz Bude mit Anführungszeichen als „telegenen Horror“ und „absolutes Ereignis“ bezeichnete, wurden darüber hinaus als „terroristische“ Antwort auf ein westliches System (des Wirtschaftens) gedeutet, „in der die Ununter­ scheidbarkeit von Realität und Fiktion zum Prinzip geworden ist.“ 14 Die mediale Dimension des Ereignisses war auch von Beginn an mit dem Verweis und der Analogie zum Hollywood-Film verknüpft. Schon die TV-Moderator/inn/en hatten unmittelbar am Tag des Ereignisses mehrfach Bezüge zu US-amerikanischen Katastrophenfilmen hergestellt. Insbesondere der Science-Fiction-Film Independence Day (Roland Emmerich) aus dem Jahr 1996, aber auch Armageddon (Michael Bay) mit Bruce Willis aus dem Jahr 1998 wurden von den deutschen Journalist/inn/en während der un­mittelbaren Ereignisberichterstattung als scheinbar filmische Vorlagen des Ereignisses, gewissermaßen als filmische Matrize der Bilder des Anschlags zitiert. Das Phänomen des ‚Déja vu‘ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung stand auch im Mittelpunkt von medienwissenschaftlichen Reflexionen in der ersten Phase wissenschaftlicher Analysen. Die Medienwissenschafterin Joan Kristin Bleicher interpretierte den journalistischen Hollywood­vergleich während der unmittelbaren Krisenberichterstattung als Orientierungshilfe für die Journalist/inn/en und das Publikum: „Peter Koeppel (der diensthabende RTL-Moderator, M.B.) nutzte schon früh 12

13 14

Einzelne Künstler sprachen dem Medienereignis 9/11 Kunstwert zu, wie etwa der britische Künstler Damien Hirst: „The thing about 9/11 is that it‘s kind of an artwork in its own right. It was wicked, but it was devised in this way for this kind of impact. It was devised visually.” Zitiert in: Rebecca Allison, 9/11 wicked but a work of art, says Damien Hirst, in: Guardian, 11.9.2002. Vgl. Zur Bild-Debatte im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft u.a. Birgit Richards, 9–11. World Trade Center Image Complex + shifting image, in: Kunstforum International: Das Magische,164, 2003, 36–73. Joan Kristin Bleicher, Terror made in Hollywood, in: Hitzler/Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung, 157–172, 158. Heinz Bude, Die Rache der Überflüssigen, in: Hitzler/Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung, 95–103, 95.

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Erzählkonventionen des Spielfilms, um Orientierung und Bedeutung herzustellen – nach 30 Minuten sagte Koeppel: ‚Etwas, was wir nur aus Hollywood kennen, hat sich zur Bürozeit in Manhattan zugetragen‘.“ 15 Der Kunsthistoriker Joachim Buttler konstatierte 2003, dass Katastrophenfilme wie lndependence Day F ­ ormen einer Sensationsästhetik etablierten, die im Falle der Anschläge beim Publikum sofort wieder abrufbar gewesen sind.16 ‚Turm‘ und ‚Hochhaus‘ als Anschlagsziele wurden in ikonographischer Perspektive in eine Geschichte der Symbole der US-amerikanischen Geschichte eingelesen und auch hier wieder mit filmischen Bildern aus Hollywood verknüpft.17 Noch wirkungsmächtiger scheint ein zweites Deutungsmuster, das in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Medienereignisses 9/11 in der ersten Phase sehr dominant gewesen ist. Es fokussiert den Zusammenhang von Medien und Terrorismus. Die Anschläge wurden als ein Bruch in der modernen Repräsentationslogik westlicher Industriegesellschaften interpretiert. Die Neuheit und Einzigartigkeit des Medienereignisses 9/11 bestünde demnach darin, dass die westliche Medienlogik selbst, wie sie sich etwa in einem zunehmend globalisiert agierenden Fernsehsystem ausdrückt, zu einem Instrument islamistischer Terroristen wurde. Der französische Medien­philosoph Jean Baudrillard hat diese Lesart sehr früh artikuliert. Die Terroristen hätten das System des westlichen Kapitalismus perfekt simuliert, um es mit seinen eigenen Waffen zu zerstören. Finanzspekulationen, Medienspektakel und die „Banalität des amerikanischen Alltagslebens“, so Baudrillard, seien von den Terroristen nicht nur imitiert und angeeignet, sondern auch als Maske verwendet worden. Die Funktion, die B ­ audrillard dieser Politik des ‚unsichtbaren‘ Terrorismus bereits zwei Monate nach den Anschlägen zuordnete, lautete: „Terrorism, like virus, is everywhere.“18 Diese Einschätzung blieb ähnlich umstritten wie jene des slowenischen Philo­sophen Slavoj Žižek. In dessen Interpretation wurde der Angriff als ein Angriff auf die Virtualität des Finanzkapitalismus und des 15 16

Bleicher, Terror made in Hollywood, 159. Joachim Buttler, Ästhetik des Terrors – Die Bilder des 11. September 2001, in: Beuthner u.a. (Hg.), Bilder des Terrors – Terror der Bilder?, 26–41, 29 ff. 17 Ebd. 18 Jean Baudrillard, The spirit of terrorism, in: Le Monde 2.11.2001, http://www.jiscmail.ac.uk/ lists/cyber-societay-live-html, (5.12.2010); Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, Wien 2002.

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globalen Mediensystems gedeutet, der gewissermaßen eine Rückkehr in das Reale erzwungen habe.19 Im filmischen Imaginären der USA, so Žižek, existierten die Anschläge bereits vor ihrer Realisierung: „Darin liegt der Grund für die häufig betonte Assoziation dieser Angriffe mit den Katastrophenfilmen Hollywoods: das Undenkbare, das geschah, war schon Gegenstand der Fantasie, sodass Amerika in gewisser Weise dem begegnete, worüber es fantasierte.“20 Žižek argumentierte in diesem Text selbst mit vielen Filmbeispielen, entlehnte für den Titel ein Zitat aus dem Film Matrix (USA 1999) und verglich das Ereignis historisch mit dem mehrfach verfilmten Untergang der Titanic zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wurde also der Film in der ersten Phase als zentrale mediale Matrix der Anschläge reflektiert, so spielte das Fernsehen als dominante Form der Mediatisierung des Ereignisses auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung schon früh eine entscheidende Rolle. Die Diagnose, wonach die Terror­ planung nach den Produktionsbedingungen des Fernsehens funktionierte, verband sich im Anschluss an Paul Virilios21 Analysen schon bald mit jener, wonach die Bilder des Fernsehens der eigentliche Kern des Anschlags gewesen seien 22. Die Instrumentalisierung der Medien für einen Anschlag auf die US-amerikanische Zivilgesellschaft wurde gleichermaßen konsensuell festgestellt, wie auch in Hinblick auf die Frage untersucht, inwiefern Journalist/inn/en dabei indirekt zu Mittätern gemacht worden sind. Die westlichen Medien als ‚unfreiwillige Waffen in den Händen der Terroristen‘ war die eine Dimension dieses wissenschaftlichen Diskursstranges, der den Zusammenhang von Medien und Terror reflektierte. Die Analyse des Auf- und Ausbaus von Al Jazeera sowie der Effekte eines arabischen Gegenspielers zu dem US-amerikanischen Nachrichtenmonopol von CNN der andere. Die arabischen Nachrichten-Satellitensender Al Jazeera (Qatar seit 1996), Abu Dhabi TV und Al Arabyia (beide Vereinigte Arabische Emirate) wurden – wenn auch nur vereinzelt – zum Gegenstand kommunikationswissenschaftlichen Interesses. Diese Sender, so meint etwa Oliver Hahn, hätten nach 2001 erst19

Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen, in: Die Zeit 39/2001, http://www.zeit. de/2001/39/Willkommen_in_der_Wueste_des_Realen, (10.12.2010). 20 Ebd. 21 Der französische Medienphilosoph Paul Virilio konzipierte 2002 die Ausstellung Ce qui arrive in der Pariser Foundation Cartier. Die Anschlagsbilder von 9/11 wurden dabei in eine Geschichte von exzessiven Medialisierungen von Katastrophen und Unfällen eingereiht. 22 Vgl. Bleicher, Terror made in Hollywood, 158; Brosda, Sprachlos im Angesicht des Bildes, 58.

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mals das weltweite Monopol westlicher Nachrichtensender unterlaufen und damit einen signifikanten Strukturwandel global operierender Satellitennachrichten-Fernsehsender eingeleitet.23 In der ersten Phase wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Medienereignis wurden also insbesondere die Rahmenbedingungen und Strukturen, die Verläufe aber auch die individuellen journalistischen Aus­ prägungen der Krisenberichterstattung in das Blickfeld gerückt. Kommunikationswissenschaftlich orientierte Studien untersuchten Deutungsphasen der Krisenberichterstattung und entwickelten verschiedene Modelle der ‚Medien­ ereigniskarriere‘. Die US-amerikanischen Forschungsergebnisse wurden von Kirsten Mogensen und ihren Mitautor/inn/en in einem dreigliedrigen Phasenmodell zusammengefasst (Informationsbeschaffung / Reaktionen der offiziellen Stellen und der Bevölkerung und erste Deutungsangebote / soziale Reintegration), das besonders die Berichterstattung am 11. September selbst ­ tephan Alexander in den Blick nimmt.24 Der deutsche Mediensoziologe S Weichert skizzierte 2006 den Zyklus der Bericht­erstattung am Beispiel des deutschen Fernsehens mittels eines Fünf­phasen-Modells: Liveness, Ästhetisierung, Dramatisierung, Ritualisierung und Historisierung.25 Thematisiert wurden in dieser Anfangsphase auch Fragen der journa­ listischen Ethik und die Notwendigkeit von Richtlinien zur Krisen­ berichterstattung, also die Einführung normativer Leitbilder für Journalist/inn/en. Ein signifikanter Fokus des wissenschaftlichen Interesses lag daher in den ersten beiden Jahren nach den Anschlägen auf den Journalist/inn/en als zentralen Akteuer/inn/en des Medienereignisses. Im Mittelpunkt der Analyse standen dabei zumeist die emotionalen und institutionellen Belastungen und Zwänge, die unter den Extrembedingungen der Berichterstattung im Zuge der Anschläge auftraten. Die Stu23

Vgl. Oliver Hahn, Arabisches Satelliten-Nachrichtenfernsehen. Entwicklungsgeschichte, Strukturen und Folgen für die Konfliktberichterstattung aus dem Nahen und Mittleren Osten, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 53, (2005) 2–3, 241–259. 24 Mogensen u.a., How TV News Covered the Crisis, 103. In der Studie von Baum/Fischer (2001) wurde in Bezug auf die Berichterstattung im deutschen Fernsehen folgender Verlauf rekonstruiert: Katastrophenbilder in Echtzeit, Entstehung des Feindbildes, Mobilmachung, Gegenschlag und Ungewissheit; vgl. Achim Baum/Anne Fischer, Under Attack. Der 11. September und die Folgen in der Berichterstattung der Medien. Eine Dokumentation, Marburg 2001. 25 Stephan Alexander Weichert, Die Krise als Medienereignis. Über den 11. September im deutschen Fernsehen, Köln 2006.

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die der ­Lousiana State University zur Krisenberichterstattung der größten US-amerikanischen Sendeanstalten, die auf einer Inhaltsanalyse der ­Programme und auf Interviews mit den verantwortlichen Journalist/inn/en basierte, kam in Bezug auf CNN etwa zu dem Schluss: „Professionalism, not Americanism, appeared to be the guiding force in the early hours of 9/11 at CNN.“26 Insbesondere die Wahl der Interviewpartner/innen wurde demnach sorgfältig abgewogen. Gail Chalef, Verantwortliche des Departments Network Booking, das bei CNN zuständig für die Auswahl der live ­Interviewpartner/innen und Expert/inn/en gewesen ist, wird in der Lousiana-Studie zitiert: „You were asking if we would book somebody who’s angry at Muslims, well that’s (…) that’s not balanced, that’s not what we do.“27 Auch in anderen nationalen, regionalen oder senderspezifischen Kontexten wurden qualitativ und quantitativ die Grade der Professionalisierung der Berichterstattung oder auch der Status und die Funktion von Expert/inn/ en und von Quellen während der Krisenberichterstattung erhoben. Stefan Uhl untersuchte in qualitativen Leitfadeninterviews wie deutsche Fernseh­ moderator/inn/en den 11. September bewältigten.28 Christian Brosda analysierte die Krisenberichterstattung der deutschen Moderator/inn/en unter dem Signum der Überwältigung der Sprache durch das Bild.29 Bei den deutschen Sendern kamen die bekanntesten Moderator/inn/en zum Einsatz, die sich „bereits als Welterzähler der Wirklichkeit ­etabliert hatten“.30 Das waren Ulrich Wickert bei der ARD, Peter Koeppel bei RTL, im ORF moderierten zunächst der dem Publikum als Korrespondent in Washington vertraute Eugen Freund und die ZIB 1-Moderatorin Hannelore­Veit, ab 17 Uhr der langjährige und populäre ZIB 1-Moderator Josef Broukal. 2001 kam es zu einer gesellschaftlichen Debatte über einen Text von Ulrich Wickert, der am 4. Oktober 2001 in der Zeitschrift Max veröffentlicht worden ist und in dem der Moderator Präsident Bush mit dem mutmaßlichen Urheber der Terroranschläge Osama bin Laden verglichen hat. Wickert bezog sich darin auf einen Artikel der indischen 26 Mogensen u.a., How TV News Covered the Crisis, 107. 27 Ebd., 109. 28 Stefan Uhl, Zwischen Moderation und Emotion: Wie deutsche Fernsehmoderatoren den 11. September bewältigten, in: Beuthner u.a. (Hg.), Bilder des Terrors – Terror der Bilder?, 113–134, 115 ff. Vgl. dazu auch den Beitrag von Eugen Freund in diesem Band. 29 Brosda, Sprachlos im Angesicht des Bildes. 30 Bleicher, Terror made in Hollywood, 159.

