Ereignisgeschichten: Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001 9783847098188, 9783899719109, 9783862349104

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Ereignisgeschichten: Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001
 9783847098188, 9783899719109, 9783862349104

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Formen der Erinnerung

Band 48

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

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Christoph Deupmann

Ereignisgeschichten Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001

Mit 14 Abbildungen

V& R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-910-9 ISBN 978-3-86234-910-4 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Gerhard Richter, September, 2005. New York, Museum of Modern Art (MoMA). Öl auf Leinwand, 52,1 x 71,8 cm. Gift of the artist and Joe Hage. Acc. n.: 1901.2008 (Ó 2012. Digital image, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florence) Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Ich frage mich: woher weißt du das alles? Und ich antworte mir : ich kenne, als erstes, die Bilder. Ich kenne das Gesicht des Präsidenten, den Mund Moise Tschombes, kenne Nehrus Lächeln und die zitternden Hände des Mörders. Walter Jens: Plädoyer für das Positive in der modernen Literatur (1961). In: ders.: Literatur und Politik. Pfullingen 1963 (Opuscula aus Wissenschaft und Dichtung; 8), S. 24.

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Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Systematische und historische Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . 1. Ereignis und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ereignis und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Paradoxien des Ereignisbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Ereignis als Chock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Medienereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Ereignis und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Poetik der Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Geschichte, Ereignis und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Synchronismusprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zur Poetik der Aktualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das pragmatische Privileg der Zeitgeschichte . . . . 2.4 Zur Literaturgeschichte zeitgeschichtlicher Stoffe . . . . . 2.4.1 Wettlauf mit der Zeitgeschichte: Barthold Feinds Das verwirrte Haus Jacob . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Klassizismus und Nachklassizismus: Racine und Lessing oder die geschichtsliterarische Sorgfaltspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Geschichte als Gegenwart und Gleichnis: Büchner – Vormärz – Hauptmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Das »unverstellte Licht der Fakten«: Probleme des literarischen Dokumentarismus im 20. Jahrhundert . 2.5 ›Medienkonkurrenz‹. Die medientheoretische Verdrängungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zeitgeschichtsdichtung als Tautologie . . . . . . . . . . . . 2.7 Freiheitsräume der Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.8 Zeitgeschichtserzählung und Mythopoetik . . . . . . . . . Das Apriori der technischen Bilder . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zeitverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Desantiquierung, Desaktualisierung, Defuturisierung 3.2 Panoptismus und Geschichtskultur . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Umbau des kollektiven Gedächtnisses . . . . . . . . . 3.3.1 Esoterische und exoterische Erinnerung . . . . . . . 3.4 Mediale Synopsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 ›Wirkwelt‹ und ›Wahrnehmungswelt‹. Inversion der Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zeitgeschichte als Nachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Visual History und literarische Texte . . . . . . . . . . . .

III. Ereignisse und Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1968. Vietnam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das verdichtete Jahr 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein Jahr und sein Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bildbeschreibung I: Uwe Timms Der Freund und der Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Poesie der Fahrpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Eigensinn der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Geschichtsdrama der Struktur : Peter Weiss’ Viet Nam Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Jenseits der Ereignisgeschichte . . . . . . . . . . . 6.2 Die Wiedergewinnung des Ästhetischen . . . . . . 6.3 Jenseits der Strukturgeschichte. Die Wiedergewinnung des Ereignisses . . . . . . . . . . 7. Bildbeschreibung II: Uwe Johnsons Jahrestage . . . . . . 7.1 Photographs make history. Mediale Ekphrasis in Johnsons Jahrestagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Zeitgeschichte als Präsenzgenerator . . . . . . . . . 1977. Deutscher Herbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ästhetischer Extremismus. Rainald Goetz’ Kontrolliert . 2. Erinnerungsort 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Ausgeborgte Evidenz. Erich Frieds Gedicht Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und der Buback-Nachruf des »Göttinger Mescalero« . . . . . 3. Der medialisierte Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . 4. Friedrich Christian Delius’ Romantrilogie Deutscher Herbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1

Innenansicht des Terrors: Mogadischu Fensterplatz 4.1.1 Der Fensterplatz der Fiktion. Teilnehmende Beobachtung als Erzählverfahren . . . . . . . 4.1.2 Terrorzeit und die Zeit des Erzählens . . . . . 4.1.3 Anomalisierung und D¦j— vu . . . . . . . . . 4.1.4 Inmitten jenseits der Geschichte . . . . . . . . 4.1.5 Der Terror der Medien . . . . . . . . . . . . . 5. Terrorismus als Romanze. Leander Scholz’ Rosenfest . . 5.1 Neukonfiguration der Bilder . . . . . . . . . . . . . 5.2 Hans und Grete im Medienwald . . . . . . . . . . . 5.3 Abschlusszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. 4. 1986. Tschernobyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das unsichtbare Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literatur im Atomzeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Der bösartige Himmel«. Christa Wolfs Störfall . . . . . 3.1 Nachrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zerstreuung und Verdichtung . . . . . . . . . . . . 3.3 Poesie und technologisches Wissen . . . . . . . . . 4. Drama des zweiten Futurs: Harald Muellers Totenfloß . . 4.1 Endzeit als Zitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Postapokalyptische Angstlust . . . . . . . . . . . . 4.3 Erinnerung an die apokalyptische Zukunft . . . . . 9. November 1989. Mauerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Sie kennen die Bilder«. Den Mauerfall erzählen . . . . . 2. »Es gibt keine Spur mehr jenseits der Speicher«. Thomas Hettches Nox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Sehen und Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Unmögliches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Subjektlosigkeit und ›Ursprung‹ der Schrift . . . . 2.4 Sehmaschinen und Erzählmaschinen . . . . . . . . 2.5 Teletopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Grenzüberschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Illicit pleasures: Die Inszenierung des Blicks . . . . 2.8 Mediologisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Uchronien der Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . a) Apokryphen der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Theorie der Uchronie . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Noch einmal: 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1992 – 1999. Postjugoslawische Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aussichten auf die postjugoslawischen Kriege . . . . . .

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2. Fotografische Palimpseste: Gerhard Roths Roman Der Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausbruch aus der Nähe. Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Hinter den Bildern – die Obszönität der Nähe. Bernard-Henri L¦vys Qui a tu¦ Daniel Pearl? . . . . . . . . . . 4. Poetik der Befremdung. Juli Zehs Bosnien-Texte . . . . . . 5. Peter Handkes ›anstößige‹ Reiseberichte . . . . . . . . . . 5.1 Im Abseits der Bilder. Handkes Aufzeichnungen aus Serbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 »Man müßte Shakespeare sein«. Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg . . . . 5.3 Widerstreit und Absorption . . . . . . . . . . . . . . 9 / 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »D¦crire l’indescriptible«. Fr¦d¦ric Beigbeders Windows on the World . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tabu und Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine unmögliche Möglichkeit des Erinnerns . . . . . . . . 4. »The simple solution to an impossible problem«: Jonathan Safran Foers Extremely loud & incredibly close . . . . . . . 5. Ausnahmezustand des Erzählens. Ulrich Peltzers Bryant Park und andere Texte über den 11. September 2001 . . . . 5.1 Ereignis und Erzählzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Fernsehbilder erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Präsenz und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Jenseits von Mythos und Ereignis: Durs Grünbeins September-Elegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Verschiebung zwischen Bildern und Sprache . . . . .

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IV. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . 1. Quellen . . . . . . 2. Forschung . . . . 3. Nachschlagewerke 4. Filme . . . . . . . 5. Tonträger . . . .

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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2010 von der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaft des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) als Habilitationsschrift angenommen und für die Veröffentlichung leicht überarbeitet. Ich danke Andrea Ring und Andreas Seidler für ihre kritische Lektüre, Stefan Scherer für anregende Gespräche und wertvolle Hinweise sowie Uwe Japp, Andreas Böhn und Albert Meier für die Begutachtung der Arbeit. Der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung danke ich für die großzügige und unkomplizierte Förderung des Drucks.

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I. Einleitung

»Noch niemals hat eine Zeit so gut über sich Bescheid gewußt«, schrieb Siegfried Kracauer 1927 mit Bezug auf den »Abklatsch der Personen, Zustände und Ereignisse« in den Illustrierten Zeitungen, deren »Absicht« auf die »vollständige Wiedergabe der dem photographischen Apparat zugänglichen Welt« gerichtet sei.1 Über die Welt »Bescheid zu wissen« heißt demnach bereits in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: »ein Bild von den Dingen haben, das ihnen im Sinne der Photographie ähnlich ist.«2 Die fotografischen Bilder, die hier noch als Supplemente der Zeitschriften erscheinen, schicken sich bereits an, die Lesbarkeit der Welt durch Anschaulichkeit zu ersetzen. Bald schon werden die statischen und (seit der Erfindung des Rollfilms, 1884) bewegten Bilder die Hegemonie der Schrift und ihrer monotechnischen Medien Zeitung, Zeitschrift und Buch in Hinsicht auf die Wahrnehmung zeitgeschichtlicher Wirklichkeit weitgehend hinter sich gelassen haben. Die unaufhörliche Perfektionierung der technischen Bildmedien, die in der realzeitlichen Simultaneität von Geschehen, Aufzeichnung und Übertragung kulminiert, stattet diese mit einem unüberholbaren Evidenzvorsprung aus, der das mimetische Darstellungsvermögen schriftfixierter Texte scheinbar mühelos auskonkurriert. Mallarm¦s Wort, alles in der Welt sei dazu da, in ein Buch einzugehen,3 lebte von der unangefochtenen Dominanz des skripturalen Codes. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der medientechnologischen Moderne wäre es zu variieren: Jetzt ist alles in der Welt dazu da, im Fernsehen zu enden.4 Mit den technischen Visualisierungsschüben 1 Siegfried Kracauer : Die Photographie. In: ders.: Schriften. Hg. von Inka Mülder-Bach. Bd. 5,2: Aufsätze 1927 – 1931. Frankfurt / M. 1990, S. 83 – 98, hier S. 93. – Vor allem die französische Zeitschrift L’illustration (seit 1843, mit Fotografien seit 1891) und die Berliner Illustrirte Zeitung (seit 1890) haben den modernen Fotojournalismus begründet. 2 Ebd. 3 »[…] tout, au monde, existe pour aboutir — un livre.« St¦phane Mallarm¦: Le livre, instrument spirituel. In: ders.: Œuvres complÀtes. Êdition ¦tablie et annot¦e par Henri Mondor et G. JeanAubry. Paris 1992, S. 378 – 382, hier S. 378. 4 Susan Sontag hat diese Behauptung Mallarm¦s auf die Fotografie bezogen, vgl. Sontag: Über Fotografie. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch. Frank-

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des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, die mit der Erfindung von Fotografie und Film begannen und mit der flächendeckenden Durchsetzung des Fernsehens – in Deutschland seit den 1960er Jahren5 – sowie zuletzt des Internets einen vorläufigen Höhepunkt erreichten, scheint auch jene über zwei Jahrtausende geltende Leitmetapher zu antiquieren, die Literatur und Geschichte (im Sinne der historia rerum gestarum) von vornherein engführte und aufeinander bezog: Das Buch der Geschichte wird zusehends in ein Film- und Fernseharchiv transformiert.6 Hatte die Schrift einst ein über mündliche Erzählungen weitergegebenes ›Wissen‹ beerbt, das die Funktion des officium memoriae versah, so sind es im Zuge der medialen Modernisierungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr die technischen Bilder, auf welche die kollektive Erinnerung rekurriert. Sie haben mit den Bedingungen der Wahrnehmung geschichtlichen Geschehens auch die damit verbundene Gedächtnisbildung neu definiert: Geschichte, soweit sie sich als Verlauf und Konstellation kommemorativer Ereignisse darstellt,7 ist nicht zuletzt das Produkt einer bildtechnischen Medialität, in deren Strahlungsfeld sich unsere Vorstellungen von zeitgeschichtlicher Wirklichkeit formieren. Es ist diese Visualisierung des geschichtlichen Gedächtnisses, von der die monologische Stimme des Ich-Erzählers in Thomas Hettches 1995 erschienenem Roman Nox im Hinblick auf die Nacht des Berliner Mauerfalls vom 9. auf den 10. November 1989 spricht: Nichts mehr kann nicht angesehen werden. Nichts an den Dingen vergeht mehr. Erinnerung entsteht auf neue Weise. Es gibt keine Spur mehr jenseits der Speicher.8

Hettches Erzähler beschreibt eine technische ›Evidenzierung‹ der Gegenwart und jüngeren Geschichte durch Film, Fernsehen, Videotechnik und Computer als Konstituenten eines »Nichtvergessen[s]«,9 die zur Folge hat, dass das Ver-

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furt / M. 1997, S. 30. – Vgl. auch Botho Strauß: Paare, Passanten. München 1984, S. 106: »Die Arbeit der Welt des Kopfes wird vermutlich in 87 Fernsehkanälen enden und das Mallarm¦sche Buch wird ein Kultobjekt eines winzigen Geheimzirkels an der Universität von Wisconsin sein […].« Vgl. dazu Hans H. Hiebel: Kleine Medienchronik. Von den ersten Schriftzeichen zum Mikrochip. München 1997; Knut Hickethier : Geschichte des deutschen Fernsehens. Unter Mitarbeit von Peter Hoff. Stuttgart, Weimar 1998. – Zu neueren Entwicklungen des kommerziellen Privatfernsehens in Deutschland vgl. etwa Jutta Röser, Corinna Pfeil: Fernsehen als populäres Alltagsmedium. Das duale Rundfunksystem und seine kulturellen Folgen. In: Die Kultur der 80er Jahre. Hg. von Werner Faulstich. München 2005, S. 155 – 168. Vgl. Helmut Kreuzer, Helmut Schanze: Vorwort der Herausgeber. In: dies. (Hg.): Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland: Prozesse – Zäsuren – Epochen. Heidelberg 1991, S. 7 – 10, hier S. 8. Vgl. Christine Schilha: Auferstanden aus Archiven. Der Umgang mit filmischem Archivmaterial als televisionale Form der Erinnerungskonstruktion. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 37 (1998), S. 41 – 45, hier S. 41. Thomas Hettche: Nox. Frankfurt / M 1995, S. 52. Ebd.

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gangene nicht mehr vergeht. Wenn Anschaulichkeit jedoch nicht länger an Gegenwart gebunden ist, wird auch die Vergangenheit davon affiziert. Die Ersetzung von Abwesenheit durch mediale Abrufbarkeit oder Re-Präsenz macht aus dem geschichtlich Vergangenen ein abwesend Anwesendes, das jederzeit erneut angeschaut werden kann. Damit ›überwinden‹ die technischen Medien der Repräsentation letztlich die Zeit als Dimension des Vergehens, des Unanschaulich-Werdens und des Vergessens überhaupt. Die technische Konservierung des Sichtbaren, selbst der schnell vergänglichen Ereignisse, aus denen sich die persönliche wie die kollektive Geschichte konstituiert, gehört deshalb mit zum großen Projekt der Moderne, die den Tod ein für allemal besiegen will. Indem sie sich medientechnologisch einem ›panoramatischen‹ Prinzip der Visibilisierung alles dessen, ›was ist‹, unterstellt, suspendiert sie die Vergänglichkeit im Sinne des sinnlichen Entschwindens. Wo aber nichts mehr vergeht, verschwindet womöglich am Ende der Begriff des Geschichtlichen selbst. In den Worten des Erzählers von Hettches Roman lässt sich noch immer das Echo jener Techno-Utopie vernehmen, welche die technische Aufrüstung des Sehens von Beginn an motiviert und begleitet hat: des Traums vom vollkommenen Beobachter, dessen unbegrenzter Blick sich wie das Facettenauge eines immensen künstlichen Insekts auf eine der Beobachtung total zugänglich gewordene Umwelt richtet. »Fernbilder trugen die Gestalten der Menschen, der Gegenstände weiter«, heißt es in Alfred Döblins techno-utopischem Roman Berge Meere und Giganten (1924).10 Es ist dieser quasi göttliche Blick auf die Welt, dessen Verwirklichung man mit der Technisierung des menschlichen Sehens schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts immer näher zu kommen glaubte. Bereits die Zeitgenossen Daguerres sahen im apparativen Abbildungsvorgang der gegenständlichen Welt ein Äquivalent zum fiat lux des göttlichen Schöpfungsaktes11 – und bald sogar dessen Überbietung. Wenn erst die »Belebung eines Automaten« gelänge, »welcher besser construirt ist, als der Mensch«, schreibt Raphael Eduard Liesegang 1891 im Vorwort einer technischen Abhandlung zum Problem des electrischen Fernsehens, »ist der Zweck der Welt erreicht; der Mensch wurde zum Gott«.12 Liesegang vergleicht das von ihm mitvorbereitete »Phototel«, mit dem man Bilder übertragen, also »etwas Ent10 Alfred Döblin: Berge Meere und Giganten. Hg. von Gabriele Sander. München 2006, S. 21. 11 Vgl. Jules Janin: Der Daguerrotyp (1839). In: Theorie der Fotografie I. 1839 – 1912. Hg. von Wolfgang Kemp. München 1999, S. 46 – 51, hier S. 47. 12 R[aphael] Ed[uard] Liesegang: Das Phototel. Beiträge zum Problem des electrischen Fernsehens. Düsseldorf 1891 (Probleme der Gegenwart; 1), S. X. – Liesegangs elektrisches Fernsehen oder Phototel meint allerdings nicht das Fernsehen im heutigen Sinn, sondern das Bildtelephon. Thomas A. Edison, dem Liesegang seine Schrift widmet, hat indes die Übertragungsreichweite von Bildern noch zurückhaltend eingeschätzt: »Of course it is ridiculous to talk about seeing between New-York and Paris. The rotundity of the earth, if nothing else, would render that impossible.« (Ebd., S. 102.)

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ferntes sehen« kann, mit dem Zauberspiegel Fausts, in dem er die himmlische Gestalt der Helena erblickt.13 Das Fernsehen als mediale Maschine einer Vergöttlichung des Menschen durch die Totalisierung der Sichtbarkeit mag als frühes technoides Phantasma erscheinen, das sich noch in der Verteufelung des Mediums revers bezeugt.14 Die Vorstellung eines über alle leiblichen Beschränkungen souveränen, ›göttlichen‹ Blicks, der das gesamte zeitliche Universum überschaut und in virtueller Gleichzeitigkeit vor sich sieht, ist jedoch tatsächlich die Leitidee eines modernen Panoptismus, der die alte theologische Vorstellung vom zeitenthobenen Verhältnis Gottes zu seiner in die Dynamik der Zeit entlassenen Schöpfung technologisch beerbt. Dass sich die operativen und apperzeptiven Fähigkeiten des Menschen apparativ von ihren leiblichen Einschränkungen emanzipieren lassen, hat bekanntlich besonders die transhumanistischen Technikphantasien des Futurismus inspiriert. Die Vorstellung, dass auch die Ekstasen der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – technisch zur Disposition stehen könnten, geht bereits mit den Beschleunigungserfahrungen des neunzehnten Jahrhunderts einher. Schon Adelbert von Chamisso verknüpft 1830 mit der Schnelligkeit der Eisenbahn die Idee einer reversiblen Zeit (und ihre Paradoxien): »Ich habe der Zeit ihr Geheimnis geraubt, / Von Gestern zu Gestern zurück sie geschraubt«. Die imaginierte Emanzipation von der physikalischen Zeit aber lenkt den Blick auch auf die Ereignisse und ›großen Gestalten‹ der Geschichte: »Zurück, hindurch! Es verlangt mich schon, / Zu sehen den Kaiser Napoleon!«15 Dass die Vergangenheit durch technische Mittel zu gegenwärtiger Anschaulichkeit gebracht werden könnte, konkretisiert sich mit der Entwicklung der visuellen Aufzeichnungsmedien im zwanzigsten Jahrhundert zur Utopie eines technischen Apparats, die ihren präsentischen Bezug auf die Appräsentation von längst Vergangenem – also von jenseits jeder technischen Aufzeichnungsmöglichkeit Gelegenem – ausweiten kann. In Ernst Jüngers 1977 erschienenem Roman Eumeswil verfügt der Ich-Erzähler und Historiker Venator über einen solchen mit enzyklopädi13 »Was seh ich? Welch ein himmlisch Bild / Zeigt sich in diesem Zauberspiegel?« Ebd., S. 89. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt / M. 1994, S. 104, v. 2429 f. (Sämtliche Werke, I. Abteilung, Bd. 7 / 1). 14 Vgl. dazu die Streitschriften von Neil Postman (v. a. Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt / M. 1985). Zu den ständig wiederholten Topoi der Fernsehkritik vgl. Gerhard Maletzke: Kulturverfall durch Fernsehen?, Berlin 1988. Die meisten dieser Topoi verwendet auch Roy Oppenheim: Der Krieg der Bilder. Illustrationen von Nico Cadsky. Aarau, Frankfurt / M., Salzburg 1990 (Beiträge zur Kommunikations- und Medienpolitik; 12). 15 Adelbert von Chamisso: Das Dampfroß. In: Werke. Hg. von Hermann Tardel. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe, Bd. 1, Leipzig, Wien o. J. [1907], S. 82 – 84, hier S. 83. – Zu diesem Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Zeitbeherrschung vgl. Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Darmstadt 1997, S. 129 f.

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schem Datenwissen aufgeladenen Apparat, ein sogenanntes »Luminar«, auf dessen Bildschirmoberfläche jedwede geschichtlichen Ereignisse und Situationen visuell vergegenwärtigt werden können. Auf Abruf, sozusagen auf einen Tastendruck hin, tun die »Tore der Geschichte« sich auf,16 um die Personen, Szenarien und Ereignisse selbst entlegener Vergangenheiten der anschaulichen Beobachtung freizugeben: Ich ließ mir durch das Luminar eine Fülle von Typen vorstellen und auch von Epochen, in denen sie sich verdichteten: griechische und insbesondere sizilische Städte, kleinasiatische Satrapien, spätrömische und byzantinische Cäsaren, Stadtstaaten der Renaissance, darunter immer wieder […] Florenz und Venedig, dann die sehr kurzen und blutigen Aufstände des Olchos, Nächte der Beile und langen Messer, endlich die ausgedehnten Diktaturen des Proletariats mit ihren Hintergründen und Schattierungen.17

Es ist die im Zusammenhang der abendländischen Rhetorik entwickelte Figur der Prosopopoiie, welche Jüngers Roman auf die technisch noch unrealisierte Möglichkeit der Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens überträgt. Was die rhetorische Figur vermag – den Toten wie den vergangenen Dingen Stimme und Gesicht zu verleihen –,18 wird vom Text als Leistung einer technischen Apparatur imaginiert. Die science fiction des Textes verschiebt die vorerst nur durch produktive Einbildungskraft ermöglichte Halluzination des Erzählers oder des Historikers im Archiv, der die abstrakten, in schriftförmig-dokumentarischen Spuren abgelegten Zeugnisse vergangener Gestalten und Geschehnisse wieder lebendig werden lässt,19 auf eine utopische Technologie: eine »zur Maschine gewordene Einbildungskraft«, wie sie schon Novalis in seinem Allgemeinen Broullion (1798 / 99) beim Namen nennt.20 Der virtuellen Gleichzeitigkeit in Jüngers Roman entspricht jedoch ein posthistorisches Bewusstsein, das mit dem Konzept der Universalgeschichte die Idee des Fortschritts verabschiedet hat. »Eumeswil ist für den Historiker besonders günstig, weil keine Werte mehr lebendig sind. Der historische Stoff hat sich in der Passion verzehrt. Die Ideen sind unglaubwürdig geworden und befremdlich die Opfer, die für sie gebracht wurden«,21 räsonniert der Erzähler. Weil die technisch hergestellte Anschauung eine Synchronizität von Betrachter und 16 Ernst Jünger : Eumeswil. Stuttgart 1980 (Sämtliche Werke; 17: Erzählende Schriften III), S. 37. 17 Ebd., S. 93. 18 Zur Prosopopoiie vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, § 826, S. 411 f. 19 Vgl. dazu Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002 (Internationaler Merve-Diskurs; 243), 26 ff. und 99. 20 Novalis: Allgemeiner Broullion. In: ders.: Schriften. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 3, Stuttgart 1968, S. 242 – 478, hier S. 252. 21 Jünger : Eumeswil, S. 50.

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Betrachtetem (oder dessen Repräsentation) voraussetzt und diachrone Verläufe tendenziell ausschließt, ist die Vorstellung einer panoramatisch visualisierten Geschichte prinzipiell mit einem nachgeschichtlichen Denken verknüpft. Kaum zufällig bezieht sich der schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufkommende Geschichtsskeptizismus bereits auf technisch-visuelle Apparate. »Meine Damen und meine Herren, hieher gefälligst. […] – die ganze Welt schauen Sie hier, wie sie rollt und lebt« – so wirbt in Christian Dietrich Grabbes Napoleon oder die hundert Tage (1829 / 30) der Ausrufer für seinen Guckkasten. »Da schauen Sie die große Schlacht an der Moskwa – Hier Bonaparte –«.22 Das zeitindifferente Medium der Sichtbarkeit dementiert wirkungsvoll die Fiktion des Fortschritts, indem es geschichtliche Situationen in virtueller Simultaneität vorführt. Das posthistorisch visualisierte Gedächtnis, das bei Grabbe bereits angedacht wird, steht in historisch noch weiter ausgezogener Linie in der Nachfolge des barocken Kuriositätenkabinetts, das die geschichtsphilosophische Idee des Fortschritts noch gar nicht kannte. »Die Historie«, schrieb Nicomachus Hieronimus Gundling in den Prolegomena zu seinem Ausführlichen Discours von 1733, »ist ein Kabinett, darinnen man alles sehen kan, was passiret; alle revolutiones, eventus rerum kan man da sehen«.23 Die mediale Moderne hat Jüngers techno-utopische Fiktion für die jüngere Zeitgeschichte in weitem Maßstab faktisch verwirklicht. Was immer – selbst unvorhergesehener Weise – auf der Bühne der aktuellen Zeitgeschichte geschieht, wird in der Regel augenblicklich durch die Kamera dokumentiert und im globalen Ausmaß auf die Bildschirme der Medienempfänger übermittelt. Die modernen Aufzeichnungs-, Speicher-, Übertragungs- und Wiedergabemedien des Fernsehens, der Videotechnik und des Computers sind zu Distributionsagenturen und Archiven eines beinah lückenlos repräsentierten Weltgeschehens geworden, das jederzeit wieder abrufbar ist. Das aber hat auch eine ästhetische Konsequenz, die sich nicht zuletzt in Hinsicht auf literarische Darstellungen zur Geltung bringt. Was immer literarische Texte jetzt an zeitgeschichtlichem Geschehen berühren und erinnern mögen, ist im Zeitalter der Information ihren Lesern immer schon in kaum überbietbarer Detailfülle und sinnlicher Präsenz anschaulich vertraut. Was Jüngers Roman als privilegierte Position eines uto22 Christian Dietrich Grabbe: Napoleon oder die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen. In: ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Bearbeitet von Alfred Bergmann. Bd. 2, Emsdetten 1963, S. 315 – 459, hier S. 325. – Zur Geschichtsskepsis im neunzehntenJahrhundert, die bereits auf das Posthistoire vorausweist, vgl. Dorothee Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert. München 2002. 23 Nic[olaus] Hier[onymus] Gundling: Ausführlicher und mit Illustren Exempeln aus der Historie und Staaten Notiz erläuterter Discours über Weyl. Herrn D. Io. Franc. Buddei Politic […]. Frankfurt, Leipzig 1733. Prolegomena, S. 4.

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pischen Beobachters fingiert, der über eine technisch außerordentlich avancierte Apparatur verfügt, ist im Blick auf geschichtliche Gegenwart längst zur potenziellen Position jedes beliebigen Empfängers innerhalb der Sphäre globaler Nachrichten- und Bilder-Zirkulationen geworden. Die alles überschauende Position eines ›olympischen‹ oder, in der Sprache der modernen Narratologie, die ›nullfokalisierte‹ Sicht24 eines mit verschiedenen Zeitebenen und Wahrnehmungsperspektiven willkürlich schaltenden Beobachters scheint in der medientechnologisch fortgeschrittenen Gegenwart kein Privileg des fiktionalen Erzählens mehr zu sein; vielmehr stellt sie die gewöhnlich gewordene Position des medial equipierten Zeitgenossen am Ende des zwanzigsten und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts dar. Er ist umgeben von einer medialen Peripherie, die ihm jedwedes zeitgeschichtliche Geschehen gleich nah erscheinen lässt. Die elektronische Umwelt, über die er mit der scheinbaren Souveränität des unbeteiligten Beobachters verfügt, hat den durch physische Kontiguität gekennzeichneten Raum, in den ihn seine Leiblichkeit setzt, um eine »teletopische« Sphäre erweitert, die aus der realzeitlichen Kontiguität der elektronischen Bilder entsteht.25 Dieser durch technische Informationsmedien konstruierte Raum bildet eine »elektro-optische Umgebung«, in der sich gegenwärtige Welterfahrung ganz selbstverständlich situiert: »Die teletopische Wirklichkeit«, schreibt Paul Virilio, »setzt sich gegen die topische Wirklichkeit des Ereignisses durch.«26 Zumindest in informationeller Hinsicht ist das medientechnisch integrierte Subjekt zum Bürger einer »global public sphere« geworden,27 die sich über weltweit verbreitete Medien und Medienprodukte konstituiert und kulturelle Differenzen einzuebnen tendiert – mit eingreifenden Folgen für das, was man ›Geschichte‹ nennt. Dass angesichts dieser informationstechnischen Synchronisierung der Welt gerade die Bestrebungen regionalistischer, nationalistischer und fundamentalistischer Ungleichzeitigkeiten wachsen,28 gehört indes zur Rückseite dieser medialen Globalisierung, deren Möglichkeiten ihrer eigenen Gegnerschaft zurüsten. Die Audiovisualisierung der Archive des zeitgeschichtlichen Gedächtnisses hat jedoch noch weitere, ästhetische Implikationen. Denn die bewegten Filmund Fernsehbilder repräsentieren das tatsächlich Vergangene, anders als die Schrift, nicht mehr bloß als abstrakt erstarrte Spur, sondern halten es parado24 G¦rard Genette: Die Erzählung. Übersetzt von Andreas Knop. München 1994, 132 – 134. 25 Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Frankfurt / M. 1998, S. 29. 26 Ebd., S. 31. 27 Vgl. Akhil Gupta, James Ferguson: Beyond Culture: Space, Identity, and the Politics of Difference. In: Cultural Anthropology 7 (1992), H. 1, S. 6 – 23. 28 Vgl. auch Francis Debray : Einführung in die Mediologie. Aus dem Französischen von Susanne Lötscher. Bern 2003, S. 228 ff.

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xerweise fest in einer zuvor unbekannten Präsenz, Lebendigkeit und Fluidität. Die jederzeitige Verfüg- und Wiederholbarkeit des Vergangenen für die Anschauung spielt die ontologische Diachronie zwischen Gegenwart und geschichtlichem Geschehen, das qua Vergangenes ›nicht mehr ist‹, in eine technisch-epistemische Synchronie hinüber, in der auch das Vergangene stets gegenwärtig gehalten wird. Das filmische und videotechnische Archiv birgt demnach keine Vergangenheit mehr, die als ›tote‹ Historie gleichsam im Rücken der Gegenwart läge, sondern konserviert diese als sinnlich präsentes, lebendiges Geschehen. Maurice Halbwachs’ einprägsames Bild, die Zeitgeschichte gleiche »einem Friedhof«, der durch bildlos-abstrakte Daten und Formeln angelegt wird,29 hat die technische Ikonik offensichtlich noch nicht im Blick. Die ›Verflüssigung‹, ›Verlebendigung‹ oder prosopopoietische »Vivifizierung« (Novalis) des Vergangenen kraft der Zeit der Erzählung30 und im Modus der Fiktion war nur so lange ein ›Alleinstellungsmerkmal‹ literarischer Texte, wie Vergangenheit eben zu toten Dokumenten erstarrte. Jenseits der in Rede stehenden medienhistorischen Schwelle haben die audiovisuellen Medien die Funktion der Vergegenwärtigung selbst übernommen und perfektioniert. Sie repräsentieren die Welt nicht mehr in Form abstrakt codierter »schematisierte[r] Ansichten«, deren dargestellte Gegenständlichkeit gegenüber der unmittelbaren Evidenz notwendig unterbestimmt und einer konkretisierenden Einbildungskraft überantwortet bliebe, wie es die rezeptionsästhetische Theorie für die Textlektüre herausgearbeitet hat.31 In der konkreten Anschaulichkeit der technischen Bilder werden die ›Unbestimmtheitsstellen‹ minimiert; angesichts ihrer technischen Aufzeichnung scheinen zeitgeschichtliche Geschehnisse keiner weiteren Konkretisierung mehr zu bedürfen. Dass die damit verbundene beinah lückenlose Besetzung der Leerstellen unserer Zeitgeschichts-Bilder die Freiheit literarischer Imagination weit stärker einengt, als selbst genaueste schriftgebundene Informationen es je konnten, gehört zu den Grunderfahrungen von Erzählern und Dramatikern spätestens seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Demnach wird der Schauplatz zeitgeschichtlicher Darstellungen mehr und mehr bestimmt durch ein Bildwerden der Realität – und durch ein Realwerden der Bilder zugleich. Die Schauplätze zeitgeschichtlich-realer Ereignisse haben sich auf die Bildschirme verlegt; aber technische Medialisierungen sind darüber hinaus – auf den killing screens der zeitgenössischen Kriege – selbst zu ein29 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt / M. 1985, S. 37. 30 Vgl. Paul Ricoeur : Zeit und Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz und Andreas Knop. Bd. 2, München 1989. 31 Vgl. Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968, S. 10. Zur Weiterentwicklung von Ingardens Konzept vgl. Wolfgang Iser : Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 3. Auflage München 1990, S. 284 – 301.

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flussmächtigen Faktoren der politischen Szenarien geworden, während sie zugleich den virtuellen Spielwelten der Computersimulationen immer ähnlicher werden.32 Die »Fernsehrevolution« in der DDR zwischen Oktober 1989 und der Maueröffnung am 9. November desselben Jahres hat diesen Zusammenhang auch auf der Bühne der deutschen Zeitgeschichte vorgeführt.33 Literarischen Darstellungen scheint in dieser Konstellation vorderhand kein Platz angewiesen zu sein. Fotografien, Film- und Fernsehbilder und die durch sie vermittelten, sie kommentierenden oder ergänzenden Informationen definieren auf meist unhintergehbare Weise die Bedingungen der Möglichkeit, auf zeitgeschichtliche Ereignisse und Prozesse überhaupt Bezug nehmen zu können, während literarische Texte mit ihren Möglichkeiten der Weltdarstellung und -erschließung demgegenüber ins Abseits zu geraten scheinen. Dieser Befund erscheint wie eine späte, medientechnisch begründete Bewahrheitung der platonischen Kritik, die Dichtung sei »an dritter Stelle von der Naturwirklichkeit entfernt«.34 Während die zeitgeschichtlich-politische Realität immer mehr in Informations- und Bildprozesse eingeht und sich darin reproduziert, erscheint sie selbst jedoch immer mehr als Reproduktion bereits vorher-gesehener Bilder und Informationen. Denn der Troglodyt des Medienzeitalters lebt gewissermaßen in einer Welt der ikonischen Schatten, in der bläulichen Dämmerung seiner elektronischen Höhle. Er ist an sein medientechnologisches Equipment genauso gebunden wie die Bewohner der platonischen Höhle an ihre physischen Fesseln. Unter den Bedingungen der hochentwickelten technischen Moderne wiederholt sich daher die ontologische und epistemologische Kritik, die Platons Gleichnis in der Frühzeit der ›Grafosphäre‹ an der doxa übt. Im Hintergrund der medialen Höhle, im Rücken ihrer weltläufig orientierten Bewohner arbeiten die Projektionsmaschinen einer medialen Kognitions- oder Bewusstseinsindustrie.35 An »hellen Feuern«, heißt es in Thomas Hettches eben zitiertem Roman (analog zu Politeia 514ab), steigt man »in der Tiefe und immer weiter ins Flimmern der Halbleiter hinab und in jene einfachen Zustände stummer Ladungsübertra32 Vgl. dazu Dusˇan Reljic: Killing Screens. Medien in Zeiten von Konflikten. Mit einem Vorwort von Freimut Duve. Eine Studie des Europäischen Medieninstituts mit Unterstützung der Europäischen Kulturstiftung Amsterdam. Düsseldorf 1998. – Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. 2., unveränderte Auflage München 1992, S. 112 f., beschreibt das Ausmaß computerisierter Simulationen im militärischen Kontext von Übung und Ernstfall. 33 Vgl. dazu den Band: Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien. Hg. von Rainer Bohn, Knut Hickethier und Eggo Müller. Berlin 1993 (Sigma-Medienwissenschaft; 11). 34 Platon: Politeia, 597e. – Zum »perfektionistischen Gradualismus« der Platonischen Dichterkritik und zu seinen ontologischen Voraussetzungen vgl. Wolfgang Kersting: Platons Staat. Darmstadt 1999, S. 304 – 310, hier S. 307. 35 Vgl. dazu etwa die Medientheorie von Enzensberger : Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20 (1970), S. 159 – 186.

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gung«,36 in den Simulationsraum einer infografischen37 Maschine. In der »Dämmerung der elektronischen Speicherräume«38 ist das Bewusstsein eingeschlossen in einen simulatorischen Schaltkreis, aus dessen Geschlossenheit kein philosophischer Königsweg auf eine axiologisch höhere, ›eigentliche‹ Wirklichkeit hinausführt. Was immer die technische Ikonik der modernen Massenmedien an geschichtlichen Ereignissen auf ihren Print- oder Bildschirmoberflächen präsentiert, konstituiert für den Zuschauer oder Betrachter eine empirisch kaum hintergehbare »transzendentale Illusion«.39 Indem sie, mit Niklas Luhmanns markanter Formulierung, erst definiert, »was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint«,40 erzeugt sie die Illusion einer grenzenlosen Vertrautheit mit der Welt, über deren simulativen Charakter sich der Empfänger möglicherweise ebenso grenzenlos täuscht. Die »Welt der [technisch] erzeugten Fiktion« ist das Produkt einer »phantomatische[n] Maschine«, die »keine Ausgänge in die reale Welt« hat, schreibt bereits der polnische Philosoph und science fiction-Autor Stanislaw Lem.41 »Le monde moderne est celui des simulacres«, hießt es bei Gilles Deleuze.42 Im Simulationsraum einer technisch manipulier- und programmierbaren Realität wird die Differenz von Wirklichkeit und Repräsentation, von Original und Kopie letztlich gegenstandslos: Faktizität und Fiktion, Virtualität und Realität kon-fusionieren. Der »Wirklichkeitseffekt erhält Vorrang gegenüber dem Realitätsprinzip«, erläutert Paul Virilio diese Einkassierung der ontologischen Differenz.43 Diese Medienkritik, welche die Entwicklung der visuellen Speicher- und Übertragungstechniken von Anfang an begleitet hat, beleuchtet das Reversbild der modernen Informationsmedien mit derselben hartnäckigen Einseitigkeit, mit der die zeitgenössische Medientheorie diese zum Teil euphorisch feiert.44 Die Polarisierung innerhalb des mediologischen Diskurses, der sich bis heute in ›Medieneuphoriker‹ und ›Medienphobiker‹ teilt, wiederholt dabei ein Reaktionsmuster, das sich mindestens bis zur technischen Innovation des Buchdrucks mit beweglichen Lettern zurückverfolgen lässt. Doch die Kritik an der Infla36 Hettche: Nox., S. 52. 37 Vgl. Paul Virilio: Die Automatisierung der Wahrnehmung. Über die Zukunft des Krieges und des Bildes. In: Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft. Hg. von Peter Sloterdijk. Bd. 2, Frankfurt / M. 1990, 427 – 461, hier 429 bzw. 460. 38 Hettche: Nox, S. 52. 39 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage Opladen 1996, S. 14. 40 Ebd. (Hervorhebungen im Original). 41 Stanislaw Lem: Summa technologiae. Mit einem Vorwort des Autors zur deutschen Ausgabe. Aus dem Polnischen übers. von Friedrich Griese. Frankfurt / M.1978, 328. Ähnlich argumentiert Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, 3. Auflage München 2002, 248 – 258. 42 Gilles Deleuze: Diff¦rence et R¦p¦tition. 7e ¦dition Paris 1993, S. 1. 43 Virilio: Die Automatisierung der Wahrnehmung, S. 430. 44 Vgl. dazu etwa die Arbeiten von Florian Rötzer oder Norbert Bolz.

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tionierung der Information ist beinah so alt wie die alphabetische Schrift. Bereits Platons Phaidros macht die »Erzeugung immer neuer, ausschließlich von Schriften ausgehender Informationen« zum kritischen Argument,45 das sich neuerdings gegen die technischen Massenmedien richtet. Die visuelle Informatisierung, die sich von den fotografisch illustrierten Magazinen aus über die Kino-Wochenschauen der 1920er bis 50er Jahre, das Fernsehen und die Videotechnik bis hin zum vernetzten Computer vollzieht und deren ›Schauseite‹ als zunehmende Demokratisierung von Informationen, Urbanisierung des Bewusstseins46 und Globalisierung von Zeitgenossenschaft erscheint, hat offenbar einen epistemischen Preis. Während der Kathodenstrahl der Fernsehbilder das Aufgezeichnete mit der Suggestionskraft einer elektronischen Präsenz versieht, welche die ›authentische‹ Zeugenschaft in sich hineinzieht, scheint das abgebildete ›Reale‹ hinter seinen Repräsentationen zu verschwinden. Dem panoptischen Prinzip des Medienzeitalters entspricht daher eine seiner beherrschenden Obsessionen: der beinah zur Gewissheit verdichtete Verdacht, »falsch informiert« oder sogar zum Opfer medialer Simulationen zu werden.47 Je perfekter die medientechnische Inszenierung von Präsenz, desto plausibler oder wahrscheinlicher erscheint auch die Mutmaßung, dass der medial repräsentierten gar keine substanzielle ›reale Gegenwart‹48 mehr entspricht – dass also die Bild (schirm)oberfläche der Informationsmedien bloß eine Fatamorgana in der Wüste des Realen sein könnte.49 Das Zeitalter der Information ist deshalb zugleich das Zeitalter des Argwohns (l’Àre du soupÅon, Nathalie Sarraute).50 Je mehr 45 Platon: Phaidros, 257 ff.; vgl. Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt / M. 2002, S. 141. 46 Vgl. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt / M. 1983, S. 562. 47 Vgl. Jörg Requate: Von der Gewißheit, falsch informiert zu werden. In: Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter. Hg. von Michael Jeismann. Frankfurt / M. 1995, S. 272 – 292. Den Gedanken der Simulation verfolgt besonders obsessiv Jean Baudrillard; vgl. etwa Baudrillard: Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse. Aus dem Französischen von Ronald Voulli¦. Berlin 1994 (Merve-Diskurs; 184), sowie Baudrillard: Das Jahr 2000 findet nicht statt. Aus dem Französischen übersetzt von Peter Geble und Marianne Karbe. Berlin 1990. 48 Zum Begriff vgl. George Steiner : Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Deutsch von Jörg Trobitius. München 1990. 49 Vgl. Slavoj Zˇizˇek: Willkommen in der Wüste des Realen. In: Kunst nach Ground Zero. Hg. von Heinz Peter Schwerfel. Köln 2002, S. 57 – 65, sowie ausführlicher ders.: Willkommen in der Wüste des Realen. Aus dem Englischen von Maximilian Probst. Wien 2004. – Zˇizˇeks Titel ist ein Zitat aus Andy und Larry Wachowskis Film Matrix (USA / Australien 1999). 50 Vgl. den titelgebenden Aufsatz in Nathalie Sarraute: L’Àre du soupÅon. Essais sur le roman. Paris 1966, S. 53 – 77. – Die Argumentation des Essays (1950) richtet sich v. a. auf die Darstellung der »r¦alit¦ psychologique actuelle« (S. 71); in medienkritischer Perspektive vgl. dagegen ihren unbetitelten Beitrag in: Karl Jaspers, Nathalie Sarraute, Arnold Toynbee, Theodor Eschenburg: Werden wir richtig informiert? Massenmedien und Publikum. Zusammengestellt und eingeleitet von Leonhard Reinisch. München 1964 (Thema; 4), S. 29 – 47.

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die Medienwirklichkeit auf Evidenz im Sinne konkreter Anschaulichkeit hin ausgelegt ist, desto mehr an Misstrauen erzeugt sie auch. Gerade weil der visuelle Sinn für die Überprüfung der Wahrheit am zuständigsten erscheint, wie der Begriff der Evidenz festhält, wird die von Nicholas Mirzoeff, einem der Theoretiker des kulturwissenschaftlichen visual turn, gestellte Frage unabweisbar: »What are we to believe if seeing is no longer believing?«51 Wo ›Sehen‹ und ›Fürwahr-Halten‹ keine verlässliche Entsprechung mehr bilden, weil eine datenverarbeitende und nahezu unbegrenzt manipulationsfähige Visualität – sehr im Widerspruch zu Roland Barthes’ Formulierung des Noemas der Fotografie ›Esist-so-gewesen‹ (»C ¸ a-a-¦t¦«)52 – sogar zu zeigen vermag, was niemals gewesen ist, kehrt der Zweifel an der Wahrheit der sinnlichen Erkenntnis wieder, der schon am Beginn des erkenntniskritischen Philosophierens in der Frühen Neuzeit stand. Es ist die epistemische Unhintergehbarkeit der nunmehr technisch vermittelten sinnlichen Daten, welche die elektronischen Massenmedien der methodischen Fiktion des malin g¦nie der cartesischen Erkenntniskritik annähert;53 umso mehr, als deren Codes oder Steuerzeichen selbst nicht sichtund beobachtbar sind. Der sich selbst verbergende »submediale Trägerraum« (Boris Groys) ist die Voraussetzung für die Präsenz der technischen Bilder, aber der dadurch hergestellte Zusammenhang von Präsenz und Latenz bildet auch den doppelten Boden und Ausgangspunkt eines ebenso umfassenden wie unüberprüfbaren Manipalutations-, Suggestions- oder Simulationsvorbehalts.54 Dass die technische Visualität den Zugang zur Welt, die sie vor-stellt, demzufolge möglicherweise eher ver-stellt,55 gehört zur dialektischen Struktur jener Konstellation, die Heidegger unter dem Namen des »Gestells« (als Bezeichnung für das »Wesen der modernen Technik«) bedacht hat.56 Lange vor den mediologischen Theorieexperimenten Vil¦m Flussers, Paul Virilios, Jean Baudrillards oder Slavoj Zˇizˇeks hat wiederum Siegfried Kracauer diese Peripetie von Evidenz und Verdacht auf den Punkt gebracht. Im »Schneegestöber fotografischer Bilder«57 beginnt die ›Spur‹ des Realen sich zu verlieren; sie wird verschluckt oder 51 Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture. London, New York 1999, S. 3. 52 Roland Barthes: La chambre claire. In: ders.: Œuvres complÀtes. Nouvelle ¦dition revue, corrig¦e et pr¦sent¦e par Êric Marty. Tome V: 1977 – 1980. Paris 2002, S. 783 – 892, hier S. 851. 53 Ren¦ Descartes: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die Grundlagen der Philosophie I, 12. Auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu hg. von Lüder Gäbe. Hamburg 1977, S. 38. 54 Vgl. dazu etwa Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive, S. 21; Debray : Einführung in die Mediologie, S. 185. 55 Vgl. Vil¦m Flusser: Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung. Bensheim und Düsseldorf 1993 (Schriften. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Bd. 2), S. 75. 56 Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik. In: Heidegger: Vorträge und Aufsätze. 10. Auflage Stuttgart 2004, S. 9 – 40, hier S. 23 f. 57 Krakauer : Die Photographie, S 93.

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absorbiert von den medialen Speichern. Darum also – weil die technisch freigesetzte »Flut« der Bilder mehr und mehr die unmittelbaren »Originale« überschwemmt, weil sie die direkte Apperzeption von Wirklichkeit durch deren technische Repräsentation ersetzt und mit der Fülle von Informationen die Dämme des Gedächtnisses zu unterspülen beginnt – gilt für Kracauer mit gleichem Ernst auch das Gegenteil der eingangs zitierten Behauptung: »Noch niemals hat eine Zeit so wenig über sich Bescheid gewußt.«58 * An Kracauers kritischem Kommentar zur technischen Informatisierung und Bebilderung der modernen Welt wird deutlich, wie gut die medientechnologische Moderne offenbar von Beginn an über sich selbst Bescheid gewusst hat. Seine Anmerkungen zur ›sekundären‹ Welt der modernen Massenmedien präformulieren die einschlägigen Einwände bis heute. Die angeführten Überlegungen zu den mentalen Transformationseffekten der ›neuen‹ Medien, die im Anfangs- und Schlusszitat der vorangegangenen Darstellung einander entgegengesetzt worden sind, bezeichnen mit dialektischer Schärfe bereits die beiden Seiten einer technischen Medialisierung der modernen Welt, die sich im Zuge der Mediendiversifizierung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch immens verdichtet hat: die visuelle Überrepräsentation und tendenziell vollständige Dokumentation zeitgeschichtlichen Geschehens in den vielfältigen, jederzeit abrufbaren Aufzeichnungs-, Speicher- und Übertragungsmedien einerseits – und andererseits die Kehrseite eines Verschwindens der Differenz, die Original und Kopie, Wirklichkeit und Schein, Geschichte und Medialität verlässlich voneinander trennt (sodass ihre Einebnung zum Charakteristikum der ›postmodernen Situation‹ erklärt werden konnte59). Auch wenn die Medientheorie in der Diskussion neuerer digitaler Medien, virtueller Computerwelten und des Internets längst weiter gegangen ist, stellt das Fernsehen am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch immer das wichtigste Repräsentationsund Informationsmedium zeitgeschichtlicher Wirklichkeit dar.60 Mit welchen 58 Ebd. 59 Vgl. Wolfgang Welsch: Ästhetik und Anästhetik. In: ders.: Ästhetisches Denken. 4. Auflage Stuttgart 1995, S. 9 – 40, S. 16. 60 Vgl. Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg.): Televisionen. Frankfurt / M. 1999; Walter Klingler, Andreas Grajczyk, Gunnar Roters: Fernsehen und unser Erinnerungsinteresse an zeitgeschichtlichen Ereignissen. In: Massenmedien und Zeitgeschichte. Hrsg. von Jürgen Wilke. [Berichtsband der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) vom 20. bis 22. Mai 1998 in Mainz zum Thema Massenmedien und Zeitgeschichte.] Konstanz 1999, S. 317 – 332, hier S. 318. – Zur Antizipation eines Endes der »herkömmlichen Massenmedien« in der aktuellen Mediendiskussion vgl. Florian Rötzer : Interaktion – das Ende herkömmlicher Massenmedien. In: Medien und

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Begriffen auch immer die hier in Rede stehende mediologische Schwelle beschrieben werden mag – als Übergang von ›mechanischer‹ zu ›technischer‹ Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin),61 von ›Literalität‹ zum ›elektronischen Zeitalter‹ (Aleida und Jan Assmann), von der ›Gutenberg-Galaxis‹ zum elektrischen Zeitalter (Marshall McLuhan)62 oder zum Zeitalter der ›Technobilder‹ (Vil¦m Flusser),63 von der ›Grafosphäre‹ zur ›Videosphäre‹ (Francis Debray)64 –, kommen alle einschlägigen Konzepte doch in der Konsequenz überein, dass die Zeichenordnung der ikonisch-technischen Medien im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts die skripturale Zeichenordnung der Texte als Leitmedium der Apperzeption geschichtlicher Wirklichkeit allmählich abgelöst hat. Ein Prozess der informationellen Negentropie, also der Entwicklung medialer Codes zu immer präziserer, verlustärmerer und umfassenderer Speicherung und Vermittlung von Informationen, führt von der seit drei Jahrtausenden die Kulturen dominierenden Schrift bis zu den Medien des elektronischen Zeitalters.65 Dass aber die mit den technischen Massenmedien verbundene »neue Form der Mitteilung«, die Information, für die erfahrungsgesättigte Erzählung »viel bedrohlicher« sei als ästhetische Entwicklungen wie die Auflösung der geschlossenen Erzählform im zeitgenössischen Roman, hat schon Walter Benjamin in seinem Essay Der Erzähler (1936 / 37) festgehalten: Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre. Mit anderen Worten: beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung zugute.66

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Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. Hg. von Rudolf Maresch. München 1996, S. 119 – 134. Vgl. dazu auch Georg Stanizek: Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Medien. In: Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. Hg. von Georg Stanizek und Wilhelm Voßkamp. Köln 2001 (Mediologie; 1), S. 51 – 76, hier S. 55. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung). In: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I.2. Frankfurt / M. 1974, S. 471 – 508. Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Aus dem Amerikanischen übers. von Max Nänny. Düsseldorf, Wien 1968; ders.: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden, Basel 1994. Vgl. Vil¦m Flusser : Kommunikologie. Bensheim 1996 (Schriften. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Bd. 4), S. 63 u. ö. Debray : Einführung in die Mediologie, S. 44, 59 u. ö. Vgl. Joachim Knape: Die codierte Welt. Bild, Schrift und Technobild bei Vil¦m Flusser. In: Perspektiven der Buch- und Kommunikationskultur. Hg. von Joachim Knape und HermannArndt Riethmüller. Tübingen 2000, S. 1 – 18, hier S. 7. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. II.2, Frankfurt / M. 1977, S. 438 – 465, hier S. 444 f.

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Diese Abdichtung der partikularen ›Information‹ gegen die Erfahrung, die wie die Erzählung als »eine der ältesten Formen der Mitteilung« auf Kontinuität angewiesen ist,67 hat Benjamin in seinem Baudelaire-Aufsatz bereits auf die modernen Medien der Fotografie und des Films zurückgeführt; davon wird an späterer Stelle noch ausführlich die Rede sein. Den von den Medien der Information am weitesten entfernten Modus der Erinnerung bildet für ihn jenes individuelle Eingedenken, das in der Erzählrede von Prousts Recherche paradigmatisch ausgebildet ist.68 Nicht zufällig bezieht sich Prousts Roman selbst auf das Massenmedium seiner Zeit, die Presse, wenn er in der Figurenrede Swanns den kritischen Gegensatz zwischen Büchern und Journalen erläutert: »Ce que je reproche aux journaux c’est de nous faire attention tous les jours — des choses insignifiantes tandis que nous lisons trois ou quatre fois dans notre vie les livres o¾ il y a des choses essentielles.«69 Dieser Gegensatz zwischen ›überflüssiger‹ Information und ›wesentlicher‹ Erzählung wirkt bis in die medienkritischen Diskussionen der Gegenwart hinein fort, und die Auffassung von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Informationsmedien und Literatur hat unter dem Begriff der ›Medienkonkurrenz‹ in der Poetik und Literaturkritik eine weitreichende Karriere gemacht. Ihre Konsequenzen beziehen sich nicht zuletzt auf die Erzählbarkeit zeitgenössischer Geschichte, deren ereignishafte Momente die modernen Informationsmedien der Presse, der Fotografie und des Films eminent vervielfältigt haben. Nicht zuletzt die posthistorische Theorie nimmt diesen Impuls auf, indem sie in der Vervielfältigung partikularer Informationen die Aufhebung des Geschichtlichen und jedes erzählbaren ›Sinns‹ erkennen will. In den Panoramen des Verschwindens,70 die angesichts der ›Bilderflut‹ der audiovisuellen Massenmedien seit den neunzehnhundertsechziger Jahren beinah obsessiv vorgetragen werden, trifft sich daher das Postulat vom Ende der Geschichte mit der Hypothese vom Ende

67 Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2, Frankfurt / M. 1974, S. 605 – 653, hier S. 611. 68 Vgl. Walter Benjamin: Zum Bilde Prousts. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. II.1, Frankfurt / M. 1977, S. 210 – 324, hier S. 311. 69 Marcel Proust: õ la recherche du temps perdu. 1. Bd. Êdition publi¦e sous la direction de Jean-Yves Tadi¦ avec, pour ce volume, la collaboration de Florence Callu, Francine Goujon, EugÀne Nicole, Pierre-Louis Rey, Brian Rogers et Jo Yoshida. Paris 1987, S. 25 f. (»Was ich den Zeitungen vorwerfe, ist, daß sie uns alle Tage auf unbedeutende Dinge aufmerksam machen, während wir drei- oder viermal in unserem Leben die Bücher lesen, in denen Wesentliches steht.«) 70 Vgl. exemplarisch Hartmut von Hentig: Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. München, Wien 1984. Vgl. auch Karl Prümm: Intermedialität und Multimedialität. In: Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft. Hg. von Rainer Bohn. Berlin 1988, 195 – 200, hier S. 195. – Zu dieser Verlustperspektive vgl. auch Johannes Domsich: Visualisierung – ein kulturelles Defizit? Der Konflikt von Sprache, Schrift und Bild. Wien, Köln, Weimar 1991.

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der Literatur.71 Ihren Schnittpunkt bildet die These von der Unerzählbarkeit der Zeitgeschichte. »Was die Geschichte betrifft«, schreibt beispielhaft Jean Baudrillard, so ist ein Nacherzählen unmöglich geworden, da es sich per Definition (re-citatum) um das mögliche Zurückverfolgen eines Sinns handelt. Jedes Ereignis wird durch einen totalen Verbreitungs- und Zirkulationsschub freigesetzt – jede Tatsache wird zum Atom, wird nuklear, und folgt ihrer Bahn ins Leere.72

* Die vorliegende Arbeit geht dagegen von dem auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Tatbestand aus, dass literarische Texte im so genannten Medienoder Informationszeitalter73 keineswegs aufgehört haben, Stoffe der unmittelbaren Zeitgeschichte zu thematisieren. Sie fragt daher nach den geschichtstheoretischen, mediologischen und poetologischen Voraussetzungen, unter denen literarische Verarbeitungen zeitgeschichtlicher Ereignisse ›dennoch‹ möglich sind. Vor allem aber fragt sie nach den ästhetischen Konsequenzen, die sich für literarische Texte aus der Informatisierung und Bebilderung der Welt ergeben. Unwahrscheinlich erscheinen diese Bezugnahmen von Texten nicht bloß in jenem allgemeinen, von poststrukturalistischer und System-Theorie ausgearbeiteten Sinn, in dem jede kommunikative Anknüpfung als letztlich kontingente Wahl aus unzählbaren potenziellen Anknüpfungen erscheint.74 Im hier entwickelten Fragehorizont sind es vielmehr mediologische Bedingungen des Bezugs auf Zeitgeschichte, welche die bloße Existenz der untersuchten Texte jenseits selbstverständlicher Erwartbarkeit situieren und deshalb als Forschungsgegenstand auffällig machen. Die Frage nach den veränderten Bedingungen des Erzählens im Informations- oder Medienzeitalter ist jedoch keine nur ›von außen‹ an die Texte herangetragene Problematisierung; vielmehr wird sie von ihnen selbst aufgebracht und zu beantworten gesucht. Dementsprechend werden in den Kapiteln dieser Arbeit auch jene Antworten rekonstruiert, die von 71 Vgl. dazu etwa die Sektion »Medium Film – das Ende der Literatur?« auf dem Internationalen Germanisten-Kongress 1985; die Beiträge sind abgedruckt in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 10. Tübingen 1986, S. 263 – 375. – Vgl. ebenfalls den Band: Brauchen wir noch die Literatur? Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Düsseldorf 1972, hier bes. den Beitrag des Herausgebers, S. 208 – 211, sowie den neueren Band von Reinhard Baumgart: Addio. Abschied von der Literatur. Variationen über ein altes Thema. München, Wien 1995. 72 Baudrillard: Die Illusion des Endes, S. 10. 73 Vgl. etwa Dirk Matejowski, Friedrich Kittler: Literatur im Informationszeitalter. Frankfurt, New York 1996; Harro Segebrecht: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914. Darmstadt 2003. 74 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M. 1995.

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Seiten einschlägiger literarischer Texte zu erhalten sind. Es geht um die Weisen ästhetischer Selbstbehauptung und -vergewisserung einer Literatur, die ihre aktuelle ›Welthaltigkeit‹ angesichts technischer Informationsmedien nicht preisgeben will, während sie ihren Zugang zur Welt doch nicht unabhängig von ihrer Aufzeichnung, Speicherung und Vermittlung finden kann. Damit verwandelt sich das fragliche ›Dass‹ der Darstellbarkeit in ein näher bestimmbares ›Wie‹. Die drei Kapitel des folgenden Teils (II) gelten systematischen und historischen Aspekten des verhandelten Themas. Zunächst wird der Begriff des zeitgeschichtlichen Ereignisses im Horizont geschichtstheoretischer und philosophischer Überlegungen zu präszisieren versucht, die ihn in Beziehung zur Erzählbarkeit setzen (Kapitel 1). Dass aktuelle Ereignisse einerseits immer schon bekannt sind, andererseits aber auch, strukturalistisch gesehen, als ephemer erscheinen mögen, bestreitet den Begriff oder die Relevanz des Ereignisses selbst – damit aber auch die Bedingungen des Erzählens davon. Es ist diese Paradoxie, in der sich literarische Ereignis-Darstellungen bewegen, indem sie auf Ereignisse zurückkommen. Hier wird ein theoretischer Zugang vorgeschlagen, der zeitgeschichtliche Ereignisse als medial konfigurierte und präparierte Größen beschreibt, zugleich aber auch als potenzielle Erzählanlässe verstehbar macht. Das folgende Kapitel (2) versucht daraufhin eine historische Poetik literarischer Zeitgeschichts-Darstellungen zu skizzieren, die vor allem als Problemgeschichte gedacht ist: Darin wird der poetische und poetologische Horizont weitläufig vermessen, in den die untersuchten Zeitgeschichts-Darstellungen seit ›1968‹ einzutragen sind. Es geht dabei nicht um die Verteidigung bestimmter Positionen, sondern darum, ein Problem zu beschreiben, das Literaten und Theoretiker der Literatur offenbar seit der Frühen Neuzeit, besonders aber unter den Bedingungen des modernen Medien- oder Informationszeitalters umtreibt. Im anschließenden Kapitel (3) wird die These vom ›Apriori der technischen Bilder‹ zu begründen und zu erläutern versucht: In sieben Aspekten wird ausgeführt, was es für literarische Darstellungen zeitgeschichtlicher Ereignisse bedeutet, dass sie sich im Kontext einer technisch geprägten visual culture verorten. Dabei wird eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses vorgeschlagen, welche die visuellen Medien als Agenturen einer vor allem bildförmigen Geschichtskultur versteht, welche in Untersuchungen des Zusammenhangs von Literatur und Geschichte bisher wenig Berücksichtigung erfahren hat.75 Die Visualität der 75 Im Register des von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp herausgegebenen Kompendiums: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin 2002, sucht man etwa nach den Stichworten »Medien«, »Fernsehen« oder »Audiovisualität« vergeblich. Stattdessen arbeitet sich die literaturwissenschaftliche Theorie zum Zusammenhang von Literatur und Geschichte immer noch vorwiegend an Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Poesie und Geschichtsschreibung ab.

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Geschichte, also der Umstand, dass bereits annährend »[e]in Jahrhundert […] hinter uns [liegt], in dem Geschichte nicht geschrieben, sondern gefilmt worden ist«,76 bildet vielfach einen blinden Fleck der einschlägigen Forschung. Mit anderen Worten geht es darum, jene Bedingungen der Erfahrung und Erinnerung zeitgenössischer Geschichte, welche die neuere Geschichtswissenschaft unter dem Namen visual history anspricht, auch für die literaturwissenschaftliche Arbeit in den Blick zu bekommen. – Der folgende Teil (III) wird durch einen Abschnitt eingeleitet, der die Prämissen der vorgenommenen Auswahl literarischer Texte und die Methodik ihrer Untersuchung darstellt. Dieser einzeltextbezogen interpretierende Teil legt eine chronologische Ordnung zugrunde, die sich nicht an der zeitlichen Reihenfolge der Texte, sondern an zentralen ›Geschichtszeichen‹ der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts orientiert: 1968 (mit ›Vietnam‹) – 1977 (Deutscher Herbst) – 26. 4. 1986 (Tschernobyl) – 9. 11. 1989 (Mauerfall) – 1992 – 1999 (postjugoslawische Kriege) – 9 / 11. – Der letzte Teil (IV) fasst die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung noch einmal zusammen. * Geschichte gehört zu denjenigen Begriffen, die sich nicht in die Pluralform versetzen lassen, ohne ihre Bedeutung zu verändern. ›Ereignisgeschichten‹ meint etwas anderes als ›Ereignisgeschichte‹. ›Ereignisgeschichten‹ verwandeln Geschichte in Geschichten, weil sie nicht ein für allemal dargestellt, sondern auf diverse Weisen erzählt werden kann. Sowenig sich Geschichte selber schreibt, sowenig legt sie ihren interpretierbaren Sinn selber fest; sowenig aber entscheidet sie auch über die Form ihrer Darstellung. Insofern bildet der Titel dieser Untersuchung eben jene semantische Transformation selber ab, deren Beschreibung er überschreibt: Ereignisgeschichten überführen das Gegebene (Datum) der Geschichte in ästhetische Formen. Auch in diesen Formen aber bleiben literarische Darstellungen ›der Daten eingedenk‹. Von den Bedingungen, Problemen und Bewältigungsversuchen dieser Transformation handelt diese Untersuchung.

76 Leander Scholz: Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF. In: Akzente 48 (2001), H. 3, S. 214 – 220, hier S. 214.

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II. Systematische und historische Bedingungen

1.

Ereignis und Geschichte Hat man […] jemahls die Ereignung selbst geläugnet?1

1792 nimmt Johann Wolfgang Goethe an der Seite seines Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar am Ersten Koalitionskrieg Preußens und Österreichs gegen das revolutionäre Frankreich teil. Aus dem Rückblick von etwa dreißig Jahren beschreibt er in seiner autobiografischen Schrift Campagne in Frankreich 1792 die Situation der preußischen Armee nach der Kanonade von Valmy, die am 20. September die Wende des Krieges bedeutete: Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee. Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sämtlichen Franzosen anzuspießen und aufzuspeisen […]; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah so war es um zu fluchen, oder zu verwünschen. Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufällig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezündet werden, die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke, denn ich hatte die Schar gewöhnlich mit kurzen Sprüchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich: von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt’ sagen, ihr seid dabei gewesen.2

Dass Goethes Urteil die – nach den Befreiungskriegen und dem napoleonischen Feldzug weitgehend in Vergessenheit geratene – Kanonade von Valmy historisch überbewertet, lässt sich nur bedingt als bloße Fehlbeurteilung des gerade Er1 Gotthold Ephraim Lessing, zit. nach Johann Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. I. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1807. Hildesheim, New York 1969 (Documenta Linguistica), S. 973 (s. v. »Ereignen«). 2 Johann Wolfgang Goethe: Campagne in Frankreich 1792. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 14. Hg. von Reiner Wild. München 1986, S. 335 – 516, hier S. 384 f.

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Systematische und historische Bedingungen

oder Überlebten oder gar als renommistisch auslegen.3 Situativ gesehen ist sein Ausspruch, der mit der Kanonade von Valmy einen epochalen Einschnitt verbindet, auf den Kreis der demoralisierten Soldaten bezogen, die er wie »gewöhnlich« mit einem ›kurzen Spruch‹ moralisch aufrichten will. Da sich die Niederlage schwerlich in einen Triumph umdeuten lässt, muss die Teilnahme selbst für die Erbauung aufkommen. Dazu jedoch bedarf es der Steigerung des Erlebten im globalhistorischen Maßstab (»Weltgeschichte«). Indem er die Niederlage als epochale Zäsur ausgibt, so dass ›von hier und jetzt‹ etwas Neues ausgehen kann, markiert Goethe die Kanonade von Valmy erst als ›Ereignis‹ im singulären Sinn. Als solches aber wertet er die eher glücklose Mitleidenschaft zur Teilhabe an einem schlechthin Außerordentlichen auf, das sich dem Kollektiv mitteilt: Die Partizipation am exzeptionellen, zukunftsmächtigen Ereignis soll im Kreis der Soldaten gewissermaßen das ›Feuer‹ entzünden, das in ihrer eigenen Mitte fehlt. Indem es das gerade erst Geschehene als prospektiv sinnvoll ausgelegt, bietet Goethes Diktum es bereits einer affirmativen Erinnerung an. Was aus der Unmittelbarkeit der Situation zunächst nur pragmatisch motiviert erscheint, verfestigt die Wiederholung des Urteils im 1822 erschienenen schriftlichen Bericht. Indem das Erlebte so noch aus dem Rückblick von drei Jahrzehnten zum weltgeschichtlichen Ereignis stilisiert wird, trägt der Text das sonst signifikationslos und anonym bleibende Datum in ein über die Miterlebenden hinausreichendes, kulturelles Geschichts-Gedächtnis ein. Die ›Epoche‹ (epoch¦), von der bei Goethe die Rede ist, ist jedoch streng genommen nicht der zeitgeschichtliche Abschnitt, dessen Einsatz das Datum markiert, sondern das Ereignis dieses Einschnitts selbst. Denn die Kennzeichnung des damit eröffneten Zeitraums verdankt sich einer Metonymie. Sie setzt die Unterbrechung der Kontinuität mit dem geschichtlich ›Neuen‹ gleich, das von ihr ausgeht oder durch sie möglich wird.4 Die Bezeichnung berührt sich dabei mit einer Äquivokation, die den Begriff des geschichtlichen ›Ereignisses‹ prägt: Ausgespannt zwischen exakt datierbarem Einschnitt und zeitlich ausgedehntem Verlauf, punktuellem Geschehnis und prozesshaftem Geschehen, koinzidiert das Ereignis im Grenzfall mit der ›Epoche‹ im engsten wie weitesten Sinn. Auch Leopold von Rankes Entwurf Über die Epochen der neueren Geschichte (1854), der an den metonymischen Epochenbegriff anknüpft, zentriert die Semantik des Ereignisses in der Unterbrechung des kontinuierlichen Verlaufs, wenn er die Entstehung der christlichen Weltreligion, Caesars Eroberung 3 Vgl. Arno Borst: Das historische Ereignis. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik V), S. 536 – 540, hier S. 536: »Er hat die Kanonade von Valmy zur welthistorischen Epoche hochstilisiert, um hinterher sagen zu können, er sei dabei gewesen.« 4 Epoch¦ meint wörtlich ›Anhalten‹ und wird seit dem 18. Jahrhundert auf die Einleitung einer neuen Entwicklungsphase oder auf diese selbst bezogen.

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Ereignis und Geschichte

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Galliens, die Konstitution des Abendlands durch die Kaiserkrönung Karls des Großen oder die Revolution von 1830 eine Reihe ›weltgeschichtlicher Ereignisse‹ bilden lässt. Es sind solche exakt datierbaren wie mittelfristige Zeitverläufe in Anspruch nehmenden Zäsuren, die in den nationalgeschichtlich spezifizierten Sprachgebräuchen den Begriff der ›Zeitgeschichte‹ (histoire contemporaine, historia contemporanea, storia contemporanea oder contemporary history) konstituieren: die Französische Revolution, der Beginn des Spanischen Unabhängigkeitskrieges 1808, das Ende der Napoleonischen Herrschaft in Italien 1815 oder die britische Parlamentsreform von 1832.5 Offenbar hat man es bei den konstitutiven Markierungen der Zeitgeschichte mit »Typen von Ereignissen völlig unterschiedlichen Niveaus« zu tun:6 Sie beleuchten Veränderungen oder Umbrüche einer ›tiefer‹ liegenden Ordnung, die in momenthaften Geschehnissen hervortreten oder zeitlich erstreckte Verläufe in Anspruch nehmen. Je ausgedehnter jedoch die Dauer eines Ereignisses ist, desto mehr verweist es bereits auf die Zeitebene der Struktur. Damit ist eine Wechselbeziehung zwischen Ereignis und Struktur angezeigt, die schon im Verhältnis zwischen Ereignis und Epoche enthalten war. Unabhängig von der Fragwürdigkeit des generellen Geschichtsbegriffs und der Annahme universeller Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung historischer Ereignisse7 scheint die Rede von Ereignissen nur in Relation zu Strukturen sinnvoll zu sein, die sie interpunktieren oder deren Umbrüche sie anzeigen. Die Restriktion des Ereignisbegriffs auf die epoch¦ gilt umso weniger dann, wenn auch seine geläufige Verwendung im politisch-historischen Diskurs nicht einfach als ›illegitime‹, uneigentliche Rede zurückgewiesen werden soll. Zwischen Ereignis und Prozess vermittelt bereits die Begriffsgeschichte. Während die Etymologie von ›Ereignis‹ bereits auf die leiblichen und technischen Medien der Sichtbarkeit verweist – Ereignis benennt dasjenige, was sich ebenso unmittelbar wie unerwartet den Sinnen darbietet, ›sich offenbart‹; ›ereignen‹ meint ›eräugen‹ (mhd. eröugen, ahd. irougen), ›sich offenbaren‹, ›zei-

5 Matthias Peter, Hans-Jürgen Schröder : Einführung in das Studium der Zeitgeschichte. Unter Mitarbeit von Markus M. Hugo, Holle Nester und Anja Rieger. Paderborn 1994, S. 15. 6 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. 8. Auflage Frankfurt / M. 1997, S. 16. Foucault verweist beispielhaft auf Ereignisse von kurzer und solche »von mittlerer Dauer, wie die Ausdehnung einer Technik oder das Seltenwerden des Geldes«, sowie andere »von langsamer Gangart, wie ein demographisches Gleichgewicht oder die fortschreitende Anpassung einer Ökonomie an eine klimatische Veränderung« (ebd.). Ein solcherart ausgedehnter Ereignisbegriff verliert allerdings seine Diskriminierungskraft. 7 Vgl. dazu Karl R. Poppers Kritik (und sein Votum für den geschichtstheoretischen Perspektivismus) in Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Übersetzt von Paul K. Feyerabend, Anhänge übersetzt von Klaus Pähler. 7. Auflage Tübingen 1992, S. 304 – 328, hier S. 309 – 311.

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Systematische und historische Bedingungen

gen‹, ›in die Augen fallen‹8 –, deutet das lateinische eventus (oder eventum; frz. ¦v¦nement, engl. event) auf den ›Ausgang‹ oder das ›Ergebnis‹ von Prozessen hin, die im Ereignis gipfeln; also auf das, worin der geschichtliche Prozess sein Werden überschreitet und sich markant manifestiert. Im Ereignis kommt zum Ausdruck, worauf es (auf unabsehbare Weise) hinausläuft. Etymologisch sind Ereignis und Struktur also prinzipiell vermittelt. Daran knüpft der angeführte metonymische Gebrauch des Epochenbegriffs an, indem er die ereignishafte epoch¦ auf den von ihr eröffneten Verlauf bezieht. Die historiografische (auch: literaturgeschichtliche) und philosophische Theoriebildung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat jedoch zwei prinzipielle Linien im Verhältnis von Ereignis und Struktur herausgearbeitet: Die strukturalistische Auffassung, mit der zuerst die französische Sozialgeschichtsschreibung polemisch auf die traditionelle Ereignisgeschichte reagierte, diskreditiert das Ereignis zugunsten der Struktur. Ihr Anti-Eventismus lässt sich allerdings mit vermittelnden Argumenten entschärfen, welche zwischen beiden ein dialektisches Verhältnis entwickeln (Reinhart Koselleck, Hans Robert Jauß). Die radikale Theorie des Ereignisses insistiert dagegen auf dessen Irreduzibilität in kausaler wie in repräsentationslogischer Hinsicht (Jacques Derrida). – Im Folgenden geht es nicht lediglich um die Absteckung des theoretischen Horizonts, sondern darum, einen brauchbaren Begriff des zeitgeschichtlichen Ereignisses zu gewinnen. Dazu wird an Benjamins Begriff des ›Chocks‹ angeknüpft werden, zumal sich mit ihm mediengeschichtliche und ästhetische Einsichten verbinden. Schließlich ist der Begriff des Medienereignisses zu bestimmen, wobei der theoretische, über Benjamins Medientheorie gewonnene Zugang eine phänomenologische Modellierung erfahren soll.

1.1

Ereignis und Struktur

Folgte man dem methodischen Neuansatz der Geschichtswissenschaft in Deutschland seit den 1970er Jahren, könnte es den Gegenstand dieser Untersuchung legitimerweise eigentlich gar nicht geben. Mit dem Übergang von der Ereignis- zur Strukturgeschichte erscheint die Rede vom Ereignis – als stoffliche Größe nicht nur historiografischer, sondern auch literarischer Darstellungen – obsolet: Bereits kurz nach 1900 hatte FranÅois Simiands Polemik gegen die bis dahin vorherrschende histoire ¦v¦nementielle eine histoire profonde gefordert 8 Vgl. D. Sinn: Ereignis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 608 f.; Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache I, S. 973; weniger informativ Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 2. vermehrte und verbesserte Ausgabe Leipzig 1798, Sp. 1885 (s. v. »Das Ereigniß«).

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und soziale Strukturen anstelle von denkwürdigen Ereignissen als eigentlichen Gegenstand sozialgeschichtlicher Forschung benannt, und die französische Schule um die Zeitschrift Annales hat die Umorientierung vom Ereignis auf die Struktur zum Programm und Modell wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht.9 Im geschichtlichen Zusammenhang ersetzt der Blick auf die longue dur¦e die Fixierung auf das punktuelle ¦v¦nement. Die historiografische Kritik am Ereignisbegriff hat sich auch im Bereich der literaturwissenschaftlichen Methodengeschichte in der Ersetzung von werk- und ideenorientierten Literaturgeschichten durch die ›Sozialgeschichten der Literatur‹ fortgesetzt.10 Nicht zuletzt die marxistische Historik hat den Begriff der Geschichte auf die Struktur hin ausgelegt.11 Die Differenz zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte betrifft indes auch den literarischen Text, insofern er von Geschichtlichem handelt. Denn Strukturen können prima facie nicht erzählt, sondern allenfalls beschrieben oder rekonstruiert werden; schon darum, weil Strukturen im Unterschied zu Ereignissen nicht konstitutiv auf handelnde und erlebende Subjekte oder Gruppen bezogen sind,12 sind sie tendenziell von der mimetischen Darstellung abgewandt. Umgekehrt besteht zwischen Ereignissen und Erzählen eine grundsätzliche Affinität, wie vor allem die begriffliche Nähe zwischen ›spektakulärem‹ Ereignis, Drama und theatraler Praxis deutlich macht: Bis ins 18. Jahrhundert heißt ›Spektakel‹ vor allem ›Schauspiel‹,13 und ›Ereignis‹ bildete 9 Vgl. FranÅois Simiand: M¦thode historique et science sociale. Êtude critique d’aprÀs les ouvrages r¦cents de M. Lacombe et de M. Seignobos. In: Revue du synthÀse historique 6 (1903), S. 1 – 22 und 129 – 157. – Gegen die bis Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende Herrscher- und Schlachtengeschichte wendet sich allerdings bereits Voltaire, indem er eine ›moderne‹ Wirtschafts-, Sozial- und Sittengeschichte fordert: »On saurait ainsi l’histoire des hommes, au lieu de savoir une faible partie de l’histoire des rois et des cours. […] Il faudrait donc, me semble, incorporer avec art ces connaissances utiles dans le tissu des ¦venements.« Voltaire: Nouvelles consid¦rations sur l’histore. In: ders.: Œuvres historiques. Êdition pr¦sent¦e, ¦tablie et annot¦e par Ren¦ Pomeau. Paris 1957, S. 46 – 49, hier S. 48. – Zur Kritik am Ereignisbegriff vgl. auch Thomas Rathmann: Ereignisse Konstrukte Geschichten. In: ders. (Hg.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln, Weimar, Berlin 2003, S. 1 – 19. 10 Vgl. vor allem: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Horst Albert Glaser. Reinbek 1980 – 1997, sowie Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Begründet von Rolf Grimminger. München 1980 ff. 11 Vgl. etwa Alfred Schmidt: Geschichte und Struktur. Fragen einer marxistischen Historik. München 1971. 12 Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt / M. 1989, S. 144 und S. 148. 13 Johann Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache. Ergänzungsband: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Neue stark vermehrte und durchgängig verbesserte Ausgabe. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1813. Hildesheim, New York 1970 (Documenta Linguistica), S. 564 (s. v. »Spect‚cle«), unterscheidet die Bedeutungen: »1. Das Schauspiel«, »2. Der Lärm, das Aufheben, z. B. in der R. a. Spectacle machen.«

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Systematische und historische Bedingungen

mit den ›Haupt- und Staatsaktionen‹ der politischen Tragödien ein Synonym.14 Wo Strukturen dennoch erzählt werden sollen,15 ist das Erzählen genötigt, diese erneut in Abfolgen von Handlungen und Ereignissen zu übersetzen. Im literaturgeschichtlichen Kontext hatte sich allerdings Hans Robert Jauß beim fünften Kolloquium der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik (1970) bereits um eine »Ehrenrettung« des Ereignisbegriffs angesichts seiner strukturalistischen Diskreditierung bemüht, indem er eine Neubestimmung des Verhältnisses von ›Geschichte‹, ›Ereignis‹ und ›Erzählung‹ unternahm.16 Ereignisse heben sich vom Geschehensverlauf dadurch ab, dass sie sich als Ausgangspunkte neuer struktureller Prozesse denkwürdig machen, wobei sie ebenso unvorhersehbar wie unbeabsichtigbar sind.17 Als solche enthalten sie einen Überschuss über ihre strukturellen Voraussetzungen, der ihre logische Irreduzibilität ausmacht. Ebenso wie strukturelle Bedingungen phänomenologisch etwas schlechthin anderes sind als empirisch erlebbare Ereignisse, gehen diese auch kausal in den sie bedingenden Strukturen nicht auf: »Jedes Ereignis«, schreibt Reinhart Koselleck, »zeitigt mehr und zugleich weniger, als in seinen Vorgegebenheiten enthalten ist.«18 Ereignisse können aus Strukturen demnach nicht abgeleitet werden; stets enthalten sie einen unherleitbaren Rest, der ihren Neuigkeitsgehalt – ihre »Novität« – ausmacht.19 Sowenig Ereignis und Epoche (epoch¦) gegeneinander austauschbar sind, sowenig lassen sich also Ereignisse auf Strukturen reduzieren. Was Goethes eingangs zitierter Bericht post eventum als epochale Zäsur markiert, mag in geopolitischen und militärgeschichtlichen Strukturen ante eventum bereits angelegt sein, die bis dahin latent und unauffällig geblieben waren; das Ereignis geht jedoch über deren Manifestation hinaus. Der geschichtstheoretische 14 Vgl. Borst: Das historische Ereignis, S. 536. 15 Vgl. dazu den Band: Strukturen erzählen: Die Moderne der Texte. Hg. von Herbert J. Wimmer. Wien 1996. 16 Hans Robert Jauß: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik V), S. 554 – 560. – Vgl. den ähnlichen Ansatz in der französischen Diskussion bei Edgar Morin: Le retour de l’¦v¦nement. In: ders.: L’Êv¦nement. Paris 1972, S. 6 – 20. 17 Jauß zitiert an dieser Stelle Voltaire: Essais sur les moeurs, chap. LIV. – Die Diskrepanz zwischen aktueller Absicht und geschichtlicher Wirkung illustriert ebenso Kleists berühmte Deutung der Entgegnung Mirabeaus in der Versammlung der Generalstände am 23. Juni 1789: »Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.« Heinrich von Kleist: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II / 9: Sonstige Prosa. Basel, Frankfurt / M. 2007, S. 25 – 32, hier S. 29. 18 Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 151. 19 Ebd.

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Strukturalismus denkt indes Ereignis und Struktur in einem dialektischen Zusammenhang: Wenn Ereignisse nur mit Bezug auf Strukturen Bedeutung erlangen, sind doch umgekehrt auch diese abhängig von Ereignissen, »in denen sich Strukturen artikulieren, die durch sie hindurchscheinen«.20 Nur weil Strukturen und langfristige Prozesse latent sind, können sich einzelne ihrer Momente in Ereignissen manifestieren. Die ereignishafte Unterbrechung struktureller Latenz hat demzufolge auch eine aufmerksamkeitstheoretische – und damit mediologische – Dimension. Auch wo von Ereignissen keine neuen Strukturbildungen ausgehen, fokussieren sie oft ›unterschwellige‹ Sachverhalte der gesellschaftlichen Diskurs- und Bewusstseinsökonomie. Selbst unter strukturorientierten Denkvoraussetzungen bleibt das Ereignis damit eine Figur letztlich unhintergehbar eigenen Rechts: Seine Präsenz ›unterbricht‹ für einen markanten Moment die Unsichtbarkeit struktureller Ordnungen, während es zugleich strukturell begründete Erwartungen hinsichtlich des geschichtlichen Verlaufs überbietet. In diesem Verhältnis von struktureller Erwartung und Ereignis trifft sich die pragmatische, soziale oder politische Geschichte mit der Literaturgeschichte, die Jauß bereits 1967 als Rezeptionsgeschichte neu zu bestimmen versucht hat. Es ist die Denkfigur der (ästhetischen) Überbietung des zeitgenössischen Erwartungshorizonts, die es ermöglicht, das literarische Werk ohne Reduktionismus als »ereignishaft«21 und historisch zugleich zu begreifen. Jauß kann daher die Literatur- qua Wirkungsgeschichte als neues Paradigma historischer Erkenntnis ins Spiel bringen, die jenseits der »alten Ereignisgeschichte […] Ereignis und Dauer, Prozeß und Struktur zu vermitteln« vermag.22 Zwischen literarischen Texten und geschichtlichen Ereignissen besteht damit, anders als Jauß zunächst meinte, aber keine prinzipielle Differenz, weil auch pragmatisch-geschichtliche Ereignisse ebenso bedeutungsoffen und perspektivierbar sind wie literarische Texte: Auch ihre Wirkung ist abhängig von einer Rezeption, die ihnen Bedeutungen zuschreibt, diese kommuniziert und weiter tradiert.23 20 Ebd., S. 149. 21 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt / M. 1970, S. 144 – 207, hier S. 154; zum Text»Ereignis« vgl. auch S. 191 u. ö. Jauß spricht auch von der »Gegenwart und Einmaligkeit einer literarischen Erscheinung« (S. 153); deren Ereignisqualität wird mit Hilfe der ästhetischhistorischen »Kategorie« des ›Neuen‹ als Überbietung des rezeptionsseitigen »Erwartungshorizonts« bestimmt (S. 193) und mit Karl Poppers wissenschaftstheoretischem Falsifikationismus in modellhafte Parallelität gesetzt (S. 201 f.). 22 Jauß: Vorwort. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, S. 7 – 10, hier S. 10. 23 Vgl. Jauß: Geschichte der Kunst und Historie. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, S. 208 – 251, hier S. 217 (sowie die dort referierte Kritik Droysens am »Dogma der ›objektiven Tatsachen‹«). – Das gilt nicht zuletzt für das Ereignis der Shoah, dessen geschichtliche Wirksamkeit bis heute auf seiner unausgesetzten Rezeption beruht.

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Jauß’ und Kosellecks Überlegungen holen das Ereignis in den Horizont einer strukturellen Ordnung ein, ohne es darin aufgehen zu lassen. Was jedoch an ereignishafter Präsenz nicht auf latente Strukturen zurückbezogen werden kann, bringt eine vertikale Dimension des Ereignisbegriffs ins Spiel, welche die horizontale Ordnung, die geschichtliche Zeit und historisches Denken konstituiert, konterkariert.24

1.2

Paradoxien des Ereignisbegriffs

Versteht man Ereignisse als instantane Einbrüche in die geschichtliche Zeit, so durchkreuzen sie vertikal eine von Erwartungen geprägte Horizontale, von der her man Ereignisse »nicht kommen sehen kann«.25 Ereignisse stehen im Modus der Plötzlichkeit:26 Nicht als augenblickliche Kondensationen einer zuvor nur nicht klar erkennbaren Entwicklung, sondern als voraussetzungs- und erwartungslose Geschehnisse, die sich in ihrer Kontextlosigkeit und Absolutheit einer ›Gabe‹ vergleichen,27 unterbrechen Ereignisse den Prozess geschichtlicher Zeit. Diese Auffassung von Ereignissen als Aussetzungen geschichtlich-kontinuierlicher Ordnung eröffnet indes eine Paradoxie: Ereignisse stehen dann gewissermaßen außerhalb der Geschichte, während sie doch deren wesentliche Markierungen bilden. Hält man sich an den disruptiven Sinn von Ereignissen, wäre ›Ereignisgeschichte‹ als Folge von Zäsuren zu verstehen, als Abfolge signifikanter Unterbrechungen, die das Prinzip der Abfolge zugleich stornieren. Ereignisgeschichte hätte ihre Bedingung im Aussetzen ihres Verlaufs: Was Geschichte heißt, könnte so als punktierte Linie vorgestellt werden,28 die einen Zusammenhang zwischen Daten suggeriert, den jedes einzelne Datum dementiert. Die diskreten Punkte durch historische Linien zu verbinden, hieße umgekehrt gesehen, jeden einzelnen buchstäblich durchzustreichen und damit zu löschen. Denn die verzeichnende Ordnung, in die es sich einfügt und die es fortschreibt, negiert das Ereignishafte des Ereignisses selbst. Zeitgeschichtliche Daten sind dann nicht nur Markierungen in einem zeiträumlichen Koordinatensystem, sondern codieren die von ihnen bezeichneten Ereignisse doppelt als 24 Vgl. dazu auch Nikolaus Müller-Schöll: Einleitung. In: ders. (Hg.) unter Mitarbeit von Philipp Schink: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 9 – 17, hier S. 9 f. 25 Jacques Derrida: Eine unmöglichen Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2003, S. 60. 26 Vgl. dazu auch Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Mit einem Nachwort von 1998. Frankfurt / M. 1981. 27 Ebd., S. 27 ff. 28 Vgl. dazu Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt / M. 2004, S. 58.

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Aussetzung und Wiedereinsetzung von Ordnung zugleich. Es entspricht der systemtheoretischen Figur des Re-entry, dass die Formen der Diskontinuität selbst in die Ordnung der Daten wieder eingereiht oder hineinkopiert werden.29 Aber indem es das Kontinuum der Erwartungen und sinnvermittelnden Rekonstruktionen unterbricht, sistiert das Ereignis auch das Kontinuum der Rede davon, die ebenfalls prozesshaft und linear verläuft. Die Vertikale des Ereignisses steht ebenso quer zur Horizontalen der Erzählung oder des Berichts, die auf dem Prinzip der Serialisierung sprachlicher Zeichen beruht. Damit rückt das Ereignis tendenziell außerhalb der Sagbarkeit, also des Zugriffs jedes – literarischen wie nichtliterarischen – Diskurses; umso mehr, als jeder Diskurs, wie Michel Foucault betont, das Ereignis als Gefährdung seiner Ordnung des Sagbaren ausschließen muss: Es ist das »Spiel der Identität in der Form der Wiederholung und des Selben«, das als Kontingenz abwehrende Rede über bereits Bekanntes den ›Kommentar‹ installiert.30 Sofern diese Kommentierung aber zu den Bedingungen des Diskurses erfolgt, der sich vom Ereignis unterbrochen sieht und doch nicht irritieren lassen will, muss sie dieses notwendig verfehlen. Das Ereignis bildet gegenüber dem Diskurs eine Chiffre der Alterität bzw. Novität, deren Möglichkeit kein Diskurs vorsieht bzw. vorsehen kann; es erscheint als unvorhersagbar und unsagbar zugleich. Die radikale Theorie des Ereignisses isoliert das Ereignis gegenüber jeder Struktur : Sie kündigt die Dialektik zwischen Moment und Prozess, unterbricht die geschichtliche Fortschreibung des Ereignisses als Epoch¦ und nimmt das Ereignis selbst gegenüber seiner nachträglichen, historiografischen oder literarischen Verzeichnung in Schutz. Damit aber wird das Ereignis ins paradoxe Zeichen einer unmöglichen Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, gestellt. Jacques Derrida hat unter diesem Titel den Ereignisbegriff und die Möglichkeit seiner sprachlichen Repräsentation theoretisch befragt. Derridas Ereignisbegriff ist epiphan, also am theologischen Modell der messianischen Ankunft orientiert; er orientiert sich am Kairos, also am ›Augenblick‹ (wie Heideggers Übersetzung lautet) der Parusie, der Wiederkunft Christi und des Jüngsten Gerichts, den die frühe Christenheit dem Kronos des weltlichen Kalenders entgegen gesetzt hat. Die theoretische Kontur (und den theologischen Kontext) hat Benjamin den Überlegungen Derridas mit dem Konzept einer ›absoluten‹, ereignishaften (und messianischen) Gewalt vorgezeichnet: Radikal einzigartig und Paradigma der Einzigartigkeit zugleich, unterbricht das Ereignis das Kon29 Vgl. ebd., S. 37; zum Begriff des Re-entry vgl. etwa Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M. 1995, S. 102. 30 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt / M. 1993, S. 22 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch Hans Robert Jauß: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hg. von Reinhart Koselleck und WolfDieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik V), S. 554 – 560, hier S. 554.

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tinuum der Geschichte.31 Besteht das Ereignis demzufolge in einer Durchbrechung aller vorläufigen Expektationen, die »nicht vorhergesagt oder im voraus festgelegt und noch nicht einmal wirklich entschieden werden« kann, sind Ereignisse in Hinsicht auf jede vorausblickende wie retrospektive Ordnung inkommensurabel. »Zu den Merkmalen des Ereignisses gehört ja nicht nur die Unvorhersehbarkeit und damit die Tatsache, dass es den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbricht, sondern auch seine absolute Singularität. Also«,folgert Derrida, »kann man sagen, dass das Sprechen vom Ereignis, die Mitteilung von Wissen über das Ereignis, die Singularität des Ereignisses in gewisser Weise a priori und immer schon verfehlt – durch die einfache Tatsache, dass das Sprechen zu spät kommt und die Singularität in der Generalität verliert.«32 Das Verhältnis von Ereignis und Sprache ist so paradox wie jede Rede von Einzigartigkeit: Nicht nur, weil sie in konventionalisierten Mustern formuliert und behauptet werden muss, sondern auch, weil sie einen gemeinsam geteilten Sinn voraussetzt, den sie gerade bestreitet, ist die Singularität von Ereignissen im Prinzip ineffabile und inkommunikabel.33 Diese Undarstellbarkeit des Ereignisses gilt für die technisch-ikonischen Medien nicht minder. Auch die Simultaneität von Aufzeichnung und Übertragung, die sinnliche Synchronisierung von Beobachter und Beobachtetem, die eine Art televisioneller Augenhöhe mit dem Ereignis herzustellen sucht, bleibt für Derrida »natürlich« hinter dem Ereignis zurück; dass Medien »interpretieren, selektieren, filtern und infolgedessen das Ereignis machen, anstatt es bloß abzubilden«, begründet den performativen oder konstruktiven Charakter ihrer Repräsentationen, die sich selbst freilich als identische Mitteilung ausgeben.34 Das gilt umso mehr, als »das Televisuellwerden« der Ereignisse für Derrida »ihre Verwandlung in Simulakren« impliziert.35 Seine Argumentation berührt hier die Simulationstheorie des Posthistoire, wie sie vor allem von Jean Baudrillard und Paul Virilio ausgedacht worden ist. Die posthistorische Simulationstheorie wirft damit indes auch ein ethisches Problem auf, indem sie – wie etwa Baudrillards Einlassungen zum ›zweiten‹ Golfkrieg von 1991 zeigen –36 die Verleugnung der Opfer realer Gewalt in Kauf nimmt. Denn sie betreibt einen medienkritischen Reduktionismus, der jede Möglichkeit eines real (ereignishaft) Gegebenen auf ein davon ununter31 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. II.1, Frankfurt / M. 1977, S. 179 – 203. – Zur Ankunft des Messias als absolutem Ereignis vgl. auch Gianluca Solla: ›Alles was der Fall ist‹. Der Messias als Ereignis überhaupt. In: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Hg. von Nikolaus Müller-Schöll unter Mitarbeit von Philipp Schink. Bielefeld 2003, S. 48 – 59. 32 Derrida: Eine unmögliche Möglichkeit, S. 8 und S. 21. 33 Vgl. dazu Niklas Luhmann, Peter Fuchs: Reden und Schweigen. Frankfurt / M. 1989, S. 145. 34 Derrida: Eine unmögliche Möglichkeit, S. 22. 35 Ebd., S. 59. 36 Vgl. Jean Baudrillard: La guerre du golfe n’a pas lieu. Paris 1991.

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scheidbares Gemachtes der technischen Repräsentation zusammenstreicht. Im Gegensatz dazu beharrt Derrida darauf, »dass Ereignishaftes stattgefunden hat, das sich auf keinen Fall reduzieren lässt« – im Falle des Krieges also darauf, »dass es tausende von Toten gab.«37 Hält man mit Derrida an diesem ›authentischen‹ Kern des Ereignisses fest, so hat auch die posthistorische Simulationsthese an der Verleugnung jenes ›Unsagbaren‹ teil, das den Kern des Ereignisses ausmacht.38 Nicht zuletzt der Erfolg der Simulationsthese in den populären Medien bis hin zum Hollywood-Kino stellt deren kritische Potenz ja durchaus in Frage.39 Hält man mithin an der Möglichkeit ›realer‹, nicht simulierter Ereignisse fest, ergibt sich ein repräsentationales Paradox: Denn jede Form der Vermittlung bringt das Mitgeteilte unter ihren eigenen systemlogischen Bedingungen hervor. Wo immer zeitgeschichtliche Ereignisse in semiotische Codierungsprozesse eingehen, sind sie bereits in eine eigengesetzliche symbolische Ordnung integriert, die ihren Ereignischarakter aufhebt. Die notwendige ›Verfehlung‹ zeitgeschichtlicher Ereignisse durch technische Medien gilt dann aber natürlich auch – oder erst recht – für literarische Texte, die mit notorischer Verspätung darauf zurückkommen. »Impuissance, vanit¦ du romancier. Livre inutile, comme tous les livres. L’¦crivain est comme la cavalerie, qui arrive toujours trop tard«, schreibt Fr¦d¦ric Beigbeder in seinem Roman über den 11. September 2001.40 Dass Literatur – gemessen an der Aufzeichnungs- und Verbreitungsgeschwindigkeit der technischen Bilder – ein langsames Medium ist, vergrößert ihren Abstand auch zum Ereignis selbst. Literarische Repräsentationen und Rekonstruktionen sind zudem keineswegs weniger von Verfahren der Selektion und Interpretation bestimmt als die Berichterstattung der Informationsmedien. Was Nietzsches sprachliche Repräsentationsskepsis allgemein formuliert, lässt sich auf das speziellere Verhältnis von Ereignis und Sprache allemal beziehen: »Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus.«41 Die unaufhebbare Verfehlung in einer Sprachlichkeit , das immer schon ›darüber hinaus‹ ist, macht das Ereignis, das nur im radikalen ›Jetzt‹ anzutreffen ist, im strikten Sinn unerzählbar, zumal sich erzählende Rede immer auf Vergangenes bezieht. Nimmt man diesen Argumentationszusammenhang beim Wort, so folgt daraus

37 Derrida: Eine unmögliche Möglichkeit, S. 58. 38 Ebd., S. 59: »Das ist das Unsagbare: das sind die Toten, zum Beispiel die Toten.« Baudrillard dagegen ordnet dieses Ereignishafte ins Kontinuum eines ebenso gegenstands- wie widerstandslosen Simulationszusammenhangs ein. 39 Vgl. dazu etwa den Film Wag the Dog mit Dustin Hoffman und Robert De Niro, Regie: Barry Levinson, USA 1997. 40 Fr¦d¦ric Beigbeder : Windows on the World. Paris 2003, S. 41. 41 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung. In: Kritische Studienausgabe (KSA). Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, 2., durchgesehene Auflage München, Berlin, New York 1988, S. 55 – 161, hier S. 128.

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eine Aporie jeder Adaption zeitgeschichtlicher Ereignisse durch literarische Texte: Die Erzählung verfehlte notwendig, wovon sie erzählt. Dass jeder Akt der Versprachlichung das Unvertraute und Befremdende, für das der Begriff des Ereignisses steht, auf die Vertrautheit der Begriffe zurückführt und insofern womöglich ›wegerklärt‹, wiederholt sich im Akt der Interpretation; auf dieses unvermeidbare Problem hat bereits Theodor W. Adorno hingewiesen.42 Auch die Interpretationen dieser Untersuchung haben sich daran zu erinnern. Am ehesten ist ihm durch eine Aufmerksamkeit für die Unwahrscheinlichkeit der Texte und den Sinn für ihre Paradoxien beizukommen, die im Mittelpunkt der Interpretationen in den späteren Kapitel dieser Arbeit stehen. Die vom strukturalistischen Geschichtsdenken angestoßenen Überlegungen Kosellecks und Jauß’ haben einen ›raffinierten‹ Zusammenhang von Ereignis und Struktur entworfen, der sich auch für einen poststrukturalistischen – an der Epiphanie ausgerichteten – Ereignisbegriff produktiv machen lässt. Versteht man das Ereignishafte als unverrechenbaren Überschuss über Erwartung und Struktur, vermag der Ereignisbegriff seiner vertikalen Dimension Rechnung zu tragen, ohne seine Konditionierung durch horizontale Strukturen zu bestreiten. Phänomenologisch zeigen sich Ereignisse dann als Durchbrechen geschichtlicher Kontinuitätserwartungen, während sie – nachträglich gesehen – einzelne strukturelle Zusammenhänge oder auch zeitgeschichtlich-politische Diskurse aus dem Kontinuum der Geschichte herausheben, die die Bedingungen ihrer Möglichkeit kenntlich machen. Als Chiffre radikaler Alterität und Unvertrautheit steht das Ereignis dennoch für etwas, was von keiner kausalen Prognostik vorausgesagt noch durch nachträgliche Erklärungslogik je restlos eingeholt werden kann. Denn die strukturgeschichtlichen Bedingungen für Ereignisse sind stets nicht-zureichender Art: Indem sie jedes einzelne Ereignis unterbieten und durch jedes überboten werden, bleibt Geschichte ergebnis- und damit ereignisoffen. Derselbe Überschuss an irreduzibler Präsenz entzieht Ereignisse auf der anderen Seite auch jeder nachträglichen Logik der Repräsentation: Stets ist das Ereignis mehr als alles, was von ihm gesagt, gezeigt oder erzählt werden kann.

1.3

Das Ereignis als Chock

Was aber, wenn Ereignissen wie in der medialen Moderne gerade die Qualität der beinah globalen Vertrautheit und Bekanntheit zueigen wird? Wenn Ereignisse von ihrer medialen Repräsentation gar nicht mehr abzulösen sind – also an42 Theodor W. Adorno: Rückblickend auf den Surrealismus. In: ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Bd. 11, Lizenzausgabe Darmstadt 1998, S. 101 – 105, hier S. 101.

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scheinend restlos von ihnen aufgenommen werden? Es bedarf offenbar eines spezifischeren Ereignis-Konzepts, das den Formen seiner Medialisierung und Repräsentation Rechnung trägt, ohne es darin aufzulösen. Anders gesagt ist nach einer Theorie des Ereignisses zu fragen, die Medialität und Ereignishaftigkeit im Zusammenhang denkt und damit zugleich einen nichtwidersprüchlichen Begriff des ›Medienereignisses‹ zu formulieren erlaubt. Einen Versuch, Ereignis und moderne Medien aufeinander zu beziehen, hat Walter Benjamin in einer seiner letzten Arbeiten unternommen – in dem im Zusammenhang des Passagen-Werks verfassten Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire.43 Benjamin hat für den Begriff des Ereignisses denjenigen des ›Chocks‹ eingesetzt. Es ist das unvermittelte Affiziertwerden von den Reizen der urbanen Lebenswelt, welche die Erfahrung moderner Zeitgenossenschaft bestimmt; den topografischen Erfahrungsraum dieses charakteristisch modernen Chocks bildet für Benjamin das zeitgenössische Paris. Die chockhafte Qualität der hier erfahrbaren Moderne hat Benjamin mit Sigmund Freuds Ausführungen in Jenseits des Lustprinzips (1920) näher bestimmt. Manifestiert sich das Ereignis – dem eben dargestellten Theoriezusammenhang zufolge – im Aussetzen der kontinuierlichen Ordnung, so besteht die Wirkung des Chocks – psychoanalytisch gesehen – in der »Durchbrechung des Reizschutzes«, den die psychische Ordnung des Subjekts gegen äußere Bedrohungen aufzubieten sucht.44 Denn das psychische System nimmt den eigenen Energiezustand gegen den »gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen, draußen arbeitenden Energien« in Schutz,45 die kraft eines Gesetzes der Entropie, wie Freud anzunehmen scheint, zur Auflösung und Angleichung energetischer Differenzen und Zustände tendieren. Daraus folgt, dass dem Schutz vor äußeren Reizen im seelischen Organismus eine »beinahe wichtigere« vitale Funktion als der ReizRezeption zukommt: Ohne die Fähigkeit, solche in den seelischen Haushalt ›einströmenden‹ Energien abzuhalten, zu ›binden‹ oder zu ›besetzen‹, lösten sich alle psychischen Systeme in einer Art Wärmetod auf. Freud vergleicht diese Bindung mit der Transformation frei flottierender, nach »Abfuhr« verlangender Energie in einen ›ruhenden‹ Zustand. Auf der Ebene des erinnernden Gedächtnisses ist diese Transformation bereits abgeschlossen: Was immer sich als »Gedächtnisspur« in einer dem wahrnehmenden Bewusstsein nachgeordneten Schicht des psychischen Apparats abgelagert hat, ist mit dem Übertritt über die Schwelle des Bewusstseins bereits ›psychisch gebunden‹. Ereignishaft wirken 43 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Uwe Steiner: Walter Benjamin. Stuttgart, Weimar 2004, S. 163 – 174. 44 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 613. 45 Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: ders: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Bd. 3, Frankfurt / M. 1975, S. 213 – 272, hier S. 237.

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seelische Reize demnach in dem Maß, in dem sie die Abwehrmechanismen der Psyche zu durchdringen vermögen: Solche Durchbrechungen des Schutzes, den die Psyche gegen das Andringen der Energien von außen aufzubieten vermag, geschehen in Momenten der »traumatische[n]« Erregung, des ›Schrecks‹ oder des »Schocks«.46 In ihnen versagt die Angstbereitschaft, die auch die unbekannte Gefahr bereits erwartet, so dass sich das psychische System unvorbereitet den ereignishaften ›Impakten‹ ausgesetzt sieht. Die Angstträume der Traumatisierten (wie der Kriegs- und »Unfallsneurotiker«, von denen Freud spricht) sind aposteriorische Versuche, die versäumte »Reizbewältigung […] nachzuholen«. Diese nachgeholte Reizbewältigung aber nimmt die Form des neurotischen Wiederholungszwangs an.47 Benjamin verallgemeinert den bei Freud eher zurückhaltend verwendeten Begriff des ›Chocks‹ zur Kennzeichnung eines Modus der Moderne-Erfahrung schlechthin, die in den Großstädten ebenso wie in den Schützengräben, aber auch angesichts der rasch wechselnden Bilder auf der Kinoleinwand gemacht werden kann. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung besteht die Relevanz seiner Diagnostik vor allem darin, dass er den Chock mit der Verarbeitung durch die Medien der ›technischen Reproduzierbarkeit‹ in Verbindung bringt. Deren Exponenten sind – wie Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz sagt – Fotografie und Film mit ihren ›neuen‹ Möglichkeiten der augenblicklichen optischen Fixierung des ereignishaften Moments: »Ein Fingerdruck genügt, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock.«48 Wie Vil¦m Flusser später den Tastendruck als charakteristische Geste des Computerzeitalters ausmachen wird,49 manifestiert sich für Benjamin die Spezifik der in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden medientechnischen Neuerungen in der »Gebärde des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens«, vor allem aber im »›Knipsen‹ des Photographen«.50 Die Technik der Fotografie korrespondiert mit der modernen Erfahrung, indem sie auch gestisch, durch die Weise ihrer Bedienung, auf die Plötzlichkeit der »Innervationen« durch die empirischen Reizmomente der modernen Lebenswelt abgestimmt ist. Benjamins Medientheorie setzt offenbar eine Verkürzung der Belichtungszeit voraus, die erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts möglich geworden ist. Jenseits der statischen Fotografie aber bringt für ihn der Film durch seine Serialisierung der Momentaufnahmen die »chockför46 Ebd., S. 239. – Anders als Benjamin verwendet Freud den Begriff nur zögernd, da er die »alte, naive Lehre vom Schock« erst zu rehabilitieren versucht; vgl. ebd., S. 241. 47 Ebd. und S. 242. 48 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 630. 49 Vgl. Vil¦m Flusser : Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien. Mannheim 1993 (Schriften. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Bd. 1), S. 23. 50 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 630.

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mige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung«.51 Diese Serialisierung der Momente und ihre dadurch bewirkte Flüchtigkeit suspendieren das Einmalige der Erscheinung, das Benjamin zuerst in seiner Kleinen Geschichte der Photographie und später im Kunstwerk-Aufsatz auf den Begriff der ›Aura‹ gebracht hat.52 Der Wahrnehmungsmodus in der modernen Welt, der sich für Benjamin im Chock konzentriert, setzt sich in ihren technischen Medien um. Indem diese den belichteten Moment fokussieren, unterziehen sie »das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art.«53 Die psychische Chockabwehr – eine »Spitzenleistung der Reflexion« – wird in der medientechnischen Moderne vom psychischen Apparat gleichsam an die technischen Apparate delegiert: Was anthropologisch zuvor die Aufgabe einer subjekt-internen Reizverarbeitung war, wird seit dem neunzehnten Jahrhundert auf technische Weise ›exteriorisiert‹, um im Wege technomedialer Wahrnehmungsroutinen auf die psychische Kondition der Subjekte zurückzuwirken. Die potenziell traumatische Wirkung des Chocks wird durch ein »Training in der Reizbewältigung« abgewehrt, das dem Ereignis »den Charakter des Erlebnisses« verleiht und es in die »Registratur der bewussten Erinnerung« einschreibt.54 Zwischen Erlebnis und Erfahrung nimmt Benjamin demzufolge ein Gegensatzverhältnis an:55 Was immer bewusst verarbeitet wurde, erhält bereits erlebnishafte Qualität; diese aber trennt sich von der Qualität des Ereignishaften ebenso wie von einer das Subjekt verändernden Erfahrung, die nur durch chockartige Eindrücke geprägt werden kann. Es ist die medial vermittelte »Leistung der Chockabwehr«, welche »dem Vorfall auf Kosten seines Inhalts [also seiner ereignishaften Singularität, C.D.] eine exakte Zeitstelle im Bewusstsein« anweist.56 Die Transformation des Ereignisses in ein Erlebnis integriert es gewissermaßen in die Geschichte, so dass es in bewussten Akten der Erinnerung abrufbar wird. Im Akt der intentionalen Erinnerung aber ist es die Zeit des ›horizontalen‹ Rückbezugs selbst, die sich der Reizbewältigung zur Verfügung stellt – und damit das ›vertikale‹ hic et nunc des Ereignisses aufhebt. Dass der Chock des Ereignisses »derart abgefangen« und pariert wird, neutralisiert und ›sterilisiert‹ ihn nach Benjamin zugleich »für die dichterische Erfahrung« und Verarbeitung.57 Benjamin denkt dabei vor allem an 51 Ebd., S. 631. 52 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. II.1, Frankfurt / M. 1977, S. 368 – 385. – Zum Begriff vgl. Josef Fürnkäs: Aura. In: Benjamins Begriffe. Hg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla. Frankfurt / M. 2000, S. 95 – 146. 53 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 631. 54 Ebd., S. 614. 55 Vgl. auch Steiner : Walter Benjamin, S. 173. 56 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 615. 57 Ebd., S. 614.

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die Lyrik Baudelaires: Sie ist die Dichtung eines »Modernen«, der sich um die Erfahrung betrogen weiß, denn »sie hat den Preis bezeichnet, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis.«58 Was Benjamin hier in einem der letzten Sätze seines Essays benennt, bezeichnet die Ausgangsbedingung aller im Rahmen dieser Untersuchung untersuchten literarischen Texte. Es sind die darin benannten technisch-medialen Verarbeitungsprozesse, die ›Chocks‹ in diskontinuierliche ›Erlebnisse‹ und ›Ereignisse‹ in isolierte ›Informationen‹, also in medial vermittelte, zusammenhanglose, aber wiederholbare Einheiten verwandeln, welche die Ausgangsbedingungen der Repräsentation zeitgeschichtlicher Ereignisse im literarischen Text definieren. Die technomediale Moderne vervielfältigt diese Chocks und neutralisiert sie zugleich in Form der Information. Mit den Techniken der visuellen Repräsentation werden Reizverarbeitungsroutinen auf Seiten der Subjekte implementiert, deren entferntester Gegensatz mit der auratischen Erfahrung gekennzeichnet ist, wie sie Benjamin – weit jenseits zeitgeschichtlicher Sensationen – in der Lektüre von Prousts Recherche begegnet ist. Benjamins Begriff des Chocks bezieht sich im Baudelaire-Aufsatz vor allem auf den Erfahrungsmodus des Einzelnen innerhalb der ›Masse‹ der großstädtischen Lebenswelt. An eine Theorie zeitgeschichtlicher Ereignisse oder ›Chocks‹, die sich dem Gedächtnis ganzer gesellschaftlicher Kollektive einprägen und über Massenmedien vermittelt und erinnert werden, ist in seiner Medientheorie nicht gedacht. Wo Benjamin die (von Maurice Halbwachs eingeführte) Differenz von ›individuellem‹ und ›kollektivem‹ Gedächtnis berührt, denkt er an die »Kulte[] mit ihrem Zeremonial, ihren Festen, deren bei Proust wohl nirgends gedacht sein dürfte«, im Gegensatz zur m¦moire involontaire, die er dem »Inventar der vielfältig isolierten Privatperson« zurechnet: Sie definieren die »Erfahrung im strikten Sinn«, denn »sie führten die Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses [»der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven«, C.D.] immer von neuem durch.«59 Dennoch ist mit Benjamins Überlegungen eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses anvisiert, die von Halbwachs entwickelt und von der neueren Kulturwissenschaft fortgedacht worden ist. Zu zeitgeschichtlichen werden Ereignisse erst dadurch, dass eine gesellschaftliche Gruppe sich kollektiv auf sie als irgendwie relevante Daten ihrer Geschichte bezieht. Wie also Ereignisse einerseits durch eine medial vermittelte kollektive Bezugnahme erst zu zeitgeschichtlichen werden, stellt sich andererseits die Einheit dieses Kollektivs nicht

58 Ebd., S. 653. 59 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 611.

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zuletzt über den gemeinsamen Bezug auf relevante Ereignisse der eigenen Geschichte her. In einem brauchbaren Begriff des zeitgeschichtlichen Ereignisses, der den Gegebenheiten des Informationszeitalters Rechnung trägt, sind die kollektivierenden Medien daher mitzudenken. Die chockhaft fragmentierte Erfahrung, die Benjamin beschreibt, kennzeichnet nicht zuletzt den empirischen Modus der von ihnen hergestellten ›Medienwirklichkeit‹ selbst, die Partikularität und den Sensationalismus ihrer Informationen. Legt man ihn auf die Wahrnehmung zeitgeschichtlicher Ereignisse hin aus, so beschreibt Benjamins ›Chock‹ die Weise der Gegebenheit aktueller Geschichte in der Form ihrer medialen Vermittlung. Die fortwährende Affizierung durch chockhafte, plötzlich auftauchende Ereignisse ist vom formalen Darstellungsprinzip der modernen Massenmedien nicht zu trennen, und die durch technische Mittel, medial konditionierte, beschleunigte, diskontinuierliche Sinneswahrnehmung zeichnet sich aus durch anschauliche Betrachtung und Zerstreuung zugleich.60 Dass die technische Medialisierung gleichzeitig eine Neutralisierung im Sinne der Chockabwehr bewirkt, wie Benjamin mit Rekurs auf Freud argumentiert, ist im Hinblick auf zeitgeschichtliche Ereignisse kaum zu bestreiten. Dass die Repräsentation des Schreckens ihren Gegenstand neutralisiert und sogar in ein Objekt ästhetischen Genusses verwandeln kann, hat lange vor den medienkritischen Einlassungen der bildtechnischen Moderne bereits die ästhetische Repräsentationstheorie im 18. Jahrhundert beschrieben.61 Die bildmediale Vermittlung bricht den Bann der leibhaften Präsenz, indem das technisch hergestellte Bild mit der visuellen Gegenwärtigkeit zugleich die Abwesenheit des Gezeigten bezeugt; aber sie zerstreut zudem die chockhafte Fixierung aufs Einzelne in einer Serie vervielfältigter Bilder und Informationen. Die Beschreibung des desensibilisierenden Effekts, der aus dieser Indifferenz des Mediums folgt, ist längst zu einem Topos des medienkritischen Diskurses geworden.62 Indem sie die Reichweite und Unterscheidungsschärfe des optischen Sensoriums des Menschen maximal ausdehnt, desensibilisiert die ›transhumane‹ Technik der universalen Sichtbarmachung die wahrnehmenden Subjekte zugleich: Der vergöttlichte Blick des unbegrenzten Beobachters, den die Technikutopie des

60 Vgl. Roland Innerhofer : Die Liebe zum Film. In: Archiv – Zitat – Nachleben. Die Medien bei Walter Benjamin und das Medium Benjamin. Hg. von Am‚lia Kerekes, Nicolas Pethes und Peter Plener. Frankfurt / M. u. a. 2005 (Budapester Studien zur Literaturwissenschaft; 7), S. 97 – 111, hier S. 101. 61 Vgl. Johann Jacob Breitinger : Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Bd. 1, Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke), S. 68 ff. 62 Vgl. etwa Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 2, Frankfurt / M. 1983, S. 563.

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Fernsehens um 1900 sich erträumte,63 müsste zugleich der kälteste, empfindungsloseste sein. Je näher die Medien der Information die Ereignisse also den Empfängern bringen, desto weniger erreichen sie sie noch. Damit wäre ein Grundproblem medialer Ereignis-Repräsentation angegeben: So allgegenwärtig und unentrinnbar zeitgeschichtliche Ereignisse in der Informations- und Mediengesellschaft sind, so sehr verstärkt dieser information overload ihr Absinken in die Teilnahmslosigkeit. Je mehr Ereignisse die Medien illuminieren, desto mehr arbeiten sie ihrer Nivellierung zu.

1.4

Medienereignisse Das Ereignis ist die Domäne des Fernsehens.64

Benjamins Überlegungen zum Zusammenhang von fragmentierter Erfahrung und modernen Medien stimmen mit Derridas radikaler Ereignis-Theorie darin überein, dass sie die Formen der Medialisierung, welche die Moderne zugleich mit einer veränderten Wahrnehmung hervorgebracht hat, auf die Seite der Abwehr, Absorption oder Entschärfung seiner radikalen Unmittelbarkeit schreiben. Ähnlich – als normalistische Bannung des Schreckens oder als Herstellung von Kontrolle über die ›undisziplinierten‹ Ereignisse und damit über Aktualität – hat auch die neuere Medientheorie die Funktion von EreignisMedialisierungen beschrieben.65 Indem die technischen Medien der Aufzeichnung, Speicherung und Repräsentation das Ereignis im konkreten Sinn aufnehmen, heben sie auch den mit ihm verbundenen Chock im doppelten Sinn der Negation und Speicherung auf; sie transformieren Ereignisse in Einheiten der Information, die mehr die Eigenlogik des Mediums zur Geltung bringen als die jede Vermittlung abweisende Logik des Ereignisses selbst. Im Ergebnis dieser medialen Transformation, dem Medienereignis, wiederholt sich daher die Paradoxie der Ereignis-Verzeichnung: Indem die Augenblicklichkeit auf Dauer 63 Vgl. Liesegang: Das Phototel, S. X, und die Ausführungen in der Einleitung dieser Arbeit. 64 Manfred Schneider: Ein Himmelreich für ein elektronisches Auge. Die technischen Speicher und das Glück. In: Weiterbildung und Medien 4 (1990), S. 32 – 34, hier S. 33. 65 Vgl. Götz Großklaus: Welt-Bilder – Welt-Geschichten: Schrecken und Bannung in Nachrichtentexten des Fernsehens. In: Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien. Hg. von Julika Griem. Tübingen 1998, S. 165 – 182; John Fiske: Nachrichten, Geschichten und undisziplinierte Ereignisse. In: ders.: Lesarten des Populären. Aus dem Englischen von Christina Lutter, Markus Reisenleitner und Stefan Erdei. Wien 2000, S. 166 – 203. – Vgl. auch die systematische Darstellung bei Matthias Thiele: Ereignis und Normalität. Zur normalistischen Logik medialer und diskursiver Ereignisproduktion im Fernsehen. In: Philosophie des Fernsehens. Hg. von Oliver Fahle und Lorenz Engell. München 2006, S. 121 – 136, hier bes. S. 124.

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gestellt und das Ereignis zu einer festen, referierbaren Größe gemacht wird, verflacht es zu einer Markierung auf der Horizontalen des zeitgeschichtlichen Gedächtnisses und zum Gegenstand technischer Reproduktion. Es ist diese Antinomie von punktuellem Ereignis und Wiederholbarkeit, die Lorenz Engell als ›paradoxe Potenz‹ des Mediums Fernsehen gekennzeichnet hat.66 Anstelle der Singularität des Ereignisses tritt die Selektivität, Wiederholbarkeit und anhaltende Thematisierung, anstelle seiner Unmittelbarkeit die mediale Vermittlung, Diskursivierung und Kommentierung – und anstelle seiner Plötzlichkeit die (relative) Erwartbarkeit, welche die Medienteilnehmer auf Ereignishaft-Unerwartetes immer schon eingestellt sein lässt.67 Für die soziale Öffentlichkeit gilt offenbar, dass Ereignisse überhaupt erst in medialisierter, visualisierter oder diskursivierter Form rezipiert werden können. Insofern stellt der Bildschirm für die kollektive Wahrnehmung den Schauplatz und den ›eigentlichen‹ Ort des Ereignisses dar : Hier gewinnt es eine erlebbare Präsenz, die sich immer erneut herstellen lässt. Festhalten lässt sich demzufolge, dass es medienneutrale Ereignisse im Horizont der öffentlichen Wahrnehmung überhaupt nicht gibt. Damit stellt sich eine Konstruktivität von Ereignissen heraus, die im strikten Gegensatz zu ihrer Chockhaftigkeit steht. Dass es aus zeitgenössischer Perspektive unmöglich erscheint, zwischen prä-medialen, unbeobachteten Ereignissen ›an sich‹ und ihrer medialen Inszenierung scharf zu unterscheiden,68 läuft zwar nicht notwendig auf eine Simulationstheorie zeitgeschichtlicher Ereignisse hinaus, die die Faktizität von Ereignissen ›hinter‹ den Nachrichten und Bildern schlechterdings in Abrede stellt. Wohl aber produzieren diskursive und technische Medialisierungen zeitgeschichtlicher Ereignisse die Bedingungen ihrer öffentlichen Wahrnehmbarkeit, Referenzialisierbarkeit und Relevanz, die empirisch kaum hintergangen werden können. Ereignisse erscheinen als Emanationen von Nachrichten und Bildern, die von den Medien der Information in Umlauf gesetzt werden. Als solche beziehen Ereignisse ihre Wirkung nicht so sehr aus sich selbst, sondern aus der Weise ihrer medialen Repräsentation. Zeitgeschichtliche Ereignisse werden vor allem als Unterbrechungen ›normaler‹ Abläufe auffällig: Solche Unterbrechungen aber sind nicht zuletzt Effekte inszenatorischer Praktiken und 66 Lorenz Engell: Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung. In: montage / av 5 (1996), H. 1, S. 129 – 153. 67 Diese Erwartbarkeit kennzeichnet natürlich vor allem ›zeremonielle‹ Ereignisse, wie sie von Daniel Dayan und Elihu Katz untersucht werden; Dayan, Katz: Media Events. The Live Broadcasting of History. Third Printing Cambridge, London 1996, S. 12. Die Autoren unterscheiden »ceremonial events« mit ihrem »ritual framing« (S. 12) von eher disruptiven »news events«. Obwohl sie vorhergeplant (»preplanned«) und verabredet sind, unterbrechen solche zeremonialen Ereignisse (wie »Sadat’s arrival in Jerusalem«, »the Popo’s visit to Ireland« oder »the 1984 Los Angeles Olympics«, ebd.) die Routine des medialen Alltags. 68 Vgl. Thiele: Ereignis und Normalität, S. 125.

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Strategien des Ereignishaften,69 die der Kritik an ihrer ›Gemachtheit‹, wie Derrida oder Pierre Bourdieu sie formulieren, in den Blick geraten.70 Ereignisse sind demnach medial-diskursive Markierungen von Anomalität, während die Normalität, von der sie sich abheben, selbst als medial-diskursiver Effekt verstanden werden kann: Ebenso wie das Ereignis als Chiffre der Anomalität wird auch die Folie der Normalität als Zustand der Nicht-Ereignishaftigkeit in einem öffentlichen Diskurszusammenhang erzeugt,71 dessen Medien vor allem das Fernsehen und die Presse sind. Dass ›öffentliche‹ geschichtliche Ereignisse ihrem zeitgenössischen Publikum (wie späteren Medienteilnehmern) demzufolge nie als unvermittelte Phänomene begegnen, sondern erst infolge zurichtender, selektiv-vermittelnder Operationen nahe gebracht werden, hat wiederum bereits Nietzsche weit vor den Erfahrungsbedingungen der modernen Informationsgesellschaft hervorgehoben, indem er den »interpretative[n] Charakter allen Geschehens« bedachte: »Es giebt kein Ereignis an sich. Was geschieht, ist eine Gruppe von Erscheinungen au s g e l e s e n und zusammengefasst von einem interpretirenden Wesen.«72 Solche Operationen des Auslesens, Zusammenfassens und Deutens aber sind Operationen nicht so sehr von Individuen, sondern gesellschaftlicher Gruppen. Auch für Halbwachs’ Theorie des sozialen Gedächtnisses ist die These zentral, dass vergangenes Geschehen sich nicht als solches in Erinnerung bringt, sondern als kollektive Repräsentation (repr¦sentation collective) in der Gegenwart einer gesellschaftlichen Gruppe. Dass einem Kollektiv von Zeitgenossen – oft in annähernd globalem Maßstab –73 etwas zum Ereignis wird, ist in der medialen Moderne vor allem als Folge (bild-)technischer, massenmedialer Informatisierungsprozesse zu begreifen, die sich aus vielfältigen gegenwärtigen Motiven und Interessen, vor allem aber aus Bedürfnissen der sozialen Selbstvergewisserung, Identitätsbildung und -kontinuierung speisen. Ereignisse stellen demnach stets gesellschaftliche (Selbst-)Deutungsangebote bereit – und das erste dieser Deutungsangebote besteht in der Deutung eines Geschehens als Ereignis selbst. 69 Thiele katalogisiert die »televisuellen Strategien« der Ereignishaftigkeit von ›Inscriptiobalken‹ (»Live«, »News«) bis zur »videographisch[n] Haltung der zufälligen spektakulären Augenzeugenschaft«; ebd., S. 129 f. 70 Derrida: Eine unmögliche Möglichkeit, S. 22; Bourdieu: Über das Fernsehen. Aus dem Französischen von Achim Russer. Frankfurt / M. 1998, S. 25 ff. 71 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1996. 72 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885 – 1887. Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 12, 2., durchgesehene Auflage München, Berlin, New York 1988, S. 38. 73 Die Annahme einer ›globalen‹ Vermittlung von Ereignissen durch technische Medien ist indes pauschalierend. Es wäre erst noch zu zeigen, wie lückenlos diese Informatisierung verschiedener gesellschaftlicher Öffentlichkeiten tatsächlich ist – und ob denselben Informationen überall dieselbe Ereignishaftigkeit zugemessen wird. Vorerst ist das zu bezweifeln.

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1.5

Ereignis und Gedächtnis Ein Ereignis ist die Geschichte seiner Repräsentationen.74

Die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie im Anschluss an Maurice Halbwachs hat sich vor allem für Ereignisse der Gründung oder Stiftung sozialer Gemeinschaften einer wie fern auch immer liegenden Vergangenheit interessiert, die in Form von Festen und Gedenktagen rituell begangen oder in mündlich oder schriftlich tradierten Erzählungen in der Gegenwart weiter gereicht wird. Insofern sich Kollektive ihres ereignishaften ›Ursprungs‹ erinnern, kontinuieren sie ihre Identität in der Zeit. Die Auszeichnung von Ereignissen als identitätsrelevante Bezugspunkte von Kollektiven geschieht dabei nach funktionalen Relevanzkriterien, die ihre Geschichte perspektivieren und vor allem erst zu ihrer ›eigenen‹ machen. Was dieser interpretierenden Selektion nicht als identitätsbedeutsames Datum oder Ereignis auffällig, also ›ausgelesen‹ wird, überantwortet die kulturelle Gedächtnisökonomie einem sozialen Vergessen75 – sodass die Geschichte, die sich ins kollektive Gedächtnis einschreibt, mit einigem Recht auch als Geschichte der »Unterdrücker« kritisiert werden kann, wie Walter Benjamin es 1940 getan hat.76 Die Frage, wie die nicht erinnerte – also nicht als ereignishaft markierte – Geschichte repräsentiert werden kann, führt an die Grenze der Aussagefähigkeit kulturwissenschaftlicher Gedächtniskonzepte selbst. Denn in ihr wiederholt sich die Paradoxie des radikalen Ereignisbegriffs: Nur schweigend wäre angemessen von solcher diskursiv ausgeschlossenen Geschichte oder von ihren Ereignissen zu reden, während jede Rede sie bereits wieder an eine neue Version des geschichtlichen Diskurses verrät.77 Die Frage der Repräsentierbarkeit stellt sich jedoch in Hinsicht auf die Kategorie des Ereignisses an sich. Sie setzt mit der schon angesprochenen Frage ein, wie Ereignisse als Phänomene der Gegenwart überhaupt zu Gegenständen der Erinnerung werden können, wenn das Ereignis doch ein Begriff der ›Vertikalen‹ ist, Erinnerung und Gedächtnis aber Begriffe der ›Horizontalen‹ sind. »[I]m Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts« – so 74 Scholz: Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF, S. 215. 75 Vgl. Elena Esposito: Soziales Vergessen. 76 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2, Frankfurt / M. 1974, S. 693 – 704; das Zitat hier im Kommentar, Gesammelte Schriften Bd. I,3, S. 1236. 77 Dass die Shoah allerdings einen neuen Typ des Opfer-Zeugen (oder ›moralischen‹ Zeugen) und damit auch die neue Form Opfer-Geschichte bzw. des gesellschaftlich ›akkreditierten‹ Opfer-Gedächtnisses hervorgebracht hat, mindert die Schärfe des benannten Problems. Vgl. dazu Aleida Assmann: Die Last der Vergangenheit. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4 (2007), H. 3, 7. URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Assmann-3 – 2007.

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kennzeichnet Nietzsche den ereignishaften Augenblick in seiner Flüchtigkeit.78 Eine Aktualität, die sich im Moment ihres Erscheinens verbraucht, dementiert die Bedingung, unter der die Apperzeption ihrer habhaft werden kann. Damit ist die Frage gestellt, inwiefern von zeitgeschichtlichen Ereignissen überhaupt als Gegenständen der kollektiven Erinnerung oder des kulturellen Gedächtnisses die Rede sein kann – und inwieweit sie demnach in den Horizont einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie gelangen. Eine Antwort darauf ergibt sich aus einem phänomenologischen Zugang, der die zeitliche Struktur der Gegebenheit des Gegenwärtigen in den Blickpunkt nimmt.79 Als Einbrüche in die kontinuierliche Ordnung geschichtlicher Zeit sind Ereignisse offenbar eine Kategorie unmittelbarer Gegenwart: Markierungen eines ›Jetzt‹, das Vergangenheit und Zukunft voneinander trennt. So selbstverständlich die Verhältnisse zwischen den Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheinen mögen, so sehr verkomplizieren sie sich, sobald man die Gegenwart selbst als Ekstase von Ereignissen ins Auge zu fassen versucht.80 Fragt man danach, worin genau die Zeit des Ereignisses besteht, scheinen sich die Aporien der EreignisTheorie zu wiederholen: Als ständig sich voran schiebende Scheidung zwischen dem Abwesenden der Zukunft und dem Abwesenden der Vergangenheit zieht sich das Anwesende der Gegenwart zu einer ausdehnungslosen Grenze zusammen, so dass dem Ereignis keine Zeit bleibt. Zwischen dem Erwarteten der Zukunft und dem Erinnerten (als Zurückkommen auf bereits Vergangenes, Abwesendes) wird die Gegenwart des Ereignisses buchstäblich zerrieben: Gerade das unmittelbar Gegenwärtige wird so zum Abwesenden – eine Paradoxie, die sich in literarischen Darstellungen erneut zu Wort melden wird. Bei der 78 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 1, 2., durchgesehene Auflage München, Berlin, New York 1988, S. 143 – 334, hier S. 248. 79 Zu dieser phänomenologischen Perspektive vgl. auch Martin Seel: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Hg. von Nikolaus Müller-Schöll unter Mitarbeit von Philipp Schink. Bielefeld 2003, S. 37 – 47. 80 Vgl. dazu Manfred Frank: Die eigentliche Zeit in der Zeit. In: Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. Hg. von Peter Sloterdijk. Bd. 1, Frankfurt / M. 1990, S. 151 – 169. – Bereits Augustinus’ oft zitierte Bemerkungen im 11. Buch seiner Confessiones konstatieren die Spannung zwischen vortheoretischer Klarheit und theoretischer Sperrigkeit des Zeitbegriffs und der Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: »quid ergo est tempus? si nemo me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio« (Augustinus: Confessiones / Selbstgespräche. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhardt. 3. Auflage München 1966, XI, 17, S. 628). – Zum Problem der Grenzziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gegenwarts- und Geschichtsdrama, das in der literaturwissenschaftlichen Forschung meist unberücksichtigt bleibt, vgl. auch Wolfgang Düsing: Einleitung. Zur Gattung Geschichtsdrama. In: ders. (Hg.): Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun. Tübingen, Basel 1998, S. 1 – 10, hier S. 3.

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Frage nach der Zeit des Ereignisses geht es jedoch nicht um den objektiven Gegenwartsbegriff der newtonschen Physik, sondern um die Dimension ihres subjektiven Erlebens. Diesem subjektiven Zeiterleben stellen sich die »Gegebenheitsmodis des Jetzt, Vorher, Nachher« in einer Weise dar, die »durch keine Uhr […] und überhaupt nicht zu messen« ist.81 Edmund Husserl hat das Problem der ›ausdehnungslosen‹ Gegenwart durch die Unterscheidung einer phänomenologischen von der physikalischen (»kosmischen«) Zeit zu lösen versucht.82 Mit anderen Begriffen, aber im selben Sinne kann zwischen Zeit (als Inbegriff temporalen Erlebens) und Chronologie (als skalierter Ordnung der physikalischen Zeit, also auch des geschichtlichen Kalenders) unterschieden werden.83 Phänomenologische Zeit und physikalische Chronologie sind dabei so vermittelt, dass erlebnishafte Zeit sich stets auf die Chronologie als gemeinsamen Hintergrund subjektiver Zeiterfahrungen bezieht: Individuelles Erleben gleicht sich ständig mit der chronologischen Reihe ab, die sich in den Daten und Einträgen des historischen Kalenders manifestiert. Was seine Dauer betrifft, konstituiert sich das subjektive Gegenwartsbewusstsein jedoch nicht durch die bloße Sukzession ›neuer‹ Eindrücke oder Impressionen, sondern durch einen von einer aktuellen »Urimpression« ausgehenden Bewusstseins- oder Erinnerungsakt, der zeitlich auseinander liegende Momente zu einer Erlebniseinheit zusammenfasst und den Husserl als »Retention« bezeichnet.84 Dieses retentionale Festhalten der Erlebnisinhalte in der Form der Naherinnerung stellt das atomistische »Erlebnis-Jetzt« auf Dauer und fügt es in einen kontinuierlichen »Erlebnisstrom« ein; denn »jedes wirkliche Erlebnis«, erläutert Husserl, »ist notwendig ein dauerndes«.85 Husserl hat dieses expansive Verständnis der Ge81 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. 1. Buch. Husserliana Bd. III / 1, Dordrecht u. a. 1976, S. 181 (§ 81). – Zum Problem der Messbarkeit von Zeit (»Quid autem metimur nisi tempus in aliquo spatio?«) und ›ausdehnungsloser‹ Gegenwart (»sed nullam spatium non metimur«) vgl. schon Augustinus: Confessiones / Bekenntnisse, XI, S. 644. 82 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 161 (§ 81). Husserl verwendet auch den Begriff des »Weltzeitlichen« (S. 162). 83 Vgl. diese Begrifflichkeit etwa bei Niklas Luhmann: Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft. In: Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. Hg. von Peter Sloterdijk. Bd. 1, Frankfurt / M. 1990, S. 119 – 150, hier S. 126 ff. – Auch Paul Ricoeur unterscheidet im Anschluss an Husserl zwischen ›kosmologischer Zeit‹ und ›subjektiver‹ oder ›phänomenologischer Zeit‹; vgl. Paul Ricoeur : Zeit und Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. Bd. 3, München 1991, S. 392 f. und passim. 84 Vgl. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Husserliana Bd. X, Dordrecht u. a. 1966. – Wenn auch das »aktuelle Jetzt […] ein Punktuelles, eine verharrende Form für immer neue Materie« ist, bildet die jeweilige »Impression« doch die »Grenzphase einer Kontinuität von Retentionen«. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 163. 85 Ebd., S. 164

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genwart in seiner Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins präzisiert: Ihr zufolge wird jedes präsentische Zeitbewusstsein durch temporale Protentionen und Retentionen hergestellt – also, wie sich im Hinblick auf den hier interessierenden Kontext formulieren lässt, durch Voraussicht auf das offene Möglichkeitsfeld künftigen Geschehens, also Ereigniserwartungen (mit unterschiedlich streuenden Wahrscheinlichkeitsgraden) einerseits, durch Rücksicht auf ein Naherinnerungsfeld bereits vergangener, aber noch nicht ›historisch‹ gewordener Ereignisse andererseits, die eine ›frische Erinnerung‹ im Bewusstsein präsent hält.86 Jede punktuelle Gegenwart, jedes Ereignis, das überhaupt bewusst wird, ist demnach immer schon retentional strukturiert. Es ist diese retentionale Struktur des Bewusstseins, das die Bedingung dafür legt, dass auf gegenwärtige Ereignisse überhaupt referiert werden kann. Diese phänomenologische Beschreibung des subjektiven Zeitbewusstseins lässt sich auch für die Wahrnehmung zeitgeschichtlicher Ereignisse fruchtbar machen. Auch sie wird durch Protentionen und Retentionen strukturiert: Was als zeitgeschichtliche Gegenwart wahrgenommen wird und die Zeit des Ereignisses bildet, formiert sich für das Bewusstsein der Zeitgenossen als retentionaler ›Schweif‹ eines punktuellen ›Jetzt‹. Die Struktur des Zurückkommens, also der nachträglichen Bezugnahme, wie sie literarische Texte realisieren, ist im Erlebnis von Ereignissen bereits angelegt: Erinnerung beginnt bereits in der Wahrnehmung von Gegenwart. Das gilt umso mehr für die Erweiterung oder Horizontalisierung von Ereignissen in ihrer massenmedialen Vermittlung. Bei der Formierung des retentional erweiterten Wahrnehmungsfeldes, in dem aktuelle Ereignisse situiert sind, kommt den informationellen Massenmedien eine eminente Bedeutung zu: Denn es sind vor allem mediale Diskursivierungen und Repräsentationen, die jedes einzelne Ereignis um ein Naherinnerungsfeld erweitern und es damit im Bewusstsein der Medienteilhaber als gegenwärtige Erlebniseinheit formieren. Sie halten das retentionale Fenster der Gegenwart für Ereignisse offen, bevor es durch andere, neuere Ereignisse besetzt wird. Zwischen einer solcherart medial ausgedehnten Gegenwart, die aktuellen Ereignissen eine funktional-relative Dauer verleiht, und der bereits ›historischen‹ Vergangenheit findet eine ständige Verschiebung statt, die das, was eine Zeit lang als gegenwärtig und ereignishaft erlebt wird, allmählich ins kollektive Speichergedächtnis verlagert.87 Als technisch jederzeit wiederholbare Medienereig86 Vgl. dazu auch Manfred Sommer : Lebenswelt und Zeitbewußtsein. Frankfurt / M. 1990, S. 127 – 217. – Auch die neuropsychologische Forschung beschreibt auf subjektiver Ebene ein ›Wahrnehmungsfenster‹ der Gegenwart als integrative Leistung des Bewusstseins; vgl. dazu Ernst Pöppel: Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit? Frankfurt / M., Leipzig 1997, besonders S. 59 – 73. 87 Zu dieser Differenz vgl. auch Aleida Assmann: Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis. In: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hg. von

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Ereignis und Geschichte

nisse behalten sich zeitgeschichtliche Ereignisse freilich auch dort eine »stets abrufbare Wahrnehmungspräsenz« vor,88 also eine Stelle im technisch-kollektiven Gedächtnis selbst künftiger Generationen, von der aus sie jederzeit erneut zu anschaulicher Gegenwart gebracht werden können. * Die vorangegangenen Überlegungen schienen zunächst einen aporetischen Befund zu ergeben: Auf der einen Seite lässt sich argumentieren, dass nur Ereignisse erzählbar sind, insofern sie im Gegensatz zu unerzählbaren Strukturen stehen. Auf der anderen Seite will es scheinen, als ob Ereignisse gerade nicht erzählt werden können, insofern ihre Singularität mit rekursiven Zeichenprozessen oder narrativen Wiederholungen prinzipiell nicht vereinbar ist.89 Zuletzt deutete sich allerdings eine mögliche Engführung von Texten und Ereignissen an. Was für die zeitliche Wahrnehmung von Ereignissen gilt, bildet sich offenbar schon auf der elementaren Ebene sprachlichen Zeichenverständnisses ab: Zwischen der erweiterten Wahrnehmungsspanne ereignishafter Gegenwart und der Auffassungsweise sprachlicher Zeichen als serialisierter Zeichenfolgen, die stets als Ganze wahrgenommen werden, besteht offenbar ein Zusammenhang.90 In diese erweiternde Perspektive gehört auch die Tendenz literarischer Texte, sich selbst auf ein sinnhaftes Ganzes hin zu überschreiten.91 Einerseits also ist es die retentionale Struktur des subjektiven Zeitbewusstseins, die den von Derrida absolut gesetzten Gegensatz zwischen der Vertikalität des Ereignisses und der Horizontalen des Textes tendenziell schlichtet. Was in strukturaler wie in Derridas radikaler Sicht als abstrakter Gegensatz erscheint, stellt sich aus phänomenologischer Perspektive weit weniger gegensätzlich dar. Andererseits gehört es zu den Eigentümlichkeiten literarischer Texte, sich in der Lektüre »ganz als sie selber« zur Geltung zu bringen: in einer »maximal

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90 91

Kristin Platt und Mihran Dabag. Opladen 1995, S. 169 – 181. – Diese Differenz beschreibt auch die Ambivalenz von Gedächtnis- und Gedenkorten, Denkmälern und Monumenten, an denen Gedächtnisinhalte ebenso präsent gehalten wie abgelegt oder ›entsorgt‹ werden können. – Vgl. dazu auch Debray : Einführung in die Mediologie, S. 16 f. Peter M. Spangenberg: Beobachtungen zu einer Medientheorie der Gedächtnislosigkeit. In: Kunstforum International 127 (Juli-September 1994), S. 120 – 123, hier S. 121. Ereignisse wären demnach auf der Ebene eines noch nicht durch eine narrative Achse modifizierten Geschehens zu suchen, das Hayden Whites Theorie der Geschichtsschreibung als unkonfigurierte Gegebenheit von ›Daten‹ unterhalb der Ebene des narrativen »emplotments« oder der diskursiven Darstellung »by argument« annimmt (Hayden White: Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-century Europe. Baltimore 1973). Vgl. dazu aus neurologischer Sicht Pöppel: Grenzen des Bewußtseins, S. 51 f. Zur Konstruktion dieses ›Ganzen‹ durch Differenzierung und Selektion von Bedeutungsaspekten vgl. etwa Uwe Japp: Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhangs in den philologischen Wissenschaften. München 1977, S. 16.

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erfüllten Präsenz«, die – diesseits hermeneutischer Anstrengungen – ihre aktuelle ›Dinglichkeit‹ und Konkretion darbietet.92 Diese ›Wörtlichkeit‹ macht die ereignishafte Qualität literarischer Texte aus, also ihre Selbstdarbietung als instantan sich einstellender Sinn, der während der Lektüre unmittelbar erfahrbar sein kann. Sie verweist auf die Rezeptionsfigur der Evidenz: Evidenz aber ist – als Inbegriff augenblickhaften, nicht mediatisierten Verstehens – selbst ereignishaft.93 In diesem wörtlichen, unmittelbaren Verstehen, also unter der Bedingung seiner Instantaneität, nähert sich der literarische Text möglicherweise dem Ereignis wiederum an. Literarische Texte können demnach durchaus ereignisaffin sein, wie umgekehrt Ereignisse textaffin sind. Gleichwohl bleibt das Verhältnis von Ereignis und Text von einer Spannung durchzogen, die durch keine theoretische Explikation völlig geschlichtet werden kann. Während dem ästhetischen Text, wie gezeigt, eine ereignishafte Qualität und damit die Affinität zu Ereignissen innewohnt, ist er zugleich von einer Tendenz zur allegorischen Überschreitung bestimmt, welche ihm die in der Darstellung gewonnene Unmittelbarkeit wieder entzieht. Wenn Ereignisse jedoch produktive Erzählanlässe sind, wofür die vorliegende Untersuchung den Beweis antritt, ist es die Transformation von Ereignissen in Geschichten und in den ›Text der Geschichte‹,94 in der sich diese Spannung zwischen Präsenz und Entzug austrägt. Die literarischen Texte, von denen im Folgenden die Rede ist, sind in diesem Spannungsfeld situiert. Kommen demnach Texte auf Ereignisse zurück, so enthält diese Rückbeziehung nach wie vor ein Paradox, das jedem einzelnen als Problem aufgegeben ist.

92 Vgl. Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache. München 1995, S. 10. 93 Vgl. ebd., S. 201 – 207. – Zum Begriff der Evidenz als literaturwissenschaftlicher Erkenntnisform vgl. auch Stefan Scherer : Die Evidenz der Literaturwissenschaft. In: IASL 30 (2005), S. 136 – 155. 94 Vgl. diese Begriffe in der Erzähltheorie von Karlheinz Stierle: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: ders.: Text als Handlung. München 1975, S. 49 – 55.

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Poetik der Zeitgeschichte

2.

Poetik der Zeitgeschichte In Wahrheit ist es eben das, was ich gesehen, was ich gehöret habe […].95 Where is the knowledge we have lost in information?96

Wo sich etwas ereignet hat, gibt es etwas zu erzählen. Historische Ereignisse sind auf den ersten Blick buchenswerte Erzählanlässe par excellence. Die literarische Erzählgattung der Novelle hat das Ereignis, die (mit Goethes Worten) »unerhörte sich ereignete Begebenheit«, sogar zu ihrem konstitutiven Merkmal gemacht, so dass ihr (mit Paul Heyses Worten) »von ihrem Ursprung her ein gewisses Schutzrecht für das bloß Thatsächliche« eignet –97 auch wenn die ›Neuigkeit‹, der die Novelle ihren Namen verdankt, in der Regel nicht (zeit-) geschichtlicher Art ist. Einer literaturgeschichtlichen Konvention zufolge, deren denkgeschichtliche Voraussetzungen sich bis auf Aristoteles zurückverfolgen lassen, setzen literarische Darstellungen geschichtlichen Geschehens jedoch zeitliche Abstandnahme voraus: also das Heraustreten aus der detailreichen Unmittelbarkeit des Aktuellen, die abstrahierende Distanz gegenüber dem »Irrgarten der Zeitgeschichte«,98 in dessen Gängen sich jede Orientierung leicht verliert. Goethes Stilisierung der Kanonade von Valmy zur weltgeschichtlichen Zäsur, die eingangs der Verständigung über den Ereignisbegriff dargestellt wurde, nahm eine historische Urteilsbildung vorweg, die aktuell noch gar nicht zu begründen war, da sie bereits die Kenntnis noch unabsehbarer Ereignisfolgen vorausgesetzt hätte.99 Allenfalls aus der historischen Distanz, aus der das Folgegeschehen bereits überblickt werden kann, lassen sich zeitgeschichtliche Er95 Johann Jacob Breitinger : Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Bd. 1, Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke), S. 66. 96 T[homas] S[tearns] Eliot: Choruses from ›The Rock‹, 1934. In: Eliot: The complete Poems and Plays. London 1973, S. 147 – 167, hier S. 147. 97 Goethe im Gespräch mit Johann Peter Eckermann vom 29. 1. 1827. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 19. Hg. von Heinz Schlaffer. München 1986, S. 203. – Paul Heyse: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1, München 1871, S. V – XXIV, hier S. XV. – Zur Theorie der Novelle vgl. Hannelore Schlaffer : Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar 1993. 98 Vgl. Ernst Topitsch: Im Irrgarten der Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 2003 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte; 29). 99 Tatsächlich wird sie auch im Text aus dem Abstand von 30 Jahren berichtet. Vgl. dazu oben den Eingang des Kapitels 1: »Ereignis und Geschichte«.

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Systematische und historische Bedingungen

eignisse adäquat bewerten, historiografisch oder literarisch bearbeiten und sinndeutend vermitteln. Erst indem sie zu Gegenständen eines selektiven und kombinatorischen Gedächtnisses werden, lassen sich aktuelle Erfahrungen intersubjektiv abgleichen und mit Hilfe erprobter Ordnungs- und Deutungsschemata in ›Sinn‹ übersetzen.100 ›Zeitnahe‹ Ereignisse mit ihren unübersichtlichen Bedingungs- und Folgeverhältnissen und ihren verzweigten, einander überkreuzenden Handlungs- und Geschehensverläufen gehen jedoch nur schwer in die geordnete Struktur von ›Anfang‹, ›Mitte‹ und ›Ende‹ ein, auf die – Aristoteles zufolge – der dramatische ›Mythos‹ angewiesen ist.101 Dasselbe gilt für jede literarische Geschichte, die sich zwischen ›Anfang‹ und ›Ende‹ abspielt. Nicht um eine geschichtlich ›neue Unübersichtlichkeit‹ handelt es sich hier,102 sondern um die grundsätzliche Unübersichtlichkeit des geschichtlich ›Neuen‹. Gerade in Hinsicht auf zeitaktuelle Stoffe aber gibt es eine »Schwelle der Zerkleinerung«, wie Georg Simmel schreibt, unterhalb derer der Zusammenhang der Details sich auflöst und Ereignisse sich als erzählbare Sinneinheiten gar nicht erst konfigurieren.103 Es handelt sich dann um ein Dickicht stofflicher Art, das sich in ein kausales ›Vorher‹ und ›Nachher‹, Ursachen und Folgen noch gar nicht auseinander legen lässt, so dass die Momente des Geschehens ›blind‹ bleiben wie unmotivierte Elemente einer literarischen Erzählung. Wenn die Vergangenheit einem tiefen »Brunnen« gleicht, den die »Höllenfahrt« historischer Erkenntnis zu ergründen sucht,104 findet die allenfalls flache Austiefungen aufweisende Zeitgeschichte ihr angemessenes Bild eher in diesem Dickicht, das die Durchsicht erschwert. Wiederum ist es Goethes autobiografische Schrift Campagne in Frankreich 1792, die – jetzt im Blick auf die Möglichkeiten der Dichtung bzw. des Dichters – die Grenzen der »Nachbildungen des Zeitsinnes« hinsichtlich geschichtlicher Aktualität reflektiert. Es sind die eigenen Versuche literarischer Einlassung auf die Zeitgeschichte der Französischen Revolution – das lustspielhafte Revolutionsdrama Der Groß-Cophta (1792), die Komödien Die 100 Vgl. dazu auch Wolfgang Struck: Konfigurationen der Vergangenheit. Tübingen 1997, S. 5. 101 Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1987, 1450b, S. 25. 102 Vgl. den Titel von Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt / M. 1985 (Kleine politische Schriften; 5). 103 Vgl. Georg Simmel: Das Problem der historischen Zeit. In: ders.: Gesamtausgabe Bd. 15. Hg. von Uta Kösser, Hans-Martin Kruckis und Otthein Rammstedt. Frankfurt / M. 2003, S. 287 – 304, hier S. 303: »Mit der Kenntnis jeder Muskelzuckung jedes Soldaten würde uns jene einheitliche Lebendigkeit des ganzen Ereignisses, die Anfang und Ende seines zeitlichen Bildes verbindet, verloren gehen; das historische Element muß so groß bleiben, daß sein Inhalt Individualität behält, und durch sie die Hinweisung auf ein völlig bestimmtes Früher oder Später allen andern gegenüber.« – Vgl. dazu auch Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 145. 104 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Bd. 1, Frankfurt / M. 1956 (Stockholmer Gesamtausgabe der Werke), S. 9.

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Poetik der Zeitgeschichte

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Aufgeregten (1793) und Der Bürgergeneral (1793), die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794) sowie das Versepos Hermann und Dorothea (1797) und das Trauerspiel Die natürliche Tochter (1803) –, auf die Goethes Überlegungen sich beziehen, wenn er in der Campagne in Frankreich selbstkritisch resümiert: »Der Dichter konnte der rollenden Weltgeschichte nicht nacheilen und mußte den Abschluß sich und andern schuldig bleiben, da er das Rätsel auf eine so entschiedene als unerwartete Weise gelöst sah.«105 Die unübersichtliche Vielzahl der um Aufmerksamkeit konkurrierenden Informationen und die Unabsehbarkeit eines wie immer vorläufigen Resultats des Ereignisverlaufs lösen die resignative Empfindung der Unmöglichkeit aus, mit der Weltgeschichte literarisch Schritt halten zu können. Wo sich das stoffliche Geschehen derart noch im Fluss befindet, »erstarrt[]« umgekehrt die dichterische Einbildungskraft, wie Goethe für sein eigenes Schreiben bilanziert.106

2.1

Geschichte, Ereignis und Fiktion

›Anfang‹, ›Mitte‹ und ›Ende‹ sind allerdings Ordnungskategorien, die zu bestimmen im Grunde eines souveränen Blicks von jenseits der geschichtlichen Welt bedarf. Dass Gott alle Geschichten der Welt kennt, hängt auch von seiner eigenen »Geschichtenlosigkeit« ab, das heißt davon, dass es vom Gott des Monotheismus selbst (jedenfalls vor der historischen Offenbarung in der Menschwerdung des christlichen Gottes) »nichts […] zu erzählen« gibt.107 Die vollständige Komplexität der Zusammenhänge menschlichen Handelns zu verstehen ist keinem geschichtlichen Verstand gegeben, sondern einer göttlichen Analysis vorbehalten, wie sie etwa in Edgar Allen Poes Erzählung The Power of Words vorgeführt wird.108 Erst ein transmundaner, keinem irdischen Betrachter möglicher Blick vermöchte einen historischen Verlauf zu überblicken, der sich weit mehr in komplexen Ursache- und Wirkungsverhältnissen verwickelt als in einer lesbaren Textur entfaltet. Solche Verwicklungen erscheinen in Hinsicht auf rezente Ereignisse besonders flagrant. Es sind jedoch ähnliche Komplikationen im gesamten Feld der Geschichte, die bereits dem histo105 Goethe: Campagne in Frankreich 1792. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 14, hg. von Reiner Wild. München 1986, S. 335 – 516, hier S. 512 f. 106 Ebd. 107 Mann: Joseph und seine Brüder. Bd. 1, S. 432: »Vieles noch wußte Urvater [Abraham] von Gott zu lehren, aber er wußte nichts von Gott zu erzählen, – nicht in dem Sinn, wie andere zu erzählen wußten von ihren Göttern. Es gab von Gott keine Geschichten.« 108 Edgar Allan Poe: The Power of Words. In: ders.: Complete Tales and Poems. Ljubljana 1966, S. 397 – 399.

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riografischen Diskurs um 1800 ein schwerwiegendes Darstellungsproblem aufgegeben haben. Denn auch im Hinblick auf bereits ›historisches‹ Geschehen ergibt sich eine erzählbare Ordnung keineswegs von selbst: Wo die Geschichte strukturell geordnete Verläufe annimmt, adoptiert ihre Darstellung vielmehr Gesetze der Fiktion. Friedrich Schiller hat in einer bezeichnenden Passage am Ende des vierten Buches seiner Geschichte des dreißigjährigen Kriegs (1791 – 93) diese Zurichtung des Stoffs nach ästhetisch-dramaturgischen Gesichtspunkten einbekannt, wenn er schreibt, mit dem Tod Gustav Adolfs und Wallensteins sei die »Einheit der Handlung, welche die Uebersicht der Begebenheiten bisher erleichterte,« verloren gegangen; die verworrenere, »noch übrige Hälfte dieser Kriegsgeschichte« drängt er dagegen in einem kurzen letzten Buch zusammen.109 Während sich für Schiller die Struktur seines »kriegerischen Dramas«110 bis dahin noch von selbst herauszustellen schien, polemisiert Johann Gustav Droysen in seiner Historik (erste Fassung 1857) gegen die »falsche Doktrin der Naturwüchsigkeit und der sog. organischen Entwicklung«, wie sie Herders (an Vico anschließende) Geschichtsentwürfe Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufgebracht, Hegels Geschichtsphilosophie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts systematisiert und Leopold von Rankes Historismus an dessen Ende positivistisch verfestigt haben. Was geschichtliche ›Anfänge‹ angeht, liege es »völlig außer dem Bereich der historischen Forschung, zu einem Punkt zu gelangen, der in vollem und eminentem Sinn der Anfang, das unvermittelt Erste wäre.«111 In einem spezifischen, säkularen Sinn hat die Geschichte selbst keine Geschichte, wodurch sie dem monotheistischen Gott gerade ähnlich wird, nachdem sie sich von der Heilsgeschichte getrennt hat. Ebenso wenig wie die Anfänge sind jedoch die Enden geschichtlichen Geschehens definit, denn »das Gewordene trägt alle Elemente neuer Unruhe in sich.«112 Jenseits als absolut geglaubter Anfänge und Enden – Genesis und Apokalypse – erscheinen Grenzmarkierungen geschichtlicher Abläufe relativ, jede geschichtliche Ordnung zufällig oder erfunden – und jede textuelle Darstellung solcher Ordnung daher notwendig fiktional. Gilt aber dies, so lassen sich auch historiografische Darstellungen im besten Fall nur als kontrolliertes und transparentes Verfahren der Interpretation, Selektion und Kombination wie immer vorfindlicher ›Daten‹ 109 Friedrich Schiller : Geschichte des dreißigjährigen Kriegs. In: ders.: Werke. Nationalausgabe. 18. Bd.: Historische Schriften, 2. Teil. Hg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1976, S. 329 f. – Vgl. dazu auch Golo Mann: Schiller als Geschichtsschreiber. In: ders.: Geschichte und Geschichten. Frankfurt / M. 1961, S. 63 – 84, hier S. 75. 110 Ebd., S. 329. 111 Johann Gustav Droysen: Historik. Textausgabe von Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 150 ff. – Vgl. dazu auch Hans Robert Jauß: Geschichte der Kunst und Historie. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, S. 208 – 251, hier S. 219 f. 112 Droysen: Historik, S. 298.

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historischer Überlieferungen verstehen – oder, mit Droysens dem Begriff des Textes qua ›Gewebe‹ angemessener Formulierung: als »Lockermachen und Auseinanderlegen […] der zahllosen Fäden, die sich zu einem Knoten verschürzt haben«.113 Es ist der oben ausführlich diskutierte Begriff des zeitgeschichtlichen Ereignisses, auf dessen Problematik sich Droysens Rede von der Verknotung der ›Fäden‹ geschichtlichen Geschehens metaphorisch bezieht. Ereignisse sind demnach als Verknotungen in einem verworrenen Netz von Ursache- und Wirkungszusammenhängen zu verstehen, deren Fäden zu entwirren und wiederum in ein sorgfältig geknotetes Netz, einen geordneten Text, zu überführen der Historiker (oder der Dichter) berufen ist. Denn es ist das im neunzehnten Jahrhundert aufkommende Bewusstsein von der Leistung der historischen Einbildungskraft, das Geschichte und Fiktion, historische Wissenschaft und Kunst einander annähert, indem es die Geschichte als Darstellungsproblem zwischen Faktizität und Fiktionalität begreift. War bei Droysen eben von verknoteten Fäden die Rede, die es interpretierend aufzulösen gilt, beschreibt Thomas Carlyle das historische Ereignis als ein »ever-working Chaos of Being«, in dem sich das undurchschaubare Schöpfungsgeschehen ständig wiederholt – »wherein shape after shape bodies itself forth from innumerable elements«.114 Diese strukturelle Ungeschichtlichkeit des Ereignisses (»ever-working Chaos«) ist aus der Sicht des Historikers bemerkenswert und Droysens Feststellung der Anfangs- oder Geschichtslosigkeit der Geschichte ähnlich. Carlyles Reflexion über die Problematik historischer Darstellungen ist durch seinen (1837 erschienenen) Versuch über ein Schlüsselereignis der europäischen Zeitgeschichte motiviert: die epische Historie The French Revolution. A History, die medias in res mit dem Ende des Königtums Ludwig XV. einsetzt und mit dem Anfang der napoleonischen Herrschaft schließt.115 Das Durcheinander wirksamer Einflussfaktoren und Elemente, die sich im geschichtlichen Ereignis auf unentwirrbare Weise amalgamieren, spiegelt sich nicht nur in der Anachronie der historiografischen Erzählung, sondern impliziert für Carlyle sogar die notwendige Verfehlung des Gegenstands durch den historiografischen Text. Denn dessen linearer Zeichenprozess muss die mehrdimensionale Realität des Geschehens auf die Abfolge ›diskreter‹ Zeit-Punkte reduzieren: »Narrative is linear, Action is solid.«116 Die geologische Metapher der ›soliden‹, mehrfachen 113 Ebd., S. 163. 114 Thomas Carlyle: On History. In: ders.: Critical and miscellaneous Essays in five volumes. Bd. 2, London 1899, S. 83 – 95, hier S. 88. – Vgl. dazu auch John D. Rosenberg: Thomas Carlyle and the Burden of History. Cambridge, Massachusetts 1985, S. 44. 115 Thomas Carlyle: The French Revolution. A History. Hg. von K. J. Fielding und David Sorensen. Oxford, New York 1989. 116 Carlyle: On History, S. 89.

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Schichtung korrespondiert mit der Metapher des Palimpsests von älteren TextSpuren und Dokumenten, mit der eine sehr viel spätere, literaturwissenschaftliche Theoriebildung den Text wiederum an die Geschichte angenähert hat.117 Die bei Carlyle benannte nichtlineare Komplexität geschichtlichen Geschehens dementiert jedoch die Affinität von prozesshafter Handlung und Erzählprozess, wie sie Lessing in seinem Laokoon hervorgehoben hat. Statt einen chronologischen Geschichtsprozess in der Sukzession der sprachlichen Zeichen angemessen zu repräsentieren, scheinen die vielfach sich überlagernden Schichten der Geschichte mit der narrativen Darstellung geradezu unverträglich zu sein. Mit Lessings Worten handelt es sich um eine »Collision« des »Coexistierenden« komplex verflochtener Handlungsstränge und geschichteter Strukturen »mit dem Consecutiven der Rede«,118 welche die Möglichkeiten geschichtlicher Narrationen prinzipiell problematisiert. Dass jede historische Darstellung daher die Eigengesetzlichkeit des narrativen Mediums nicht zuletzt gegen die opake Struktur der Geschichte zur Geltung bringt, schärft den Sinn für die gemeinsamen Sinnbildungsverfahren von historischer »Wissenschaft« und »Kunst«. Deren Ineinander hat bereits Friedrich Schlegel ausgemacht: »Insofern die Historie auf Erkenntnis und Wahrheit ausgeht, nähert sie sich der Wissenschaft, insofern sie aber auch Darstellung und Sage ist, steht sie in Beziehung auf die Kunst.«119 Selbst Rankes positivistisches Programm, »zu zeigen, wie es eigentlich gewesen«, verwirklicht sich trotz seiner entschiedenen Abweisung der Fiktion keineswegs in der bloßen Rekonstruktion von zusammenhängenden Daten, sondern in einer narrativen Verknüpfung von Ereignissen, die den formalen Bedingungen der Zeichenbildung literarischer Texte entspricht.120 Carlyles und Droysens Überlegungen zeigen eine methodologische Selbstbefragung des Geschichtsdiskurses im neunzehnten Jahrhundert an, die Pierre 117 Vgl. G¦rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt / M. 1993. 118 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bdn. Bd. 5 / 2. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt / M. 1990, S. 9 – 321, hier S. 127. 119 Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. (1803 / 04). In: ders.: Wissenschaft der europäischen Literatur. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Ernst Behler. Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Hans Eichner und Jean-Jacques Anstett. Bd. 11, München, Paderborn, Wien 1958, S. 1 – 185, hier S. 10. 120 Leopold von Ranke: Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber. 2. Auflage. Leipzig 1874 (Sämmtliche Werke. Bd. 33 – 34), S. 24: »Nackte Wahrheit ohne allen Schmuck; gründliche Erforschung des Einzelnen; das Uebrige Gott befohlen; nur kein Erdichten, auch nicht im Kleinsten, nur kein Hirngespinst.« – Vgl. auch Detlef Kremer : Ereignis und Struktur. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 517 – 532, hier S. 518 f.

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Nora als Eintreten der Geschichte in ihr »historiographisches Zeitalter« gekennzeichnet hat: Was jenseits selbstverständlicher Überlieferungsgemeinschaften im modernen Sinn ›Geschichte‹ heißt, bezieht sich offenbar stets reflexiv auf die medialen Bedingungen ihrer Darstellung zurück. Insofern haben historiografische Erzählungen stets einen ›metahistorischen‹ und einen mediologischen Aspekt. Indem die Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts die Verfahren und Probleme ihrer Tätigkeit bedenkt, entdeckt sie zugleich eine Nähe zwischen Historiografie und Literatur, also die Mitwirkung der Einbildungskraft in der Rekonstruktion des Vergangenen, welche die aristotelische Trennung zwischen der literarischen Fiktion des ›Möglichen‹ und der historiografischen Darstellung dessen, »was wirklich geschehen ist«, grundsätzlich relativiert.121 Nicht zufällig sind es die historischen Romane Walter Scotts, die der Historiker Carlyle als Vorbilder seines eigenen Darstellungsverfahrens benennt. Es ist diese Einsicht in den Zusammenhang von Geschichte und fiktional modellierender Vorstellungskraft, welche die Geschichtstheorie im Zeichen des linguistic bzw. narrative turn seit den 1970er Jahren – vor allem infolge der Rezeption der Schriften Hayden Whites – systematisch fortgedacht hat.122 Während Whites an rhetorischen Figuren orientierte ›Tropologie‹ des historiografischen Diskurses eine Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft darzustellen versucht, in der die factual representation der Geschichtsschreibung in eine »Fiktion des Faktischen« übergeht,123 unterscheidet etwa Jörn Rüsens Geschichtstheorie typische Erzählweisen historiografischer Texte (›traditionales‹, ›exemplarisches‹, ›kritisches‹ und ›genetisches Erzählen‹), welche die Grenzen von Fiktion und Historiografie gleichfalls durchlässig machen.124 Die Rolle dieser historiografischen Einbildungskraft, die mit »überlieferten Daten und Fakten« umgeht und dabei die »größtmögliche[] Annäherung an das Kompositum ›Geschichte‹« vollzieht, hängt freilich von der Voraussetzung der Abwesenheit des Geschichtlichen ab; eine Voraussetzung, die von der Bedingung der Ausgeschlossenheit oder des »Nicht-dabei-gewesen-Seins«,125 121 Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 28 / 29 (1451b). 122 Vgl. v. a. Hayden White: Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-century Europe. Baltimore 1973. – Zur Kritik vgl. jedoch etwa Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860. Berlin 1996 (European Cultures; 7), S. 19 ff. 123 Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Stuttgart 1986, S. 146. 124 Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik. Bd. 3: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989; vgl. ders.: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz, Jörn Rüsen (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung. München 1982, S. 514 – 605, hier insbes. S. 515. 125 Horst Turk: Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur. Würzburg 2003, S. 151, im Zusammenhang seiner Diskussion von Hayden Whites Konzept der narrativen Historiografie.

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die bis zum Beginn des visuellen Zeitalters die geschichtliche Erinnerung bestimmt, verstärkt wird. Dass dieser Bedingungszusammenhang die imaginative Leistung des Erzählens jedoch auch in Frage stellt, sobald die Voraussetzung der Nicht-Teilhabe durch Medien der ›Präsenz‹ ausgeglichen wird, ist Gegenstand der Überlegungen dieser Untersuchung. Je näher die literarische Darstellung geschichtlicher Ereignisse an die Gegenwart heranrückt, desto mehr verkompliziert sich aber auch schon vor der medienhistorischen Schwelle des Informations- oder Medienzeitalters das Verhältnis von Geschichte und (literarischen) Geschichten über die bisher dargestellten Probleme hinaus. Von diesen Komplikationen – und von den Konsequenzen, die eine darstellende Poetik der Zeitgeschichte daraus zieht – handelt das vorliegende Kapitel.

2.2

Synchronismusprobleme

Erweist es sich bereits als grundsätzlich schwierig, im historiografischen Feld narrative Ordnung zu schaffen, weil jede textuelle Darstellung immer schon auf fiktionale Selektions- und Sinnbildungsprozesse zurückgreift, so tun sich mit der Naheinstellung auf zeitgeschichtliche Ereignisse zusätzliche Schwierigkeiten auf. Denn mit zunehmender zeitlicher Nähe zu geschichtlichen Ereignissen wird auch deren Deutungshorizont immer weiter eingeschränkt oder verkürzt. Ohne die Möglichkeit ordnender Bezugnahme auf bedingende und bedingte Strukturen, auf längere vor- und (vor allem) nachzeitliche Verläufe aber bleiben ereignisgeschichtliche Daten und Informationen tendenziell bedeutungsblind. Erst post eventum erschließen sich geschichtswirksame Bedeutungen oder Potenziale, die in eventu in der Regel noch gar nicht absehbar sind. Davon eben hat Carlyles Rede vom »ever-fluctuating chaos of the Actual« gesprochen.126 Was literarische Darstellungen angeht, verschärfen sich daher mit der minimierten Distanz zwischen Bearbeitung und bearbeitetem Stoff die Darstellungsprobleme geschichtlichen Geschehens erst recht: Die Unabgeschlossenheit der Historiografie, die Uneindeutigkeit der Interpretation und die Unabsehbarkeit der in die Gegenwart hinein- und sogar über sie hinausreichenden Ereignisfolgen machen rezente Geschichtsereignisse zu denkbar ungeeigneten und undankbaren Stoffen historisch-literarischer Darstellungen. Hinzu kommt das Dazwischenreden der Zeitzeugen, das die historische Konsolidierung stört und Zeitgeschichte im Zustand der Veränderbarkeit hält. Detailreichtum, Unstrukturiertheit und die Vielfältigkeit von Informationen im Zuge der medientechnischen Entwicklung tragen noch dazu bei, eine adäquat darstellende Ordnung zu erschweren. Es sind 126 Carlyle: The French Revolution, I, 1, 2, S. 12.

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diese Komplikationen, die im Gegensatz zur als wahrheitsidentisch beglaubigten Wahrscheinlichkeit lang überlieferter Stoffe ihre literarische Darstellung geradezu unwahrscheinlich werden lassen. Denn die Bearbeitung zeitgeschichtlichen Geschehens verstößt offenbar gegen das schon eingangs erwähnte Abstandsprinzip, demzufolge sich gesellschaftlich, politisch oder kulturell relevante Ereignisse nur aus zeitlicher Distanz angemessen beschreiben und bewerten lassen.127 »Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet«, überlegt dementsprechend die Erzählerfigur Ulrich in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, »wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, der ›Weg der Geschichte‹, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist.«128 Weil Anfang und Ende dieses Weges sich im Unabsehbaren verlieren, wird der geschichtliche Schauplatz tendenziell zu einem Ort außerhalb der narrativierbaren Ordnung, auf dem die Zeichen der Zeit so unlesbar werden wie auf dem Odfeld in Wilhelm Raabes gleichnamiger Erzählung von 1888. Dass auch mit Hilfe exegetischer, metaphysische Geltung beanspruchender Texte keine Deutung aktuellen Geschehens möglich erscheint, gehört zu den Aporien der Interpretation, die Raabes Erzählung vorführt.129 Folgt man ihrer geschichtsphilosophischen Wegweisung, so gleicht die zeitgenössische Geschichte einem von Spuren gesättigten und zugleich öden Feld, einem »zerzauste[n], zerstampfte [n]« Platz, auf dem die Ereignisse zwar exakt datierbar, aber kaum sinnvoll deutbar sind wie der Ausgang der Vogelschlacht auf dem ›Odinsfeld‹ in Raabes Novelle, deren unmögliche Sinndeutung auch das Erzählen davon erfasst.130 Je mehr sich nämlich das Erzählen der Unmittelbarkeit des geschichtlichen Moments überlässt, desto weniger erscheint das Geschehen noch zu überschauen. Es sind Erzähltexte des neunzehnten Jahrhunderts, die die von Simmel benannte ›Schwelle der Zerkleinerung‹ bewusst unterschreiten, um eine subjektive Nahperspektive auf die Zeitgeschichte zur Geltung zu bringen, welche der ›objektive‹ historiografische Diskurs ausschließt: »Im stärksten Galopp eine Erd127 Für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung vgl. etwa Matthias Peter, Hans-Jürgen Schröder: Einführung in das Studium der Zeitgeschichte. Unter Mitarbeit von Markus M. Hugo, Holle Nester und Anja Rieger. Paderborn 1994, S. 18, sowie Gerhard Schulz: Einführung in die Zeitgeschichte. Darmstadt 1997, S. 52 f. 128 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1960 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. von Adolf Fris¦), S. 360. 129 Vgl. Albrecht Koschorke: Der Rabe, das Buch und die Arche der Zeichen. Zu Wilhelm Raabes apokalyptischer Kriegsgeschichte ›Das Odfeld‹. In: DVjS 64 (1990), S. 529 – 584, sowie Heinrich Detering: Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes. Göttingen 1990. 130 Wilhelm Raabe: Das Odfeld. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Bd. 17. Bearbeitet von Karl Hoppe und Hans Oppermann. Göttingen 1966, S. 5 – 220, hier S. 206.

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welle hinansetzend« sieht sich der Wachtmeister Anton Lerch in Hofmannsthals Reitergeschichte (1899) »mitten im Feinde« – er »hieb auf einen blauen Arm ein, der eine Pike führte, sah dicht neben sich das Gesicht des Rittmeisters mit weit aufgerissenen Augen und grimmig entblößten Zähnen, war dann plötzlich unter lauter feindlichen Gesichtern und fremden Farben eingekeilt […].«131 Die impressionistische Auflösung der Darstellung trägt einer phänomenologischen Gegebenheit des Ereignishaften Rechnung, die jeder objektiv-strategischen Schlachtbeschreibung entgeht. Es war Stendhal, der mit seinem Roman La chartreuse de Parme (1839) der europäischen Literatur diese Art von abstandloser Kriegsbeschreibung vorgeführt hat. Stendhal, den Tolstoi als seinen ›ersten Lehrer in allem, was ich vom Kriege weiß‹, gewürdigt hat,132 beschrieb zum ersten Mal den Krieg aus der Perspektive der darin verwickelten Subjektivität, die jede Übersicht verliert. Inmitten der Schlacht von Waterloo, an der der Held des Romans, Fabrizio, als Siebzehnjähriger aus politischer Begeisterung für Napoleon teilnimmt und von der er doch nur momentane Einzelheiten mitbekommt, ist ihm das Ereignis so wenig als Ganzes überschaubar, dass er einem französischen Offizier die ungläubige Frage stellt: »mais ceci est-il une v¦ritable bataille?«133 Noch am Ende der Schlacht wiederholt er im »nachklingenden Erstaunen«134 dieselbe Frage: »ceci est-il une v¦ritable bataille, et […] cette bataille ¦tait-elle Waterloo?«135 Das Problem der Darstellung ereignishaften Geschehens, historischer Ordnung, kausaler Folgenabschätzung, Bewertung und sinnhafter Auslegung vor allem zeitgeschichtlicher Ereignisse wird seit dem neunzehnten Jahrhundert angesichts einer beschleunigten Modernitätserfahrung besonders bewusst.136 Die theoretische Schwierigkeit, gerade rezente Geschichtsereignisse angemessen einzuordnen oder – wie bei Stendhal – überhaupt zu apperzipieren, veranschaulicht eine Beobachtung Sören Kierkegaards, der unter dem Datum des 20. Septembers 1836 in sein Tagebuch notiert, angesichts der »gegenwärtigen Geschichte« gehe es dem Zeitgenossen wie dem Wanderer,

131 Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 28: Erzählungen 1. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt / M. 1975, S. 39 – 48, hier S. 46. 132 Vgl. Arthur Schurig: Zur Geschichte des Romans. In: Stendhal: Die Kartause von Parma. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Arthur Schurig. Bearbeitet von Hugo Beyer. Mit einem Nachwort von Uwe Japp. Frankfurt / M. 1989, S. 610 – 622, hier S. 614. 133 Stendhal: La chartreuse de Parme. [1. Teil.] Paris 1948, S. 63. 134 Vgl. Dieter Wellershoff: Das Geschichtliche und das Private. Aspekte einer Entzweiung. In: ders.: Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur. Köln 1992, S. 57 – 85, hier S. 63. 135 Stendhal: La chartreuse de Parme, S. 103. 136 Zu den Auswirkungen dieser nicht zuletzt technikinduzierten Problematik auf literarische Texte seit 1800 vgl. Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des ersten Weltkriegs. Darmstadt 1997.