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Schriftstellerin Arundhati Roy.31 Die Aussagen Wickerts führten zu Entlassungsforderungen durch Angela Merkel und zur Forderung nach einem TV-Verbot durch die BILD-Zeitung. Wickert entschuldigte sich daraufhin in den Tagesthemen und nahm den inkriminierten Vergleich als ein kommunikatives Missverständnis zurück. Der Mediensoziologe Schwab-Trapp, der diese Debatte 2003 untersuchte, kommt zu dem Schluss, dass Wickerts Beitrag als Verunsicherung eines normativen Diskurskonsenses empfunden wurde: „Er ‚gefährdet‘ das besondere deutsch-amerikanische Verhältnis, setzt sich dem Verdacht des Antiamerikanismus aus und stellt die ‚uneingeschränkte Solidarität‘ mit Amerika infrage.“32 Die große Empörung, die die Aussage Wickerts, nicht aber die gleiche Aussage der indischen Autorin Roy in der deutschen Öffentlichkeit im Oktober 2001 auslöste, wird diskursanalytisch damit erklärt, dass der deutsche Fernsehmoderator als solcher unter eine nationale Konsenspflicht fiel, die für die indische Autorin nicht gegolten hatte. In den eher literaturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaften wurde vor 2003 insbesondere die Ambivalenz von Bilderfülle und Bildermangel rund um die Live-Berichterstattung im Fernsehen reflektiert. Die Ästhetisierung des Grauens und das Paradox von maximaler Unsichtbarkeit (von Tätern und Opfern) einerseits und exzessiver Sichtbarkeit (WTC-Crash) andererseits waren zentrale Fragestellungen. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit der ersten beiden Jahre insgesamt stand jedenfalls die Fernsehberichterstattung als Krisenberichterstattung. Der Zusammenhang von Ereignis-Berichterstattung und staatlicher oder medialer Zensur wurde demgegenüber eher selten thematisiert.33

31 32 33

Ulrich Wickert, Einige Gedanken über Brüder im Geiste und den Umgang mit Wahrheit, in: Max, 4.10.2001. Michael Schwab Trapp, Der 11. September und der Zwang zum Konsens. Eine diskursorientierte Kontextanalyse, in: Hitzler/Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung, 151. Eine Ausnahme dabei ist die Queer-Theoretikerin und Philosophin Judith Butler, die ihr Buch Precarious Life, mit dem sie 2002 in den post-9/11-Diskurs intervenierte, mit der Diagnose von zunehmender Intellektuellenfeindlichkeit und zunehmender Akzeptanz von Medien-Zensur eröffnet. Vgl. Judith Butler, Explanation and Exoneration or what we can hear, in: dies., Precarious Life, London-New York 2004, 1–19, 1.

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Phase 2: Medienkulturelle Verarbeitungsformen von 9/11 (2003–2008) Während bis 2003 insbesondere die Krisenberichterstattung des 11. September und der Wochen danach und damit auch das Medium Fernsehen im Zentrum des Interesses stand, verschob sich das Interesse nach zwei bis drei Jahren in der zweiten Phase der Wissensproduktion immer häufiger auf kulturelle Verarbeitungsformen des 11. September in anderen medienkulturellen Feldern. Während dieser zweiten Phase wurden einerseits insbesondere Film, Literatur, aber auch Comic oder Popkultur als mediale Verarbeitungsräume des Ereignisses wissenschaftlich untersucht. Grundlegendes Material und Objekt wissenschaftlicher Analyse und Deutung waren dabei insbesondere Filme und popkulturelle Produkte, die ab 2003 vermehrt zu dominanten Aushandlungs- und Verarbeitungsräumen von 9/11 wurden. Andererseits gerieten in dieser zweiten Phase vermehrt spezifische inhaltliche Topoi in den Blick, die mit der gesellschaftspolitischen Ver­ arbeitung der Anschläge im medienkulturellen Feld verknüpft gewesen sind und die insbesondere den medialen Aspekt des eskalierenden ‚War on ­Terror‘ adressierten. Mediale Repräsentationen des Islam und Islamophobie, Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen bzw. geschlechterpolitisch motivierte Bilddiskurse, und (medien)historische bzw. vergangenheitspolitische Verarbeitungen der Anschläge durch unterschiedliche Medien wurden nunmehr vermehrt thematisiert. Bereits 2002 hatte der von dem Franzosen Alain Brigand produzierte Kompilationsfilm 09’11’01’, für den elf Regisseurinnen und Regisseure die Anschläge mittels unterschiedlicher Genres und von verschiedenen politischen, kulturellen, geographischen und stilistischen Blickwinkeln aus reflektierten,34 eine markante filmische Position zu dem Ereignis eingenommen. In den USA selbst kam es nach einer Phase des filmischen Stillstandes in Bezug auf eine explizite Thematisierung des Traumas im Jahr 2003 mit Oliver Stones World Trade Center zur ersten Auseinandersetzung Holly34 Youssef Chahine, Amos Gitai, Alejandro González Iñárritu, Shohei Imamura, Claude ­Lelouch, Ken Loach, Samira Makhmalbaf, Mira Nair, Idrissa Quedraogo, Sean Penn, Danis Tanovic. Die meisten der Kurzfilme thematisieren den Moment, in dem einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen an verschiedenen Orten der Welt von dem Ereignis erfahren.

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woods mit 9/11. In der überaus konventionell gestalteten Geschichte wird von Cops erzählt, die beim Aufprall des Flugzeuges im WTC verschüttet werden und auf Rettung warten. Im gleichen Jahr lief der Film Flight 93 an, in dem der britische Regisseur Paul Greengrass für Universal in Echtzeit die Ereignisse in dem entführten Flugzeug, das sein mutmaßliches Ziel, das Weiße Haus in Washington, nicht erreichte und auf einem Feld in Pennsylvania abstürzte, in einer Art Dokudrama rekonstruiert. Ganz anders angelegt, aber auch besonders signifikant für die filmischen Auseinandersetzungen mit 9/11 war Michael Moores propagandistischer, Bush-kritischer Dokumentarfilm Fahrenheit 9/11 aus dem Jahr 2004, der im gleichen Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme gewann und in Europa wie auch in den USA Zuschauerrekorde brach, allerdings insbesondere in den USA auch sehr kontroversiell aufgenommen wurde. Die Untersuchung filmischer und televisueller Verarbeitungsformen von 9/11 fand sowohl im US-amerikanischen wie auch im deutschsprachigen Kontext statt. Der Sammelband von Winston Dixon Wheeler, Film and ­television after 9/11 aus dem Jahr 2004 ist ein symptomatisches Beispiel für diesen Schwerpunkt.35 In seiner Einleitung geht Wheeler auf den Omnibusfilm 09’11’01’ aus dem Jahr 2002 ein, der in den USA, so Wheeler, von vielen als Zeichen eines weit verbreiteten transnationalen Antiamerikanismus rezipiert wurde, wohingegen Wheeler den Film als „far from being anti American, is more accurately critical of American politic in the wake of 9/11“ beschreibt.36 Ina Rae Hark analysiert in Wheelers Sammelband die populäre HBO-TV-Serie ‚24‘. Diese wurde bereits vor 9/11 konzipiert und am 6. November 2001 erstmals ausgestrahlt. Serbische Milizen verkörperten darin die Terroristen.37 An diesen filmischen Beispielen wird deutlich, dass die Analyse filmischer und televisueller Verarbeitungsformen auch mit globalisierten und transnationalen Bedeutungsarrangements zu tun hat, die es jeweils zu entschlüsseln und zu kontextualisieren galt. Bereits 2004 erschien der erste deutschsprachige Sammelband, der kulturwissenschaftlich orientiert war und verschiedene medienkulturelle Verarbeitungsformen von 9/11 behandelte, wobei mehrere Beiträge davon filmi35 36 37

Winston Dixon Wheeler (Hg.), Film and Television after 9/11, Illinois 2004. Ebd., 4. Rae Hark, ‚Today is the longest Day of My Life’ - 24 as Mirror Narrative of 9/11, in: Wheeler (Hg.), Film and television after 9/11, 121-141.

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sche Narrative des 11. September thematisierten.38 2008 und 2009 erschienen zwei weitere Sammelbände in Deutschland, die schon auf die dritte Phase der Wissensproduktionen zu 9/11 vorausweisen. Hier werden teilweise bereits nicht mehr primär mediale Verarbeitungsformen des Ereignisses befragt, sondern die kulturellen Verarbeitungen von 9/11 als Modus aktueller Gegenwartserfahrung thematisiert. Der literaturwissenschaftlich orientierte und in diesem Zusammenhang paradigmatische Sammelband von Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen aus dem Jahr 2008 versuchte die medienkulturelle Verarbeitung von 9/11 durch eine Kapitelstruktur in den Griff zu bekommen, die sich an der jeweiligen Form der Mediatisierung orientiert. Unterschieden werden dabei Literarisierungen (u.a. Romane, Gedichte), Inszenierungen (u.a. Theater, Performance und Popmusik) und Visualisierungen (u.a. Mediengeschichte des 11. September, Comics, deutsches Fernsehen, Fotografie).39 Auch in dem Sammelband von Sandra Poppe, ­Thorsten Schüller und Sascha Seiler, der großteils Texte von Doktorand/inn/en dokumentiert, wurden im Jahr 2008 Beiträge zu Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien versammelt.40 In diesem Band geht es, so der Klappentext, „nicht nur um eine Inventarisierung von Repräsentationen des Terrors in Medien, visueller Kunst und Literatur; vielmehr wird aufgezeigt, wie sehr 9/11 Denkmodalitäten verändert hat.“41 Sascha Seiler untersuchte darin etwa die Fernsehserie Battlestar 9/11, ein Remake einer 70er-Jahre-Science-Fiction-Serie, in der es, so Seiler, einen ganz direkten Bezug auf 9/11 gibt, wenn etwa der religiöse Fanatismus der Zylonen, deren Ziel es ist, die Menschen auszulöschen, als Allegorie auf den radikalen Islamismus fungiere.42

38

Vgl. u.a. Andreas Jahd Sudmann, 9/11 im fiktionalen Film 11’09’01’, in: Matthias Lorenz (Hg.), Narrative des Ensetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, Würzburg 2004, 117-136; Bernd Scheffer, ‚wie im Film…‘. Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods, in: Lorenz (Hg.), Narrative des Ensetzens, 81-105. 39 Ingo Irsigler/Christoph Jürgensen (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 255) Heidelberg 2008. 40 Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hg.), 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld 2009. 41 Vgl. dazu auch Thomas Waitz, Die Frage der Bilder. 9/11 als filmisch Abwesendes, in: Poppe u.a. (Hg.), 9/11 als kulturelle Zäsur, 223–238. 42 Sascha Seiler‚ ‚Battlestar 9/11‘. Der 11. September 2001 als Zäsur in amerikanischen Fernsehserien, in: Poppe u.a. (Hg.), 9/11 als kulturelle Zäsur, 239-258, 243 f.

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In vielen Veröffentlichungen nach 2003, auch in jenen die 9/11 als Medien­ ereignis fokussieren, kommt dem Thema der Islamophobie, der Alterität und den medialen Feindbildkonstruktionen immer gewichtigere Bedeutung zu.43 Der Afghanistankrieg und der Irakkrieg sind die Folie für wissenschaftliche Studien, die sich kritisch mit der medialen Feindbildkonstruktion des Islam auseinandersetzten. Medienwissenschafterin Hilde Hoffmann etwa analysierte den 11. September als mediatisiertes, symbolisches und bildhaftes Ereignis am Beispiel der Tagesschau Extra (ARD) am Abend des 11. September 2001.44 Hoffmann analysiert stereotype Orientalismen und rekonstruiert die Berichterstattung in Hinblick auf die Attribuierung der islamisch orientierten Bevölkerung mit dem Kollektivsymbol ‚Masse‘. Die visuelle Montage der ­Bilder von ungeordneten Massen im ‚Orient‘ gegenüber Einzelbildern rationaler Subjekte, zumeist Politiker oder auch organisierter militärischer Formationen im ‚Okzident‘ würden dichotome Stereotype herstellen und verfestigen. Viele der Kollektivsymbole nach 9/11, so Hoffmann, erinnern an antisemitische S ­ tereotypen, wie die ‚Unsichtbarkeit‘ der Fremden in der eigenen Gesellschaft, die ‚Mobilität‘ und ‚Vernetzung‘ oder ‚weltweite Verschwörung‘.45 Demgegenüber postulierte der deutsche Politologe Klaus Leggewie 46 mittels Bezugnahme auf die Weimarer Republik eine ‚selbstreflexive‘ Gegnerforschung im Namen der Aufklärung.47 Al Kaida sei Resultat und Motor der transnationalen Weltgesellschaft, die primär mittels globalisierter Medienlandschaften skizziert wird.48 Über die Fernsehsender Al ­Jazeera und Al Arabyia würden „Medien-Volkstribune den entfremdeten und verelendeten arabischen Massen“ Al Kaida-Botschaften anbieten, die die Diaspora-Jugendlichen in Europas Einwanderungsgesellschaften 43

Aber auch die Popkultur verhandelte vermehrt die Frage des ‚Anderen‘. Stellvertretend sei hier auf Slim Shadys (Eminems) Video zu seiner Single ‚Without me‘ aus dem Jahr 2002 verwiesen, in dem er als Osama bin Laden verkleidet zu sehen ist. 44 Hoffmann, Der 11. September 2001 als Fernsehereignis, 81 und 86 f. 45 Ebd. 46 Auf der Homepage von Klaus Leggewie erscheint unter dem Menüpunkt Biographie ein Foto des Wissenschafters in früheren Jahren in New York, im Bildhintergrund zu sehen die Türme des WTC. Hier wird, so könnte diese Darstellungsform gelesen werden, das Medienereignis 9/11 in Form der öffentlichen Selbstdarstellung eines Wissenschafters gewissermaßen symbolisch rückgängig gemacht. 47 Claus Leggewie, Der andere Elfte September. Mediale Spiegelungen eines freudig begrüßten Ereignisses, in: Friedrich Lenger (Hg.), Medienereignisse der Moderne, Darmstadt 2008, 192– 204, 201. 48 Ebd., 196.