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der unterwegs eine Kirchenuhr schlagen hört; aber da er gerade gekommen ist, kann er insofern nicht wissen, ob die Uhr mit dem ersten Schlag, den er hörte, zu schlagen begann, dieser Täuschung (es sei der erste Schlag) gibt er sich nun hin, und das hat leicht zur Folge, daß er 2 zählt, während die Uhr 7 ist usw.137

Präsentische Geschichte ist sich selbst tendenziell anonym: Sie entbehrt des Maßstabs, mit dessen Hilfe sich Ereignisse auf der Achse einer kontinuierlichen und kausal geordneten Chronologie abtragen lassen. Dass sie die Kontinuität der Geschichte aussetzen und erst in der historischen Nachsicht interpunktieren, macht Ereignisse im Moment ihrer Gegenwärtigkeit gerade zu nicht-signifikanten Geschehnissen im geschichtlichen Verlauf. Nicht die Unverfügbarkeit absoluter Anfänge und Enden, von denen nur der Mythos etwas weiß, ist mit dieser Selbstanonymität der Zeitgeschichte gemeint, sondern eine Ordnungs-, Situierungs- und Interpretationsschwierigkeit profangeschichtlicher Gegenwart oder Präsenz: Historiografisch und geschichtsphilosophisch gesehen weiß keine Gegenwart über sich selbst Bescheid, so sehr auch später das so genannte Medien- oder Informationszeitalter wie keines zuvor jederzeit »über sich Bescheid« zu wissen glaubt.138 Damit aber kehren die Bedingungen der literarischen Darstellbarkeit historischen und zeitgeschichtlich-gegenwärtigen Geschehens sich gegen die erwartbare Richtung um. Gerade das Gegenwärtige, vetraut Erscheinende wird zum tendenziell Unvertrauten und Nicht-Repräsentierbaren, während das historisch oder gar mythisch Entlegene sich der Darstellung empfiehlt. Musils eben zitierter Protagonist Ulrich im Mann ohne Eigenschaften hält in genau diesem Sinne den Blick aus der Nähe auf ein Ereignis gerichtet, das die Zeitgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in herausragender Weise interpunktiert: die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaars im bosnischen Sarajevo am 28. Juni 1914, die den Beginn des ersten Weltkriegs markiert. Aber die eigene Gegenwart erscheint ihm so wenig durchschaubar, dass sich ihm der historisch-politische Begriff davon auf ähnliche Weise entzieht wie dem Teilnehmer der Waterloo-Schlacht bei Stendhal: »War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg war, er wusste es nicht genau.«139 Die Disparität der Informationen hier wie der Erlebnismomente dort versagt eine einfache Auskunft. Es wird die weltweite, massenmediale Vermittlung der in Musils monumentalem Roman thematisierten Nachricht sein, die ihre Wirklichkeit letztlich doch zur Geltung bringt. Wie nahe das zeitgeschichtlich Nächste dem Einzelnen geht, ist eine Frage des Ineinandergreifens von kollektiver und persönlicher Geschichte, das sich ebenso 137 Sören Kierkegaard: Die Tagebücher. 1. Bd. Ausgewählt, neugeordnet und übersetzt von Hayo Gerdes. Düsseldorf und Köln 1962, S. 83. 138 Kracauer : Die Photographie, S. 93. 139 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 359.

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wenig verallgemeinern lässt wie unter dem Eindruck der eintreffenden Nachrichten der historische Moment selbst. Kafkas lakonischer Tagebucheintrag vom 2. August 1914 liegt am einen Extrem einer Skala der Beeindruckbarkeit, indem er den Chock des eigentlich inkommensurablen Ereignisses bloß in den Horizont seiner privaten Erlebnis-Zeit stellt: »Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule«.140 Am anderen Extrem können es dagegen bereits die Nachrichten sein, welche töten, nicht erst der entfesselte Krieg. Elias Canetti berichtet im ersten Teil seiner Autobiografie Die gerettete Zunge (1977), es sei die Zeitungsnachricht vom Ausbruch des Balkankriegs gewesen, bei deren Lektüre den Vater ein Schlaganfall traf: »Ich entsann mich, dass ich den ›Manchester Guardian‹ auf dem Boden neben ihm liegen sah.«141 *

Dass zeitgeschichtliche Stoffe sich der literarischen Darstellung gegenüber als spröde erweisen, weil sie die allgemeine Übersicht und Deutung erschweren, ist auch ihrer ästhetischen Reflexion nicht entgangen. Die unausweichliche Verstrickung ins Partikulare lässt sich etwa aus Hegels Vorlesungen zur Ästhetik (1835 – 1838) als Argument gegen ihre stoffliche Verwendung im Geschichtsdrama herauslesen, wo Hegel für das historisch oder sogar mythologisch Entlegene votiert: Auf seiner Seite liege der »große[] Vorteil«, »dass dies Hinausrücken aus der Unmittelbarkeit und Gegenwart durch die Erinnerung von selber schon jene Verallgemeinerung des Stoffs zuwege bringt, deren die Kunst nicht entbehren kann«.142 Das Verschwinden aus der persönlichen Erinnerung ist die Bedingung einer geschichtsphilosophischen Abstraktion, die der ästhetischen Darstellung zuarbeitet; diese produktive Umwertung des Vergessens genauerer Umstände ist bereits auf eine mediale Situation bezogen, in der stets mehr verzeichnet als aktiv erinnert werden kann. Dass der historische Verzug seinen ästhetischen Vorzug indes durch eine bewusstseinsgeschichtliche Entfremdung vom stofflichen Gegenstand erkauft, weil die »vielfach bedingte Außengestalt der alten Zeit« sich im Verhältnis zur Gegenwart meist »wesentlich geändert« hat und »fremd geworden« ist, ist auch Hegel bewusst. Der von Lessing bezeichneten »Collision« zwischen komplexem Geschehen und dem Linear-»Consecutiven« 140 Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasely. Frankfurt / M. 1990 (Schriften, Tagbücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit), S. 543. 141 Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. München, Wien, Zürich 1994, S. 75. 142 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. von Friedrich Bassenge. Bd. 2, Berlin, Weimar 1955, S. 259.

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des literarischen Zeichenprozesses fügen Hegels geschichtspoetologische Überlegungen deshalb eine weitere Kollision hinzu: die »Kollision […] unterschiedener Zeiten«, die den literarischen Text zum Schauplatz einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen macht. Diese Kollision der Zeiten gerät zu einem Konflikt gleich starker Rechte zwischen Geschichte und Gegenwart, historischer Genauigkeit und aktuellem Interesse. Hegel hat daher für das literarische Kunstwerk, romantischer Dichtungsauffassung nahe stehend, das »Recht« reklamiert, »zwischen Dichtung und Wahrheit zu schweben«, und auf diese Weise den Gegensatz zwischen ›Dichtung‹ und ›Daten‹, ästhetischer Poiesis und historischer Faktizität schlicht für überwunden erklärt.143 Seine geschichtsphilosophische Wahrheitsästhetik distanziert sich vom positivistischen Verismus im Sinne »der bloß äußeren Erscheinung im Roste des Altertums«,144 wie er – ihr ästhetisches Programm freilich stark verkürzend – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa in der historistischen Theaterpraxis am Hoftheater Georgs II. von Meiningen realisiert wird.145 Hegel hat für den als einseitig verworfenen ›Import‹ gegenwärtiger Bewusstseins- und Lebensbedingungen in die dargestellte Vergangenheit den Begriff des geschichtsdramatischen »Anachronismus« eingeführt.146 Dabei handelt 143 Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik. Bd. 2., S. 273. – Hegel hebt die einseitigen Alternativen auf erwartbar dialektische Weise im Postulat einer poetischen Synthesis auf: Während die subjektive Darstellung vom Vorwurf der »Naivität«, ja sogar der »Gewalttätigkeit« gegenüber dem Gegenstand der Darstellung betroffen wird (ebd., S. 261), können die »Fremdartigkeiten« historisch oder kulturell entlegener Stoffe »für das Publikum […] nur immer etwas Äußerliches sein« (ebd., S. 264) – ein allenfalls reizvoller historischer Exotismus, der sich von gelehrter Pedanterie kaum unterscheiden lässt. Hegels Kritik der ästhetischen ›Bemächtigung‹ des Vergangenen enthält damit bereits eine Ethik der poetischen Erinnerung; vgl. dazu die (diesen Aspekt allerdings vernachlässigende) Untersuchung von Edgar Platen: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik. Tübingen, Basel 2001. Beide Möglichkeiten bezeichnen jedoch für Hegel ein »gleich falsches Extrem«, welches die »echte Darstellungsweise« im Sinne der mimetischen Äquidistanz gegenüber fremder Vergangenheit und eigener Gegenwart vermeidet (S. 265): Die literarische Darstellung enträt der historisch-positivistischen Partikularitäten und Details, weil diese »höchst trivial und in sich selbst prosaisch« sind, indem sie die Objektivität des »Menschliche[n] des Geistes«, wie es unter je besonderen Bedingungen historisch erscheint, zum Gegenstand macht. – Den Fluchtpunkt dieser ästhetischen Perspektivierung des Geschichtsdramas und der Zurückweisung des Partikularen bildet Hegels eigene Geschichtsphilosophie, die sich demgegenüber für die Verwirklichung der Vernunft in der makroskopischen Geschichte interessiert. 144 Ebd., S. 273. 145 Vgl. dazu die Beiträge des Bandes: Georg II. und der Historismus. Ein Kulturideal im Zweiten deutschen Kaiserreich. Meiningen 1994, sowie den Ausstellungskatalog: Kleists Hermannsschlacht am Meininger Hoftheater. Meininger Museen / Theatermuseum, Kulturstiftung Meiningen, Kleist-Stiftung Sembdner Heilbronn. Im Auftrag der Stadt Heilbronn hg. von Günther Emig. Heilbronn 2002, mit zahlreichen Dokumenten. 146 Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik. Bd. 2, S. 271.

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es sich um die letztlich unvermeidbare Durchdringung der Gegebenheiten des historischen Stoffes mit der Deutungsperspektive der eigenen Zeit, wenn schon nicht um die Auswechselung historischer durch äußere zeitgenössische Requisiten: »Nichts passt«, kommentiert in diesem Sinne Schach von Wuthenow die Berliner Uraufführung von Zacharias Werners Luther-Drama Die Weihe der Kraft (1806) in Fontanes ›historischer Erzählung‹ (1883): »Ich wurde beständig an das Bild Albrecht Dürers erinnert, wo Pilatus mit Pistolenhalftern reitet […]. Es ist ein Anachronismus von Anfang bis Ende.«147 Die mentale Durchdringung der Bewusstseinshorizonte hat Gadamers Hermeneutik gegenüber solchen äußerlichen Aneignungsweisen auf den positiven Begriff der ›Horizontverschmelzung‹ gebracht. Die intentionale Aktualisierung geschichtlicher Stoffe in literarischen Texten stellt diese »Begegnung mit der Vergangenheit«,148 die im Zusammenhang der ›Tradition‹ selbstverständlich und ›naiv‹ stattfindet, allerdings von vornherein unter den Rechtfertigungsdruck, begründen zu müssen, wie sie es mit der historischen Treue hält. Literarische Adaptionen rezenter Geschichte sehen sich demgegenüber mit den Schwierigkeiten eines ästhetischen ›Synchronismus‹ konfrontiert: Es sind die angeführten, problematischen Implikationen des Näheverhältnisses zum zeitgeschichtlichen Stoff – Unabgeschlossenheit der historiografischen Verzeichnung, Uneindeutigkeit der Interpretation, Unabsehbarkeit der Folgen und die unvermeidliche Verstrickung in partikulare Interessenlagen der eigenen Gegenwart –, die zur poetischen Zurückhaltung gegenüber der Zeitgeschichte Anlass geben. Es ist nicht nur das ungeordnete, unübersichtliche Nebeneinander vielfältiger Details und Informationen, die medial verfügbar und dem zeitgenössischen Bewusstsein geradezu aufdringlich werden, das die Literatur an die Grenze ihrer ästhetischen Verarbeitungskapazität treibt; das helle Licht faktizistischer Exaktheit verdunkelt vielmehr paradoxerweise auch den transluzenten ›Sinn‹, den die Geschichte der philosophischen Abstraktion erst aus der zeitlichen Distanz offenbart. Nicht zuletzt darum weist Hegel die positivistisch-pedantische Genauigkeit ästhetischer Darstellungen als Abstraktions- beziehungsweise Systemgefährdung zurück. Einer Literatur dagegen, der die universalhistorischen Wissens- und Wahrheitskonzepte grundsätzlich fragwürdig geworden sind und die sich daher programmatisch dem Einzelnen und den phänomenologischen ErfahrungsGegebenheiten des Geschichtlichen zuwendet, erscheint auch die gegenwartsnahe Ereignisgeschichte in einem anderen Licht; Stendhals oben zitierte 147 Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Eine Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Peter Bramböck. Bd. 1, München 1979, S. 5 – 140, hier S. 73. 148 Hans-Georg Gadamer : Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1986 (Gesammelte Werke; 1), S. 311.

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Schlachtbeschreibung legt davon bereits Zeugnis ab. Aber auch in die Großprojekte der literarischen Moderne wie Musils bereits zitierter Roman oder Benjamins Passagen-Werk, in denen ein ›enzyklopädischer‹ Ehrgeiz der Epochenbeschreibung den geschichtsphilosophisch-systematischen Durchdringungsanspruch abgelöst hat, gehen zeitgeschichtliche Ereignisse in verstärktem Maße ein. Es gehört jedoch zu ihrer eigenen Problematik, dass sich ihre totalisierenden Ambitionen tendenziell in der Akkumulation des Materials erschöpfen. Dass auch durch Verfahren der »Montage« von Erfahrungen, Reflexionen und Informationen keine Synthese mehr hergestellt werden kann,149 bestätigt im hier verfolgten Zusammenhang einmal mehr die tendenzielle Unbeherrschbarkeit der vermehrten, nicht zuletzt zeitgeschichtsbezogenen Informations- und Wissensmengen in der fortgeschrittenen medialen Moderne.

2.3

Zur Poetik der Aktualität Alles was länger als drei Tage zurückliegt, ist pure Erfindung.150

Obwohl die abendländische Poetik die historische Überlieferung von Beginn an bloßen Fiktionen gegenüber gleichstellt oder sogar prämiert, hat sie Einlassungen auf zeitgenössische Stoffe in aller Regel zurückgewiesen, wenn nicht einfach ignoriert. Von Aristoteles bis Lessing zieht sie das historisch Beglaubigte dem bloß Fiktiven mit dem Argument vor, die Wahrscheinlichkeit des Tatsächlichen sei nun einmal der Wahrscheinlichkeit des Möglichen überlegen.151 ›Wahrscheinlichkeit‹ ist der Maßstab einer Dichtung, die sich ihrer Wirkung nur kraft des glaubwürdigen Anscheins von ›Wirklichkeit‹ sicher sein zu können glaubt. Dass am Tatsächlichen der historischen Überlieferung gezweifelt werden kann, wird dabei noch nicht ernsthaft zum Problem, auch wenn in den historischen Dramen des Barock oft ein gelehrter Anmerkungsapparat den nicht voraussetzbaren historischen Kenntnissen aushelfen muss. Seit der Frühen 149 Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften Bd. V.2, Frankfurt / M. 1982, S. 1030. – Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Gustav Frank, Stefan Scherer : »Stoffe sehr verschiedener Art … im Spiel … in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen«. Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne. In: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche. Tübingen 2007, S. 253 – 279, hier S. 255 f. 150 Gert Hofmann im Gespräch mit Mechthild Curtius: Autorengespräche 1991. Typoskript, zit. nach Jens Reck: Der ungemütliche Erzähler. Inszenierungen von Geschichtserfahrung in Gert Hofmanns Prosawerk. Heidelberg 2008, S. 30. 151 Vgl. Aristoteles: Poetik, 1451b, S. 28 / 29.

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Neuzeit hält sich die poetologische Reflexion des Verhältnisses von Dichtung und geschichtlicher Wirklichkeit (wie dessen literaturwissenschaftliche Deutung bis in die Gegenwart) meist an die aristotelische Unterscheidung des Geschichtschreibers vom Dichter, der nicht das historisch Faktische, sondern »das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« zum Maßstab der Darstellung macht.152 In diesem Möglichkeitssinn liegt der aristotelischen Poetik zufolge die Überlegenheit der Dichtung über die Historiografie – und ihr philosophischer Ernst, der sie über jede positivistische Datenverzeichnung erhebt. Den normativen Maßstab gibt jedoch nicht die Autorität der historischen Fakten, sondern die Glaubwürdigkeit der Darstellung an: weshalb selbst der Wahrscheinlichkeit des Unmöglichen, soweit es eben der »allgemeinen Meinung« entspricht, vor dem erwiesen Möglichen der Wirklichkeit, die freilich unglaubwürdig erscheint, um der ästhetischen Wirkung willen der Vorzug zu geben ist.153 Das historisch Wirkliche ist jedoch notwendiger Weise stets logisch möglich und meist auch wahrscheinlich; insofern gebührt ihm ein pragmatischer Primat. Wenn damit einerseits eine Privilegierung des Geschichtlich-Faktischen begründet ist, ist damit andererseits eine Deprivilegierung rezenter Stoffe impliziert, die sich meist als unausdrückliche, selten explizite Übereinkunft durch die Geschichte der europäischen Poetik zieht. Albrecht Christian Rotth etwa schreibt im dritten Teil seiner Vollständigen deutschen Poesie (1688) genau in diesem Sinne: Am besten ists / wenn der Poet eine warhafftige Historie vor sich nehmen kan / doch die nicht gar zu neu ist / auch nicht gar zu unbekant / damit er Gelegenheit habe etwas glaubliches dabey zu fingiren.154

Nicht gar zu neu, aber auch nicht gar zu unbekannt: Der von Rotth empfohlene Fundus literarischer Stoffe liegt demnach jenseits unmittelbarer Aktualität und diesseits einer allgemeiner Kenntnis entrückten, vergessenen Vergangenheit. Es ist, wie es bei Rotth an anderer Stelle heißt, die »nicht unbekanndte / doch auch nicht gar zu weitläuffig beschriebene / Geschichte«,155 die der Dichtung verwertbare Stoffe zur Verfügung stellt; also ein stofflicher Radius mittlerer Reichweite, den Rotth der literarischen Verwendung empfiehlt. Historische Dramen – und nur von dieser Gattung ist bei Rotth die Rede – müssen auf glaubwürdige, am besten als faktisch beglaubigte Stoffe rekurrieren, aber diese Stoffe müssen der dichterischen Fiktion auch einen Raum übrig lassen, in dem 152 Ebd. 153 Ebd. 1460a, S. 82 / 83; ebenso 1461b, S. 92 / 93. 154 Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie. 2. Teilband. Hg. von Rosmarie Zeller. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1788, Tübingen 2000, S. 780 [originale Paginierung: S. 20]. 155 Ebd., S. 772 [originale Paginierung: S. 12].

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sich die Imagination des Dichters produktiv entfalten kann. Ein Grundproblem der Poetik zeithistorischer Ereignisse ist damit in Rotths frühneuzeitlicher Dichtungslehre angesprochen: Je lückenloser die vorauszusetzende Informatisierung des zeitgenössischen Bewusstseins erscheint, desto mehr schränkt sie die Freiheit der poetischen Darstellung ein. Während historische Begebenheiten in der Flucht der Zeit, wie offenbar noch Hegel meint, mehr und mehr abstrakt werden, stellt sich das ›gar zu Neue‹ in einer präsentischen Dichte von Beschreibungen und Bildern dar, die kaum mehr fiktionale Freiheiten zulässt. Diese einschränkende Bedingung literarischer Gestaltung wird sich im Verlauf der Informatisierung des geschichtlichen Bewusstseins noch sehr verstärken: die Produzenten wie Rezipienten literarischer Texte gleich gegenwärtige Fülle von Informationen, über die sich literarische Texte nicht einfach hinwegsetzen können. Denn historisch-literarische Darstellungen sind eben dadurch definiert, dass sie – mit Georg Luk‚cs’ prägnanter Formulierung – ihre Fabeln »nicht nach Belieben erfinden« können, sondern »finden« müssen.156 Es handelt sich um eine Bindungskraft des Faktischen, die sich unter den Voraussetzungen der aufkommenden Informationsgesellschaft (und der wissenschaftlichen Erforschung der Vergangenheit) offenbar zunehmend intolerant gegenüber ›Abweichungen‹ vom Geschichtlichen zeigt. Dass sich in Hinsicht auf historisch entlegene Stoffe – also im Bezirk souveräner dichterischer Stoff-Verfügung – jedoch eine Art ›Unschärferelation‹ zur Geltung bringt, welche die Beziehung zwischen beobachtetem Ereignis und darstellender Beobachtung, zwischen Faktizität und Erfindung in ähnlicher Weise ins Gleiten bringt, wie es für die Darstellung zeitgeschichtlichen Geschehens im Medienzeitalter gilt; dass also die Historie eine proteushaft wechselnde, letztlich arbiträre Gestalt annimmt, die ihren Vorzug an Glaubhaftigkeit gegenüber jeder anderen Stoffadaption wieder preisgibt, ist bereits der frühneuzeitlichen Poetik bewusst: »Antiquißima quæq; commentitta.« – »Was gar alt, ist gemeinklich erdichtet«, ist das letzte Emblem in Andreas Alciatus’ Sammlung von 1542 wie zur Mahnung an Leser wie Poeten überschrieben: Die Poeten haben gemalt Hyemit die langst vergangen welt, Vnd gschicht der iar vil tausent alt, Die yeder schreybt wie yms gefelt.157

156 Georg Luk‚cs: Der historische Roman. Berlin 1955, S. 116. 157 Andreas Alciatus: Emblematum Libellus. Reprografischer Nachdruck der Original-Ausgabe Paris 1542. Darmstadt 1987, S. 90 f. – Der lateinische Text lautet: »Signa uetustatis, primæui & præfiro secli, / De quo quisq; suo somniat arbitrio.«

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2.3.1 Das pragmatische Privileg der Zeitgeschichte Während die Poetiken historisch entlegene Stoffe gegenüber der gegenwartsnahen Geschichte, soweit sie letztere überhaupt berücksichtigen, fast immer vorgezogen haben, hat sich gleichwohl die poetische Praxis aktuelle Zeitgeschichtsereignisse mit insistierender Eigenwilligkeit immer wieder zu eigen gemacht. Ein informationstheoretisches Argument für die poetologische Unverbindlichkeit historisch-entlegener Stoffe ist indes bereits bei Aristoteles zu finden. Denn was die überlieferten Stoffe angeht, sei die eigengesetzliche Fiktion ihnen insofern häufig dadurch gleichgestellt, dass die Bekanntheit des Historischen keineswegs allgemein vorausgesetzt werden kann. Ihre Kenntnis ist vielmehr auf das esoterische Wissen der ›Gelehrten‹ beschränkt. Literarische Texte sind jedoch auf exoterische Wirkung hin angelegt, so dass Aristoteles die Verpflichtung auf überlieferte Stoffe zugunsten freier Fiktionen relativiert: »Demzufolge muß man nicht unbedingt bestrebt sein, sich an die überlieferten Stoffe […] zu halten. Ein solches Bestreben wäre ja auch lächerlich, da das Bekannte nur wenigen bekannt ist und gleichwohl allen Vergnügen bereitet.«158 Noch Johann Jacob Breitingers Critische Dichtkunst (1740) knüpft nahe der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an diese Auffassung an, wenn sie die historischen Stoffe, also das »historisch[]« Wahre im Unterschied zum »poetisch[] Wahre [n]«, nicht etwa aufgrund seiner Verbürgtheit vorzieht, sondern vor allem deshalb, weil es »für den größten Theil der Menschen« von Erfindungen gar nicht zu unterscheiden sei.159 Die Kenntnis historischer Begebenheiten bleibt noch lange Sache einer minoritären Gruppe von Gelehrten, an der die literarisch-soziale Öffentlichkeit wenig Anteil nimmt. Das Wissen der »Gelehrten« aber geht die Wirkungsabsichten der Poesie qua »Ars popularis« nichts an, wie Breitinger meint.160 Das allgemeine »Ergetzen« an der Übereinstimmung und Ähnlichkeit von »Original« und literarischer »Copie« rekurriert vielmehr auf lebensweltlich Allgemeines, nicht auf historische Daten und Kenntnisse, wobei das ästhetische Interesse auch hier mehr von der Qualität der Repräsentation und weniger vom Repräsentierten hervorgerufen wird: »Die Copie ziehet uns stärcker an sich, als das Original.«161 Auch wenn Breitingers Mitstreiter Bodmer später den »großen Vortheil« der »historische[n] Begebenheiten […] vor den erdichteten« darin erblickt, »daß sie richtig nach der Natur gezeichnet sind, und weniger betrie-

158 Aristoteles: Poetik, 1451b, S. 30 / 31. 159 »Das Wahrscheinliche […] ist für den größten Theil der Menschen eben so wahr, als das so würcklich geschehene ist, weil ihm nichts mangelt, als die Treu und Aufrichtigkeit dessen, der es erzehlet und bezeuget«. Breitinger : Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 59. 160 Ebd., S. 59. – Dem entspricht auch die Hintanstellung des »Lehrreichen« gegenüber dem »Verwundersame[n]« in Breitingers Poetik, ebd., S. 75. 161 Ebd., S. 72.

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gen«, sind diese erneut nur als Garanten einer gewissermaßen wirklichkeitserprobten Wahrscheinlichkeit gefragt, die sich nicht zuletzt mit einer patriotischen Didaktik verbinden lässt.162 Die dichterische Möglichkeit, rezente Geschichte zu thematisieren, kommt in diesen Überlegungen freilich wiederum nicht vor. Wo die Poetiken dennoch einmal einen sozusagen seitwärts gewendeten Blick auf die Option der Verwendung zeitgeschichtlicher Stoffe richten, weisen sie die Möglichkeit ihrer Berücksichtigung keineswegs immer zurück. Denn literarische Adaptionen zeitgeschichtlich-aktueller Ereignisse partizipieren an einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, die das ›Neue‹, für das sich auch Breitingers Poetik mit ihrem Plädoyer für das ›Wunderbare‹ gegen Gottsched stark macht, gegenüber dem Altbekannten prämiert. Je zeitnäher dieses geschichtlich ›Neue‹ nämlich umgesetzt wird, desto mehr ist für das rezeptive Interesse der Zeitgenossen gesorgt. Lässt sich die Bekanntheit zeitgeschichtlicher Ereignisse eher voraussetzen als die Kenntnis von Gegenständen einer historisch-archivalischen Gelehrsamkeit, so garantieren gerade sie für die Glaubwürdigkeit (vor allem) der dramatischen Handlung, die als Vorbedingung ihrer ästhetischen Wirksamkeit gilt. Für die stoffliche Berücksichtigung rezenter Ereignisse spricht demnach in erster Linie ein pragmatisches Argument. Dieses setzt jedoch einen Stand der öffentlichen Informatisierung voraus, die das historisch-esoterische Wissen Weniger in das zeitgeschichtlich-exoterische Wissen Vieler verwandelt – mit einem Wort: eine informierte Öffentlichkeit, die um Vorgänge und Ereignisse der zeitgeschichtlichen Gegenwart immer schon weiß. Unter dieser Voraussetzung aber kann es den aktuellen, beglaubigten und allbekannten Stoffen mehr als historisch entlegenen oder freien Fiktionen gelingen, die affektiven Energien und das Interesse der »Mitlebenden«163 im Sinne der literarischen Wirkungsabsicht auf sich zu ziehen. Henry Homes dreibändige Elements of Criticism (1762), deren deutsche Übersetzung 1763 – 66 unter dem Titel Grundsätze der Critik erscheint, haben als eine von wenigen Poetiken des 18. Jahrhunderts diese Einsicht ausdrücklich formuliert. Home entwickelt – ausgehend von der Unmittelbarkeit des Dramas im Unterschied zur Epik – die »sonderbare Lehre«, »daß die Fabel auf unsre Leidenschaften wirkt, indem sie ihre Begebenheiten als vor unsern Augen vorgehend vorstellt, und durch die Verblendung uns eine Ueberzeugung von Wirklichkeit aufdringt.«164 Wenn das Ziel der dramatischen 162 Johann Jacob Bodmer : Historische Erzählungen, die Denkungsart und Sitten der Alten zu entdecken. Zürich 1769, S. XIV. 163 Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1 – 8, hier S. 2. 164 Henry Home: Grundsätze der Critik, in drey Theilen. Aus dem Englischen übersetzt. 3. Theil, Leipzig 1766, S. 284. – Vgl. das englische Orginal (in der Auflage von 1795): Hernry Home: Elements of Criticism. A new Edition. Vol. 3. Basil 1795, S. 156: »[…] That fable

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Darstellung in der affektintensiven Illusion (»Verblendung«, »Täuschung«) besteht, empfiehlt sich dazu besonders »irgend eine bekannte Begebenheit aus der Geschichte«, die der jeweiligen Wirkungsintention entspricht.165 Während aber bei fiktiven Fabeln »die Erfindung freyen Raum« hat und der Dichter »durch nichts eingeschränkt« ist als durch eine allgemeine mimetische »Sorgfalt«, so dass seine Charaktere und Begebenheiten als »Copien der Natur« geglaubt werden können, erfordern bekannte Ereignisse der Geschichte offenbar »mehr Vorsicht […], als wenn alles erdichtet ist«.166 Wie in der frühneuzeitlichen Poetik kristallisieren sich zu einem historisch-faktischen, bekannten Kern – einem »Subjekt«, »das eine große Figur in der Geschichte macht« – die fiktional zu ergänzenden »Umstände«; und diese historischen subjects sind unbedingt vor fiktional verzerrender ›Verzeichnung‹ zu bewahren. Positivistische Exaktheit im Blick auf (zeit-)geschichtliche Stoffe ist offenbar eine poetologische Kategorie, die bereits im achtzehnten Jahrhundert nicht außer Acht gelassen werden kann.167 Je weiter sich angesichts anwachsender Kenntnisse und Informationen (zeit-)historisches Wissen allgemein entwickelt, desto weniger werden merkliche Abweichungen zwischen faktischem Stoff und dramatischer Fiktion noch hingenommen: »Ist aber die Fabel auf eine Geschichte gegründet, so dürfen keine Umstände zugedichtet werden, die nicht natürlich mit denen zusammenhängen, deren Wahrheit uns bekannt ist«.168 Daraus folgt für Home ein striktes Kompatibilitätsprinzip historischen Wissens und historischer Fiktion: »man kann der Geschichte zusetzen, aber nicht ihr widersprechen.«169 Auch Home votiert, der zeitgenössischen klassizistischen Poetik entsprechend, für die zeitliche und räumliche Distanz zum Gegenstand – allerdings nicht aufgrund synchronistischer Unübersichtlichkeiten, sondern aufgrund eines Trivialitätsvorbehalts gegenüber dem allzu Vertrauten (sowie den ›unerhabenen‹ »Sitten« der eigenen Gegenwart).170 Nach Voltaire, meint Home – gemeint ist dessen PoÀme

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operates on our passions, by representing ist events as passing in our sight, and by deluding us into a conviction of reality.« Home: Grundsätze der Critik, Bd. 3, S. 284. Ebd. – »But in chusing a subject that makes a figure in history, greater precaution is necessary than wehere the whole is a fiction.« (Home: Elements of Criticism, Vol. 3, S. 156.) Zu dieser ›Kategorie‹ historischer Dichtung vgl. Bernd W. Seiler: Exaktheit als ästhetische Kategorie. Zur Rezeption des historischen Dramas der Gegenwart. In: Poetica 5 (1972), S. 388 – 433, der diesen Maßstab allerdings erst auf die Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bezieht. Home: Grundsätze der Critik, 3. Theil, S. 285. Ebd. – »But where the story is founded on truth, no circumstances must be added, but such as connect naturally with what are known to be true; history may be supplied, but must not be contradicted«. (Home: Elements of Criticism, Vol. 3, S. 156.) »Ferner muß das gewählte Subjekt, sowohl der Zeit, als dem Orte nach, von uns entfernt seyn; denn das Gewöhnliche in Personen und Begebenheiten, die nah mit uns verbunden sind, muß durchaus vermieden werden.« (Home: Grundsätze der Critik, 3. Theil, S. 285.) – »[F]urther, the subject chosen must be distant in time, or at least in place; for the familiarity

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sur le d¦sastre de Lisbonne (1756) –, werde es kaum so bald ein anderer Autor wieder wagen, eine Dichtung über ein zeitaktuelles Sujet zu verfassen. Dennoch konzediert Home die literarische Adaption von recent events, also »noch frische[r] Begebenheit[en] in der Geschichte seines eignen Vaterlandes«, wenn er übereinstimmend mit Bodmers patriotischer Perspektive schreibt: Aber Begebenheiten dieser Art sind vielleicht nicht ganz ungeschickt zur Tragödie; in Griechenland sind sie angenommen worden, und Shakespear [sic] hat sie in verschiednen seiner Stücke gebraucht. Einen Vortheil haben sie über die Erdichtungen, daß sie leichter unsern Glauben erhalten, welches mehr, als kein andrer Umstand, beyträgt, unsre Sympathie zu erregen.171

Homes Ausführungen enthalten kein ausdrückliches Plädoyer für die Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse, sondern bloß eine wirkungsästhetische Konzession. Diese aber ist offenbar von einer Informiertheit über und von einem Interesse an zeitgeschichtlichen Ereignissen, also von einer informierten Öffentlichkeit her gedacht, die Zeitgeschichte schlechthin als Politikum mit hohem Aufmerksamkeitswert registriert. Schließlich geht es in Homes Argumentation um ein sympathetisches Verhältnis zum Dargestellten, also um die Mobilisierung von Leidenschaften (passions) im Wege der Thematisierung zeitaktueller Stoffe. Für die Literaturgeschichte zeitgeschichtlicher Ereignisse – einschließlich ihrer Forschungsgeschichte – lässt sich diese pragmatische Auslegung verallgemeinern. Indem sie sich an die öffentliche Wahrnehmung aktueller Zeitereignisse annähern, scheinen Literarisierungen zeitgeschichtlichen Geschehens ›von selbst‹ zur litt¦rature engag¦e zu tendieren – so wie andererseits, Hegel zufolge, das »Hinausrücken aus der Unmittelbarkeit und Gegenwart […] von selber« zur geschichtsphilosophischen Abstraktion tendiert.172 Schon Andreas Gryphius’ Carolus Stuardus-Drama (1657 / 63) ist dementsprechend als politisches Tendenzdrama und frühes Exempel eines ›engagierten Theaters‹ interpretiert worden,173 und noch Elfriede Neubuhr identifiziert zeitaktuelle Geschichtsdramen generell mit »Politik«.174 Ein grundsätzliches Dilemma zeitge-

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of recent persons and events ought to be avoided.« (Home: Elements of Criticism, Vol. 3, S. 156 f.) Home: Grundsätze der Critik, 3. Theil, S. 286. – »But an event of that kind is perhaps not altogether unqualified for tragedy : it was admitted in Greece; and Shakspeare has employed it successfully in several of his pieces. One advantage it possesses above fiction, that of more readily engaging our belief, which tends above any other circumstance to raise our sympathy.« (Home: Elements of Criticism, Vol. 3, S. 157.) Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik. Bd. 2, S. 259. Vgl. Friedrich Gundolf: Andreas Gryphius. Heidelberg 1927, S. 41, sowie Mary E. Gilbert: ›Carolus Stuardus‹ by Andreas Gryphius. A Contemporary Tragedy on the Execution of Charles I. In: German Life and Letters, N. S. 3 (1949 / 1950), S. 81 – 91, hier S. 83. Vgl. die Einleitung der Herausgeberin in Elfriede Neubuhr (Hg.): Geschichtsdrama.

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schichtlicher Darstellungen deutet sich damit allerdings an. Dieselben Bedingungen, die literarischen Verarbeitungen zeitaktueller Ereignisse eine primäre Aufmerksamkeitsrendite garantieren, untergraben die autonomen Bestimmungen ästhetischer Darstellungen überhaupt. Dieselbe Aktualität, von der sich literarische Texte einen wirkungsästhetischen Vorteil versprechen, unterminiert im Kontext zeitgenössischer Medien der Information ihren künstlerischen wie ihren wirkungsästhetischen Anspruch selbst. Je mehr literarische Texte auf die Aktualität des Präsentischen setzen, desto mehr setzen sie sich auch der Konkurrenz der modernen Informationsmedien aus, welche die Erwartbarkeit des ›Neuen‹ gerade von ihnen abzieht; und je mehr sich die modernen Massenmedien der Simultaneität von Ereignis und Übertragung nähern, desto weniger können literarische Texte noch den jeweils vorgegebenen Informationsstandards genügen. Desto weniger aber erscheint aktuelle Zeitgeschichte noch als aussichtsreiche stoffliche Option literarischer Texte. Die Literatur freilich hat sich an die Distanzierung der Poetiken von rezenten Ereignissen nie konsequent gehalten. Davon handelt der folgende Abschnitt.

2.4

Zur Literaturgeschichte zeitgeschichtlicher Stoffe

Durch die gesamte europäische Literaturgeschichte hindurch werden gegenwärtige Zeitereignisse immer wieder verbucht – vor allem im politischen Drama, auch wenn literarische Bearbeitungen unmittelbarer Zeitgeschichts-Ereignisse, statistisch gesehen, eine Abweichung von der Regel bilden, die allerdings hartnäckig wiederkehrt. Schon unter den drei historischen Dramen aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, von denen die Überlieferung weiß, nimmt sich Aischylos’ Tragödie Die Perser des gerade acht Jahre zurückliegenden Sieges der Griechen in der Schlacht bei Salamis an. Daraus ergibt sich der immerhin bemerkenswerte Befund, dass das abendländische Geschichtsdrama mit einer ›Ausnahme‹ beginnt: einer Geschichtsdarstellung aus unmittelbarer zeitlicher Nähe.175 Es ist dieses zeitnahe oder sogar ›authentische‹ Stoffverhältnis des Dichters als teilnehmender Beobachter, die das Drama im Botenbericht – »ich war dabei« – reinszeniert.176 Die römische Antike kennt ebenfalls zahlreiche, Frankfurt/M. 1980, S. 21. – Neubuhr räumt allerdings gleichzeitig ein, auch historische Dramen könnten ebenso ›aktuell‹ wie aktuelle Dramen ›unpolitisch‹ sein. 175 Vgl. Manfred Joachim Lossau: Aischylos. Hildesheim, Zürich, New York 1998 (Studienbücher Antike; 1), S. 34. – Vgl. dazu auch Dirk Niefanger : Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495 – 1773. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur ; 174), S. 2. 176 Aischylos war Teilnehmer sowohl der Schlacht von Marathon 490 v. Chr. als auch der Schlacht von Salamis. Vgl. dazu Emil Staigers Nachwort in Aischylos: Die Perser. Sieben gegen Theben, S. 95 – 102, hier S. 95. – Vgl. auch Wolfgang Schadewald: Die Perser. In: Wege zu Aischylos. Bd. 2. Hg. von Hildebrecht Hommel. Darmstadt 1974, S. 3 – 6.

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ästhetisch meist anspruchslose Praetexta, die aktuelle außen- und innenpolitisch bedeutsame Ereignisse, vor allem militärische Leistungen, aus geringer zeitlicher Distanz thematisieren.177 Auch die mittelalterliche Epik, die aus der Geschichtsdichtung erwächst, weist mit dem Annolied und dem Ludwigslied poetische Texte auf, die sich auf Gestalten der unmittelbaren Zeitgeschichte beziehen. Aus dem Übergang zwischen Mittelalter und Frühneuzeit datiert ein anonymer Dialog De Casu Caesenae (1377), der die Belagerung und Zerstörung der italienischen Stadt aus geringster zeitlicher Distanz zum Gegenstand nimmt.178 Auch der literaturgeschichtliche Kanon der deutschsprachigen Tragödien des siebzehnten Jahrhunderts, die – stofflich und ästhetisch am römischen Modell orientiert – unentwegt historische Stoffe adaptieren, weist mit Andreas Gryphius’ Trauerspielen Carolus Stuardus (1657 / 63) und Catharina von Georgien (1657) sowie Christian Weises Masaniello (1683) immerhin gleich drei prominente Dramentexte auf, die den aktuellen Stoffbezug suchen.179 Gryphius, der unter dem unmittelbaren Eindruck der Nachrichten von der Hinrichtung Charles I. von Großbritannien, dessen Schockwellen im Zeitalter des Absolutismus ganz Europa durchliefen, »paucos intra dies« mit der Niederschrift seines Carolus-Dramas begonnen zu haben berichtet,180 verlagert den rezenten Stoff auf eine typologische Deutungsebene, die das zeitgeschichtliche Ereignis zugleich aufgreift und hinter sich lässt. Für seinen jüngeren, säkularer orientierten Zeitgenossen Christian Weise wird jedoch bereits die zeitgenössische Informationsdichte zu einem Problem der poetischen Gestaltungsfreiheit: Gedruckte und bebilderte Flugblätter, ›Historische Nachrichten‹ und ›Diskurse‹, aber auch andere, nicht überlieferte, aber zu vermutende Dramentexte und -aufführungen stellen die medialen Prätexte dar, unter denen politische Ereig177 Hervorzuheben ist unter den antiken Zeitgeschichtsdramen allerdings die anonyme Tragödie Octavia, die Neros Verstoßung der Kaiserin im Jahr 62 n. Chr. zum Gegenstand hat; vgl. dazu Klaus Sallmann: Die Tragödie der jungen Octavia, Kaiser Neros Gattin. In: Aspekte des Geschichtsdramas von Aischylos bis Volker Braun. Hg. von Wolfgang Düsing. Tübingen 1998 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater ; 19), S. 31 – 50. 178 Vgl. dazu Wilhelm Cloetta: Beiträge zur Literaturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance. Bd. 1: Komödien und Tragödien im Mittelalter. Halle / Saale 1890 (Reprografischer Nachdruck Leipzig 1976), S. 54 – 67. 179 Eine erste Fassung des Carolus-Dramas datiert möglicherweise schon auf das Jahr 1750; vgl. Willi Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne. Halle a. d. Saale 1921, S. 445. – Der Druckfassung des Catharina-Dramas, das sich auf den Martertod der Catharina von Georgien-Gurgistan im Jahr 1624 bezieht, ging vermutlich eine nicht gedruckte Fassung voraus, die schon bis zu zehn Jahre früher existiert haben kann. Zu diesem Datierungsproblem vgl. Albrecht Schöne: Postfigurale Gestaltung. Andreas Gryphius. In: ders.: Säkularisation als sprachbildende Kraft. 2. Auflage Göttingen 1968 (Palaestra; 226), S. 37 – 91. – Zu beiden Dramen vgl. Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998, S. 98 – 121. 180 Vgl. Hans Wagener : Nachwort. In: Andreas Gryphius: Carolus Stuardus. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe Stuttgart 1982, S. 155 – 166, hier S. 157.

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nisse der Gegenwart den Zeitgenossen des siebzehnten Jahrhunderts mit geringer Verzögerung öffentlich zur Kenntnis gebracht wurden.181 Soweit der Text der Geschichte lückenhaft bleibt, beeinträchtigt er die Darstellung im Dramentext kaum, die sich an das Prinzip der historischen Faktentreue bindet; vielmehr arbeiten solche Lücken der »Freyheit eines Gedichtes« durch die Möglichkeit zu, »daß man das jenige nach Gefallen suppliret, welches bey dem Geschichtschreiber / als unnöthig ausgelassen worden« ist.182 Dass man »die erwehlte Materie mit allerhand anmuthigen Umbständen ausrüsten« kann, gehört zum genuinen Officium des Poeten im Unterschied zum Historiker, wie die zeitgenössischen Poetiken festhalten.183 Wenngleich bei geschichtlichen Stoffen der »PoÚt den glücklichen oder unglücklichen Ausgang nicht verändern kann«, schreibt etwa Harsdörffer, kann er »aber wol die Vmstände / die Reden / welche dieser oder jener geführet / und […] bey ieder Begebenheit die natürlichen Farben […] zierlich und wolschicklich anbringen.«184 Über den neapolitanischen Fischeraufstand von 1647 dagegen, den Weises MasanielloDrama als stofflichen Gegenstand wählt, »haben sich so viel Historici […] gemacht / daß auch die geringsten Minutae nicht vergessen worden / darbey man nunmehr sorgen müste / was man setzen oder auslassen sollte.«185 Es handelt sich um einen mediengeschichtlich ›modernen‹ Sachverhalt, der bereits im frühneuzeitlichen Drama angesichts beschleunigter Nachrichtenzirkulation des Druckzeitalters die Umsetzung rezenter Stoffe problematisiert: Nicht der Mangel, sondern die Überfülle an Informationen und Details (minutae), also gewissermaßen ein information overload, ist es, der die literarische Darstellbarkeit in Frage stellt. Um seiner exemplarischen Bedeutsamkeit willen will Weise dennoch vom informationell ›überdeterminierten‹ Stoff nicht lassen: »Allein dergleichen Exempel finden sich nicht allenthalben«. Er beruft sich dazu auf die (namentlich in der Sprache der Systemtheorie erneut zu Ehren gekommene) etymologische Herkunft vom griechischen Wort ›Poiesis‹, um die »Freyheit« des Dichters auch unter den Bedingungen der zeitgenössischen Informationsüberfülle zu retten: auf die »Anleitung des Griechischen Wörtgens poie?m, das ist dichten / und aus nichts etwas machen können.«186 Zum ersten Mal gibt damit historische Dichtung ihre Konstruktivität zu erkennen, indem sie auf 181 Zu diesen Bedingungen des Geschichtlichen vgl. die Bemerkungen bei Debray : Einführung in die Mediologie, S. 175. 182 Christian Weise: Masaniello. Hg. von Fritz Martini. Stuttgart 1992, S. 9. 183 Rotth: Vollständige Deutsche Poesie. 2. Teilband, S. 780 [originale Paginierung: S. 20]. 184 Georg Philipp Harsdörffer : Poetischer Trichter / Die teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugießen. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1648 – 1653. Darmstadt 1969, S. 6. 185 Weise: Masaniello, S. 9. 186 Ebd. – Vgl. ähnlich Harsdörffer : Poetischer Trichter, S. 3 f.

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dem Wortsinn des Dichtens beharrt. Zu den Größen ›Geschichte‹ und zeitgenössisches ›Wissen‹ tritt bei Weise eine dritte Größe hinzu, deren Verhältnis zu den beiden anderen auch in den nachfolgenden Jahrhunderten klärungsbedürftig bleibt: diejenige des literarischen, das heißt vor allem fiktionalen Textes. Auch wenn sich Weise bereits auf eine Autonomie der ›Poiesis‹ berufen kann, muss er der Informationsgesellschaft, die schon in der Frühen Neuzeit anbricht, doch sein Verhältnis zur Gegebenheit des geschichtlichen Stoffes erklären.

2.4.1 Wettlauf mit der Zeitgeschichte: Barthold Feinds Das verwirrte Haus Jacob Der Hamburger Advokat und Dichter Barthold Feind, der wie Weise über den neapolitanischen Fischeraufstand ein Libretto zu Reinhard Keisers Oper Masagniello furioso (1706) schrieb, hat in seiner aus guten Gründen anonym publizierten Komödie Das verwirrte Haus Jacob (1703) sogar ein Ereignis der unmittelbaren stadtgeschichtlichen Gegenwart thematisiert, dessen Ausgang zum Zeitpunkt der Fertigstellung seines Dramas noch gar nicht feststand. Statt die realpolitische Entwicklung abzuwarten, nimmt das Drama den ungeschehenen Ausgang der dargestellten Empörung einfach vorweg; es entspricht damit der gattungsmäßig bindenden Gesetzmäßigkeit, die dem Mythos ›Anfang‹, ›Mitte‹ und ein ›Ende‹ zu geben verlangt. Am Ende siegt bei Feind das städtische Patriziat als etablierte Ordnungsinstanz, während der revoltierende, ständisch untergeordnete Handwerkerstand unterliegt. Sind zeitgeschichtliche Narrationen gewöhnlich mit dem Problem behaftet, ›zu spät‹ zu kommen und mit der »rollenden Weltgeschichte«187 kaum mithalten zu können, hat Feinds dramatisches »Gesicht der bestrafften REBELLION«,188 visionär und eindeutig bereits im Titel, diese vielmehr überholt. Tatsächlich ist die Geschichte indes – Indiz für ihre aktualistische Unabsehbarkeit – anders als in Feinds Drama vorhergesehen verlaufen: Die Hamburger Unruhen, deren Anlass ein Streit zwischen pietistischen und orthodoxen Pastoren gegeben hatte, endeten keineswegs mit der im Stück imaginierten raschen Niederlage der Empörer, sondern zogen sich noch über mehrere Jahre hin – genauer : bis 1708, als eine kaiserliche Kommission mit militärischer Unterstützung ihnen ein gewaltsames Ende setzte. Die reale Ereignisgeschichte hatte wiederum Feinds Zeitgeschichts-Drama überholt – und damit erneut die Einsicht in die Verspätung der Dichtung ins Recht gesetzt, gegen die Feinds ›visionäres‹ Drama selbst für einen kurzen Augenblick rebellierte. Den Wettlauf mit der ›rollenden‹ Zeitgeschichte hat Feinds Drama ver187 Goethe: Campagne in Frankreich 1792, S. 512 f. 188 Barthold Feind: Das verwirrte Haus Jacob. Faksimiledruck der Ausgabe von 1703. Hg. und eingeleitet von W. Gordon Marigold. Bern, Frankfurt / M. 1983 (Europäische Hochschulschriften; Reihe 1, 609), faksimiliertes Titelblatt.

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loren, indem sie den literarischen Propheten Lügen strafte. Dabei hatte es der zeitgeschichtlichen Entwicklung den Verlauf gleichsam vorzuzeichnen gesucht, indem es mit der Authentifizierung der dramatis personae eine größtmögliche Mimesis der aktuellen Geschehnisse anstrebte. Dass in der ersten Auflage des Dramas die beteiligten Personen unter eigenen Namen figurierten, ist dem Verfasser bei der späteren gerichtlichen Verhandlung besonders übel genommen worden: weil er »ohnschuldige Priester und Bürger übel mitgenommen / selbige in der ganzen Welt dermassen angeschwärzet / daß / wo es erwiesen gewesen / selbige Leibes und Lebens / Haabes und Gutes verlustig würde gewesen seyn.«189 Es ist charakteristisch nicht nur für die mehrfachen Risiken der hier gewagten Antizipation, sondern poetischer Einlassungen auf aktuelle Geschichte überhaupt, dass einerseits der Verfasser vor Gericht gestellt, seine Zeitgeschichts-»Comedie«190 als ›Pasquill‹ im Jahr ihres Erscheinens verboten und mit anderen ›injuriösen‹ Schriften öffentlich verbrannt worden ist – andererseits aber schon bald nach dem Ende der Hamburger Unruhen »mit den Streitschriften und Pasquillen der Zeit um 1700 vergessen« worden ist.191 2.4.2 Klassizismus und Nachklassizismus: Racine und Lessing oder die geschichtsliterarische Sorgfaltspflicht Je mehr sich der Stoffbezug poetischer Texte der zeitgeschichtlichen Gegenwart nähert, desto voraussetzungsreicher und problematischer wird offensichtlich ihr Verhältnis zu den Rezeptionsbedingungen einer informierten Öffentlichkeit. Dennoch setzen sich literarische Auseinandersetzungen mit zeitaktuellen Stoffen gegen die poetologische (und, wie Feinds Beispiel zeigt, gegebenenfalls auch juristische) Norm im achtzehnten Jahrhundert fort. Wenn Gotthold Ephraim Lessings fragmentarisches Samuel Henzi-Drama (1749) mit der Verschwörung von Teilen der Berner Bürgerschaft gegen den autokratischen Stadtrat ein Ereignis der europäischen Tagespolitik zum Gegenstand nimmt,192 missachtet auch dies »eine der essentiellen Konventionen des klassizistischen Trauerspiels, das seine Gegenstände der entlegenen Vergangenheit antiker Geschichte oder der noch gegenwartsferneren Mythologie entnimmt, um den vorgeführten Handlungen durch zeitliche und räumliche Distanz Gewicht zu verleihen.«193 Zeit189 Die »Protokolle & Acta« werden zitiert von Marigold im »Vorwort« zu Feinds Das verwirrte Haus Jacob, ebd., S. 9*-84*, hier S. 49*. 190 Der hier angewandte Komödien-Begriff erklärt sich aus einer frühneuzeitlichen Gattungspoetik, die vor allem die Standeszugehörigkeit zum Gattungskriterium macht. 191 Vgl. Marigold im »Vorwort« zu Feinds Das verwirrte Haus Jacob, S. 64*. 192 Gotthold Ephraim Lessing: Samuel Henzi. In: ders.: Werke und Briefe. Bd. 1: Werke 1743 – 1750. Hg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt / M. 1989, S. 498 – 517. 193 Albert Meier : Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizisti-

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aktuelle Gegenstände haben ein eigenes, aber häufig flüchtiges Gewicht, das der Fortgang der Geschichte meist aufhebt. Gerade die Zurichtung des aktuellen Stoffes durch die dramaturgischen Normen des Klassizismus, denen Lessings in Alexandrinern verfasste politisch-heroische Tragödie – sieht man von der allenfalls fraglichen Einhaltung der Ständeklausel ab – im übrigen entspricht,194 macht den Verstoß gegen das stoffliche Gebot desto kenntlicher : »Aber wird man nicht das schon für eine Übertretung der Regeln halten, daß der Stoff unsers Trauerspiels so gar zu neu ist? Hätte man nicht wenigstens die ganze Begebenheit unter fremden Namen einkleiden sollen, gesetzt diese Namen wären auch völlig erdichtet gewesen?« So hat Lessing selbst in seinem 22. Brief (1753) gefragt.195 Die Abweichung von der doctrine classique aber wird durch aktuelle Rezeptionsbedingungen noch verstärkt, die Lessings Stück mit der Informiertheit der Zeitgenossen potenziell in Konflikt geraten lassen. Über die Revolte hatte etwa die Berlinische privilegierte Zeitung ausführlich berichtet. Der mit den Berner Vorgängen vertraute Albrecht von Haller hat denn auch in seiner Rezension des Stückes (1754) gleich moniert, dass die heroische Stilisierung Henzis und die unheroische Gestaltung seines Antagonisten Dücret nicht ganz mit der geschichtlichen ›Wahrheit‹ übereinstimmen. Jenseits der Überprüfung der Dramenhandlung an den ›Fakten‹ trägt seine Kritik auch einen Baustein zur Poetik der Zeitgeschichtsdramaturgie im achtzehnten Jahrhundert bei: Selbst wenn man von alten Geschichten redet, so wird die Beybehaltung der Charakteren der Personen und Völker unumgänglich erfordert. […] wann man aber eine neue Geschichte beschreibet, davon die Hauptpersonen grossen theils noch beym Leben sind, so hat man noch eine weit grössere Verpflichtung die Wahrheit zu sagen. Und hier hat der Hr. L. gar sehr gefehlet, ob wir wol ganz gerne diesen Fehler auf dieienigen mündlichen Nachrichten zurük schieben, die er zum Grund des Trauerspiels gelegt hat. Wir sind aber der Wahrheit und der Gerechtigkeit schuldig, die Charakteren der unglüklichen Verschwornen nach der Natur abzuschildern, weil sie unser Dichter zum Nachtheil einer beträchtlichen Republic verstellt hat.196 schen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt / M. 1993 (Das Abendland; NF 23), S. 161. Meiers Ansicht, dass Gryphius’ Carolus-Stuardus die »einzige Parallele« zu Lessings Zeitgeschichtstragödie darstelle, erscheint im Hinblick auf die vorgenannten Texte allerdings als nicht zutreffend. 194 Vgl. ebd., S. 162 ff. (mit Beispielen der zeitgenössischen Rezeption). – Die schon zu Lessings Zeit vertretene Auffassung, es handle sich um ein ›bürgerliches Trauerspiel‹, wird durch die staatspolitische Relevanz des Stoffes, dessen Akteure zwar bürgerliche, aber doch sozial hochrangige Personen sind, widerlegt. 195 Gotthold Ephraim Lessing: Zwei und zwanzigster Brief. In: ders.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding und Jörg Schönert hg. von Herbert G. Göpfert. 3. Bd: Frühe kritische Schriften. München 1972, S. 326 – 329, hier S. 327. 196 [Albrecht von Haller]: [Rezension über Lessings Samuel Henzi]. In: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen vom 23. 3. 1754, S. 295 f., hier S. 295.

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Haller zufolge verstößt Lessing gegen eine – im Fall zeitgeschichtlicher Stoffe verschärft zu beobachtende – geschichtsdramatische Sorgfaltspflicht: Je genauer der stoffliche Gehalt überprüft werden kann, desto weniger Abweichungen darf sich der Dramatiker erlauben. Dass die noch lebenden Personen gegen ihre Darstellung im Drama ihr Persönlichkeitsrecht geltend machen könnten, ist eine juristische Implikation, von der (anders als im Prozess gegen Barthold Feind) hier nicht die Rede ist. Wie Feind gebraucht Lessing die wirklichen Namen der Mitglieder der Berner Bürgerschaft, deren Verschwörung gegen die Regierung der Stadtrepublik im selben Jahr scheiterte, in dem sein Dramenentwurf entstand. Gerade aber »vom Henzi« ließen, wie Haller meint, »ganz andre GemüthsEigenschaften erweislich machen, als ihm der Hr. Lessing zuschreibt;197 nur aus Pietät gegenüber den Opfern der niedergeschlagenen Verschwörung verzichtet der Rezensent darauf, diese anzuführen. Lessing dagegen rechtfertigt die Namenverwendung der tatsächlichen Akteure gerade mit seiner ›authentischen‹ Darstellung, welche die zeitgeschichtliche Wirklichkeit respektiere: Die Verbergung der wahren Namen, wird meines Erachtens nur alsdann notwendig, wenn man in einer neuen Geschichte wesentlich Umstände geändert hat, und man durch diese Veränderung die besser unterrichteten Zuschauer zu beleidigen fürchten muß. Sind wir aber in diesem Falle? Ich sollte nicht denken […].198

Noch im 23. Stück (17. 7. 1767) der Hamburgischen Dramaturgie streicht Lessing die Authentizität bei der Behandlung der historischen Personen im Drama heraus, was für ihn die ›Steigerung‹ oder Stilisierung wie im Henzi-Drama nicht ausschließt. Allerdings wird die Frage, »wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne?«, hier für ihn, veränderten poetologischen Einsichten entsprechend, bereits zu einer Frage des Charakters – oder, weniger missverständlich formuliert, zu einer Frage der ›Charaktere‹. Denn die Treue der historischen Darstellung im Drama orientiert sich jetzt am Primat des Charakters vor der Fabel, mit dessen Postulat Lessing den Bruch mit der klassizistischen Dramenpoetik vollzieht: Nur die Charaktere sind ihm [dem Dichter, C. D.] heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste wesentliche Veränderung würde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen führen.199

197 Ebd. 198 Lessing: Zwei und zwanzigster Brief, S. 327 f. 199 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bdn. Hg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann. Bd. 6, hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt / M. 1985, S. 181 – 694, hier S. 298.

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Im 33. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (21. 8. 1767) nimmt Lessing die These abermals auf, »daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein müssen, als die Facta«.200 Eher sei es erlaubt, ein bekanntes historisches ›Faktum‹ mit fiktiven Figuren zu verbinden, als »bekannten Personen nicht zukommende Charaktere anzudichten«: »Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir bereits haben, und ist dadurch unangenehm.«201 Auch Lessings unklassizistische Poetik stärkt demnach letztlich über die Kategorie der dramatischen Figur den Maßstab historischer Korrektheit, gegen den kein Dichter unbeanstandet verstößt. Wie in Hallers Kritik ist es am Ende die Informiertheit des gebildeten Publikums, an der sich jede Ästhetisierung des Faktischen auch noch im nachtklassizistischen historisch-politischen Drama messen lassen muss. Was noch einmal die Maßstäbe der klassizistischen Poetik angeht, so verstößt Lessings früheres Henzi-Fragment dagegen gleich doppelt, indem es von einem zugleich zeitlich und räumlich nahe liegenden Ereignis handelt. Zeitgeschichtliche Nähe allein lässt sich zur Not noch durch räumliche Entrückung ausgleichen: So jedenfalls verteidigt Jean Racine seine Tragödie Bajazet (1672), die einen vergleichbar aktuellen Stoff der türkischen Tagespolitik zur Vorlage nimmt. Zwar rechnet Racine mit dem Befremden seiner Leser, »qu’on ait os¦ mettre sur la scÀne une histoire si r¦cente«;202 aber er behauptet, nichts in den »rÀgles du poÀme dramatique« erkennen zu können, das ihn von seinem Unternehmen hätte abbringen müssen. Räumliche Ferne und damit kulturelle Fremdheit sollen vielmehr die fehlende geschichtliche Distanz ersetzen; das geforderte Abstandsprinzip wird von der zeitlichen auf die räumliche Achse verlegt. Dass so der stoffliche Gegenstand und vor allem die agierenden Helden trotz ihrer Zeitgenossenschaft auf Abstand gebracht werden, entspricht in der Tat der klassizistischen Tragödiendramaturgie. Denn nur der Abstand vom Alltäglichen und Vertrauten schafft die Bedingung der heroischen Bewunderung, auf die es ihr wirkungsästhetisch ankommt: Les personnages tragiques doivent Þtre regard¦s d’un autre œil que nous ne regardons d’ordinaire les personnages que nous avons vus de si prÀs. On peut dire que le respect que l’on a pour les h¦ros augmente — mesure qu’ils s’¦loignent de nous: major e longinquo reverentia. L’¦loignement des pays r¦pare en quelque sorte la trop grande proximit¦ des temps. Car le peuple ne met guÀre de diff¦rence entre ce qui est, si j’ose ainsi parler, — mille ans de lui, et ce qui en est — mille lieues.203

200 Ebd., S. 346. 201 Ebd., S. 347. 202 Jean Racine: Bajazet. In: ders.: Œuvres completes. Bd. 1: The–tre – Po¦sies. Pr¦sentation, notes et commentaries par Raymond Picard. Paris 1950, S. 521 – 592, hier S. 530. 203 Ebd., S. 530.

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Aus ihrer räumlichen Abständigkeit von der bekannten, vor allem französischen Zuschauern oder Lesern vertrauten Lebenswelt und der damit verbundenen Verschiedenheit von Sitten und Gewohnheiten beziehen die »personnages turcs« ihre dramatische Dignität; von ihrer »dignit¦ sur notre th¦–tre« spricht Racine explizit.204 Das macht sie gewissermaßen zu antiken Helden der zeitgeschichtlichen Gegenwart: »On les regarde de bonne heure comme anciens.«205 Es ist vor allem die Spärlichkeit der Informationen, die das geografisch Ferne und kulturell Fremde wie etwas zeitlich Entrücktes erscheinen lässt. Die ›transzendentale‹ Bedingung der Möglichkeit von Racines Tragödie und ihrer poetologischen Legitimation besteht in einem noch nicht globalisierten zeitgenössischen Nachrichtensystem, das die kulturellen und politischen Gegebenheiten der Türkei noch außerhalb des kulturellen Horizonts Europas verortet. Im selben Maße jedoch, in dem die Reichweite der modernen Informationsmedien – verstärkt durch die technische Entwicklung der Mobilität sowie die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen seit dem neunzehnten Jahrhundert – räumliche Abstände einzieht, verliert auch der kulturell-geografische Exotismus, den Racine zugunsten seiner Stoffwahl anführt, seine legitimierende Kraft. Für den klassizistischen Dramatiker mochte noch gelten, dass zwischen Frankreich und der Türkei »si peu de commerce« bestehe, so dass man die Prinzen und anderen Bewohner des zum Schauplatz gewählten Serails wie Menschen eines früheren Jahrhunderts ansah. Die kulturelle und nationale Grenzen weitgehend überwindende, moderne Informationsgesellschaft annulliert dagegen jeden exterritorialen Ort, zu dem die poetische Freiheit unbesorgt um den geschichtlichen Wahrheitsgehalt Zuflucht nehmen kann. 2.4.3 Geschichte als Gegenwart und Gleichnis: Büchner – Vormärz – Hauptmann Der weltumspannenden Erschließung des Raums entspricht indes die Erschließung der historischen Zeit: Denn die Erforschung der räumlich-kulturellen Weite der Welt korrespondiert mit der Erforschung ihrer zeitlichen Tiefe. Erweiterung der Kenntnis und Verengung der der Phantasie zugestandenen Freiheit sind jedoch zwei Seiten desselben Vorgangs. Im selben Maß, in dem der geografische Raum sich informationell verdichtet, wird auch die Geschichte zum Gegenstand immer genaueren und zugleich immer allgemeiner verbreiteten Wissens. Ende des achtzehnten Jahrhundert geraten daher auch historische Stoffe bereits in den Bann der Information, welche die Grenzen der Fiktion immer enger um die literarische Phantasie herum zieht. Angesichts der zu204 Ebd., S. 531. 205 Ebd.

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nehmenden Einschränkung dichterischer Einbildungskraft durch historisch beglaubigte Erkenntnisse bekundet etwa Friedrich Schiller nach Vollendung seines Wallenstein-Dramas resigniert, »die historischen Sujets überdrüssig [zu sein], weil sie der Phantasie gar zu sehr die Freiheit nehmen, und mit einer fast unausrottbaren prosaischen Trockenheit behaftet sind.«206 Das Spannungsverhältnis, das zwischen dem Modus des »Vergangenseyns« historischer Stoffe, »welches als stillstehend gedacht werden kann«, und der Unmittelbarkeit der dramatischen Kunstform besteht, die in Schillers Worten »vollkommen gegenwärtig« ist,207 kann nur solange ästhetisch produktive Energien freisetzen, wie sich der Dichter im historischen Gedächtnisraum relativ frei entfalten konnte.208 Das Problem besteht jedoch darin, dass die fortschreitende Kenntnis der Geschichte die Grenze zwischen Gegenwart und historischem ›Vergangensein‹ in Bewegung bringt, also den Raum freier Entfaltung poetischer Imagination auch in Hinsicht auf historische Stoffe immer weiter verengt. Die Annäherung an die Historie impliziert allerdings Vor- und Nachteiliges zugleich: Während Schiller die Festlegung auf geschichtliches Wissen vor allem als Einschränkung ansieht, erblickt Georg Büchner fast vierzig Jahre später den Vorzug des historischen Dramas und »die höchste Aufgabe« des dramatischen Dichters gerade darin, »der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen«.209 Auch für Büchner ist der historische Dichter zunächst »nichts, als ein Geschichtschreiber« und insofern ans Faktische gebunden. Aber der Dichter als alter historicus wird kraft der Unmittelbarkeit der Darstellung im Drama zu einer Art alter deus, weil er »uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hineinversetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt.«210 Darin erneuert sich die aristotelische Behauptung der Überlegenheit der Poesie über die Historiografie bei aller Nähe zu ihr, aber sie erneuert sich in einem nicht-aristotelischen Sinn: Denn als überlegen erscheint die Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung nicht dadurch, dass sie – im 206 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner vom 26. 9. 1799, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bdn. Bd. 12: Briefe II, 1795 – 1805. Hg. von Norbert Oellers. Frankfurt / M. 2002, S. 486 f., hier S. 487. 207 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe vom 26. 12. 1797, in: Ebd., S. 354 – 356, hier S. 354 f. 208 Vgl. dazu Wolfgang Struck: Konfigurationen der Vergangenheit, S. 3, sowie Klaus-Detlef Müller : Das Problem der Zeitebenen im modernen deutschen Geschichtsdrama. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, NF 28 (1987), S. 211 – 226. 209 Georg Büchner an seine Familie vom 28. 7. 1835, in: ders.: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. Nachwort von Werner R. Lehmann. München 1980, S. 305 – 307, hier S. 305. 210 Ebd.

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Sinne eines ästhetisch-historischen Möglichkeitssinns – ›philosophischer‹, sondern dadurch, dass sie – im Sinne der ästhetisch-rhetorischen Prosopopoiie – ›sinnlicher‹ verfährt, indem sie dem Vergangenen und den Toten wieder Gestalt und Stimme verleiht.211 Büchner hat diese Überlegungen im Jahr des Entstehens und Erscheinens seines Dramas Dantons Tod (1835) formuliert. Das technischen Medien der Mimesis, welche die ästhetische Möglichkeit der Prosopopoiie übernehmen werden, sind hier – zwei Jahre vor der Erfindung der Daguerrotypie – noch nicht in Sicht. Mit dem Maßstab der Annäherung an die Geschichte, wie sie – mit Rankes Formulierung von 1824 – »eigentlich gewesen«,212 verbindet sich für Büchner auch ein Argument der Verteidigung gegen die zeitgenössische Beanstandung der ›obszönen‹ Sprache seines Stücks: Weil das historische Drama »weder sittlicher, noch unsittlicher sein [dürfe], als die Geschichte selbst«, spricht gerade die Nähe zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung den Dichter vom Vorwurf der Unsittlichkeit frei.213 Mit dem literarischen Vormärz und der vorrevolutionären jungdeutschen Schriftstellerbewegung vollzieht sich die Wendung des Geschichtsdramas zur politischen Pragmatik, die auch die Gegenwart – in den Grenzen dessen, was die staatliche Zensur erlaubt – nicht auslässt. Ludolf Wienbarg nimmt als Programmatiker der jungdeutschen Literatur 1835 Hegels ästhetische Zurückweisung des gelehrten Geschichtspedantismus auf, wenn er betont: »Der Dichter hat andere Zwecke vor Augen, als die Bühne zum Katheder der Geschichte zu machen.« Der Literaturtheoretiker folgert: »Mein Held müsste ein Zeitgenosse sein, mein Roman ein zeitgeschichtlicher Roman, welche dieses nicht sind, halte ich für faule Fische.«214 Es sind jungdeutsche Autoren wie Ludwig Börne, welche die aktualistische Losung ausgeben, der zeitgenössische Autor müsse vor allem »Zeit-Schriftsteller« sein. Dass zwischen manifester Zeitgenossenschaft und Revolution ein pragmatischer Zusammenhang besteht, hat Börne wortspielerisch auspointiert, wenn er vom Literaten fordert, nicht nur ›Geschichtsschreiber‹, sondern »Geschichtstreiber« zu sein.215 Die hier postulierte Koinzidenz von Literatur mit politischem Engagement wird sich in der deutschspra211 Vgl. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, § 826, S. 411 f. 212 Leopold von Ranke: Vorrede der 1. Ausgabe der Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 – 1514, Oktober 1824. In: Leopold von Ranke’s Sämmtliche Werke. 33. Bd. Leipzig 1874, S. VII. 213 Georg Büchner an seine Familie vom 28. 7. 1835, in: ders.: Werke und Briefe, S. 305. – Zum Vorwurf der ›Unsittlichkeit‹ und zur Analyse des Briefes vgl. auch Albert Meier : Georg Büchners Ästhetik. München 1983 (Literatur in der Gesellschaft; NF 5), S. 92 – 96. 214 Ludolf Wienbarg: Zur neuesten Literatur. Reprographischer Nachdruck der 2. Auflage von 1835. Frankfurt / M. 1973, S. 72. 215 Ludwig Börne: Briefe aus Paris. Hg. von Alfred Estermann. Frankfurt / M. 1986, S. 141 f., hier S. 142 (30. Januar 1831).

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chigen Literatur der sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wiederholen: Aber die Überführung der Literatur in geschichtsbeteiligte, oder gar -mächtige Praxis führt dann in letzter Konsequenz zur Forderung des Verzichts auf Literatur, der die Poetik um 1848 eine historische Rolle noch zutraut. Werden jedoch mit dem Aufkommen einer genuinen Geschichtskultur um 1800 die Bestände historischen Wissens ständig verändert, vervollständigt und präzisiert, determinieren sie zunehmend auch den historischen Raum der dichterischen Imagination. Wo geschichtliche Vergangenheit und zeitgeschichtliche Gegenwart als gleich gut bekannt vorauszusetzen sind, erlangt der Maßstab der Information eine Geltung, mit der jede Darstellung geschichtlich beglaubigten Geschehens a fortiori zu rechnen hat. Dass auch historischen Stoffen (mit Goethes Formulierung über Lessings Minna von Barnhelm) ein »spezifisch temporäre[r] Gehalt«216 zukommen kann, der sie zu Projektionsflächen aktueller Wirklichkeitsverhältnisse geraten lässt, haben literarische Texte jenseits der nicht selten riskanten Einlassung auf zeitgeschichtliche Ereignisse und Gegebenheiten häufig im Sinne gegenwartsbezogener Interventionen zu nutzen gewusst. Dass selbst historische Stoffe, von denen die Bearbeitung mehr als ein ganzes Jahrhundert absteht, die staatliche Zensur auf den Plan rufen können, hat Karl Gutzkow anlässlich seiner 1843 verfassten Komödie Zopf und Schwert erfahren müssen: Auch wenn der Dramatiker das Zeugnis »historischer Treue« auf seiner Seite weiß, ist das dynastische Gedächtnis doch lang genug, um seinem Stück die Herabsetzung des Hauses Preußen nicht zu verzeihen.217 Dass Geschichte als Literatur stets im Licht gegenwärtiger Erkenntnis- und Darstellungsinteressen steht, ist also nicht erst eine Einsicht kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung. Volker Braun, dessen historische Dramen trotz seiner kritischen Parteinahme für den Sozialismus der SED öfter mit der Zensur in Konflikt gerieten, hat dementsprechend lakonisch konstatiert: »[D]er Begriff Gegenwartsliteratur ist eine Tautologie.«218 Aber der doppelte Bezug auf historisch Vergangenes und zeitgeschichtliche Gegenwart bedeutet auch, dass sich die literarische Fiktion nunmehr an beidem messen lassen muss: am Faktischen der Geschichte, die sie als ›Gleichnis‹ der Gegenwart bemüht, und am 216 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit II, 7. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 16, hg. von Peter Sprengel. München 1985, S. 304. 217 Karl Gutzkow: Vorwort [zur Komödie Zopf und Schwert]. In: Gutzkows Werke. 2. Teil: Werner, Zopf und Schwert, Das Urbild des Tartuffe. Hg. von Reinhold Gensel. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1912, S. 77 – 79 (das Drama hier S. 75 – 150). 218 Volker Braun: Literatur und Geschichtsbewußtsein. (Thesen für eine Arbeitsgruppe auf dem VII. Schriftstellerkongreß der DDR). In: ders.: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate. Frankfurt / M. 1976, S. 137 – 144, hier S. 140.

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Faktischen der Gegenwart, auf die das historische ›Gleichnis‹ zielt. Beide bilden nunmehr gleichberechtigte Gegenstände eines Wissens, das von keiner Fiktion mehr hintergangen werden kann. Die zeitgenössische Rezeption von Gerhart Hauptmanns naturalistischem Sozialdrama Die Weber (erschienen 1892, uraufgeführt 1893), dessen Untertitel – Schauspiel aus den vierziger Jahren – den (allerdings geringen) geschichtlichen Abstand zur politisch-sozialen Gegenwart markiert, macht diesen doppelten Anspruch und seine Problematik deutlich. Denn die historische Entrückung dient der Camouflage eines politisch aktuellen Wirklichkeitsbezugs, welche die Rezeption durch den Abgleich der dargestellten Situation mit aktuellen Informationen wieder aufgelöst hat: Der Zeitungsleser ist gar zu gut unterrichtet und sagt daher : ›Das mit den vierziger Jahren ist eine Finte, um den Stoff weniger verfänglich erscheinen zu lassen und um die Polizei zu beruhigen. In Wahrheit ist es ein modernes Stück und spielt im Jahre 1890. Das weiß ich am besten, der ich damals die Zeitungsberichte gelesen habe, denen der Dichter alle Schilderungen des Weberlandes entnommen hat.‹219

Das über die soziale und wirtschaftliche Lage in Schlesien – vor allem durch Zeitungsberichte über die Missernte von 1890 – wohl informierte Publikum kassiert die im Titel des Dramas angezeigte Distanz zur Gegenwart wieder ein; es weiß, dass in historisierender Darstellung hier in Wahrheit von gegenwärtigen Zuständen die Rede ist. Der Kritiker Paul Marx hat Hauptmanns Stück im Jahr 1892 im Berliner Magazin für Litteratur aufgrund seiner »in jedem Zuge wahrheitsgetreue[n] Darstellung historischer Begebenheiten« verteidigt:220 Hauptmanns Schauspiel werde nicht nur der Gegenwart gerecht, sondern auch der ›gleichnishaft‹ herangezogenen Geschichte. Dass bürgerliche Zeitungsleser und Theatergänger allerdings bei allem Wiedererkennen der sozialen Gegenwart nicht unbedingt der pragmatisch-politischen Intention des Dramas entsprechen, weil Informiertheit und Handeln nicht unmittelbar aufeinander abgestimmt sind, hat der Rezensent des Dramas durchschaut: »Aufreizend könnte es höchstens auf schlesische Weber wirken, welche selten ins Theater gehen.«221 Zahlreiche Texte noch des zwanzigsten Jahrhunderts bedienen sich dieses Verfahrens der ›pseudohistorischen‹ Camouflage – nicht zuletzt, um der politischen Zensur zu entgehen. Im Falle Hauptmanns ist der geringe zeitliche Abstand Index eines Gegenwartsbezugs, der dem zeitgenössischen Publikum 219 Vgl. Paul Marx: Der schlesische Weberaufstand in Dichtung und Wirklichkeit. In: Das Magazin für Litteratur, 61. Jg., Nr. 7 vom 13. 2. 1892, S. 112 – 115, hier S. 112. 220 Ebd. 221 Ebd., S. 115. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Karikatur der Publikumswirkung naturalistischer Dramen, die Heinrich Mann in seinem Roman Im Schlaraffenland (1900) zeichnet (Heinrich Mann: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten. Mit einem Nachwort von Wilfried F. Schoeller und einem Materialanhang, zusammengestellt von Peter-Paul Schneider. Frankfurt / M. 1992, S. 123 – 160).

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kaum entgehen konnte und sollte. Auch Friedrich Wolfs Dokumentarstück Die Matrosen von Cattaro sucht aus dem Matrosenaufstand von 1918 ein ›historisches Gleichnis‹ für die Auseinandersetzungen zwischen Freikorps und kommunistischen Partisanen in der Weimarer Republik zwischen 1920 und 1923 zu machen, die zum Zeitpunkt der Berliner Uraufführung 1930 durchaus noch als zeitgeschichtliche Ereignisse gelten konnten. Wolfs spätere Erläuterung dazu ist aber offenbar im ungebrochenen Vertrauen darauf formuliert, dass seine proletarische Zielgruppe durchaus ins Theater geht: Diese Ruhrkämpfe konnte man im Hindenburgdeutschland nicht auf der Bühne zeigen. So musste ich durch die Blume sprechen, im historischen Gleichnis des Aufstands der ›Matrosen von Cattaro‹. Aber jeder Arbeiter verstand sofort den Sinn und Hinweis des Stückes.222

2.4.4 Das »unverstellte Licht der Fakten«: Probleme des literarischen Dokumentarismus im 20. Jahrhundert Solche historisch-camouflierenden Bezugnahmen auf präsentische Geschichte bleiben im Zusammenhang der Textuntersuchungen des folgenden Teils ausgespart – jedenfalls soweit sie den stofflichen (Zeit-)Rahmen dessen überschreiten, was ihrer operationalen Modellbildung zufolge als Bezugnahme auf zeitgeschichtliche Ereignisse gewertet werden kann. Das dokumentarische Theater, dessen produktivste Phasen in den zwanziger und in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts liegen, hat sich jedoch erneut verstärkt für Stoffe der aktuellen Zeitgeschichte interessiert: Exemplarisch seien für die erste Phase des Dokumentartheaters nur Reinhard Goerings Schauspiel über den Untergang der deutschen Kriegsflotte Scapa Flow (1919), Berta Lasks »den Märzkämpfern gewidmet[es]« Drama Leuna 1921, Drama der Tatsachen (1926),223 dessen Szenen Egon Erwin Kisch als »Meisterstücke der Tatsachenverwertung« rühmte,224 sowie Ernst Tollers Feuer aus den Kesseln (1930) genannt, das eine Matrosenmeuterei gegen Ende des Ersten Weltkriegs (1917) thematisiert. In unmittelbarer Nähe zum dargestellten Ereignis schrieb Georg 222 Friedrich Wolf: Weshalb schrieb ich die ›Matrosen von Cattaro? (1935). Abgedruckt in: Günther Rühle (Hg.): Zeit und Theater. Bd. 4: 1925 – 1933. Von der Republik zur Diktatur. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt / M., Berlin, Wien 1980, S. 817 – 819, hier S. 819. – Vgl. Friedrich Wolf: Die Matrosen von Cattaro. In: ders.: Die Matrosen von Cattaro. Tai Yang erwacht. Die Jungens von Mons. Professor Mamlock. Laurencia. Hg. von Else Wolf. Berlin 1960, S. 5 – 93. 223 Lask hat mit Thomas Münzer (1925) zuvor auch ein historisches Drama geschrieben, das den sozialistischen Klassenkampf im Stoffzusammenhang des 16. Jahrhunderts fiktional austrägt. 224 Egon Erwin Kisch in der Zeitung Welt am Abend vom 4. 7. 1927; zit. nach Johannes Schellenberger: Nachwort, in: Ebd., S. 147.

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Kaiser inmitten des Zweiten Weltkriegs mit dem Floß der Medusa (1940 / 43) ein Drama über die »siebentägige[] Irrfahrt« einer Gruppe englischer Kinder, deren Schiff von deutschen Torpedos versenkt worden war.225 Dieser zeitgeschichtskritischen Dramatik stehen auf der politisch entgegen gesetzten Seite allerdings auch Theatertexte der 1930er Jahre entgegen, die sich aus nationalistischer oder gar nationalsozialistischer Perspektive Stoffen der deutschen Zeitgeschichte annehmen: Heinrich Zerkaulens Jugend von Langemarck (1933) oder Friedrich Bethges Marsch der Veteranen (1935) sind nur zwei Beispiele von vielen.226 Während eine Literatur, die sich auf rezente Ereignisse einlässt, sich immer schon am Kenntnisstand ihres wie immer sozial begrenzten Publikums messen lassen musste, sieht sich der literarische Dokumentarismus seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einer mediengeschichtlich neuen, bald schon flächendeckenden Konkurrenz der Text- und Bildmedien bzw. der Reportage ausgesetzt. Der pacte de verit¦, den sie anstelle des Fiktionsvertrags setzt, verweist die Dokumentarliteratur wie keine andere auf die Medien der Information. Siegfried Kracauer schrieb 1929 in seinem Essay Die Angestellten, die Reportage genieße gegenwärtig in Deutschland »die Meistbegünstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich des ungestellten Lebens bemächtigen könne. Die Dichter kennen kaum einen höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf.«227 Was den tatsächlichen Erkenntnisvorzug der Reportage gegenüber der Literatur angeht, ist Kracauer nicht weniger skeptisch als Benjamin: »Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat.«228 Dass die konstituierende Größe der Reportage, die »Information«, nach Benjamins in den 1930er Jahren formulierter Einsicht dem Erzählen grundsätzlich ungünstig ist,229 konnte den Autoren des zeitgeschichtsaffinen dokumentarischen Theaters ebenfalls nicht entgehen. Vielmehr haben sie die Notwendigkeit der Abgrenzung fiktionaler von faktualen Formen zeitgeschichtlicher Darstellung mitunter ausdrücklich reflektiert. Ernst Toller verteidigt etwa die ›Wahrheit‹ der Dichtung gegen eine text- und bildjournalistisch vermittelte ›Faktizität‹, wenn er im Vorwort zu seinem Zeitgeschichtsdrama Feuer aus den Kesseln fordert, 225 Georg Kaiser : Das Floß der Medusa. In: ders.: Werke. Hg. von Walther Huder. Bd. 3, Frankfurt / M., Berlin, Wien 1970, S. 769 – 820, hier S. 771. 226 Beide Dramen sind abgedruckt bei Günther Rühle (Hg.): Zeit und Theater 1933 – 1945. Bd. 5: Diktatur und Exil. Frankfurt / M., Berlin, Wien 1980, S. 141 – 194 und S. 195 – 258. 227 Siegfried Kracauer : Die Angestellten. In: ders.: Schriften 1: Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten. Frankfurt / M. 1971, S. 205 – 304, hier S. 216. 228 Seinen eigenen Essay bezeichnet Kracauer als »Mosaik«, das aus interpretierten Einzelbeobachtungen zusammengesetzt ist; denn: »Wirklichkeit ist eine Konstruktion.« (Ebd.) 229 Benjamin: Der Erzähler, S. 444 f.

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daß der Dramatiker das Bild einer Epoche geben, nicht wie der Reporter, jede historische Einzelheit photographieren soll. Künstlerische Wahrheit muß sich mit der historischen decken, braucht ihr aber nicht in jeder Einzelheit zu gleichen.230

Toller befindet sich damit durchaus im Einklang mit der Tradition einer Geschichtspoetik, welche die Wahrheitsbindung der geschichtlichen Darstellung an einem faktischen Kern festhält und die näheren ›Umstände‹ und ›Einzelheiten‹ der dichterischen Phantasie überlässt; auch Hegels Distanzierung vom historistischen Pedantismus stärkte diese Position. Aber Tollers Rechtfertigung der zeitgeschichtlichen Fiktion anerkennt noch im Akt der Selbstbehauptung literarischer Form den epistemischen Primat der Information, der auch für sie im Grunde unwidersprechlich bleibt. Die Bedenken, dass die stoffliche und thematische Verfügungssphäre der Literatur sich mit der Vermehrung spezialisierten Wissens wie umfassender allgemeiner Informiertheit immer mehr verengt, ziehen sich wie eine obstinate Melodie durch das Nachdenken über das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit im zwanzigsten Jahrhundert. »Betritt der Dichter den Boden der Gegenwart«, schreibt bereits Eugen Wolff in seinem programmatischen Aufsatz Die jüngste deutsche Literaturströmung und das Prinzip der Moderne (1888) in Anbetracht des positivistischen Szientismus und Historismus des späten neunzehnten Jahrhunderts, »so findet er heute die Lehren der Naturwissenschaft als unumgängliche Gesetze; flüchtet er in die Vergangenheit, so tritt ihm die Geschichtsschreibung nicht mehr wie zu Schillers Zeiten als Schwester der Poesie, sondern als strenge Wissenschaft mit ernstem Machtgebot entgegen«.231 Erschien das stoffgegebene Näheverhältnis der Poesie zur Geschichtsschreibung schon seit Aristoteles als klärungsbedürftig, so verstärkt die Verwissenschaftlichung der letzteren offenbar den Zwang zur Respektierung historischer Erkenntnis des Faktischen, der die Literatur unter der Bedingung ihrer Selbstverpflichtung auf »Natur und Wirklichkeit« zu genügen hat. Aber es ist in steigendem Maße aber auch die Konkurrenz populärer, massenmedialer Darstellungsformen, die Sinn und Möglichkeit literarischen Erzählens infrage stellen. Auch wenn der Datenpositivismus mit seinem absoluten Objektivitätsvertrauen in die technischen Medien ihrer Vermittlung auf fragwürdig gewordenen Voraussetzungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts beruht, gibt der Grad an verdichteter Informiertheit doch an, was jede literarische Adaption 230 Ernst Toller : Feuer aus den Kesseln. Historisches Schauspiel in zwölf Szenen. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Mit Geleitworten von Bodo Uhse und Bruno Kaiser. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin 1961, S. 271 – 337, hier S. 273 231 Eugen Wolff: Die jüngste deutsche Literaturströmung und das Prinzip der Moderne. In: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Hg. von Gotthart Wunberg und Stephan Dietrich. 2., verbesserte und kommentierte Ausgabe Freiburg i. Br. 1998, S. 27 – 81, hier S. 41 f.