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gleich miterreichten.49 Leggewie analysiert das Internet als Hauptplattform des Dschihadismus und erkennt in diesem Zusammenhang, was Al Kaida „künftig sein soll, nämlich Kern einer globalen sozialen Bewegung, die dank der besonderen Diaspora, Affinität und Tauglichkeit der digitalen Medien auf Akteure in den westlichen Gesellschaften übergreift“.50 Mit dem historischen Vergleich zur Weimarer Republik bei Leggewie­ist angesprochen, was ab 2003 auch vermehrt in den expliziten Fokus wissenschaftlicher Erkenntnis gerückt wird, nämlich die Frage nach dem historischen Vergleich und der vergangenheitspolitischen Dimension des Ereignisses in den Medien. Die Filmwissenschafterin Marcia Landy etwa rekonstruierte Geschichtsdarstellungen in US-amerikanischen Fiction-­Filmen und Dokumentationen zu Pearl Harbour, die rund um 9/11 entstanden sind.51 Diese fungierten, so Landy, als ganz spezifische Re-Etablierung eines nationalen Selbstverständnisses, das durch den Bezug auf Geschichte und die Abgrenzung von einem als böse kodierten Anderen funktionierte.52 Auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek fragte anlässlich des fünften Jahrestages der Anschläge im britischen Guardian am Beispiel von den beiden post-9/11-Filmen, United 93 (Paul Greengrass, GB 2003) und World Trade Center (Oliver Stone, USA 2003) nach der historischen Bedeutung von 9/11. Der historische Bezug, den Žižek herstellt, ist an dieser Stelle 1989 und das damit verbundene symbolische Ende des Kommunismus, das seinerseits mit der Utopie einer globalisierten neoliberalen Weltordnung verknüpft worden ist. Diese Utopie sei mit 9/11 in die ‚reale Geschichte‘ rückgeführt worden.53 „(…) September 11 is the symbol of the end of this utopia, a return to real history. A new era is here with new walls everywhere, between Israel and Palestine, around the EU, on the US-Mexico and Spain-Morocco borders.”54 49 Ebd., 198. 50 Ebd., 199. Die zeitliche Korrespondenz des Aufschwungs von web 2.0.und 9/11 wird in vielen Studien vage angeführt, und wird gerne mit dem Netzwerkcharakter des ‚neuen‘ Terrorismus assoziiert; vgl. u.a. Tom Holert, Bild-Ereignisse, in: ders., Regieren im Bildraum, Berlin 2008; Jeffrey Melnick, 9/11 Culture. America Under Construction, Malden-Oxford 2009. 51 Marcia Landy, America under Attack: Pearl Harbor, 9/11, and History in the Media, in: Wheeler (Hg.), Film and Television after 9/11, 79–101. 52 Ebd., 95 f. 53 Slavoj Žižek, On 9/11, New Yorkers faced the fire in the minds of men. Hollywood‘s attempts to mark the 2001 attacks ignore their political context and the return to history they symbolise, in: The Guardian, 11.9.2006. 54 Ebd.

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Die Verbindung von 9/11 als Medienereignis mit historischen Bedeutungskomplexen, die ihrerseits wieder als Instrumente der Gegenwartsanalyse gebraucht werden, so wie Žižek dies hier vorführt, bleibt ein kontinuier­liches Muster in öffentlichkeitswirksamen Diskursen zum 11. September 2001. In der zweiten Phase der Wissensproduktion zum Medienereignis 9/11 spielten darüber hinaus auch genderorientierte Fragestellungen vermehrt eine Rolle. In den Feministischen Studien erschien bereits 2003 ein Text der Kommunikationswissenschafterinnen Tanja Maier und S ­ tefanie Stegemann, der die Instrumentalisierung von Weiblichkeit in medialen Repräsentationen des ‚Kriegs gegen den Terror‘ untersuchte.55 Eine Schwerpunktnummer der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaften zeigte 2008 auf, inwiefern die Intersektionalitätsdebatte56 erhellend für die Analyse von Anti/Terror/Kriegen wirken könnte.57 Die geschlechterpolitischen Kodierungen der zentralen Figuren (Bin Laden/Bush) der medialen Berichterstattung nach 9/11 wurden nunmehr ebenso analysiert58 wie die gegenderten und ethnisierenden Bildpolitiken, die mit dem US-amerikanischen ‚Antiterror-Krieg‘ verknüpft gewesen sind.59 Judith Lorber etwa perspektivierte 2005 den Zusammenhang von sich feministisch ausgebenden, paternalistischen Legitimierungen des Krieges gegen Afghanistan und den Irak und den Grundlagen westlicher Geschlechterpolitik. Sie analysierte aber auch verschiedene, sozial und ethnisch kodier55 56 57 58

59

Tanja Maier/Stefanie Stegemann, Unter dem Schleier. Zur Instrumentalisierung von Weiblichkeit: Mediale Repräsentationen im ‚Krieg gegen den Terror‘, in: Feministische Studien (2003), 1, 48-57. Die Intersektionalitätsdebatte verhandelt seit den 90er-Jahren das Zusammenwirken und das Ineinandergreifen verschiedener Differenzkategorien (Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter, Klasse, etc.) in Hinblick auf die Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheit. Claudia Brunner/Maya Eichler/Petra Purkarthofer, Feministische Perspektiven zu Anti/Terror/Kriegen. Eine Einleitung, in: ÖZP (2008), 2, 135–146. Andrea Nachtigall, Von Cowboys, Staatsmännern und Terroristen. Männlichkeitskonstruktionen in der medialen Inszenierung des 11. Septembers und des Krieges in Afghanistan, in: Margreth Lünenborg (Hg.), Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft, Bielefeld: 2009, 196–231; Ulrike Brunotte, Inszenierungen von Religion und Männlichkeit im amerikanischen Kriegsfilm, in: Christina von Braun (Hg.), ‚Holy War‘ and Gender, Münster 2006, 201–225. Vgl. für die USA: Judith Lorber, Heroes, Warriors and Burquas. Gender after September 11, in: dies. (Hg.), Breaking the Bowls. Degendering and Feminist Change. New York 2005, 102–130; vgl. für Deutschland u.a. Linda Hentschel, Haupt oder Gesicht? Visuelle Gouvernmentalität seit 9/11, in: dies. (Hg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008.

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te Männlichkeitsbilder in der Berichterstattung über Täter und Opfer der Anschläge selbst: „What September 11 did was to valorize the masculinity of the socially subordinated men – especially the firefighters – by raising them culturally to the same dominant, hegemonic status as the financiers. They became a symbol of American strength in the face of adversity.”60 In diesen Bildern der männlichen Opfer und Helden, so Lorber weiter, blieben Nicht-Weiße, migrantische Personen zumeist ausgespart: „Their masculinity was not valued enough to be called heroic or American.” 61 Die wissenschaftlichen Analysen zur medialen ‚Heldenproduktion‘, aber auch der medialen Opferbilder, hatte im deutschsprachigen Raum nicht diese große Bedeutung wie in den USA.62 Das gleiche gilt auch für Untersuchungen zu medialen Repräsentationen und Kulturen des Trauerns und Erinnerns.63 In der Analyse der medialen Repräsentation der Täter allerdings finden sich hier wie dort insbesondere ab 2003 Analysen des Zusammenhangs von Feindbildkonstruktionen und visueller Geschlechterpolitik.

Phase 3: 9/11 als kulturelle Chiffre (2008–2010) In der dritten, also aktuellsten Phase der Wissensproduktion zu 9/11 als Medienereignis bleiben zum einen die Repräsentationen und Verarbeitungsformen von 9/11 in diversen Einzelmedien das dominante Thema. Zum anderen aber werden die Deutungen von 9/11 selbst zunehmend als Medium kultureller und politischer Aussagen analysiert. Für die USA kommt der Monographie 9/11 culture von Jeffrey Melnick in diesem Zusammenhang signifikante Bedeutung zu. Das Buch „is about how 9/11 served as a question and an answer on the cultural landscape of the United States in the years since September 11, 2001.“64 Melnick untersucht die komplexen Formen in denen 9/11 zu einem Teil alltäglicher, amerikanischer 60 Lorber, Heroes, Warriors and Burquas, 119. 61 Ebd. 62 Vgl. auch Marita Gronnvoll, Media Representations of Gender and Torture post-9/11, London-New York 2010. 63 Vgl. u.a. David Simpson, 9/11 The Culture of Commemoration, Chicago-London 2006. 64 Melnick, 9/11 Culture.

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Medien-Kultur und amerikanischen Selbstverständnisses wurde. Ein Jahr später, 2010, erscheint das erste Heft der Zeitschrift für Kulturwissenschaften zum Thema „Kultur und Terror“.65 Zwei Perspektiven leiten das Erkenntnisinteresse dieser Schwerpunktnummer, in der kulturelle Voraussetzungen von Terror und die Effekte des Terrors als Provokation kultureller Ordnungen untersucht werden. Begriffsgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Analysen des Terror-Begriffs werden dabei ebenso verhandelt wie verschiedene kulturelle Deutungen der Figur des Terroristen als Selbstmordattentäter.66 Erkenntnisleitend für die Herausgeber/innen, die aus dem Feld der Romanistik und Anglistik kommen, ist es, populäre Stereotype in Bezug auf den Zusammenhang von Islam und Terror zu dekonstruieren. So werden etwa die innerislamischen Differenzierungen von Dschihad und Dschihadismus rekonstruiert und Terrorklischees hinterfragt, wenn beispielsweise Sebastian­ Huhnholz die Globalisierungsthese, wonach ‚radikale Verlierer‘ sich an ökonomischen Gewinnern gerächt hätten, als Kurzschluss zurückweist. Die Selbstmordattentäter, so Huhnholz, seien vielmehr eine Propagandawaffe kultureller Eliten.67 In Bezug auf das Medienereignis 9/11 wird nun nicht mehr so sehr nach spezifischen Korrespondenzen filmischer Narrative und dem Ereignis gesucht, rekonstruiert wird vielmehr, wie ein aus dem filmischen Diskurs entlehntes Narrativ – zum Beispiel bei Michael Franks Beitrag die ‚Alien Invasion‘ – in die politische Kultur eindringt und zur Folie der dominanten Beschreibung des Ereignisses wird.68 Ebenfalls ganz aktuell und in literaturwissenschaftlicher Perspektive nähert sich der Sammelband von Schüller und Seiler den Topoi Zäsur und Ereignis – und deren medialen Verarbeitungen bzw. Herstellung. Auch in diesem Buch wird 9/11 selbst als metonymisches Zeichen interpretiert.69 Das Ereignis der Anschläge sei demnach nicht so sehr ein Krisenereignis als ein kulturelles Zeichen der globalen Krise, „9/11 avanciert demnach zu einer dis65

Michael C. Frank/Kirsten Mahlke (Hg.), Kultur und Terror. Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2010), 1. 66 Vgl. dazu auch Hans Magnus Enzensberger, Schreckensmänner - Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt/Main 2006. 67 Sebastian Huhnholz, Kulturalisierung des Terrors. Das dschihadistische Selbstmordattentat als Stereotyp islamischer Kampfkultur, in: Frank/Mahlke (Hg.), Kultur und Terror, 69–81. 68 Michael Frank, ‚Terrorist Aliens‘ 9/11 und der Science Fiction Film, in: Frank/Mahlke (Hg.), Kultur und Terror, 95–113. 69 Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hg.),Von Zäsuren und Ereignissen - Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung, Bielefeld 2010.

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kursiven Konstruktion: das Ereignis drückt als Symptom eine länger angelegte Konjunktur der Krise aus“.70 Mit dem Verweis auf theoretische Moden der Moderne und die Modernekritik, in denen die Krise westlicher Gesellschaftskonzepte, so Thorsten Schüller, seit 20 Jahren reflektiert würde, konsolidieren Ereignisse wie 9/11 in erster Linie die Konjunktur der Krise. In diesem Sammelband kommt, anders als in vielen anderen deutschsprachigen Sammelbänden auch der mediale Blick der ‚Anderen‘ vor. So wird die Frage, für wen 9/11 eine geopolitische Zäsur darstellt von Shadia Husseini am Beispiel transnationaler arabischer Printmedien analysiert.71 Thorsten Schüller schließt seinen das Buch eröffnenden Aufsatz mit einem Zitat des nigerianischen Nobelpreisträgers Wole Soyinka, der Zweifel an der Singularität des Ereignisses anmeldete. „Soyinka und andere afrikanische Intellektuelle sehen den 11. September nur als ein Ereignis von vielen in einer Reihe von anderen Katastrophen, die sich unter anderem auch (und von der Weltöffentlichkeit weit weniger wahrgenommen) auf dem afrikanischen Kontinent abspielten.“72 Mit der zunehmenden Deutung von 9/11 als kulturelles Medium, als Sprache und Chiffre kommt das Medienereignis zunehmend auch als Effekt und Chiffre der Globalisierung/Globalisierungskritik in den ­wissenschaftlichen Blick.73 Auch im bereits genannten Beitrag von Thorsten Schüller wird dieser Aspekt angesprochen: „Die Chiffre 9/11 unterstreicht ein Unbehagen in der Globalisierung. Vieles was im Umfeld von 9/11 in Essays und theoretischen Abhandlungen besprochen wird, ist keine reine Auseinandersetzung mit dem punktuell messbaren Terror, sondern ist ein Kommentar zur zusammenwachsenden Welt.“74 Der Kulturtheoretiker Tom Holert diagnostizierte 2009 in einer an Foucault orientierten Analyse, dass die „Bildermacht in der Totalität eines weltumspannenden Bildraums“ ein

70 Thorsten Schüller, Modern Talking – die Konjunktur der Krise in anderen und neuen Modernen, in: Schüller/Seiler (Hg.),Von Zäsuren und Ereignissen, 13–29, 15 f. 71 Shadia Husseini, 9/11 als Zäsur für die Weltordnung? Eine Analyse geopolitischer Konstruktionen in arabischen transnationalen Printmedien, in: Schüller/Seiler (Hg.),Von Zäsuren und Ereignissen, 221–239. 72 Schüller, Modern Talking, 24 f. 73 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das neue Buch von Slavoj Žižek, First as Tragedy, Then as Farce, London u.a. 2009; sowie Herfried Münkler, 9/11 – Das Bild als Waffe in einer globalisierten Welt, Köln 2009; Ulrich Leitner, Visuelle Politik – 9/11 und die Zweiteilung der Welt, Wien-Frankfurt 2009. 74 Schüller, Modern Talking, 25.