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zeitgeschichtlichen Geschehens bei ihren Adressaten fortan voraussetzen muss. Mit dem Grad der Informiertheit des Publikums steigt offenbar das Maß an Intoleranz gegenüber der Fiktion, die sich über ›Faktisches‹ hinwegsetzt. Bertolt Brechts Diktum, der »Filmsehende« lese literarische Texte »anders«, aber auch der Schreibende sei »seinerseits ein Filmesehender«,232 gilt im Zeitalter des Fernsehens in Hinsicht auf zeitgeschichtliche Repräsentationen literarischer Texte erst recht. Dass Literatur, soweit sie sich auf zeitgeschichtliche Begebenheiten bezieht, gegenüber jeder früheren mediengeschichtlichen Situation mit grundsätzlich veränderten Standards der Informiertheit zu rechnen hat, ist vor allem den Autoren des dokumentarischen Theaters seit 1960 bewusst. »Sie können kein Hitler-Drama oder kein Trotzki-Drama oder kein Drama über Auschwitz oder Churchill schreiben, ohne daß Sie die heutigen Informationsweisen berücksichtigen; unser Zeitgenosse ist in anderer Weise informiert als der Zeitgenosse Shakespeares oder Goethes«, fasst etwa Heinar Kipphardt 1967 die veränderten Rezeptionsbedingungen während der ersten Arbeitsphase an seinem (1983 uraufgeführten) Drama Bruder Eichmann ins Auge.233 Die Uraufführung von Wolfgang Graetz’ Die Verschwörer von 1965, das den HitlerAttentätern des 20. Juli 1944 galt, kam aufgrund eines negativen Gutachtens des Münchner Instituts für Zeitgeschichte erst drei Jahre später zustande.234 Auch Bearbeitungen historischer Stoffe sind nicht vor einer publizistischen Gerichtsbarkeit sicher, die den Maßstab der Exaktheit statuiert: Dieter Fortes Luther-Drama (1970) oder Peter Weiss’ Hölderlin (1971) lösten Diskussionen um die Wahrheit oder ›Manipulation‹ ihres faktischen Materials aus. So einschränkend und unbestechlich sich der Maßstab des (zeit-)geschichtlichen Objektivismus zur Geltung bringt, so eindringlich hat der DDR-Dramatiker Volker Braun doch der Unbestechlichkeit des informierten Theaterpublikums, die er zu dessen »besten Eigenschaften zählt«, in Hinsicht auf die historischen ›Fakten‹ eine »kunstbildend[e]« Rolle zuerkannt – und damit ganz ähnlich wie die Dokumentardramatiker in Westdeutschland argumentiert: Geschichte läßt sich nicht mehr so unverfroren verwischt ins Theater bringen wie in dem herrlichen Stück Wilhelm Tell; der Zuschauer, der heute ohnehin mehr weiß,

232 Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Bd. 21: Schriften I: 1914 – 1933. Berlin und Weimar, Frankfurt / M. 1992, S. 448 – 514, hier S. 464. 233 Heinar Kipphardt: »Wäre ich Eichmann geworden?« In: Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek bei Hamburg 1998 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. von Uwe Naumann), S. 187. 234 Vgl. Seiler : Exaktheit als ästhetische Kategorie, S. 391.

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dürstet noch in den drei Stunden im Dunkel nach dem unverstellten Licht der Fakten. Das ist ein Fakt.235

Weil literarische Texte daran sowenig vorbeigehen können wie an den Daten der Geschichte selbst, steht jede historische Fiktion unter dem Verdacht der »Geschichtsklitterung«. Die Lösung dieses Problems des Interferierens von Information und Fiktion liegt für den Geschichtsdramatiker Braun in der Vielschichtigkeit der Geschichte, in der schon Carlyle ihre Charakteristik gegenüber der narrativen Linearität erkannte:236 Denn »die Geschichte ist ein Prozeß von enormer Dicke, nur einige ›Schichten‹ lagern sich in den Dokumenten und Geschichtsbüchern ab« – während die Alltagsgeschichte, die auch von der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft seit Mitte der neunzehnhundertachtziger Jahre entdeckt worden ist, noch immer »frei herauf[zu]holen« und nach ästhetischen Gesetzen dramatisch zu gestalten übrig sei.237 Wenn Rolf Hochhuth für sein Dokumentarstück Der Stellvertreter (1963) dagegen auf das Schillersche Modell des Geschichtsdramas rekurriert, begründet er diesen Rekurs ebenfalls damit, dass die mimetische Darstellung der Zeitgeschichte »heute vor jeder Wochenschau kapitulieren« müsse: »schon deshalb, weil sie uns ›den rohen Stoff der Welt‹ viel drastischer und vollzähliger vorstellen kann als die Bühne«.238 Literatur, hat Hochhuth 1979 in einem Interview gefolgert, kann im Zeitalter des Fernsehens nicht überlieferungsfromm einfach so weitermachen, als würden nicht Abend für Abend sogar Lieschen Müller noch und die hinterstwälderische Tante Emma mit einer Fülle auch zeitgeschichtlicher Informationen überschwemmt, die früher nicht einmal bis zu den Bürgern der Provinzhauptstädte gelangten. Dem hat die Belletristik ihren Tribut zu zollen, wenn sie nicht allzu schlicht und harmlos werden will – kurz: wenn ein Roman nicht mehr und anderes liefert als ein Nachrichtenmagazin, dann ist er nichts; doch wenn er nicht einmal das Quantum auch an Geschichte, an gesellschaftskritischer Information mitliefert – dann ist er auch nichts!239

Auch das Theater, schreibt Hochhuth 1970, könne nicht mehr auf den »Versuch« bezogen werden, »die Realität abzubilden oder einzuholen«. Die Simultaneität verschiedenster Ereignisse und Informationen in der zeitgenössischen Wahr235 Volker Braun: Über die Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit der Geschichte. In: ders.: Es genügt nicht die einfache Wahrheit, S. 68. 236 Thomas Carlyle: On History, S. 89. 237 Braun: Über die Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit der Geschichte, S. 68. 238 Rolf Hochhuth im Anhang seines Dramas (»Historische Streiflichter«); Hochhuth: Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel. Mit einem Vorwort von Erwin Piscator und Essays von Karl Jaspers, Walter Muschg und Golo Mann. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 382. 239 Rolf Hochhuth: Herr oder Knecht der Geschichte? Ein Interview. In: Rolf Hochhuth – Eingriff in die Zeitgeschichte. Essays zum Werk. Hg. von Walter Hinck. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 9 – 17, hier S. 9 f. (zuerst abgedruckt in: Journal für Geschichte I (1979), H. 1.

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nehmungswelt, in der die modernen Kommunikationsapparate Heterogenstes derart abstandlos zusammenbringen, dass die ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ (wie Wolfgang Welsch schreibt) zur »neuen Natur« des Menschen geworden ist,240 korrespondiert mehr mit den Darstellungsmöglichkeiten der technischen Bilder als mit denen des Theaters: Der Quirl, der Personen und Ereignisse in der Zentrifuge, die man subsummierend Geschichte nennt, zerlegt und vermatscht, mag die Machart von Wochenschauen bestimmen. Aber eine Bühne, die ihren Stil daraus entwickeln wollte, würde nicht viel mehr ›dokumentieren‹ als ihre eigene technische und räumliche Unzulänglichkeit. Wochenschauen unterhalten mit dem einschlägigen Irrtum, der fotografierte Ausschnitt der Realität sei realistisch.241

In Hochhuths Invektive gegen die zeitgenössischen Medien der Information wiederholt sich der Simulationsverdacht, der von Anfang an ihre technische Perfektionierung begleitet hat. Die ›zentrifugale‹ Beschleunigung der medialisierten Ereignisgeschichte hinterlässt ihm zufolge keinen sedimentierten Sinn; ›Geschichte‹ bezeichnet eine informationsquantitative Summe, die – wie die Theoretiker des Posthistoire behaupten – keinerlei Sinn mehr ergibt. Hochhuth setzt daher auf eine Pragmatisierung des Theaters als politisch-moralische Anstalt, das damit auch medienpolitisch die Funktion der Literatur zu behaupten vermag.242 Auch sie entkommt indes der Verlegenheit nicht, dass der Versuch, absichtsvoll mit Hilfe des dokumentarischen Dramas in den zeitgenössischen Informationsprozess ›einzugreifen‹243 und »Einsprüche« zu erheben,244 auf den medialen Informationsprozess angewiesen bleibt. Dass Hochhuths Stellvertreter-Drama seinerseits zeitgeschichts-historische Forschungen und mediale Berichterstattungen angestoßen hat, die sich mit der Schuld der katholischen Kirche unter Pius XII. angesichts der Shoah befassen, hat diesen Bezug immerhin wechselseitig gemacht. Die Entgegensetzung von Literatur und ›Reportage‹, wie sie Benjamin aufgebracht (und Adorno weiter verfolgt) hat, erschien allerdings bereits Hochhuth aus der Perspektive einer dokumentarisch verfahrenden Literatur gewissermaßen als sozusagen unterkomplex:

240 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 5. Auflage Berlin 1997, S. 4. 241 Hochhuth: Vorwort zu »Guerillas« [1979]. In: ders.: Dramen. Der Stellvertreter, Soldaten, Guerillas. Mit Aufsätzen von Clive Barnes, Jack Kroll, Golo Mann, Ludwig Marcuse, Walter Muschg, Erwin Piscator und H.C.N. Williams, Propst an der Kathedrale zu Coventry. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 485 – 501, hier S. 498. 242 Vgl. dazu auch Hochhuths neuere Dramen Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land (1993) sowie das Wirtschaftsdrama McKinsey kommt! (2003). 243 Vgl. den eben zitierten Titel der von Walter Hinck herausgegebenen Essaysammlung zu Hochhuths Werk: Rolf Hochhuth – Eingriff in die Zeitgeschichte. 244 Vgl. Rolf Hochhuth: Einsprüche! Zur Geschichte, Politik und Literatur. Tübingen 2001.

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Wenn Reportage heute noch Bericht heißt, wie ich dem Lexikon immer geglaubt habe, so werde ich nie begreifen, wieso Reportage nicht mehr sein soll, was sie seit Herodot und Sophokles stets gewesen ist: ein nicht nur legitimes, sondern unentbehrliches Grundelement aller nicht-lyrischen Darstellung.245

Es ist dieselbe Tradition, auf die sich auch Uwe Johnson für die Jahrestage (1970 – 1983) berufen hat, als ihm die Frage gestellt wurde, »von welchen Dichtern« er sich »im besonderen beeindruckt« und »beeinflußt« fühle: »Tja, es sind Thukydides, Herodot, die lateinischen Geschichtsschreiber.«246

2.5

›Medienkonkurrenz‹. Die medientheoretische Verdrängungsthese

Zwischen ›Erfahrung‹ und ›Erzählung‹ auf der einen, ›Information‹ auf der anderen Seite bringt sich ein Spannungsverhältnis zur Geltung, das prima facie zu Ungunsten der ersteren wirkt. Dass die Presse mit ihrer »neue[n] Form der Mitteilung«, der »Information«, für die erfahrungsgesättigte Erzählung »viel bedrohlicher« sei als formale Entwicklungen innerhalb des zeitgenössischen Romans, hat Walter Benjamin in seinem bereits zitierten Essay über den Erzähler 1936 / 37 konstatiert: »beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung zugute.«247 Die umfassende Informatisierung des zeitgenössischen Bewusstseins durch die modernen Massenmedien erhöht nach Benjamin keineswegs den Zufluss literarisch adaptierbarer Stoffe, sondern zieht sie vielmehr ab, indem sie deren Erzählbarkeit selbst sabotiert. Denn sie tendiert dazu, alle Lücken der Imagination zu besetzen, deren Konkretisierung doch gerade Aufgabe der Erzählung hätte sein können. Dass das Gedächtnis »lückenhaft« bleibt, also »weder die totale Raumerscheinung noch den totalen zeitlichen Verlauf« registriert und repräsentiert, hat bereits Siegfried Kracauer benannt; aber ebenso lückenhaft bleibt vor allem die Erzählung.248 Dass literarische Texte Lesarten der Zeitgeschichte präsentieren, in denen – analog zum individuellen Leseakt – ihre ›Unbestimmtheitsstellen‹ imaginativ besetzt und aufgefüllt werden, wird jedoch dann zu einem fragwürdigen Modell, wenn Geschichte sich in der medialen Moderne eben nicht mehr allein als (leerstellenhaltiger) Text, 245 Rolf Hochhuth: Das Absurde ist die Geschichte. In: Theater 1963. Chronik und Bilanz eines Bühnenjahres. Sonderheft von »Theater heute« 1963, S. 73b-74d., hier S. 74c. 246 Uwe Johnson im Gespräch mit Alois Rummel 1964 in West-Berlin. In: »Ich überlege mir die Geschichte.« Uwe Johnson im Gespräch. Hg. von Eberhard Fahlke. Frankfurt / M. 1988, S. 208 – 212, hier S. 211. 247 Benjamin: Der Erzähler, S. 444 f. 248 Kracauer : Die Photographie, S. 86: »Daß die Großmutter einmal in eine böse Geschichte verwickelt war, die man immer wieder erzählt, weil man nicht gern von ihr spricht, will vom Standpunkt des Photographen wenig heißen. Er kennt die ersten Fältchen auf ihrem Gesicht, er hat jedes Datum notiert.«

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sondern als Bilder- und Informationskontinuum repräsentiert, das keiner Vervollständigung durch nacherzählende Rede mehr bedarf. Zudem aber bestreitet die Information der Erzählung ihre überlieferte Funktion, Erfahrungen in der Folge von Generationen zu tradieren: Die Mitteilung einer »Erfahrung, die von Mund zu Mund geht«, durch einen »Mann, der dem Hörer Rat weiß«,249 geht in der technisch-medialen Moderne verloren. Denn sie ersetzt die Diachronie des Erzählens tendenziell durch die Synchronie der Informationsvermittlung. Theodor W. Adorno hat in seiner Bestimmung des Standorts des Erzählers im zeitgenössischen Roman (1958) Benjamins Überlegungen weitergeführt, indem er die »Paradoxie« des Romans darin erblickt, dass »sich nicht mehr erzählen lässt, während die Form des Romans Erzählung verlangt.«250 Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet eine mediologische Verdrängungs- oder Entzugsthese, die bis heute einflussreich geblieben ist: »Wie der Malerei von ihren traditionellen Aufgaben vieles entzogen wurde durch die Photographie, so dem Roman durch die Reportage und die Medien der Kulturindustrie, zumal den Film.«251 Der Option des Absehens vom Stofflichen, der »Emanzipation vom Gegenstand«, sind jedoch von den poetologischen Bedingungen des Romans her »Grenzen« gesetzt; sie ›nötigen‹ ihn »weiterhin zur Fiktion des Berichtes«,252 weil der Bezug narrativer Fiktion auf (geschichtliche) Realität grundsätzlich nicht stornierbar erscheint. Dass aber neben dem äußerlich Faktischen zeitgeschichtlicher Ereignisse auch die »Faktizität des Inwendigen von Informationen und Wissenschaft beschlagnahmt ist«, verdichtet die Kompetenzverdrängung narrativer Fiktion durch technische Medien und spezialisierte Wissenschaften auf gewissermaßen ›totalitäre‹ Weise. Beschlagnahmung ist letztlich eine politische Gewaltmaßnahme: Je »dichter und lückenloser«, ja »hermetischer« die »Oberfläche des gesellschaftlichen Lebensprozesses« sich schließt,253 desto weniger scheint gesellschaftliche, geschichtliche oder selbst seelische Wirklichkeit dem Erzählen überhaupt noch zugänglich zu sein. Desto fraglicher aber werden die »Residuen von Freiheit« in Hinsicht auf Literatur, für die Horkheimer und Adorno bereits in der Dialektik der Aufklärung (1947 / 1969) eine »Parteinahme« ›kritischen Denkens‹ fordern.254

249 Benjamin: Der Erzähler, S. 442. 250 Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Adorno: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Bd. 11. Lizenzausgabe Darmstadt 1998, S. 41 – 48, hier S. 41. 251 Ebd. 252 Ebd., S. 41 f. 253 Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S. 43. 254 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 3, Lizenzausgabe Darmstadt 1998, S. 9.

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2.6

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Zeitgeschichtsdichtung als Tautologie

Dass literarische Texte in der fortgeschrittenen medientechnologischen Moderne immer schon mit der detailreichen Kenntnis der in ihnen verhandelten (vor allem rezenten) Geschichte zu rechnen haben, wurde in den Zitaten und Kommentierungen dieses Kapitels oft genug vermerkt. Literarische Texte nehmen zeitgeschichtliche Wirklichkeit stets durch nachträgliche Bezugnahmen auf schon medialisierte und als Gegenstände zeitgenössischen Wissens bereits präparierte Stoffe auf, die dem Bewusstsein ihrer informierten Adressaten längst geläufig geworden sind. Geschichtliche Wirklichkeit zu erzählen oder dramatisch zu adaptieren scheint von diesen mediologischen Bedingungen her das Projekt einer vergangenen Medien-Sphäre zu sein, das mit dem Übergang von der »Gutenberg-Galaxis« zum Zeitalter der technischen Informationsmedien255 scheinbar obsolet geworden ist. Unter bewusstseinsgeschichtlichen Bedingungen, die zeitgeschichtliche ›Realität‹ mit technisch-medial hergestellter ›Anschaulichkeit‹ zusammenfallen lassen, wird jedes Erzählen davon zur Tautologie, zur »Wiederholung mit untauglichen Mitteln«.256 Aber auch die Erinnerung an historisch entlegeneres Geschehen ist auf die immer genaueren Kenntnisse der wissenschaftlicher Forschung verwiesen. In diesem Sinne – und damit im Sinne der eben diskutierten Verdrängungs- oder Entzugsbehauptung – hat Friedrich Dürrenmatt bereits in den fünfziger Jahren argumentiert, dass die Informatisierung und Verwissenschaftlichung geschichtlicher Erinnerung »Fakten schuf, die nicht mehr zu umgehen sind (denn es gibt keine bewußte Naivität, welche die Resultate der Wissenschaft umgehen könnte)«.257 Weil die wissenschaftliche Forschung dem literarischen Diskurs fortwährend »Stoff entzog, indem sie selber das tat, was doch Aufgabe der Kunst gewesen wäre« – also dem Vergangenen erneut zu ›lebendiger‹ Gegenwart zu verhelfen – folgert Dürrenmatt: »Hätte Shakespeare unser Wissen über Rom besessen, hätte er Cäsar nicht geschrieben, weil ihm in diesem Augenblick die Souveränität abhanden gekommen wäre, mit der er über seine Stoffe schrieb.«258 Auch wenn Peter Weiss diese »schroffe Ausschließung der Möglichkeit […], historische Stoffe mit Bedeutung für unsere Gegenwart dramatisch zu adaptieren«, entschieden zurückgewiesen hat,259 ist der von Dürrenmatt pointierten Schwie255 Vgl. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. 256 Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme. In: ders.: Werkausgabe in 30 Bdn., Bd. 24: Theater. Essays, Gedichte und Reden. Zürich 1980. S. 31 – 72, hier S. 67. 257 Ebd. 258 Ebd. 259 Vgl. Ernst Schumachers Interview mit Peter Weiss vom August 1965, in: Theater der Zeit 20 (1965), H. 16 S. 4 – 7; hier zitiert nach dem Wiederabdruck: Engagement im Historischen. Ernst Schumacher unterhielt sich mit Peter Weiss. In: Peter Weiss im Gespräch. Hg. von

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rigkeit mit der Geschichte argumentativ kaum beizukommen. Genauer besehen stellen freilich nicht erst die Ergebnisse der modernen Geschichtswissenschaft, sondern auch historische Darstellungen und Chroniken des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ohne wissenschaftlichen Anspruch literarische Bearbeitungen in die undankbare Nachfolge bloßer Wiederholung. Golo Mann etwa hat sich die Frage, warum es »kein halbwegs adäquates« Drama über Napoleon gebe, im Hinblick auf Metternichs Memoiren so beantwortet: Napoleons »letztes Gespräch mit Metternich, Juni 1813, liest sich wie eine Szene von Schiller. Ein Dichter hätte da nichts anderes tun können als abschreiben […].«260 Und Rolf Hochhuth hat dieselbe ästhetische Unüberbietbarkeit im Hinblick auf Churchills (1953 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnete) Memoiren geltend gemacht: »Was sollte der Dichter dem hinzufügen, was hier – ein Dichter schrieb?«261 Golo Mann denkt dabei an die ›Komplettheit‹ der historischen Gestalt »in sich selber«, die sich bereits in gültiger Darstellung mitgeteilt habe; man habe Napoleon daher »nur geringer machen« können, »wie es in Komödien geschah.«262 Dass diese Abgeschlossenheit sich ihrerseits ästhetischen Darstellungsprinzipien verdankt, wurde eingangs dieses Kapitels bereits in Hinsicht auf Droysen und Schiller erörtert. Tatsächlich nimmt schon Grabbes – nur ein knappes Jahrzehnt nach Napoleons Tod (1821) verfasstes – Schauspiel Napoleon oder die hundert Tage (1829 / 30) nicht mehr das ›weltpolitische‹ Subjekt und seine schicksalhafte Situation zum Ausgangspunkt, sondern eher ein kontingentes Wechselspiel zwischen der ›titanischen‹ Größe eines Einzelnen und der geschichtsmächtigen Masse, das der Geschichte buchstäblich alle Tragik austreibt: »s’ ist ja doch alles Komödie«.263 – Auch Dürrenmatts Dramaturgie verwirft angesichts einer Welt, die »ebenso zur Groteske geführt [hat] wie zur Atombombe«, ausdrücklich die tragische Darstellung und wendet sich der Komödie

260 261 262 263

Rainer Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt / M. 1986, S. 82 – 93, hier S. 82 f. – Eine dramaturgische Antwort gibt Weiss eher schon mit der Verabschiedung der Fabel, der Episierung und der Abstrahierung des Theaters, das keine individualisierten Handlungsträger und Ereignisse im engeren Sinn mehr kennt. Vgl. dazu auch im Kapitel »1968. Vietnam« die Ausführungen zu Weiss’ Viet Nam Diskurs. Golo Mann: Napoleon und die Deutschen [1969]. In: ders.: Zwölf Versuche. Frankfurt / M. 1973, S. 255 – 263, hier S. 255. – Vgl. ganz ähnlich Golo Mann: Metternich [1959]. In: ders.: Geschichte und Geschichten, S. 487 – 493, hier S. 490. Vgl. Rolf Hochhuth: Der Machthaber und die Erinnerung. Offenbarungen, Unterschlagungen in Politiker-Memoiren. In: ders.: Einsprüche!, S. 60 – 91, hier S. 68. Mann: Napoleon und die Deutschen, S. 255. Grabbe: Napoleon oder die hundert Tage, S. 398. – Zu Grabbes Drama vgl. auch die Einleitung dieser Arbeit. – Noch Friedrich Sieburgs Interpretation von Grabbes Drama bezieht sich im Übrigen auf den Umstand, dass die »frische[n] Erinnerungen« der Zeitgenossen »noch nicht einmal Zeit genug hatten, die Überlieferung reifen zu lassen«. Friedrich Sieburg: Napoleon und die Hundert Tage. In: ders.: Grabbe, Napoleon, Dichtung und Wirklichkeit. Frankfurt / M. 1963 (Dichtung und Wirklichkeit; 4), S. 5 – 77, hier S. 5.

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und der Parodie zu; nicht zuletzt in Hinsicht auf die ›erschöpfende‹ Informations- und Repräsentationslage zeitgeschichtlichen Geschehens erscheint ihm die sekundäre, spielerisch-parodierende Darstellungsform als die adäquateste. Alternativ erwägt Dürrenmatt auch die Hinwendung zu rein fiktiven Stoffen: »Die Dramaturgie der vorhandenen Stoffe wird durch die Dramaturgie der erfundenen Stoffe abgelöst.«264 Denn was die ›bekannte Geschichte‹ betrifft – für Dürrenmatt bereits beinah ein Pleonasmus –, scheint Literatur jedenfalls nur wiederholen zu können, was jedem Rezipienten durch die modernen Bild- und Informationsmedien bereits in anschaulicher Weise bekannt und vertraut geworden ist.

2.7

Freiheitsräume der Fiktion

Wo immer der Standort der Literatur im Zeitalter der Information grundsätzlich reflektiert wird, gleichen sich die Diagnosen. Auch für Roland Barthes liegt es Anfang der Fünfziger Jahre an der »expansion des faits politiques et sociaux dans le champ de conscience des lettres«, dass der engagierte »scripteur« dem »¦crivain« seine Stelle streitig macht; dessen intellektuelle, vom literarischen ›Stil‹ befreite Darstellungsweise erscheint ihm geradezu »comme un langage professionnel de la ›pr¦sence‹«.265 Für Christa Wolf gehört im Jahr 1968 die Trennung zwischen »Information« und »Prosa« durch die Presse zu einer ganzen Folge von ›Schlägen‹266 gegen die Literatur, deren Feld sich infolge des ›Vorrückens‹ von »Technik und Wissenschaft« zunehmend verengt: »Funk, Film, Fernsehen übernehmen es, das einerseits wissensdurstige, andererseits sich langweilende Publikum zu belehren, zu unterhalten und zu zerstreuen.«267 Damit stellt sich auch für die DDR-Schriftstellerin Wolf die Frage des »Untergang[s]« oder der ›Rettung‹ erzählender Prosa: »[S]ie hat vom Gift der Selbstaufgabe gekostet. Das heißt, sie hat nur dann Aussicht, am Leben zu bleiben, wenn sie etwas kann, was alle jene Mächte nicht können, die ihr zu Leibe rücken.«268 Für Wolf besteht diese unbestreitbare Leistung – jenseits des ›sozia264 Dürrenmatt: Theaterprobleme, S. 68. – Zu Dürrenmatts Komödienkonzeption, insbesondere zu seinem Begriff des Grotesken, vgl. Jürgen Kost: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang von Geschichtsbild und Komödienkonzeption bei Horv‚th, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Hacks. Würzburg 1996 (Epistemata; 182), S. 127 – 179. 265 Roland Barthes: Le degr¦ z¦ro de l’¦criture. Paris 1980, S. 41. 266 »Den ersten Schlag führten wahrscheinlich die Zeitungen: sie trennten die Information von der Prosa ab.« Christa Wolf: Lesen und Schreiben. In: dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959 – 1985. Bd. 2, Frankfurt / M. 1990, S. 463 – 503, hier S. 468. 267 Ebd., S. 469. 268 Ebd., S. 472.

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listischen Realismus‹ – im Erkunden des »Spiel-Raum[s]« menschlich-geschichtlicher Möglichkeiten und in einer (später auf den Begriff gebrachten) ›subjektiven Authentizität‹.269 Aufgrund gleicher Beobachtungen scheint Günther Anders im zweiten Band seiner Untersuchung zur Antiquiertheit des Menschen (1980) die moderne »,Gegenstandslosigkeit der Kunst‹ auch eine Reaktion auf die durch andere Mächte durchgeführte Verbilderung der Welt« zu sein.270 Und noch 1981 schreibt Karl Heinz Bohrer über Robbe-Grillet, dessen Verzicht auf Realismus und Stoff habe »schon vor 20 Jahren« gewusst, »daß Balzacs Stoffe längst weggesaugt wurden von Reportage, Zeitgeschichte, Psychogrammen und Biographien.«271 Aus dem problematischen Näheverhältnis des ›welthaltigen‹ Romans zu den Medien der Zeitgeschichte und zur historiografischen Forschung scheint nur der Weg des geschichtlichen Stoffverzichts hinaus zu führen, um den Kompetenzbereich von Journalismus und Wissenschaft weitläufig zu umgehen. Der Roman, folgert Adorno, müsse auf den historischen ›Realismus‹ im Sinne der »Geste ›so war es‹« verzichten – also auf jeden faktischen Wirklichkeits- oder Erkenntnisanspruch, der den Medien der Information mithin preisgegeben wird.272 Angesichts dieses (partiellen) Entzugs von Stoffen und Funktionen aber weist Adorno dem Erzählen auch sein Rückzugsgebiet an: »Der Roman müsste sich auf das konzentrieren, was nicht durch den Bericht abzugelten ist.«273 Der damit bedeutete Verzicht ist jedoch als Besinnung auf eine unbestreitbare ›Kernkompetenz‹ des Literarischen, die von den Informations- und Unterhaltungsmedien nicht bestritten werden kann, für Adorno umso leichter zu bejahen, als der ›naive‹ Realismus ohnehin nur die täuschende Oberfläche der Wirklichkeit reproduzieren könne, während ihm für latente Zusammenhänge das Sensorium fehlt. Dass die Aufgabe des Journalisten, der sich dem »Zeitgeschehen« zuwendet, darin bestehe, nur den »äußeren Schein« »ins Bild« zu setzen, schreibt wenig später auch Nathalie Sarraute.274 Literarische Texte, so lautet die häufig wiederholte Auskunft von Literaten 269 Ebd., S. 502 f. – Vgl. auch Christa Wolf: Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959 – 1985. Bd. 2, Frankfurt / M. 1990, S. 773 – 805. 270 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, 3. Auflage München 2002, S. 251. 271 Karl Heinz Bohrer : Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt / M. 1981, S. 14. 272 Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S. 44. 273 Ebd., S. 41. 274 Vgl. den unbetitelten Beitrag von Nathalie Sarraute in: Karl Jaspers, Nathalie Sarraute, Arnold Toynbee, Theodor Eschenburg: Werden wir richtig informiert?, S. 29 – 47, hier S. 39. – Sarraute sieht in der Entdeckung einer »verborgenen Realität« jenseits der »Schranken des Sichtbaren« die ästhetische Leistung der Kunst, die über ihren bloß »informatorischen« Wert hinausgeht (S. 38 f.).

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und Kritikern in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, haben ihren Zuständigkeitsbereich jenseits des stofflichen Bezirks der medialen Information, aber auch der ›exakten‹ Wissenschaften zu suchen. Dieser mediologischpoetologischen Verdrängungsthese zufolge sind die modernen Medien der Information ebenso wie die Wissenschaften vom Menschen und seiner Geschichte im Begriff, der Literatur Teile ihres stofflichen Substrats zu bestreiten, indem sie ihre Kompetenzen übernehmen. Dabei treten die Medien der Information (einschließlich der Vermittlungsformen historischer Wissenschaft) ins Zentrum der poetologischen Reflexion: Adorno denkt – wie viele andere – ihr Verhältnis zum Roman als aggressive Okkupation, die den Spiel- und Sinndeutungsraum literarischer Texte systematisch verengt. Walter Jens hat 1963 ebenfalls den Interferenzen zwischen literarischen Texten und der informationellen und wissenschaftlichen Eroberung der Wirklichkeit nachgedacht. Auch ihm zufolge wird das Spektrum erzählerischer Möglichkeiten um die Vermittlung zeitgeschichtlicher Wirklichkeit verkürzt: »weil die direkte Belehrung im Roman in jenem Augenblick höchst problematisch erscheint, wo der Leser, durch andere Medien, Geschichtsschreibung, Reportage und Photographie, über das Stoffliche längst informiert worden ist.«275 Dass jede literarische Einlassung auf zeitgeschichtliche Wirklichkeit mit Lesern zu rechnen hat, die ihre »Schilderungen mühelos mit eigenen, durch die modernen Kommunikationsmittel gewonnenen Einsichten vergleichen können«,276 ist eine Grundeinsicht von Literaten und Theoretikern der Literatur im Zeitalter der Information. Die massenmedialen Informationen und Bilder auf der einen Seite, die disziplinäre Ausdifferenzierung der soziologischen, psychologischen und historischen Wissenschaften auf der anderen haben »den Raum der Poesie« – Jens zufolge – so sehr »verkleiner [t]«, dass die Darstellung menschlicher Wirklichkeit – gleich in welcher Tiefenschicht – nicht länger in die genuine Zuständigkeit literarischer Texte fällt.277 Während der Dadaist (und spätere praktizierende Psychiater) Richard Huelsenbeck im Jahr 1928 mit pointiertem Bezug auf die technischen Bilder noch annahm, dass »die Seele des Menschen […] der einzige Urwald [bleibt], in den noch keine photographische Kamera hineingesehen hat«,278 wird diese Annahme im Zuge der parallelen wissenschaftlichen Erkundung der menschlichen Psyche immer weniger geteilt. Dass selbst der Traum als Manifestation des Unbewussten bereits »scientifically explored« ist, hat auch Wolfgang Hildes-

275 Walter Jens: Der Schriftsteller und die Politik. In: Jens: Literatur und Politik. Pfullingen 1963 (Opuscula aus Wissenschaft und Dichtung; 8), S. 5 – 21, hier S. 18. 276 Ebd., S. 19. 277 Ebd. 278 Richard Huelsenbeck, zit. nach Karin Füllner : Richard Huelsenbeck, der Meister-Dada. In: Richard Huelsenbeck. Hg. von Richard Sheppard. Hamburg 1982, S. 28 – 45, hier S. 42.

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heimers These vom »Ende der Fiktion« (1975) munitioniert.279 – Jens fasst diese wissenschaftliche und bildtechnisch vermittelte Kenntnis des Menschen und der Welt in der These einer systematischen ›Verengung‹ der literarischen Zuständigkeit zusammen: »Kein Zweifel, der Raum der Dichtung ist schmaler geworden«.280 Jens’ generelle Diagnose aus dem Jahr 1963 betrifft nicht zuletzt die Bedingungen des Erzählens zeitgenössischer Ereignisse: Denn jeder Leser kennt »zunächst […] die Bilder«,281 mit denen die technische Informationsgesellschaft Zeitgenossenschaft definiert. Wie Adorno weist auch Jens die ›Dichtung‹ in ein Reservat jenseits wissenschaftlicher Erkenntnis und informationsmedialer Repräsentation. Dort aber lägen die Quellen der Poesie seit jeher sicher aufgehoben: Mag die Photographie die Oberfläche fixieren, die Philosophie den Seinsgrund enträtseln, die Wissenschaft Segmentmodelle entwerfen, mögen alle drei den Raum der Dichtung noch so sehr verengen und dem Schriftsteller jene große Freude des Beschreibens nehmen, den allein das Abbildlose schenkt (und wo gäbe es heute dergleichen?), mögen die Details verzettelt und inventarisiert worden sein: das SchillerndWidersprüchliche und Bunt-Kontroverse der Totalität kann, heute wie je, nur die Dichtung beschreiben.282

Ob diese Heterogenität der Erscheinungen sich im literarischen Text zu einer ›Totalität‹ rundet, mag dahingestellt sein; schließlich macht es die Problematik und Charakteristik des Erzählens in der literarischen Moderne aus, solcher Totalität und Wahrheit gerade nicht habhaft werden zu können. Die von Jens geteilte und fortgeschriebene Verdrängungsthese gibt jedenfalls dazu Anlass, einen unersetzlichen kognitiven und ästhetischen ›Mehrwert‹ des Literarischen gegenüber den Wirklichkeits-Repräsentationen massenmedialer und wissenschaftlicher Darstellungen herauszustellen: Denn die Neukonfiguration des medialen Feldes, die durch die Emergenz ›neuer‹ Medien hervorgerufen wird, löst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts offenbar eine konzentrische Besinnung auf das ›Eigene‹ literarischer Darstellungsweisen aus, das von ihren mediologischen Kontextbedingungen her nicht anzufechten ist. Auch wenn ihre essenzialistischen, ideologischen und mediologischen Implikationen wie ihre Konsequenzen bestreitbar sein mögen, vermitteln die seit den sechziger 279 Vgl. Wolfgang Hildesheimer : Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren. Frankfurt / M. 1984, S. 103 – 122, hier S. 111; dt. Übersetzung ebd., S. 229 – 250, hier S. 239. – Vgl dazu auch Uwe Japp: Das Ende der Kunst des Schreibens. Wolfgang Hildesheimer und Sir Andrew Marbot. In: Die Kunst zu enden. Hg. von Jürgen Söring. Frankfurt / M., Bern, New York, Paris 1990, S. 187 – 203. 280 Jens: Plädoyer für das Positive in der modernen Literatur, S. 24. 281 Ebd. 282 Ebd., S. 25.

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Jahren aufgebrochenen theoretischen und poetologischen Reflexionen der ›Medienkonkurrenz‹ doch Einsichten in veränderte Darstellungsbedingungen zeitgeschichtlicher Wirklichkeit, auf die literarische Texte eine Antwort finden müssen. Noch Christoph Schmitz-Scholemanns preisgekrönte Antwort auf die 21. Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für das Jahr 1996: »Hilft das Fernsehen der Literatur?«, setzt wie Adorno das Verhältnis zwischen Literatur und ›neuen‹ bildtechnischen Medien mit demjenigen zwischen Malerei und Fotografie analog, wenn sie den »unbestreitbaren Vorzug« der letzteren, »die Welt – im realistischen Sinne – genauer und schneller abbilden zu können«, als ästhetischen Impuls für die Meidung der Mimesis der ›äußeren Welt‹ interpretiert – und sich für die Hinwendung zum bildlos ›Inwendigen‹ ausspricht: »Der Kopist hat ausgedient«.283 Wie die angesichts der mimetisch überlegenen Fotografie »unrealistisch« gewordene Malerei habe die Literatur nunmehr »ihr Material [zu] erkunden.«284 ›Rechne mit deinen Beständen‹:285 Eine medientheoretische Applikation von Gottfried Benns spätmoderner Losung klingt in dieser ›Material‹-Erkundung des der Literatur noch ›Übrigbleibenden‹ an. Wenn aber die provokative These Schmitz-Scholemanns lautet, das Fernsehen verhelfe der Literatur dazu, ästhetisch zu sich selbst zu kommen, hat sich nur das wertende Vorzeichen gegenüber Adorno ins Positive verkehrt: denn es zeigt ihr, was die Literatur schlechter kann als das Fernsehen, nämlich Bilder zeigen, die der äußeren Welt zum Verwechseln ähnlich sind. Die Literatur tut also gut daran, diesen Bezirk der Mimesis nur mit großer Vorsicht zu betreten.286

Die medien- und literaturtheoretischen Einlassungen seit Benjamin entwerfen eine Beziehung zwischen dem Erzählen und den Medien der Information, die in der literatur- und medientheoretischen Diskussion auf den Begriff der ›Medienkonkurrenz‹ gebracht worden ist.287 Sie gipfeln in der posthistorischen Behauptung eines ›Endes des Erzählens‹ oder der ›Literatur‹ überhaupt, von der einleitend bereits die Rede war. Auch wenn den theoretischen Annahmen, die Literatur und moderne Medien in ein Konkurrenz- und Verdrängungsverhältnis

283 Christoph Schmitz-Scholemann: Kennwort: Kaspar. Eine hochauflösende Betrachtung. In: ders., Egon Menz, Sybil Wagener: Hilft das Fernsehen der Literatur? Antworten auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahr 1996. Göttingen 1997, S. 13 – 45, hier S. 35 f. 284 Ebd. 285 Gottfried Benn an F. W. Oelze vom 10. 4. 1941, in: ders.: Briefe. Bd. 1: Briefe an F. W. Oelze 1932 – 1945. Hg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Wiesbaden 1977, S. 267. 286 Schmitz-Scholemann: Kennwort: Kaspar, S. 35. 287 Vgl. z. B. Ulrich Saxer: Literatur in der Medienkonkurrenz. In: Media Perspektiven 12 (1977), 673 – 685.

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stellen, längst mit guten Gründen widersprochen worden ist,288 reicht die Spur dieser Verdrängungsthese bis in die Selbstreflexionen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hinein. Die aristotelische Trennung zwischen Historiografie und Dichtung erhält im Zeitalter der Information neue Relevanz, sofern das ›Mögliche‹ sich als Sphäre der Literatur dem Faktum der Informiertheit entgegensetzt: »Das Mögliche muß sich im Trommelfeuer der Medien erst wieder einführen und revoltieren gegen das abgekartete Spiel der Fakten«, schrieb Nicolas Born.289 Dass das Bewusstsein der Zeitgenossen der medialen Moderne von einer »Firnis äußerer Intelligenz« überzogen sei, welche die »Einfalt« und »Naivität« der Bewohner früherer Mediensphären überdeckt, bemerkt noch Botho Strauß in seinem reflektierend-erzählenden Prosaband Das Partikular (2000):290 Das ›anästhetische‹ Subjekt des Informationszeitalters verkapsele sich in einem Informationskokon, den es mit Bildung verwechselt. Die ›Ungebildeten‹ sterben aus, ließe sich der Titel eines Handke-Dramas aus dem Jahr 1973 variieren.291 Den Bildungsbeflissenen von einst – also vor allem des neunzehnten Jahrhunderts – hat Strauß zufolge der aktualitätsaffine und überlieferungsindifferente »Workaholic des Informiertseins« abgelöst:292 Dass ›modern sein‹ anfangs des neunzehnten Jahrhunderts, also zur Zeit Wilhelm von Humboldts, einmal hieß, sich mit den Zeugnissen der griechisch-römischen Antike auszukennen, lässt sich von der Warte der modernen Informationsgesellschaft aus nur schwer nachvollziehen.293 Strauß’ kritische Charakteristik der zeitgenössischen Medienbenutzer wiederholt damit abermals – trotz seiner pointierten Verabschiedung der kritischen Dialektik –294 Adornos und Horkheimers Diagnostik in der Dialektik der Aufklärung, in der es hieß: »Die Flut präziser Information und gestriegelten Amüsements witzigt und verdummt die Menschen zugleich.«295 Im Verdikt über die mediale Informiertheit aber wiederholt sich letztlich sogar die 288 Vgl. etwa Nikolaus Wegmann: Literarische Autorität: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem? Zum Stellenwert der Literatur im Feld der Medien. In: Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation. Hg. von Georg Stanizek und Wilhelm Voßkamp. Köln 2001 (Mediologie; 1), S. 85 – 97. 289 Nicolas Born: Autobiographie Nicolas Born. In: Volker Schlöndorff, Nicolas Born, Bernd Lepel: Die Fälschung als Film und der Krieg im Libanon. Frankfurt / M. 1981, S. 79. 290 Botho Strauß: Das Partikular. München 2000, S. 55. 291 Vgl. Peter Handke: Die Unvernünftigen sterben aus. 3. Auflage Frankfurt / M. 1974. 292 Strauß: Das Partikular, S. 55. Das massenhaft informationsinfiltrierte Medienpublikum, schreibt Strauß, bestehe aus »anästhetischen Gemütern, die keinen Sinn haben für das, was außerhalb von Information liegt.« 293 »Humboldt. Das ist vorbei.« So der Gießener Altphilologe Manfred Landfester im Gespräch mit Thomas Hettche: Die Quelle findet nur, wer am Fluss wohnt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 31 vom 6. 2. 2008, S. 40. 294 »Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer ; aber es muß sein: ohne sie!« Botho Strauß: Paare, Passanten. München 1984, S. 115. 295 Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 15.

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antike Kritik der Schrift in der hellenistischen Aufklärung, wie sie Platons Phaidros-Dialog formuliert. Es erkennt in den Unterwiesenen im medialen Zeichengebrauch die gelehrigen Schüler des ›Scheins‹, also der doxa im Unterschied zum ›Wissen‹ (episteme), das den Schein hintergeht: »Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, da sie doch unwissend größtenteils sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise.«296 Angesichts der ›neuen Medien‹, deren Tempo und informationelle Quantität dem ›kontemplativen‹ Modus des Lesens entgegengesetzt sind, erneuert sich auch bei Strauß die Klage über die Verdrängung einer essenziellen ›Bildung‹ durch Informationen, des ›Wissens‹ durch das ›Vielwissen‹. Ästhetik und Information, literarischer Zeichenprozess und technisch-informationelle Datenströme geraten so – sehr im Unterschied zu postmodernen Theoretikern wie Wolfgang Welsch –297 in einen Gegensatz, in dem der Literatur nurmehr ein gesellschaftlich marginaler Ort angewiesen scheint: »Am Rand. Wo sonst.«298 Aber es ist diese Marginalität der Kunst im Abseits noch der globalen Peripherie, in die die informationellen Massenmedien jeden ihrer Empfänger setzen, in der Strauß (nicht anders als Adorno und Jens) der Literatur zugleich eine durch keine Information substituierbare, einzigartige Kompetenz zuschreibt: die Zuständigkeit »für das Unvermittelte, den Einschlag, den unterbrochenen Kontakt, die Dunkelphase, die Pause. Die Fremdheit.«299 Mit einem Wort: für das Ereignishafte, das in der medialisierten Ereignisgeschichte eben nicht aufgehoben ist. Daraus leitet sich eine bei Strauß so nicht vorgesehene Möglichkeit ab, ästhetisch oder literarisch von Ereignissen zu sprechen. ›Unvermitteltheit‹ und ›Einschlag‹ sind schließlich definierende Merkmale des Ereignisses, von dem Strauß die Literatur gerade zu entfernen scheint. Sie könnte darin bestehen, Ereignisse, welche die technischen Repräsentationsmedien absorbieren, erneut als Diskontinuitäten erfahrbar zu machen, ihre Vermittlungsformen imaginativ zu hintergehen und im fortlaufenden, tachogenen Informationsprozess der medialen Moderne ›Pausen‹ der Reflexion einzulegen. Die ästhetischen Chancen der Einlassung literarischer Texte auf zeitgeschichtliche Ereignisse sind damit

296 Platon: Phaidros, 275a. In: ders.: Werke. In der Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Bd. I.1, Berlin 1984, S. 60 – 119, hier S. 114. 297 Vgl. Welsch: Ästhetik und Anästhetik. Welsch hebt hier besonders die Ästhetisierung der Wirklichkeit v. a. durch ihre massenmediale »Bildwerdung« hervor (S. 15). 298 So der Titel eines Interviews mit Botho Strauß: Am Rand, wo sonst. In: Die Zeit Nr. 23 vom 31. 5. 2000, S. 55 – 56. Strauß sagt hier eine »Buchstabenfrömmigkeit« von sich aus, derzufolge »alles, was von mir existiert, nur durch das Buch existiert. Ich akzeptiere nichts außerhalb der Schrift.« (S. 56) 299 Botho Strauß: Die Erde ein Kopf. Rede zum Büchner-Preis 1989. In: Die Zeit Nr. 44 vom 27. 10. 1989, S. 65 f., hier S. 65.

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gegen die Argumentationsrichtung der mediologischen Entzugs- oder Verdrängungsthese skizziert.

2.8

Zeitgeschichtserzählung und Mythopoetik

Eine Geschichte, die sich unter den Bedingungen der medialen Moderne immer schon ins Bild gesetzt sieht, hat umso weniger Bedarf an ästhetischen Darstellungen, als ihre medientechnischen Repräsentationen selbst schon deren Ästhetisierung besorgen. Es ist diese Selbstgenügsamkeit der medial bebilderten Welt, der die Literatur ihre Unzulänglichkeit erst nachweisen müsste: »Die Geschichte bedarf nicht der Illustration (das erledigen die visuellen Medien)«, stellt Hanns-Josef Ortheil gleich nach dem geschichtsträchtigen Jahr 1989 in einem Essay zum deutschsprachigen Zeitroman fest.300 Aber sie bedarf doch der »benennenden Deutung und Durchdringung«, während sich in der Erinnerung an die zeitgeschichtliche Zäsur von 1989 »lediglich visuelle Fetzen, Schablonen, Teilansichten, Bruchstücke eines Films« sedimentieren.301 Kein reproduktiver Positivismus, der bloß wiedergibt, wie es (nach Ranke) »eigentlich gewesen ist«, sondern zu entfalten, was zeitgeschichtliche Ereignisse in der Erfahrung menschlicher Subjekte bedeuten, sei demzufolge Sache der Literatur. Ortheil konfrontiert die Selbstgenügsamkeit der technischen Bilder mit ihrer semantischen Defizienz: Während sie Ereignisse bloß optisch dokumentieren, fügen literarische Texte ihrer visuellen Anschaulichkeit die Dimension des NichtEvidenten, der subjektiven Erfahrung und der Reflexion hinzu. Günther Anders’ Frage, wie sich die Kunst jenseits ihres Bildmonopols zu einer Welt verhalte, die »von anderen Mächten weitgehend zu einer universellen Bilderwelt gemacht worden ist«,302 erlaubt keineswegs nur die Antwort der Evasion in die »Gegenstandslosigkeit«. Eine andere Antwort als die des ästhetischen Realitäts- oder Realienverzichts hatte Anders selbst bereits vorgezeichnet, indem er auf die »Lücken und Löcher im Kontinuum der Bildwelt« hinwies.303 Denn diese entstehen nicht nur durch bewusstes Absehen von einer Wirklichkeit, die sich »primär als Bild präsentiert«,304 sondern werden gerade einem Zusehen bewusst, das die technischen Aufzeichnungen als immer noch unvollkommene Repräsentationen oder (phänomenologisch gesprochen) Abschattungen zeitge300 Hanns-Josef Ortheil: Frische Fische! (1990) Zur Tradition des deutschen Zeitromans. In: ders.: Schauprozesse. Beiträge zur Kultur der 80er Jahre. München 1990, S. 82 – 88, hier S. 82. 301 Ebd. 302 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, S. 251. 303 Ebd., S. 250. 304 Ebd., S. 251.

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schichtlicher Wirklichkeit begreift. Kommen die technischen Bilder literarischen Einlassungen auf Zeitgeschichte auch unbestreitbar stets zuvor, können literarische Fiktionen doch jene Stellen der »Bildlosigkeit«305 besetzen, ausfingieren und konkretisieren, soweit es ihnen gelingt, die Lückenlosigkeit der medialen Repräsentation von Geschichte als Suggestion zu erweisen. Auch dann geht es freilich um die Abarbeitung an bereits vorliegenden Bildern und Informationen, deren Ungenügsamkeit ästhetisch ›nachzuweisen‹ ist. * Die Verwiesenheit zeitgeschichtlicher Darstellungen auf technische Bilder und Informationen, welche die zeitgenössische Mediengesellschaft als primär definiert, widerspricht bei aller Aktualität einer Leitvorstellung der ästhetischen Moderne, die vor allem auf die Kategorie des ›Neuen‹ ausgerichtet ist.306 Denn die Beziehung zwischen dem ästhetischen Text und dem zeitgeschichtlich ›Neuen‹ birgt die besondere Paradoxie, dass gerade der Rekurs auf das ›Neue‹ informationelle Redundanzen erzeugt. In Hinsicht auf zeitgeschichtliches Geschehen ist das stofflich Neue – rechnet man jene produktionsästhetische ›Inkubationszeit‹307 ein, deren die literarische Adaption im Unterschied zur Simultaneität der technischen Informationsübermittlung stets noch bedarf – gewissermaßen immer schon altbekannt, wenn es auf seinen Informationswert ankommt. Der Maßstab des Informationswerts stellt zeitgeschichtsbezogene Texte gegenüber den technischen Informationsmedien prinzipiell ins Abseits, auch wenn sich ihnen der Aufmerksamkeitswert des Aktuellen immerhin noch mitteilen mag. Wenn literarische Texte jedoch nur gestaltend zu wiederholen vermögen, was als allgemein bekannt längst vorausgesetzt werden darf, gerät ihre Darstellung des geschichtlich Nächsten poetologisch in die Nähe zum geschichtlich Fernsten. Die Rede ist vom Mythos bzw. von einer Mythopoetik, also von der Logik einer Darstellung, die das im Mythos Berichtete auf immer neue Weise literarisch wiederholt. Die Beziehung zeitgeschichtlicher Darstellungen auf diese Mythopoetik legt sich auch insofern nahe, als rezente Ereignisse und Geschichten tatsächlich immer wieder als geschichtliche oder politische ›Mythen‹ verstanden worden sind. Dennoch sind die ›Wiederholungen‹ zeitgeschichtlichen Geschehens in literarischen Texten von mythologischen oder mythologisierenden Narrationen grundsätzlich unterschieden – und zwar durch 305 Ebd., S. 250. 306 Vgl. Esposito: Soziales Vergessen, S. 7. Vgl. ebenso Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 19. Zur Kategorie des ›Neuen‹ vgl. auch Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt / M. 1999. 307 Vgl. Andrea Köhler. Literatur. Eine Kolumne. Ground zero. In: Merkur 52 (2002), S. 234 – 239, hier S. 237.

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eine mediologische Differenz. Während der Mythos auf episch-narrative Wiederholungen angewiesen ist, mit anderen Worten also nur existiert und gegenwärtig bleibt, insofern er erzählt wird, gilt dasselbe für die bildtechnisch vermittelten und dokumentierten Ereignisse der Zeitgeschichte gerade nicht. Während der Mythos der mündlichen oder schriftlichen Erzählung ›bedürftig‹ ist, bedürfen medialisierte Ereignisse einer Erzählung, die sich ihrer annimmt, keineswegs – »das erledigen die visuellen Medien«.308 Thomas Manns (am Anfang dieses Kapitels schon einmal zitierter) Josephs-Roman hat an einer theologischen Stelle, die auch poetologisch gelesen werden kann, in Hinsicht auf den Bund Gottes mit den Israeliten von der verschränkten »menschliche[n] und göttliche[n] »Bedürftigkeit« gesprochen:309 Was von der wechselseitigen ›Heiligung‹ gilt, gilt auch vom Verhältnis der Erzählung zu dem, wovon sie erzählt. Das Erzählen bedarf hier des Mythos, aber der Mythos bedarf in jedem Fall der Erzählung. Dass die Ereignisse, von denen die hier untersuchten Texte handeln, bereits vor jeder Erzählung immer schon im Medium technischer Nachrichten und Bilder distribuiert, dokumentiert, konsumiert und archiviert worden sind, macht ihre Erzählung dagegen zu einer tendenziell überflüssigen Angelegenheit. Es ist diese Unbedürftigkeit der modernen, immer schon medialisierten Geschichte hinsichtlich weitererzählender Geschichten, welche literarische Adaptionen zeitgeschichtlicher Ereignisse grundsätzlich ›unwahrscheinlich‹ macht. Warum und wie zeitgeschichtliche Ereignisse dennoch erzählt werden, konstituiert die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung. Sie wird im textanalytischen Teil an jeden einzelnen Text zu richten sein.

3.

Das Apriori der technischen Bilder Sicher war das Bild vor dem Wort.310

»So lebendig und laut waren die Bilder aus den Zeitungen geworden«, erinnert sich im Rückblick auf das Ereignis des Arbeiteraufstands in Ost-Berlin am 17. Juni 1953 und seine erlebnishafte Teilnahme als Elfjähriger der Erzähler in Friedrich Christian Delius’ Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, »daß mir, obwohl ich noch keine Schüsse gehört hatte, die Schüsse von Berlin in den 308 Hanns-Josef Ortheil: Frische Fische!, S. 82. 309 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Bd. 1, S. 319. 310 Robert Schindel: Literatur – Auskunftsbüro der Angst. Wiener Vorlesungen zur Literatur. In: ders.: Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst. Frankfurt / M. 1995, S. 35 – 114, hier S. 91.

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Ohren lagen […], und ich war geflohen, wie die andern auf den Fotos geflohen waren Unter den Linden, ich war kein Held gewesen, aber dabeigewesen und hatte überlebt, ich spürte meine Wut auf Ulbricht und die Russen und die Panzer und liebte die Zeitung, die mir solche Abenteuer, solche Gefühle verschaffte.«311 Die fotografischen Reproduktionen in den Zeitungen, verstärkt durch den Bericht, haben sich der visuellen Vorstellungskraft des jugendlichen Ich-Erzählers eingedrückt und zu Gefühlen der Teilnahme verdichtet. Sie bündeln patriotische, auf die gerade erst vier Jahre existierende Bundesrepublik bezogene Affekte ganz ähnlich, wie es der dem Radiogerät abgelauschten Berichterstattung über das ›Wunder von Bern‹, den unverhofften Sieg der westdeutschen Nationalmannschaft gegen das ungarische Nationalteam bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Bern 1954, am Ende der Erzählung noch einmal gelingt. Die spürbare Vibration der Radio-Membran ermöglicht eine sinnliche Teilhabe, die den Erlebnisraum des Zuhörers mit dem Ereignisraum mehr verbindet als beide voneinander trennt, und die akustisch hergestellte Nähe vervollständigt sich in der synästhetischen Suggestion des Sehens: »ich sah den Ball, den ich nicht sah, vor dem deutschen Tor, im deutschen Tor, zweimal, dreimal, aber …«312 Der Präsentismus der Übertragungstechnik geht so weit, dass er sogar eine Einflussnahme auf das Geschehen jedenfalls für die Dauer der Übertragung möglich erscheinen lässt. Die Magie des Moments, die Teilhabe am räumlich entfernten Ereignis, impliziert auch die Umkehrung des einseitigen Übertragungswegs, indem sie den Zuhörer buchstäblich zum Mitspieler macht; dass sie lediglich einen technischen Effekt darstellt, zieht von diesem Präsenzerlebnis nichts ab. Ihre Suggestion kulminiert vielmehr im triumphalen Glück des Radiohörers angesichts der errungenen Weltmeisterschaft, an der er persönlich partizipiert. Wie die technisch übertragene Stimme und die Geräusche es fertig bringen, den räumlichen Gegensatz von Präsenz und Absenz zu überwinden, macht das Medium auch die Grenze zwischen dem Ereignis und dem Ich am Radioempfänger zu einer durchlässigen Membran: »Bern war in mir, ich war Liebrich, ich war Weltmeister, der Beweis war die Reporterstimme, der Beweis war eine neue, über das Radio gespendete Energie […].«313 Delius’ Weltmeisterschafts-Erzählung handelt nicht zuletzt von einem mediologischen Sachverhalt: also davon, wie es den Informationstechniken der medialen Moderne gelingt, Zeitgenossen durch technische Aufzeichnung und Übertragung in ›Echtzeit‹ in Teilhaber, Augen- und Ohrenzeugen ereignishaften Geschehens zu verwandeln, so dass es zum Gegenstand unmittelbar-persönli311 Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 65. 312 Ebd., S. 105. 313 Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, S. 120.

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chen Erlebens wird. Zugleich aber vermittelt sie eine grundsätzliche Einsicht in die Bedingungen des Erzählens im Zeitalter der Information. Nicht das Ereignis in seiner Unmittelbarkeit, sondern eine medienvermittelte Partizipation und der dadurch initiierte affektiv-energetische Prozess, der das Medium der Vermittlung ›vergisst‹, formieren die Zeitgenossenschaft des erzählten Ichs; er bildet den Ausgangspunkt wie den Gegenstand seines Erzählens. Die mediale Vermittlung kommt in jedem Fall der schriftlichen Einlassung zuvor: Es ist die Technifizierung der Teilhabe, die ›reales Geschehen‹ in Datensequenzen übersetzt und diese erneut für den Empfänger zu Ereignissen von lebendiger Präsenz synthetisiert, von der die Erzählung handelt. Nicht also auf ein einfaches Ereignis bezieht sich der Text, sondern auf eine mediologische Erfahrung, die er wiederum medial – schriftlich – seinen Lesern vermittelt. Während sich Delius’ Erzählung vor allem auf das akustische Medium des Radios bezieht, sind es in der Folge mehr und mehr die technisch erzeugten und übertragenen, sichtbaren Bilder, deren suggestive Präsenz der Einbildungskraft ihrer Empfänger (wie bereits dem jugendlichen Zeitungsleser) imponiert. Dieser Befund lässt sich verallgemeinern: Hinwendungen literarischer Texte zum zeitgeschichtlichen Geschehen werden stets durch dessen dominante mediale Vermittlungsform bestimmt. Unter den Bedingungen des technischen Informationszeitalters werden literarische Texte, soweit sie von zeitgeschichtlichen Ereignissen handeln, zu mediologischen Texten: Dass sich ihr Zugriff auf geschichtliche Wirklichkeit stets an der Oberfläche einer gewissermaßen ›zuvorkommenden‹, technisch-medialen Ereignis-Vermittlung bricht, schreibt sich in die ästhetischen Verfahrensweisen, Struktur und Semantik der Texte ein. * Die Leitthese der vorliegenden Untersuchung kann demzufolge lauten: Literarische Texte, die sich auf Ereignisse der jüngeren Geschichte beziehen, gehen aus von einem Apriori technisch vermittelter Informationen und Bilder. Wovon sie handeln, ist unter der Bedingung der entwickelten, allgemein verbreiteten Informationsmedien ihren Lesern stets bereits anschaulich bekannt. Der prinzipielle Sachverhalt, dass Medien – angefangen beim sensorischen Apparat der menschlichen Physis – »anthropologische Aprioris« jeglicher Weltwahrnehmung sind,314 wird durch die technische Aufrüstung des visuellen Sinns auf neue Weise konkretisiert. Das zwanzigste Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Bilder.315 Mit der Integrierung der Fotografie in die Informationsmedien, erst recht aber mit der annähernd lückenlosen Implementierung des Massenmediums 314 Friedrich A. Kittler : Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986, S. 167. 315 Vgl. Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute. Göttingen 2008.

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Fernsehen in den 1960er Jahren erfährt die Bildlichkeit eine eminente kulturgeschichtliche Aufwertung, die sich noch in der Verachtung ihres ›oberflächlichen‹ Weltzugangs revers bezeugt. Seither heißt über Ereignisse der Gegenwart »Bescheid zu wissen« mit Kracauers schon zitiertem Diktum vor allem, »ein Bild von den Dingen haben«.316 Es sind die bildtechnischen Repräsentationsmedien, die gegenüber jeder schriftlichen Vermittlung der Welt einen phänomenologischen und epistemischen Primat beanspruchen: »[I]ch kenne, als erstes, die Bilder«, beschreibt Walter Jens 1961 das hier in Rede stehende Apriori.317 Dieses Apriori bestimmt über die Apperzeption gegenwärtiger Geschichte auch die Form ihrer Erinnerung – und damit zugleich die Bedingungen, unter denen sich literarische Texte ›erinnernd‹ der rezenten Geschichte zuwenden. Das »Gedächtnis des zwanzigsten Jahrhunderts« wird vor allem durch eine technische Ikonik konstituiert, welche die »Schrift der Vergangenheit« als Leitmedium abgelöst hat.318 Hegels geschichtsphilosophische Zurückstellung der Kunst ließe sich demzufolge dahin variieren, dass sie nach derjenigen ›Bestimmung‹, das officium memoriae zu versehen, also Vergangenes im kollektiven Gedächtnis zu bewahren, »für uns ein Vergangenes« ist.319 Den bewusstseins- und wahrnehmungstheoretischen Implikationen dieses Sachverhalts soll in diesem Kapitel nachgegangen werden. Die folgenden Abschnitte unterscheiden sieben Aspekte des bildmedialen Aprioris, in denen sich das Verhältnis moderner Informationsmedien zur rezenten Geschichte auslegt.

3.1

Zeitverhältnisse Nichts liegt in der Vergangenheit, selten noch etwas an ihr.320

Dass zeitgeschichtliche Gegenwart, wie ›anonym‹ sie sich selbst hinsichtlich ihrer Sinndeutung auch sei, jederzeit über sich selbst im Bilde ist, revolutioniert die Zeitverhältnisse gegenüber ›vormodernen‹ Informationsstandards, unter denen die historische Überlieferung stets das Bekanntere und Vertrautere, das Gegenwärtige dagegen ein relativ Unvertrautes war. Im Zeitalter der technischen Informationsmedien bilden zeitgeschichtliche Aktualität und allgemeine Be316 Kracauer : Die Photographie, S. 93. 317 Walter Jens: Plädoyer für das Positive in der modernen Literatur (1961). In: ders.: Literatur und Politik, S. 24. 318 Gertrud Koch: Das Bild als Schrift der Vergangenheit. In: Kunstforum International 128 (1994), S. 193 – 196. 319 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 1, S. 110. 320 Raoul Schrott: Die Wüste Lop Nor. 2. Auflage Frankfurt / M. 2007, S. 99.

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kanntheit ein Double: ›Schon-Bekannt-Sein‹ und ›Bedarf für weitere Information‹ gehören zur Rekursivität der massenmedialen Kommunikation.321 Dass nichts älter ist als die Nachricht von gestern, gilt unter den Bedingungen der medialen Moderne in einem präzisen Sinn. Wo jedoch immer schneller aufgenommen wird, wird auch immer schneller vergessen. Im Zusammenhang der medialen Bildlichkeit kommunizieren Erscheinen und Verschwinden miteinander : Die Apperzeption von Ereignissen korrespondiert mit deren Verdrängung durch andere, ›neue‹, so wie die permanente Aktualisierung von Geschichte den Eindruck ihres Endes als Ganzer generiert. Während der optische Horizont durch bildtechnische Aufzeichnungen stetig erweitert wird, führt die mediale Fokussierung auf das ›Neue‹ zugleich dessen Zurückweichen herbei: Sie impliziert tendenziell auch einen Verlust an zeitlicher Tiefe, wie der Mediologe Francis Debray argumentiert, also die Ersetzung von Diachronie durch Synchronie, in deren Folge sich das geschichtliche Bewusstseinsfeld verengt und »unser Kalender schrumpft«.322 Wenn die Ausdehnung der Zonen der Information und Sichtbarkeit, also die »Verstärkung der technischen Verbindungen« zugleich die »symbolische[] Bindung« schwächt,323 vermindert sie die Bedeutung zeitgeschichtlicher Daten und ihre Relevanz als Gedächtnisinhalt. Der information overload, dessen Diagnose seit Kracauer so allgemein geworden ist, dass kaum eine medienkritische Einlassung auf die medientechnische Moderne mehr ohne die Metaphern der Informationsflut oder -überschwemmung auskommt,324 hat ein Abflachen der Aufmerksamkeitskurve zur Folge, das umso rascher verläuft, je mehr Ereignisse in immer schnellerer Folge um die knappe Ressource der Aufmerksamkeit konkurrieren. Literarische Adaptionen solcher Ereignisse bleiben von den Paradoxien dieser Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht verschont: Je mehr sich die modernen Massenmedien der Simultaneität von Ereignis und Übertragung annähern, desto weniger erscheint die literari321 322 323 324

Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 28. Debray : Einführung in die Mediolologie, S. 15. Ebd. Vgl. etwa die unbetitelten Beiträge von Karl Jaspers und Nathalie Sarraute in: Jaspers, Sarraute, Toynbee, Eschenburg: Werden wir richtig informiert?, S. 9 – 28, hier S. 18, bzw. S. 29 – 47, hier S. 33 f. Ebenso neben anderen Beiträgen im 1971 erschienenen Themenheft »Fernsehen« der Zeitschrift kürbiskern Günther Rager : Politische Information im Fernsehen. In: kürbiskern 3 (1971), S. 461 – 472, hier S. 462. Susan Sontag (Über Fotografie, S. 29) spricht sogar mit epidemologischer Metaphorik von »geistiger Verseuchung«. Vgl. auch zusammenfassend Vil¦m Flusser : Medienkultur. Hg. von Stefan Bollmann. Frankfurt / M. 1998, S. 73: »Was so entsetzlich an der Bilderflut ist, sind drei Momente: daß sie an einem für ihre Empfänger unerreichbaren Ort hergestellt werden, daß sie die Ansicht aller Empfänger gleichschalten und dabei die Empfänger füreinander blind machen und daß sie dabei realer wirken als alle übrigen Informationen, die wir durch andere Medien (inklusive unserer Sinne) empfangen.« – Zur solchen Topoi der Fernsehkritik vgl. die Zusammenstellung von Gerhard Maletzke: Kulturverfall durch Fernsehen? Berlin 1988.

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sche Option stofflicher Aktualität noch als aussichtsreich. Andererseits eröffnet das rasche Veralten die Option literarischer Erinnerung, also des Zurückkommens auf dem kollektiven Gedächtnis schon wieder Entschwundenes. Aktualisierung und Desaktualisierung bilden demnach zwei Seiten eines zeitlich-mediologischen Sachverhalts: Während auf der einen Seite zeitgeschichtliche Ereignisse immer schneller bekannt gemacht werden, arbeitet derselbe Aktualitätsschub auf der anderen Seite einem immer schnelleren Vergessen zu; einem Vergessen, das durch eine verstärkte Tendenz zur ›historischen‹ Erinnerung – zu Erinnerungsorten, Gedenktagen und Ausstellungen – kompensatorisch aufzufangen gesucht wird. Das Aktuelle ist der fleißigste Zuträger zu den historischen Archiven, denn die Vermehrung des ›Neuen‹ im Sinne der Information beschleunigt zugleich das Veralten.325 Die technischen Medien der Aktualität verweisen deshalb logisch auf die Medien der Musealisierung.326 Auch wenn das Gros dessen, was die technisch übermittelten Bilder vermitteln, bald schon vergessen wird, sind es doch vor allem Bilder, die das kollektive Gedächtnis dauerhaft in sich aufnimmt. Denn die visuelle Repräsentation und Vermittlung zeitgeschichtlichen Geschehens stimmt mit einer strukturellen Gegebenheit des Gedächtnisses überein, dessen Einprägsamkeitslogik vor allem ikonisch bestimmt ist. Die ars memoriae zieht schon im Zusammenhang der Rhetorik bildliche Vorstellungen heran, um abstrakte Sachverhalte der Erinnerung einzuprägen. Die Technifizierung und Visualisierung der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung, von der hier die Rede ist, affiziert jedoch nicht nur den Inhalt des kollektiven Gedächtnisses, sondern alle drei Ekstasen der Zeit, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Eingriffe, die das visuelle Informationszeitalter in die ›natürlichen‹ Zeitverhältnisse vornimmt, lassen sich darum auch mit drei Stichworten beschreiben: Desaktualisierung der Gegenwart, Desantiquierung der Vergangenheit und Defuturisierung der Zukunft.

3.1.1 Desantiquierung, Desaktualisierung, Defuturisierung Die Diskussion des Ereignisbegriffs und der Ereignis-Zeit hat das Paradox der Desaktualisierung der Gegenwart bereits berührt: Wäre zeitgeschichtliche Gegenwart nicht mehr als eine abstrakte Grenzscheide zwischen Vergangenheit und Zukunft, bliebe für Ereignisse buchstäblich keine Zeit. Das Paradox einer ausdehnungslosen Gegenwart kann jedoch mit Hilfe eines phänomenologischen Zugangs aufgelöst werden, der Ereignisse mit Rücksicht auf ihre Medialisierung 325 Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt / M. 1999. 326 Vgl. dazu Gottfried Korff, Martin Roth: Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt / M., New York 1990.

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in ein retentionales Zeitfenster stellt: Geschichtliche Gegenwart konstituiert sich als erlebnismäßiges Naherinnerungsfeld, das durch visuelle und diskursive Appräsentationen von Ereignissen hergestellt wird. Aber die medientechnische Aneignung der Gegenwart affiziert auch die Ekstasen Vergangenheit und Zukunft. Kaum ein Ereignis, das auf ›unvorhergesehene‹ Weise geschieht und auf den Bildschirmen der televisionellen Weltöffentlichkeit aufscheint, wird von techno-medialen Imaginationen nicht bereits anschaulich antizipiert. Während »das Unvorhergesehene« der Zukunft noch bei Ernst Jünger einen Gegenstand darstellt, über den Sehende und Blinde ohne Wahrnehmungsdifferenz miteinander reden können,327 hat die medientechnische Moderne auch das Zukünftige in gewisser Weise vorhersehbar gemacht: »Wir haben von jeder nur möglichen Katastrophe ein Bild, lange bevor sie eintritt […].« In dieser Imagination des Zukünftigen aber gleichen sich überraschenderweise die Weltbilder »im Wechsel von Dante zum Computerszenario«: »In den Grundbildern ist kein Raum für das Unbekannte. Hier ist alles vorausgesehen«,328 schrieb Botho Strauß bereits acht Jahre vor dem Morgen des 11. Septembers 2001, an dem die celluloid hallucinations der (Alb-)Traumfabriken Hollywoods unversehens wahr geworden sind. Dass das katastrophale Ereignis »die Lust an Actionfilmen ähnlichen Inhalts« austreibt, wie Durs Grünbein wenige Tage nach demselben Datum schrieb, weist auf denselben Antizipationszusammenhang hin:329 Die Ereignisse des elften Septembers erwiesen sich als derart bilderaffin, »als hätten die Fernsehstationen der westlichen Hemisphäre seit Jahren nur auf dieses eine Szenario gewartet.«330 Wo aber die technisch imaginierten Bilder die Gegenwart bereits überholen, indem sie »die Dinge beinahe schon erfassen, bevor sie stattgefunden haben«,331 wird mit der Möglichkeit von Ereignissen auch die Ordnung der Zeit in Frage gestellt. Denn solches Vorhersehen bewirkt eine Defuturisierung der Zukunft: Sie holt die offene Zeit in geschlossene Erwartungshorizonte ein und verfestigt das Fluide der Zukunft zu anschaulichen Expektationen. Medientechnische Protentionen bewirken ein Wahrscheinlich327 Vgl. Ernst Jünger : Im Blindenviertel. In: ders.: Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Stuttgart 1979 (Sämtliche Werke; 9), S. 184 – 186, hier S. 186. 328 Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München 2004, S. 55 – 78, hier S. 75. 329 Durs Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 218 vom 19. 9. 2001, S. 53. 330 Thomas Meinecke [im Interview mit Ina Hartwig]: Glamour und Abgrund. Thomas Meinecke über die Auswirkungen der Anschläge. In: Frankfurter Rundschau Nr. 219 vom 20. 9. 2001, S. 19. – »Man schämt sich ein wenig, daß man die naive Begeisterung beim Betrachten von Filmen wie Independence Day geteilt hat, diesen pubertären thrill beim Anblick des Weißen Hauses etwa. Es ist klar, daß im Moment der echten Aktion das Kino seine Unschuld verlor. Den Fernsehidioten wird hiermit die kindliche Zuschauerfreude an der Zerstörung der Großstädte ein für allemal ausgetrieben.« (Ebd.) 331 Baudrillard: Die Illusion des Endes, S. 21.

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machen des Unwahrscheinlichen, das über Überraschungserwartungen auch Unvorgesehenes in gewissem Maße integriert. Selbst chockartige Anomalisierungen kommen der protentionalen Ordnung der technischen Informationsmedien kaum zuvor, die auf das Unerwartete jederzeit vorbereitet ist und es der Registratur des Spektakulären einverleibt. Nicht das Dass, sondern allenfalls das Wie erwartbarer Ereignisse erscheint demnach als offen.332 Mit einem von Benjamin auf die Mode gemünzten Begriff ließe sich Zeitgeschichte unter den Bedingungen massenmedialer Information als »ewige Wiederkehr des Neuen« beschreiben.333 Indem sie so das Zukünftige entzukünftigt, unterhält die medientechnische Moderne eine Korrespondenz mit dem apokalyptischen Denken aller Zeiten, das den Chock oder die bevorstehende Katastrophe durch die feste Erwartung des Untergangs, die ultimative Form defuturisierender Überraschungsvermeidung, immer schon vorweggenommen oder eingeholt hat. Der Apokalyptiker denkt die künftige Katastrophe im zweiten Futur: Was kommt, wird immer schon gewesen sein.334 Nicht zufällig sind es oft apokalyptische, aus dem kulturellen Langzeitgedächtnis abgerufene Erzählungen und Bilder, an denen chockhafte Ereignisse als längst erwartete gespiegelt werden. Die Defuturisierung der Zukunft hat ihr Komplement in einer Desantiquierung der Vergangenheit, die durch dieselben medientechnologischen Bedingungen hergestellt wird: Sie holt (in gegenläufiger Bewegung) die schwindende Zeit in geschlossene Erinnerungshorizonte zurück und verfestigt das SichEntziehende der Vergangenheit zum jederzeit abruf- und verfügbaren Inhalt der bewusstseinsexternen Speicher. Diese Desantiquierung reflektiert sich im Ausdruck einer Vergangenheit, die ›nicht mehr vergeht‹.335 Aber dieses Nichtver332 Vgl. Dieter Hoffmann-Axthelm: Der 11.9. und die Fähigkeit zu trauern. In: Ästhetik& Kommunikation 118 (2002), 33. Jg., S. 21 – 30, hier S. 21 (mit Bezug auf den 11. September 2001). 333 Walter Benjamin: Zentralpark. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2, Frankfurt / M. 1974, S. 651 – 690, hier S. 677. 334 Vgl. Manfred Frank: ›Die eigentliche Zeit in der Zeit‹. In: Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. Hg. von Peter Sloterdijk. 1. Bd. Frankfurt / M. 1990, S. 151 – 169, S. 158. – Vgl. auch Êmile Cioran, der dasselbe mit dem Begriff des »Abgetane[n] der Zukunft« thematisiert (Cioran: Der Absturz in die Zeit. Aus dem Französischen übersetzt von Kurt Leonhard. 3. Auflage. Stuttgart 1995, S. 133). – Zur literarischen Produktivität der Apokalypse-Idee in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vgl. Heinz-Peter Preusser : Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse. Heidelberg 2003. 335 Für dieses Nichtvergehen des Vergangenen gibt es zwei zentrale Paradigmen: Einmal das kollektive geschichtliche Paradigma einer Vergangenheit, die auch die Nachgeborenen nicht loslässt und die in Deutschland der Nationalsozialismus repräsentiert; zum anderen das individuelle lebensgeschichtliche Paradigma der Kindheit. Beide Paradigmen fallen in den ersten Sätzen von Christa Wolfs Kindheitsmustern zusammen: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.« Christa Wolf: Kindheitsmuster. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von

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gehen hat eine medientechnische Seite. Denn die audiovisuellen Speicher lösen das Paradigma der abgeschlossenen, der Anschauung entzogenen Vergangenheit für die jüngere und gegenwärtige Zeitgeschichte durch die anschauliche Verfüg- und Wiederholbarkeit jedes öffentlich relevanten Ereignisses ab: Keine Gegenwart vergeht mehr in derselben Weise, in der sie unter den Bedingungen des dominanten skripturalen Aufzeichnungscodes noch verging. »Der Raum vernichtet, die Zeit zurückgestellt, das Dort und Damals in ein huschendes, gaukelndes […] Hier und Jetzt verwandelt«: Es ist dieses technisch »herangeholte Leben«, das Thomas Mann trotz aller kunstkritischen Distanzierung am frühen Film vor allem gefiel.336 Dass aufgrund der technischen Möglichkeit optischer Aufzeichnung »nichts an den Dingen« mehr vergeht, da prinzipiell nichts mehr »nicht angesehen werden« kann,337 gefährdet indes die Geltung der zeitlichen Kategorie der Vergangenheit selbst. Botho Strauß hat dieser unvergänglichen Vergangenheit die Konsequenz ihres eigenen Vergehens hinzugedacht: Und wenn die Vergangenheit selber verginge? Sie werden die Chemie der Erinnerung so beeinflussen, daß jeder beliebige Zeitpunkt der Vergangenheit aufrufbar und downloadbar wird, von einem Augenblick der Gegenwart nicht mehr zu unterscheiden. Die neurochemische Stimulation, die das Verlorene überwände wie früher ein Gedicht.338

Mit dem abrufbaren Eintreten des Vergangenen in die Gegenwart als Dimension des Unabgeschlossenen und Veränderbaren wachsen auch die Möglichkeiten seiner Manipulation. Die visuelle Abrufbarkeit der Vergangenheit hat indes keine neuronale Chemie, sondern bereits die Physik des medialen Bildertransfers zuwege gebracht. Dass die technische Manipulation die Zeit überwände »wie früher ein Gedicht«, weist allerdings auf die schon diskutierte Verdrängungsfolge hin, die der literarischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit aus den technischen Möglichkeiten der Moderne – der einschlägigen Hypothese zufolge – erwächst. Im Vergehen der Vergangenheit als Dimension des ›Erstarrten‹ und ›Entrückten‹ liegt einer der Ansatzpunkte des geschichtstheoretischen Posthistoire. Die Fluidität und Verfügbarkeit der Aufzeichnung setzt sich in den beliebigen Möglichkeiten des Variierens, Manipulierens, Überschreibens und Löschens Sonja Hilzinger. München 2000 (Werke Bd. 5), S. 9. – Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Karl Heinz Bohrer : Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung. München, Wien 2003, S. 11. 336 Thomas Mann: Der Film, die demokratische Macht (1923). In: ders.: Essays. Nach den Erstdrucken, textkritisch durchgesehen, kommentiert und hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. 2: Für das neue Deutschland 1919 – 1925. Frankfurt / M. 1993, S. 225 – 226, hier S. 225. 337 Hettche: Nox, S. 52. 338 Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten. München, Wien 1997, S. 34 f.

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fort, durch die vor allem das Computerzeitalter die Optionen des Zugriffs auf die Vergangenheit erweitert. Sie bringen den topischen Gegensatz von ›fest‹ und ›flüssig‹ selber in Bewegung, mit dem sich die Öffnung und Schließung der Zeithorizonte durch protentionale und retentionale Ordnungen bis zum Anbruch des technischen Informationszeitalters beschreiben ließ:339 Georg Simmels Rede vom »flüssige[n] Element der Seele«, schreibt Aleida Assmann in der letzen Anmerkung zu ihrer Analyse der Topik von ›fest‹ und ›flüssig‹, lese sich heute »wie eine Allegorie des Computers.«340

3.2

Panoptismus und Geschichtskultur Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.341

Zeitgeschichtliche Wahrnehmung unterstellt sich unter den Bedingungen der medientechnologischen Moderne einem panoptischen Prinzip der Sichtbarmachung alles dessen, ›was ist‹. Dieses panoptische Prinzip ist keineswegs mehr nur Teil administrativ-autoritärer Überwachungs- und Machtsysteme, wie sie George Orwell im Blick auf die politischen Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts imaginiert und Michel Foucault im Rückblick auf die rationalistische Gefängnisarchitektur des Panoptikons am Ende des 18. Jahrhunderts beschrieben hat:342 Längst hat sich das panoptische Prinzip auf eine Informations- und Unterhaltungsindustrie hin verschoben, in der die Beobachtungsangst einer Beobachtungslust, der Skopophilie,343 Platz gemacht hat. Die Lust am 339 Vgl. Aleida Assmann: Fest und flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur. In: dies., Dietrich Hardt (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt / M. 1991, S. 181 – 199. 340 Ebd., S. 197. 341 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. V.1, Frankfurt / M. 1982, S. 596. 342 Vgl. George Orwell: Nineteen eighty-four. London 1996 (The Works; 9); Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt / M. 1994, S. 253 und S. 256 ff. (im Hinblick auf die von Jeremy Bentham 1791 zuerst entworfene architektonische »Disziplinierungsanlage« des Panopticons). 343 Vgl. Peter Weibel: Von Zero Tolerance zu Ground Zero. Zur Politik der Visibilität im panoptischen Zeitalter. In: Kunst nach Ground Zero. Hg. von Heinz Peter Schwerfel. Köln 2002. S. 87 – 106, hier S. 98. Weibel spricht von den »panoptic pleasures of exhibitionism and voyeurism«. In den ›Reality-‹ und Talkshows sieht Weibel den Gipfel einer von der »scopophilia« beherrschten ›Gesellschaft des Spektakels‹, die gelernt habe, »Überwachung enthusiastisch zu genießen« (ebd. 102). – Vgl. auch Thomas Jung, Stefan Müller-Dohm: Das Tabu, das Geheimnis und das Private. Vom Verlust der Diskretion. In: Die Veröffentlichung des Privaten – die Privatisierung des Öffentlichen. Hg. von Kurt Imhof und Peter Schulz. Opladen 1998 (Mediensymposium Luzern; 4), S. 136 – 146.

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Beobachten, die libido videndi, korrespondiert mit der Lust am Beobachtetwerden. Diese libidinöse Besetzung der aktiven und passiven Beobachtung hebt die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre jenseits zwangsbewehrter optischer Inspektionen tendenziell auf; nicht zufällig gehört die Talkshow – von der gesellschaftlich-politischen ›Expertenrunde‹ bis zu den Trivialformen der nachmittäglichen Unterhaltungsprogramme – zu den erfolgreichsten Sendeformaten im Fernsehen seit den 1990er Jahren.344 Information und Unterhaltung sind im infotainment verkoppelt: Informations- wie Unterhaltungsindustrie nehmen an einer Praxis universaler Visualisierung teil, die für das technische Zeitalter überhaupt kennzeichnend ist. Das zwanzigste Jahrhundert, behauptet dementsprechend der französische Philosoph Alain Badiou, wird von einer »passion du r¦el« beherrscht.345 Es ist dieses – von Badiou an ästhetischen und politischen Formen der ›Reinigung‹ und ›Zerstörung‹ im Sinne einer Freilegung des ›Realen‹ unter den vielfältigen Formen des Scheins dargestellte – Programm, das auch die medientechnische Visibilisierung der Gegenwart in der medialen Moderne bestimmt. Denn diese passionierte Sichtbarmachung, die sich von makroskopischen bis zu mikroskopischen Ansichten der Welt, von der ikonischen Repräsentation des Kosmos bis zur bildtechnischen Penetration des menschlichen Körpers vollzieht, fängt nicht zuletzt die Flüchtigkeit zeitgeschichtlichen Geschehens ein und setzt sie ins universal verbreitete Bild. Wie keine andere Darstellungsform scheinen die technischen Medien der Visualität – Fotografie, Film und die digitalen Aufzeichnungsformen des Fernsehens und des Computers – eine ›natürliche‹ Beziehung zum Realen zu besitzen: »Eine Photographie«, schreibt Susan Sontag, »ist nicht nur ein Bild (so wie ein Gemälde ein Bild ist), eine Interpretation des Wirklichen, sondern zugleich eine Spur, etwas wie eine Schablone des Wirklichen, wie ein Fußabdruck oder eine Totenmaske.«346 Den frühesten Fotografien, die sich den Schauplätzen zeitgeschichtlichen Geschehens zuwenden, ist der Charakter einer ›Totenmaske‹ oder ›Spur‹ noch deutlich anzusehen, da die langen Belichtungszeiten die Aufnahme bewegten Geschehens nicht zuließen: Der frühe fotografierte Krieg ist menschenleer. (Abb. 1) Die Mortifikation, die Benjamin von der Kamera ausgesagt hat, ist aufgrund der Begrenztheit der technischen Mittel im Ausbleichen und Einschwärzen der Helligkeiten flagrant; sie verleihen der Fotografie das Relief des Todes. Dass die Fotografie die »To-

344 Vgl. dazu Klaus Plake: Talkshows. Die Industrialisierung der Kommunikation. Darmstadt 1999. 345 Alain Badiou: Le siÀcle. Paris 2002, S. 75. 346 Sontag: Über Fotografie, S. 147.

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tenwache« am lebendigen Gegenstand hält, ist diesen Aufnahmen metaphorisch abgenommen.347

Abb. 1: Jean-Charles Langlois, The Korniloff Battery, 1855. Salted paper print, 25,2 x 31,8 cm. (Ó The J. Paul Getty Museum, Los Angeles)

Statt flüchtiger Geistererscheinungen ermöglicht die Fotografie jedoch dauerhafte Repräsentationen im fest gebannten Schatten auf Silberpapier oder Zelluloid. Ihre Prosopopoiie holt die Gestalten der Vergangenheit aus der erinnerten und berichteten Schattenexistenz an die Oberfläche einer fortdauernden Sichtbarkeit. Damit aber antiquiert die Fotografie die »so alte wie zentrale Metaphorik von der Schrift als Spur, als Index einer verlorenen Präsenz«, auf die Aleida Assmann hingewiesen hat.348 Denn die Metapher der Spur ist auch zei347 Diese Mortifikation manifestiert sich am deutlichsten in der technischen Visualisierung des Inneren des menschlichen Körpers, welche die Röntgenaufnahme, das x-ray picture, ermöglicht; vgl. Thomas Mann: Der Zauberberg. Hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 5.1. Frankfurt / M. 2002, S. 332, wo Hans Castorp auf der Röntgenaufnahme »Joachims Grabesgestalt und Totenbein« betrachtet, »dies kahle Gerüst und spindeldürre Memento.« 348 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 409. – Diese Beobachtung gilt trotz der mutmaßlich höheren Fragilität der Speichermedien, auf die Assmann gleichfalls verweist: Denn die derzeit

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chentheoretisch gesehen für die Fotografie und den Film zutreffender als für die abstrakte Symbolik der Schrift. Auf dem belichteten Film hinterlässt der Gegenstand selbst eine foto-grafische Spur ; während schriftliche Zeichen eine arbiträre Beziehung zu ihren Signifikaten unterhalten, ist die Beziehung bildtechnischer Verfahren auf ihr Dargestelltes analoger, ikonischer und indexikalischer Art zugleich. Es ist dieser doppelte ikonisch-indexikalische Bezug, der eine »Eins-zu-eins-Korrespondenz« zwischen Bild und Gegenstand herstellt349 und demzufolge die technischen Bilder als Formen verlustarmer Speicherung für das geschichtliche Gedächtnis privilegiert. Nicht zufällig ist es der ›indexikalische Bruch‹ der Fotografie, der zwischen den ›Schlachtenbildern‹ und den ›Bilderschlachten‹ des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts verläuft. Im Hinblick auf den ersten Kriegseinsatz der Fotografie im Krimkrieg (1853 – 56), der auch als erster Medienkrieg der Zeitgeschichte bezeichnet worden ist, schreibt Andr¦ Roulli¦: »Von nun an ist das Bild der Lichtabdruck des Objekts. Es ist diese neue Ordnung, auf die sich die Wahrheitsfindung stützen wird, die faktische Macht der fotografischen Bilder.«350 Seither ist der Krieg ohne die Bilder vom Krieg nicht mehr denkbar, und die Mittel der Kriegführung schließen den Krieg der Bilder mit ein.351 Die illustrierten ›Kriegsbeilagen‹ der Tageszeitungen während des Ersten Weltkriegs haben diese Form der Informationsvermittlung etabliert: »Es imponiert ja doch allen, / authentisch mit Bildern, / ist einer gefallen, / die Stimmung zu schildern«, konstatiert der ›erste Kriegsberichterstatter‹ in Karl Kraus’ Jahrhunderttragödie Die letzten Tage der Menschheit (1926). »Wir sind gern informiert / von besonderen Seiten. / Was mich interessiert, / sind die Einzelheiten«,352 sekundiert ihm der zweite.