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Effekt von 9/11 sei.75 Die Strategien von Al Kaida wurden im Westen, so Holert, gleichermaßen gefürchtet, wie klammheimlich bewundert. Der in den 90er-Jahren allerorts gefeierte globale Netzwerkgedanke wurde durch die Anschläge bisweilen neu kodiert: „So wurde es wiederum m ­ öglich, die denunziatorische Gleichung Terrorismus=Globalisierungskritik zu lancieren.“76

Resümee Zusammenfassend kann insbesondere für den deutschsprachigen Kontext gesagt werden, dass in den ersten beiden Jahren nach 9/11 eine wissenschaftliche Auf­arbeitung journalistischer Prozesse und Ereigniskonstruktionen dominierte. Im Zentrum standen dabei insbesondere die wissenschaftliche Verarbeitung der Singularität und Neuartigkeit des TV-Ereignisses 9/11 und die Frage des Zusammenhangs von Medien und Terrorismus bzw. die Instrumentalisierung der westlichen Medienlogik wie sie das globale Fernsehsystem repräsentiert, durch die islamistischen Terroristen.77 Ich habe das Ende der ersten Phase der Wissensproduktionen zum Medienereignis 9/11 mit 2003 angesetzt. Das Ende dieser ersten Phase fällt also mit dem Beginn des Irakkrieges zusammen. Dass die rekonstruierten Phasen der Wissensproduktion allerdings synchron mit politikgeschicht­ lichen Verläufen einhergehen würden, kann davon nicht abgeleitet werden. Wissenschaftliche Texte und Sammelbände sind auch immer spezifischen Produktionsbedingungen unterworfen, in denen es zu Verzögerungen von der Entwicklung der Fragestellung bis zu Veröffentlichung von Ergebnissen kommen kann. Es gibt Mehrfachverwertungen und wissenschaftspolitische und marktspezifische Rahmenbedingungen (u.a. Forschungsförderung, Verlagslandschaft), die die jeweiligen Publikationsgeographien und Publika­ tionszyklen mitstrukturieren. Zum anderen war die Wissensproduktion zum Medienereignis nicht nur an wissenschaftsimmanente und politikgeschicht75 Holert, Bild-Ereignisse, 15. 76 Ebd., 45. 77 Vgl. u.a. Schicha/Brosda (Hg.), Medien, Terrorismus und der 11. September; Goedart Palm (Hg.), MedienTerrorKrieg. Zum neuen Kriegsparadigma des 21. Jahrhunderts, Hannover 2002; Beuthner u.a. (Hg.), Bilder des Terrors – Terror der Bilder?; Hitzler/Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung.

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liche, sondern auch an die medienspezifischen Veränderungen der letzten Jahre geknüpft. Die zweite Phase der Wissensproduktionen, insbesondere im deutschsprachigen Raum jedenfalls, war durch zwei Wellen von Sammelbänden (2004 und 2008/2009) gekennzeichnet, die das Medienereignis 9/11 im Kontext einer kulturellen Zäsur und einer breiteren kulturwissenschaftlichen Einordnung rekonstruierten. Gefragt wurde insbesondere nach kulturellen Verarbeitungsformen von 9/11 in verschiedenen medialen Umgebungen. In der letzten und aktuellsten Phase der Wissensproduktionen rückt das Medienereignis einerseits zunehmend selbst als Chiffre, als kultureller Code, in den Blick. Zum anderen wird der Diskurs über 9/11 zunehmend zum Objekt wissenschaftsgeschichtlicher und die verschiedenen Wissensdiskurse historisierender Perspektiven; eine Tendenz, der der vorliegende Beitrag ja ebenfalls zuzuordnen ist.78

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Vgl. u.a. Christer Petersen, Tod als Spektakel. Skizze einer Mediengeschichte des 11. September, in: Irsigler/Jürgensen. Nine Eleven, 195–219. Darin werden insbesondere medientheoretische und medienphilosophische Positionen rekonstruiert.

Chronologie 2000 30. September: Beginn der Zweiten Intifada in Israel 7. November: Wahl von George W. Bush zum 43. Präsidenten der USA 2001 15.–16. Juni: EU-Gipfel in Göteborg unter Anwesenheit von George W. Bush (von Protestdemonstrationen begleitet.) 18.–22. Juli: Proteste beim G8-Gipfel in Genua 11. September: Terroranschläge der Al Kaida in den USA 12. September: Ausrufung des Bündnisfalls durch die NATO 12. September: Erste Stellungnahme von George W. Bush direkt nach den ­Anschlägen 14. September: Bush besucht Ground Zero 20. September: Rede von Bush vor beiden Kammern des Kongresses, ­Ankündigung des War on Terror 4. Oktober: NATO-Rat beschließt den Bündnisfall 7. Oktober: Beginn des Afghanistankrieges 28. Oktober: U.S. Patriot Act in Kraft gesetzt 13. November: Eroberung Kabuls, Sturz des Taliban-Regimes 26. November: Bekennervideo von Osama bin Laden 2002 April: Blair stimmt bei Treffen mit Bush in Crawford/Texas Irakkrieg zu April: Eskalation der Zweiten Intifada (Dschenin), Unruhen in französischen Vorstädten 11. April: Anschlag auf Synagoge in Djerba, Tunesien (21 Tote) 22. Mai: Bush-Besuch in Deutschland (Demonstrationen) 22. September: Bundestagswahl in Deutschland, Wiederwahl von Bundeskanzler Gerhard Schröder 8. November: Irak erhält mit der von Großbritannien initiierten UN-Resolution (S/RES/1441) eine letzte Chance durch Waffeninspektionen 27. November: Beginn der Waffeninspektionen im Irak durch Hans Blix (bis 18. März 2003) 12. Oktober: Anschlag in Bali (202 Tote)

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Chronologie

2003

22. Jänner: Donald Rumsfeld-Ausspruch vom „alten Europa“ 28. Jänner: Bush kündigt Irakkrieg auch ohne UNO-Mandat an 5. Februar: US-Außenminister Colin Powell präsentiert vor dem UNO-­ Sicherheitsrat angebliche Beweise für iranische Massenvernichtungswaffen Februar: Zehn osteuropäische Staaten stellen sich im „Brief von Vilnius“ auf die Seite der USA 15. Februar: Anti-Kriegsdemonstrationen in allen großen Städten Europas 17. März: Ultimatum an Saddam Hussein 20./21. März: Beginn des Irakkrieges Anfang April: Einmarsch der amerikanischen Armee in Bagdad 7.–9. April: US-Besetzung der Saddam-Paläste und Sturz der Saddam-­Statue in Bagdad 1. Mai: Bush-Rede: „Mission accomplished“ 31. Mai: Manifest von europäischen Intellektuellen (u.a. Jürgen Habermas, ­Jacques Derrida, Umberto Eco) gegen den Krieg 19. September: Bush-Besuch in London mit Gegendemonstrationen 16. November: Anschlag auf zwei Synagogen in Istanbul (26 Tote) 20. November: Anschlag auf das britische Konsulat und die britisch-asiatische Großbank HSBC in Istanbul (über 30 Tote) 13. Dezember: Gefangennahme von Saddam Hussein 2004 11. März: Terroranschlag in Madrid (191 Tote) April/Mai: Folterskandal Abu Ghraib / Irak 1. Mai 2004: EU-Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei, Tschechien, Ungarn und Zypern 28. Juni: Einsetzung der irakischen Interimsregierung 2. November: Wiederwahl von George W. Bush 2. November: Mord an Theo van Gogh in Amsterdam 2005 7. Juli: Terroranschläge in London (56 Tote), weitere geplante Anschläge werden vereitelt 30. September: Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten

Chronologie

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19. Oktober: Beginn des Prozesses gegen Saddam Hussein 15. Dezember: Parlamentswahlen im Irak 2006 Februar 2006: Beginn des Karikaturenstreits: weltweit Demonstrationen gegen Dänemark 20./21. Juni: Bush-Besuch in Österreich (Demonstrationen) 13./14. Juli: Bush-Besuch in Deutschland (Demonstrationen) 31. Juli: Versuchte Bombenanschläge auf Regionalzug in Deutschland („Kofferbomber“) 10. August: Terroranschlag in London vereitelt 5. November: Verurteilung Saddam Husseins zum Tode (Hinrichtung: 30. Dezember) 2007 6.-8. Juni: G8-Gipfel in Heiligendamm und Bush-Besuch in Deutschland (Demonstrationen) September: Verhaftung der „Sauerland Gruppe“ in Deutschland, Vorwurf eines geplanten Attentates auf US-Einrichtungen 2008 24. Juli: Rede von Barack Obama vor der Siegessäule in Berlin 27. August: Nominierung von Barack Obama zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten 4. November: Wahl von Barack Obama zum 44. Präsidenten der USA 2009 20. Jänner: Inauguration von Präsident Barack Obama 4. Juni: Rede von Obama in Kairo zum Neuanfang zwischen der muslimischen Welt und dem Westen 30. Juni: Amerikanische Truppen verlassen irakische Städte und übergeben die Stützpunkte der irakischen Armee 25. Dezember: Anschlag bei einem Flug nach Detroit gescheitert („Unterwäschebomber“) 2011 2. Mai: Osama bin Laden wird von einer US-Spezialeinheit in Pakistan getötet

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Kurzbiographien Wolfgang Aschauer Soziologe, arbeitet am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Terrorismus, Rassismusforschung, Fremdenfeindlichkeit, Integration. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a.: Tourismus im Schatten des Terrors. Eine vergleichende Analyse der Auswirkungen von Terroranschlägen (Bali, Sinai, Spanien), Wien-München 2008. Monika Bernold Historikerin und Medien- und Kulturwissenschafterin, arbeitet am Institut für Zeitgeschichte (Universität Wien) und an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien. Veröffentlichungen u.a.: Das Private Sehen. Fernsehfamilie Leitner. Nationale Identitätskonstruktion und mediale Konsumkultur nach 1945, Marburg 2007; 2008–2010 Mitarbeit am FWF-Projekt: Perzeptionen von ‚Amerika‘ in Deutschland und Österreich seit dem 11. September 2001 im historischen und europäischen Kontext. Helga Embacher Professorin am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus, Jüdische Geschichte, Antisemitismus, Islam in Europa. 2005–2008 Leiterin des FWF-Projekts: (Neuer) Antisemitismus und Antiamerikanismus in Europa am Beispiel von Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Autorin von mehreren Büchern und zahlreichen Beiträgen, u.a.: Neuer Antisemitismus in Europa – ein historischer Vergleich, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII (2005). Filip Fetko Historiker, Redakteur der Fachzeitschriften „Zeszyty Sądecko-Spiskie“ (Polen) und „Z minulosti Spiša“ (Slowakei), zuletzt Lehrbeauftragter an der Palackého Universität in Olmütz (Tschechien). Forschungsschwerpunkt:

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Kurzbiographien

Neuere ostmitteleuropäische Geschichte, insbesondere Antisemitismus und Minderheiten, Veröffentlichungen u.a.: Antisemitismus in der Gesellschaft der Ersten Tschechischen Republik, in: Chilufim, Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte, 03/2007. Eugen Freund Lebt und arbeitet als Journalist in Wien, war u.a. beim ORF, bei „Profil“ und für 5 Jahre am Österreichischen Presse- und Informationsdienst in New York tätig, von 1995 bis 2001 ORF-Korrespondent in Washington; ist derzeit im ORF Sonderkorrespondent und Präsentator des „Weltjournals“. Autor mehrerer Bücher: Mein Amerika (2001), Barack Obama – der lange Weg ins Weiße Haus (2008), Brennpunkte der Weltpolitik (2010). Reinhard Heinisch Professor für Österreichische Politik in europäischer vergleichender Perspektive an der Universität Salzburg. Von 1986 bis 2009 arbeitete er in den USA, zuletzt als Professor of Political Science an der University of Pittsburgh. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Politik im europäischen Kontext, vergleichende Arbeitsmarktpolitik sowie vergleichende Populismusforschung. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a.: Social Policy Reform in the Era of Integration and Rising Populism, in: R.H. Cox et.al (Hg.), Social Policy in Smaller European Union States, New York 2011. Christian Muckenhumer Historiker und AHS-Lehrer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für jüdische Kulturgeschichte an der Universität Salzburg, 2005-2008 Mitarbeiter am FWF-Projekt: (Neuer) Antisemitismus und Antiamerikanismus in Europa am Beispiel von Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Mehrere Publikationen zum französischen Antisemitismus und Identitätsdiskurs, u.a.: Frankreich im Banne von Memoria. „Konkurrenz“ von Opferund Erinnerungsnarrativen im nationalen Identitätsdiskurs, in: Das jüdische Echo (2007).

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Margit Reiter Dozentin und Projektleiterin am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Österreich-Israel, NS-Vergangenheitspolitik, Generation und Gedächtnis, Antisemitismus und Antiamerikanismus in Europa. Autorin zahlreicher Beiträge und Bücher, u.a.: Unter Antisemitismus-Verdacht. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah (2001). Leitet derzeit das FWF-Projekt: Perzeptionen von ‚Amerika‘ in Deutschland und Österreich seit dem 11. September 2001 im historischen und europäischen Kontext (www.univie.ac.at/antiamerikanismus). Hanna K. Ulatowska Professorin für Neurolinguistics, Aging, Aphasia an der School of Behavioral and Brain Sciences, University of Texas at Dallas. Geboren in Polen, überlebte 1939 die Bombardierungen Warschaus und das KZ Auschwitz. Forschungsschwerpunkte: Sprachwandel im Zusammenhang mit Demenz und Alzheimererkrankung, derzeit Arbeit mit Holocaustüberlebenden und Soldaten des Zweiten Weltkrieges in Polen. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a.: Journey Through Narratives. The Unexpected Vistas, in: B. Bokus (Hg.), Studies in The Psychology of Language and Communication, Warszawa 2010, 135–147.