349

350

351 352

verfügbaren Datenträger sind einer schleichenden Erosion ausgesetzt, die als »alexandrinischer Schwelbrand« bezeichnet worden ist, wogegen die fortwährende Überspielung (Transmigration) der Daten Abhilfe schaffen muss. Vgl. Aleida Assmann: Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses. In: Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. Hg. von Georg Stanizek und Wilhelm Voßkamp. Köln 2001 (Mediologie; 1), S. 268 – 281, hier S. 276. Dazu auch Debray : Einführung in die Mediologie, S. 56. Vgl. Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt / M. 1983, S. 65. – Zur Zeichentheorie der bildtechnischen Medien vgl. auch Christine Schilha: Auferstanden aus Archiven. Der Umgang mit filmischem Archivmaterial als televisionale Form der Erinnerungskonstruktion. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 37 (1998), S. 41 – 45, hier S. 43. Andr¦ Rouill¦: Ein photographisches Gefecht auf der Krim. In: Bilder der Macht – Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts. Hg. von Stefan Germer und Michael F. Zimmermann. München, Berlin 1997 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München; 12), S. 361 – 370, hier S. 363. Vgl. Oppenheim: Der Krieg der Bilder. – Zum Krimkrieg vgl. auch den Band von Georg Maag, Wolfram Pyta, Martin Windisch (Hg.): Der Krimkrieg als erster europäischer Medienkrieg. Berlin 2010 (Kultur und Technik; 14). Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt / M. 1986, S. 735.

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Seither wird das Bewusstsein zeitgeschichtlicher Realität vom Nominalismus der technischen Bilder beherrscht: Sie erklären nichts, zeigen nichts als die ›Oberfläche‹, die faits divers des Weltgeschehens,353 suggerieren aber zugleich eine Vertrautheit mit der Welt, die sie als real erst autorisieren. Sie definieren damit die Episteme des so genannten Medienzeitalters, die noch bei allen fallweisen Vorbehalten gegenüber der ›Authentizität‹ einzelner Bilder auf die Evidenz technischer Bilddokumente setzt. Denn anders als in Grafik und Malerei ist das Dargestellte der Fotografie und des Films nicht bloß Motiv, sondern Faktum.354 Auch die technisch hergestellten Bilder bedeuten nichts anderes als das Sichtbare, das in ihnen in Erscheinung tritt und somit als index sui fungiert.355 Insofern sie keine Tiefe an Bedeutung suggerieren, trifft sie der Vorwurf der ›Oberflächlichkeit‹ auch nicht, der ebenso alt ist wie die technische Repräsentation des Wirklichen durch die Fotografie. »Was geschehen ist«, schreibt Norbert Bolz, »liegt […] nicht mehr in der Tiefe der Erinnerung, sondern an der Oberfläche der Bildarchive.«356 Die Oberfläche technischer Bilder spannt sich nicht über einer Tiefe von Bedeutung aus, auf die hin ihre plane Visualität hermeneutisch zu überschreiten wäre. Zwischen dem Noema des fotografischen Bildes, das Barthes in der Formel »C ¸ a-a-¦t¦« zusammenfasst,357 und der Geschichte als Gegenstand der Information gibt es demnach einen überaus nahe liegenden Bezug: Anstelle der diskursiven Darstellung zeigen die technischen Bilder, »wie es« – mit Rankes positivistischer Formulierung – »eigentlich gewesen« ist.358 Hinsichtlich der Medien populärer Geschichtskultur359 hat sich die semiotische Ordnung der Bilder offenbar durchgesetzt. Konstituierte sich Geschichte qua ›Nationalgeschichte‹ im neunzehnten Jahrhundert noch kaum außerhalb 353 Vgl. Sontag: Über Fotografie, S. 28; zum Nominalismus auch Debray : Einführung in die Mediologie, S. 187 f. 354 Vgl. Frank Kämpfer: Propaganda. Politische Bilder im 20. Jahrhundert, bildkundliche Essays. Hamburg 1997 (20th Century Imaginarium; 1), S. 35. 355 Vgl. dazu Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt / M. 2004, S. 211. 356 Norbert Bolz: Was heißt Ästhetik bei Benjamin? In: Walter Benjamin, Theoretiker der Moderne. Eine Ausstellung des Werkbund-Archivs im Martin-Gropius-Bau, 29. 12. 1990 bis 28. 4. 1991. Hg. vom Werkbund-Archiv in Zusammenarbeit mit dem Museumspädagogischen Dienst Berlin. Gießen 1991, S. 105 – 108, hier S. 106. 357 Barthes: La chambre claire, S. 851. – Die technischen Bilder beziehen sich indexikalisch auf »la chose n¦cessairement r¦elle qui a ¦t¦ plac¦e devant l’objectif, faute de quoi il n’y aurait pas de photographie.« (Ebd.) 358 Ranke: Vorrede der 1. Ausgabe der Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 – 1514, S. VII. 359 Zum Begriff vgl. Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Hg. von Klaus Füssmann. Köln, Weimar, Wien 1994. S. 3 – 26.

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des schriftförmigen Mediums Buch, weil nur die gedruckte Historie die Vielfalt und Komplexität von »gedächtnisrelevanten Informationen« und zeitlich-kausalen Beziehungen darzustellen vermochte,360 so haben sich die medialen Formen der Geschichtsdarstellung im zwanzigsten Jahrhundert stark diversifiziert: Das ausdifferenzierte System der Massenmedien setzt neben den Buch- und Zeitschriftendruck die illustrierten Zeitschriften, den Film (bzw. die Wochenschauen), das Radio, das Fernsehen und schließlich den über das Internet vernetzten Computer.361 Erst recht scheint innerhalb des journalistischen Feldes die Dominanz des Fernsehens mittlerweile als ausgemacht.362 Einer Geschichtswissenschaft, die sich mit der ›präsentistischen Geschichte‹ befasst, treten die audiovisuellen Massenmedien daher verstärkt in den Blick: Die visual history, die sich inmitten der visual culture verortet, nimmt sich filmischer und fotografischer Dokumente an.363 Siegfried Quandt hat dementsprechend die technischen Informationsmedien, vor allem das Fernsehen, als Leitmedien der modernen Geschichtskultur definiert: In einer Kommunikations- und Mediengesellschaft wird Geschichtskultur von den Bewegtbildern bestimmt. Dabei dominiert das Fernsehen. Es schafft ein lebensnahes gesellschaftliches Aktiv-Gedächtnis, ein historisch-politisches Existenzwissen. […] Der Siegeszug der Visualität und der Telekultur in modernen Gesellschaften ist vor allem ein Siegeszug der Bewegtbilder – Leitmedium der audiovisuellen Geschichtskultur ist daher das Fernsehen.364

360 Vgl. etwa Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar 2005, S. 124. 361 Dass das Publikum vom Unterhaltungsfilm »in Scharen zu den Fernsehgeräten abgewandert« sei, bemerkt Kracauer schon 1964 in seiner Theorie des Films. Siegfried Kracauer : Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Mit einem Anhang ›Marseiller Entwurf‹ zu einer Theorie des Films. Hg. von Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Frankfurt / M. 2005, S. 268. – Kracauers im Prinzip zutreffende Voraussage, dass es zu einer »Teilung der Aufgaben zwischen beiden Medien« kommen werde (ebd.), ist freilich in Bezug auf einen Überschneidungsbereich hin zu relativieren: Während im Kino fast ausschließlich der Spielfilm dominiert, versieht das Fernsehen eine Informations- wie eine Unterhaltungsfunktion. 362 Vgl. Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 59. 363 Vgl. zu dieser geschichtswissenschaftlichen Forschungsrichtung den Band von Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006. 364 Siegfried Quandt: Fernsehen als Leitmedium der Geschichtskultur? Bedingungen, Erfahrungen, Trends. In: Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Hg. von Bernd Mütter, Bernd Schönemann, Uwe Uffelmann. Weinheim 2000 (Studien zur Geschichtsdidaktik; 11), S. 235 – 239, hier S. 236.

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Aus diesem mediengeschichtlichen Befund lassen sich auch Konsequenzen im Hinblick auf das Gedächtnis literarischer Texte ziehen: Denn dieses Gedächtnis marginalisiert deren Funktion im Zusammenhang der Gedächtnisbildung und der kollektiven Geschichtskultur, indem es die Erinnerung selbst auf den Primat einer bildmedialen ›Telekultur‹ verweist. Die grundsätzliche erkenntnis- und gedächtnistheoretische Folge der technischen Bebilderung der Geschichte und des Gedächtnisses hat bereits Roland Barthes mit der Emphase einer zeit-epistemischen Epoch¦ formuliert: »le pass¦ est d¦sormais aussi s˜r que le pr¦sent«.365

3.3

Der Umbau des kollektiven Gedächtnisses Und Erinnerungen sind einfach nur wie Fernsehen.366

Dass keine Gegenwart mehr wirklich erstarrt, sondern in jederzeitiger Abrufbarkeit und Anschaulichkeit ›aufgehoben‹ ist, hat Konsequenzen für das kulturelle Gedächtnis und seine Theorie. Fotografische Bilder halten lebendiges Geschehen auf der Schwelle zur Erinnerung fest: Während jedoch die Fotografie die Zeit des Geschehens unterbricht, indem der geschichtliche Moment im Bild für immer erstarrt, nehmen die Bewegungs-Bilder des Films und des Fernsehens die Zeit in ihren eigenen Modus auf.367 Indem die technische Visualisierung faktisch Vergangenes in der Form sinnlicher Anschauung aufbewahrt, ergibt sich mit der Erfindung der ›Bewegtbilder‹ des Films mediengeschichtlich zum ersten Mal die Möglichkeit, Vergangenheit zu konservieren, ohne sie zu arretieren. Das Bild, das nach Lessings früher Medientheorie im Laokoon auf »einen einzigen Augenblick«, den erstarrten Moment, festgelegt war, bemächtigt sich damit auch der »Handlung«, die Lessing noch als exklusives Privileg der »Poesie« verstehen konnte.368 Damit aber verändert sich der Aggregatzustand der Vergangenheit selbst, genauer : der Modus ihrer phänomenalen Gegebenheit in den Medien ihrer Repräsentation. Es geht um einen tiefgreifenden Umbau des kulturellen Gedächtnisses, der von diesem Wechsel der Medien »extrazerebrale [r]«369 Speicherung ausgeht – und in Hinsicht auf das hier verfolgte Thema auch die Bedingungen des Erzählens von zeitgeschichtlichen Ereignissen modifiziert. Für Maurice Halbwachs, der seine Theorie der m¦moire collective ungefähr 365 Barthes: La chambre claire, S. 859. 366 Juli Zeh: Adler und Engel. Frankfurt / M. 2003, S. 16. 367 Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann. 2. Auflage Frankfurt / M. 1990. 368 Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, S. 116 f. 369 Debray : Einführung in die Mediologie, S. 34.

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gleichzeitig mit Siegfried Kracauers Beobachtungen zur Fotografie ausgearbeitet hat, war der »Bestand historischer Erinnerungen« noch an schriftförmige bzw. ikonographische und redeförmige Überlieferungsformen gebunden. Durch sie konstituiert sich ein »entliehenes«, ausgelagertes Gedächtnis, das im Gegensatz zur individuell-erlebnismäßigen Teilhabe des Einzelnen »nicht das meine« ist.370 ›Geschichte‹ konfiguriert sich demnach aus »historischen Formeln«, aus »Jahreszahlen und Definitionen oder willkürlichen Erinnerungen an Ereignisse«; da diese »quer durch die Zeit reproduzierten Zeichen […] alles sind, was aus der Vergangenheit zu mir gelangt«, gleicht die Geschichte für Halbwachs »in der Tat einem Friedhof«.371 Für die rezente Geschichte gilt Halbwachs zufolge nichts anderes: »[D]ie Geschichte selbst der Gegenwart besteht zu häufig allein aus einer Reihe allzu abstrakter Begriffe.«372 Denn die Medien des kollektiven Gedächtnisses bestehen für ihn vor allem in »Unterhaltungen und Lektüre«, aus »Büchern, Stichen und [grafischen, C.D.] Bildern.«373 Der zeitgeschichtliche Horizont individuellen Lebens erscheint demzufolge durch eher schematische Vorstellungen bestimmt, die sich dem Gedächtnis des Einzelnen einbilden wie dem Schiffsreisenden der vorübergleitende Uferprospekt, »ohne viel an Einzelheiten der Landschaft« zu gewahren. Erst nachträglich – etwa so, wie man eine vollzogene Reise auf der Landkarte nachvollzieht – lässt sich die autobiografische Erinnerung zur überindividuellen Zeitgeschichte in Beziehung setzen.374 Die medientechnischen Veränderungen, die Kracauers gegenwartsdiagnostische Aufmerksamkeit bereits anvisiert, kommen Halbwachs noch nicht in den Blick: Dass die Geschichte, wie Benjamin im Passagen-Werk schreibt, bereits im Begriff ist, in (technische) Bilder zu zerfallen,375 berücksichtigt er nicht. Halbwachs’ Gedächtnistheorie legt von einer bereits ihrem Ende entgegensehenden Medienepoche Zeugnis ab, in der sich zeitgeschichtliches Wissen weitgehend bildlos, mündlich und vor allem schriftlich, mitgeteilt hat. Die Bebilderung des Gedächtnisses durch die Medien der Fotografie, durch Film und Fernsehen ist von den Theoretikern des sozialen Gedächtnisses, die Halbwachs’ Gedächtnistheorie aufgerufen hat, erst sehr viel später berücksichtigt worden. Pierre Noras 1984 veröffentlichte essayistische Reflexionen über historische ›Gedächtnisorte‹ ziehen aus der Gegebenheit globalisierter Massenmedien die Konsequenz, dass »jedes Geschehen Weltgeschehen und Medienereignis

370 371 372 373 374 375

Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 35 f. Ebd., S. 37. Ebd., S. 41. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 35 bzw. S. 51; vgl. auch S. 41. Vgl. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 38. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 596.

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wird.«376 Für Nora steht das ›echte‹, statische Gedächtnis der vormodernen, ›archaischen‹ Gesellschaften im Gegensatz zur modernen, dynamischen ›Geschichte‹ und ihren – auf die Fixierung und Musealisierung von ›Spuren‹, Dokumenten oder Orten ausgelegten – Gedächtnis-Medien. Was eben von der phänomenologisch veränderten Gegebenheit des Geschichtlichen gesagt worden ist, klingt beinah wörtlich in Noras Argumentation an: »Selbst der Modus der historischen Wahrnehmung hat sich – mit Hilfe der Medien – außerordentlich erweitert und an die Stelle eines seiner Erbschaft und Innerlichkeit zugewandten Gedächtnisses den dünnen, äußerlichen Film der Aktualität gesetzt.«377 Je mehr die modernen Subjekte das soziale, »alle und alles umfassend[e] Gedächtnis« externalisieren, desto weniger bewohnen sie es. Das moderne, ›archivarische‹ Gedächtnis aber »stützt sich ganz und gar auf die deutlichste Spur, den materiellsten Überrest, das sichtbarste Bild.«378 Während die Schrift das dominante Medium eines weitgehend bildlosen geschichtlichen Gedächtnisses war, wird die Fähigkeit, gegenwärtiges Geschehen auf sinnliche Weise zu speichern und für die Zukunft abrufbar zu halten, Nora zufolge zunehmend durch »HiFi und […] Magnetband« übernommen und perfektioniert.379 Die Differenz zwischen der Schrift und den ikonisch-technischen Medien liegt diesseits der für Nora fundamentalen Differenz von Gedächtnis und archivierender Geschichte, aber sie markiert auch eine tief greifende Unterscheidung innerhalb der modernen Geschichtskultur. Denn die audiovisuellen Repräsentationen der Film- und Fernsehbilder halten paradoxerweise Vergangenes im Zustand der Fluidität, der Bewegung und Lebendigkeit fest, die erlebnismäßig nur dem Gegenwärtigen zukommt. Dabei registrieren die bildlich bewegten und tönenden Aufzeichnungen zum ersten Mal auch das, was gar nicht aufgeschrieben, was »nicht erlebt oder verstanden werden« kann: das nichtdiskursivierbare ›Rauschen‹, »das Getümmel und den Lärm der Schlachten«, wie Wilhelm Dilthey schreibt,380 also jenen präsentischen Aspekt der Geschichte, der nicht der erzählbaren Logik von Handlungsmitteln und -zwecken unterliegt und deshalb auch der Logik des Erzählens entgeht. – Als privilegiertes Medium der Erinnerung an zeitgeschichtliches Geschehen haben die technischen Aufzeichnungsmedien die schriftliche Darstellung jedenfalls offenbar abgelöst.

376 377 378 379 380

Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 12. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd. Wilhelm Dilthey : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 4., unveränderte Auflage. Göttingen 1965 (Gesammelte Schriften; 7), S. 311.

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3.3.1 Esoterische und exoterische Erinnerung Time will no longer be a dark spot on our lungs. They will no longer be able to say : You would had to have been there. Because the fact is, […] we were.381

Der leitmediale Wechsel von der Schrift zu den Fotografien und ›Bewegtbildern‹ der Geschichte prägt das Verhältnis zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis zentral. Denn die kollektive Anschauung, die durch die visuelle Repräsentation des geschichtlichen Geschehens möglich wird, verwandelt den esoterischen Gedächtnisinhalt einzelner in das exoterische Gedächtnis potenziell ›aller‹. Sie transponiert die individuelle Erinnerung ins Gedächtnis eines Kollektivs, das sich nicht mehr durch leiblich-empirische Teilhabe, sondern durch ›künstliche‹, medial vermittelte Teilhabe qua technischer Angeschlossenheit konstituiert. Stefan Zweig konnte in Die Welt von Gestern (erschienen postum 1942) im Bewusstsein einer nur mit den ›überlebenden‹ Zeitgenossen der Habsburger Monarchie geteilten, aus unmittelbar erlebter Gegenwart gespeisten Erinnerungen noch berichten: Ich hatte unzählige Male den alten Kaiser gesehen in der heute längst legendär gewordenen Pracht der großen Festlichkeiten, ich hatte ihn gesehen, wie er von der großen Treppe in Schönbrunn, umringt von seiner Familie und den blitzenden Uniformen der Generäle, die Huldigung der achtzigtausend Wiener Schulkinder entgegennahm, die, auf dem weiten grünen Wiesenplan aufgestellt, mit ihren dünnen Stimmen in rührendem Massenchor Haydns »Gott erhalte« sangen. Ich hatte ihn gesehen beim Hofball […], ich hatte ihn gesehen, gebeugten Hauptes fromm in der Fronleichnamsprozession zur Stefanskirche schreitend – und an jenem nebligen, nassen Wintertag den Katafalk, da man mitten im Kriege den greisen Mann in der Kapuzinergruft zur letzten Ruhe bettete.382

Während der Begriff des ›Legendären‹ an die literale Praxis der Lesung einer narrativen Überlieferung erinnert, steht die wiederholte Formel der Augenzeugenschaft – »ich hatte ihn gesehen« – für eine exklusiv-subjektive Beglaubigung, die mit der erlebten ›Realpräsenz‹ des Geschehenen scheinbar unzertrennlich verknüpft ist. Erst der literarische Bericht als sekundäre, symbolische ›Legende‹ macht diese Erinnerung allgemein. Es ist das Medium der Schrift, das die individuell-esoterische Vergangenheit in den exoterischen Besitz einer kollektiven Erinnerung überführt, indem es sie kommuniziert. Es handelt sich 381 John Malkovich in der Rolle des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau in: Shadow of the Vampire. Regie: E. Elias Merhige, USA 2000. 382 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt / M. 1981 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 326 f.

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dabei um dieselbe Formel authentischer Glaubhaftigkeit, die schon in Aischylos’ Persern nachgelesen werden kann: »Ich war dabei, ihr Perser«;383 »mit eignen Augen Zeuge dessen, was geschehen«, lautet der Topos in Sieben gegen Theben.384 Die nachdrückliche, auf der Bühne inszenierte Versicherung, selbst dabei gewesen zu sein, also »nicht nach andrer Wort« zu berichten,385 verdankt ihre Relevanz einem Verhältnis von erlebnishafter Inklusion und Exklusion, die den Botenbericht im Drama als glaubhafte Mitteilung authentifiziert. Aber es ist die persuasorische Redundanz der Formel bei Zweig, die das Misstrauen gegenüber dem bloß schriftlichen Bericht gleichzeitig bezeugt und zu überwinden sucht – und die das Aufziehen der Medien im Horizont der evidenziellen Beglaubigung präludiert. Aus dem Publikum des athenischen Theaters, das dem berichteten Geschehen Glauben schenken muss, ist im Abstand von zweieinhalb Jahrtausenden die »global public sphere«386 der medientechnischen Gegenwart geworden: Was der Bote auf der Bühne des antiken Theaters den dramatis personae zu übermitteln hat und wovon auch das Publikum nur durch ähnliche Berichte etwas weiß, wäre der sozialen Öffentlichkeit der modernen, global expandierten Mediensphäre längst in gemeinsamer Anschauung bekannt. Die technischen Medien haben die authentische Augen- und Ohrenzeugenschaft grundsätzlich deprivilegiert: Die Position, von der aus das Botenwort bei Aischylos seine Geltung bezog und die noch von Stefan Zweig als Zeitzeuge des mit dem Kaiser zu Grabe getragenen alten Österreich bezogen wird, hat im Informations- oder Medienzeitalter ihre Exklusivität eingebüßt. Dass das Gedächtnis zeitgeschichtlichen Geschehens in der technischen Moderne auch von der medial vermittelten Zeugenschaft derer abhängt, die nicht dabei gewesen, also nicht durch unmittelbare Zugegenheit autorisiert sind und sich gleichwohl als umfassend informiert begreifen, hat Martin Walser in einem Beitrag für die Süddeutschen Zeitung zum Jahreswechsel 1961/62 festgehalten: »Wer war Syngman Rhee? Was bleiben wird, bestimmen die, die nicht dabeigewesen sind.«387 *

383 Aischylos: Die Perser. In: ders.: Die Perser / Sieben gegen Theben. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Emil Staiger. Stuttgart 2005, S. 17 (v. 264 f.). 384 Aischylos: Sieben gegen Theben, S. 52 (v. 41). 385 Aischylos: Die Perser, S. 17 (v. 264 f.). 386 Vgl. Gupta, Ferguson: Beyond ›Culture‹: Space, Identity, and the Politics of Difference. 387 Martin Walser : Ein Jahr und das Gedächtnis. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 302 vom 31. 12. 1961 / 1. 1. 1962, unpag. (Feuilleton). – Syngman Rhee (1875 – 1965) leitete von 1919 bis 1939 die koreanische Exilregierung in Shanghai, kehrte 1947 nach Korea zurück und war von 1948 bis 1960 Präsident der Republik Südkorea.

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Die Konsequenzen für eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses sind daraus erst noch zu ziehen. Wenn im Zuge der massenhaften Verbreitung und Optimierung der ikonischen Massenmedien, die Aufzeichnung, Speicherung und Distribution uno actu zusammenfassen, aus dem ›esoterischen‹ Gedächtnis einzelner das ›exoterische‹ Gedächtnis potenziell aller (und selbst späterer Generationen) entsteht, verliert die authentische, durch zeiträumliche Teilhabe ausgezeichnete Zeitgenossenschaft ihr Privileg. Schon für die Zuschauer der Wochenschauen der 1930er Jahre verliert eine Aussage wie ›ich hatte Hitler gesehen‹ vieles von ihrem Sinn. Technikbedingt entsteht eine Sphäre kollektiver Erinnerung im Modus der Anschaulichkeit, welche die vormals an die physische Anwesenheit gebundene Augen- und Ohrenzeugenschaft aufhebt, indem sie sie universalisiert. Die authentische, in medial unvermittelter Gegenwart fundierte Zeugenschaft reduziert sich demgegenüber auf einen unteilbaren individuellen Rest, der durch keine mediale Repräsentation völlig ersetzt werden kann. – Individuell-inwendiges und kollektiv-ausgelagertes, esoterisches und exoterisches Gedächtnis beginnen sich also mit dem Eintritt in die Sphäre technologisch produzierter Erinnerung zu verschleifen: Was einst kraft leiblich zentrierter Präsenz das Privileg individueller, personengebundener Erinnerung und ausschließlich sprachlich vermittelbarer Gedächtnisinhalt war, ist jenseits dieser medientechnologischen Schwelle zum Gemeingut eines kollektiven Bildgedächtnisses geworden.

3.4

Mediale Synopsis Auch das Zeitgeschehen hat seine Geschichte, und zu einem nicht kleinen Teil macht sie der Bildreporter mit seiner Kamera, der Funkberichter mit seinem Mikrophon.388

Wenn Maurice Halbwachs im Kontext seiner soziologischen Gedächtnistheorie von den cadres sociaux des Erinnerns spricht, meint er die gesellschaftliche Prägung des individuellen Gedächtnisses.389 Im hier verfolgten Zusammenhang handelt es sich jedoch darüber hinaus um mediale Formationen des Erinnerns, also um cadres m¦diaux,390 welche die Inhalte individueller Gedächtnisse material bestimmen. Dass zeitgeschichtlichen Ereignissen ein »ritual framing« widerfährt, das sie – wenn nicht vorwegnehmend, so doch stets wiederholend 388 Dolf Sternberger, Gerhard Storz, W. E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Nach der erweiterten Ausgabe 1967, 3. Auflage 1968. München 1989, S. 223 f. 389 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt / M. 1985, S. 21 ff. 390 Vgl. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 140.

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und symbolisierend – formatiert und auf Dauer stellt, gehört auch nach den Überlegungen von Daniel Dyan und Elihu Katz zu den wesentlichen Merkmalen von media events.391 Zeitgenossenschaft konstituiert sich im zwanzigsten Jahrhundert nicht zuletzt durch gemeinsamen Bezug auf dieselben technisch vermittelten Bilder. In Deutschland haben etwa die Fernsehbilder vom November 1989, also von der Öffnung der Grenzübergänge zwischen BRD und DDR, welche die Erosion der politisch-ideologischen Machtsysteme und -konstellationen erfahrbar werden ließ, solche Gemeinsamkeiten der Bezugnahme gestiftet. Individuelle Erinnerung und kollektives ›Fernsehgedächtnis‹ bilden ein affektiv aufgeladenes Bilderkontinuum, das sich auch in literarischen Texten reflektiert. Was sich dabei unmittelbarer Anschauung und was sich technischer Vermittlung verdankt, geht, wie das folgende Beispiel zeigt, im Rekurs auf einen gemeinsamen Erinnerungshorizont ohne Markierung der Differenz ineinander über : Mir ging es auch so. Ich mußte auch heulen, bei jedem Trabbi, den ich auf der Autobahn gesehen habe. Als Genschman auf dem Balkon der Botschaft stand. Immer wieder ganz heiße Tränen das Gesicht runtergelaufen, weil ich mich so gefreut habe.392

Im nahtlosen Übergang von individueller zu kollektiv-medialer Erinnerung zeigt sich ein Gleiten zwischen ›primären‹ und ›sekundären‹ Formen der Gedächtnisbildung an, dessen Effekte für die Konstitution kollektiver Identitäten erst noch auszumessen sind. Die Synchronisierung individueller Erinnerungen, die das visuelle Massenmedium leistet, affiziert auch die Konzepte der ›Nation‹ oder ›nationalen Identität‹, die bis in die gegenwärtige Theorie hinein vor allem von ihrer Genese und Geschichte her gedacht werden.393 Gewiss bestimmt sich nationale Identität durch einen gemeinsamen Besitz von Erinnerungen – also durch ein »Erbe«, wie schon Ernest Renan feststellt, das jede Generation sich selber schafft.394 Aber nicht nur rituell erinnerte Ursprungs- und Stiftungsereignisse, wie sie die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie vor allem in ihren Fokus genommen hat, bewirken (mit Benjamins Formulierung) eine ›Verschmelzung individueller und kollektiver Materien des Erinnerns‹, sondern jedwede Ereignisse, deren mediale Vermittlung die Gemeinsamkeit kollektiver Bezugnahme auf ›dasselbe‹ ermöglicht. Sie stellen eine Synchronisierung öffentlicher Aufmerksamkeit her, die sich im wörtlichen Sinn als Synopsis zeit391 Vgl. Dayan, Katz: Media Events, S. 12. 392 Sabine Weber : [Aufzeichnungen vom 28. 9. 2000 bis 15. 10. 2000]. In: Sven Lager / Elke Naters (Hg.): the Buch. Leben am pool. Köln 2001, S. 35 – 45, hier S. 38 f. 393 Vgl. etwa den Artikel »Nation« in: Konrad Fuchs, Heribert Raab: Wörterbuch Geschichte. 12. Auflage München 2001, S. 542 f. 394 Vgl. Ernest Renan: Was ist eine Nation? In: Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus. Hg. von Michael Jeismann und Henning Ritter. Leipzig 1993, S. 290 – 311, hier S. 308.

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geschichtlicher Wirklichkeitsauffassung beschreiben lässt. ›Media events‹, schreiben Dyan und Katz, »electrify very large audiences – a nation, several nations, or the world.«395 So bedeutsam auch die erinnernde, rituell praktizierte Vergegenwärtigung gründender Ereignisse der Vergangenheit für die kollektive Identitätsbildung und -kontinuierung ist, muss die theoretische Fixierung auf sie doch die Rolle der Massenmedien als Generatoren kollektiver Gleichzeitigkeit unterschätzen. Denn soziale Gemeinschaften kontinuieren sich nicht allein durch den gemeinsamen diachronen Rückbezug auf historisch inaugurierende Ereignisse, sondern auch durch einen synchronen, ständig aktualisierten oder stets von neuem einsetzenden Bezug auf Daten und Bilder der zeitgeschichtlichen Gegenwart, die sie ebenfalls nach Relevanzgesichtspunkten sortieren und illuminieren. Massenmedien sind demzufolge Simultaneitätsmaschinen, die objektive Chronologie und subjektive Zeit synchronisieren; dadurch arbeiten sie an der Kontinuierung großer Kollektive mit. Nationen, hat Peter Sloterdijk (ebenfalls im Hinblick auf den Mauerfall von 1989, der zugleich zum Gründungsereignis der ›Berliner Republik‹ geworden ist) pointiert formuliert, sind nicht zuletzt als telekommunikative Effekte zu verstehen, also als »Effekte von umfassenden psycho-akustischen Inszenierungen, durch die allein tatsächlich zusammenwachsen kann, was sich zusammen hört, was sich zusammen liest, was sich zusammen fernsieht, was sich zusammen informiert und aufregt.«396 Das auslösende, an den Bildschirmen in Ost- und Westdeutschland verfolgte Ereignis des 9. Novembers gab den Startschuss zu einer kontinuierlichen medialen Synchronisierung, die trotz aller nachhaltigen sozial-politischen Differenzen die ›teletopische‹ Gemeinschaft der Deutschen eingesetzt hat. Dass sich infolge dieser medialen ›Evidenzierung‹ zeitgeschichtlichen Geschehens individuelles und kollektives Gedächtnis verschleifen, wie im vorigen Abschnitt dargelegt wurde, hat Bruno Richard ebenfalls für den Fall der Berliner Mauer – hinüberblickend aber auf den 11. September 2001 – prägnant beschrieben. Unsere visuell bestimmte Erinnerung, schreibt er, ist ganz von den Bildsequenzen des Fernsehens durchdrungen. Als diese Sequenzen im November 1999 zum zehnten Jahrestag erneut in ritueller Endlosschleife über das zyklopische Auge zogen, wurden die individuellen Erinnerungen der Zeitzeugen von kollektiven Bildern überblendet, die sie zehn Jahre nach den Ereignissen von den Ereignissen zu sehen bekamen – die Bilder der ehemaligen Liveberichterstattung waren zu historischen Dokumenten geworden, zur medialen Deckerinnerung. In zwanzig oder dreißig Jahren wird es Zeitzeugen nur noch schwer möglich sein, zwischen den erinnerten Ereignissen und den erinnerten Fernsehbildern dieser Ereignisse zu unterscheiden. 395 Dayan, Katz: Media Events, S. 8. 396 Peter Sloterdijk: Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes. Frankfurt / M. 1998, S. 42 bzw. S. 27.

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Auch die optische Erinnerung an den 11. September 2001 besteht für diejenigen, die nicht an diesem Ort waren, der inzwischen als ›Ground Zero‹ bezeichnet wird, aus Fernsehbildern.397

Die Wiederholungsschleife, welche die Bilder des zeitgeschichtlichen Ereignisses in den einschlägigen Repräsentationen des Fernsehens und anderer Bildmedien wieder und wieder vorführt und (in Videofilmen oder im Internet) abrufbar erhält, kompensiert die Flüchtigkeit oder Fluidität des Ereignisses überhaupt, die sich in der Prägnanz des Augenblicks zu verbrauchen droht.398 Aller Kritik an den rezeptiven Abstumpfungseffekten dieser ›Endlosschleife‹ zum Trotz macht seine Wiederholung doch die Leistung der technischen Bildmedien deutlich, dem Plötzlichen des Ereignisses, dem Fluiden der Gegenwart Dauer zu verleihen und es für unbegrenzte Zugriffe der Wiederholung verfügbar zu halten. Die ›enzyklopädische‹ Wahrnehmung, welche die audiovisuellen Massenmedien ermöglichen, wird durch den Fokus eines ›zyklopischen‹ Blicks zentriert, der die Aufmerksamkeit auf dieselben Ereignisse ausrichtet – und dadurch ein weitgehendes Zusammenfallen individuellen und kollektiven Wissens und Erinnerns bzw. authentischer und universaler Anschaulichkeit bewirkt. Audiovisuelle Medien sind die ständig präsente Folie, auf der sich zeitgeschichtliches Geschehen abspielt. Es ist diese Folie der medialen Repräsentation, auf die sich auch die stoffliche Rekursivität literarischer Texte bezieht. * Ideologiekritisch gesehen geht es bei dieser techno-ikonischen Synchronisierung der Gedächtnisinhalte immer auch um nichts Geringeres als um die Produktion und Ausübung von kollektiver Gedächtnismacht. Denn die gemeinsame Bezugnahme auf zeitgeschichtliche Wirklichkeit erzeugt ein gesellschaftlich geteiltes Bildgedächtnis, das mit jedem aufgezeichneten und ausgestrahlten Ereignis neu bereichert wird. Die visuell-massenmediale ›Eventisierung‹ von Ereignissen erzeugt eine hegemoniale Form der Erinnerung, und sie proklamiert die historische Bedeutung von Ereignissen399 einfach dadurch, dass sie sie im größtmöglichen Maßstab distribuiert. Massenmedien bestimmen vielleicht nicht so sehr, was ihre Empfänger denken, wohl aber woran bzw. worauf sich ihre Aufmerksamkeit richtet. So – durch agenda setting, wie die einschlägige kognitive Medientheorie erklärt –400 produzieren sie die Themen und Gegenstände 397 Bruno Richard: Riten der Historisierung – ein 11. September wird Jahrestag. In: Rituale des Alltags. Hg. von Silvia Bovenschen und Jörg Bong. Frankfurt / M. 2002, S. 212 – 220, hier S. 213. 398 Vgl. dazu auch Thiele: Ereignis und Normalität, S. 129. 399 Vgl. dazu Dayan, Katz: Media Events, S. 8. 400 Vgl. dazu Patrick Rössler : Agenda-Setting: Theoretische Annahmen und empirische Evi-

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zeitgeschichtlicher Wahrnehmung und daran anschließender Erinnerung. Denn es sind mehr und mehr die visuellen Medien der Information, welche die Integration individueller Wahrnehmung durch einen »synoptischen, künstlichen Blick« bewirken.401 Mit einer von dem Soziologen Peter M. Hejl vorgeschlagenen Formulierung lässt sich von einer »Synreferenz« sprechen, welche die kognitiven Voraussetzungen einer gemeinsamen Erfahrung beschreibt, die mehr oder minder alle Mitglieder einer Gruppe verbindet.402 Diese mediale Fokussierung der Sichtweisen auf Momente oder Ereignisse zeitgeschichtlicher Wirklichkeit übernimmt die im rhetorischen System vorgesehene Funktion der enargeia, die in der Evokation von Topoi bestand, die allen Lesern eines literarischen Textes gemeinsam zur Verfügung stehen;403 nicht zufällig ist der Begriff der enargeia durch das lateinische Übertragungswort e-videri mit dem Begriff der Evidenz verknüpft.404 Die Macht des Archivs, das sich im Fernseharchiv405 zeitgeschichtlicher Ereignisse und im davon geprägten Gedächtnis des Medienzeitalters manifestiert, liegt also nicht nur in den Mechanismen der ›Ausschließung‹, die Foucault analysiert, sondern auch in solchen der ›Einschließung‹ in den Raum gemeinsamer Wahrnehmungen, sozial geteilter Erfahrungen und kollektiven Wissens.406 Es erscheint auch deshalb nur folgerichtig, dass den Machtinstanzen politisch totalitärer Systeme in besonderem Maß an der Verfügung über die Mittel der Massenkommunikation liegt. Erst mit der medialen Machthabe über Wahrnehmung und Gedächtnis – also nicht nur über menschliche Handlungs-, sondern auch über Wahrnehmungs- und Erinnerungsbedingungen – gelangt die totalitäre Utopie der vollständigen Beherrschbarkeit des Menschen an ihr Ziel. Schon ein barockes Gedicht Johann Christian Günthers, das gleichzeitig einen der frühesten Belege für den Begriff der Zeitgeschichte liefert, hat diese Be-

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denzen einer Medienwirkungshypothese. Opladen 1997, und den dort (S. 23) wiedergegebenen Satz von Bernard C. Cohen: »The Press may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling readers what to think about«. W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay von Alfred Andersch. 4. Auflage Frankfurt / M. 2003, S. 33. – Sebald vermisst diese Sicht noch in Bezug auf die disparaten Augenzeugenberichte und wenigen literarischen Texte über den Bombenkrieg in Deutschland. Vgl. Peter M. Hejl: Selbstorganisation und Emergenz in sozialen Systemen. In: Wolfgang Krohn, Günter Küppers (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. 2. Auflage Frankfurt / M. 1992, S. 269 – 292, hier S. 280 ff. Vgl. Stefan Goldmann: Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie. In: Der ganze Mensch. Hg. von Hans Jürgen Schings. Frankfurt / M. 1991, 660 – 675. – Dazu auch Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 423 f. Vgl. auch Breitinger : Critische Dichtkunst, S. 67. Vgl. Kreuzer, Schanze: Vorwort der Herausgeber. In: Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 8. Vgl. Ernst: Archive, S. 19.

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mächtigung der Erinnerung durch politische Macht reflektiert: »Die falschheit miethet lob / und kaufft den zeitgeschichten / Das Ohr der Nachwelt ab«.407 Die faktische Definitionsmacht über das, was als ›real‹ apperzipiert und als ›real‹ gewesen erinnert werden kann, liegt jedoch im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr bei den visuellen Massenmedien, und die Propaganda totalitärer Macht hat dies als erste erkannt. Sie betreibt daher die offensive Besetzung der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung und Erinnerung durch eine sorgfältige Produktion und Selektion technischer Bilder, also durch die rituelle Formatierung politisch ›relevanter‹ Ereignisse – verbunden mit deren Ästhetisierung, wie sie etwa die Filmdokumentationen der Nürnberger ›Reichsparteitage‹ oder der Berliner Olympiade von 1936 durch Leni Riefenstahl bezeugen. Schon die durchgeplante Dramaturgie der Ereignisse selbst hat es auf die spektakuläre, einprägsame Inszenierung von vornherein abgesehen.408

3.5

›Wirkwelt‹ und ›Wahrnehmungswelt‹. Inversion der Mimesis

Dass sich im gemeinsamen, medial vermittelten Erinnern an zeitgeschichtliche Ereignisse individuelle und kollektive Erinnerungen verschleifen, hat noch eine weitere, phänomenologisch beschreibbare Konsequenz. Einerseits wird der individuelle Wahrnehmungs- und Erinnerungsraum infolge seiner Technisierung eminent erweitert; andererseits aber werden Wahrnehmungen und Erinnerungen vom Zentrum der individuellen, gegenwärtigen Leiblichkeit tendenziell getrennt, so dass räumliche Zugegenheit für Zeugenschaft gar nicht mehr erforderlich ist. Der Wahrnehmungsbereich, den die technischen Medien konstituieren, reicht stets immens weiter als jede noch so expandierte individuelle Zugriffsmöglichkeit. Der Soziologe Alfred Schütz hat diese leibliche Dezentrierung als Auseinandertreten einer primären, technisch erweiterten ›Wirkwelt‹ und einer sekundären, medial vermittelten ›Wahrnehmungswelt‹ theoretisch beschrieben:409 »ich kann telefonieren, auf dem Fernsehschirm Ereignisse 407 Johann Christian Günther, zitiert nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 15. Bd., Leipzig 1956, Sp. 560 (s.v. Zeitgeschichte«). 408 Vgl. dazu Harald Welzer : Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung der Erinnerung. In: ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, S. 165 – 194, hier S. 176 f. – Die Verdreifachung der Filmbesuche pro Kopf und Jahr zwischen 1933 und 1944 geht nicht zuletzt auf die Attraktivität der Wochenschauen zurück. 409 Vgl. Alfred Schütz: Das Problem der Relevanz. Hg. und erläutert von Richard M. Zaner. Mit einer Einleitung von Thomas Luckmann (1971). Frankfurt / M. 1982, S. 181. – Dazu auch Chung-Chi Yu: Transzendenz und Lebenswelt im Spätwerk von Alfred Schütz. Diss. Bochum 1996, S. 84 ff. – Zu dieser »Aufschichtung der Lebenswelt« vgl. auch den Begriff der »Wirkzone« in Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1,

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auf einem anderen Erdteil verfolgen, während sie geschehen usw.«410 Im gleichen Maß, in dem die technischen Kommunikations- und Massenmedien die Reichweite der sekundären Wahrnehmung expandieren, haben sie die um das Zentrum des Leibes herum organisierte Welt menschlichen Eingreifens und Handelns, »in der ich meine Entwürfe und Vorsätze realisiere«,411 zu einer Provinz verkümmern lassen. Dass die von den modernen Bildmedien geschaffene Umgebung ihre funktionale Handlungs- und Entscheidungsrelevanz einbüßt, bedingt den wirklich-unwirklichen Charakter der technisch vermittelten Welt, den die Medienkritik des technischen Zeitalters ihr immer wieder vorgehalten hat. Indem sie die Primärerfahrung unmittelbaren Zugegenseins durch die Sekundärerfahrung medialer Teilhabe an zeitgeschichtlichem Geschehen ersetzt, zeitigt die universelle Medialisierung und Informatisierung, für die ›Infotainment‹ und ›Informationsdesign‹ als einschlägige Begriffe stehen, Anästhetisierungseffekte. Von einer »Pseudoumgebung« der Massenmedien hat Alfons Silbermann schon 1970 gesprochen;412 Wolfgang Welsch hat dem mit der Diagnose sekundiert, dass der »zunehmenden Bildwerdung der Wirklichkeit« eine Herabstufung der primären Erfahrung zugunsten der sekundären Bildwelt entspricht.413 Hinsichtlich der audiovisuellen Anverwandlung der Wirklichkeit spricht Welsch von einer »Tele-Ontologie«, welche die axiologische Abstufung von konkreter Erfahrungswirklichkeit und medialer Repräsentation invertiert: Die mediale Kopie wird zum Original der Realität, auf die sich ihre Apperzeption bezieht. Diese Inversion erzeugt jedoch einen ›anästhetischen‹ Indifferentismus, von dem etwa Marguerite Duras’ Erfahrung mit der Fernsehpräsenz von Politikern und Journalisten Zeugnis gibt:

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Frankfurt / M. 1979, S. 69. – Das Auseinandertreten von »Information und Handlungsfähigkeit« beobachtet Neil Postman: Wir amüsieren und zu Tode. Frankfurt / M. 1985, S. 88 f., bereits im Hinblick auf die Einführung der Telegrafie; vgl. ebenso Postman: Wir informieren uns zu Tode. In: Die Zeit Nr. 41 vom 2. 10. 1992, S. 61 – 62, hier S. 62. – Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Hermann Lübbe: Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts. Graz, Wien, Köln 1983 (Herkunft und Zukunft; 1), S. 64. Schütz, Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1, S. 71. – Schütz und Luckmann sprechen hier von Wirkzone und Wahrnehmungszone. Allerdings werden beide tendenziell wieder miteinander versöhnt, wenn sie die historisch-technisch gewachsenen Erweiterungen von wahrgenommener und pragmatischer »Welt in Reichweite« (bzw. der Annäherung an die »Ferndinge«) einander angenähert sehen: »Offensichtlich ist hier durch die technologische Entwicklung ein qualitativer Sprung in der Reichweite der Erfahrung und eine Erweiterung der Wirkzone eingetreten, ein Sprung allerdings, der sich an die Reihe der Erfindungen von Bogen und Pfeil, Rauchsignalen, Schießpulver usw. anschließt.« (Ebd.) Alfred Schütz, zit. nach Yu: Transzendenz und Lebenswelt im Spätwerk von Alfred Schütz, S. 84. Alfons Silbermann: Die Konzentration der Massenmedien und ihre Wirkung. Düsseldorf 1970, S. 386. Welsch: Ästhetisches Denken, S. 10 f. – Zum fernsehkritischen Topos der ›Sekundärerfahrung‹ vgl. auch Maletzke: Kulturverfall durch Fernsehen?, S. 51 ff.

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Es gibt nur noch die Repräsentation. Das ist mysteriös. Es liegt vielleicht nicht mehr an ihnen allein, sondern an dem Apparat, schwer zu glauben, daß alles, was sie ansprechen, von Bedeutungslosigkeit befallen wird. Und doch schiebt sich, sobald sie erscheinen, ein Filter zwischen ihr Bild und uns, die wir zuschauen. Als ob sich eine Farbveränderung vollzöge und der Empfänger zum Grau, zur Graukrankheit überwechselte.414

Der Anästhetisierungseffekt der audiovisuellen Medien resultiert aus einer mit dem Grad technischer Perfektion zunehmenden Auflösung der leibzentrierten Erfahrungswelt, die sich als Ort ›realer Gegenwart‹ weiß. Indem sie den anthropologisch ursprünglichen Konnex von Lebenswelt, Wirkwelt und Wahrnehmungswelt auseinanderreißt, setzt die Medialisierung des Faktischen dessen Realitätskern aufs Spiel, der sich nicht zuletzt im Widerstand der Dinge gegen ihre Manipulation manifestiert.415 Die ihrerseits unbegrenzt manipulierbaren elektronischen Bilder leisten solchen Widerstand nicht. Die konstitutive Offenheit und Erweiterungsfähigkeit der Lebenswelt, die zur ontologischen Situation des Menschen gehört, wendet sich gegen ihr eigenes Zentrum, das Subjekt. Dessen Zentralität wird damit ebenso fragwürdig wie der ontologische Bestand und die epistemische Verlässlichkeit der Wirklichkeit selbst. Aller virtuellen Partizipation am Weltgeschehen zum Trotz hat die medientechnische Moderne die Empfänger als reale Handlungs- und Kommunikationssubjekte offenbar marginalisiert – umso mehr, als die Kommunikationsprozesse der globalen Informationsmedien in der Regel einseitig oder ›unidirektional‹ verlaufen. Dass das Fernsehgerät Botschaften und Bilder empfängt, aber nicht sendet, gehört – anknüpfend bereits an Brechts anfangs der neunzehnhundertdreißiger Jahre formulierte Radiotheorie –416 zu den konstanten Topoi der Fernsehkritik: Von Hans Magnus Enzensbergers 1970 publiziertem Baukasten zu einer Theorie der Medien bis zu Vil¦m Flussers Medienphänomenologie lässt sich diese Kritik nachlesen.417 Die medienkritische Diskussion der frühen 414 Marguerite Duras: Der Fernseher. In: Marguerite Duras: Die grünen Augen. Texte zum Kino. Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. München 1987, S. 47 – 49, hier S. 49. 415 Zur Auffassung von einer »manipulativen Zone«, die den »Realitätskern der Lebenswelt« darstelle, vgl. George Herbert Mead: The Philosophy of the Present. Ed. by Arthur E. Murphy. Chicago 1980, S. 124 f. – Vgl. auch Nicholas Mirzoeff: What is visual culture? In: ders. (Hg.): The Visual Culture Reader. The Visual Culture Reader. London, New York 1998, 3 – 13, hier S. 8 (mit Bezug auf die virtuellen Bilder der »›smart‹ bombs« im Golfkrieg: »what then are we actually seeing in those films?«). 416 Vgl. Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks [1932]. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Bd. 21: Schriften I: 1914 – 1933. Berlin und Weimar, Frankfurt / M. 1992, S. 552 – 557. 417 Vgl. Hans Magnus Enzensberger : Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20 (1970), S. 159 – 186, hier S. 160; Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, S. 188; vgl. auch Flusser : Kommunikologie, S. 64. – Anstelle der bloßen Kritik an den Medien als Manipulatoren

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siebziger Jahre bringt die utopische Idee einer ausgeglichenen, paritätischen und sozusagen auf Augenhöhe zwischen Sender und Empfänger gebrachten audiovisuellen Kommunikation auf den Begriff des »sozialistischen Fernsehens«; dessen Reziprozität verspricht die Verwandlung passiv informierter Objekte in kommunikativ handlungsfähige Subjekte, die das ›kapitalistische‹ Informationssystem jedoch nicht nur nicht vorsieht, sondern auch vermeiden will.418 Das Verschwinden dieses kommunikativ selbstbestimmten Subjekts, das Foucaults eindringliche Metapher in Les mots et les choses (1966) mit einem »Gesicht aus Sand« am »Meeresufer« des abendländischen Wissens vergleicht,419 hat sich den Kritikern des westlichen Mediensystems zufolge im einseitigen Monolog der Massenmedien – unterhalb der Selbstwahrnehmungsschwelle ihrer Teilhaber – bereits ereignet: Vor dem Apparat, der ihn mit Bildern und Informationen versorgt und zugleich auf eine Schnittstelle oder einen Knotenpunkt von medialen Netzdialogen und Kommunikationsprozessen reduziert, ist der Einzelne auch für Flusser bereits ausgelöscht.420

3.6

Zeitgeschichte als Nachgeschichte

Dieses Verschwinden des Subjekts wird von den Theoretikern des ›Posthistoire‹ nicht zuletzt als medientechnischer Effekt begriffen. Nicht zufällig wird der Begriff der ›Nachgeschichte‹ in den 1960er Jahren, also zeitgleich mit der Durchsetzung des Fernsehens als visuelles Massenmedium, bei Arnold Gehlen zum ersten Mal systematisch theoretisiert,421 auch wenn sich das Bewusstsein der Nachgeschichtlichkeit bereits weit früher eingestellt zu haben scheint.422 Denn wenn es stimmt, dass ›Geschichte‹ sich als interessante Kategorie

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des Bewusstseins setzt Enzensberger auf die Wechselseitigkeit von Sendern und Empfängern, die »jeden zum Manipulateur […] machen«: also auf »netzartige Kommunikationsmodelle« (Enzensberger : Baukasten zu einer Theorie der Medien, S. 166 bzw. S. 170), die mit dem Internet eine elektronische Verwirklichungsform erlebt haben. Vgl. etwa Götz Dahlmüller : 6 Thesen zum Fernsehen. In: kürbiskern 3 (1971), S. 457 – 460, hier S. 457. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt / M. 1974, 462. Vgl. dazu u. a. Vil¦m Flusser : Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung. Bensheim und Düsseldorf 1994 (Schriften. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Bd. 3). Vgl. Arnold Gehlen: Über kulturelle Kristallisation. In: ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied, Berlin 1963 (Soziologische Texte; 17), S. 311 – 328, sowie ders.: Ende der Geschichte? In: ders.: Einblicke. Frankfurt / M. 1975, S. 115 – 133, zum Fernsehen vgl. hier etwa S. 120. Vgl. dazu etwa Grabbes (schon in der Einleitung zitiertes) Drama Napoleon oder die hundert Tage (1829 / 30), sowie die Arbeit von Barbara Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion, deren ursprünglicher Untertitel lautete: »Wie oft war die Geschichte schon zu Ende?«

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menschlichen Daseins erst auftut und thematisch wird, wo die Subjekte bereits an ihrer Teilhabe am immer rasanter ablaufenden Geschichtsprozess zu zweifeln beginnen, mag mit der Besinnung auf Geschichte die Nachgeschichte bereits eingeleitet sein. Was im Medienzeitalter dagegen mit dem Verschwinden des Subjekts und seiner Geschichte speziell gemeint ist, lässt sich aus semiotischer und systemtheoretischer Sicht präzisieren. Die distanzierende Qualität ikonischer Zeichen, abbildend einzustehen für etwas Abwesendes,423 also im Falle zeitgeschichtlicher Repräsentationen für nicht mehr gegenwärtige Ereignisse und Prozesse, wird in der Präsenzsuggestion424 der technischen Bilder für das wahrnehmende Bewusstsein eingezogen. Was die kritische Theorie Adornos in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als Ausschluss jeder reflektierenden Position gegenüber dem Repräsentierten inkriminiert,425 beschreiben neuere Medientheorien als systemischen Effekt. Die modernen Massenmedien der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erscheinen demnach als autopoietisches System ohne übergeordnete Steuerungsinstanz und Entscheidungszentralen, also als Bestandteile von geschlossenen »Netzdialogen« der Massenkultur, deren Kommunikationsprozesse nur ›Funktionen von Funktionen‹ innerhalb derselben Struktur bilden.426 Weil die dadurch hergestellte Medienrealität die Möglichkeiten der Erfahrung selbst begrenzt und definiert, ist sie von ›transzendentaler‹, apriorischer Qualität. Ihre im Systemcharakter begründete Geschlossenheit beseitigt die Möglichkeit autonomer,

423 Vgl. Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. 2., unveränderte Auflage München 1992, S. 104. 424 Joachim Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, S. 101. – Susan Sontag (Über Fotografie, S. 22) spricht aufgrund desselben suggestiven Charakters von der »Pseudopräsenz« fotografischer Bilder. 425 Die durchaus von antimodernistischen Ressentiments geprägte Medien- und Kulturtheorie Adornos hat Kino und Fernsehen aufgrund ihrer »Tendenz, das Bewußtsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen«, als totalitär kritisiert (Theodor W. Adorno: Prolog zum Fernsehen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 10,2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Lizenzausgabe Darmstadt 1998, S. 507 – 517, hier S. 507). Die Reflexionsfeindlichkeit dieser audiovisuellen ›Besatzungsmächte‹ der Sinne dichtet für Adorno die menschliche Wahrnehmung gegen jede autonome Kritik ab: »Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie.« (S. 508) Diese den visuellen Medien nachgesagte Relexionsfeindlichkeit gehört freilich zur Topik der Medienkritik von jeher. Schon Goethes (von Adorno zitierte) Feststellung, im Theater werde »durch die Belustigung des Gesichts und Gehörs die Reflexion sehr eingeschränkt« (Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 17, hg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhard Baumann und Johannes John. München 1982, S. 715 – 953, hier S. 774 (Nr. 307)), antizipiert die Kritik des konzertierten ›Amüsierbetriebs‹ aus »Kino, Rundfunk, illustrierten Zeitschriften, […] funnies und comic books«, die Adorno und Horkheimer an der avancierten USamerikanischen Medienrealität üben, ziemlich genau. 426 Vgl. etwa Flusser : Kommunikologie, insbesondere S. 69 – 73.

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empirischer Kritik von einem Standpunkt ›außerhalb‹ des Systems:427 Anstatt eine autonome Wirklichkeit transparent zu repräsentieren, okkupiert die technische Ikonik der medialen Moderne die repräsentierten Ereignisse selbst. Unter den Bedingungen technischer Bildmedialität wird der Grundsatz des philosophischen Sensualismus esse est percipii wörtlich genommen: Die ontologische Leitdifferenz von ›Sein‹ und ›Nicht-Sein‹ wird im Medienzeitalter in diejenige von ›sichtbar‹ und ›nicht-sichtbar‹ (bzw. ›visuell präsent‹ und ›visuell nichtpräsent‹) übersetzt. Die Anschaulichkeit elektronischer oder gedruckter Bilder wird zum gültigen, weil empirisch unhintergehbaren Faktizitäts- und Existenzbeweis.428 Weil die audiovisuellen Informationstechnologien Rückkopplungsschleifen anlegen zwischen Ereignis, synchroner Aufzeichnung und Übertragung, verwandeln sie zeitgeschichtliche Wirklichkeit selbst in ein Medienprodukt. Dass der technische Apparat ›Geschichte‹ überhaupt aufhebt oder beendet, gilt der postmodernistischen Version eines von Nietzsche her gedachten ›Geschichtsverdachts‹ bei Vil¦m Flusser oder Jean Baudrillard demnach vor allem als Technikfolge: Fernseh-Apparate, schreibt Flusser, »sind schwarze Kisten, welche Geschichte verschlucken und Nachgeschichte ausspucken. Technische Bilder sind transkodierte Geschichten.«429 Geschichte als Singular hat sich in den Plural von (Ereignis-)Geschichten aufgelöst; in der immer präziseren Auflösung der Bildschirme löst sich das Konzept der Geschichte selber auf. Die technischen Apparate unterbinden, Flusser zufolge, nicht nur die ›auratische‹ Wahrnehmung und Kontemplation, die schon Walter Benjamin mit der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks abhanden kommen sah, sondern sabotieren sogar das Diachronieprinzip historischen Denkens schlechthin. Denn die Ersetzung der Linearität der Schrift durch die Simultaneität der technischen Bilder ›entsetzt‹ oder suspendiert mit dem skripturalen Code auch die »Bewusstseinsform des Verlaufs«, die jegliches geschichtliche Denken bestimmt:430 Geschichte, bemerkt Flusser, wird mehr und mehr zum 427 Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 14 ff. – Diese Insistenz auf der Unverfügbarkeit der autonomen Subjektposition angesichts einer alles durchdringenden gesellschaftlichen ›Macht‹ stellt die kritische Theorie mit der Diskurstheorie Foucaults und der Systemtheorie Luhmanns auf einen gemeinsamen theoretischen Nenner. Zur Kritik vgl. Albrecht Koschorke: Die Grenzen des Systems und die Grenzen der Systemtheorie. In: Widerstände der Systemtheorie. Kulturhistorische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann. Hg. von Albrecht Koschorke und Cornelia Vismann. Berlin 1999, S. 49 – 60. 428 Vgl. dazu auch Peter M. Spangenberg: Komplexitätsebenen moderner Öffentlichkeit. Über die mediale Emergenz kommunikativer Wirklichkeitskonstruktionen und ihre Verfremdung durch technische Visualisierung. In: Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. Hg. von Rudolf Maresch. München 1996, S. 263 – 277, hier 268. – Vgl. auch Sontag: Über Fotografie, S. 26. 429 Flusser : Nachgeschichte, S. 78. 430 Vgl. Flusser : Kommunikologie, S. 83: »In der okzidentalen kodifizierten Welt – in jener, an der wir teilnehmen und deren Krise uns betrifft – ist seit ihrem Beginn vor etwa 3500 Jahren

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»Input von Bilderproduktion«.431 Dass die Allgegenwärtigkeit der Kamera suggeriert, Zeitgeschichte bestehe lediglich »aus interessanten, photographierenswerten Ereignissen«,432 wie Susan Sontag feststellt, vertauscht jedoch nicht nur die Stellen im Verhältnis von Gegenwart und Geschichte, sondern auch im logischen Verhältnis von Ereignis und medialer Repräsentation. Dieselbe Inversion der logischen Verweisrichtungen zwischen Repräsentation und Repräsentiertem hat abermals Siegfried Kracauer bereits 1927 diagnostiziert. Das technische Bild dient nicht bloß der Vermittlung geschichtlichen Geschehens; umgekehrt wird vielmehr das Ereignis zur Funktion des übermittelnden Bildes: »In Genf tagt der Völkerbundkongreß. Er dient dazu, die Herren Stresemann und Briand vor dem Hoteleingang im Gespräch zu zeigen.«433 Wenn in Irmgard Keuns zehn Jahre nach Kracauers Essay erschienenem Roman Nach Mitternacht (1937) die politischen Machthaber – es sind bereits die des NS-Staates – mit den Stars des Kinos verglichen werden, heißt es über das ceremonial event der öffentlichen (Selbst-)Darstellung von Politik ganz ähnlich: »Auf dem langen Balkon des Opernhauses stellen die jetzigen berühmten Männer sich mit Feierlichkeit auf […]. Sie taten eigentlich nichts Interessantes, aber man durfte sie ansehen.«434 Dass der Primat der technischen Bilder, der sich in dieser Usurpation der Stelle des Ereignisses durch seine Repräsentationen anzeigt, damit die Auflösung der Geschichte selbst bewirkt, hat besonders die Theorie des ›Posthistoire‹ gefolgert. Die Zurichtung des Realen für die technische Repräsentation hat etwa Jean Baudrillard mehr als sechzig Jahre nach Kracauer erneut konstatiert, aber bis zum ›Ende der Geschichte‹ weitergedacht: Genauer gesagt, gibt es keine Tat, kein Ereignis mehr, das sich nicht im technischen Bild oder auf dem Bildschirm aufhebt, keine Aktion, die nicht danach strebt, fotografiert, gefilmt, aufgenommen zu werden, die nicht begehrt, in diesen Gedächtnisspeicher einzugehen und als solche ewig reproduzierbar zu werden. […] Der Anspruch ist überall potentiell zu existieren und auf allen Bildschirmen und in allen Programmen präsent zu sein, dieser Zwang wird zum magischen Bedürfnis. Das ist der Taumel der black box.435

Ereignis, Medien und Gedächtnis bilden einen Zusammenhang, der Zeitgeschichte als realen Geschehenszusammenhang ›aufhebt‹ und jedes Ereignis in

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der alphabetische Code der ›offizielle‹ Träger jener Hauptinformation, welche ›Geschichte‹ genannt wird. Wir erleben, erkennen und werten die Welt hauptsächlich durch die Kategorien des alphabetischen Codes.« Flusser : Medienkultur, S. 139 f. Susan Sontag: Über Fotografie, München 1978, S. 16 f. Vgl. ebenfalls bereits Kracauer : Die Photographie, S. 92. Irmgard Keun: Nach Mitternacht. München 2002, S. 36. Baudrillard: Die Illusion des Endes, S. 66 f.

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einen Effekt massenmedialer Simulationen auflöst.436 Hinter der Luzidität der Bildschirme sind die verifizierbaren Spuren des Faktischen verloschen. – Dieser Simulationsverdacht vernichtet jedoch die Suggestivität der technischen Bilder, welche den Schatten der platonischen Höhle zur Evidenz subjektiv unbestreitbarer Realität verhalf. »Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen«, heißt es dementsprechend bereits vor der Einführung des Films mit einem ChamissoZitat im Motto zu Wilhelm Raabes Akten des Vogelsangs (1896), »[s]ehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.«437 * Schien bereits am Ende des 19. Jahrhunderts dem Chemiker und Medienvisionär Raphael Eduard Liesegang mit der Totalvisualisierung der Wirklichkeit im Fernsehen der »Zweck« der menschlichen Gattungsgeschichte erreicht, so wiederholt fast ein Jahrhundert später der Medienphilosoph Vil¦m Flusser dieselbe technologische Teleologie im posthistorischen Sinn: »Der Apparat ist das Ziel der Geschichte.«438 Diese epistemische Auflösung der Geschichte in der nichttranszendierbaren Oberfläche technischer Bilder affiziert auch die Möglichkeit des Erzählens. Denn die posthistorische Konsequenz, dass jegliches Nacherzählen zeitgeschichtlicher Ereignisse »unmöglich geworden« sei, da es sich dabei »per Definition (re-citatum) um das mögliche Zurückverfolgen eines Sinns handelt«, den das Zeitalter der massenmedialen Information gerade dementiert,439 stellt die Bedingung der Möglichkeit der in den folgenden Kapiteln untersuchten Texte in Frage. Dass es sie dennoch gibt, lenkt umgekehrt den Blick auf jene poetischen Möglichkeiten, welche die Literatur ihrer medialisierten Umwelt selbst abgewinnt. Auch wenn die Rede vom ›Ende der Geschichte‹ seit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 in der publizistischen Öffentlichkeit tendenziell verstummt zu sein scheint und der geschichtsträchtigen Dynamik vom clash of cultures Platz gemacht hat,440 bildet die Rede vom Verlust der 436 Vgl. besonders Baudrillards Schriften: La guerre du golfe n’a pas lieu. Paris 1991, und Baudrillard: Das Jahr 2000 findet nicht statt. Aus dem Französischen übersetzt von Peter Geble und Marianne Karbe. Berlin 1990 (Internationaler Merve-Diskurs; 156). 437 Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs. In: ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Bd. 19. Bearbeitet von Hans Finck und Hans Jürgen Meinerts. Göttingen 1970, S. 211 – 408, hier S. 212. 438 Flusser : Nachgeschichte, S. 79. 439 Baudrillard: Die Illusion des Endes, S. 10. 440 Vgl. Gustav Seibt: Geschichtskolumne. Universalhistorie. In: Merkur 58 (2004), H. 3, S. 244 – 249, hier S. 244: »Vom Ende der Geschichte spricht niemand mehr, vom Kampf der Kulturen sprechen nicht wenige.« – Vgl. auch Albrecht von Lucke: 9 – 11 – 01. DrehzahlMythos. In: Ästhetik& Kommunikation 118 (2002), 33. Jg., S. 17 – 19, hier S. 19. – Dass Lutz Niethammers Bestandsaufnahme der Theorie der Nachgeschichte ausgerechnet im ge-

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historischen Dimension des Erzählens in der medientechnischen Moderne eines der bis heute wirksamsten Paradigmen geschichtsphilosophischer Reflexion. Die im Folgenden behandelten Texte beweisen jedoch das Gegenteil: Bis in die Gegenwart hinein sind zeitgeschichtliche Ereignisse als Anlässe literarischen Erzählens wahrgenommen worden.

3.7

Visual History und literarische Texte

Dass Geschichte ›in Bilder zerfällt‹, wie Benjamin schrieb, bedeutet daher nicht das Ende narrativer Diskursivierungen von Ereignissen und Geschichte. Auch technische Medien sind ja nicht ausschließlich bildlicher Art, so wie beinah jede visuelle Nachricht in Sprache eingebettet, also von Text(en) umgeben, erläutert, ergänzt, kommentiert und ›besprochen‹ wird. Und Bildsequenzen sind ihrerseits nicht allein visuell, sondern ebenfalls narrativ strukturiert, wie die Filmsemiotik – im Einspruch gegen die Verabsolutierung des Visuellen – dargelegt hat.441 Dennoch kommt eine kulturwissenschaftliche oder historische Gedächtnistheorie schwerlich umhin, die Rolle des Visuellen in der medialen Moderne für die Konstitution von Erinnerung und damit auch für literarische Texte zu berücksichtigen. Dass die epistemische Anordnung von Repräsentation und Repräsentiertem dabei die ontologische Ordnung invertiert, dass also – schlägt man in einem weiten Verständnis die ›künstliche‹ Nachahmung der Wirklichkeit durch technische Medien zur ›Kunst‹ – nach Oscar Wildes aphoristischem Diktum nicht mehr die Kunst das Leben nachahmt, sondern das Leben die Kunst,442 prägt sich in den Ästhetisierungen zeitgeschichtlicher Wirklichkeit aus, an denen jede literarische Einlassung auf zeitgeschichtliche Ereignisse Maß zu nehmen hat. Dass technische Bilder längst zur dominanten Vermittlungsform, also zum Leitmedium der Wahrnehmung zeitgeschichtlicher Wirklichkeit oder der ›Geschichtskultur‹ überhaupt avanciert sind, wurde im Zusammenhang der kulturwissenschaftlichen Forschung erst von den visual culture studies deutlich gemacht, die sich auf interdisziplinäre Weise der kulturellen Konstruktionen des schichtsträchtigen Jahr 1989 erschien, weist die Geschichte als große Ironikerin aus. Lutz Niethammer : Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Unter Mitarbeit von Dirk van Laak. Reinbek bei Hamburg 1989. 441 Vgl. dazu Gustav Frank: Textparadigma kontra visueller Imperativ : 20 Jahre Visual Culture Studies als Herausforderung der Literaturwissenschaft. In: IASL 31 (2006), H. 2, S. 26 – 89, hier S. 69. 442 »Paradox though it may seem – and paradoxes are always dangerous things – it is non the less true that Life imitates art far more than art imitates life…« Oscar Wilde: The Decay of Lying. An observation [1889]. In: ders.: Complete Works. With an Introduction by Vyvyan Holland. London, Glasgow 1967, S. 970 – 992, hier S. 982.

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Visuellen in Kunst, Medien und Alltag widmen.443 Ihnen zufolge bricht das »scopic regime«444 der medientechnologischen Moderne mit der Durchsetzung des Fernsehens die Dominanz des ›textuellen Regimes‹, das bis in die neunzehnhundertachtziger Jahre den wissenschaftlichen Zugang zu den Repräsentationen der Wirklichkeit bestimmte. Vor allem die angloamerikanische Kulturwissenschaft hat daher dem linguistic turn einen – methodisch freilich weniger radikalen – visual oder pictorial turn entgegengesetzt. Sie folgt damit der Einsicht in die umfassende makro- wie mikroskopische Visualisierung der Wirklichkeit in der gegenwärtigen »era of the visual screen«. Ihre Grundeinsicht lautet: Human experience is now more visual and visualized than ever before from the satellite picture to medical images of the interior of the human body. In the era of the visual screen, your viewpoint is crucial. For most people in the United States, life is mediated through television and, to a lesser extend, film.445

Die ›Welt-als-Text‹, lautet die Provokation der visual studies an die Adresse der »linguistic-based movements«, wird abgelöst durch die ›Welt-als-Bild‹. Auch wenn das Fernsehen kein Medium reiner Bildlichkeit ist, sondern eines, »in which images, sounds, and words ›flow‹ into one another«,446 bleibt in Hinsicht auf literarische Adaptionen zeitgeschichtlicher Wirklichkeit festzuhalten, dass populäre Funktionen der »Unterhaltung, Bildung, erst recht Information […] schon lange nicht mehr vorrangig von der Literatur erfüllt« werden, wie Oliver Jahraus konstatiert.447 Die Umstellung von Texten auf Bilder, wie sie von einer bildorientierten Kulturwissenschaft beschrieben und zur praktischen Forschungsperspektive gemacht worden ist, bestimmt die hochgradig von technisch-ikonischen Medien bestimmte Wahrnehmung zeitgeschichtlichen Geschehens zweifellos. Einerseits gilt, that spectatorship (the look, the gaze, the glance, the practices of observation, surveillance and visual pleasure) may be as deep a problem as various forms of reading (decipherment, decoding, interpretation, etc.) and that visual experience or ›visual literacy‹ might not be fully explicable in the model of textuality.448 443 Vgl. etwa Margaret Dikovitskaya: Visual Culture. The Study of the Visual after the Cultural Turn. London 2005, insbesondere ihren umfassenden bibliografischen Bericht S. 6 – 45. 444 Vgl. Martin Jay : Scopic Regimes of Modernity. In: The Visual Culture Reader. Ed., with introductions by Nicholas Mirzoeff. London, New York 1998, S. 66 – 69. 445 Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture. London, New York 1999, S. 1. 446 W[illiam] J.T[homas] Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago 1994, S. 3 f. »The interaction of pictures and texts is constitutive of representation as such.« (S. 5) 447 Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist 2003, S. 17. 448 Mitchell: Picture Theory, S. 16. – Vgl. Mirzoeff: What is Visual Culture?, S. 5.

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Andererseits gilt aber auch, dass literarische Einlassungen auf zeitgeschichtliche Wirklichkeit nur unter Einbeziehung der visuellen ›scripts‹ medialer Repräsentationen angemessen beschrieben werden können. – Die Interpretation literarischer Texte, die sich in diesem medialen Feld bewegen, hat daraus Konsequenzen zu ziehen. Dass nicht mehr Texte, sondern technische Bilder das beherrschende Medium der Apperzeption von Zeitgeschichte bilden, richtet die vorliegende Untersuchung jedoch gerade von neuem auf literarische Texte aus. Statt den Blickpunkt auf die technischen Medien zeitgeschichtlicher Repräsentation zu konzentrieren, führt die Berücksichtigung der Medien einer technischvisuellen Kultur nicht von literarischen Texten weg, sondern kommt auf sie zurück. Die folgenden Kapitel machen daher im Horizont medien-, bild- und kulturwissenschaftlicher Überlegungen Gebrauch von genuin philologischen Verfahren der Textanalyse und -interpretation:449 Geschieht doch der Rekurs der Texte auf ihre bildmediale ›Umwelt‹ selbst zu den Bedingungen ihrer eigenen Literarizität, also durch genau zu beschreibende ästhetische Verfahren.

449 Zur Diskussion um Kulturwissenschaft und ›Rephilologisierung‹ vgl. den Band von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg 2002.

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III. Ereignisse und Texte DIE ZAHLEN, im Bund mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis.1

Die folgenden Kapitel versammeln exemplarische Untersuchungen und Überlegungen zu literarischen Texten, die auf eine Reihe signifikanter Daten der jüngeren Zeitgeschichte bezogen sind. Die Problematik des Ereignisbegriffs, seine Definitions- und Abgrenzungsprobleme wurden in den vorausgegangenen Überlegungen zum Ereignisbegriff vertieft, während auf die dort bereits thematisch gewordenen Probleme der Erzählbarkeit in den literaturgeschichtlichen Darlegungen zur ›Poetik der Zeitgeschichte‹ eingegangen worden ist. Ging es im vorangegangenen Teil um theoretische und literaturhistorische Aspekte des Ereignisses und seiner Darstellung, so geht es im folgenden Teil um die Frage, in welcher Weise konkrete zeitgeschichtliche Ereignisse zur literarischen Darstellung gelangen. Die Gliederung des vorliegenden Teils orientiert sich deshalb nicht an der Chronologie literarischer Texte, sondern an der Chronologie des historischen Kalenders. ›1968‹, ›1977‹, ›1989‹ oder ›9 / 11‹ markieren rezente Daten oder ›Geschichtszeichen‹,2 denen sich literarische Texte zuordnen. Die Auswahl legt den Schwerpunkt auf solche Texte, für deren Narrativ das jeweilige Ereignis eine konstitutive Rolle spielt. Dennoch verfolgen die einzelnen Kapitel die Spuren dieses Problemzusammenhangs auch auf solche Textdokumente hin, die oft nur am Rande auf zeitgeschichtliche Ereignisse bezogen sind. So wenig abgeschlossen der Deutungshorizont zeitgeschichtlicher Ereignisse grundsätzlich ist und so wenig sich auch die Menge der Texte, die auf sie Bezug nehmen, abschließen lässt, so wenig legt die hier vorgenommene Auswahl einen definiten Korpus fest. Schon weil fast ständig neue, stofflich relevante Texte hinzukommen, handelt es sich um eine offene Menge: Erschöpfend behandeln lässt sich der Gegenstand dieser Untersuchung jedenfalls nicht. Obschon sie einige lite1 Paul Celan: Die Zahlen. In: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Bd. 2: Gedichte II. 2. Auflage Frankfurt/M. 1992, S. 17. 2 Heinz D. Kittsteiner (Hg.): Gesichtszeichen. Köln, Weimar, Wien 1999. – Vgl. den Begriff zuvor bei Jean-FranÅois Lyotard: Der Widerstreit. Übersetzt von Joseph Vogl. Mit einer Bibliographie zum Gesamtwerk Lyotards von Reinhold Clausjürgens. 2., korrigierte Auflage München 1989 (Supplemente; 6), S. 251 – 299.

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Ereignisse und Texte

rarische Texte schwerpunktmäßig berücksichtigt, versteht sie sich daher als grundsätzlich ergänzungsoffen. Wenn also Leser die Reihe der thematisierten Texte aus der eigenen Lektüreerfahrung ergänzen, bestätigen sie die Behauptung, dass Literatur allen hier erörterten Vermittlungs- und Darstellungsproblemen zum Trotz offenbar nicht ohne Bezugnahmen auf zeitgenössische geschichtliche Wirklichkeit auskommen kann oder will. Literarische Texte bekräftigen das chronikalische Prinzip und die Relevanz der »Zahlen« gelegentlich dadurch selbst, dass sie es ihrer Struktur zugrunde legen (wie Uwe Johnsons Jahrestage, Christa Wolfs Ein Tag im Jahr oder Günter Grass’ Mein Jahrhundert). So naheliegend die gewählte Ordnung zeitgeschichtlicher ›Daten‹ als Folge stofflicher Bezugspunkte auf den ersten Blick erscheint, an der entlang sich die untersuchten Texte aufreihen lassen, so wiederholen sich darin doch auf einen zweiten Blick die Paradoxien, von denen schon ausführlich die Rede war. Während es das primäre Kriterium der berücksichtigten Texte ausmacht, dass sie sich auf zeitlich und räumlich terminierte, außerliterarisch dokumentierte, medialisierte und technisch visualisierte Ereignisse beziehen, widerspricht die kalendarische Verzeichnung dem Begriff des Ereignisses selbst. In der chronologischen Ordnung, also der Sequenz diskreter Daten, die »dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine Zeitstelle« zuweist, dokumentiert sich ein Kontinuum geschichtlicher Erfahrung, das vom einzelnen Ereignis gerade ausgesetzt wird. In ihr repräsentiert sich jene »Leistung der Chockabwehr«, von der Benjamin (im Rekurs auf Freud) gesprochen hat.3 Andererseits handelt es sich um eine diskontinuierliche, von punktuellen Ereignissen anstelle von regelmäßigen wiederkehrenden Daten konstituierte Reihe, deren a-rhythmische Struktur den Gedanken an ein Kontinuum geschichtlicher ›Entwicklung‹ nicht unbedingt nahelegt. Damit aber verweisen die ›Schlüsseldaten‹4 von ›1968‹ bis ›9 / 11‹, welche die Markierungen der Zeitgeschichte wie die Stationen dieses Teils der Untersuchung bilden, auf das konkret Ereignishafte des von ihnen abstrakt Bezeichneten zurück. Der chronologische Code trägt somit, genau besehen, die Spannung zwischen Ereignis (Chock) und geschichtlicher Verzeichnung in sich aus: Er formuliert mit dem ›positivistischen‹ Stoffbezug in nuce zugleich einen Aspekt des Problems, an dem die Texte sich abarbeiten. Die zeitgeschichtlichen Daten, welche die Struktur des folgenden Teils bilden, weisen somit eine kompliziertere Semiotik auf, als der positivistische Anschein auf den ersten Blick erkennen lässt. Denn was die »ROTEN ZAHLEN«5 des historischen Kalenders vermerken, ist stets bereits in semiotische und ästheti3 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 615. 4 Vgl. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 34. 5 Vgl. Arnold Stadler : Sehnsucht. Versuch über das erste Mal. Köln 2002, S. 19.

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sche Verarbeitungsprozesse eingegangen. Die Daten der jüngeren Zeitgeschichte bilden stets Kristallisationspunkte semantischer Prozesse, die sie auf vieldeutige Weise mit Bedeutung anreichern. Markiert der Zahlencode ›9.11.‹ einen ›Chronotopos‹ innerhalb eines national zugeschnittenen Gedächtnisraums, so stellt der Zahlenschlüssel ›9 / 11‹ einen solchen innerhalb des globalen Informations- und Bildgedächtnisses dar.6 Die Geschichtszeichen, deren ChronoLogik die Untersuchung folgt, sind also gewissermaßen öffentlich lesbare Chiffren,7 die zum Ausgangspunkt narrativer Deutungen und Entfaltungen geworden sind. Als solche Geschichtszeichen kehren sie in den Überschriften der folgenden Kapitel wieder. Indem literarische Texte auf Daten der Zeitgeschichte zurückkommen, werden sie als Geschichtszeichen oder ›Semiophoren‹,8 also als komplexe symbolische Sinnträger des kollektiven Gedächtnisses, aufgerufen und neu interpretiert. Mit dieser narrativen Entfaltung und Interpretation zeitgeschichtlicher Daten aber schreiben sich die Texte selbst in den semantischen Raum ein, den die Daten auf chiffrierte Weise eröffnen. * Die schwierigen, wenn nicht gar paradoxen Möglichkeiten literarischer Texte, unter den Bedingungen des Informations- und Medienzeitalters von zeitgeschichtlichen Ereignissen zu handeln, bilden den durchgängigen Gegenstand der folgenden Kapitel. Was soeben als ›positivistischer‹ Bezug der literarischen Texte auf Stoffe der rezenten Zeitgeschichte angesprochen wurde, stellt eine äußere Restriktion dar, welche die Reihe potenziell zu berücksichtigender Texte (gegenüber dem überaus »weite[n] Feld«9 zeitgeschichtlich-literarischer Bezüge überhaupt) auf eine handhabbare Auswahl begrenzt. Dass literarische Texte solche des ›Eingedenkens‹ sind, hat Walter Benjamin mit Bezug auf Proust und die subjektive m¦moire involontaire gegenüber journalistischen oder geschichtswissenschaftlichen Darstellungsformen der Geschichte geltend gemacht.10 Die Engführung zeitgeschichtlicher Daten mit literarischen Texten, wie 6 Vgl. Albrecht von Lucke: 9 – 11 – 01. Deutsche Terminsache. In: Ästhetik & Kommunikation 118 (2002), S. 14 f. 7 Vgl. Oskar Negt, Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn. 4. Auflage Frankfurt/M. 1981, S. 97. 8 Vgl. Rüsen: Was ist Geschichtskultur?, S. 9; Gottfried Korff, Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt/M., New York 1990, S. 20. 9 Vgl. Günter Grass: Ein weites Feld. 2. Auflage Göttingen 1998. 10 Benjamin: Zum Bilde Prousts, S. 311. – Vgl. dazu auch Detlev Schöttker : Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt/M 1999, S. 224 f. – Der Begriff des ›Gedenkens‹ oder ›Eingedenkens‹ schreibt sich vom jüdischen Erinnerungskonzept her ; vgl. dazu Chaim Schatzker : Eingedenken – Das Gedächtnis der oder in der jüdischen Tradition. In: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kol-

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sie die Gliederung der folgenden Kapiteln anzeigt, wird allerdings durch eine m¦moire volontaire bedingt, die auf die medientechnische Möglichkeit zurückgreift, zeitgeschichtliches Geschehen »nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzuhalten« und abzurufen.11 Die Texte sind also in einem durchaus vorsätzlichen Sinn der »Daten eingedenk«.12 In welchem ›objektiven‹ Verhältnis die medial vermittelten Daten und Bilder zur empirischen Wirklichkeit stehen, liegt indes außerhalb der Reichweite dieser Untersuchung. Der in der Medienforschung und Medienkritik, aber auch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten häufig unternommene Vergleich zwischen Texten und dem, »what really happened«,13 steht nicht in ihrem Interesse.14 Denn eine solche Revision setzt einen ›Medienrealismus‹ voraus, also eine zeitgeschichtlich gedeutete adaequatio ad rem, der zufolge textförmige wie ikonisch-technische Repräsentationen eine empirisch nachprüfbare ›Realität‹ nur im ungünstigen Fall verfehlen. Der Verzicht auf den Abgleich von ›Fakten‹ und ›Fiktionen‹ impliziert jedoch keine Annahme hinsichtlich der Referenzialität der Zeichen. Sowenig die für das technische Informationszeitalter charakteristische ›klaustrophobische‹ Obsession eines universalen Simulations- oder Verblendungs-Zusammenhangs eine Prämisse der vorliegenden Untersuchung bildet, so sehr hält sie an dem Sachverhalt fest, dass sich der referenzielle Bezug sprachlicher Zeichen nicht

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lektive Identitäten. Hg. von Kirstin Platt und Mihran Dabag unter Mitwirkung von Susanne Heil. Opladen 1995, S. 107 – 114. Benjamin: Zu einigen Motiven bei Baudelaire, S. 644. Paul Celan: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Darmstadt, am 22. Oktober 1960. Frankfurt/M. 1961, S. 18. – Der Begriff der ›Engführung‹ spielt in der Celan-Forschung eine prominente Rolle, vgl. dazu den Aufsatz von Peter Szondi: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts. In: ders.: Schriften 2. Redaktion Wolfgang Fietkau. Frankfurt/M. 1977, S 345 – 389. Der Titel geht auf ein Gedicht Celans zurück: Paul Celan: Gesammelte Werke. Bd. 1: Gedichte I. Frankfurt/M. 1992, S. 197 – 204. Vgl. bereits die Studie von Walter Lippmann und Charles Merz: A Test of the News. In: The New Republic. August, 4 (1920), S. 1 – 42. – Vgl. auch Günter Bentele: Fernsehen und Realität. Ansätze zu einer rekonstruktiven Medientheorie. In: Fernsehtheorien. Dokumentation der GFF-Tagung 1992. Hg. von Knut Hickethier und Irmela Schneider. Berlin 1992 (SigmaMedienwissenschaft; 8), S. 45 – 67, hier 47 f. Insofern macht sich diese Arbeit die methodische Beschränkung zu eigen, die Hans Magnus Enzensberger für seine Auseinandersetzung mit den journalistischen Printmedien 1962 so formuliert hat: »Die folgende Untersuchung verzichtet durchwegs darauf, ihrerseits Fakten einzusammeln; sie bringt keinerlei Informationen mit, die nicht jedem Zeitungsleser [bzw. Medienempfänger, C. D.] zugänglich wären […]. Sie hält sich an das, was für jedermann verifizierbar ist, an den Vergleich und die Interpretation von Texten.« Hans Magnus Enzensberger : Journalismus als Eiertanz. In: ders.: Einzelheiten. Frankfurt/M. 1962, S. 16 – 61, hier S. 20. – Für das geschichtswissenschaftliche Interesse am »historischen Kern fiktionaler Erzählungen« vgl. aber die Beiträge des Bandes von Johannes Hürter, Jürgen Zarusky (Hg.): Epos Zeitgeschichte. Romane des 20. Jahrhunderts in zeithistorischer Sicht. 10 Essays für den 100. Band. München 2010 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 100); Vorwort der Hg., S. 7

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1968. Vietnam

einfach stornieren lässt.15 Es ist aber der Rekurs der Texte auf ein von technischen Informationsmedien generiertes ›Wissen‹ und die darin begründete Wiedererkennbarkeit von Ereignissen in literarischen Darstellungen, welche ihre Auswahl bestimmt. Was die den Textuntersuchungen übergeordneten Geschichtszeichen verzeichnen, lässt sich mit Pierre Noras Begriff auch als ›Erinnerungsorte‹ (lieux de m¦moire) verstehen, in denen das Gedächtnis eines sozialen Kollektivs sich »kondensiert, verkörpert oder kristallisiert«.16 Zur gesellschaftlichen Formatierung solcher Geschichtszeichen oder Erinnerungsorte tragen auch literarische Texte bei. Die folgenden Kapitel versammeln demnach literarische Kristallisationsstellen eines kollektiven Gedächtnisses, das mehr und mehr technisch-ikonischen Bedingungen unterliegt. Sie untersuchen so einerseits, wie literarische Texte ästhetisch auf die Informatisierung und Bildwerdung zeitgeschichtlicher Wirklichkeit reagieren, und andererseits, wie sie als ästhetische Medien oder Agenturen zu dieser Gedächtnisbildung selber beitragen.

1968. Vietnam Mit den ›68ern‹ anfangen.17

»Alles wird anders sein. Ein wunderbares Gefühl. / Ich erinnere mich.«18 In Hans Magnus Enzensbergers genau zehn Jahre nach ›1968‹ erschienenem Gedicht Der Untergang der Titanic (1978) steht diese einfache Abfolge dreier Sätze, die drei Ekstasen der Zeit in einen Zusammenhang bringen: Während das Futur des ersten Satzes den Vorgriff auf eine unbestimmte Zukunft artikuliert, verweist der dritte, im Präsens stehende Satz das Pathos des ersten in die Vergangenheit zurück. Dazwischen aber hängt der zweite Satz wie zwischen den Zeiten, weil seine prädikatlose Emphase eine eigene grammatische Zeitform nicht kennt. Utopie, Präsenz und Erinnerung sind die Orientierungen, die in der Satzfolge die Zeitbezüge des ungenannt bleibenden Datums beschreiben. Konkret beziehen sich die Sätze auf Enzensbergers Niederschrift des Gedichtmanuskripts Der Untergang der Titanic, das »[d]amals in Habana« – 1969 – begonnen, »ohne Durchschlag« in ein schwarzes Wachstuchheft geschrieben wurde und schließlich auf dem Postweg nach Paris verscholl,19 und gleichzeitig auf das 15 16 17 18

Vgl. dazu Manfred Frank: Stil in der Philosophie. Stuttgart 1992, S. 80 f. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 7. Scholz: Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF, S. 215. Hans Magnus Enzensberger : Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. Frankfurt/M. 1981, S. 14. 19 Ebd., S. 21.

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Ereignisse und Texte

vorliegende Gedicht gleichen Titels, das viel später mit fast zehnjährigem Abstand »in Berlin« verfasst worden ist. Die revolutionäre Utopie der früheren Fassung kam dem lyrischen Sprecher jedoch inzwischen genauso abhanden wie diese selbst. In der Neufassung des Gedichts ist sie bereits zum Gegenstand einer elegischen Erinnerung geworden, die sie sich als etwas vergangenes ins Gedächtnis ruft: »Damals dachten wir alle: / Morgen wird es besser sein, und wenn nicht / morgen, dann übermorgen. Naja – / Vielleicht nicht unbedingt besser, / aber doch anders, vollkommen anders, / auf jeden Fall.«20 Wie aber schon die revolutionäre Utopie sich der Erreichbarkeit des besseren Zustands offenbar nicht ganz sicher war, kann im gegenwärtigen Gedicht das Gedächtnis auch nicht so ganz auf sich selbst vertrauen. Die Differenz, die die ›revolutionäre‹ Gegenwart der endsechziger Jahre von ihren politisch-utopischen Zielen trennt, stellt sich in der Erinnerung an die zur Vergangenheit gewordene Gegenwart wieder her : Seinerzeit glaubte ich jedes Wort, das ich schrieb, und ich schrieb am Untergang der Titanic. Es war ein gutes Gedicht. Ich erinnere mich genau, wie es anfing, mit einem Geräusch. »Ein Scharren«, schrieb ich, »ein stockendes Scharren.« Nein, das war es nicht. »Ein schwaches Klirren«, »Das Klirren des Tafelsilbers.« Ja, ich glaube, so fing es an, so oder so ähnlich. Ich zitiere aus dem Gedächtnis. Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr.21

Der lyrische Sprecher im Untergang der Titanic versteht sich daher als Spurensammler, der das aus dem Unsicheren und Vergessenen ›geborgene‹ Material poetischer Form zuführt. »Ich sammle sie auf, / die Wasserleichen, aus der schwarzen, / eisigen Flüssigkeit der verflossenen Zeit.« Die übrig gebliebenen Zeichen, »Trümmer von Sätzen«, »geborstene Verse«, werden zum ›Bild‹ einer Erinnerung zusammengefügt, das sich allenfalls poetischer Einbildungskraft fügt: »Verse hole ich aus der Flut«.22 Nur auf diese ästhetische Weise, nicht als historische Rekonstruktion, kann zwischen den Sätzen das ›Gefühl‹ für den ereignishaften Moment zum Leben erweckt werden, auf den das Gedicht sich bezieht. 20 Ebd., S. 14. 21 Ebd., S. 20. 22 Ebd., S. 23.

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1968. Vietnam

1.

Das verdichtete Jahr 1968

Es ist der synthetischen Leistung des erinnernden Rückbezugs zuzuschreiben, wie sie Enzensbergers Gedicht ästhetisch vollzieht und reflektiert, dass sich Momente und Situationen der späten sechziger Jahre zu einem Signifikanten des historischen Kalenders formierten. ›1968‹ stellt in der westdeutschen und europäischen, ja sogar der globalen Nachkriegszeit ein Geschichtszeichen ersten Ranges dar.23 Dabei markiert das Jahr weder den Anfang noch den (schwer abzumessenden) Höhepunkt einer Politisierung, für die es bezeichnend geworden ist: Die studentischen Proteste gegen den Krieg in Vietnam begannen in den USA bereits vier Jahre früher, und im bundesdeutschen Kontext bewirkte die Erschießung Benno Ohnesorgs bei der Berliner Demonstration gegen den Deutschland-Besuch des persischen Schahs im Juni 1967 die Eskalation eines politischen Protests, die im Terrorismus der RAF und im ›Deutschen Herbst‹ 1977 gipfelte. Tatsächlich vollzog sich die Formierung des Geschichtszeichens ›1968‹ aus einer nachträglich resümierenden Perspektive, die die aktuellen Selbstbezeichnungen – ›Außerparlamentarische Opposition‹ (APO) oder ›Antiautoritäre Bewegung‹ – zusammenfasst und ersetzt.24 Der Prozess dieser politischen Signifikation greift jedoch auf eine ›Verdichtung‹ von signifikanten Ereignissen zurück, die keineswegs nur die Leistung einer synthetisierenden Einbildungskraft ist. ›Verdichtung‹ meint die Annäherung zeitlich wie räumlich auseinander liegender Momente in der Wahrnehmung, so dass sie schließlich als zusammengehörige Elemente einer historischen Einheit erscheinen. Tatsächlich drängt sich eine Vielzahl öffentlich wahrgenommener Ereignisse im kalendarischen Rahmen des Jahres 1968 zusammen: die Wahl Alexander Dubcˇeks zum ˇ am 5. Januar und der ›Prager Frühling‹ in der C ˇ SSR, der Vorsitzenden der KPC mit seiner Niederschlagung durch sowjetische Panzer in der Nacht vom 20. auf den 21. August endete, die Tet-Offensive der Nationalen Befreiungsfront FNL am 30. Januar in Südvietnam, die Ermordung Martin Luther Kings am 5. April, das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April und auf Robert F. Kennedy am 5. Juni, die XIX. Olympischen Sommerspiele in Mexiko im August 1968, die erste bemannte Mondumkreisung am 21. Dezember durch das amerikanische Raum23 Vgl. dazu die zahlreichen Neuerscheinungen und Neuauflagen zum vierzigjährigen Jubiläum des Jahres 1968, von denen nur beispielhaft zu nennen sind: Gogos, Pflitsch (Hg.): 1968. Kurzer Sommer – lange Wirkung; Rudolf Sievers (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie. Frankfurt/ M. 2004; Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Mythos. Frankfurt/M. 2008; dies. (Hg.): 1968. Eine Zeitreise. Frankfurt/M. 2008; Mark Kurlansky : 1968. Das Jahr, das die Welt veränderte. München 2008. 24 Dass sich die Bezeichnung ›1968‹ für die Protestbewegung der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erst in den 1980er Jahren allgemein durchgesetzt hat, behauptet Rudolf Sievers: Vorwort. In: 1968. Eine Enzyklopädie, S. 9 – 21, hier S. 10. – Vgl. ähnlich Gerd Koenen: Mein 1968. In: ders., Andres Veiel: 1968. Bildspur eines Jahres. Köln 2008, S. 6 – 27, hier S. 6.

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schiff Apollo 8 sowie der sogenannte Pariser Mai stellen nur einen Teil der Liste spektakulär-medialer Eindrücke des in Rede stehenden Jahres dar. Dazu gehören auch die vielen politischen Formen und Momente des Protests in den Schulen, Universitäten und auf den Straßen, die sich nicht zuletzt gegen den eskalierenden, täglich in Presse und Fernsehen verfolgten Krieg in Vietnam richteten. Aber mit dem medialen ›Rahmen‹, in dem diese Ereignisse an die öffentliche Wahrnehmung vermittelt wurden, ist zugleich eine Signifikationsbedingung des Geschichtszeichens ›1968‹ angesprochen: Ohne die synchrone Vermittlung von Informationen und Bildern, welche die modernen Massenmedien leisteten, wäre die Formierung des historischen Signifikanten ›1968‹ auch a posteriori unmöglich gewesen. Die Verdichtung der Informationen und technischen Bilder, die das Jahr 1968 kennzeichnete, bezeichnet zugleich eine medienhistorische Schwelle. Denn sie ermöglichte – phänomenologisch gesehen – eine ›neue‹ Erfahrung des »DabeiSeins«,25 welche die politische Zeugenschaft demokratisierte und die Grenze zwischen rezeptiver und aktiver Teilhabe durchlässiger erscheinen ließ. Die Politisierung des Bewusstseins, das sich in den Studentenprotesten nicht zuletzt gegen die Massenmedien richtete, wurde von den Bericht erstattenden Medien selbst (mit-)produziert. Parallel zur politischen Berichterstattung in der Massenpresse kam es in den 1960er Jahren zu einer Vervielfältigung von Nachrichten-, Dokumentarsendungen und politischen Magazinen, also zu einer Politisierung des Programmfernsehens, das auch in Westdeutschland durch die Berichte der Auslandskorrespondenten und den weltweiten Austausch der Bilder internationales Format und globale Vernetzung gewann. Die weltumspannenden visuellen Informationsmedien leiteten damit eine Globalisierung ein, die ›1968‹ zu einem Schlüsseljahr in der jüngeren Geschichte gemacht hat. Es bezeichnet die problematische Steuerungsfähigkeit dieser informationellen Globalisierung, dass der politische Protest sich über dieselben Kanäle informierte und über sie kommunizierte, die etwa im Vietnamkrieg zur Propagierung staatlicher Politik eingesetzt worden sind. Weil die Verdichtung massenmedial verbreiteter Informationen und Bilder aus 1968 erst ›1968‹, aus dem kalendarischen Datum eine historische Chiffre gemacht hat, bezeichnet die Chiffre selbst auch kein diskretes Ereignis, sondern ein »nicht sehr genau bestimmtes historisches Datum«, dessen Prägekraft für das Selbstverständnis der Beteiligten über den Kalender hinaus drängt; »erweitert um das Attribut der Bewegung« umfasst es »eine ganze (halbe?) Gene-

25 Vgl. Inge Münz-Koenen: Die Macht der Worte und der Sog der Bilder. In: Belles lettres, Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger. Hg. von Ulrich Ott und Roman Luckscheiter. Göttingen 2001, S. 149 – 166, hier S. 152.

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ration«.26 Semantisch changiert ›1968‹ deshalb zwischen ›Ereignisgeschichte‹ und ›Generationengeschichte‹,27 wobei das Generationenbewusstsein der ›Achtundsechziger‹ wiederum durch den gemeinsamen, erlebnishaften oder medial vermittelten Rekurs auf jene Ereignisse hergestellt wird. In der Vielzahl der überlieferten Repräsentationen, die die Bildspur des Jahres 1968 bilden, gewinnt das Datum nicht unbedingt an positivistischer Schärfe; eher schon verliert es sie in der nachblickenden Sicht auf die hinterlassenen Dokumente. Aus dem Rückblick eines Vierteljahrhunderts schreibt abermals Hans Magnus Enzensberger : Das Gedächtnis, ein Sieb. 1968, die Jahreszahl, in der sich das Imaginäre eingenistet hat. Ein Gewimmel von Reminiszenzen, Allegorien, Selbsttäuschungen, Verallgemeinerungen und Projektionen hat sich an die Stelle dessen gesetzt, was in diesem atemlosen Jahr passiert ist. Die Erfahrungen liegen begraben unter dem Misthaufen der Medien, des »Archivmaterials«, der Podiumsdiskussionen, der veteranenhaften Stilisierung einer Wirklichkeit, die unter der Hand unvorstellbar geworden ist.28

Enzensberger schrieb dies im Jahr 1985, acht weitere Jahre nach seinem Untergang der Titanic. Wie im Gedicht bereits die Bruchstücke der Vergangenheit gesammelt und zusammensetzt werden, lässt Enzensberger auch jetzt – diesmal im direkten Rekurs auf das zum Geschichtszeichen gewordene Jahr – nur die Collage für die »Erinnerung an das Jahr 1968« zu, nicht den authentischen Bericht. Indem er sich »keinen Vers darauf« macht, also auf die Suggestion eines kohärenten Bildes verzichtet und das semiotisch einschlägige Jahr nicht auf definierende Begriffe zu bringen versucht, vermag seine Darstellung doch einen »Moment« des Tumults wieder zum Leben zu erwecken, der in seiner ›Widersprüchlichkeit‹ weder »intelligibel« noch ohne weiteres poetisierbar sei: Ein einzelner Moment, »unbearbeitet und enigmatisch«, von dem nicht angegeben werden kann, »was er bedeutet«,29 mag vielleicht dennoch jene ereignishafte Präsenz zu evozieren, die gerade die Fülle der überlieferten dokumentarischen Bilder der Erinnerung für immer schuldig bleiben muss.

26 Peter von Becker, zit. nach: Manuel Gogos, Andreas Pflitsch: Die Literatur ist tot, es lebe die Literatur – Schreiben um 1968. Nachwort. In: dies. (Hg.): 1968. Kurzer Sommer – lange Wirkung. Ein literarisches Lesebuch. München 2008, S. 373 – 380, hier S. 377. 27 Vgl. Beate Fietze: The spirit of unrest. Die 68er Generation als globales Schwellenphänomen. In: Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich: Wissenschaft – Literatur – Medien. Hg. von Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen und Petra Boden. Berlin 2000, S. 3 – 25. 28 Hans Magnus Enzensberger : Erinnerungen an einen Tumult. Zu einem Tagebuch aus dem Jahre 1968. In: Text+Kritik 49 (1985), S. 6 – 9, hier S. 6. 29 Ebd., S. 8.

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Ein Jahr und sein Gedächtnis

Die Massenmedien sind in den späten sechziger Jahren beides zugleich: kaum verzichtbare Informationsquelle und Gegenstand einer politischen Medienkritik, die auf ihre Bilder und Informationen selber angewiesen ist und mit ihnen operiert. Einerseits liefert die Vielzahl der Bilder und Informationen ein unerschöpfliches Anschauungsmaterial für soziale und politische Diskussionen und Reaktionen, andererseits ruft sie den medienkritischen Topos von der ›Flut‹ der Repräsentationen wieder auf, während die Medien ihrer massenhaften Vermittlung gleichzeitig unter Manipulationsverdacht stehen. Dass die Überfülle zeitgeschichtlicher Informationen und Bilder die Ökonomie des Gedächtnisses verwirrt, dass also der information overload einen memorial overflow zur Folge hat, weil jedes Ereignis in eine zerstreuende Matrix zahlloser anderer ›Sensationen‹ eingebettet ist, wurde den literarischen Zeitgenossen der sechziger Jahre nicht erst in der distanzierten Rückschau bewusst. »Chruschtschow zieht jederzeit wieder den Schuh aus in New York«, schrieb Martin Walser bereits zum Jahreswechsel 1961 / 62 in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift Ein Jahr und das Gedächtnis, »aber wie mühsam zerrst du Agadir hervor und die persische Stadt Lar, immerhin auch 2000 Tote. Der Schah versteckt sie spielend hinter der hübschen Gebärerin«.30 Die Vielzahl der Nachrichten nimmt jeder einzelnen ihr Gewicht, denn »die Meldungen sind hintereinander her. Sie jagen sich, heißt es. Sie töten sich auch.«31 Was Christa Wolf in ihrem Essay Probe Vietnam (1967) die »Superinformation« genannt hat, »deren Wesen das Tempo ist«,32 spiegelt eine dem zeitgenössischen Bewusstsein imponierende Macht wie die Schwäche der Informationsmedien zugleich: Wo immer mehr in immer kürzerer Zeit berichtet und gezeigt wird, erhalten immer weniger Ereignisse einprägsame Signifikanz. Der liberale Indifferentismus der Informationen steht im Zeichen jener ›repressiven Toleranz‹, die Herbert Marcuse 1965 auf den Begriff gebracht hat.33 Das Archiv des individuellen Gedächtnisses nimmt an dieser Indifferenz Maß, indem es ›anarchisch‹ wird: Es bringt die Chronologie durcheinander, verwechselt das Bedeutsame mit dem Nichtigen und »verwüstet das Jahr«; »das Gedächtnis hält sich an keine Errungenschaft«,34 weil fast jede neue jede alte jederzeit wieder löschen kann. Diese Eigengesetzlichkeit des Gedächtnisses, das ohne objektive Kriterien des Verwahrens auskommen muss, 30 Martin Walser : Ein Jahr und das Gedächtnis. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 312 vom 31. 12. 1961/1. 1. 1962, unpag. (Feuilleton). 31 Ebd. 32 Christa Wolf: Probe Vietnam. In: dies.: Die Dimension des Autors, S. 422 – 424, hier S. 422. 33 Herbert Marcuse: Repressive Toleranz. In: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/M. 1966, S. 91 – 128. 34 Walser : Ein Jahr und das Gedächtnis.

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macht noch aus jedem Akt intentionaler Erinnerung eine Art Proustscher m¦moire involontaire. Walsers Kommentar dokumentiert sie in der Grammatik, die den Erinnernden mehr als passiven Empfänger denn als aktives Subjekt in der Vollmacht seiner Verfügung über Erinnernswertes zeigt: »Hätten wir’s in der Hand selbst auszulesen, keinem fiele je wieder was ein.«35

3.

Bildbeschreibung I: Uwe Timms Der Freund und der Fremde

Farah Diba, die ›hübsche Gebärerin‹ und dritte Frau des von 1941 bis zur islamischen Revolution von 1979 regierenden Schahs Mohammad Reza Pahlavi, war ein Medienliebling der zeitgenössischen Boulevardpresse der sechziger Jahre, nachdem die zweite kinderlose Ehe des persischen Kaisers mit der nicht minder fotogenen Schönheit Soraya 1958 geschieden worden war. Es wird der Deutschlandbesuch des persischen Kaiserpaars im Juni 1967 sein, der nicht nur der Auseinandersetzung der protestierenden Studenten mit den publizistischen Massenmedien, allen voran mit der Springer-Presse und der Bild-Zeitung, neue Schärfe verlieh. Die Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 bildete den Auftakt zu einer politischen Radikalisierung jenseits der Parlamente, die zur Formierung des Signifikanten ›1968‹ im unmittelbaren kalendarischen Vorfeld maßgeblich beigetragen hat. Dass es ein Text war, der für die Proteste mitverantwortlich war : Bahman Nirumands Persien-Buch von 1967, dem Enzensberger eine »Nacherinnerung« mitgegeben hat,36 rückt zwar die Rolle eines Textes ins Zentrum des politischen Geschehens – aber der Tod des Studenten hat seine engagierende Wirksamkeit doch vor allem im Medium der technischen Bilder, genauer gesagt der Presse-Fotografie, erhalten. Uwe Timm hat das massenmedial verbreitete Bild des von dem Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras bei der Demonstration gegen den Schah in der Nähe der Oper in West-Berlin erschossenen Studenten Benno Ohnesorg,37 das sofort zu einer Ikone des studentischen Protests geworden ist, zum Ausgangspunkt seiner 2005 erschienenen Erzählung Der Freund und der Fremde gemacht. Sie berichtet von den Jahren einer lange zurückliegenden Freundschaft bis zu dem biografischen Punkt, an dem der 35 Ebd. 36 Bahman Nirumand: Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt. Reinbek bei Hamburg 1967. 37 Vgl. dazu die zeitgenössische Dokumentation von Knut Nevermann: Der 2. Juni 1967. Studenten zwischen Notstand und Demokratie. Dokumente zu den Ereignissen anlässlich des Schah-Besuchs. Hg. vom Verband Deutscher Studentenschaften. Köln 1967. – Vgl. zu den Umständen der Erschießung und zur Informationspolitik im Deutschland der endsechziger Jahre auch das Buch von Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967. Berlin 2007.

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Autor-Erzähler zuerst das Bild und die Nachricht des tödlichen Ereignisses erreicht: Er liegt am Boden, sofort erkennbar sein Gesicht, die Haare, die Hände, die langen, dünnen Arme und Beine. Er liegt auf dem Asphalt, bekleidet mit einer Khakihose, einem langärmeligen Hemd, der Arm ausgestreckt, die Hand entspannt geöffnet, die Augen geschlossen, als schliefe er. Neben ihm kniet eine junge Frau in einem schwarzen Kleid oder Umhang. Die Frau könnte eben aus der Oper gekommen sein, dachte ich, vielleicht eine Ärztin. Sie blickt nach oben, so als wolle sie etwas fragen oder eine Anweisung geben, und hält, eine zärtliche Geste, seinen Kopf im Nacken. Deutlich ist das Blut am Kopf und am Boden zu sehen. Es hätte in diesem Schwarzweiß eine Einstellung aus dem Film Der Tod des Orpheus von Cocteau sein können, das war mein erster Gedanke beim Betrachten des Fotos, diese Verwandlung.38

Die exakte Bildbeschreibung ersetzt das Pressebild (Abb. 2) nicht, »das in allen Zeitungen zu sehen war, das immer wieder abgebildet wurde«,39 sondern setzt es vielmehr als bekannt voraus. Die Genauigkeit der Beschreibung unterstreicht die nachprüfbare Referenz auf ein ikonisches Schlüsseldokument des kollektiven Zeitgeschichts-Gedächtnisses bis heute. Das Bild bezieht seine Wirksamkeit seinerseits jedoch nicht allein aus dieser dokumentarischen Funktion, sondern daraus, dass es in der abgebildeten Konstellation und Haltung der Figuren die Bildkonvention einer Piet— im abendländischen Bildgedächtnis aufruft: Maria mit dem Leichnam Christi. Es realisiert, mit Aby Warburgs Begriff, eine ›Pathosformel‹, die in der christlich-antiken Bildtradition lange vorgebildet ist.40 Dass die fotografierte Situation, isoliert aus dem umgebenden Tumult, so ikonografisch erstarrt, abgeschlossen und ›gültig‹ erscheint, hängt mit der Wiederholung dieser Pathosformel zusammen. Es ist die bildtraditionell anschlussfähige (und Anschlusshandlungen ermöglichende) Einprägsamkeit des technischen Bildes, von der Uwe Timms Erzählung Zeugnis gibt: Der Erzähler selbst bringt es mit der zeitgenössischen Ästhetik des film noir – und, darüber vermittelt, mit dem griechisch-antiken Orpheus-Mythos – zusammen. Über die ekphrastische Wiedergabe des allbe38 Uwe Timm: Der Freund und der Fremde. München 2007, S. 11 f. – Zum Roman auch Steffen Martus: »also man lacht sich wirklich tot«. Teilnehmer- und Beobachterperspektiven auf Uwe Timms 68er-Romane ›Heißer Sommer‹ und ›Der Freund und der Fremde‹. In: Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945. Hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig, Göttingen 2008, 192 – 215. 39 Timm: Der Freund und der Fremde, S. 116. – Neben diesem existiert noch eine Reihe anderer Fotos, die die Szene aus anderen Blickwinkeln zeigen. 40 Vgl. dazu Aby Warburg: Der Bilderatlas MNEMOSYNE. Hg. von Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink. Berlin 2000 (Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Hg. von Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W. Forster, Nicholas Mann, Salvatore Settis und Martin Warnke. 2. Abteilung, Bd. II.1), insbes. Abbildung 42.11, S. 76/77. Zum Begriff vgl. Warburgs Einleitung, S. 3a-6b.

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kannten Bildes hinaus bezeugt die Beschreibung, dass sich im Bildwerden des Augenblicks etwas mit dem Ereignis ereignet, das über seine Denotation hinausgeht. Im hochselektiven Moment, den die Kamera neben unzähligen nichtselegierten aufnimmt und reproduktionsfähig macht, kristallisiert sich das Ereignis zur ikonischen Formel aus; konnotativ weitet es sich zu einer Art Synekdoche, einer stummen Trope, die für die gewaltstaatlichen Verhältnisse überhaupt steht. Im pragmatischen Rahmen der politischen Rhetorik kann es die Funktion der eventia oder enargeia versehen. Dass der erste Märtyrer des bundesrepublikanischen Protests und des daraus hervorgegangenen, auf sein Todesdatum getauften Terrorismus (›Bewegung 2. Juni‹) ein zufälliges, ›unschuldiges‹ Opfer staatlicher Exekutivegewalt war, hat seine politische Martyrisierung gerade unterstützt.41 Die linke Protestgeschichte hat seit Ende der sechziger Jahre eine Reihe weiterer Bilder hervorgebracht, die solche martyrologischen Pathosformeln wiederholen und nicht zuletzt deshalb zu Formularen einer ›widerständigen‹ Bilderpolitik werden konnten: Die Bilder der Festnahme des unbekleideten, aktuell wehrlosen RAF-Mitglieds Holger Meins am 1. Juni 1972 verweisen auf die Szene der Hinführung Christi zur Kreuzigung durch die römischen Soldaten, und noch die Portraitaufnahme des beim Hungerstreik im Gefängnis Verstorbenen zitiert die imago des Märtyrers,42 dessen leblose Stille den Gedanken an die Opfer terroristischer Gewalt gar nicht aufkommen lässt.43 Auf das erzählte Ich in Uwe Timms Erzählung indes, das auf dem in einer »Zeitschrift« – im Spiegel vom 12. Juni 1967 – abgedruckten Bild den Freund Benno Ohnesorg aus der gerade vier Jahre zurückliegenden Zeit des gemeinsamen Studiums am Braunschweig-Kolleg wiedererkennt, wirkt die Aufnahme

41 Vgl. Timm: Der Freund und der Fremde, S. 14: »Ich las, er sei keiner der Krawallbrüder gewesen. Das verstärkte sein Bild als Opfer.« – In der privaten Erinnerung einer Freundin von Ohnesorgs Frau, die Uwe Timms Erzählung festhält, konkurriert die Martyrisierung mit einer anderen, gegensätzlichen Stilisierung: »Und, sagt sie, und stockt, schön war er, wie ein griechischer Held lag er da.« (Ebd., S. 166) Auch in diesem Fall fungiert der Anblick oder das Bild des Opfers als ›mythogrammatisches‹ Zeichen, das die Erzählung in eine überzeitliche Sphäre hinüberführt. Dieselbe Freundin »steckte dem Toten das Buch in die Hände, das er zuletzt gelesen und das ihn bewogen hatte, zu der Demonstration zu gehen. Nirumand: Persien. Modell eines Entwicklungslands.« (Ebd.) 42 Zur Ikonisierung der Terroristen der RAF vgl. auch die kurze Darstellung von Kai Bremer: Vom ›Propagandawert der Meinhof‹ – oder : Warum Gudrun Ensslin keine Pop-Ikone wurde. In: Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. Hg. von Sigrid Weigel. München 2007, S. 291 – 293. 43 Vgl. dazu etwa das Filmportrait von Gerd Conradt, der in den sechziger Jahren zusammen mit Holger Meins die Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin besuchte: Gerd Conradt: Starbuck Holger Meins (Deutschland 2001), sowie sein ›Gedenkbuch‹, Conradt: Starbuck. Holger Meins. Porträt als Zeitbild. Berlin 2001.

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im Augenblick des Ansichtigwerdens »wie ein Schock«.44 Es beschließt daraufhin, die Geschichte ihrer Freundschaft niederzuschreiben. Denn die Beschreibung des technischen Bildes, so genau sie im abtastenden Verzeichnen seiner Details verfährt, markiert zugleich dessen Unbestimmtheitsstellen: Trotz aller Evidenz bleibt das Bild jenseits seiner politischen Rhetorik opak, bleiben die Umstände dessen, was es repräsentiert, unsichtbar. Diese un- oder unterbestimmten Umstände, welche die sichtbare Oberfläche des Bildes nicht wiederzugeben vermag, bilden den Einlassungsbereich der Dichtung im Rahmen der geschichtlichen Überlieferung seit jeher. Weil die objektive Ikonik die individuelle Geschichte des Opfers verschluckt, fällt das »Zurückrufen des Vergangenen, des Toten« wie im »Orpheus-Mythos«45 in die Zuständigkeit einer literarischen Prosopopoiie; schon die Ekphrasis reichert das Bild ja mythologisch an, indem sie Jean Cocteaus Le Testament d’Orph¦e (1960) ins Spiel bringt.

Abb. 2: Jürgen Henschel, Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 (Ó ullstein bild/Henschel)

Dem Bild des Sterbenden, der völlig unabsichtlich »Geschichte gemacht hatte«,46 fügt der Erzähler deshalb parallel zur eigenen Lebensgeschichte die Geschichte ihrer Begegnung, ihres Bekanntwerdens und ihrer Freundschaft 44 Timm: Der Freund und der Fremde, S. 11. – Vgl. das Pressefoto von Jürgen Hentschel, in: Der Spiegel 21. Jg. Nr. 15 vom 12. 6. 1967, S. 44, abgedruckt im Rahmen des Artikels »Knüppel frei«, S. 41 – 46. Wieder abgedruckt auch im Dokumentationsband von Klaus Biesenbach (Hg.): Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF-Ausstellung. Bd. 1, Göttingen 2005, S. 27. 45 Ebd., S. 172; vgl. auch S. 170. 46 Timm: Der Freund und der Fremde, S. 13. – Der im Text angegebene Filmtitel Der Tod des Orpheus ist irreführend; auch der deutsche Filmtitel Das Testament des Orpheus hielt sich an das französische Original. Bereits 1950 drehte Cocteau einen Film mit dem Titel Orph¦e.

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hinzu. Weil aber diese Geschichte, die vom philosophisch-ästhetischen Kontext der sechziger Jahre, vom Existenzialismus Sartres und Camus’ und vom film noir grundiert ist, selbst nur ein Schweben zwischen Freundschaft und Fremdheit,47 Annäherung und Distanz zulässt, wird die beschriebene Schwarzweißfotografie in ihrer Unschärfe und Entrücktheit zu einer Allegorie des Erzählens selbst: »Fern schien er, unberührbar. Ein Mondstrahl.«48

4.

Die Poesie der Fahrpläne

Nicht zuletzt die bildpolitische Karriere des erschossenen Benno Ohnesorg bezeugt, dass die sogenannten ›Achtundsechziger‹ die erste politische ProtestGeneration repräsentieren, die trotz aller theoretischer Textfixiertheit bewusst in einer von bildtechnischen Medien bestimmten Welt agierte: Sein Bild reiht sich in eine Zeitgeschichtsgalerie der spätsechziger und frühsiebziger Jahre ein, zu der auch Eddie Adams’ Fotografie der Erschießung eines vermeintlichen Vietcong durch den Polizeichef von Saigon (1968) oder Nick Uts Aufnahme der vor einem Napalm-Angriff amerikanischer Bomber fliehenden Kinder in My Lai (1972) gehören. Den Stein des Anstoßes, den diese kollektiv unvergesslichen Bilder darstellten, nahm die politische Linke in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf. Dass ihre Protestformen wiederum zu Medienereignissen wurden und die Agitatoren der Revolte wie Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit von jenen Medien profitierten, die sie bekämpften,49 gehört zur Rückkopplungslogik eines Systems, das die reaktiven Folgen des eigenen Outputs wiederum in bildmedialen Input verwandelt. Bilder Che Guevaras oder Ho Chi Minh-Plakate waren auf jeder Demonstration der späten sechziger Jahre zu finden, und Palästinensertücher sind bis heute das Symbol einer ›linken‹ Protesthaltung geblieben, die auf die globale Wiedererkennbarkeit ihrer politischen Zeichen rechnen kann. Seit 1968 ist media coverage auch zum Gradmesser des Einflusses sozialer Protestbewegungen geworden:50 Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen vom 2. April, die als »Protest gegen die Gleichgültigkeit der Menschen« 47 Albert Camus’ Der Fremde (L’¦tranger, 1942) bildet während der gemeinsamen Jahre des Erzählers mit Benno Ohnesorg am Braunschweig-Kolleg einen Gegenstand »ausführlich[er] Gespräche«; vgl. ebd., S. 64 – 67. Der Titel der Erzählung spielt darauf an. 48 Ebd., S. 80. 49 Vgl. Inge Münz-Koenen: Die Macht der Worte und der Sog der Bilder, S. 154, sowie Bernd Rabehl: Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik. Ursachen und Auswirkungen des politischen Existenzialismus in der Studentenrevolte 1967/68. In: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946 – 1995. Hg. von Wolfgang Kraushaar. Bd. 3, Hamburg 1998, S. 34 – 64, hier S. 52. 50 Vgl. dazu auch Heinz Bude: Achtundsechzig. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. von Etienne FranÅois und Hagen Schulze. Bd. 2, München 2001, S. 122 – 134, hier S. 123.

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angesichts des Krieges in Vietnam gemeint waren, erst recht aber die Angeklagten in dem im Oktober desselben Jahres geführten Prozess machten sich die (Selbst-)Inszenierungsmöglichkeiten einer Nachrichten- und Bilderindustrie zu Nutze, die dafür überhaupt nicht vorgesehen waren. »Betrachtet man die Bilder der Angeklagten auf der Bank, wie sie im Blitzlichtgewitter Castro-Zigarren rauchen, das Rote Buch schwenken, sich küssen oder über die Bänke hechten, fühlt man sich wie in einem Film«, schreibt Gerd Koenen in seiner generationengeschichtlichen Darstellung Das rote Jahrzehnt. »Offensichtlich fühlten sie sich als Akteure und Stars eines selbstinszenierten Filmdramas, dessen Bühne und technische Ausrüstung die großen Medien lieferten und zu dessen Komparsen auch das Publikum drinnen und draußen gehörte, vor dem sie agierten.«51 Daniel Cohn-Bendit, einer der Anführer des Pariser Mai 1968, hat seine eigene Rolle in seiner autobiografischen Darstellung Der große Basar (1975) dementsprechend reflektiert: als »Star mit allem, was das im Showbusiness bedeutet«, der die Massenmedien und der sich ihrer bediente und trotz seiner Ablehnung des medienkapitalistischen »Starbusiness« die eigene prominente Rolle darin durchaus genoss.52 So sehr die spielerische Subversion der institutionellen Ordnung der anarchischen Logik des Situationismus entsprach, der zwischen Kunst und Leben keine Differenz mehr zulassen wollte, war mit den Kaufhausbränden von Frankfurt doch zugleich eine Form des Protests erreicht, welche die Literatur als ästhetische Protestform tendenziell ausschloss. »Wir haben gelernt, dass Reden ohne Handeln unrecht ist«, gab Gudrun Ensslin am dritten Tag des Frankfurter Brandstifter-Prozesses zu Protokoll.53 Die politische Aktion verkomplizierte nicht nur das Verhältnis von Staat und politischen Subjekten, sondern auch das Verhältnis von Literatur und Politik gerade dadurch, dass sie es radikal vereinfachte. »Jetzt, 1968, war das Geschriebene, war Literatur plötzlich das Überflüssige, das Gefährliche, das Narkotikum, welches politisches Handeln verhindert«, schreibt Urs Jaeggi in seinem genau zehn Jahre später erschienenen Roman Brandeis; das Primat der Praxis produziert »Schriftsteller, die nicht mehr schreiben. Denker, die nicht mehr denken. Dozenten, die nicht mehr dozieren. Studenten, die nicht mehr studieren.«54 Zwar mochte die Kunst sich selbst (jedenfalls programmatisch) auf ›verschlagene‹ Weise zu retten, indem sie ihr Ende proklamierte und sich ins gesellschaftliche Leben, in aktionistische Spontaneität und ›Phantasie‹ übertrug: Das ist der Weg, den der junge Peter 51 Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 – 1977. Frankfurt/M. 2002, S. 360. 52 Daniel Cohn-Bendit: Der große Basar. Frankfurt/M. 1975, S. 19. 53 Das Zitat nach Koenen: Das rote Jahrzehnt, S. 360; vgl. auch Stefan Aust: Der BaaderMeinhof-Komplex. 3. Auflage München 2008, S. 75. 54 Urs Jaeggi: Brandeis. 2. Auflage Darmstadt und Neuwied 1978, S. 107.

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Handke dem Theater wies, dessen hegelianische »List« darin besteht, dass es »in der Öffentlichkeit agiert« und »sich nicht als Theater deklariert oder gar gründet.«55 Stattdessen sollte es seinen Schauplatz auf den Straßen aufschlagen – oder eben im Gerichtssaal, um die »Aura des Rituellen«56 und Institutionellen dem einen wie dem anderen, der Kunst wie dem institutionell geordneten Leben, auszutreiben. Doch blieb der Situationismus im engeren Sinn, zu dessen 1954 gegründeter ›Internationale‹ sich in Deutschland nur der Studentenaktivist Dieter Kunzelmann, in Frankreich etwa der Medientheoretiker Francis Debray bekannten, in dessen Pariser Wohnung Gudrun Ensslin und Andreas Baader Ende 1969 vor der westdeutschen Justiz Unterschlupf fanden, ein auf die Frühphase der Protestbewegung von 1968 beschränktes Phänomen. Der politische ›Kampf‹ nahm sich selbst bald zu ernst, um das Diktum des französischen Situationisten Raoul Vaneigem von 1967, »die Poesie lieg[e] anderswo, in den Taten, in dem schöpferisch entworfenen Ereignis«, auch umgekehrt als Poetisierung des Politischen beim Wort zu nehmen: »wie kann man ein Gedicht besser abschaffen als durch seine Übertragung in die Wirklichkeit?«57 In der Wirklichkeit des Terrorismus verlor sich die Poesie des Protests und jegliche Revolutionsromantik gründlich. Nicht zuletzt die Literatur nahm jedoch das Ende der Literatur beim Wort.58 Denn angesichts einer nur durch politisches Handeln zu verändernden Wirklichkeit steht der Literat (wie der Leser) mit ›leeren Händen‹ da. »Jetzt wissen wir Bescheid«, schrieb Enzensberger im Nachwort zu Nirumands Persien-Buch: »Jetzt stellen wir das Buch zu den andern Büchern ins Regal, neben Eichmann in Jerusalem, Die Endlösung, The Crisis of India, Die Kinder Sanchez, Die Politik der Apartheid, Über den lang andauernden Krieg, Die Verdammten dieser Erde, A Vietnam Reader. Das Regal füllt sich. Wir wissen Bescheid.«59 Schon 1967 gab es 55 Peter Handke: Für das Straßentheater gegen die Straßentheater. In: ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/M. 1972, S. 56 – 62, hier S. 56. 56 Ebd. 57 Raoul Vaneigem: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen. Aus dem Französischen von der Projektgruppe Gegengesellschaft. 3. Auflage Hamburg 1980, S. 200. Das französische Original (Trait¦ de savoir-vivre — l’usage des jeunes g¦n¦rations) erschien 1967, die deutsche Übersetzung erstmals 1972. – Auch Vaneigem postuliert in der theoretischen Tradition Walter Benjamins einen Gegensatz von Poesie und Information: »Wo die Poesie fehlt, stellt sich ihr Gegenteil ein: die Information« (ebd., S. 198). 58 Vgl. dazu auch Christoph König: Wozu Dichter? In: Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Hg. von Ulrich Ott und Friedrich Pfäfflin. Marbach am Neckar 1998 (Marbacher Kataloge 51), S. 89 – 92, sowie die Textdokumente, ebd., S. 92 – 110. 59 Hans Magnus Enzensberger : Unsere weißen Hände. Eine Nacherinnerung. In: Bahman Nirumand: Persien, Modell eines Entwicklungslandes, S. 149 – 154, hier S. 153. – Bei den ungenau zitierten Titeln handelt es sich um Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem

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offenbar eine ganze Bibliothek zuständiger Texte, die diese Wirklichkeit auf ›intelligible‹ Begriffe brachte. ›Bescheid wissen‹ hieß für den textorientierten Schriftsteller und Intellektuellen vor allem, Begriffe (und nicht nur Bilder) von den Dingen zu haben. Dass es sich beim revolutionären ›Treiben‹ der Studenten in Deutschland um eine »angelesene Revolution« handele, hat Günter Grass ihnen vorgeworfen.60 Helga Nowaks 1972 veröffentlichtes Hörspiel Fibelfabel aus Bibelbabel oder : Seitensprünge beim Studium der Mao-Bibel hat diese ›angelesene‹ revolutionäre Haltung, was die Maoisten betraf, in einer ästhetisch raffinierten Text- und Musik-Collage ebenfalls vorgeführt,61 und auch der Österreicher Matthias Wabl hat in seiner Erzählung 1968. Ein Heimatroman weit später (1996) festgehalten, es sei »ein Gesellschaftsspiel gewesen, mit Mao zu argumentieren oder zu drohen. Mao war ja weit weg gewesen, und fast niemand hatte sich wirklich für China interessiert.«62 Doch auch der von Enzensberger auf bibliografische Einträge gebrachten Informiertheit entwertete sich, was sie an politischer Bildung aus Texten besaß, sofern sie es nicht in revolutionäre Praxis übersetzte: »Dann betrachten wir sorgfältig unsere Hände. Sie sind völlig leer, und merkwürdig weiß.«63 Literatur wie Literaten um 1968 ging es vor allem um eine politische Praxis, die sprachlich-symbolisches Handeln auf ›reales‹ Handeln hin überschritt. Enzensbergers Durchmusterung seiner postkolonialen Bibliothek galt jedoch, genau gelesen, nicht der Praxisferne der Literatur ›an sich‹, sondern einer Rezeption, die die einschlägige Literatur buchstäblich beiseite stellt – und damit die koloniale Gewalt des ›weißen‹ Menschheitsteils durch

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(engl. 1963, dt. 1964), Gerald Reitlingers 1956 in deutscher Übersetzung erschienene Studie Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939 – 1945 (die auch Peter Weiss unter den Materialien zur Ermittlung nennt), Ronald Segals The crisis of India von 1965 (dt. 1968), Oskar Lewis’ Die Kinder von S‚nchez. Selbstporträt einer mexikanischen Familie (dt. 1963), vermutlich um den von Freimut Duve herausgegebenen Band Kap ohne Hoffnung: Die Politik der Apartheid (1965), Mao Tse-Tungs Über den langdauernden Krieg von 1938, Frantz Fanons Les damn¦s de la terre (1961) sowie den von Marcus G. Raskin und Bernard B. Fall herausgegebenen Band The Vietnam Reader. Articles and documents on American foreign policy and the Viet-Nam crisis (1965). Vgl. Christoph König: Autoritäten. In: Protest! Literatur um 1968, S. 127 – 150, hier S. 127. Helga Novak: Fibelfabel aus Bibelbabel oder : Seitensprünge beim Studium der Mao-Bibel. Langspielplatte. Deutsche Grammophon 1972. – Das Hörspiel wurde vom WDR gesendet und erschien in Zusammenarbeit mit dem Luchterhand-Verlag (München) als Schallplatte bei der Deutschen Grammophon. Vgl. dazu auch Roman Luckscheiter : Maos mediale Absorption. Helga Novaks Hörspiel Fibelfalbel aus Bibelbabel (1972) im Kontext. URL: http:// www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2695. Matthias Wabl: 1968. Ein Heimatroman. Graz, Wien Köln 1996, S. 60. – Wabls Erzählung nimmt ihren Ausgangspunkt von einer sexuellen Begegnung der Heldin mit einem leicht übergewichtigen rothaarigen Pariser Studentenführer, hinter dem man unschwer Daniel Cohn-Bendit wiedererkennt. Hans Magnus Enzensberger : Unsere weißen Hände. Eine Nacherinnerung. In: Bahman Nirumand: Persien, Modell eines Entwicklungslandes, S. 149 – 154, hier S. 153 f.

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Untätigkeit affirmiert, weil sie ihre Hände in Unschuld wäscht und nicht schmutzig machen will. Damit ist ein Doppeltes benannt: einerseits der Zweifel der Literatur ›um 1968‹ an sich selbst, andererseits ihre Selbstbehauptung. Dem postulierten Obsolet-Werden der Literatur um 1968 entspricht die Hinwendung zu den Medien der Aktualität, der Presse und dem Fernsehen, auf die sich die Kritik umso mehr konzentriert, je alternativloser sie selbst auf ihre Informationsvermittlung angewiesen ist. Ihnen gegenüber gerät das ›langsame‹ Medium der Literatur ins Abseits. Wo die politische Aktion zum Maßstab jeglichen kommunikativen Handelns aufgewertet wird, fällt eine passive, lediglich registrierende Kunst auf die Seite der zu bekämpfenden ›Reaktion‹. Anders als andere Künste ist die Semiotik literarischer Texte jedoch auf ein Wirklichkeitsverhältnis hin ausgelegt, das sich nur schwer stornieren lässt. Darin liegt einerseits die Chance ihrer Welthaltigkeit, andererseits bringt derselbe Sachverhalt mit der Information genau jene Größe ins Spiel, die Benjamin zufolge der Reportage zugehört und der Erzählung feindlich ist. Enzensbergers Appell, »keine Oden«, sondern »die Fahrpläne« zu lesen: »sie sind genauer«,64 gibt dem Primat der Information vor der literarischen Form unbedingt Recht – wäre er nicht paradoxerweise in einem Gedicht formuliert. Wo Literatur politisch von sich abrät und auf andere, praktischere und agitationsaffinere Formen des Weltverhältnisses dringt, weist sie performativ auf sich selbst zurück. Es war abermals Enzensberger, der 1968 in seinen Gemeinplätzen, die Neueste Literatur betreffend im Kursbuch 15 das dort verhandelte Postulat vom »Tod der Literatur« selbst als »literarische Metapher« entlarvte, die eben »die jüngste nicht« sei, und das obstinate Weiterleben der Literatur über die Proklamation ihres Endes hinaus erkannte: »eingefleischte Dichter sind selbst durch lautstarke Entziehungskuren kaum zu bekehren«. Vielmehr transformiert die Literatur noch ihre gesellschaftliche Infragestellung in einen Anlass erneuerter Produktivität, indem sie »die eigene Krisis zur Existenzgrundlage« macht.65 Enzensbergers havariertes Gedicht Der Untergang der Titanic wurde zum Manifest eines ›Weiter-Schreibens‹ über alle Fragwürdigkeiten und Katastrophen hinaus (»schwer zu sagen, warum, heule und schwimme ich weiter«66), mit dem die Literatur bereits in den sechziger Jahren ihre Relevanz gegen den Druck der politischen Praxis behauptete. Den Medien der Aktualität hat die Literatur den langen Atem voraus. Literatur und Literaten überlebten 1968 ihr politisches Begräbnis in unbeeinträchtigter Vitalität, die sich wiederum – Ironie der Me64 Hans Magnus Enzensberger : Ins Lesebuch für die Oberstufe. In: ders.: Verteidigung der Wölfe. Gedichte. Nachwort von Reinhold Grimm. Frankfurt/M. 1981, S. 90. 65 Hans Magnus Enzensberger : Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968), S. 187 – 197, hier S. 188. 66 Enzensberger : Der Untergang der Titanic, S. 115.

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diengeschichte – in den ›konkurrierenden‹ Medien der Information Geltung verschafft: »Was bleibt, stiftet das Fernsehen: Podiumsdiskussionen über Die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft.«67 Was dagegen die Fahrpläne betrifft, hat sich Peter Schneider in seiner »autobiographische[n] Erzählung« Rebellion und Wahn. Mein 68 (2008) ein »überwältigendes Gefühl der Überforderung« angesichts der damals möglich erscheinenden Übernahme von politischer Macht und Verantwortung ins Gedächtnis gerufen, das ihn »am Häuschen der Bahnaufsicht im Bahnhof Zoo« in Berlin überkam: Wer von uns, überlegte ich, würde imstande sein, all diese Züge zu dirigieren? Wer würde die Weichen stellen? Etwa der abgebrochene Germanist Hans Joachim, der nichts als reden konnte? Oder der Theaterwissenschaftler Kajo, der in ewiger Trennung mit seiner Frau lebte und an Schlaflosigkeit litt? Oder ich, der selbsternannte »melancholische Revolutionär«? Wir waren allenfalls fähig, die bestehenden Fahrpläne abzuschaffen; wehe uns und den Passagieren, falls wir jemals die Chance erhalten sollten, die deutsche Bahn zu beaufsichtigen.68

Die Gehässigkeit, mit der die Literatur oft genug im Nachhinein des Jahres ›1968‹ gedenkt, erklärt sich zum Teil daraus. Sie erscheint wie die nachtretende Rache einer Kunst, die sich nach ihrem behaupteten Ende für die Versuche ihrer Annihilierung oder Marginalisierung schadlos hält. Die Frage des Ich-Erzählers in Michael Buselmeiers Roman Der Untergang von Heidelberg (1981) diskreditiert dementsprechend das Pathos der ›Achtundsechziger‹, soweit es in den Dokumenten ihrer medialen (Selbst-)Inszenierung überliefert worden ist: »Warum kommen mir die Bilder unseres erwachenden Selbstbewußtseins so verbraucht, so zum Wegschauen peinlich vor, wenn sie jetzt im Fernsehen gezeigt werden, ›zehn Jahre danach‹?«69

5.

Der Eigensinn der Bilder

Dieser Eigensinnigkeit der Literatur, die ihrer Marginalisierung trotzt, sind die technischen, massenmedial verbreiteten Bilder jedoch nicht nur als ›willfähriges‹ Medium entgegengesetzt, das sich den machtpolitischen Intentionen andient. Es sind massenmedial verbreitete Bilder, die zu einem gewissen Grad auch unabhängig von den mit ihnen verknüpften Interessen ›Politik machen‹, so wie mit ihnen Politik zu machen versucht wird. Auch die Protestierenden des Jahres 67 Enzensberger : Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, S. 187. 68 Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Eine autobiographische Erzählung. Köln 2008, S. 10. 69 Michael Buselmeier : Der Untergang von Heidelberg. Frankfurt/M. 1981, S. 79.

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1968 nahmen geschichtliche Realität über die Massenpresse und die Fernsehbilder wahr, weil die ›Realität der Massenmedien‹70 gar keinen anderen Wirklichkeitsbezug zuließ. Denn seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts sind es vor allem die technisch produzierten Bilder der Massenpresse und des Fernsehens, die den Realitätsstatus zeitgeschichtlicher Ereignisse definieren: »Ein Ereignis«, schreibt Susan Sontag, »das wir durch Fotografien kennen, erlangt für uns zweifellos mehr Realität, als wenn wir diese Bilder nie gesehen hätten – man denke nur an Vietnam.«71 Als ein Ereignis, dessen ›Realität‹ die ikonischen Medien bezeugen, legt vor allem der Krieg in Vietnam von einer medialen Globalisierung Zeugnis ab, die in den sechziger Jahren begann. Der Vietnamkrieg stellt den ersten »television war« der modernen Zeitgeschichte dar.72 Er markiert einen visual turn in der Geschichte der Repräsentation des modernen Krieges, der über die frühere Kriegsfotografie deutlich hinausgeht: »Der Vietnamkrieg war die erste militärische Auseinandersetzung, die die Amerikaner zu Hause am Bildschirm verfolgen konnten.«73 Die Vernetzung der Informationen verlieh den Bildern eine weltumspannende, buchstäbliche Ausstrahlungskraft, die selbst den ›eisernen Vorhang‹ zwischen den Systemen des kapitalistischen Westens und des sozialistischen Ostens durchdrang. Aus der Beobachterperspektive einer Autorin in der DDR schrieb Christa Wolf im Anfang 1967 verfassten Kurzessay Probe Vietnam: »Jeden Abend spielen sich auf den Bildschirmen in unseren Wohnungen dokumentarische Mord- und Folterungsszenen ab, die ein Horrorfilm scheuen würde.«74 Mit der Televisibilisierung des Krieges, der auf der anderen Seite der Welt, bei den »Antipoden der Amerikaner auf dieser Erdkugel«, geführt wurde und ›zu Hause‹ in Europa auf den Bildschirmen verfolgt werden konnte, verbindet sich für Wolf – dem Topos der ›Informationsflut‹ entsprechend – die Gefahr einer »Gewöhnung«, die angesichts der permanenten Präsenz von »Schrecken« und »Terror« das Bewusstsein der Medienempfänger lähmt.75 Demgegenüber hielt sie an der Einspruchspotenz und -notwendigkeit der Literatur fest: »Doch hat es Sinn, sich zum Sprechen zu zwingen, auch wenn einem vor den Fakten, den Taten und dem, was zu tun ist, das Wort im Hals steckenbleiben will.«76 Die tatsächliche, medienvermittelte Perzeption des Krieges hat Christa Wolfs Befürchtung allerdings widerlegt – damit indes auch ihr FestVgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Sontag: Über Fotografie, S. 26. Vgl. Mitchell: Picture Theory, S. 402. Marc Frey : Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München 1998, S. 151. 74 Wolf: Probe Vietnam, S. 422. 75 Ebd., S. 422 f. 76 Ebd., S. 422.

70 71 72 73

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halten an der nicht substitutionsfähigen Rolle der Literatur für den Einspruch gegen die »Fakten«. Angesichts der zunehmenden Proteste, mit der die öffentliche Meinung in den USA und in Europa auf die Nachrichten und Ansichten vom Krieg in Vietnam reagierte, wurde sogar behauptet, der auf die Bildschirme übertragene Krieg sei auch vor den Bildschirmen entschieden worden.77 Wie immer die Rolle der Massenmedien für den politischen Protest und dessen Wirksamkeit genau zu bestimmen ist: Mit dem Vietnamkrieg wird die mediale Beobachtung jedenfalls zu einem entscheidenden, Einfluss nehmenden Faktor auf das Beobachtete selbst. Die Medialisierung des Krieges, die eigentlich aus propagandistischen Motiven geschah, zeitigte einen ungeplanten Rückkopplungseffekt. Die physikalische Unschärferelation, die sonst nur den Simulationsverdacht in Hinsicht auf die technischen Informationsmedien nährt (weil das medial Vermittelte niemals als es selbst vermittelt werden kann), ist durch die ›realen‹ Bilder des Krieges und ihre Rückwirkungen bestätigt worden. Aber diese indirekt, über ihre Rezeption Einfluss nehmende Kraft der Bilder hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich der ›Sinn‹ der Bilder durch den sprachlichen Kommentar letztlich nicht festlegen lässt. Die Fernsehaufnahmen einer »endlosen Reihe von Toten, Gefangenen und Verletzten«, die Hans Joachim Friedrichs’ Reportage Krieg ohne Fronten im WDR bereits 1962 dem deutschen Fernsehpublikum zeigte, entfalteten vielmehr einen Eigensinn, der durch den pro-amerikanischen Kommentar nicht kontrolliert werden konnte. Die Bilder »wirkten noch nach, als die Kommentare bereits vergessen waren und ließen andere als die gewünschte offizielle Interpretation zu.«78 Insofern konnte auch die studentische Protestbewegung das Material ihres Widerspruchs aus einer medialen Bildervermittlung beziehen, die durch ihre alltägliche Verfügbarkeit – gegen den Strich ihrer eigenen Intentionen, aber auch gegen den Strich der kritischen Medientheorie gelesen – zur politischen Meinungsbildung mindestens ebensoviel beitrug wie die Auseinandersetzung mit den zahlreichen gedruckten Texten, die Enzensbergers Bibliothek versammelt. Erst aufgrund seiner globalen bildmedialen Vermittlung konnte der Vietnamkrieg zum Anlass eines Protests in den nordamerikanischen und europäischen Großstädten werden, der sich »im Kontext der internationalen revolutionären Bewegung« verstand: »Deshalb, und nicht aus humanitären Gründen, ist der Krieg in Vietnam zu dem politischen Ereignis geworden, daß [sic] dieses Jahrzehnt beherrscht.«79 ›Vietnam‹ als Abbreviatur und Erinnerungsort eines unerklärten Krieges, der 77 Vgl. etwa Jan Wölfl: Kriegsberichterstattung im Vietnamkrieg. Münster 2005 (Krieg der Medien – Medien im Krieg; 2), S. 5. 78 Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens. Unter Mitarbeit von Peter Hoff. Stuttgart, Weimar 1998, S. 277. 79 Hans Magnus Enzensberger : Berliner Gemeinplätze. In: Kursbuch 11 (1968), S. 151 – 169, hier S. 159.

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im Widerstand gegen die französische Kolonialmacht wurzelte, mit dem Indochinakrieg begann, nach dem Genfer Waffenstillstandsvertrag von 1954 und der Teilung des Landes durch die amerikanischen Bombardements in Nordvietnam fortgesetzt, intensiviert und erst mit dem Waffenstillstand von 1973 wiederum zunächst beendet worden ist, bezeichnet wie das Datum ›1968‹ schon aufgrund seines langjährigen Verlaufs kein diskretes Ereignis, sondern – aus der Sicht der Zeitgenossen – eher schon eine ›permanente‹ Realität, die zur Normalität zu werden drohte: also zum Objekt einer Art rezeptiver Katastrophenroutine, die durch Dauerrepräsentation und Unbetroffenheit ihre Paradoxie überspielt. Dass technisch-mediale Verarbeitungsprozesse ›Chocks‹ in Erlebnisse und Ereignisse in ›Informationen‹ verwandeln, die das Ereignis, indem sie es heranholen, gerade fern rücken, gehört zur bereits erläuterten Beziehung zwischen Ereignissen und Medialität. Dass die Bilder dennoch in ausnahmehaften Momenten den Chock wieder herstellen können, erklärt sich nicht nur aus der Unterschätzung ihres eigensinnigen Beeindruckungspotenzials oder der Überschätzung der Gewöhnung an sie, sondern auch aus den von Enzensberger benannten Kontextbedingungen ihrer Rezeption. Erst indem die technischen Bilder auf ein (wiederum medieninduziertes) politisiertes Bewusstsein treffen, das sie in das ›Script‹ einer weltweiten Revolutionsbewegung einträgt, entfalten sie ihre politisch herausfordernde Valenz.

6.

Geschichtsdrama der Struktur: Peter Weiss’ Viet Nam Diskurs Die Geschichtsschreiber sollen festhalten Mit deutlichen Schriftzeichen Wie wir alle gemeinsam Den mächtigen Feind vertrieben80

Wenn schon die technischen Massenmedien eine führende Rolle nicht nur in der öffentlichen Informatisierung übernehmen, sondern sogar für die Mobilisierung und die Resonanz des Protests gegen das, was sie zeigen, stellt sich die Frage nach der Rolle der Literatur umso mehr. Peter Weiss hat sich seit 1968 mit mehreren diskursiven und ästhetischen Texten zu Wort gemeldet, die das militärisch-politische ›Großereignis‹ des Vietnamkriegs thematisieren. Der Ende 80 Peter Weiss: Diskurs / über die Vorgeschichte und den Verlauf / des lang andauernden Befreiungskrieges / in Viet Nam / als Beispiel für die Notwendigkeit / des bewaffneten Kampfes / der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker / sowie über die Versuche / der Vereinigten Staaten von Amerika / die Grundlagen der Revolution / zu vernichten. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Jürgen Horlemann. Frankfurt/M. 1968, S. 40. – Im Folgenden wird der Text nach dieser Ausgabe unter dem Kurztitel Viet Nam Diskurs zitiert.

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April 1967 abgeschlossene81 Viet Nam Diskurs beantwortet die um 1968 virulente Frage, wie sich das langsame Medium Literatur zur Dynamik von Geschichte und politischer Praxis verhalten kann, indem er vom Ereignishaften gerade Abstand nimmt: Weiß’ Vietnam-Drama, das dramaturgisch beim »realistischen Zeittheater« Piscators und den Lehrstücken Brechts,82 theoretisch bei der Kritischen Theorie seinen Ansatzpunkt nimmt, unternimmt vielmehr den höchst ambitionierten und auf den ersten Blick paradox anmutenden Versuch, Zeitgeschichte als Strukturgeschichte dramatisch zu repräsentieren. Als ›Strukturgeschichtsdrama‹ steht der Viet Nam Diskurs literaturgeschichtlich ziemlich einzigartig da. Während der geschichtsdramatische Dokumentarismus bisher stets auf Ereignisse und ›dramatisch‹ zugespitzte Situationen fokussierte, in denen historische Kräfte sinnfällig werden, riskiert Weiß – im Einklang mit der marxistischen Geschichtsauffassung,83 aber im Widerspruch zu den Gesetzlichkeiten und Konventionen der dramatischen Gattung selbst – ein Geschichtsdrama der longue dur¦e. Der ›barocke‹ Titel – Diskurs / über die Vorgeschichte und den Verlauf / des lang andauernden Befreiungskrieges / in Viet Nam / als Beispiel für die Notwendigkeit / des bewaffneten Kampfes der / Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker / sowie über die Versuche / der Vereinigten Staaten von Amerika / die Grundlagen der Revolution / zu vernichten – signifiziert bereits die Aufhebung der Grenze zwischen ›Drama‹ und ›Diskurs‹ sowie die enzyklopädische Ausweitung des aktuellen Stoffbezugs. Die Zweiteiligkeit im (durch die Konjunktion »sowie« geteilten) Titel wird auch in der zweiteiligen Struktur des Stückes umgesetzt: Die erste Hälfte ist der rund 2500 Jahre umfassenden »Vorgeschichte« des vietnamesischen »Befreiungskrieges« (seit dem Jahr 207 v. Chr. bis 1945) gewidmet, während der zweite Teil, vom Umfang her fast auf die Seite gleich lang, gerade einmal zehn Jahre umfasst; er dokumentiert die kriegerische Eskalation von einer ›geheimen Konferenz‹ am 3. April 1954 im Washingtoner Außenministerium bis zum letzten erwähnten Datum, dem 5. August 1964. Mit der Annäherung an die zeitgeschichtliche Gegenwart stellt sich eine chronologische Verlangsamung und stoffliche Verdichtung ein. Verstünde man den aktuellen »Befreiungskrieg« in Vietnam als dramatisches Sujet, so entwickelte die »Vorgeschichte« eine maßlos überdehnte Exposition; fast 81 Vgl. Peter Weiss: Notizbücher 1960 – 1971. Bd. 1, Frankfurt/M. 1982, S. 537. – Vgl. auch Manfred Haiduk: Der Dramatiker Peter Weiss. Berlin 1977, S. 173. 82 Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater. In: ders.: Rapporte 2. Frankfurt/M. 1971, S. 91 – 104, hier S. 91. 83 Vgl. dazu Weiss’ eigene Standortbestimmung im zeitlichen Zusammenhang des Viet Nam Diskurses: »Ja natürlich, ich bin Marxist. Ich bin Sozialist. Ich bin ein Humanist. Ich bin ein ›Linksradikaler‹ wie Sartre.« Giorgio Polacco: Unterentwickelte Länder und revolutionäre Welt. Eine Begegnung mit Peter Weiss. In: Peter Weiss: Gesang vom Lusitanischen Popanz. Mit Materialien. Frankfurt/M. 1974, S. 87 – 92, hier S. 89.

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scheint es, als nähme das Drama Kurt Tucholskys Ratschläge für einen schlechten Redner (1930) beim Wort, wo das Beispiel eines chinesischen Studenten angeführt wird, der seinen Vortrag mit den Worten eröffnet: »›Lassen Sie mich in aller Kürze die Geschichte meiner chinesischen Heimat seit dem Jahre 2000 vor Christi Geburt …‹ Er blickte ganz erstaunt auf, weil die Leute so lachten.«84 Im Folgenden soll es allerdings darum gehen, die Dramaturgie eines Stückes ernst zu nehmen, das es sich mit der Darstellungsmöglichkeit von (nicht nur rezenter) Geschichte denkbar schwer macht. Indem Weiss’ geschichtsdramatisches Experiment die Theaterbühne zum ›Schauplatz‹ der Strukturgeschichte macht, unterläuft es zugleich die Mechanismen des zeitgenössischen Medienund Informationssystems: Es setzt ihrem ereignisfixierten Aktualismus ein strukturalistisches Modell entgegen, das »die heutige Auseinandersetzung« im Krieg nicht etwa mimetisch noch einmal zeigen, aber auch nicht hermeneutisch ›verstehen‹, sondern gesetzmäßig »erklären« will.85 Entgegen der Annahme, dass sich Strukturen nicht erzählen oder inszenieren lassen (denn Ereignisgeschichte ist sinnlich, Strukturgeschichte dagegen abstrakt), muss es für seine Geschichtsauffassung eine poetische Darstellungsform finden. Wo Strukturen dennoch auf die Bühne gelangen sollen, erfordern sie gewissermaßen ein Theater jenseits des Theaters: eines, das auf die Produktion von ereignishafter Präsenz86 weitgehend verzichtet und für das – anders als für Hochhuths an Schiller anknüpfende Geschichtsdramaturgie – kein überliefertes Modell existiert. Weiss muss es daher erfinden.

6.1

Jenseits der Ereignisgeschichte [D]er Zuschauer […] sieht Theater, wie er sonst wohl eher Zeitung liest oder Nachrichten hört.87

Statt auf eine genuine Kernkompetenz des Literarischen, also auf einen Zugang zur Wirklichkeit zu setzen, der – mit Adornos Worten – »nicht durch den Bericht abzugelten ist«,88 exponiert sich der dramatische Dokumentarismus geradezu in 84 Kurt Tucholsky : Ratschläge für einen schlechten Redner. In: ders.: Gesammelte Werke in 10 Bdn. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Bd. 8, Reinbek 1980, S. 290 – 292, hier S. 291. 85 Weiss: Viet Nam Diskurs, S. 5. 86 Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004, die das Performative mit dem ›Ereignis‹ gleichsetzt. Vgl. auch Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M. 2004. 87 Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 343. 88 Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S. 41.

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der Konkurrenz mit den Massenmedien der Informationen. Denn dieses Theater will selbst Informations- und Massenmedium sein, allerdings für Informationen, die über die etablierten Kanäle gerade nicht zu gewinnen sind. Die an der Frankfurter Schule Horkheimers und Adornos orientierte Kritik an den »Massenmedien« moniert, dass »die Bevölkerung in einem Vakuum von Betäubung und Verdummung niedergehalten« wird, wie Weiss’ in seinen programmatischen Notizen zum dokumentarischen Theater (1968) schreibt; und doch bekennt der Dramatiker im selben Text, in welchem Maße die kritisierten Medien selbst diese Kritik mit ihrem Material munitionieren. Es entspricht der bereits angesprochenen Dialektik von Medienverwiesenheit und Medienkritik, dass das »Theater der Berichterstattung« seine Materialien eben aus den vielfältigen »neue[n] Form[en] der Mitteilung«89 bezieht, denen es sich selbst als Korrektiv entgegensetzt. Die Liste seiner Informationsquellen ist lang: Protokolle, Akten, Briefe, statistische Tabellen, Börsenmeldungen, Abschlußberichte von Bankunternehmen und Industriegesellschaften, Regierungserklärungen, Ansprachen, Interviews, Äußerungen bekannter Persönlichkeiten, Zeitungs- und Rundfunkreportagen, Fotos, Journalfilme und andere Zeugnisse der Gegenwart, bilden die Grundlage der Aufführung.90

Indem es seine Informationsquellen auswertet, auswählt, interpretiert und auf neue Weise kontextualisiert (und so Zusammenhänge zwischen Politik und Ökonomie rekonstruiert), sucht das Dokumentartheater eine Gegeninformation zu leisten, die den ›offiziellen‹ Diskurs der »Massenmedien« konterkariert. Es antwortet auf die medien- und literaturtheoretische Verdrängungshypothese, die von Benjamin und Adorno aufgebracht worden ist, indem es sich selbst als »Bestandteil des öffentlichen Lebens« postuliert und damit dem alternativlosen Darstellungsmonopolismus der Informationsmedien widerspricht. Ihnen gegenüber geht es um eine gleich dreifache Kritik: »Kritik an der Verschleierung«, »Kritik an Wirklichkeitsverfälschungen« und »Kritik an Lügen«.91 »Die Aufgabe eines Autors«, schreibt Weiss 1965, »ist hier : immer wieder die Wahrheit, für die er einritt, darzustellen, immer wieder die Wahrheit unter den Entstellungen aufzusuchen.«92 Weil sie eine objektive Beobachtung suggerieren, eigenen sich die Medien der Information immer auch als Medien der Desinformation. Im selben Maß, in dem die modernen Massenmedien einzelne Ereignisse selegieren, isolieren, prämieren und inszenieren, nähren sie auch den Vorbehalt gegenüber

89 90 91 92

Benjamin: Der Erzähler, S. 444 f. Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 91. Ebd., S. 92 f. Peter Weiss: 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt. In: ders.: Rapporte 2, S. 14 – 23, hier S. 22.

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der Wirklichkeit der Ereignisse selbst – und lenken den kritischen Blick auf Strukturen und Interessen, die ihren Repräsentationen zugrunde liegen. Weiss’ ›ideologiekritische‹ Decouvrierung der Verschleierungs-, Verfälschungs- und Denunzierungsoperationen in den Massenmedien ermittelt deshalb, dem Rechtsfindungsgrundsatz cui bono entsprechend, die latent bleibenden Interessen der ›Sender‹. Ereignishafte Anlässe solcher informations- und ideologiekritischer Nachfragen bieten sich in den sechziger Jahren genug: Sie reichen von »der Ermordung Lumumbas, Kennedys, Che Guevaras« über das »Massaker in Indonesien«, die »internen Absprachen während der Genfer Indochina-Verhandlungen« und den »letzten Konflikt[] im Mittleren Osten« bis zu »den Vorbereitungen der Regierung der Vereinigten Staaten zur Kriegsführung in Vietnam«.93 Damit ist der Stoff des Viet Nam Diskurses erreicht – und die Aufgabe des Dokumentartheaters angegeben. Auch wenn Weiss’ Auflistung Ereignisse benennt, geht es ihm um die latenten Strukturen, deren Ausdruck sie sind. Seine Abrechnung mit den populären Informationsmedien erkennt zugleich die globalistische Reichweite ihrer Ereignis-Vermittlung an: »Obgleich die Kommunikationsmittel ein Höchstmaß von Ausbreitung erreicht haben und uns Neuigkeiten aus allen Teilen der Welt zukommen lassen, bleiben uns doch die wichtigsten Ereignisse, die unsere Gegenwart und Zukunft prägen, in ihren Anlässen und Zusammenhängen verborgen.«94 Die Informatisierung des Dramas muss demnach, wie Weiss in einem Interview anlässlich der Proben für die Frankfurter Uraufführung erläutert hat, »das nach[]holen, was von Presse, Rundfunk, Fernsehen zum ganz großen Teil versäumt worden ist.«95 Die massenmediale Illuminierung von Ereignissen korrespondiert für ihn mit einem »künstlichen Dunkel«, das die Manipulationen der »Machthabenden« umgibt.96 Dieses Dunkel aufzuhellen ist die erklärte Intention der faktizistischen Wahrheitsästhetik im Viet Nam Diskurs. Die Annahme der machtgestützten MedienManipulation impliziert zugleich ein Prinzip der Parteilichkeit: Weiss’ Viet Nam Diskurs stellt sich auf den aktivistischen Standpunkt Marats, den es marxistisch auslegt, im Gegensatz zum Ästhetizismus de Sades, den es verabschiedet.97 93 Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 93. – Patrice E. Lumumba war 1960 erster Ministerpräsident der unabhängigen Republik Kongo; er wurde am 17. Januar 1961 in Katanga durch Soldaten der Regierung Moise Tschombes ermordet. Ernesto Che Guevara wurde am 9. Oktober 1967 in bolivianischer Gefangenschaft erschossen. 94 Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 93. 95 Peter Weiss im Gespräch mit Peter Iden: Vietnam auf der Bühne. Ein Interview mit Peter Weiss und Harry Buckwitz. In: Die Zeit Nr. 12 vom 22. 3. 1968, S. 17. 96 Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 94. 97 Vgl. dazu auch die Besprechung der Frankfurter Uraufführung durch Walter Jens, der eine konsequente »Entwicklung« des Dramatikers Peter Weiss erkennt: Jens: Fünf Minuten großes politisches Theater. Zur Uraufführung des Viet-Nam-Stücks von Peter Weiss in Frankfurt. In: Die Zeit Nr. 13 vom 29. 3. 1968, S. 18.

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Während die »Kommunikationsmittel« auf die ›Neuigkeit‹ der Nachricht eingestellt sind, erblickt das Theater seine Aufgabe und Chance in der Aufarbeitung der nicht-evidenten Strukturen und historischen Kontexte: Ihm hat es darum zu gehen, eine »Zusammenfassung des latenten Zeitstoffes« wiederzugeben und zugleich die »Aktualität in seiner Ausdrucksform« beizubehalten.98 Anstelle unmittelbarer Konkurrenz mit den Medien der Aktualität besorgt das Dokumentartheater die Korrektur jenes Bildes, das die Massenmedien von der politischen Wirklichkeit entwerfen. »Die Bühne soll hier gar nicht den Versuch machen, mit dem Dokumentarfilm zu konkurrieren, und sie soll auch keinen Versuch machen, Geschehnisse, die in Vietnam vorgekommen sind, in einer nachäffenden Realität auf der Bühne darzustellen.«99 Weiss’ ausgreifende ›Archäologie‹ des Krieges beabsichtigt dagegen die Freilegung von Strukturen politischer Macht und militärischer Gewalt,100 die dem aktualitätsfixierten Eventismus der Massenmedien notwendig entgehen. – Dass die Rezipienten späterer Generationen ›nicht dabei gewesen‹ sind, begründet noch die Poetik von Weiss’ Drama über den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1964: »Zur Endlösung: es ist ja nur unsere Generation, die davon weiß, die Generation nach uns kennt es schon nicht mehr. Wir müssen etwas darüber aussagen. Doch wir können es noch nicht. Wenn wir es versuchen, mißglückt es.«101 Für das Vietnam-Drama gilt diese Aussage schon nicht mehr. 6.2

Die Wiedergewinnung des Ästhetischen

Indem das dokumentarische Theater sich »ausschließlich mit der Dokumentation eines Stoffes« befasst, klammert sein historischer ›Materialismus‹ programmatisch die Fiktion zugunsten der ›Materialien‹ aus. »Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder.«102 Diese Enthaltung von jeglicher Fiktion ist nicht die einzige Auslassung genuin poetischer Mittel, die das dokumentarische Theater kennzeichnet. Die Liste der ästhetischen Verzichte, die Weiss’ Viet Nam Diskurs im dramengeschichtlichen Zusammenhang leistet (und den Zuschauern zumutet), ist kaum kürzer als die seiner Informationsquellen: ›Entfabelung‹, also Verzicht auf eine abgeschlossene Handlung und Finalität, Verzicht auf eine dramatische Gattungsstruktur, Verzicht auf individualisierte Figuren, auf Figurenrede und 98 Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 95. 99 Weiss im Gespräch mit Peter Iden: Vietnam auf der Bühne. 100 Vgl. auch Brian Barton: Das Dokumentartheater. Stuttgart 1987 (Sammlung Metzler; 232), S. 137. 101 Weiss: Notizbücher 1960 – 1971. Bd. 1, S. 211. 102 Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 91 f.

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psychologische Motivation, weitgehender Verzicht auf suspense103 sowie Verzicht auf ein ausgestaltetes Bühnenbild. Der Verzicht auf eine ›ereignishafte‹ Dynamik manifestiert sich in einer pantomimischen (statt mimischen) Darstellung, deren Sinnlichkeit sich auf die abstrakte Arithmetik von »Wort, Gestik und Gruppierung« beschränkt und deren manchmal »heftige[]«, dabei meist »mechanische« Bewegung gelegentlich in »skulpturalen« Haltungen und statischen Bildern – tableaux vivants – erstarrt.104 – Weil das Drama seine Hoffnung auf den positiven Ausgang des vietnamesischen »Befreiungskrieges« setzt, steht das Gattungsmodell der Tragödie trotz der dargestellten Repressionsgeschichte nicht zur Verfügung. Hatten der »Gesang vom Ende der Lili Tofler« in der Ermittlung (1965) oder die Figurenrede der Ana im Lusitanischen Popanz (1967) die Geschichte einer kollektiven Gewalt noch durch individuelle Opfergeschichten unterbrochen,105 ist im Viet Nam Diskurs fast nichts mehr auf affektive Anteilnahme an Einzelschicksalen hin angelegt. Statt eines auf einzelne Schauspieler festgelegten Rollenspiels sieht es ständige »Rollenwechsel« vor, die »vor allem durch den Austausch des Standorts, durch Umgruppierung oder durch andere Tonlage und Gestik« nachvollziehbar werden.106 Die Kostümierung wird für die Repräsentanten Chinas und Vietnams auf »einfache schwarze Kleidung von gleichem Schnitt« festgelegt, die der »Vertreter der Kolonialmächte und des Imperialismus« auf »gleichartige weiße Kleidung.«107 Damit kommt indes bereits eine Ästhetik der Schlichtheit ins Spiel, die mit den Ausdrucksformen der ästhetischen Moderne (vom Dessauer Bauhaus bis zum ›Mao-Anzug‹) korrespondiert. Der »Bühnenraum ist in weißer Farbe gehalten« und mit antiillusionistischer Sparsamkeit möbliert.108 Für die nur selten eingesetzte Instrumentalbegleitung gilt ebenfalls: »Auch hier äußerste Sparsamkeit. Weniger Melodien als rhythmische Geräusche.«109 Weiss hat die Ästhetik seines Dramas – im Gegensatz zum »orgiastisch[en]« 103 Vgl. auch Jens: Fünf Minuten großes politisches Theater : »Nein, spannend ist das Stück nicht«. Entgegen der Absicht des Stücks sieht Jens im Viet Nam Diskurs eher vorgeführte »Resultate«, »aber keine Prozesse«: »Die Statik dominiert«. 104 Weiss: Viet Nam Diskurs, S. 7; zur pantomimischen Darstellung vgl. S. 24 (»[p]antomimische Demonstration« einer Schlacht), zur ›skulpturalen‹ Stillstellung des Geschehens S. 41, S. 60. – In einer frühen Szene des ersten Teils tragen zwei Figuren »Gesichtspanzer«, die die schauspielerische Mimik völlig ausschalten (ebd., S. 15). »Tableau« ist auch im Paratext die Bezeichnung für die statischen Gruppenkonstellationen, vgl. etwa S. 26, S. 35 u. ö. 105 Vgl. Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen. Frankfurt/M. 1965, S. 85 – 87 und S. 94 – 96. Damit korrespondiert auch die ›Tätergeschichte‹ des »Gesangs von Unterscharführer Stark«, ebd., S. 97 – 110. – Weiß: Gesang vom Lusitanischen Popanz, S. 37 ff. 106 Weiss: Viet Nam Diskurs, S. 5 f. 107 Ebd., S. 6. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 7.

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Modus seines Marat / Sade-Stücks – selbst als »asketisch« bezeichnet, während der formal ähnliche Gesang vom Lusitanischen Popanz, der vom Befreiungskampf der portugisischen Kolonien Angola und MoÅambique handelt, »genau in der Mitte zwischen diesen Polen« liege.110 Ästhetische Askese bedeutet indes keine Anästhetik, sondern stellt selbst eine ästhetische Form dar. Sie korrespondiert mit den ›strengen‹, abstrakten Gesetzmäßigkeiten, die den historiografischen Strukturalismus unterhalb der ereignishaft bewegten Oberfläche der Zeit vor allem interessieren. Die eigentliche Erfindung des strukturalistischen Geschichtsdramas, die die Singularität des Viet Nam Diskurses im Werk von Peter Weiss und in der bisherigen Dramengeschichte ausmacht,111 besteht jedoch in zwei dramenpoetischen Verfahren: zum einen in der konsequenten Ersetzung der dramatis personae durch abstrakte »Träger wichtiger Tendenzen und Interessen«, die durch die uniforme Kostümierung und die Austauschbarkeit der Darsteller anonymisiert werden.112 Selbst bei den prominenten »Personen, die von der Zeitgeschichte beglaubigt sind«, interessiert die Figur nicht als psychologisch komplexe Individualität, sondern einzig in ihrer Funktion im geschichtlichen Moment. Zum anderen aber durch die von Weiss so bezeichnete »Bewegungsdramaturgie«: »Die Bewegungen der Figuren vollziehen sich im Rahmen der angegebenen Himmelsrichtungen N, NO, O, SO, S, SW, W, NW. Hierbei entsprechen im Ersten Teil die geographischen Richtungen auf der Bühne weitgehend den realen geographischen Verhältnissen […].«113 Dramentypologisch stellt der Viet Nam Diskurs damit eine radikale Form des ›Raumdramas‹ (Wolfgang Kayser) dar : Anstelle der Aktionen entscheidungs- und handlungsmächtiger Subjekte, wie sie noch Hochhuths Figurendrama Der Stellvertreter zu behaupten versucht, setzt es die Interaktion sozialer Gruppen, denen allein das Drama – Weiss’ marxistischer Geschichtsauffassung entsprechend – geschichtsbildende Möglichkeiten zutraut.114 Anstelle eines spezifische Schauplätze charakterisierenden Kulissentheaters verwandelt sich die auf Himmelsrichtungen ausgelegte Bühne in ein geopolitisches Raum-Modell, das die Bewegungen der Schauspieler, die eher den Figuren eines Schachspiels als 110 »Wenn ich es mit einem einzigen Adjektiv charakterisieren sollte, würde ich es nicht ›orgiastisch‹ sondern ›asketisch‹ nennen.« Polacco: Unterentwickelte Länder und revolutionäre Welt, S. 88. 111 Braunecks allgemeine Feststellung, das Dokumentartheater der sechziger Jahre habe »keine neue ästhetische Form [entwickelt], sondern übernahm Strukturmodelle und Bühnenmittel unterschiedlicher Traditionen, insbesondere aus der Praxis des politischen Theaters der zwanziger Jahre«, ist in Hinsicht auf Weiss’ Dramen, vor allem den Viet Nam Diskurs, nicht zu halten. Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert, S. 343. 112 Weiss: Viet Nam Diskurs, S. 5. 113 Ebd., S. 6. 114 Vgl. Wolfgang Kayser : Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. 13. Auflage Bern, München 1968, S. 369 f.

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denen eines Schauspiels gleichen, politisch semantisiert und damit große historische Prozesse abbildbar macht. Wie Bewegungen von West nach Ost als Akte eines aggressiven ›Imperialismus‹ (der europäisch-französischen Kolonialmacht oder ihrer Beistandsmacht USA) lesbar werden, symbolisiert etwa das Heraus- und Zurücktreten der Partisanen der Viet Minh-Kämpfer in die Reihe des vietnamesischen ›Volks‹ das Prinzip des Guerillakampfes. Die Wiedergewinnung des Ästhetischen erfolgt demnach über die Struktur, die ihrerseits (geschichtliche) Strukturen darstellbar machen will. So plausibel es dieser abstrakten Choreografie gelingt, die zweieinhalb Jahrtausende umfassende ›Vorgeschichte‹ des Vietnamkriegs dramatisch zu inszenieren, so schwer tut sie sich im zweiten Teil des Stückes, das beinah nur noch personalisierte Repräsentanten der Zeitgeschichte kennt. Zu nah erscheinen die Nachrichten der Zeitgeschichte, um vergleichbare Abstraktionen wie im ersten Teil des Stücks zu gestatten; zu interessiert ist es selbst daran, politisch Verantwortliche beim Namen zu nennen.115 Tatsächlich reflektiert das Drama im zweiten Teil auch weniger die historischen Aktionen von ›Massen‹ als die massenmediale Repräsentation der Geschichte selbst. Die Darstellung verlagert sich von der abstrakten Repräsentation historischer Konstellationen auf die Reinszenierung eines Geschehens, das seine Präsenz nicht zuletzt auf den Bildschirmen erlangt hat. Exakten Zeitangaben im zweiten Teil werden dem Publikum über Lautsprecheransagen mitgeteilt, Leuchtbilder identifizieren die ›Originale‹ der auftretenden Figuren. Das Spektrum der Darstellung reicht bis zur Reinszenierung einzelner media events auf der Bühne, wenn das Drama etwa die Fernsehansprache des amerikanischen Präsidenten Eisenhower vom 5. April 1954 in weitgehend wörtlicher und sogar mimischer Nachahmung wiederholt: »Der Präsident demonstriert ein Lächeln«.116 Die ›offizielle‹, massenmediale Repräsentation der politischen Geschichte wird in der theatralischen Repräsentation zum parabatischen ›Spiel im Spiel‹: Ein undatierter »Staatsempfang« des vietnamesischen Diktators Ngo Dinh Diem, den ihm der amerikanische Präsident, der New Yorker Bürgermeister und der Kardinal Francis Joseph Spellman bereiten, wird im Viet Nam Diskurs von der Stimme einer journalistischen »Berichterstatterin« begleitet, 115 Im Gesang vom Lusitanischen Popanz werden Personen der unmittelbaren Zeitgeschichte dagegen nur verschlüsselt eingeführt: So steht hinter der Figur eines »hohen ausländischen Justizministers« der in der Regierung Ludwig Erhards für ein Jahr (1965 – 66) amtierende Bundesminister Richard Jaeger (CSU), und hinter dem »ausländischen Bankdirektor«, der Millionenkredite in »DM« vergibt, lässt sich der damalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank (1957 – 1967) Hermann Josef Abs erkennen (Weiss: Gesang vom Lusitanischen Popanz, S. 61 und S. 64.) Dagegen enthält der Text ausführliche Listen europäischer und nordamerikanischer Firmen, die vom portugiesischen Spätkolonialismus in Angola und MoÅambique profitieren (ebd., S. 48 ff.). 116 Weiss: Viet Nam Diskurs, S. 117.

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deren politisch affirmativer Kommentar das Ereignis als absichtsvoll inszeniertes, zeremonielles Ereignis vorführt.117 Die doppelte Distanzierung durch den Kommentar – gesprochen von einer Figur, die ohnehin nur als Funktionsträger gestaltet ist – bewirkt eine Entsentimentalisierung, da Gefühle im Stück meist nur als Mittel der Propaganda erscheinen. Es ist diese instrumentelle Sentimentalität, die auch Erich Fried in einem Gedicht seines 1966 erschienenen Bandes und Vietnam und zu decouvrieren sucht; unter dem nüchternen Titel Pressekonferenz LBJ, Frühjahr 1966 kommt es daher, als ertönte es aus einem der Lautsprecher im Viet Nam Diskurs: Gentlemen ich will Ihnen nicht verschweigen daß der Präsident der Vereinigten Staaten heute geweint hat Ja ich habe geweint als ich las was ein Junge namens Comachio berichtete nach seiner Flucht aus einem Gefangenenlager der Vietcong …118

Der Präsident hat geweint: Das ist die propagandistische Parodie eines Verses aus Schillers Don Karlos, der Thomas Manns Tonio Kröger so sehr beeindruckt hat (und an dem er erfahren muss, wie sehr er mit seiner Empfindung allein ist).119 Das Gedicht spielt auf diese Stelle an. Aber nicht der bloße Anlass, die Fluchtgeschichte eines Jungen aus dem Lager der kommunistischen ›Vietcong‹, verfälscht die Empfindung des Mitleids, indem sie ihre politische Parteilichkeit 117 Ebd., S. 168 ff. – Vgl. Dayan, Katz: Media Events, S. 8. 118 Erich Fried: und Vietnam und. Erweiterte Neuausgabe. Mit einer Chronik und einem Nachwort von Klaus Wagenbach. Berlin 1996, S. 48. 119 Vgl. Thomas Mann: Tonio Kröger. In: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 2,1: Frühe Erzählungen 1893 – 1912. Hg. und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt/M. 2004, S. 243 – 318, hier S. 250. – Vgl. Friedrich Schiller : Don Karlos. In: ders.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 6: Don Karlos. Erstausgabe 1787. Thalia-Fragmente 1785 – 1787. Hg. von Paul Böckmann und Gerhard Kluge. Weimar 1973, S. 282. – Eine nicht-markierte intertextuelle Reminiszenz auf das Zitat findet sich auch in Johnsons Jahrestagen; der Roman zitiert einen Artikel der New York ˇ SSR bezieht: »Breshnev hatte Times vom 18. 6. 1968, der sich auf die Intervention in der C Tränen in den Augen. […] Der erste Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Iljicˇ hat geweint.« Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Bd. 3, Frankfurt/M. 1993, S. 1374. Vgl. dazu auch den Kommentar : Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth, Ulrich Fries (Hg.): Johnsons »Jahrestage«. Der Kommentar. Unter Mitarbeit von Thomas Schmidt, Birgit Funke, Thomas Geiser, Ingeborg Gerlach und Rudolf Gerstenberg. Göttingen 1999, S. 734.

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verrät, sondern das, was das Gedicht ausspart, bei seinen informierten Lesern jedoch voraussetzen kann. Es ist der nur durch die Initialen seines Namens identifizierte US-Präsident Lyndon B. Johnson, der den vietnamesischen Jungen beweint und zur selben Zeit zahl- und namenlose andere Kinder in Vietnam dem Tod durch amerikanische Napalmbomben ausliefert. – Weiss’ Drama führt den Nachfolger Kennedys, der die Eskalation des Krieges in Vietnam verantwortete, nur noch mit einem einzigen Redebeitrag »vor dem Kongreß« am 5. August 1964 ganz am Ende des Dramas ein.120 Die »[s]amariterhafte Herzlichkeit« jedoch, die sich bereits im »Stadium IV« des zweiten Dramenteils an die »Brüder und Schwestern aus dem Norden« wendet, bemäntelt nur die machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen, die sich in der fiktiven Figurenrede jenseits der ›offiziellen‹ Sprachregelungen – auf einer »Cocktail Party«121 – verraten: »Nur in einem Land / das der Expansion der privaten Wirtschaft / freien Lauf läßt / kann in solchem Ausmaß / Nächstenliebe sich entwickeln«.122 Von der realen Not der Flüchtlinge, wie sie der Marinearzt und Buchautor Tom Dooley im Stück darlegt, will sich die instrumentelle Humanität des politisch-ökonomischen Establishments dagegen nicht stören lassen: »Tommy hör auf / mit deinen schrecklichen Geschichten / Verdirb uns nicht den Abend«.123 Intertextuelle Beziehungen, wie sie Erich Frieds Gedicht zur journalistisch berichteten Ereignisgeschichte wie zur Literaturgeschichte unterhält, sind auch dem Viet Nam Diskurs nicht fremd. Bereits der Titel enthält mit dem »lang andauernden Befreiungskrieg[] in Viet Nam« eine Anspielung auf Mao Tsetungs Schrift Über den langdauernden Krieg (1938), die den chinesischen Guerillakampf gegen die »japanischen Eindringlinge« beschreibt.124 Darüber hinaus bringt das Drama aber noch eine Reihe anderer, ästhetischer Referenzen ins Spiel. Dass sich das dokumentarische Theater nicht der bloßen Wiedergabe von Informationen verschreibt, die jeder kritische Zuschauer oder Leser entweder bereits kennt oder besser in jener Bibliothek politischer Bücher nachlesen kann, die Enzensberger im Nachwort zu Nirumands Persien-Buch aufgelistet hat; dass es also nicht eine »Wiederholung mit untauglichen Mitteln« darstellt, 120 121 122 123

Weiss: Viet Nam Diskurs, S. 197. Ebd., S. 147. Ebd., S. 152. Ebd., S. 150. – Der im Drama auf deutsch angegebene Titel von Thomas Anthony Dooley erschien im Original 1956 (Deliver us from evil. The story of Viet Nams flight to freedom) und in deutscher Übersetzung 1958; er berichtet vom Einsatz der amerikanischen Marine und des Autors selbst für die Flüchtlinge auf dem »epischen ›Weg in die Freiheit‹ […] aus dem kommunistischen Norden nach dem freien Süden« (Thomas A. Dooley : Erlöse uns von dem Übel. Viet Nam’s Flucht in die Freiheit. Klagenfurt 1958, S. 6). 124 Mao Tse-tung: Über den langdauernden Krieg (Mai 1938). In: ders.: Ausgewählte Schriften in vier Bdn. Übersetzt aus dem Russischen von Leon Nebenzahl. Bd. 2, 3. Auflage Berlin 1957, S. 133 – 246.

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wie Dürrenmatts Kritik der moderner Geschichtsdramatik formuliert;125 dass es also auch nicht, um es mit einem Borges-Zitat zu sagen, ›in Tautologien verfällt‹,126 liegt weniger an seinem (ohnehin zuvor veröffentlichten) Material als an seinem ästhetischen Arrangement. Indem es – wie schon im Lustitanischen Popanz – Chöre einführt, ruft es die antike Theatertradition der Tragödie auf. Die vietnamesischen Mythen, mit denen das Drama die jahrhundertelange Einübung in Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse illustriert, werden zitiert und zugleich auf Distanz gestellt. Und weit davon entfernt, in der reinen Informationsfunktion aufzugehen,127 bricht die Sprache des Dramas die Prosa des Sprachmaterials (einschließlich der ›konzentrierten‹, überformten Redezitate im zweiten Teil) in eine versifizierte Form und einen oratorischen Stil um, der an die Ästhetisierung des authentischen Materials in der Ermittlung Anschluss gewinnt: Die Zeilenumbrüche segmentieren – beginnend bereits im Titel –128 die Satzglieder nach semantischen Gewichten und schaffen so neben der ästhetischen Form eine logisch transparente Struktur. Nicht zuletzt aber ist es die globale Gliederung des Stücks, die zur Ästhetisierung des Stoffes beiträgt. Denn auch der Viet Nam Diskurs ist Teil einer groß angelegten Neufassung von Dantes Divina Commedia, dem es seine Gliederung in jeweils elf »Stadien« verdankt. Das tragende Pathos göttlicher Gerechtigkeit hat für Weiss’ säkularisiertes Welt-Theater indes keine Gültigkeit mehr : Es zeigt die Täter im Inferno straflos, die Opfer im Paradiso sühnelos und das Purgatorio als Sphäre unumgänglicher Entscheidungen, aber auch der Ambivalenz und des Zweifels. Die Profanierung des ästhetischen Modells adaptiert dessen Struktur, um das stoffliche Material bewältigbar zu machen. Aber es stellt dessen ethisch-teleologische Struktur zugleich auf einen ›Realismus‹ um, der im Zeichen der Informiertheit steht: »Dante, der Reporter«.129 Die eschatologische Perspektive der Danteschen Commedia wird dennoch beibehalten: Aber die wird auf eine diesseitige Heilserwartung umgestellt, die sich an die revolutionäre Aktion bindet. 125 Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme, S. 67. 126 Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Aus dem Spanischen übertragen von Karl August Horst und Curt Meyer-Clason. Mit einem Nachwort hg. von Jos¦ A. Friedl Zapata. Stuttgart 1974, S. 47 – 57, hier S. 55. 127 So meint Stefan Howald: Viet Nam Diskurs. In: Peter Weiss’ Dramen. Neue Interpretationen. Hg. von Martin Rector und Christoph Weiß. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 176 – 192, hier S. 181. 128 Die Peter-Weiss-Forschung geht mit dem (in allen Ausgaben beibehaltenen) typografischen Satz des Titels allerdings wenig sorgfältig um; fast immer wird er fortlaufend zitiert. 129 Vgl. Andr¦ Combes: Dante der Reporter. Betrachtungen über das Politische und Ästhetische bei Peter Weiss. In: Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderon bis Georg Seidel. Deutsch-französische Perspektiven. Bern, Berlin u. a. 1996 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Band 40), S. 343 – 366.

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Jenseits der Strukturgeschichte. Die Wiedergewinnung des Ereignisses

Für seine strukturgeschichtliche Horizontalisierung zahlt das Drama dennoch einen Preis. Die Meidung der Theaterkonvention, die Distanz zur Tradition und gleichzeitig Nähe zum politisch interessierten Zielpublikum schaffen soll, verweist das dokumentarische Theater auf Aufführungsorte, die jenseits des institutionalisierten und staatlich alimentierten Theaters liegen: »Das dokumentarische Theater muß Eingang finden in Fabriken, Schulen, Sportarenen, Versammlungsräume«, hatte Weiss 1968 postuliert. »So wie es sich loslöst von den ästhetischen Maßstäben des traditionellen Theaters, muß es seine eigenen Mittel immer wieder infrage stellen und neue Techniken entwickeln, die neuen Situationen angepaßt sind«.130 Nur dadurch kann das Theater zur politisch bewusstseinsbildenden Anstalt werden, dass es seinen vertrauten Ort verlässt und die Kommunikationsräume der ›Massen‹ aufsucht. Weiss’ Viet Nam Diskurs hintergeht die ereignisfixierte Berichterstattung des aktuellen Krieges – und zielt doch auf dieses Ereignishafte ab, indem es als »Agitproptheater« die ›Massen‹ politisieren und mobilisieren will. Es bewegt sich damit in einem wirkungsästhetischen Paradox, das das Drama selbst nicht zu lösen vermag. Nicht zuletzt in Hinsicht auf seine Rezeption war dieser Preis zu zahlen: Vom agitatorischen Erfolg her gesehen erwies sich der Versuch, dem Theater eine neue Stelle im medialen Feld der späten sechziger Jahre anzuweisen, als Illusion. Sämtliche (vier) Aufführungen in Frankfurt / Main, Rostock, München und Ost-Berlin, die der Viet Nam Diskus im März und April des Jahres 1968 erfuhr, fanden an Bühnen etablierter Theater statt. Dass auch die ausholende Länge dem agitatorischen Ziel nicht eben günstig ist, belegt die einstündige Diskussion, die der SDS im Anschluss an die wegen befürchteter Störungen unter Polizeischutz stattfindende Frankfurter Uraufführung am 20. März 1968 an den Städtischen Bühnen unter Harry Buckwitz anberaumt hatte: Sie zählte nach Aussage des zeitweiligen Vorsitzenden Reimut Reiche zu den »langweiligsten SDS-Veranstaltungen« überhaupt. Die zweite westdeutsche Aufführung am Münchner Werkraumtheater, die den Bühnentext auf etwa dreißig Prozent seines Umfangs zusammenstrich,131 »spielte das Stück eigentlich schon als Persiflage gegen sich selbst aus«: »Dokumentartheater ist Scheiße!« war auf einer der Stellwände zu lesen.132 Mit der beschriebenen historisch-zeitgeschichtlichen Doppelstruktur, die die ›Vorgeschichte‹ Vietnams der modernen Zeitgeschichte des Krieges voranstellt, handelt sich Weiss’ Drama aber noch ein anderes Problem ein: Einerseits stellt 130 Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 103. 131 Howald: Viet Nam Diskurs, spricht von einer »Revue« von 80 Minuten, was auf eine Gesamtspiellänge des vollständigen Dramas von etwa vier Stunden schließen lässt. 132 Ebd., S. 178; vgl. auch Arnd Beise: Peter Weiss. Stuttgart 2002, S. 133 f.

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die historische Reichweite des ersten Teils die an politischer Gegenwart ausgerichtete Aufmerksamkeit der Zuschauer auf eine harte Probe; andererseits ist auch der zweite Teil mit der aktuellen Ereignisgeschichte zum Zeitpunkt der Uraufführung schon nicht mehr gleichauf. Immerhin fast vier Jahre und die abermalige Eskalation des Krieges seit der militärischen Intervention der USStreitkräfte in Vietnam trennen das Stück bei seiner Erstaufführung vom letzten dokumentierten Datum, der Kongressansprache Lyndon B. Johnsons am 5. August 1964; sie bezieht sich auf den Zwischenfall im Golf von Tonkin am 2. August, der zur Ausweitung der amerikanischen Operationen gegen Nordvietnam den Vorwand gab.133 Indem es den zeitgenössischen Stand der Information unterbietet, legt es ungewollt von der konstitutionellen Verspätung der Kunst gegenüber der ›rollenden Weltgeschichte‹ (Goethe) Zeugnis ab. Zwei Jahre lang hatte Peter Weiss mit dem Soziologiestudenten Jürgen Horlemann Materialien zum Vietnamkrieg gesammelt, die dieser 1966 zusammen mit Peter Gäng zu einem Suhrkamp-Band verarbeitete. Allerdings strich Horlemanns / Gängs Vietnam. Genesis eines Konflikts dabei den Stoff der ersten sieben ›Stadien‹ der ›Vorgeschichte‹ des Krieges auf ein einziges knappes Kapitel zusammen.134 Während das Drama also nicht nur einen »Abschluß sich und andern schuldig bleiben« musste,135 sondern auch den geschichtlichen Moment nicht mehr erreichte, gewann die publizistisch erfolgreiche, expositorische Darstellung Anschluss an die unmittelbare Gegenwart. Die informationelle Zulieferung der Kunst hatte die Kunst überholt. Auch wenn es den ästhetischen Verfahren des Viet Nam Diskurs gelingen mag, Strukturgeschichte ästhetisch umzusetzen, besteht ihr zentrales Problem doch darin, von der strukturalistischen Überwindung der Ereignisgeschichte wiederum zum revolutionären Ereignis zurückzugelangen, auf das es seine agitatorische Pragmatik abgesehen hat. »Die große Arbeit an der Veränderung der Gesellschaft ist mir wichtiger als die kleinen Schritte der Kompromisse und Utopien des Verlagsgeschäfts«, hatte Peter Weiss 1969 seine Absage an den Verlag der Autoren begründet, da er seine »Angriffe gegen den Kapitalismus und

133 Weiss: Viet Nam Diskurs, S. 196. Der Chor äußert unmittelbar zuvor : »Wir die Planer die wir über / jegliche Information verfügen / legen den Beweis vor / daß ein absichtlicher Angriff / gegen unsre Flotte / in der Bucht von Tonking / stattgefunden hat« (ebd.). – Zu dem Ereignis vgl. Frey : Geschichte des Vietnamkriegs, S.103 ff. – Der Zwischenfall und der Bericht der Fulbright-Kommission, der den amerikanischen Kriegseintritt scharf kritisierte, kommt auch in den wiedergegebenen Nachrichten der New York Times in Uwe Johnsons Jahrestagen mehrfach zur Sprache; vgl. Johnson: Jahrestage, Bd. 2, S. 572, 648, 662 u. ö. 134 Jürgen Horlemann, Peter Gäng: Vietnam. Genesis eines Konflikts. Frankfurt/M. 1966, S. 7 – 20. 135 Goethe: Campagne in Frankreich 1792, S. 512 f.

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Imperialismus auf breitester Ebene durchführen« wolle.136 Nicht zuletzt das rezeptionsästhetische Scheitern dieses Versuchs zeigt die Notwendigkeit an, andere Formen für diesen Protest zu finden. Nimmt man Weiss’ Selbstauskunft beim Wort, so will sein Drama die politisch-militärische Gegenwart, hinter der es zurückbleibt, aber auch gar nicht mehr erreichen: »Der Tongking-Zwischenfall ist das Zeichen für die große Eskalation,« äußert Weiss im Interview, »und was nachher kam, das wissen wir. Deshalb halten wir [der Autor und der Regisseur Harry Buckwitz] es nicht mehr für notwendig, dieses Stadium auch auf der Bühne noch einmal nachzuvollziehen.«137 Das Drama der Zeitgeschichte hält einen Abstand ein, dessen Unterschreitung es der aussichtslosen Konkurrenz mit den Massenmedien ausliefern würde. Die letzten Worte des Dramas: »Wir zeigten / den Anfang / Der Kampf geht weiter« überantworten die Konsequenz aus dem Dargestellten zudem einer revolutionären Aktion, die den erreichten Moment überbietet – und jenseits des Ästhetischen beginnt. Diese Losung verselbständigt sich auch in der Textgestalt des Lesedramas dadurch, dass sie – abweichend von der sonst beachteten orthografischen Regel – mit einer Majuskel beginnt und sich so als appellative Formel vom vorangehenden Text absetzt. Weiss’ Drama räumt damit sein Zurückbleiben hinter den politischen Ereignissen ein, die es vielmehr vor dem Vorhang – oder nach dem Ende der Vorstellung – erwartet, statt sie auf der Bühne zu inszenieren. Das in der längst verselbständigten Formel gebündelte Bewusstsein einer weltumspannenden revolutionären Bewegung, an der auch die Terroristen der Roten Armee Fraktion teilzunehmen glaubten, bedurfte freilich der Demonstration des »Anfangs« von Seiten des dokumentarischen Theaters nicht. »Der Kampf geht weiter« hat noch am Grab des am 9. November 1974 im Hungerstreik verstorbenen RAF-Mitglieds Holger Meins, die Losung seines letzten Briefes aufnehmend, der ehemalige SDS-Vorsitzende Rudi Dutschke ausgerufen.138 * 136 Zit. nach der Kritik von Helmut Salzinger: Zwei, drei, viele Standpunkte. Der lange Marsch des Peter Weiss. In: Die Zeit Nr. 22 vom 30. 5. 1969, S. 21 – 22, hier S. 21. – Der Titel spielt auf einen 1967 unter dem Titel Mesaje a la Tricontinental ausgegebenen Slogan von Ernesto Che Guevara an: »Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams«; die deutsche Übersetzung von Rudi Dutschke und Gaston Salvatore erschien im selben Jahr in der »Kleinen revolutionären Bibliothek« der Westberliner Oberbaumpresse. Der Topos vom ›langen Marsch durch die Institutionen‹ formulierte eine Devise der Protestbewegung von 1968. 137 Peter Weiss im Gespräch mit Peter Iden: Vietnam auf der Bühne. 138 Vgl. den Leserbrief Rudi Dutschkes, der sich jedoch vom »Terror« distanziert, in: Der Spiegel 48/1974, S. 7, sowie dieselbe Parole in dem in der vorherigen Ausgabe des Spiegel abgedruckten Brief: [Holger Meins]: Entweder Mensch oder Schwein. Der letzte Brief von Holger Meins (an Grashof, 31. Oktober 1974). In: der Spiegel 47/1974, S. 30.

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Erst 1991, fast ein Vierteljahrhundert nach dem Viet Nam Diskurs, erschienen aus dem Nachlass die Tagebuchaufzeichnungen, die Peter Weiss’ zwischen dem 10. August 1970 und dem 1. Januar 1971 notiert hat. Der Titel Rekonvaleszenz bezieht sich auf das halbe Jahr der Genesung von einem im Juni 1970 erlittenen Herzinfarkt – ein Chock, der Weiss gegenüber der versachlichten, ›objektivierten‹ Dramatik des Diskurses zur stärkeren Beschäftigung mit seinen ›inneren‹ Zuständen und zu einer Revision seines bisherigen Schreibens veranlasst hat.139 Der eröffnende Tagebucheintrag vom 10. August 1970 beginnt mit den Worten: Seit Jahren habe ich mich mit meinen Träumen und mit dem Nachspüren innerer Monologe nicht mehr beschäftigt, damit war ich fertig, das hatte ich früher zur Genüge getan, die äußeren Vorkommnisse waren jetzt wichtiger, und wenn es um mich gehen sollte, so konnte es sich nur darum handeln, welche Stellung ich in der Außenwelt einnahm, für wen ich Partei ergriff. Die persönliche Problematik zeigte sich höchstens in der Wahl meiner Arbeitsthemen, sie lag tief unter der Objektivität, mit der ich auf bestimmte soziale, ökonomische und politische Fragen reagierte. Das Material, das bei diesem Unterfangen auf mich zukam, war so umfassend, und zog die Aufmerksamkeit in so zahlreiche Verzweigungen, daß für die Meditation, das Phantasieren, die poetische Erfindung, kaum mehr Zeit übrig blieb.

Nicht nur die Zeitökonomie der Arbeit, die die Aufmerksamkeit des Schriftstellers absorbierte, ließ für das fiktionale »Phantasieren« keinen Raum; sein poetologisches Programm ließ es gar nicht zu. »[I]ch konnte nicht auskommen ohne Exzerpte, Zeitungsausschnitte, Bibliotheken, wissenschaftliche Archive, Korrespondenzen«, schreibt Weiss weiter, »alles war ein Teilhaben an vorhandenen Fakten«, bei dem sich die eigene Leistung auf das »Prüfen und Vergleichen« sowie ein »mühsames langwieriges Zusammenstellen« zu einem »konzentrierten Wirklichkeitsbild« einschränkte.140 Die jetzt veröffentlichten Tagebuchnotizen aber unterstehen nicht dem Zwang zum ›Faktizismus‹, auch wenn sie sich zu zwei Dritteln wiederum mehr mit »äußeren Vorkommnissen« und politischen Themen beschäftigen als der »andren Stimme« Gehör verschaffen, »die sich bemerkbar machen wollte«.141 Soweit sie dieser Stimme jedoch Aufmerksamkeit zuwenden, reflektieren sie subjektive Eindrücke und Erfahrungen – etwa von der Reise nach Vietnam, die Weiss zusammen mit seiner Frau Gunilla

139 Vgl. Beise: Peter Weiss, S. 251 f. – Teile dieser Aufzeichnungen wurden jedoch schon früher im Sammelband Der andere Hölderlin (1972) und in den Notizbüchern 1960 – 1971 (1982) veröffentlicht; vgl. dazu die »editorische Notiz« in Peter Weiss: Rekonvaleszenz. Mit drei Collagen vom Autor. Frankfurt/M. 1991, S. 218. 140 Weiss: Rekonvaleszenz, S. 7. 141 Ebd., S. 8. – Vgl. dazu auch Beise: Peter Weiss, S. 252.

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Palmstierna-Weiss von Mai bis Juni 1968 unternahm –142 intimer als alle Äußerungen des Autors Peter Weiss zum Vietnamkrieg, die er zuvor veröffentlicht hat. Mit der Öffnung für die ›nächtlichen Bilder‹ des Traums rücken auch die Ereignisse des gegenwärtigen Krieges in eine bedrohliche Nähe, die die dokumentarische und archivarische, analytische und ›wissenschaftliche‹, sinnliche Ereignisse ›asketisch‹ behandelnde und strukturell abstrahierende Distanz zunichte macht. Im Traum wird der Beobachter und Besucher des fremden, vom Krieg verwüsteten Landes zum Teilnehmer des Beobachteten. Dort, im Zimmer eines Hotels in Hai Phong, suchen ihn die Schrecken des Krieges, dem er sich fern der europäischen, pazifizierten ›Heimat‹ aussetzt, wie Nachmahre heim: In der Dunkelheit draußen die schwitzenden Höfe. Das Grillengezirp plötzlich versiegt. Im geräumigen, ehemals prunkvollen, jetzt verfallenen Badezimmer der Geruch von Fäulnis und eine aufgescheuchte Riesenspinne. Und meine Zugehörigkeit, meine Anteilnahme wurde plötzlich wieder zur dünnen Konstruktion, selbst in dieser Umgebung eines konservierten Feudalismus, in diesem wenn auch angeschlagenen europäischen Reservat, war ich in einer absolut fremden Welt, einer Wildnis ausgesetzt, alle erworbenen Kenntnisse über dieses Land zerbröckelten, rieselten weg, in einem Niemandsland war ich jetzt, in einem Dahindämmern unterm Moskitonetz, Atemnot überkam mich, wurde unerträglich, ich schlug den Vorhang zurück, es war besser, von den Insekten zerstochen zu werden als zu ersticken, und dann kam es, zuerst als Traum, dann wurde es immer wirklicher, ich lag im Sand vergraben, gelähmt, Sand im Mund, ein Rieseln von Sand, mehr und mehr übersickert von Sand, und so wie ich lagen viele in dieser Nacht, in den südlichen Provinzen, hineingeschleudert, hineingesogen in die Erde, unterm Dröhnen der Bomber, beißend der Gestank, vernichtend die Hitze des Napalmfeuers, vereinzelte Schreie noch im Qualm, […] dann die Woge des erneuten Angriffs, rasender Orkan, aufgepflügt die schon unzählige Male gepflügte Erde, voller Gebeine, Stahlfragmente, blutiger Körperteile, das Hämmern der Luftabwehrgeschütze, und hoch oben die Mörder, in kunstvollen Hülsen, zwischen Drähten, Stöpseln, Druckknöpfen, jeder Millionen wert, jeder Tausende von Dollars hinabschleudernd zu protzenden Explosionen […].143

Das »Hinuntersteigen in die Regionen der Zwecklosigkeit«144 wird zur Höllenfahrt: Das atemlose Stakkato der Sätze wiederholt die »Atemnot« des erzählten Ich in der Grammatik – und inszeniert so die leibliche Aussetzung in der chockhaften Realität eines Krieges, mit dem auch die engagierten Autoren der endsechziger Jahre nur in seiner medialisierten Form bekannt geworden sind. Wie eine »aufgescheuchte Riesenspinne«145 bringt sich das Ereignis des Krieges zur Geltung, als radikale Alterität: unvorhergesehen und »plötzlich«, wie die 142 Vgl. Peter Weiss: Notizen zum kulturellen Leben in der Demokratischen Republik Viet Nam. Frankfurt/M. 1968, S. 8. 143 Weiss: Rekonvaleszenz, S. 37. 144 Ebd., S. 68. 145 Ebd., S. 36.

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Formulierung eingangs der zitierten Passage gleich zweifach sagt. Was im gleitenden »Dahindämmern« von der empirischen Wirklichkeit in einen halluzinatorischen Zustand, der Wirklichkeit und Phantasie nicht mehr diskret unterscheidet, erfahrbar wird, liegt jenseits eines ›objektiv‹ datierbaren, konkreten Ereignisses – und ist doch so nah daran wie keine von Weiss’ literarischen Einlassungen auf den Vietnamkrieg zuvor. Hatte der politische Autor aus seiner europäischen Perspektive sonst nur seine Solidarität literarisch artikulieren können, halluziniert er sich nun selbst gleichsam in den Glutkern der Ereignisse hinein, phantasiert er sich in traumhaft-traumatischer Weise als Opfer des medial zugleich nah- und fern gerückten Krieges in Vietnam, dem er jetzt allerdings auch räumlich so nah ist wie nie zuvor.146 Die irreale Phantasie eines Traums stellt damit die Realität des Krieges wieder her, die in allen anderen Vietnam-Texten Peter Weiss’ auf politisch-theoretische Distanz gebracht worden war. Sie bezeugt damit zugleich, wie wenig Ereignisse in Strukturen, ereignishafte Präsenz in geschichtsphilosophisch-struktureller Latenz letztlich aufgehoben sind.

7.

Bildbeschreibung II: Uwe Johnsons Jahrestage – Nie habe ich die Wahrheit versprochen. – Gewiß nicht. Nur Deine Wahrheit. – Wie ich sie mir denke.147

Ganz anders als Peter Weiss’ Medienkritik, die den öffentlichen Diskurs von Presse, Rundfunk und Fernsehen vor allem für Unterschlagungen der ›Wahrheit‹ verantwortlich macht, sind Uwe Johnsons Jahrestage durch ein Vertrauen zu den modernen Informationsmedien – und mehr noch: durch eine Vertraulichkeit charakterisiert, die sich vor allem auf die New York Times als bevorzugtes Informationsmedium bezieht. Jedes einzelne Tagebuch-Kapitel des fast zweitausend Seiten umfassenden Romans zitiert oder reformuliert Meldungen der Tagespresse, und oft genug überantwortet sich der Text der kommentarlosen Übersetzung ihrer Meldungen ganz. Die Vertraulichkeit im Umgang mit dem Nachrichtenmedium äußert sich in einer Familiarisierung, die zwar das Medium nicht zur eigentlichen Botschaft (the medium is the message, Marshall McLuhan), aber zum Familienmitglied macht: Die Hauptfigur Gesine Cresspahl stellt sich die Zeitung als »[e]ine ältere Person« vor, »eine hagere Figur, harte Falten im 146 Vgl. dazu auch Jan Kostka: Peter Weiss’ Vietnam/USA-Variationen über Geschichte und Gedächtnis. Schkeuditz 2006, S. 118. 147 Johnson: Jahrestage, Bd. 2, S. 670.

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Gesicht, bittere Mundwinkelschwünge, allerdings dunkle und elegante Kleidung, Beharren auf hochgesteckten Frisuren, eine verkratzte Stimme, Lächeln nur in den Augenwinkeln«; eine humanistisch gebildete Lehrerin, die mit der Erfahrung ihres Alters kokettiert.148 So beziehungslos und disparat oft genug die Informationen erscheinen, die der Text in oft schematischer Weise zu Beginn der Tagebuch-Einträge zitiert, erzeugen sie doch Realitätseffekte, indem sie das Erzählen inmitten datierter Ereignisse situieren; die Medialität dieser Realität aber wird durch den familiarisierenden Umgang hervorgekehrt, den Gesine Cresspahl während der 364 Tage zwischen dem 21. August 1967 und dem 19. August 1968 zum wichtigsten Organ der US-amerikanischen Presse unterhält (»ich halt sie für eine Tante«).149 Über das personalisierte Medium New York Times, mit dem sie meist sympathisiert, seltener hadert, sucht die Zeitgeschichte, vor allem der Krieg in Vietnam, sie buchstäblich in ihrem New Yorker Alltag heim. Dadurch aber wird die Zeitgeschichte nicht etwa en famille privatisiert und entschärft, vielmehr wird umgekehrt die Familiengeschichte, in der sich ein zentrales Stück deutscher Zeitgeschichte überliefert, in aktuelle politische Bezüge gestellt: Die Informationen aus der Zeitung (weniger aus Rundfunk und Fernsehen) bilden eine Art Relais, das die auf Tonbändern aufgezeichnete Familiengeschichte vor, im und nach dem Nationalsozialismus mit der Erzählgegenwart verknüpft. Dabei ist es nicht die Protagonistin selbst, die erzählt, vielmehr ist der Roman das Resultat einer Art von ›Vertrag‹, den diese mit dem »Genossen Schriftsteller«, dem Autor »Johnson«, eingegangen ist: »Auftraggeberin« ist jedoch ihre Tochter Marie.150 Diese Erzählkonstruktion, die die Forschung lange beschäftigt hat, irritiert durch einen Wechsel von personalem und auktorialem Erzählen; ›objektive‹ Erzählerberichte wechseln mit dialogischen Passagen, zitative Wiedergaben ganzer Zeitungsartikel tragen zur formalen Vielschichtigkeit der Erzählung bei. Während die Geschichte der Familie Cresspahl im mecklenburgischen Jerichow seit 1920 jedoch meist auf Erinnerungen angewiesen ist, die dem wiederholten Eingeständnis der Hauptfigur zufolge unzuverlässig sind, bezieht sich die Gegenwartserzählung, sofern sie Zeitge148 Johnson: Jahrestage, Bd. 1, S. 38 f. 149 Johnson: Jahrestage, Bd. 2, S. 515. – Zur Wahl der New York Times unter den anderen amerikanischen Zeitungen bei Gesine Cresspahls Ankunft mit ihrer Tochter in New York »im April 1961« vgl. ebd., S. 513 ff. 150 Ebd., S. 671: »Du bist der Auftraggeber, Marie. / Right.« – Zur Erzählinstanz in Johnsons Jahrestagen (und zum ›Mediendiskurs‹ im Roman) vgl. die Analyse von Isabel Plocher : »Wenigstens mit Kenntnis zu leben.« Der Mediendiskurs in Uwe Johnsons »Jahrestage« am Beispiel der »New York Times«. Würzburg 2004 (Film – Medium – Diskurs; 2), insbesondere S. 41 – 46. – Vgl. ebenfalls Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses. Göttingen 2000 (Johnson-Studien; 4), S. 15 f., der die Einschaltung des Autors (an wenigen Stellen) als narrative Metalepse betrachtet.

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schichtliches wie den Vietnamkrieg berührt, auf nachlesbare Pressenachrichten. Es ist dieses externe Gedächtnis des Zeitungs-Archivs, auf das der Autor Johnson auch noch aus fünfzehnjährigem Abstand zurückgreifen kann, der den letzten Band bei seinem Erscheinen bereits vom letzten im Roman genannten Datum trennt. 7.1

Photographs make history. Mediale Ekphrasis in Johnsons Jahrestagen

Unter dem Datum des 2. Februar 1968 – also kurz nach Beginn der Tet-Offensive der Nationalen Befreiungsfront in Südvietnam – bringt der Erzählbericht der Jahrestage jene dreiteilige Folge von Fotografien ins Spiel, welche die ›Hinrichtung‹ des angeblich an der Ermordung der Familie eines Polizeioffiziers beteiligten 34jährigen FNL-Kämpfers NguyÞ˜n Va˘n L¦m (»Kampfname« Ba ¨ y Lú´p) ˜ durch den Polizeichef von Saigon, NguyÞn Ngoc Loan, zeigen. Die Exekution ˙ geschah vor den Kameras westlicher Reporter, und die publizierten Aufnahmen – vor allem das mittlere Bild der Folge – zählen zu den bekanntesten Fotografien des zwanzigsten Jahrhunderts. Gesine Cresspahl beschreibt die Bilderserie (Abb. 3) ihrer Tochter Marie: »Nimm die heutigen Bilder aus Saigon in der New York Times –«. Nicht von der Aufnahme eines Offiziers, »der sein erschossenes Kind aus dem Hause trägt«, ist die Rede, wie die Tochter zunächst meint;151 jeder Tag beschert dem Zeitungs- und Fernsehpublikum neue Bilder vom Krieg, doch kaum eines davon trägt sich dauerhaft ins Gedächtnis der Rezipienten ein. Aufgrund der zeitlichen Verschobenheit des 1971 publizierten Textes gegenüber den Nachrichten und Bildern von Anfang 1968 kann jedoch bereits auf die Kanonizität von Bildern im kollektiven Gedächtnis zurückgegriffen werden, die aus der ›Flut‹ der ikonischen Repräsentationen herausgehoben sind: Auf dem ersten Bild wird ein junger Mann von einem Marineinfanteristen abgeführt. Seine Hände sind auf dem Rücken, vielleicht gebunden. Er sieht nach Freizeit aus, wegen seines karierten Hemdes, und weil er es über der Hose trägt. Sein Mund ist offen, als unterhielte er sich angelegentlich, aber nicht ärgerlich mit dem Soldaten, der ihm das Gesicht in der Haltung freundlich zukehrt, wenn es auch vom Helm verschattet ist. Der Amerikaner scheint ihn eher zu leiten mit dem Arm, nicht zu zwingen. Das ist nach der Unterschrift ein Offizier der Viet Cong, und er hat eine Pistole bei sich gehabt. Eins. – Zwei. – Überschrift: »Die Hinrichtung«. Links steht ein Mann, im Profil von hinten gesehen, in einer offenbar nicht zivilen Weste, die Ärmel aufgekrempelt. Das ist der Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan, der Chef der Polizei in Süd-Viet Nam, und den rechten Arm hält er ausgestreckt mit einem Revolver, eine Handbreit von der Schläfe des Gefan151 Das Bild befindet sich ebenfalls auf der Titelseite der New York Times vom 2. 2. 1968, in kleinerem Format auch direkt unter der Exekutionsszene aus der im Folgenden beschriebenen Bilderserie.

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genen. Der Gefangene steht auch noch, aber sein Kopf ist etwas schief zur linken Schulter hingekippt, die Augen halb geschlossen, der Mund aufklappend wie eine Wunde. Sonst sieht der Kopf heil aus. Die Hände auf dem Rücken, gewiß gefesselt. »Das Gesicht zeigt den Einschlag des Geschosses.« Zwei. – Drei. – Das Opfer liegt auf der Straße, die nackten Beine sinnlos angewinkelt. Der Brigadegeneral hält mit der linken Hand das Holster am Hosenbund auf, mit der anderen versorgt er die Waffe. Er blickt nicht auf den Toten, sondern vor sich nieder, als wiederhole er sich nun den Vorgang in Gedanken. Im Hintergrund Ladenfronten und unverhofft ein Mann in amerikanischer Uniform, mit Sonnenbrille verkleidet, im Schritt angehalten und leicht umgekehrt, jedoch nicht, als wolle er eingreifen. Der Mann war dem Brigadegeneral ja übergeben worden.152

Wie in Uwe Timms Beschreibung des Pressebildes, das den sterbenden Benno Ohnesorg zeigt, beschreibt die Hauptfigur Bilder, die auch viel später noch jeder kennt – und die, abgedruckt in der New York Times vom selben Tag, den dialogisierenden Figuren im Text offenbar vor Augen liegen. Die Antwort der Tochter : »Ich weiß schon, Gesine«, weist die Erzählerin dennoch zurück, indem sie auf die ikonische Überbietung ihrer eigenen Erfahrung hinweist: »Nein. Ich habe nie gesehen, wie ein Mensch erschossen wird. Das zweite Bild zeigt den Augenblick, in dem der Gefangene stirbt.«153 – Trotz der permanenten Berichterstattung und Visibilisierung der Kriegsereignisse in Presse und Fernsehen, die den fernen Krieg nach Hause holen, zeigen die Bilder etwas im doppelten Sinn ›Unvorhergesehenes‹: Gegenüber den abstrakten Statistiken der Verletzten und Toten, die im Roman – Informationen aus der New York Times wiedergebend – immer wieder aufgelistet sind, stellen sie mit einem Mal die Präsenz des Krieges wieder her. Er ereignet sich im chockhafen Moment der Erschießung eines Menschen ›vor unseren Augen‹, also vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Kein durch die zahllosen Berichte erworbenes ›Wissen‹ ver152 Johnson: Jahrestage, Bd. 2, S. 672 f. – Die New York Times hat die Bilder am 2. 2. 1968 publiziert, unter welchem Datum Johnsons Roman sie auch verzeichnet: Das mittlere Bild der Serie, den Augenblick der Exekution, zeigt die New York Times groß auf der Titelseite, die dreiteilige Bilder-Folge auf S. 12. – Die informativen Teile der Bildbeschreibungen im Roman sind eng auf die Bildunterschriften bezogen. Die Unterschrift des Bildes auf der Titelseite der New York Times teilt mit: »Brig. Gen. Nguyen Ngoc Loan, national police chief, executes man identified as a Vietcong terrorist in Saigon.« Die Unterschrift des ersten Bildes der dreiteiligen Serie auf S. 12 lautet: »Man in checked shirt, who had been identified as a Vietcong officer, is guarded by a marine after being captured near the An Quang pagoda in Saigon. He was carrying a pistol when captured.« Die Unterschrift des zweiten Bildes enthält das im Roman übersetzte Zitat: »The prisoner’s face shows the impact of the bullet.« Auch die dritte Bildbeschreibung bei Johnson zitiert die Erläuterungen des dritten bzw. des zweiten Bildes: »[…] General Loan holsters his revolver.« »He [the prisoner] had been turned over to General Loan after his capture.« Vgl. The New York Times Vol. CXVII vom 2. 2. 1968, S. 1 bzw. S. 12. 153 Johnson: Jahrestage, Bd. 2, S. 673.

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schlägt gegen den optischen Eindruck dieses Augenblicks schierer Gewalt. Es ist diese chockhafte Evidenz, die innerhalb wie außerhalb der Romanfiktion aus Parteigängern der amerikanischen Vietnam-Politik, wie zögernd auch immer, Gegner des Krieges macht: Mr. De Rosny, der Vizepräsident der Bank, bei der Gesine Cresspahl arbeitet, hat dieselben Bilder »im Fernsehen betrachtet und will sich nun endlich bekehrt haben zu der Meinung von Mrs. Cresspahl.«154 Tatsächlich hat den Vorgang neben dem Associated Press-Fotografen Eddie Adams gleichzeitig ein Kameramann der NBC aufgenommen; die Fernsehanstalt zeigte sie in der Reportagesendung Huntley-Brinkley-Report noch am Tag des Ereignisses, dem 1. 2. 1968.155 De Rosnys Einlassung darauf bricht die Vertikalität des Chocks jedoch sogleich auf die Horizontalität der bekannten politischen Konfliktlinien um und wendet sie ins ethisch Allgemeine, weil er die unmittelbare Parteinahme scheut: »Die grundsätzliche Bestialität von Kriegen. Und wenn man so auf dem Bildschirm sehe, was der Viet Cong anrichte, und höre, daß Washington die Offensive für einen Fehlschlag erkläre, so werde die Vertrauenslücke nicht eben verringert.«156 Die politische Diskursivierung konvertiert den Chock der Bilder in den politisch versierten Kommentar, der Präsenz durch Verallgemeinerung ausgleicht: »So sagt es auch die New York Times«.157 Und doch durchzittert oder irritiert er den ausgleichenden, bei pragmatischen Bewertungen (»Fehlschlag«) und usuellen Formeln (»Vertrauenslücke«) Zuflucht suchenden Diskurs, den die Romanfigur repräsentiert, indem er am Ende den Bruch ihrer Loyalität mit der US-amerikanischen Kriegspolitik erzwingt, die in dem fernen asiatischen Land eigentlich gar nichts zu fordern hat. Die Eskalation des Krieges unter Präsident Johnson ging mit einem Wechsel in der massenmedialen Vermittlung und Perzeption des Krieges in Vietnam einher : Jetzt wurde das Fernsehen zum Leitmedium der Berichterstattung.158 Die von Gesine Cresspahl so genau beschriebene Bilderserie hat dagegen vor allem von den Printmedien aus ihre Wirkungsgeschichte begonnen. Susan Sontags 154 Ebd., S. 680. 155 Vgl. dazu den Eintrag zum »2. 2. 1968« im Kommentar zu Johnsons Jahrestagen: Helbig, Kokol, Müller, Spaeth, Fries (Hg.): Johnsons »Jahrestage«, S. 392. Die hier (zur Stelle S. 672, 15 f.) gemachte Angabe zur Erstpublikation der Bildserie in der Washington Post »am 22. 2. 1967« ist allerdings offenbar falsch; die Bilder wurden am 1. 2. 1968, einen Tag vor der Publikation in der New York Times, aufgenommen. – Zur Geschichte der Fotografien und ihrer ikonologischen Deutung vgl. Stephan Schwingeler, Doroth¦e Weber: Das wahre Gesicht des Krieges. Die Hinrichtung in Saigon von Eddie Adams. Das Entstehen einer Ikone vor dem Hintergrund ihrer Publikationsgeschichte in den Printmedien. In: Kritische Berichte 33 (2005), S. 36 – 50. 156 Johnson: Jahrestage, Bd. 2, S. 680. 157 Ebd. 158 Vgl. Wölfl: Kriegsberichterstattung im Vietnamkrieg, S. 90.

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Feststellung, es seien vor allem die stehenden Bilder der Fotografie, nicht die bewegten Bilder des Fernsehens, die sich dem historischen Gedächtnis inkorporieren, findet darin ihre Bestätigung.159 »[T]elevision today tends to provide the first visual reports of a given situation, while still photographs define the event in the public mind thereafter«, schreibt Chuck Hagen in einem Artikel der New York Times fast ein Vierteljahrhundert nach der Publikation der Bildserie: »In other words, television offers news, while photography makes history.«160

Abb. 3: Die Bilderserie des AP-Fotografen Eddie Adams in der New York Times vom 2. Februar 1968 (Ó The New York Times/Adams)

Und doch ist die in Johnsons Jahrestagen ›erzählte‹ Bilderserie gewissermaßen das Dokument eines Übergangs von der statischen zur seriellen Visualität des Krieges, auch wenn das weltöffentliche Bildgedächtnis nur das mittlere Bild festhält. Zwischen den Bildern, über denen Gesine Cresspahl so gewissenhaft kontempliert, stellt sich eine einfache Parataxe her : Sie erzählen in drei statischen Momentaufnahmen die Geschichte einer Erschießung, also den Übergang eines Menschen vom Leben zum Tod. Das mittlere (auch auf der Titelseite der New York Times abgedruckte) Bild fungiert dabei als Bindeglied und Unterbrechung zugleich; es konstituiert einen Zusammenhang, indem es ihn unterbricht, also die radikale Differenz einführt, die das erste Bild des Lebenden vom letzten Bild des Sterbenden trennt. Dieser Übergang wirkt umso chockhafter, als der zivil gekleidete Gefangene auf dem ersten Bild noch nichts von seinem Schicksal zu ahnen scheint. Die mörderische Gewalt des Krieges residiert allein in der Requisite – etwa dem Helm, der das Gesicht des amerikanischen161 Sol159 Vgl. Sontag: Über Fotografie, S. 23. 160 Chuck Hagen: Photography View. The Power of a Video Image Depends on the Caption. In: The New York Times vom 10. 5. 1992, S. 32 (zit. auch in Schwingeler, Weber : Das wahre Gesicht des Krieges, S. 36). 161 Unter dem Datum des 4. 2. 1968 heißt es in den Jahrestagen (Bd. 2, S. 674): »Der Soldat, der

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daten verschattet, während das Gesicht des Festgenommen sichtbar ist, und damit gerade an jener zentralen Stelle, die Emmanuel L¦vinas als evidenten Grund des humanen Tötungsverbots und des Ethischen überhaupt ausmacht, eine Asymmetrie einführt.162 Das mittlere Bild nimmt diese verzerrende Asymmetrie auf, indem es den Mörder »im Profil von hinten gesehen« und »in einer offenbar nicht zivilen Weste« zeigt, während das Gesicht des Opfers der Kamera exponiert ist.163 Dadurch wird das Bild zu einem fotografischen Ecce homo. Die Szene der ultimativen Gewalt kontrastiert mit der gerade noch sichtbaren Spur zivilen Lebens, an das der ausbleichende Hintergrund mit seinen »Ladenfronten« erinnert. Dabei unterstützt die unordentliche militärische Erscheinung des Täters, der wie ein waffentechnisch aufgerüsteter Sensenmann die Pistole am dürren Arm aus nächster Nähe auf den Kopf des Opfers richtet, den Eindruck vollständig devastierter Sozialität. An der chockhaften Wirkung des Bildes ist auch der Umstand beteiligt, dass es den Kopf des Opfers im Moment des Eindringens des Projektils zwar »schief zur linken Schulter hingekippt, die Augen halb geschlossen, der Mund aufklappend wie eine Wunde« zeigt, sonst aber »heil« aussehen lässt: als protestiere es im Moment der Tötung gegen deren ontologische Möglichkeit (und nicht nur, worauf es seine Wirkungsgeschichte vor allem festlegte, gegen die unmoralische Wirklichkeit des amerikanischen Krieges in Vietnam). Der geöffnete Mund vertritt metonymisch die Wunde, die zu zeigen die im Moment des Schusses ausgelöste Kamera dem Körper keine Zeit lässt. Die dritte Aufnahme führt schließlich einen vor dem Objektiv der Fotokamera ›objektiv‹ gewordenen Nihilismus des Krieges vor, der mit sich selbst offenbar nichts anzufangen weiß: Die Versorgung der Waffe, während sich nach Gesine Cresspahls Vermutung der Vorgang im »vor sich nieder« gesenkten Blick des Mörders noch einmal wiederholt, sucht den transitorischen Moment einer Tat routiniert zu überwinden, deren politisch-militärischer ›Sinn‹ und deren menschliche Bedeutung sich im Augenblick ihrer Ausführung unendlich weit voneinander entfernt haben. Diese Entfernung lässt ein semantisches Vakuum zurück, das die letzte Aufnahme der dreiteiligen Serie im Vergleich mit der mittleren erst wirklich erstarren lässt (während das Erscheinen des unbeteiligten Soldaten »in amerikanischer Uniform, mit Sonnenbrille verkleidet«, die Fortsetzung des dem Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan ein Opfer zuführte, sei doch kein Amerikaner gewesen sondern ein Soldat der A.R.V.N. [Army of the Republic of Viet Nam, C.D.] Der Tote ist berühmt, und sein Name nicht bekannt.« 162 Vgl. Emmanuel L¦vinas: Totalit¦ et infini. Essais sur l’ext¦riorit¦. Den Haag 1961, S. 9. 163 Die gefilmte, im Internet veröffentlichte ›Hinrichtung‹ des amerikanischen Journalisten Daniel Pearl am 23. Januar 2002 im pakistanischen Karatschi durch islamistische Terroristen greift diese ikonische Anordnung des nicht-exponierten Täters und des faszial exponierten Opfers abermals auf. Vgl. dazu weiter unten die Überlegungen zum Roman von Bernard-Henri L¦vy : Qui a tu¦ Daniel Pearl? Paris 2003, im Kap. »1992 – 1999. Die postjugoslawischen Kriege«.

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Krieges schon ankündigt); die semantische Leere der Aufnahme ist so radikal, weil sie zu keiner weiteren, nach dem Tod des Erschossenen noch entscheidenden Frage mehr die Vorlage gibt. Was bleibt, stiften die Bilder. Der Lakonismus von Gesine Cresspahls letztem, das Bild kommentierenden Satz (»Der Mann war dem Brigadegeneral ja übergeben worden«) legt von dieser Sprachlosigkeit des Krieges Zeugnis ab, der sich in ebenso blutigen wie leeren Tautologien erschöpft. 7.2

Zeitgeschichte als Präsenzgenerator

Die in Johnsons Text beschriebenen und hier analysierten Bilder repräsentieren einen Vorgang, der sich im Zeitmaß von wenigen Minuten zugetragen hat. Aus dem sequenziellen Zusammenhang der Bilder hat die Rezeptionsgeschichte – wie schon der Abdruck auf der Titelseite der New York Times – die mittlere Aufnahme isoliert, die zum Pressefoto des Jahres 1968 gewählt wurde und für die der Fotograf Eddie Adams 1969 den Pulitzer-Preis für Fotografie erhielt. Im Gesamtzeitrahmen des ›langdauernden‹ Krieges markiert die Aufnahme einen singulären Moment, dessen politische Signifikanz sie selbst erst konstituiert. Denn die optische Repräsentation der Erschießung konkretisiert ein Geschehen, das sich vor allem in abstrakten Opferstatistiken niederschlägt, die in der New York Times ständig aktualisiert und in den Tagebucheinträgen des Romans oft genug als numerische Aufstellungen wiedergegeben werden. Indes bleibt die Frage offen, warum der Roman überhaupt von Bildern erzählt, die zum Publikationszeitpunkt des zweiten Bandes (1971) längst allgemein bekannt waren; schon innerhalb der Fiktion werden sie ja von Gesine Cresspahl der Tochter Marie beschrieben, der die aktuelle Ausgabe der New York Times offenbar vorliegt. Abermals provoziert gerade die genaue Beschreibung die Frage, worin ihr Mehrwert gegenüber den visuellen Dokumenten eigentlich besteht. Die eine, fiktionsinterne Funktion benennt die Romanfigur selbst: Denn die Bilder führen – in Gesine Cresspahls Rede – vor, »[w]as ich damals nicht habe sehen können. Was ich nicht gelernt habe und nachholen muß.«164 Die zeitgeschichtlichen Bilder fungieren als anthropologische Expertise für eine Vergangenheit, die sie gar nicht darstellen. Aber der Konnex zeitgeschichtlicher Nachrichten und Bilder mit der erzählten Vergangenheit ist doch durch die Repräsentation eines Ereignisses hergestellt, das durch seine emblematische165 Einprägungskraft übertragbar erscheint: »Wenn in deiner Erzählung jemand erschossen wird, brauchst du es mir nun nicht mehr zu beschreiben, Gesine.«166 In der sinnlichen, 164 Ebd., S. 672. 165 Die Verwendung des Emblem-Begriffs rechtfertigt sich für die beschriebene Bildfolge auch dadurch, dass sie mit der Struktur von Überschrift (inscriptio), fotografischer pictura und Unterschrift (subscriptio) dem Aufbau des barocken Emblems genau entspricht. 166 Johnson: Jahrestage, S. 673.

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medial vermittelten Konkretisierung kehrt sich die Beziehung von Gegenwart und Vergangenheit um: Nicht die erzählte Vergangenheit erläutert oder plausibilisiert die Gegenwart, sondern umgekehrt konkretisiert die technisch bebilderte Gegenwart eine weitgehend bildlose Vergangenheit, die offenbar auch durch sprachliche Beschreibung nicht hinreichend vorstellbar gemacht werden kann. Die fotografischen Bilder erzeugen dagegen eine Anschauungskontinuum, das auf die Imagination der Vergangenheit zurückwirkt; zwischen dem Ereignis in Saigon und den erinnerten Ereignissen in Jerichow stellt sich eine ikonisch kodierte Kontiguität her, die von den abgedruckten Zeugnissen in der Zeitung her nicht absehbar war. Die Adressatin innerhalb wie die Leserschaft außerhalb des Textes haben daran teil: »Aber wenn du in deiner Geschichte jemand erschießen läßt, werde ich wissen, woran du dabei denkst, und auch daran denken. Wolltest du das? / Das auch.«167 Die andere Antwort auf die gestellte Frage lässt sich gewinnen, wenn man Gesine Cresspahls Bildbeschreibungen im Roman daraufhin befragt, was sie von sprachlicher ›Reproduktion‹ unterscheidet, die die Bilder doch nicht ersetzen kann. So genau sie die Denotation der Bilder erfassen, erschöpfen sie sich doch nicht in der aisthetischen Tugend des genauen Hinsehens; vielmehr interpretieren sie diese – mit Hilfe der Bildunterschriften, aber auch unabhängig davon und mit einer ikonologischen Intelligenz, die nicht zuletzt sensibel ist für das, was die Bilder nicht zeigen: die unsichtbare, tödliche »Wunde« des eindringenden Projektils, die Wiederholung des Ereignisses »in Gedanken« des Täters. Damit überschreiten sie das Gezeigte auf der Ebene der Konnotation, die jedes – auch technische – Bild zu einem komplexen ikonischen Zeichen macht, so dass vor allem das mittlere der interpretierten Bilder zugleich zu einem Interpretament der Gewaltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts werden konnte. Die mediale Ekphrasis im Roman widerspricht damit implizit der weithin geteilten Auffassung von der Eindimensionalität der fotografischen oder filmischen Bilder : Dass sie ›nichts als‹ die unmittelbar sichtbare Oberfläche darzubieten haben, vereinfacht die semiotische Struktur und Ästhetik technischer Aufnahmen auf reduktionistische Weise. Denn der Kontext, in dem sie angesehen werden, lädt sie mit einer Bedeutung auf, von der der Fotograf im unwahrscheinlich kurzen Moment des Schusses, der den gewalthaften Akt der Erschießung mit dem fotografischen Akt kurzschloss, nichts ahnte. *

167 Ebd.

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Johnsons Jahrestage setzen mit dem Datum des 20. August 1967 ein. Genau ein Jahr später, in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968, rollten sowjetische Panzer in die tschechoslowakische Hauptstadt ein, um dem ›Prager Frühling‹ der Regierung Alexander Dubcˇeks, der dem Sozialismus ein ›menschliches Gesicht‹ zu geben versuchte, ein gewaltsames Ende zu bereiten. Wie der Eintrag in Johnsons Jahrestagen festhält, stehen Gesine Cresspahl und ihre Tochter Marie, die sich zum Zeitpunkt des Geschehens noch in Dänemark aufhalten, an diesem 20. August unmittelbar vor dem Abflug nach Prag (»Heute abend rufen wir an aus Prag«).168 Tatsächlich besetzte eine sowjetische Luftwaffendivision am Abend desselben Tages den Prager Flughafen Ruzyneˇ, so dass die letzte, über den Rand des Romans hinaus geplante Handlung gar nicht verwirklicht werden kann. Noch in derselben Nacht berichtete bereits das Fernsehen – im deutschsprachigen Raum vor allem der Österreiche Rundfunk – von den Ereignissen: Die Niederschlagung des Prager Frühlings war das erste politische Ereignis von ›welthistorischem‹ Rang, das live im Fernsehen übertragen wurde.169 »Die Missetäter am Tatort wurden fast in Echtzeit festgehalten. Damit hatte keiner gerechnet, dass die Besatzungsmächte schon wenige Stunden nach ihrem Einmarsch auf den Bildschirmen der Welt ertappt würden«, erinnert sich Gerd Bacher, der ehemalige Generalintendant des ORF. – Der Eintrag in Johnsons Jahrestagen (»20. August, 1968 Last and Final«) weiß davon noch nichts. Die Beziehung des letzten Kapitels zu den politischen Ereignissen, die der ›Kommentar‹ zum Text nachliefert, bleibt völlig abstrakt.170 Zuvor war in den Jahˇ SSR die Rede – restagen freilich immer wieder von den Entwicklungen in der C vermittelt, wie immer, über die Nachrichten der New York Times. Damit ist im Text immerhin eine zeitgeschichtliche Fährte angelegt, die auf das Ereignis zusteuert, vor dessen Eintreten aber abrupt abbricht; das letzte Ereignis bleibt bei der Vollendung der Chronik eines Jahres ausgespart. Auf das zeitgeschichtliche Gedächtnis der Leser ist allerdings Verlass. So diskret kann politische Zeitgeschichte des Jahres 1968 in literarische Texte eingetragen sein: Sie verbirgt sich hinter Datum und Ort.

168 Johnson: Jahrestage, Bd. 4, S. 1891. 169 Vgl. dazu Johanna Scholz: Wir waren so gut wie der Geheimdienst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 195 vom 21. 8. 2008, S. 48; hier auch das folgende Zitat. 170 Vgl. dazu den Kommentar zu den Jahrestagen (Helbig, Kokol, Müller, Spaeth, Fries (Hg.): Johnsons »Jahrestage«, S. 1049).

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1977. Deutscher Herbst 1.

Ästhetischer Extremismus. Rainald Goetz’ Kontrolliert Ich bin nicht berechtigt, mir was auszudenken.171

»Ich erzähle hier die Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig. Heute ist Montag, der siebzehnte Oktober, kurz nach zwölf, nein, null Uhr zwei. Ich korrigiere, heute ist Montag, der siebzehnte zehnte, null Uhr drei […]«. Mit diesen Worten setzt Rainald Goetz’ knapp zehn Jahre nach dem angegebenen Datum erschienener dreiteiliger Roman Kontrolliert (1986) ein.172 Das angegebene Datum markiert den Vortag des signifikantesten Datums des Jahres 1977: das Datum jener Nacht, in der das entführte Lufthansa-Flugzeug ›Landshut‹ auf dem militärischen Teil des Flughafens im somalischen Mogadischu landete und die inhaftierten Terroristen der ›ersten Generation‹ der RAF Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Irmgard Möller und Jan-Carl Raspe im Gefängnis StuttgartStammheim auf den Ausgang der Entführung warteten, die sie aus der Haft freipressen sollte. Der Schreiber dieser Zeilen sitzt in einer »[s]chwarze[n] Zelle«, deren Isoliertheit er mit der Gefängniszelle Raspes in Stuttgart-Stammheim vergleicht: in einem Dachzimmer, wo er in allerdings freiwilliger Selbstverkapselung von der Welt außerhalb seiner ›Zelle‹ sein geschichtswissenschaftliches Dissertationsprojekt verfolgt. So »vermessen« wie das Vorhaben, in einer Doktorarbeit ›den Staat zu verhandeln‹,173 erweist sich jedoch der Versuch, sich imaginativ in die Situation des inhaftierten Terroristen einzufühlen. Die »[s]chwarze Zelle« des Gefangenen ist eine black box, also Teil eines kybernetischen Systems, dessen innere Abläufe der Beobachtung entzogen sind: Kann ich den Staat nicht fassen, heißt die Konsequenz Rekonstruktion der Konstruktion des staatlichen Gesamtgebäudebaus. Der Bau heißt Stammheim, ich bin Raspe. Ich saß im Raspe im Gefängnis, ich ging im Raspe in der Zelle auf und ab, ich las mit seinen Augen Bücher […]. Da war die Grenze da. Ich war nicht Raspe. Was denkt der Raspe, unvorstellbar.174

Der gescheiterte Anspruch des Schreibprojekts, in dem »der Staat verhandelt« werden sollte, korrespondiert mit dem ebenso vermessenen Versuch der ›Roten Armee Fraktion‹, im Jahr 1977 den Staat in die Knie zu zwingen: Beide Male läuft es auf die Zelle hinaus. Aber die Sympathie mit den inhaftierten Tätern der RAF, 171 Rainald Goetz: Kontrolliert. Geschichte. Frankfurt/M. 1988, S. 16. 172 Ebd., S. 15. – Vgl. ebenso S. 95, wo die vorgerückte Zeitangabe »zwei Uhr vierzig« der fortgeschrittenen Schreib- bzw. Erzählzeit entsprechen soll. 173 Ebd., S. 15. 174 Ebd., S. 16.

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die besonders die erinnerten Gespräche des Erzählers mit seinen Kommilitonen im zweiten Teil des Romans kennzeichnet (und die, trotz der ebenfalls eindeutigen Verurteilung ihrer Taten, dem Autor zum Vorwurf gemacht worden ist175), reicht auch nicht so weit, das eigene Bewusstsein mit dem des Inhaftierten zu synchronisieren. Während die Nachrichten und Bilder der terroristischen Ereignisse des Jahres 1977 allgegenwärtig sind und den ganzen Erzähldiskurs durchdringen, entzieht sich die bild- und auskunftlose Realität im Abseits medialer Repräsentationen, wie sie die Situation der Inhaftierten darstellt, dem Versuch der Identifikation. Denn das Gefängnis ist ein hermetischer Raum, dessen Abschließung nach außen auch die eindringende Vorstellungskraft des Schreibenden von außen abweist; umso mehr, als die Behauptung der »Isolation« der Inhaftierten, über die die Solidarisierung der Sympathisanten mit den Tätern der RAF hergestellt worden ist, das Gelingen der Identifikation eigentlich gerade ausschließt. Auch wenn er sich selbst die mimetische Einzelhaft seiner ›schwarzen Zelle‹ zumutet, bekennt der Erzähler doch bald unumwunden sein Scheitern ein: »Identifikation mit einem Fremden war nicht möglich, das war der sogenannte Raspe Irrweg […]«.176 Die »Studienzimmerpritsche« ist nicht nur räumlich, sondern auch durch eine semiotische Wand von der Gefängnispritsche Raspes in Stammheim getrennt.177 Aus dieser zeichentheoretischen Trennung ergibt sich für Goetz’ Poetik in Kontrolliert der Verzicht auf jede mimetische Fiktion, welche die Differenz zwischen Text und Ereignis oder fremden Bewusstseinszuständen nur überspielen könnte: »Ausgedachte Bücher halte ich nicht aus, da kriege ich, wie durch Kritizistik, körperliche Allergieanfälle, bewirkt durch Antikörper gegen alles ausgedachte Literatenzeug.«178

175 Vgl. Wolfgang Höbel: Das Wortkraftwerk als Wurstfabrik. Rainald Goetz deliriert als später Sympathisant: ›Kontrolliert‹. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 230 vom 5. 10. 1988, S. IV (Beilage »Literatur«). – Im Roman finden sich jedoch auch Sätze wie dieser, der sich auf die Ermordung der Personenschützer und des Fahrers Hanns Martin Schleyers bezieht: »Was vier mal ein Fehler war am fünften September, bleibt auch beim fünften mal Mord, auch wenn das Opfer selbst Täter und Mörder war, und macht die Mörder zu Mördern.« Goetz: Kontrolliert, S. 209. Auch auf die Opfer des Terrorismus lässt der Roman sich im Übrigen ein; vgl. dazu S. 190 (»Frau Heinz«, die Ehefrau des Chauffeurs (Heinz Marcicz)), oder S. 273, wo die »Nichtfaschisten«, »drei Polizisten und Herr Heinz«, als »von der Revolution [H]ingerichtet[e]« bezeichnet werden. Vgl. dazu wie zum Roman insgesamt auch Peter Hanenberg: Gedankenstriche 10 Jahre danach. Zu Rainald Goetz’ Roman ›Kontrolliert‹. In: GeRAFftes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur. Hg. von Bianca Dombrowa, Markus Knebel, Andreas Oppermann und Lydia Schieth. Bamberg 1994 (Fußnoten zur neueren deutschen Literatur; 27), S. 59 – 65. 176 Goetz: Kontrolliert, S. 97. 177 Vgl. ebd., S. 157. 178 Ebd., S. 43.

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Gleich auf der zweiten Romanseite heißt es daher bereits: »Ich bin nicht berechtigt, mir was auszudenken.«179 Der Text sucht diesem Verdikt über die Fiktion gerecht zu werden, indem er den ersten Satz auch im Schreibverfahren widerruft: indem er also gerade keine Geschichte des Jahres 1977 erzählt, die, je näher sie den Taten und Akteuren des Terrorismus zu kommen suchte, ohne Fiktion gar nicht auskommen könnte. Stattdessen überlässt die Erzählstimme sich einem assoziativen und zugleich hochreflexiven, immer die eigene Schreibposition einbeziehenden Strom von Gedanken, Gefühlen, Beobachtungen und Erfahrungen, dem die Chronik des ›Deutschen Herbsts‹ dennoch (oder gerade deshalb) eingeschrieben ist. »Geschichte« lautet die zweideutige Genrebezeichnung des Textes. Indem es so die überprüfbare, falsifizierbare Referenz auf Ereignisse und Personen grundsätzlich storniert, eröffnet sich dem Erzählen jedoch erneut ein Raum jenseits assertorischer Aussagen und suggestiver Repräsentationen. Der Text macht sich die so gewonnene Freiheit zunutze, indem er die Chronik des Jahres 1977 auf anspielungsreiche, verfremdende und bisweilen parodistische Weise verzeichnet. Wenn der Erzähler die unter dem ›Decknamen‹ »Schiller« zunächst schlüsselromanhaft ›verschleierte‹ Identität des Entführungs- und späteren Mordopfers Hanns Martin Schleyer aufdeckt, verweist er mit der abweichenden Schreibung – später im Roman heißt er »Schleier« – mehr auf die Textualität seiner Erzählung als auf die Person.180 Erst recht markiert der Text seine Autonomie, wenn er etwa dem »via Video« vom RAF-›Commando Siegfried Haussner‹ am 14. / 15. Oktober über den Genfer Anwalt Denis Payot übersandten dramatischen Appell Schleyers an die politischen Entscheidungsträger in Bonn parodistisch ein politisches Bekenntnis unterschiebt, das dessen eigene Rolle in einem über 1945 hinaus fortdauernden ›faschistischen‹ System bloßstellt: Ich frage mich in meiner jetzigen Situation wirklich, muß denn nun etwas geschehen, damit Bonn endlich zu einer Entscheidung kommt. Schließlich bin ich nun fünfeinhalb Wochen in der Haft der Revolutionäre, und das alles nur, weil ich mich jahrelang für diesen Staat und seine freiheitlich demokratischen Lügen eingesetzt und exponiert habe. Manchmal kommt mir ein Ausspruch, auch von politischen Stellen, wie eine Verhöhnung dieser meiner Tätigkeit bei der Schutzstaffel der Industrie staatlicherseits vor.181 179 Ebd., S. 16. 180 Vgl. ebd., S. 38: »Was heißt Schiller, Schiller heißt natürlich Schleier«. – Die anderen im Text genannten Namen von Siegfried Buback, ebd., S. 135, bis Jürgen Ponto, ebd., S. 148, zu denen die der RAF-Mitglieder Baader (S. 82 u. ö.), Ensslin (S. 93 u. ö.), Klar (87 u. ö.), Meinhof (89 u. ö.), Meins (102 u. ö.), Raspe (S. 16 u. ö.) hinzukommen, werden im Text dagegen unverändert verzeichnet. Vgl. auch die wortspielerische Referenz, ebd., S. 135: »Gehen wir noch wohin, sagte Christian, klar, sagte ich, aber wohin.« 181 Ebd., S. 74 f. – Die aufgezeichneten Aussagen Hanns Martin Schleyers lauten: »Ich frage mich in meiner jetzigen Situation wirklich, muß denn nun etwas geschehen, damit Bonn

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Die parodistische Verfremdung des massenmedial verbreiteten Appells des Entführten distanziert den literarischen Text von einer medientautologischen Mimesis, die nur wiederholen könnte, was den zeitgenössischen Nachrichtenempfängern längst durch Fernsehen und Presse bekannt geworden ist; und sie dementiert im gleichen Moment, in dem sie sie evoziert, die eingangs des literarischen Textes proklamierte Referenz auf die Geschichte des ›Terrorjahrs‹ 1977.182 Gerade die ›dokumentierten‹ Aussagen situieren den Erzähltext in einem autonomen Raum, in dem vor allem das erzählende Ich sein zeitgeschichtliches Wirklichkeitsverhältnis und damit seine eigene, durch Identifikation nicht einfach zu überwindende Grenze befragt. Die auf dem Schutzumschlag reproduzierte Bildmontage, die den Autor Goetz wie auf den Bildaufnahmen des entführten Hanns Martin Schleyer unter dem Logo der RAF zeigt (Abb. 4), setzt die Spannung von Ereignis- und Selbst-Referenz anschaulich ins Bild. Sie zeigt zugleich an, dass die Erzählung in erster Linie das Dokument eines im Aufschreibprozess sich selbst aufs Spiel setzenden ›Ichs‹ ist. Die Obsession, mit der der Erzähler in Kontrolliert die Ereignisse des ›Deutschen Herbsts‹ thematisiert, macht ihn selbst zu einer Art ›Gefangenem‹ der RAF, als den sich sowohl Stefan Aust, der Autor des 1985 zuerst erschienen Berichts Der BaaderMeinhof-Komplex, als auch der frühere BKA-Chef Horst Herold ausdrücklich bezeichnet haben.183 Das Bild auf dem Schutzumschlag sorgt zugleich dafür, den Erzähler der »Geschichte« mit dem Autor Goetz autofiktional zusammenzurücken.184 Nicht zuletzt aber zeigt die Substitution des Entführungsopfers durch das Autor-Portrait eine ästhetisch-spielerische Adaption der Bildvorlage an: Hat schon das kollektive Bild-Gedächtnis des Jahres 1977 die im Aufbau einander endlich zu einer Entscheidung kommt? Schließlich bin ich nun fünfeinhalb Wochen in der Haft der Terroristen und das alles nur, weil ich mich jahrelang für diesen Staat und seine freiheitlich-demokratische Grundordnung eingesetzt und exponiert habe. Manchmal kommt mir ein Ausspruch – auch von politischen Stellen – wie eine Verhöhnung dieser Tätigkeit vor.« – Die Tätigkeit des Entführungsopfers bei der »Schutzstaffel der Industrie« bezieht sich auf Schleyers Mitgliedschaft in der SS und seine Tätigkeit bei der Zentralverwaltung der Industrie für Böhmen und Mähren. 182 Vgl. Martin Knobbe, Stefan Schmitz: Terrorjahr 1977. Wie die RAF Deutschland veränderte. 2. Auflage München 2007. 183 Vgl. auch Höbel: Das Wortkraftwerk als Wurstfabrik. – Goetz’ Kontrolliert bezieht offensichtlich eine Fülle von Informationen aus Stefan Austs Bestseller Der Baader-MeinhofKomplex. – Die andauernde ›Gefangenschaft‹ des ehemaligen BKA-Chefs Horst Herold, der in einem Bungalow auf dem Gelände der Polizeikaserne in Rosenheim lebt, hat Franz-Maria Sonner in seinem Roman Die Bibliothek des Attentäters mit der Figur des früheren Leiters einer Sonderkommission zur Terrorismus-Bekämpfung Konrad Bärloch aufgegriffen, der aus Sicherheitsgründen auf dem Gelände einer Bundeswehr-Kaserne wohnt (Franz-Maria Sonner : Die Bibliothek des Attentäters. München 2001). 184 Vgl. auch Goetz: Kontrolliert, S. 104: »Trotzdem ist Alkoholsucht, ich heiße Rainald, ich bin Alkoholiker, ein Unsinn«. Die Bemerkung nimmt die wiederholte Ablehnung der Suizide von Stammheim spielerisch auf: »Denn Suizid ist Trottelei.« (Ebd.)

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überaus ähnlichen Fotografien und Video-Aufnahmen Schleyers zu einem einzigen Bild komprimiert,185 konvertiert der Roman diese Bildkonvention wiederum, um sein eigenes, fiktionales Spiel zu inszenieren.

Abb. 4: Rainald Goetz auf dem Schutzumschlag seines Romans Kontrolliert, 1988 (Ó Suhrkamp)

Was immer jedoch der Text an Ereignissen des Jahres 1977 auf unverfremdete oder verfremdete Weise berührt, welche Namen er auch nennt – von der Ermordung des Dresdner Bank-Chefs Jürgen Ponto am 30. Juli bis zur Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September, von der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback am 7. April über den missglückten Raketenwerfer-Angriff auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe am 25. August bis zur Entführung des Lufthansa-Flugzeugs ›Landshut‹ am 13. Oktober und zum Suizid der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe am 18. Oktober –, stets handelt es sich längst um Bestände zeitgeschichtlichen Wissens, weshalb die Ankündigung des ersten Satzes, die Geschichte des Jahres 1977 (noch einmal) zu erzählen, kaum minder ›vermessen‹ erscheint als das Thema der gescheiterten Dissertation. Gerade weil der Text dieses medial vermittelte Wissen voraussetzen kann, muss er die Geschichte des Jahres 1977 nicht noch einmal erzählen. Die Informationen und Dokumente, die in den Text eingegangen sind, werden vielmehr als Materialien eines furiosen artistisch-parodistischen Sprachspiels gebraucht, das der durch sein historisches und medizinisch-psychiatrisches Doppelstudium (wie der Autor selbst) beschlagene Erzähler mit dem Prozess neuronaler Verknüpfung und Vernetzung zusammenbringt: Der Schauplatz des Romans, auf dem er das Feuerwerk seiner zeitgeschichtsgesättigten Assoziationen ab185 Vgl. dazu Rolf Sachsse: Die Entführung. Die RAF als Bildmaschine. In: Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute. Hg. von Gerhard Paul. Göttingen 2008, S. 466 – 473, hier S. 469.

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brennt, ist das erzählende Ich – und nicht die ›heißen‹ Orte der Zeitgeschichte, die das Geschichtszeichen ›1977‹ konstituieren. Der literarische Text, der am Ende anstelle der geschichtswissenschaftlichen Dissertation als fertig gestelltes, verschriftetes Dokument vorliegt, ergibt sich nicht aus der Nacherzählung oder Rekonstruktion der rezenten Geschichte, sondern aus der Selbstbezüglichkeit eines (durchaus meinungsfreudigen186) Denkens, das deren mediale Reflexe in sich aufnimmt und so fast ›automatisch‹ einen zeithistorischen Diskurs generiert: »so flammte die Geschichte auf und hatte sich erzählt«, heißt es auf der letzten Seite des Romans. Einem Aufschreibprozess, der mit den medialen Informationsprozessen der Zeitgeschichte in Verbindung steht, teilen sich die Ereignisse immer schon mit, ohne dass er mimetisch darauf referieren müsste. Wenn der Text schließlich fast abgeschlossen vorliegt, »tobten die Pulse das Blut richtung Hirn. Dort war es dunkel und endlos chaotisch umnachtet.« Auch wenn zwischen dieser zerebralen Chaotik und dem Text eine Kontinuität besteht, wird mit dem manifesten Text doch zuletzt eine objektive, ›kontrollierte‹ ästhetische Form gewonnen, die auf die Welt verweist und selbst ein Teil davon ist: »Weiter draußen aber an den Kanten, wo die Sache hier allein jetzt fest begrenzt und für sich richtig endet, war alles auf das äußerste gespannt, in richtung Welt, bestimmt bei Sinnen.«187 An diesen Kanten des Denkens bricht der Text als ästhetische Form ab. Was er dokumentiert, ist gewissermaßen die erkaltete Spur eines Bewusstseins, das sich von der unmittelbaren Teilhabe an den Ereignissen des Jahres 1977 prinzipiell ausgeschlossen weiß – und ihnen doch im erzählenden Selbstprotokoll archivierend Rechnung trägt. Der gewalttätige Extremismus, mit dem der Ich-Erzähler und die ihm befreundeten Kommilitonen sympathisieren (von deren Gesprächen besonders der zweite, aus der Isolation der ›schwarzen Zelle‹ hinausführende Teil des Textes erzählt),188 ist in Goetz’ literarischer Tätigkeit keineswegs neu. Er brachte sich bereits beim Klagenfurter Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 1983 zur Geltung, wo der Autor sich während der Verlesung seines Textes Subito vor laufenden 186 Vgl. Goetz: Kontrolliert, S. 125: »Baader ist natürlich eine faszinierende Abscheulichkeit, als herrschsüchtiger Angeber und Schwinger harter Schlägerworte, mir nur zu gut verständlich, wie vielen kunstsinnigen Nichtproleten, schönheitssüchtig, denen Baaders Fleisch als Twen in München und Berlin den Kopf verdrehte. Aber um eine Moral der Erniedrigten und Beleidigten in so einem vorbildlich verkörpert zu sehen, dazu muß man, den Germanistikbrei im leeren Nichtkopf, rigid frigide Gudrun heißen.« 187 Ebd., S. 281. 188 »Dann aber saßen wir, während der herrlichen Wochen, in denen Schleier inhaftiert war, täglich im Park des Luxembourg und träumten davon, vielleicht selber mal als Täter terroristisch tätig zu werden.« Ebd., S. 100. – Eine »kompromisslose Aggressivität« sieht auch Uwe Wittstock in seiner Besprechung des Romans; Uwe Wittstock: Vom Terror der Gedanken. Der Haß des Rainald Goetz und sein RAF-Buch »Kontrolliert«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 223 vom 24. 9. 1988, »Bilder und Zeiten«.

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Fernsehkameras mit einer Rasierklinge die Stirn aufschnitt und blutüberströmt sein Typoskript zu Ende las. Der Skandal gebende, auto-aggressive Akt war auf eine Koinzidenz von Schrift und vitaler Wirklichkeit gerichtet, also auf die Auflösung der Grenze zwischen Ich und Text, Leben und Literatur : Indem das rote Blut auf das Schwarz-Weiß der Schrift tropfte, suchte der performative Akt Zeichen und Bezeichnetes ›ereignishaft‹ zu verschmelzen. Die gewalthafte Performance war zugleich auf die Spektakularität eines Medienereignisses hin angelegt, die Goetz innerhalb des westdeutschen Kulturbetriebs mit einem Mal zum Durchbruch verhalf. In ähnlicher Weise, freilich innerhalb einer Schrift, deren Sprachintensität die ›pochenden Pulse‹ des Autors zu simulieren versucht, verknüpft Kontrolliert zerebralen Prozess und literarische Textur. Im Hintergrund der ›extremistischen‹ Klagenfurter Inszenierung steht jedoch bereits das Modell des Terrorismus, wie aus dem Selbstkommentar, den Subito zur blutigen Aktion seiner Lesung gibt, hervorgeht: »Ohne Blut logisch kein Sinn. Und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes weißes Fleisch hinein schneiden.«189 Wie der Extremismus des Terrors Diskurs und Aktion, Rede und Tun ›vereinigt‹ und dabei das eigene Ich aufs Spiel setzt, richtet sich das Begehren des Autors auf die Koinzidenz von sprachlich-symbolischer Form und außersprachlicher Wirklichkeit. Den ›unrechtmäßigen‹ Abstand von »Reden ohne Handeln«190 zieht die spektakuläre Lesung in sich ein. Aber während bei Goetz’ Klagenfurter Lesung der Schriftprozess über sich hinaus zu einer auto(r)-aggressiven Handlung drängt, die mit dem Aktivismus des Terrors sympathisiert und doch dessen Destruktivität auf sich selbst zurücklenkt, nimmt Kontrolliert diesen transgressiven Extremismus am Ende ganz in den eigenen Text zurück.191 Es bleibt allein der Schrift überlassen, von einem ›extremistischen‹ Anspruch Zeugnis zu geben, der die Sympathie mit dem Terrorismus reflektiert und seine eigene, ästhetische Sphäre davon unterscheidet. Das Zeitmaß, das mit der exakten Datumsangabe ganz zu Anfang eingesetzt wird, gibt dem Discours in Kontrolliert den Takt vor. Während der erste Teil des Romans (»Schwarze Zelle«) die Zeit der Erzählung genau protokolliert und der 189 Rainald Goetz: Subito. In: ders.: Hirn. Frankfurt/M. 1986, S. 9 – 21, hier S. 16. – Die Begrenzung des Extremismus aufs Ästhetische hat Rainer Werner Fassbinder, mit dem Andreas Baader in München in Verbindung stand, anlässlich seines Films Die dritte Generation (1979) prägnant zum Ausdruck gebracht: »Ich schmeiße keine Bomben. Ich mache Filme.« 190 Vgl. die Aussage von Gudrun Ensslin beim Frankfurter Brandstifter-Prozess von 1968, zit. bei Koenen: Das rote Jahrzehnt, S. 360. 191 Inge Stephan geht so weit, Goetz’ ästhetisch radikales bzw. dekonstruktivistisches Schreibverfahren als »Terrorismus« zu beschreiben; Inge Stephan: Raspe-Irrweg und Baader-Schwachsinn«. Dekonstruktion des Deutschen Herbst in Rainald Goetz’ Roman Kontrolliert (1988). In: dies., Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 39 – 62, hier S. 55 ff. bzw. S. 59.

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mittlere, »Diktat« überschriebene Teil die Monate vor der Schleyer-Entführung erinnert, entsprechen die vierundvierzig Abschnitte des dritten Romanteils (»Im Namen des Volkes«) den vierundvierzig Tagen von der Entführung Hanns Martin Schleyers bis zur Auffindung seines Leichnams. Aber genau so, wie die Zeitgeschichte des Terrorismus als Taktgeber der Form fungiert, behält der Erzähltext auch am Ende seine chronologische Genauigkeit bei: »Ich ging zum Schreibtisch und packte alles zusammen. Es war kurz nach acht, nein, acht Uhr eins«, heißt es auf der letzten Seite.192 Am 18. Oktober 1977, 7.41 Uhr, wurde JanCarl Raspe tödlich verletzt in seiner Zelle aufgefunden, und um 8 Uhr wurden die Leichen Andreas Baaders und Gudrun Ensslins sowie die schwer verletzte Irmgard Möller im Stammheimer Gefängnis entdeckt.193 Im gewaltsamen Finale manifestiert sich ein »Abschlußzwang«, der über Terror und Text gleichermaßen regiert – und damit die Ereignisgeschichte noch mit dem Ende des Erzählens engführt:194 Mit demselben Moment, in dem dieses Kapitel der Geschichte des bundesdeutschen Linksterrorismus schließt, endet auch der Roman.

2.

Erinnerungsort 1977

Das Geschichtszeichen ›1977‹ stellt nach ›1968‹ dasjenige Datum der westdeutschen Nachkriegsgeschichte dar, das in dichtester Weise von zeitgeschichtlichen Ereignissen geprägt worden ist. Anders als das neun Jahre zurückliegende, weltöffentliche Geschichtszeichen ›1968‹ hat ›1977‹ jedoch eine auf Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland begrenzte Extension: Es ist die Kulmination des ›bewaffneten Kampfes‹ und seiner staatlichen Bekämpfung, die seine Bedeutung konstituieren, auch wenn sich ihr Radius im Fall der Flugzeugentführung weit über den geografischen Raum Westdeutschlands hinaus erstreckt. Dass dieser Terrorismus »spätestens seit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung ein abgeschlossenes Kapitel der Historie der alten Bundesrepublik Deutschland« ist, wie die ehemalige RAF-Terroristin Astrid Proll im »Selbstauslöser« betitelten Vorwort zu ihrem Fotoband Hans und Grete (2004) schreibt,195 zeigt etwas von der Logik kollektiver Zeiterfahrung im Zusammenhang der politischen Chronologie. Nachdem Mauerfall und Wiedervereinigung 192 Goetz: Kontrolliert, S. 281. 193 Zur Chronologie der Ereignisse vgl. Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex. 3. Auflage München 2008, sowie die »Chronik« in Kai Hermann, Peter Koch: Entscheidung in Mogadischu. Die 50 Tage nach Schleyers Entführung. Dokumente – Bilder – Zeugen. Hamburg 1977, S. 240 – 247. 194 Vgl. Goetz: Kontrolliert, S. 100. 195 Astrid Proll: Selbstauslöser. Self-Timer. In: dies. (Hg.): Hans und Grete. Bilder der RAF 1967 – 1977. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe Berlin 2004, S. 4 – 19, hier S. 18.

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der beiden deutschen Staaten ein neues, Identität stiftendes Gründungs-Datum in das deutsche Geschichts-Gedächtnis eingetragen hatten, konnte mit der Geschichte der ›alten‹ Republik auch die Phase ihrer größten politischen Herausforderung abgeschlossen werden, die sich im Jahr 1977 krisenhaft zugespitzt hatte. Die Aktualität, die der Linksterrorismus bis dahin besaß, verschob sich tendenziell ins Magazin der historischen Erinnerung – auch wenn es noch bis 1998 dauern sollte, bis die Übriggebliebenen der ›zweiten‹ oder ›dritten Generation‹ selbst das Ende ihres gewaltsamen Weges mit den Worten erklärten, die »Stadtguerilla in Form der raf« sei »nun Geschichte«.196 Die Verschiebung ins Archiv aber eröffnete einen von virulenten politischen Diskursbedingungen entlasteten Zugang, der sich in einer regelrechten Konjunktur ästhetischer Darstellungen niedergeschlagen hat:197 Leander Scholz’ Roman Rosenfest (2001), Franz-Maria Sonners Die Bibliothek des Attentäters, Ulrich Ritzels Die schwarzen Ränder der Glut (ebenfalls 2001) oder Ulrich Woelks Die letzte Vorstellung (2002) gehören ebenso dazu wie eine Reihe von Filmen, die von Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuß (2000) über Christian Petzolds Innere Sicherheit (2000), Dennis Gansels Das Phantom (2000), Andres Veiels Black Box BRD (2001), Christopher Roths Baader (2002),Uli Edels Baader-Meinhof-Komplex (2008) und Susanne Schneiders Es kommt der Tag (2009) vorläufig bis zu Veiels Wer wenn nicht wir (2011) reicht.198 Auch Christoph Heins KohlhaasAdaption In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) knüpft an die ungeklärt gebliebenen Umstände des Todes des mutmaßlichen RAF-Terroristen Wolfgang Grams am 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof in Bad Kleinen an.199 Mit den Ereignissen des ›linken‹ Terrorismus, die sich im Zeichen des ›Terrorjahrs‹ 1977 verdichteten, korrespondiert eine nachträgliche Verdichtung im Doppelsinn von 196 Das bei der Nachrichtenagentur Reuters am 20. April 1998 eingegangene Auflösungsschreiben zitieren Knobbe, Schmitz: Terrorjahr 1977, S. 203. 197 Vgl. dazu auch Jens Eder : Politik im deutschen Kino. Ein typologischer Aufriß. In: Ästhetik& Kommunikation 33 (2002), H. 117, S. 15 – 20, hier S. 19; dazu auch Christoph Jürgensen: Geliebter Freund. Literarische (Re-)Konstruktionen des ›Deutschen Herbstes‹ 1977. In: Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Hg. von Christer Petersen und Jeanne Riou. Bd. 3: Terror. Kiel 2008, S. 221 – 258, hier S. 222. – Der Erinnerungs- und Archivierungsboom erfasste natürlich auch die Geschichte der untergegangenen DDR. 198 Eine umfangreiche kommentierte Bibliografie der Texte zur RAF, die allerdings mehrheitlich nichtfiktionale Texte verzeichnet, wird vorgelegt in: GeRAFftes, S. 83 – 90. 199 Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. Frankfurt/M. 2005. – Der Roman schildert das Irrewerden des Vaters eines als Terroristen Verdächtigen, der in einem Ort namens Kleinen getötet wurde, an der deutschen Justiz und Rechsstaatlichkeit auf der Folie von Kleists Novelle (vgl. etwa S. 78 f., 186, 239). Die terroristische Konsequenz von Kleists Kohlhaas traut Hein seinem Helden indes nicht zu. – Die Reihe der Texte lässt sich natürlich erweitern um Erzählungen, die im thematischen Kontext des RAF-Terrorismus angesiedelt sind; vgl. Julian Preece: Baader-Meinhof and the Novel. Narratives of the Nation / Fantasies of the Revolution, 1970 – 2010. New York 2012 (Studies in European Culture and History). Preece zählt 28 ›RAF-Romane‹ zwischen 2000 und 2010.

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Ästhetisierung und Vervielfältigung. Sind die Bedingungen dieser Konjunktur auch deutlich, lässt sich über ihre Motive spekulieren. Das Verschwinden einer politischen Himmelsrichtung,200 also die Erosion der bilateralen Mächtekonfrontation, hinterließ auch ein semantisches Vakuum, das ›Geschichte‹, kaum dass ihre ideologischen Konfliktlinien überwunden schienen, schon wieder vermissen ließ. Nicht zuletzt aber dürfte der in seinem Zugriff auf die westlichen urbanen Zentren ›neue‹ islamistische Terrorismus auch der ›eigenen‹ Terrorismusgeschichte erneute Aufmerksamkeit zugeführt haben.201 Dass die Ereignisse des Jahres ›1977‹ aber überhaupt zu einer zentralen Allokation des kollektiven Gedächtnisses, also zu einem lieu de m¦moire zusammengerückt worden sind,202 lässt sich aus der Überkreuzung zweier gegensätzlicher Wahrnehmungen und Wertungen begründen. Einerseits nämlich markieren sie für die gesellschaftlich eher kleine Gruppe der ›Sympathisanten‹ das Scheitern politischen Widerstands in der Praxis des ›bewaffneten Kampfes‹; ihr erschienen die Terroristen der ›ersten Generation‹ der RAF als Opfer des ›Systems‹, so dass sich die ›Blutspur‹ der deutschen Geschichte mit den Toden in Stammheim von Weimar bis in die Gegenwart hinein verlängerte.203 Andererseits aber hat kaum ein anderes Geschehen so sehr wie die terroristische Bekämpfung des ›Systems‹ zur Identifikation der gesellschaftlichen Mehrheit mit diesem System beigetragen. Die »klammheimliche Freude«, die anlässlich der Buback-Ermordung von Teilen einer mit den Terroristen bereits unsolidarisch gewordenen Studentenschaft empfunden worden ist,204 stellte sich anlässlich der ›professionellen‹ Lösung 200 Vgl. den Romantitel von Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung. Scheidegg 1999. 201 Wie groß der Abstand zu den Attentätern der Al Qaida von den ehemaligen Tätern der RAF selbst eingeschätzt wird, belegt etwa Astrid Prolls Bemerkung: »Gegen die Kommandos, die die Jets in das World Trade Center in New York steuerten, waren wir von moralischen Skrupeln geplagte Amateure.« (Proll: Selbstauslöser, S. 7.) 202 Unter den ›deutschen Erinnerungsorten‹ in der dreibändigen Auswahl von Etienne FranÅois und Hagen Schulze findet das Geschichtszeichen »Siebenundsiebzig« – anders als »Achtundsechzig« – keinen Platz. Dagegen enthält der 2008 erschienene Band Deutsche Gründungsmythen einen Beitrag, der ›1968‹ mit ›1977‹ zusammenführt, den geschichtsmythologischen Status allerdings für das letztere Datum verneint; vgl. Michael Rohrwasser : Achtundsechzig und Siebenundsiebzig. Gründungsmythen? In: Deutsche Gründungsmythen. Hg. von Matteo Galli und Heinz-Peter Preusser. Heidelberg 2008 (Jahrbuch Literatur und Politik; 2), S. 179 – 190, hier S. 190: »Es geht nicht um einen Gründungsmythos, sondern um ein kollektives Phantasma (das Kollektiv ist klein).« 203 Vgl. dazu etwa Christian Geisslers Gedicht badekaff an der nordsee, das gegen eine denunziatorische »Bürgerbande« im Kontext der Terroristenfahndung polemisiert (»möchte auch piffpaffgern paar fahndungshinweise / geben gegen den regen«) und diese mit der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch Freicorpsmitglieder 1919 in Zusammenhang bringt: »die altmöwe schreit was / vom landwehrkanal«. Christian Geissler : Im Vorfeld einer Schussverletzung. Gedichte von Juli 77 bis März 80. Berlin 1980, S. 12. 204 Vgl. den mit »ein Göttinger Mescalero« unterzeichneten Text Buback † Ein Nachruf,

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des Geiseldramas in Mogadischu jedenfalls bis in die Kreise der gemäßigten Linken ein. Exkurs: Ausgeborgte Evidenz. Erich Frieds Gedicht Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und der Buback-Nachruf des »Göttinger Mescalero« Dass aus der zeitgenössischen Nahsicht auf die Ereignisse des Terrorismus eine engagierte Literatur entsteht, die ästhetische Formen als Vehikel des ›Eingriffs‹ in den politischen Diskurs gebraucht, bezeugt das Gedicht Erich Frieds Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, das bereits innerhalb eines knappen Monats nach dem Mord am 7. April 1977 entstanden ist. 1. Was soll ich sagen von einem toten Menschen der auf der Straße lag zerfetzt von Schüssen […] 2. Dieses Stück Fleisch war einmal ein Kind und spielte Dieses Stück Fleisch war einmal ein Vater voll Liebe

Es ist kennzeichnend für die Haltung des lyrischen Sprechers, dass er den juristisch-moralischen Ausdruck ›Mord‹ vermeidet und im Titel durch einen täterlosen Tod ersetzt. Während der Gedichttext soweit jedoch noch das Opfer des terroristischen Anschlags herausstellt, das durch die tödlichen Schüsse zum dinghaften Leichnam (»Stück Fleisch«) gemacht worden ist, nimmt er bereits mit der nächsten Strophe eine Wendung, welche dem Opfer die Verkehrung von Recht in Unrecht anlastet, während es vom Unrecht seiner Ermordung nicht mehr spricht: Dieses Stück Fleisch glaubte Recht zu tun und tat Unrecht nachgedruckt im Anhang zu Stefan Spiller : Der Sympathisant als Staatsfeind. Die Mescalero-Affäre. In: Die RAF und der linke Terrorismus. Hg. von Wolfgang Kraushaar. Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1227 – 1259, der »Nachruf« hier S. 1257 – 1259.

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Dieses Stück Fleisch war ein Mensch und wäre wahrscheinlich ein besserer Mensch gewesen in einer besseren Welt205

Der lyrische Sprecher spricht das Opfer statt der Täter schuldig, indem er es zum primären Täter erklärt; er spricht über sein Leben noch einmal das Urteil, nachdem der terroristische Anschlag es bereits zum Tod verurteilt hat. Wenig später heißt es: »Was er für Recht hielt / hat Menschen / schaudern gemacht // Was er für Recht hielt / hat dieses Recht / in Verruf gebracht«. Dass diese ›Pervertierung‹ des Rechts im Rechtsstaat durch »Verleumdung«, »Unterdrückung«, »Kommunistenverbot« (also den ›Radikalenerlass‹ von 1972) und »Todesschüsse[] in Notwehr« »eine Handvoll empörter Empörer […] so weit zu treiben« vermochte, dass diese »den Sinn verloren / für das was in dieser Gesellschaft / verwirklichbar ist«, hat ein anderes, im selben Band publiziertes Gedicht (Die Anfrage) deutlich gemacht.206 Konkret gemeint sind hier Ulrike Meinhof, auf deren Tod in Stammheim Fried mehrere Gedichte verfasste,207 und der später zur extremen Rechten übergewechselte Anwalt Horst Mahler. Dass auch der Terrorismus des Jahres 1977 sich in einem von informativen Bildern geprägten Kosmos abspielt, wird auch an Frieds lyrischer Einlassung auf die Bluttat kenntlich, deren Foto- und Fernsehaufnahmen damals jeder kannte. Denn die Plausibilisierung seiner Kritik an der ›pervertierten‹ rechtsstaatlichen Gewalt bezieht das Gedicht nicht zuletzt aus der Evidenz eines Pressefotos. Im Gedichtband So kam ich unter die Deutschen (1977), der den zu langjährigen Haftstrafen verurteilten RAF-Sympathisanten Peter Paul Zahl und Karl-Heinz Roth gewidmet ist, wird das Gedicht durch eine ganzseitige Fotografie Siegfried Bubacks unterbrochen, die das Opfer selbstbewusst im Ornat der justiziellen Staatsgewalt vorführt (Abb. 5).208 Es handelt sich um die Wiedergabe einer Seite aus der Hamburger Morgenpost, die eine Serienfolge über Siegfried Buback ankündigt. Daraus ergibt sich eine gegenseitige, intermediale Semantisierung von Text und Bild: Das Gedicht überweist die Beglaubigung seines Urteils an das Bild, während das Bild seinerseits vom Text her eine Neusemantisierung erfährt. Im Licht des lyrischen Textes erscheint der abgebildete Generalbundesanwalt, 205 Erich Fried: Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback. In: ders.: So kam ich unter die Deutschen. Gedichte. Hamburg 1977, S. 103 f. 206 Erich Fried: Die Anfrage. In: ders.: So kam ich unter die Deutschen, S. 19. 207 Vgl. etwa Erich Fried: Ulrike Meinhofs Selbstmord. In: ders.: So kam ich unter die Deutschen, S. 27. 208 Vgl. Fried: Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, S. 104.

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völlig anders als im Kontext der Boulevardzeitung, als Exponent jener ›furchtbaren Juristen‹,209 die in der nationalsozialistischen Rechtsprechung ›Recht in Unrecht‹ verkehrten. So sehr verlässt sich der Text auf eine Evidenzierung durch das Foto, also auf seine ausgeborgte Evidenz, dass er dem Portrait des Opfers selbst einen großen Teil der Beweislast auflädt und es für sein Urteil einstehen lässt.

Abb. 5: Das Pressebild aus der Hamburger Morgenpost in Erich Frieds So kam ich unter die Deutschen, 1977

Was die Bewertung des Terroranschlags angeht, artikuliert das Gedicht vor allem einen systemkritischen Einwand gegen den Mordanschlag: Die Ermordung des Generalbundesanwalts arbeite letztlich einer exekutiven und judikativen Aufrüstung zu, die den Rechtsstaat mehr und mehr an eine postnationalsozialistische Diadochendiktatur verrät. Dass diese Wirkung in der terroristischen Logik selbst beabsichtigt war, um den Staat zur Decouvrierung seines rechtsstaatlich bemäntelten Totalitarismus zu zwingen, berücksichtigt Frieds argumentierende Lyrik nicht. Das Gedicht wertet die terroristische Aktion in eine ethisch plausible Reaktion um, so dass auch die Ermordung Bubacks nur unter dem Aspekt einer Perpetuierung und Eskalation des ›verhärtenden‹ Schematismus von irregulärer Gewalt und regulärer Gegengewalt verurteilt wird, während die sympathetische Anteilnahme am Schicksal des Opfers – an209 Vgl. Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. München 1987.

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ders, als es der Anfang des Gedichts vermuten ließ – ausgeschlossen bleibt. Dass Frieds Gedicht selbst zu einem politischen Skandalereignis wurde, dessen Wellen bis in den Deutschen Bundestag schlugen, lag indes nicht zuletzt an der verfälschenden Wiedergabe seiner Schlussverse im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Mai 1977. Die den Gedichttext beschließenden Zeilen – »Es wäre besser gewesen / so ein Mensch / wäre so nicht gestorben // Es wäre besser gewesen / ein Mensch / hätte nicht so gelebt« –210 wurden in Johann Georg Reißmüllers Leitartikel abweichend zitiert: »Es wäre besser gewesen / so ein Mensch / hätte nie gelebt«.211 Das verfälschte Zitat signalisiert ein Einverständnis mit der terroristischen Tat, welches das Gedicht, wenn auch nicht aus moralischen Gründen, gerade dementiert; auch wenn Erich Fried in seiner Büchnerpreisrede genau zehn Jahre später den Autor des Hessischen Landboten (1834) zu einem mutmaßlichen Bundesgenossen der »ersten Generation der Baader-Meinhof-Gruppe« gemacht und damit einen weiteren Literaturskandal verursacht hat.212 Die Skandalisierung vervielfältigt das Ereignis im Diskurs über das Ereignis noch einmal. Wie sehr aber die Evidenzbesorgung in Frieds Gedicht der bildmedialen Wahrnehmung staatlicher Repräsentanten in einer ›linkspolitischen‹ Öffentlichkeit entspricht, wird an dem ebenfalls Skandal gebenden Nachruf des anonymen »Göttinger Mescalero« auf Bubacks Ermordung deutlich. Er hat die Medien wie die Strafverfolgungsinstanzen gleich nach seiner Publikation am 25. April 1977 in der Zeitung des Göttinger AStA – und erst recht nach der Wiederveröffentlichung in einer von Professoren und Rechtsanwälten herausgegebenen Dokumentation – intensiv beschäftigt,213 denn dieser BubackNachruf ist nicht »nur so / wie Nachrufe sind«.214 »Wer sich in den letzten Tagen nur einmal genau sein Konterfei angesehen hat«, heißt es darin, der kann erkennen, welche Züge dieser Rechtsstaat trägt, den er [Siegfried Buback, C. D.] in so hervorragender Weise verkörperte. Und der kennt dann auch schon ein paar Züge von den Gesichtern jener aufrechten Demokraten, die jetzt wie ein Mann empört und betroffen aufschreien.215 210 Fried: Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, S. 104. 211 Johann Georg Reißmüller : Wie steht es um den Rechtsstaat? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 111 S-Ausgabe vom 13. 5. 1977, S. 1. 212 Vgl. Erich Fried: Von der Nachfolge dieses jungen Menschen, der nie mehr alt wird. In: ders.: Gedanken in und an Deutschland. Essays und Reden. Hg. von Michael Lewin. Wien, Zürich 1988, S. 271 – 283, hier S. 276. – Vgl. dazu auch Susanne Beyer: Erich Frieds Auseinandersetzung mit der RAF. Eine exemplarische ›Skandalgeschichte‹. In: GeRAFftes, S. 34 – 46. 213 Vgl. dazu etwa Knobbe, Schmitz: Terrorjahr 1977, S. 46. 214 Fried: Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, S. 105. 215 Anonym: Buback † Ein Nachruf. In: Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, S. 1257b.

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Der politische Physiognomiker, der an den Zügen des obersten Anklägers der Bundesrepublik die Beschaffenheit des ganzen Staates und seiner loyalen Bürger abzulesen versteht, trägt »dieses Gesicht« schon einmal in das »kleine rotschwarze Verbrecheralbum« ein, »das wir nach der Revolution herausgeben werden, um der meistgesuchten und meistgehaßten Vertreter der alten Welt habhaft zu werden und sie zur öffentlichen Vernehmung vorzuführen. Ihn nun nicht mehr – enfant perdu …« Die Übereinstimmung mit den Intentionen der Täter reicht immerhin so weit, dass der Verfasser ihnen vor allem nachträgt, die Revolutionäre um die Vorführung eines Repräsentanten der verhassten Ordnung gebracht zu haben. Tatsächlich jedoch formuliert der ironische Nachruf, als dessen Verfasser sich erst 2001 Klaus Hülbrock in einem Brief an den Sohn des Ermordeten bekannt (und für sein Bekenntnis zur »klammheimliche[n] Freude« entschuldigt) hat, eine entschiedene Distanzierung vom ›bewaffneten Kampf‹ der RAF. Der mörderische Anschlag habe die publizitäre Gleichung »Linke sind Killer« nur bestätigt und damit »eine unfreiwillige Amtshilfe für die Justiz geleistet«. Der Göttinger Studentenstadtindianer hält dagegen: »Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir : Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.« Statt der physischen Gewalt des Terrorismus schlägt er ein anderes, unblutiges Verfahren vor, um mit den verhassten Exponenten des ›Systems‹ abzurechnen: nämlich ihre Verspottung – also jene satirische raillery, die bereits der englische Moralist Shaftesbury anfangs des achtzehnten Jahrhunderts anstelle der gewalthaften Bekämpfung gegen jede Form des Fanatismus empfahl. »Warum liquidieren? Lächerlichkeit kann auch töten, zum Beispiel; auf lange Sicht und Dauer.«216 Es ist Shaftesburys an den englischen Lordkanzler gerichtetes Plädoyer für die methodische ›Verlächerlichung‹, für raillery und ridicule,217 die hier der politischen Protestbewegung der siebziger Jahre weiterempfohlen wird. Diese nahm die satirische Wegweisung freilich so wenig an wie die zeitgenössische politische Lyrik, die sich – wie Christian Geisslers zwischen 1977 und 1980 entstandene Gedichte zeigen – eher an das Pathos der Anklage hielt und ›Stammheim‹ als Chiffre eines menschenfeindlichen, totalen Überwachungsstaats semantisierte.218 Genauso wenig folgten die westdeutschen Staatsanwaltschaften und Massenmedien dem vorgeschlagenen Rezept: Sie entschieden sich im Verein mit dem medienöffentlichen Diskurs für die ver216 Ebd., S. 1259b. 217 Vgl. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury : A Letter concerning Enthusiasm. In: ders.: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. Hg., übersetzt und kommentiert von Gerd Hemmerich, Wolfram Benda, Wolfgang Lottes, Erwin Wolff, Friedrich A. Uehlein, Ulrich Schödlbauer. Bd. I, 1. Stuttgart, Bad Cannstatt 1981. 218 Vgl. etwa Christian Geissler: stammheim asperg 60. In: ders.: Im Vorfeld einer Schussverletzung, S. 21 f.

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botsbewehrte Skandalisierung des Mescalero-Textes selbst. Die Fähigkeit, den ›skandalösen‹ Text (zu Ende) zu lesen, kam unter seinen überhitzten Rezeptionsbedingungen einfach abhanden. Denn die in seiner zeitgenössischen Aufnahme völlig unbemerkt gebliebene Pointe des Nachrufs besteht gerade darin, dass er »Begriff« und »Praxis […] von Gewalt / Militanz«219 auf dem Höhepunkt der linksterroristischen Eskalation ins Ästhetische zurücklenkt. Die ›Fröhlichkeit‹ der geforderten Satire greift hinter die Gewaltgeschichte des vom Terrorismus geprägten Jahrzehnts zurück, indem sie an den Situationismus der endsechziger Jahre anknüpft. Daraus ergibt sich ein für den literarischen Vergleichstext bedenklicher Befund. Während Frieds lyrischer Nekrolog die ästhetische Form nur zur Verdichtung der politischen Argumentation gebraucht und sich in seiner Überredungskraft von der umfunktionierten Bildrhetorik des mitgelieferten Pressefotos abhängig macht, wird die literarisch anspruchslose Flugschrift zur Advokatin eines ästhetischen Verfahrens und Verhaltens, das aus den Schwierigkeiten der Auseinandersetzung mit den Repräsentanten des Staates einen unblutigen Ausweg weist.

3.

Der medialisierte Terrorismus

Hinter die mediale Schwelle, die mit dem Datum 1968 überschritten war, fallen auch die Ereignisse von 1977 nicht mehr zurück: Wie die Protestbewegung der endsechziger Jahre agiert auch der Terrorismus in den neunzehnhundertsiebziger Jahren in einem medienbestimmten Feld. Die Bekennerschreiben und Videobotschaften, welche die RAF nach jedem Terroranschlag an die westdeutschen Kriminalämter, Presseagenturen und Fernsehanstalten versandte, setzten eine mediale Infrastruktur voraus, in der Fernsehen und Massenpresse längst als selbstverständliche und primäre Medien der zeitgeschichtlichen Apperzeption fungierten. Noch zwei Jahre zuvor, bei der Entführung des Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden Peter Lorenz im Februar 1975, gelang es der ›Bewegung 2. Juni‹, das Fernsehen für ihre Zwecke einzuspannen: Als die fünf freigepressten Häftlinge ins jemenitische Aden ausgeflogen wurden, verlas der Sprecher der ARD-Tagesschau am 3. März das vereinbarte Losungswort (»so ein Tag, so wunderschön wie heute«) und der inhaftierte Anwalt Horst Mahler konnte in einer Live-Schaltung begründen, warum er sich nicht ebenfalls ausfliegen ließ. Die videografische Inszenierung des Entführungsopfers Schleyer als entmachtetem Repräsentanten wirtschaftlich-politischer Macht – er musste die Bild-Zeitung in Händen halten, um die Aktualität der Aufnahme zu bezeugen – entfaltete dagegen die beabsichtigte Wirkung nicht: Statt zum gehassten 219 Anonym: Buback † Ein Nachruf, S. 1259b.

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Feindbild geriet die massenmedial verbreitete Aufnahme in der öffentlichen Wahrnehmung zur imago des wehrlosen Opfers, die, anstatt die Solidarisierung mit den Geiselnehmern zu verstärken, Mitleid mit der Geisel hervorrief.220 Es sind diese über das Fernsehen vervielfältigten Bilder, die sich dem kollektiven Gedächtnis bis heute eingeprägt haben: »Auf einem Bild von Schleyer, das die Entführer gemacht hatten, war im Hintergrund ein fünfzackiger schwarzer Stern zu sehen. Schleyer sah furchtbar mitgenommen aus«, erinnert sich die Icherzählerin noch in Manuela Golz’ Ferien bei den Hottentotten (2006).221 Die massenmediale Informatisierung und Visibilisierung zeitgenössischer Ereignisse, die die terroristischen Täter sich für ihre erpresserischen Taten aneigneten, erfasste sie indes auch selbst, soweit die staatliche Exekutive ihrer (wie in den meisten Fällen222) habhaft werden konnte. Schon die Fahndung nach den Terroristen der RAF lief neben der Aushängung ihrer Portraits auf Fahndungsplakaten über die Printmedien und das Fernsehen ab. Dass auch die inhaftierten Terroristen noch zu Zuträgern einer visuell geprägten Medienökonomie wurden, hat Christine Brückner ein halbes Jahrzehnt nach dem ›Terrorjahr‹ 1977 in ihrer fiktionalen Sammlung ›ungehaltener Reden ungehaltener Frauen‹ Wenn du geredet hättest, Desdemona (1982) der in StuttgartStammheim inhaftierten und im Oktober 1977 durch Suizid umgekommenen RAF-Terroristin Gudrun Ensslin polemisch in den Mund gelegt: »Die große Raubtiernummer aus Stammheim, täglich in drei Abendprogrammen des Deutschen Fernsehens. Fehlt nur noch das Laufgitter. Warum erhebt ihr keinen Eintritt? Alle mästen sich an uns […]. Vor allem das Publikum. Wir kriegen nicht mal Gage.«223 Dass jedoch nicht nur zwischen den revolutionären Hoffnungen von 1968 – dem Jahr, das die Revolution auf die Tagesordnung auch der westdeutschen Geschichte gesetzt hat –224 und den Ereignissen des ›Terrorjahrs‹ 1977, sondern auch zwischen dem bis zum ›Guerilla-Krieg‹ der RAF reichenden Protest und einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich letztlich unverändert zeigte, eine 220 Vgl. dazu Knobbe, Schmitz: Terrorjahr 1977, S. 78. 221 Manuela Golz: Ferien bei den Hottentotten. Berlin 2006, S. 74. 222 Vgl. dazu auch die illusionslose Bilanz in Peter-Paul Zahls während seiner Haft entstandenem Pikaro-Roman Die Glücklichen (Peter Paul Zahl: Die Glücklichen. Schelmenroman. Berlin 1979, S. 466 ff.). 223 Christine Brückner: Kein Denkmal für Gudrun Ensslin. Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle. In: dies.: Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. Mit Zeichnungen von Horst Janssen. Hamburg 1982, S. 109 – 122, hier S. 109. 224 Vgl. Peter-Jürgen Boock: Abgang. Bornheim-Merten 1988, S. 9: »Die Revolution? Klarer Fall, sie steht weltweit auf der Tagesordnung, von Angola über Vietnam bis Nicaragua! / Westdeutschland? Das Land ist die vorderste Abfanglinie des US-Imperialismus bei seinen Rückzugsgefechten!«

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breite Lücke klafft, hat Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Andenken, mit dem sein Gedichtband Die Furie des Verschwindens (1980) einsetzt, in angemessen lakonischer, prosanaher Sprache bündig bilanziert. Das bekämpfte gesellschaftliche ›System‹ verwand seine gewalttätige Herausforderung nicht zuletzt im Wege medialer Absorption; es nahm die Ereignisse als telegene Vorlagen eingespielter Informationsprozesse auf, die die »siebziger Jahre«, ihre Terrorgeschichte und Chocks archiviert und auf diese Weise ›verschluckt‹ haben: Also was die siebziger Jahre betrifft, kann ich mich kurz fassen. Die Auskunft war immer besetzt. Die wunderbare Brotvermehrung Beschränkte sich auf Düsseldorf und Umgebung. Die furchtbare Nachricht lief über den Ticker, wurde zur Kenntnis genommen und archiviert. Widerstandslos, im großen und ganzen, haben sie sich selber verschluckt, die siebziger Jahre, ohne Gewähr für Nachgeborene, Türken und Arbeitslose. Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, wäre zuviel verlangt.225

Gedacht, und mitunter mit Nachsicht, wurde der siebziger Jahre und des ›Deutschen Herbstes‹ von Seiten der ›Nachgeborenen‹226 in der deutschsprachigen Literatur wie des Films später durchaus. Auch Enzensbergers genau auf der Schwelle zum neuen Dezennium publiziertes Gedicht gedenkt des vom Terrorismus erschütterten Jahrzehnts in Form einer Elegie, die dieses Kapitel bereits für abgeschlossen hält – und damit die Getrenntheit literarischen Eingedenkens von einem Geschehen behauptet, dessen Kulminationspunkt, für den ›1977‹ steht, gerade drei Jahre zurückliegt.

225 Hans Magnus Enzensberger : Andenken. In: ders.: Die Furie des Verschwindens. Gedichte. Frankfurt/M. 1980, S. 9. 226 Enzensbergers Gedicht spielt mit diesem Stichwort auf Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen (Erstdruck 1939) an; vgl. Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen. In: ders.: Werke. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 1938 – 1956. Berlin und Weimar, Frankfurt/M. 1988, S. 85 – 87.

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214 4.

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Friedrich Christian Delius’ Romantrilogie Deutscher Herbst

Dass literarische Gattungen ein je verschiedenes Zeitmaß der Aktualität kennen, zeigt sich am Zeitverzug, mit dem der deutschsprachige Roman auf die Zeitgeschichte der siebziger Jahre reagiert. Zu den ersten epischen Auseinandersetzungen mit dem Terrorismus des Jahres 1977 gehören die drei Romane, die Friedrich Christian Delius seit 1981 veröffentlicht hat: Ein Held der inneren Sicherheit (1981), Mogadischu Fensterplatz (1987) und Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992);227 erst 1997 wurden alle drei Teile der Trilogie unter dem Titel Deutscher Herbst zusammengefasst. Nachdem die ersten beiden Romane bereits vorlagen, hat Delius sich im Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit Rainald Goetz’ Kontrolliert auseinandergesetzt, der neben dem Roman des ehemaligen RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock (Abgang) und Christian Geisslers Kamalatta zu den Neuerscheinungen des Bücherherbstes 1988 gehörte. Der Weg, den Goetz’ Prosa durch das »Gestrüpp der Erinnerungen rund um das Jahr 1977« schlägt, führt für Delius freilich in die Irre einer wirklichkeitsabgewandten »Ichsuche«, die die Geschichte notwendig verfehlt. Einmal mehr werde die literarische Selbstbeobachtung zur bequemen »Alternative« im Vergleich mit dem Wagnis der Identifikation mit den Tätern oder Opfern der Geschichte; eine Identifikation, die sich in Goetz’ Erzählrede freilich selbst als »Irrweg«228 herausgestellt hat. Die »Ereignisse des Jahres 1977« würden lediglich »als Reizvokabeln benutzt«, um die Prominenz des eigenen Ich zu illuminieren, während »jedes politische Element auf Name-dropping« reduziert werde: »Dazwischen werden dann die bekannten Bilder von 1977 herbeiassoziiert, Nachrichten, Empfindungen und Diskussionen.«229 Was etwa in Brinkmanns Rom Blicke (1979) noch berserkerhaft-genialische »Beschreibungswut« gewesen sei, habe sich bei Goetz zum poseurhaften »Partygeschwätz« verlaufen. Für die spielerische Adaption der zeitgeschichtlichen Informations- und Bildervorgaben in Goetz’ Roman gewährt Delius keinen Kredit. Nur im dritten Teil komme »plötzlich die Realität der Bundesrepublik des Jahres 1977 in typischen Auszügen, nah, plastisch, scharf« zum Vorschein – also so, wie Delius selbst sich die literarische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus denkt:230 Gemeint sind jene Passagen, die der 227 Friedrich Christian Delius: Deutscher Herbst. Ein Held der inneren Sicherheit, Mogadischu Fensterplatz, Himmelfahrt eines Staatsfeindes. Drei Romane in einem Band. Reinbek bei Hamburg 1997. 228 Goetz: Kontrolliert, S. 97. 229 Friedrich Christian Delius: Männerphantasien, Frauenhaß, Ichtümelei. Friedrich Christian Delius über Rainald Goetz: »Kontrolliert«. In: Der Spiegel Nr. 39 vom 26. 9. 1988, S. 216 – 221, hier S. 216. 230 Ebd., S. 218.

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Roman der Witwe von Hanns Martin Schleyers Fahrer Heinz Marcisz oder dem Maler Theodor Sand, in dessen Wohnung der fehlgeschlagene Raketenanschlag auf die Karlsruher Bundesanwaltschaft vorbereitet wurde, einräumt. Dass der Roman sich selbst das Recht, sich »was auszudenken«,231 verwehrt, wertet Delius letztlich als »literarische Feigheit vor dem ›Unvorstellbaren‹«. Wie sehr der Rezensent dem dialektisch argumentierenden Diskurs um den bundesdeutschen Linksterrorismus verhaftet ist, dem es um radikale Systemkritik geht, wird an seiner literaturkritischen Bilanz ablesbar : »Mit seiner Rhetorik der Abfertigung, die der Rhetorik der RAF durchaus verwandt ist, wirkt Goetz’ Prosa ähnlich systemstabilisierend, wie es die Praxis der RAF tat.« Das Paradigma dieser Systemaffirmation aber ist mehr noch das gesellschaftliche Leitmedium Fernsehen, das jegliche Form aufmerksamkeitswirksamer Inszenierung begrüßt: »Wie ein Showmaster des Fernsehens um das vom Medium angeblich erzwungene ständige Gefallenmüssen kämpft, so hausiert Goetz umgekehrt mit seinem angeblich von der Kunst diktierten Haß. Beides sind Formen der Anbiederung an den kulturellen Showbetrieb.«232 Wie der Rezensent sich demgegenüber eine Literatur vorstellt, die der Zeitgeschichte nicht in eine ereignisferne Selbstbespiegelungs- und -inszenierungsprosa ausweicht, hat er in dem poetologisch aufschlussreichen Aufsatz Warum ich kein ›politischer Autor‹ bin oder Die Bereicherung der Literatur durch politisches Bewußtsein (1996) ausformuliert. Delius situiert den Standpunkt des Erzählers auf dem »Hochstand der Fiktion«: Kraft einer risikofreudigen Vorstellungskraft, die »keine Angst vor der Wirklichkeit hat«, erhebt er sich über das Dickicht der Zeitgeschichte, weil nur von hier aus ein »Ordnen des Chaos«233 vorgenommen werden könne. ›Dickicht‹ oder ›Gestrüpp‹, mit denen es der Autor zu tun bekommt, sobald er sich auf Ereignisse der rezenten Geschichte einlässt, entsprechen dem Topos der unübersichtlichen, »unsicher[en] und verfilzt[en]« Gegenwartsgeschichte, wie sie Musil gekennzeichnet hat.234 Delius’ Überlegungen beziehen sich bereits auf den letzten, 1992 erschienenen Roman seiner Trilogie, in dem es unter anderem um die Umstände von Ulrike Meinhofs Tod in Stammheim geht: »Ich richte meinen Frage-, Freiheits- und Darstellungstrieb am liebsten auf meine Zeit und ihre Ungewißheiten. Die interessieren mich mehr als ›abgeschlossene‹ Vergangenheiten oder Zukunfts-Fiktionen.«235 231 Goetz: Kontrolliert, S. 16. 232 Delius: Männerphantasien, Frauenhaß, Ichtümelei, S. 221. 233 Friedrich Christian Delius: Warum ich kein ›politischer Autor‹ bin oder Die Bereicherung der Literatur durch politisches Bewusstsein. In: ders. Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin. Berlin 1996, S. 33 – 57, hier S. 53. 234 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 360 235 Delius: Warum ich kein ›politischer Autor‹ bin, S. 54. – In Delius’ Vorlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach findet sich auch eine Kopie der Schrift: Der Tod Ulrike Meinhofs.

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Als Sphäre des Unausgemachten, Unabgeschlossenen bietet sich die Zeitgeschichte einer Poetik an, die anstelle gültiger historischer Verzeichnung auf Ambivalenz und Offenheit setzt. Delius’ entschiedene Zugewandtheit zur Zeitgeschichte ist sich indes ihrer Risiken bewusst, die nicht zuletzt aus der medienvermittelten Teilhabe seiner Leser an den erzählten Ereignissen resultieren: »Bei zeitgenössischen Themen kann jeder mitreden und behaupten: das ist nicht so, wie es da steht […].«236 Damit ist das Apriori der massenmedialen Repräsentationen zeitgeschichtlicher Stoffe benannt, die »fast alle Leser in Erinnerung haben«.237 Indem Delius’ Zeitgeschichtsprosa sich stofflich im Naherinnerungsfeld einer medial hergestellten Gegenwart ansiedelt, bezieht sie die Medialisierung rezenter Geschichte als Gegebenheit in ihren Reflexionshorizont ein. In Hinsicht auf die negativen Kritiken, die der letzte Teil der Trilogie – Himmelfahrt eines Staatsfeindes – erfuhr, vermutet der Autor : »Vielleicht befremdet dieser Ansatz noch zu sehr, die Bundesrepublik als medialisierte Gesellschaft zu beschreiben.«238 Den Beweis, dass sich die ›Geschichte des Jahres 1977‹ dennoch einem informierten Publikum überzeugend erzählen lässt, kann indes nur der literarische Text selbst erbringen. Während die Massenmedien die Ereignisse lediglich aufzeichnen und abrufbar halten, aber im Grunde – wie mit Delius auch Enzensberger meint – beziehungslos zu den Empfängern bleiben, liegt es beim Medium Literatur, ›Anschließbarkeiten‹ an die erfahrungsgegründete Vorstellungswelt der Empfänger herzustellen.239 Delius’ pragmatische Hoffnung sieht voraus, dass eine »wachsende Leserschar die berauschende Erfahrung machen [könnte], dass Literatur vielfältige Brücken schlägt zwischen höchst individuellen Leidenschaften und dem, was in der Zeitung steht oder als Fernsehbild haften bleibt.«240 Der Titel Deutscher Herbst, unter dem die Trilogie seit 1997 steht, verdankt sich seinerseits einem ästhetisch höchst heterogenen, kaum auf massenhafte Rezeption angelegten Autorenfilm: Deutschland im Herbst (1978) war eine von Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Edgar Reitz, Heinrich Böll und anderen geschriebene und gedrehte filmische Collage betitelt, mit deren Produktion bereits unmittelbar nach der Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers begonnen worden war. Wie die Filmcollage verschie-

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Bericht der Internationalen Untersuchungskommission. Übersetzung ins Deutsche. 1. Aufl. Januar 1979 (cahiers libres). (»Mogadischu Fensterplatz« Konv. Manuskriptteile, Notizen, Recherchen, Korrespondenz, Material.) Ich danke Friedrich Christian Delius für die Erlaubnis zur Einsichtnahme. Delius: Warum ich kein ›politischer Autor‹ bin, S. 54. Ebd., S. 53. Ebd., S. 52. Vgl. dazu auch das rezeptionsästhetische Modell bei Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 3. Auflage München 1990, S. 284 ff. Delius: Warum ich kein ›politischer Autor‹ bin, S. 57.

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dene, vom Dokumentarischen bis zur skurrilen Fiktion reichende Blicke auf die jüngstvergangenen Ereignisse wirft, stellt Delius’ Trilogie die Höhepunkte des ›Terrorjahres‹ 1977 ebenfalls unter drei unterschiedlichen Perspektiven dar : der des Karrieristen und Redenschreibers des entführten, später ermordeten Chefs des »Verbandes der Menschenführer« Alfred Büttinger, die einer Geisel des entführten Lufthansa-Flugzeugs ›Landshut‹ und die eines Täters der RAF, der – neben anderen Erzählstimmen – von einer phantastischen, jenseitigen Erzählposition aus sein eigenes Staatsbegräbnis beobachtet oder eher halluziniert. Bezieht man alle drei Romane aufeinander, so erscheinen sie als multiple Fokussierungen auf den zusammengehörigen Ereigniskomplex, der unter dem Geschichtszeichen ›1977‹ abgelegt worden ist: die Entführungen Schleyers und des Passagierflugzeugs, die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten sowie des Todes der in Stammheim inhaftierten Terroristen. Die Struktur der Trilogie, die in der Opfer-narratio des Mogadischu-Romans ihr Mittelstück hat, verweist strukturell auf das ikonografische Vorbild des sakralen Triptychons, dessen zentrale Darstellung die dramatische Opfer-Szene der Kreuzigung darstellt: Vor allem der letzte, mit Himmelfahrt überschriebene Roman gibt zu dieser Zuordnung Anlass. Im Zentrum des narrativen Triptychons steht die passio einer Figur, die zufällig ins Zentrum der politischen Ereignisgeschichte gerät. Während die Roman-Trilogie diese heilsgeschichtlich ausgelegte Syntax adaptiert, storniert sie jedoch deren Semantik: Selbst im Augenblick der Befreiung bleibt die ›Erlösung‹ der Geisel vom Zweifel berührt, in welche Freiheit sie eigentlich befreit worden ist. 4.1

Innenansicht des Terrors: Mogadischu Fensterplatz

Während Ein Held der inneren Sicherheit die Geschichte einer fiktiven Figur aus der Umgebung eines fiktiven Entführten erzählt, so dass die Fiktion schlüsselromanhaft auf die Schleyer-Entführung bezogen werden kann, und während Himmelfahrt eines Staatsfeindes in seiner Haupthandlung narrative Beobachterposition wie Beobachtetes ganz ins Irreale verschiebt, erzählt nur der mittlere Teil der Trilogie ohne manifeste Vorkehrungen der Verfremdung vom ›Deutschen Herbst‹ 1977: von den 106 Stunden der Entführung der Lufthansa-Maschine ›Landshut‹ von Palma de Mallorca nach Mogadischu, deren Scheitern zum Selbstmord der Inhaftierten sowie zur Ermordung Hanns Martin Schleyers führte. Es handelt sich zudem um den einzigen Roman, der aus nur einer Perspektive, der subjektiven Sicht der fiktiven241 Icherzählerin Andrea Boländer, 241 Vgl. den Klappentext der Erstausgabe: »Es kommt hier aber eine strikt fiktive Figur zur Sprache […], die sich auf ihrem Fensterplatz Reihe zehn im Zentrum der Erpressung befindet, gezwungen zur Passivität und zum Beobachten.« Denselben fiktionalen Vorbehalt

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erzählt. So eindeutig und eindringlich der Bezug der Romanfiktion auf das reale Ereignis auch ist, so wenig bemächtigt sie sich jedoch seiner im direkten mimetischen Zugriff; der Abstand, der den Roman bei seiner Erstveröffentlichung bereits immerhin ein knappes Jahrzehnt vom Ereignis entfernt, manifestiert sich vielmehr auch in der Struktur. Denn die Perspektive der Figur, welche die Fiktion dem Geschehen aussetzt, teilt sich keineswegs unmittelbar aus dem Ereignis heraus mit, sondern ist durch die unfreiwillige Erinnerung gebrochen, die ihr von einem »Antrag auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten (OEG)« abgenötigt wird.242 Dessen Fragenkatalog fungiert als ›unmöglicher‹ Anlass des autodiegetischen Erzählens, denn sein Beginn besteht im performativen Paradox eines Erzählanfangs durch Erzählverweigerung: »Ich werde den Antrag nicht ausfüllen.«243 In der Zurückweisung der Zumutung, in einem »skandalös bürokratischen Fragebogen«244 von der Erfahrung der Entführung Rechenschaft zu geben, behauptet sich die Erzählfigur auch gegen den normalisierenden Anspruch, in jene reguläre Ordnung wieder einzutreten, die durch das Ereignis jäh unterbrochen worden ist. Ihr Erzählbericht konstituiert sich so aus Antworten, die sie auf beredte Weise verweigert. Was die Auskunft über das erfahrene Ereignis zu verhindern scheint, generiert jedoch auch die Bedingung seiner Erzählbarkeit: Es ist gerade der Formalismus des Fragenkatalogs, der das chaotische Geschehen und Erleben einer erzählbaren Struktur erst zuführt.245 Wenn gilt, dass wir über das, »wofür wir Worte haben, […] auch schon hinaus« sind,246 so führt die Romanfiktion das Zum-Wort-Kommen ereignishafter Erfahrung auf seinen erzähllogischen Aus-

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markiert die paratextuelle Vorbemerkung: »Die veröffentlichten Aussagen ehemaliger Geiseln, insbesondere der Passagiere des Lufthansa-Flugzeugs ›Landshut‹, förderten die Arbeit an diesem Buch. Das aber gibt, selbstverständlich, nur eine Version wieder – die des Autors.« Friedrich Christian Delius: Mogadischu Fensterplatz. Reinbek bei Hamburg 1987, Klappentext bzw. S. 4. Ebd., S. 5 (im Original unterstrichen). – Die juristische Grundlage des Antragsformulars bildet BGB II 1976, 1181. Vgl. auch Gerd Schulz-Lüke und Manfred Wolf: Gewalttaten und Opferentschädigung. Kommentar zum Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten. Berlin, New York 1977, S. 126, zu § 387 d) (Antragsform): »Der Antragsteller kann wählen, ob er den Antrag schriftlich oder mündlich stellen will. Für die schriftliche Antragstellung bestehen keine Formvorschriften.« Das Antragsformular, das Delius mit Datum vom 8. 1. 1986 vom Versorgungsamt II Berlin auf seine Anfrage hin zugeschickt bekam (»Anlagen: 1 Antragsbogen KOV 1501, 1 Merkblatt«), fehlt im Vorlass der Materialien zum Roman im Deutschen Literaturarchiv Marbach; Anschreiben und Merkblatt sind im Konvolut enthalten (»Mogadischu Fensterplatz« Konv. Korrespondenz u. Aufstellungen für Recherchen). Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 5. Ebd., Klappentext. »Warum nicht beschreibbar/Fragebogen« ist eine handschriftliche Notiz in Delius’ Marbacher Vorlass zum Roman überschrieben (»Mogadischu Fensterplatz« Konv. Material zum Roman). Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S. 218.

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gangspunkt zurück. Sie reflektiert damit die Bedingung ihrer eigenen Darstellung, indem sie die Transformation des Chocks in die Ordnung der Sagbarkeit an der eigenen Struktur spiegelt. Gleich anfangs überschreiten die Angaben der Ich-Erzählerin freilich die »sechseinhalb Zeilen«, die das Antragsformular für die »genaue Schilderung des Tathergangs« einräumt;247 am Ende hat sich das Erzählen fast völlig von der Struktur der Befragung gelöst. Das paradox initiierte Erzählen überwuchert den vorgesehenen Raum so sehr, dass seine Fragestruktur mit dem Fortschreiten der Erzählung immer mehr in Vergessenheit gerät. Stattdessen bietet sich die Erzählung als Abarbeitung eines erlittenen Traumas dar, die der Freudschen Psychoanalyse zufolge über die Trias von ›Erinnern‹, ›Wiederholen‹ und ›Durcharbeiten‹ verläuft. Die Wiederholung der traumatischen Erfahrung im Text inszeniert damit einen Ursprung von Schrift und Erzählen überhaupt.248 Zugleich aber zeugt der Versuch, die überwältigende Erfahrung über einen Katalog vorformulierter Fragen einzuholen, von der grundsätzlichen Schwierigkeit literarischer Texte, an die Präsenz des Ereignisses heranzureichen. Die den Erzählprozess als Erinnerungsprozess anstoßende Struktur legt eine Authentizitätsschranke zwischen Ereignis und Narration, so dass sich die Schwierigkeit, vom Erlebten authentisch zu berichten, innerhalb der Fiktion – also, systemtheoretisch gesprochen, in einer Art re-entry – wiederholt. Auch die Erzählinstanz ist ja zeitlich und formal vom erzählten Ich getrennt, so dass ihr Erzählbericht grundsätzlich einer ›dissonanten‹ Form autodiegetischen Erzählens entspricht:249 »Weit entfernt sehe ich eine andere Andrea Boländer, die vor fünf Wochen mit leichtem Gepäck in Palma einstieg, den Fensterplatz besetzte in der Reihe 10, nach dem Start sich zurücklehnte und einen Brief begann […].«250 Zwischen erinnerndem Erzählakt und erinnertem Geschehen besteht eine erzählstrukturelle Differenz: Der Roman macht die Darstellbarkeit des Ereignisses selbst zum Thema. Indem er die widerständige Erinnerungsarbeit der Erzählerin in seiner Struktur reflektiert, unterstreicht er zugleich die Textualität seiner Erzählung jenseits des Ereignisses selbst. Der Roman stellt sich damit in eine Paradoxie, die mit Derridas Rede von der ›unmöglichen Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen‹, genau bezeichnet ist. Der negative Anlass wird zum positiven Auslöser einer Erinnerung, die ihre reflektierende Distanz zum Erzählten, sobald sie angestoßen ist, einzieht – so dass sich das Ereignis gewissermaßen in der Erzählgegenwart des Textes erneut er247 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 11. 248 Vgl. dazu Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift. München 2005. 249 Vgl. dazu Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978, S. 145 – 161. 250 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 6.

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eignen kann: »Ich muß von vorn beginnen, noch einmal. Warum regt so ein albernes Formblatt mich auf, reißt mich zurück, lädt das Gedächtnis auf, schwemmt die Bilder, Grimassen und Laute heran, brennt mir den Gestank auf die Haut und schließt mich wieder ein in das Flugzeug?«251 Der folgende Erzählbericht protokolliert ein Exerzitium des Erinnerns, in dem Erzählerin und erzählte Figur im Gegensatz zur Dissonanz des autodiegetischen Erzählbeginns wieder tendenziell kongruieren, während das zum Erzählrahmen gehörende Antragsformular mit seinen dazwischen geschalteten Fragen diese Konsonanz nur hin und wieder unterbricht. Der narrative Discours vollzieht sich so im rhythmischen Wechselspiel der Evokation und Sistierung ereignishafter RePräsenz. Wie genau es das Erzählen mit der versuchten Annäherung ans Ereignis nimmt, zeigt sich an der Akribie, mit der es auf dingliche Details achtgibt.252 So sehr Delius als Rezensent die Selbstbestreitung des Rechts zur fiktionalen Imagination bei Goetz wiederum bestritten hat, so sehr zollt sein Roman einem Faktizismus (bis hin zu dem von Hegel hinsichtlich des Geschichtsdramas kritisierten ›Pedantismus‹) seinen Tribut, der die Lizenz, sich »was auszudenken«, auf die Darstellung der erzählten Subjektivität beschränkt. Die genaue Achtung der Details ist jedoch nur die eine Seite der anvisierten Nähe, die Delius’ Roman zum Ereignis sucht; die andere ist seine fingierte Subjektivität. Weit entfernt, eine bloße »Aneinanderreihung technischer Details, eine Beschreibung äußerlicher Abläufe« ohne inneren Zusammenhang zu präsentieren,253 welche die Realität nur verdoppelt, macht Mogadischu Fensterplatz den gewalthaften Impakt des Ereignisses auf ein individualisiertes Bewusstsein zum Gegenstand. Die ästhetische Darstellung nimmt damit – wie die Roman-Trilogie im Ganzen – »Abschied[] von der Dokumentarliteratur«,254 für die Delius’ satirische Dokumentation Wir Unternehmer (1966) und die ironische Festschrift Unsere Siemens-Welt (1972) noch standen. Stattdessen sucht sie für das dargestellte Ereignis eine Form zu gewinnen, die seiner Instantaneität wie seiner Medialität gleichzeitig Rechnung trägt.

251 Ebd. S. 5 f. 252 Im Vorlass findet sich etwa ein Umschlag mit Materialproben von Sitzbezügen der Boeing 737 C sowie des Kabinen-Teppichs der First- und der Economy-Class, den die Deutsche Lufthansa AG Delius auf seine Anfrage vom 26. 11. 1986 hin zugesandt hat (»Mogadischu Fensterplatz« Konv. Material zum Roman). 253 Werner Fuld: Fensterplatz, zehnte Reihe. Friedrich Christian Delius’ Mogadischu-Roman. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 231 vom 6. 10. 1987, S. L 3. 254 Helmut Peitsch: ›Abschied von der Dokumentarliteratur‹? F. C. Delius’ Auseinandersetzung mit dem Terrorismus. In: Das Argument 35 (1993), S. 412 – 424.

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4.1.1 Der Fensterplatz der Fiktion. Teilnehmende Beobachtung als Erzählverfahren Mogadischu Fensterplatz ist nicht der erste deutschsprachige Roman, der für sein Erzählgerüst einen juristischen Fragebogen adaptiert: Formal bezieht er sich auf einen mehr als drei Jahrzehnte zuvor erschienenen Prätext zurück, Ernst von Salomons Der Fragebogen von 1951. Salomon legt seinem Roman den aus 131 Fragen bestehenden ›Entnazifizierungsfragebogen‹ der britischen und amerikanischen Besatzungsbehörden zugrunde, der allen Inhabern herausgehobener Positionen im nationalsozialistischen Deutschland vorgelegt worden ist.255 Ähnlich wie bei Delius zieht sich die Erzählinstanz die Forderung des Fragenkatalogs als Problem authentischer Rechenschaft zu. Anders als der weithin eitle und geschwätzige autobiografische Roman des Rathenau-Attentäters Salomon gestaltet Delius’ Roman jedoch eine komplizierte Beziehung zwischen Text und Ereignis, indem er mit dem Problem des Erinnerns zugleich dasjenige seines Mediums verknüpft: Das anonyme »Formblatt« wird zum Formular einer persönlichen Initiierung, die den narrativen Text selbst als Medium des Erinnerungs-Vollzugs generiert. Aber diese Verkomplizierung der Erinnerungs- und Erzählstruktur beginnt, genau gesehen, bereits mit dem Titel: »Mogadischu Fensterplatz« codiert ein doppeltes Verhältnis zum erzählten Ereignis – eine Beziehung von ›Innen‹ und ›Außen‹, die sich schon für den Erzähler in Goetz’ Kontrolliert als problematisch erwies. Der »Fensterplatz« erfährt damit eine doppelte Semantisierung: Einerseits bezeichnet er einen Ort innerhalb der Diegese, so dass der Erzählbericht die Geschehnisse aus der Nahsicht der teilnehmenden Beobachtung beschreibt; andererseits aber bezeichnet er den vom Ereignis getrennten, zeitlich und räumlich distanzierten Blickpunkt der Erinnerungs-Fiktion, die Einblick in den abgeschlossenen Raum des Geschehens gewährt. In keinem Fall jedoch entspricht die Sicht, welche die Fiktion dem Leser offeriert, der Perspektive der Informationsmedien, für die der ›Innenraum‹ des Ereignisses prinzipiell verschlossen ist. Damit zieht die Fiktion im konkreten Sinn in die »Lücken und Löcher[] im Kontinuum der Bildwelt« ein, auf die Günther Anders die fiktionale Wirklichkeitsdarstellung hingewiesen hat.256 Mogadischu Fensterplatz lässt sich als Versuch interpretieren, das massenmedial vermittelte Ereignis auf jene primäre Erfahrung des ›Chocks‹ zurückzuführen, 255 Vgl. Ernst von Salomon: Der Fragebogen. Stuttgart, Zürich, Salzburg 1951. – Der viel gelesene Roman des nationalkonservativen Autors verfolgt eher eine apologetische Intention, die im postnationalsozialistischen Westdeutschland auf fruchtbaren Boden fiel. Zu den zeitgeschichtlichen Erfolgsbedingungen des Romans vgl. Angela Borgstedt: Der Fragebogen – Zur Wahrnehmung eines Symbols politischer Säuberung nach 1945. In: Der Bürger im Staat 56 (2006), H. 3, S. 166 – 171. Zum Entnazifizierungs-Fragebogen vgl. auch die Reportagen von John Dos Passos: Das Land des Fragebogens. Aus dem Amerikanischen von Michael Kleeberg. Frankfurt/M. 1997, S. 7 – 48. 256 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, S. 250.

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die der Sicht der öffentlich verbreiteten Bilder und der Medienempfänger unzugänglich ist. Indem der Roman das Ereignis radikal ›personalisiert‹, also auf ein individuell erlebendes Ich konzentriert, schafft er einen Erzählraum, der sich innerhalb des erzählten Raums noch in das Innere der Figur hinein vertieft.257 Narratologisch gesehen ist dieser privileged access der teilnehmenden Beobachtung eines erzählten Ichs als imaginär-authentisch zu bestimmen (auch wenn die Authentizität der Aussagen in der Fiktion wiederum durch die Erinnerung gebrochen erscheint). Damit verbindet sich eine Erzählsicht, die als fixierte interne Fokalisierung bezeichnet werden kann: Sobald es vom Ereignis der Entführung selbst zu erzählen beginnt, kassiert das Erzählen die Distanz zwischen dem erzählenden Ich außerhalb des Geschehens und dem erzählten Ich innerhalb ein. Die Fiktion abstrahiert damit gleichzeitig von jenem medial vermittelten Wissen, über das der Fernsehzuschauer außerhalb des erzählten Ereignisses verfügt; denn das Ereignis schneidet die Eingeschlossenen im Innenraum von den außerhalb zirkulierenden Informationsflüssen ab, so dass sich das Erlebte für sie zunächst überhaupt nicht zum ›Ereignis‹ im Sinne einer referierbaren Einheit verdichtet – und so gerade den radikalen Sinn des Ereignis-Begriffs freilegt: Sicher gab es noch keine Nachrichten, es wurden noch keine Wörter bereitgestellt für das, was uns geschah. Selbst für mich setzten sich die Bruchstücke der Beobachtungen noch nicht zusammen zu einem großen umwerfenden Ereignis, ja, es war noch gar kein Ereignis, sondern es gab nur Einzelteile eines Schreckbildes, das ich nicht übersah, weil ich mitten darin saß und dadurch blind den Abläufen, die ich nicht bestimmen konnte, ausgeliefert war.258

Die Unterbrechung des medial vermittelten Wahrnehmungszusammenhangs bewirkt eine Deroutinierung des Zeichengebrauchs – eine Verspätung der Sprache, in der sich die Nachträglichkeit des erinnernden Erzählens noch einmal potenziert: Alles ging zu schnell und zu langsam zugleich. Erst allmählich stellte sich der Begriff für all diese Vorgänge ein, Entführung. Es ist tatsächlich eine Entführung, was hier stattfindet! Und diese Leute da, das also sind Entführer!259

Auch der Erzählbericht in Mogadischu Fensterplatz geht von der öffentlichen Bekanntheit der Ereignisse aus, von denen der Fragebogen noch einmal Rechenschaft zu geben verlangt: »Den Tatort nennen, als wüßten den nicht alle 257 Das Bedürfnis nach Personalisierung haben allerdings auch die Printmedien gleich nach der Entführung zu bedienen versucht; vgl. dazu die Titelstory des Magazins Stern Nr. 45 vom 27. 10. 1977: »Das war das Ende. Das authentische Tagebuch der Crew des LufthansaFluges LH 181.« 258 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 31. 259 Ebd., S. 18. – Vgl. S. 36: »zum erstenmal brannte sich das Wort Geisel in meinen Kopf.«

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Leute seit Wochen auswendig!«260 Fernsehaufnahmen, Zeitungsberichte und -fotografien haben das erzählte Geschehen bereits so allgemein bekannt gemacht, dass sich jede informative Auskunft erübrigt. Die dadurch bewirkte Redundanz – noch einmal wiederholen zu sollen, was ohnehin als bekannt vorausgesetzt werden kann –, stellt nicht nur den Sinn der Frage nach dem »Tatort« in Frage, sondern auch den Sinn der Roman-Erzählung selbst. Diese pariert die Redundanz durchs Erzählverfahren: Die imaginär-authentische Fiktion kann eine Nähe zum Ereignis erzeugen, über die kein Fernsehzuschauer oder Zeitungsleser verfügt. Denn die von den Geisel beobachtete Trennung von den Informationen wirkt sich doppelseitig aus: Sie trennt auch die Informationen ›draußen‹ vom Ereignis »drin«. Die narratologische Kategorie der internen Fokalisierung erhält damit eine mediologische Valenz: Delius’ Erzählung vermittelt die Innenansicht eines Ereignisses, die der Außensicht der Foto- und Fernsehobjektive entzogen geblieben ist. Die Bilder der entführten LufthansaMaschine auf dem Rollfeld des Flughafens von Mogadischu (Abb. 6) sind noch knapp zehn Jahre später jedem Medienteilhaber präsent; nicht präsent – und mit den Mitteln der informationellen Visualität auch nicht repräsentierbar – sind dagegen die Vorgänge im Inneren des Flugzeugs, in dem die Geiseln mit ihrem subjektiven Erleben eingeschlossen waren. Weil das Ereignis, das sich im Inneren des entführten Flugzeugs abspielte, bildlos und jeder unbeteiligten Beobachtung entzogen geblieben ist, wird es zur Chance der Fiktion: Nur sie vermag davon zu erzählen, indem sie den Innenraum des Terrors zum Erzählraum macht.261 4.1.2 Terrorzeit und die Zeit des Erzählens Das Erzählen aus der terror zone geht über die Grenze der medialen Beobachtbarkeit hinaus, denn der Versuch, das Ereignis abzubilden, wird gewissermaßen schon vom geschlossenen Flugzeugkörper abgewiesen. Doch das Erzählen überschreitet in gewisser Weise auch die Bedingungen seiner eigenen 260 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 5. – Der illustrierte Umschlag der einbändigen, unter dem Titel Deutscher Herbst veröffentlichten Taschenbuchausgabe aller drei Romane zitiert dagegen die ›Ikonen‹ des kollektiven Bildgedächtnisses: Die ›Landshut‹ auf dem Rollfeld in Mogadischu, die zerschossenen Fahrzeuge und die Leichen der Schleyer-Entführung, den entführten Arbeitgeberpräsidenten unter dem Emblem der ›Roten Armee Fraktion‹ und den toten Jan-Carl Raspe bei seiner Auffindung in Stammheim (Delius: Deutscher Herbst, Umschlag). 261 Die Landshut-Entführung ist allerdings auch mit visuellen Mitteln nacherzählt worden: In der ZDF-Produktion Das Wunder von Mogadischu wird das Ereignis im Inneren des Flugzeugs ebenso nachträglich bebildert wie in Heinrich Breloers semidokumentarischem Fernsehfilm Todesspiel (1997). Dass die Visualisierung stärkere dramaturgische Eingriffe in den Ereignisablauf vornimmt und sogar in der Ausstattung weniger detailgenau verfährt als Delius’ Roman, ist in Hinsicht auf die Mimesis in Film und literarischem Text bemerkenswert.

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Abb. 6: Die ›Landshut‹ bei der Geiselbefreiung am 18. 10. 1977 in Mogadischu (Ó picture alliance/dpa)

Möglichkeit, weil sich zwischen unmittelbarem Erleben und sprachlicher Rechenschaft eine Distanz auftut: »jeden Tag wurden meine Antworten routinierter, schneller, falscher. Jeden Tag mehr Verkürzungen, Beschönigungen, Klagen.«262 Wie Nikolas Borns 1980 erschienener Roman Die Fälschung über ein Massaker im libanesischen Damur am 21. Januar 1976, dem ein Artikel im Nachrichtenmagazin Der Stern vom 29. desselben Monats zugrunde liegt,263 geht es um das Problem der Repräsentation als Fälschung – allerdings auf andere Weise. Denn im Unterschied zu Borns Erzähltext handelt Delius’ Roman nicht vom Versuch eines sich als ausgeschlossen erfahrenden Beobachters, die Entfremdung zwischen sich und dem Geschehen um ihn herum aufzuheben (was letztlich nur durch die verzweifelte Konsequenz der Mittäterschaft möglich erscheint264), sondern umgekehrt vom Versuch, die unfreiwillig teilnehmende Beobachtung in die Erinnerung zu retten. Die Schwierigkeit literarischer Fiktionen, zu öffentlich medialisierten Ereignissen erst einmal Nähe zu gewinnen, manifestiert sich noch einmal in der Struktur : Der einmal ausgelöste Erinnerungsprozess der Erzählerin überspringt die distanzierende Reflexion, und nur das ausgesparte Weiß der Leerzeilen auf dem Papier macht den überbrückten Abstand kenntlich. – Mit diesem Neueinsatz aber schaltet der Erzählbericht unvermittelt auf einen szenisch-präsentischen Modus um: »Plötzlich Schreie 262 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 5. 263 Nicolas Born: Die Fälschung. Reinbek bei Hamburg 1980. – Ein Friedrich Christian Delius gewidmetes Gedicht Nikolas Borns reflektiert die Verwiesenheit literarischer Repräsentation auf Zeitgeschichte in einer tautologischen Wiederholungsstruktur, die dem Gedicht seine ästhetische Form gibt; vgl. Nikolas Born: Ein Foto (nach und für Delius). In: ders.: Gedichte 1967 – 1978. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 87. 264 Vgl. Heinrich Bosse, Ulrich A. Lampen: Das Hineinspringen in die Totschlägerreihe. Nicolas Borns Roman ›Die Fälschung‹. München 1991.

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wie Blitze, ganz nah, von allen Seiten, schrille, zänkische Mädchenstimmen, hartes, unverständliches Befehlsgebrüll, kratzendes Englisch, polternde Schritte, die Schreie gleichzeitig vorn und hinten, immer lauter und bellend.«265 Der sprachlos gekennzeichnete Wechsel zwischen reflektierender, misslingender und szenischer, zwingender Erinnerung, die mit dem asyndetischen, prädikatlosen Satz einsetzt, inszeniert eine andrängende Re-Präsenz des Ereignisses, die vom Zeitmodus der Plötzlichkeit bestimmt ist.266 Das Zeitadverb am Satzanfang (»plötzlich«) verbindet sich mit einer räumlichen Deixis (»vorn und hinten«),267 die das erzählte Ich zur Wahrnehmungsinstanz macht – und die auch wirkungsästhetisch, dem grammatischen Präteritum zum Trotz, die Präsenz des Erzählten in der Lektüre erzeugt.268 Zwar umfasst Delius’ Roman insgesamt einen Zeitraum von knappen fünf Tagen – von der Kaperung der Lufthansa-Maschine am frühen Donnerstag Nachmittag, dem 13. Oktober 1977, bis zur Befreiung der Geiseln am Dienstag, dem 18. Oktober, kurz nach null Uhr. Vor allem in erzählten Augenblicken des Schreckens, unvermuteter Wendungen oder unverhofft auftauchender Möglichkeiten der Befreiung verwendet das Erzählen jedoch die tendenziell zeitdeckende Darstellungsform der Szene: »Ein Schlag aufs Trommelfell, ich riß den Mund auf, ein Schrei aus dem Lautsprecher.«269 Damit inszeniert das Erzählen die disruptive Zeiterfahrung des Terrors, die von Instantaneität bestimmt ist: Denn »das Widerfahrnis des Terrors ist von absoluter Präsenz. Sie komprimiert die Zeit zur Jetztzeit ohne Horizont, zum Augenblick außerhalb der Zeit.«270 Diese ›Terrorzeit‹ setzt die weltzeitliche, kollektiv abgeglichene Chronologie aus, indem sie die subjektive Erfahrung der Geisel in einer vergleichslosen Zeit außerhalb der Zeit ansiedelt. Der unvermittelte Wechsel vom reflektierenden zum szenischen Erzählen verdeutlicht nicht nur den Übersprung von Distanz zu Nähe und Repräsenz des Erinnerten, sondern zielt zugleich mimetisch auf die absolute Deroutinierungserfahrung des Chocks. Der Chock unterbricht alle eingespielten Apperzeptionsabläufe im zeitlich-räumlichen Kontinuum mit einem Mal, indem er eine eigene, situative, ebenso konkrete wie kontextabstrakte Zeit- und Raumordnung einsetzt. Die unmittelbare Betroffenheit vom Terror konstituiert eine »totale Situation«, die das Opfer restlos absorbiert, also 265 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 6. 266 Vgl. Karl Heinz Bohrer : Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/ M. 1981, sowie Wolfgang Sofsky : Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. 2. Auflage Frankfurt/M. 2002, S. 109. 267 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 6. 268 Vgl. dazu vgl. Käte Hamburger : Die Logik der Dichtung. 4. Auflage Stuttgart 1994, S. 64 und passim. 269 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 11. 270 Sofsky : Zeiten des Schreckens, S. 109 f.

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seinen Leib, sein Selbst, seine Welt besetzt.271 Der radikale Anomalismus des Ereignisses besteht also nicht nur in seinem Überraschungsmoment, sondern auch in der erst auf Dauer sich einstellenden Aussetzung jeder Orientierung: Weil »die Fenster zugezogen« sind, haben die im Flugzeug eingeschlossenen Geiseln »nicht den geringsten Hinweis« auf ihre Position im geografischen Raum. »Mit neunhundert Kilometern in der Stunde schossen wir in eine unbekannte Richtung, gefesselt in einer geräumigen und doch viel zu engen Rakete, aus der Welt herauskatapultiert.«272 4.1.3 Anomalisierung und Déjà vu Während der Einbruch des Terrors eine radikale Anomalisierung der kontinuierlichen Selbst- und Welterfahrung bewirkt, hält das erzählte Bewusstsein so lange wie möglich am stabilisierenden Maßstab des Normalismus fest – so lange jedenfalls, wie die Zeichen des Terrors noch als vorübergehende Anomalien in die Ordnung der habituellen Wirklichkeitswahrnehmung integriert werden können. Aber die Penetranz seiner nicht integrierbaren Signale bewirkt, dass die Suspendierung der ›normalistischen‹ Wirklichkeit durch den Terror nicht lange verleugnet werden kann: »Angstkreischen, Zetern, Frauenschreie, Männergebrüll, Schreckensrufe. Nichts davon passte in ein Flugzeug.«273 Es gehört zu dieser verspäteten Apperzeption, dass erst die wiederholte Anweisung der Entführer – »Hands up! Hands up! Don’t move« –274 die Anerkennung als neues, exigente Geltung beanspruchendes Ereignis im Wirklichkeitssystem des erzählten Ichs bewirkt. Die terroristische Gewalt insistiert auf Anerkennung ihrer performativ erzeugten Realität. Damit aber wird ein Parallelraum und eine Parallelzeit eingerichtet, die das Kontinuum der außerhalb bestehenden Realität radikal unterbricht: Was der Roman von diesem Moment der erzählten Zeit an beschreibt, ist nicht mehr ein Ausschnitt der gemeinsamen geteilten, kommunizierten und chronologisch geordneten Welt, an der Entführer, Opfer, Verhandlungsgegner und medial angeschlossene Zuschauer gleichermaßen teilhätten; erst recht ist es kein Kriegs- oder Nebenkriegsschauplatz der politischen Weltlage mehr, die als gemeinsamer Bezugshorizont vorausgesetzt werden kann. Sondern es ist eine zweite Wirklichkeit, deren außerordentliche Logik die Regeln der ersteren aussetzt. Damit ist der Umstand benannt, dass die Überwältigung durch die exzeptionelle Erfahrung des Terrors über eine Bewusstseinsfigur der Wiederholung hergestellt wird: Vor allem nämlich sind es zuvor gesehene Bilder, welche die 271 272 273 274

Vgl. Sofsky : Traktat über die Gewalt, S. 98. Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 21 f. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6, S. 7, S. 9, vgl. auch S. 12.

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chockhafte Erfahrung als reale erst authentifizieren. Das Ereignis stößt einem von Bildern geprägten Bewusstsein gewissermaßen nicht als es selbst zu, sondern – paradox zu seinem radikalen Begriff – als Reflex oder Realisierung eines bereits Vorher-Gesehenen. Die palästinensischen Terroristen treten als »gefürchtete Fernsehstars« in Erscheinung, die »plötzlich Realität geworden waren, hautnah, mit Stimme, Ton, Grimassen, und allen Requisiten.«275 Sie erscheinen als Wiedergänger ihrer eigenen medialen Repräsentationen, als Kopien von Kopien, deren originale Realität gleichwohl unabweisbar ist. Nicht die Fernsehbilder gleichen demnach dem Ereignis und seinen Akteuren, vielmehr ähneln diese den Fernsehbildern. Noch der reale Terror wird so sehr von der medial vermittelten Seherfahrung her codiert, dass die Apperzeption des Inkommensurablen, ereignishaft ›Neuen‹ erst auf dem Umweg über das Wiedererkennbare, im Rekurs auf kommemorative Bilder, möglich ist. Es ist die Rekursivität der massenmedialen Nachrichten und Bilder, also das ›Schon-Bekannt-Sein‹ des ins Bild gesetzten Geschehens,276 die das Exzeptionelle des Chocks über Redundanz vermittelt. ›Primär‹- und ›Sekundär‹-Erfahrung treten damit in ein logisch inverses Verhältnis ein, das die Struktur der ›Tele-Ontologie‹ als spezifische Logik des Medienzeitalters kennzeichnet.277 Die ikonische Wirklichkeit der Massenmedien fungiert somit als Matrix der Generierung von Erfahrung selbst; freilich mit einer gewichtigen Differenz. Denn im Augenblick der Entführung wird die souveräne Freiheit der Distanznahme von der virtuellen Welt auf einmal annulliert, weil diese unversehens in die reale expandiert ist: »Die Bilder wurden immer größer, lebensgroßes Bildschirmformat, die Geräusche quadrophon, und kein Schnitt, kein Abspann erlöste uns.«278 Die mediale ›Rahmung‹ der Gewalt, die als zuverlässige Schutzvorrichtung fungiert und die Angstlust der Fernseh- und Kino-Zuschauer an gewalthaften, faktischen oder fiktiven Ereignissen ermöglicht, ist mit einem Mal weggebrochen.279 Damit entfällt auch die Option des Wegsehens oder SichEntziehens vom sinnlichen ›Impakt‹ der Gewalt: der »Abschaltknopf«280 des Ereignisses fehlt. Die Rekursivität aber, die das Außerordentliche als televisionelles D¦j— vu ins Bewusstsein der Geisel eintreten lässt, bewirkt eine metonymische Kurzschließung zwischen Wirklichkeit und medialen Bildern besonders in den Momenten, in denen das wache Realitätsprinzip während der zermürbenden Dauer der 275 276 277 278 279

Ebd., S. 28. Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 28. Vgl. Welsch: Ästhetik und Anästhetik. In: ders.: Ästhetisches Denken, S. 16. Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 28. Zur Rolle des Zuschauers gewalthafter Ereignisse vgl. auch Sofsky : Traktat über die Gewalt, S. 101 – 118, hier insbesondere S. 107 f. 280 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 28.

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Entführung nachgibt und traumhaft-traumatischen Halluzinationen die Regie überlässt: War das nicht Alec Guinness, der Soldat im Film, gefangen in einer Blechkiste, bei tropischer Hitze in seiner Kiste schmorend viele Wochen? Und nur einmal am Tag kam einer von seinen Feinden und brachte Wasser? Hat er ihm auch die Läuse geknackt? Warum quälten sie ihn mit der Hitzefolter? Warum die Brücke am Kwai?281

Wie die Ähnlichkeit zwischen den realen Terroristen und ihren Repräsentanten im Film und Fernsehen nicht den Bildern an sich eignet, sondern von den Bildbzw. Zeichenempfängern oder -benutzern erst geschaffen wird,282 ist auch die umgekehrte Beziehung zwischen den zuvor gesehenen Bildern und dem real erfahrenen Terror einer pragmatischen Interpretation und Adaption geschuldet. Die erfahrungskonstitutive Funktion dieser Bilder macht sich bis in einzelne Dingwahrnehmungen hinein geltend: Den »faustgroßen Gegenstand« in der Hand der Entführerin identifiziert die Geisel aufgrund der Aufnahmen, die sie »in Filmen gesehen hatte« und deshalb »sofort erkannte«.283 Erst ihre somatische Reaktion auf das Geschehen führt eine Differenz zwischen der Realität und ihren visuellen Repräsentationen ein – also ein körperliches ›Wissen‹, das der kognitiven Erkenntnis voraus ist: »Es war wie in einer Filmszene, und erst mein kaltes Zittern verriet mir, daß wir nicht im Kino saßen.«284 Während im posthistorischen Medienzeitalter »Geschichte und Realität im Televisionellen verschwinden«,285 treten sie mit dem Ereignis des Terrors wiederum aus den Fernsehgeräten in die Realität hervor. Die Kaperung des Flugzeugs durch die palästinensischen Terroristen ist demzufolge nicht als Einbruch des ›Realen‹ in eine bereits weitgehend medial bestimmte Wirklichkeit zu verstehen, sondern umgekehrt als Realwerden der bis dahin bloß virtuellen Bilder. »Dreißig, zweiunddreißig Jahre nach Kriegende rissen sie uns plötzlich die Fernsehapparate vor den Köpfen weg und stellten uns selbst ins Bild.«286 War die Erfahrung kriegerischer Gewalt bis dahin Gegenstand der fernsehmedialen Vermittlung, so tritt sie im Herbst 1977 unmittelbar in die Gegenwart der Entführungsopfer ein. Inmitten einer gegen Unvorhersehbarkeiten weitgehend versichert geglaubten Existenz, deren Überraschungspotenziale durch die protentionale Ordnung medialer Weltvermittlung minimiert erschienen, taucht die verdrängte Erfahrung realer Überraschung und Kontingenz auf einmal 281 Ebd., S. 138. 282 Vgl. Marianne Kugler-Kruse: Die Entwicklung visueller Zeichensysteme: Von der Geste zur Gebärdensprache. Bochum 1988, S. 32. 283 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 7. 284 Ebd. 285 Baudrillard: Amerika, S. 44. 286 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 159.

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wieder auf. Aus einer leibfernen massenmedialen Distanz von Ereignissen werden die Medienbenutzer in ihre zweifelsfreie Realität zurückgerufen: Mit einem Mal verhärtet sich gleichsam deren Wirklichkeitskern, manifestiert sich das zeitgeschichtlich ›Reale‹, von dem die Oberfläche des Bildschirms die Beobachter sonst abschirmt. Der reale Terror hat den »braungebrannten Voyeure[n] des Weltgeschehens«287 jede Möglichkeit der Distanzierung genommen. 4.1.4 Inmitten jenseits der Geschichte Obwohl die Expansion des Virtuellen in den realen Raum das ›Verschwinden‹ geschichtlicher Wirklichkeit im Raum technischer Simulationen gewissermaßen rückgängig macht, verstärkt sie die Austreibung geschichtlichen Sinns, statt ihn zu restituieren. Der zeitgeschichtliche Terror kündigt seine ›historische‹ Semantik auf, denn die Absolutheit seiner Präsenz ermöglicht kein Transzendieren auf eine Bedeutung jenseits seiner schieren Ereignishaftigkeit – jedenfalls für die Opfer selbst. »Wir waren weder Statisten noch Zuschauer, wir wußten nicht, was wir mit dieser Erfahrung anstellen sollten, die nicht von einem Regisseur gelenkt wurde.«288 Auf eine »stumme Rolle« reduziert, nimmt die zur Ohnmacht verurteilte Geisel nur das Absurde, »Verrückte, das Theaterhafte dieses Überfalls« wahr, »aber nichts von dem Sinn des Stücks, in dem wir eine solch beschämende Rolle spielten.«289 Inmitten erfährt die Geisel sich jenseits der Geschichte: Fabrizios Frage in Stendhals La chartreuse de parme – »mais ceci est-il une v¦ritable bataille?«290 – kehrt im Fraglichwerden der Begriffe ›Ereignis‹, ›Entführer‹ oder ›Geisel‹ wieder, die zumindest eine sprachliche Orientierung versprechen. Indem die zeitgeschichtliche Wirklichkeit ihren medialen Status verliert, annulliert sie ihren Zusammenhang mit der Geschichte selbst. Die Theater-Metapher ist in der Erzählrede Zeichen der puren Performanz des »umwerfenden« Ereignisses291 selbst; das Paradox, zugleich Zuschauer, Akteur und stillgelegtes Opfer der Vorgänge gleichzeitig zu sein, überschreitet selbst die denkbare Rollverteilung eines Improvisationstheaters, das sich mitten in die Lebenswelt verlegt. Die Geiseln sind »in ein politisches Drama hereingezogen«,292 dessen Finale noch gar nicht feststeht (und das, wie anschauungsarm auch immer, vor allem den nichtinvolvierten »Zuschauer[n] auf der Erde«293 als solches präsentiert wird): »wir waren auf eine Bühne gezerrt worden. Das Stück war noch nicht 287 288 289 290 291 292 293

Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 32. Stendhal: La chartreuse de Parme. [1. Teil.] Paris 1948, S. 63. Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 31. Ebd., S. 26. Ebd., S. 32.

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geschrieben, aber die Rollen waren schon verteilt.«294 Zwischen Entführer- und Opfer-›Rolle‹ herrscht indes eine absolute Asymmetrie: Die Entführer vermögen alles, die Geiseln dagegen nichts. Während sie die »stumme Rolle« der Opfer in vollkommener Passivität ›agieren‹, müssen die Entführer sich anstrengen, »ihre Heldenrolle durchzuhalten.«295 Denn die Terroristen suchen die Komplizenschaft der Medien, deren Sensationalismus sie zu Verbündeten macht, während die Teilhabe der Opfer im aufgeführten Geisel-Drama völlig unfreiwillig ist. Fritz Wörlemanns gerade im Jahr 1977 erschienene Studie über den Terrorismus hat diesen Zusammenhang von Terror und Medien ebenfalls mit der Metapher des Theaters interpretiert: »Der Umgang der Gewalt mit dem Leben ist immer Sensation. Dem Terroristen ist so eine Bühne bereitet.«296 Die Geisel erfährt sich dagegen als »Geisel und sonst nichts, stumm, blind, ein stillgelegter Körper im Wartezustand Krieg.«297 Indem diese Stilllegung das erzählte Subjekt auf sich selbst und damit auf die bloße Beobachtung zurückwirft, schafft sie allerdings die Bedingung des Erzählberichts selbst: »Alles tun, was die sagen. Alles beobachten und im Gedächtnis speichern, was du hörst, was du siehst, was du fühlst in deinen Nervenzellen!«298 Der Preis für diese Selbstbeobachtung und präzise Protokollierung, mit denen das Ich seine deshumanisierende Reduktion zum Verhandlungsgegenstand auffängt, besteht in einem ›schizoiden‹ Auseinandertreten von beobachtendem und beobachtetem Selbst. Die Biologin Andrea Boländer findet das Modell dafür im verhaltensbiologischen Experiment, indem sie sich selbst als Protokollantin und Probandin oder Objekt einer behaviouristischen Versuchsanordnung interpretiert: In der Skinnerbox lief die Ratte herum, eben eingesetzt in den Käfig, eingesperrt zwischen Holz, Metall und Glas, und hinter dem Glas das Kameraauge. Sie tappte, schnupperte, prüfte alle Winkel ihres Kastens ab. Die Ratte brauchte Stunden, um sich an die Enge zu gewöhnen, Stunden, um die Hebel zu entdecken. […] Wie lange brauchte sie, um sich heimisch zu fühlen in ihrem Kasten? Die Ratte lief mir schwarzweiß vor die Augen wie in dem Film für Biologiestudenten des ersten Semesters.299

Wie die interne (Selbst-)Beobachtung der Situation, die sie zum Objekt eines sinnlosen Experiments degradiert, die Möglichkeit der Selbstbehauptung als beobachtende Instanz offeriert, enthält die externe Beobachtung durch die Massenmedien eine ›Existenzgarantie‹ im Wege des Aufmerksamkeitseffekts. 294 Ebd., S. 45. 295 Ebd., S. 50. – Wiederholt wird diese ›Rollenverteilung‹ akzentuiert, vgl. S. 256, 260, 380, 375 f. 296 Franz Wördemann: Terrorismus. Frankfurt/M. 1977, S. 143. 297 Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 42. 298 Ebd., S. 21. 299 Ebd., S. 24.

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Nur solange sie öffentlich wahrgenommen werden, besteht für die Geiseln die Möglichkeit einer Rettung aus der Gewalt der Terroristen. Demzufolge ist es die Verspätung medialer Aufmerksamkeit, welche das überwältigte Ich im Augenblick der existenziellen Bedrohung am meisten fürchtet.300 Objekt medialer Beobachtung zu sein bedeutet, als »Nachricht« – auch wenn sie »das Billigste und Schäbigste, was die Medien aus Tod und Leiden herausschlagen«, wäre –301 doch Teil eines kommunikativen Netzes und Interaktionszusammenhangs zu sein. Die mediale Beobachtungslücke wäre dagegen das ›schwarze Loch‹, das alles, was nicht »Bild« ist,302 zu derealisieren und damit der Vernichtung anheim zu stellen droht. Massenhafte Medialität wird zu einer Frage des Überlebens. Der sensualistische Grundsatz, der die Medienwirklichkeit bestimmt, berührt an diesem Punkt die konkrete Existenz: esse est percipii. 4.1.5 Der Terror der Medien Das Überleben der Geiseln hängt demzufolge nicht zuletzt von einer fokussierenden Aufmerksamkeit der Medien ab, die über das Ereignis der Entführung berichten, während sie vom Ereignis selber ausgeschlossen sind. Die Rückseite dieser medialen Aufmerksamkeit, die sich des Ereignisses zu bemächtigen sucht und dadurch das Überleben der darin Eingeschlossenen sichert, führt die Romanerzählung indes an ihrem Ende vor – mit dem Moment der Operation ›Feuerzauber‹, also der Erstürmung des entführten Flugzeugs durch die Terrorbekämpfungseinheit der Bundespolizei GSG 9, in dem die Verhältnisse der medialen (Un-)Beobachtbarkeit mit einem Mal umgewendet werden. Sind die Vorgänge im Inneren der Maschine während ihres fast fünftägigen Irrflugs bildlos geblieben, ist ihre Befreiung ›von außen‹ bildfähig oder abbildbar. Während jedoch der Akt der gewaltsamen Befreiung Eindeutigkeit in dem konkreten Sinn schafft, dass nur die Täter geopfert wurden und die Opfer unverletzt entkamen, hält die narrative Schilderung noch im Augenblick des glücklichen Ausgangs ein Moment der Uneindeutigkeit fest. Es ist nicht die im Bericht der Ich-Erzählerin zuvor deutlich gewordene, situationstypische Solidarisierung der Opfer mit den Tätern, die in der soziologischen Forschung als ›Stockholm-Syndrom‹ bezeichnet worden ist,303 welche die Erlösung in ein 300 Vgl. S. 32: »Ich fühlte mich in ein Vakuum gezogen, ich wußte, es gibt uns noch nicht für die da unten, es wird uns nicht geben, wir verschwinden in aller Stille und mit höchster Geschwindigkeit, es wird viel zu lange dauern, bis man da unten merkt, daß hier oben nichts mehr planmäßig läuft, daß wir aus allen Zeitplänen und Lebensplänen hinausgestoßen werden.« 301 Ebd. 302 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, S. 250. 303 »Diese Schweine, sie alle sind Schweine, diese vier und die in der Regierung genauso, wer sind die größeren Schweine? Wer bringt uns um? Die uns hier in die Luft sprengen oder die uns hier nicht rausholen, obwohl sie es könnten?« Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 231.

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zweideutiges Zeichen setzt und die Rollen im »politischen Drama« vertauscht; die Entführer und die mit ihnen verhandelnden Politiker erscheinen als Verbündete gegen das Opfer, weil beide sich in einem ›agonalen‹ Raum begegnen, von dem das Opfer ausgeschlossen ist. Es ist vielmehr die auch im Augenblick der Befreiung nicht nachlassende Fremdbestimmung (»Spring, Mädchen! Spring!«), welche Täter und Befreier einander ähnlich werden lässt: »[E]s waren die Augen des Anführers, der einschüchternde, herrische, beleidigende Blick Jassids«.304 »[M]ein Retter, der Engel, das Schwein«, kommentiert das erzählende Ich die Begegnung mit ihrem Befreier, auf dessen Geheiß sie den Sprung »ins Offene, ins Leere« wagt.305 Der Erzähltext variiert damit eine semantische Ambivalenz, die von fern an Kleists Marquise von O…. erinnert.306 Die Terroristen haben ihre Rolle, über das Leben anderer zu verfügen, an die »Soldaten« der GSG 9 abgeben: Für die ersehnte Freiheit jedoch hat das Ereignis der Befreiung weder Zeit noch Raum. Der Schluss des Romans demonstriert so eine Kippfigur von Befreiung und Bemächtigung, die vom medialen ›Zugriff‹, der dem actionhaften des Spezialkommandos sekundiert, vervollständigt wird. Es ist das Auge der Kamera, das den Terror der gewaltbewehrten Beobachtung innerhalb des Flugzeugs durch den Terror der publizistischen Beobachtung außerhalb fortsetzt. Die Flucht aus dem Flugzeug, die der Erzählbericht im atemlosen Stakkato seiner Sätze simuliert,307 wird sofort ›gebannt‹ vom Objektiv einer »Filmkamera«, die die Geisel in der gerade entronnenen Rolle buchstäblich festhält – und damit ihr Ausgeliefertsein an eine unentrinnbare Fremdbeobachtung perpetuiert: »ich war eine Darstellerin, ich lief direkt in eine Tagesschauszene«.308 Noch ihr »fassungsloses Heulen« entspricht dem sensationalistischen Bedarf des Mediums, seinem Begehren nach affektintensiver Authentizität und ›ungekünstelter‹ Wirklichkeit. In der letzten, kindlich hilflosen Geste, mit der das befreite Opfer den Wüstensand »in Richtung Kameramann« wirft,309 um der medial-gewalthaften Aneignung zu entkommen, manifestiert sich mehr als der Widerstand ihre Wehrlosigkeit. Während sie im Geiseldrama eine fremdbestimmte, »stumme Rolle« vollführte, die sie ihrer autonomen Subjekthaftigkeit beraubte, wird sich auch die befreite

304 Ebd., S. 261. 305 Ebd., S. 260 bzw. S. 258. 306 Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…. In: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II/2. Basel, Frankfurt/M. 1989, S. 102. 307 Von »Stakkatosätze[n]« spricht die Erzählerin auch in Hinsicht auf die Drohungen, »Warnungen und Ermunterungen« des terroristischen Anführers (Delius: Mogadischu Fensterplatz, S. 223). 308 Ebd., S. 262. 309 Ebd., S. 263.

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Geisel »in keinem Film erkennen und in keinem Spiegel« identifizieren können.310 Auch Delius’ Roman ›bemächtigt‹ sich der Geschichte(n) der Opfer, indem er sie ästhetisch verwertet – und sehr viel mehr, als es die Kamera vermag, sogar ins Inwendige ihrer Erfahrung einzudringen sucht. Am ehesten, so legt es die Poetik des Romans nahe, kann jedoch der fiktionale Text nicht nur dem Ereignis, sondern auch seiner subjektiven Erfahrung einen Spiegel bieten, der – sehr im Gegensatz zu dem der bildtechnischen Repräsentation – auch die Problematik seiner Spiegelung noch zu reflektieren vermag.

5.

Terrorismus als Romanze. Leander Scholz’ Rosenfest

Wenn die historische Einbildungskraft seit dem neunzehnten Jahrhundert gewahr wird, dass sie in ihrer formalen Tiefenstruktur Muster der Fiktion adaptiert, liegt es nahe, ihre ästhetischen Verfahren auch auf poetologisch eingeführte Begriffe zu bringen: auf Begriffe wie ›Komödie‹, ›Tragödie‹, ›Satire‹ und ›Romanze‹, wie sie Hayden Whites ›Tropologie‹ des historiografischen Diskurses vorgeschlagen hat. Was die Geschichtsschreibung als Erzählkonvention von der Literatur übernimmt und adaptiert, ist hingegen einer Literatur, die Geschichte erzählt, als genuines Formenspektrum vertraut. Auch die Geschichte des westdeutschen Linksterrorismus lässt sich auf unterschiedliche Weise erzählen: etwa als analytischer Kriminalroman, wie es Ulrich Woelk oder FranzMaria Sonner getan haben, oder eben als ›Romanze‹.311 Im Rahmen ihres Projekts Seven Romance Novels schrieb die amerikanische Performance-Künstlerin Erin Cosgrove das ›romantische Manifest‹ The Baader-Meinhof-Affair (2002) – eine Trivialromanparodie um das Liebespaar Mara und Holden, eine Gruppe von RAF-»Afficinados« und die jährlich aufgeführten RAF-Passionsspiele auf dem Campus einer amerikanischen Ostküsten-Universität. Schon das (von Cosgrove illustrierte) comichafte Titelcover der deutschen Ausgabe zeigt mit der leidenschaftlichen Kussszene den popästhetischen Charakter des Textes an.312 310 Ebd., S. 263. 311 White verwendet den Begriff in einem erweiterten, auf die inhaltliche Seite versepisch erzählter Heldentaten, wunderbarer Ereignisse oder Liebesgeschichten bezogenen Sinn. Nur in der letztgenannten Hinsicht ist er auf den im Folgenden untersuchten Roman zu beziehen. 312 Erin Cosgrove: Die Baader-Meinhof-Affäre. Ein romantisches Manifest. München 2005. – Eher eine satirische Rückschau auf die Terroristenverfolgung der 1970er Jahre hat John von Düffel in seinem Dramenmonolog Born in the R.A.F. (1999) vorgenommen: In seiner an den »Herrn Generalbundesanwalt« gerichteten »Lebensbeichte« berichtet ein »Terroristenkind«, wie es seine Kindheit und Jugend mit der Beschattung seiner Eltern (also der Lähmung ihrer ›terroristischen Zelle’) verbracht hat. Das Ergebnis der Investigation ist, dass es

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Der Terrorismus als Pop-Phänomen dokumentiert eine Transformation von ›Chock‹ in ›Chic‹, die gerade die ästhetische Form seiner Medialisierung zur Geltung bringt: »Prada Meinhof« war der Begleittext zu einer Londoner Kunstausstellung überschrieben,313 und auch die amerikanische Rezeption des bundesdeutschen Linksterrorismus in Cosgroves Roman gilt vor allem seiner ästhetischen Seite, indem sie ihn (gegen die politische Ideologie) in Markennamen der konsumistischen Ökonomie übersetzt – vom ›Baader-MeinhofWagen‹ BMW 2002 bis zu schusssicheren Westen von Helmut Lang und Skimasken von Gucci. Diese Ästhetisierung aber bezeugt bei aller koketten Sympathie mit dem ›gefährlichen Leben‹ eine Ästhetisierung aus der ideologischen Distanz, die sich auch in deutschsprachigen Text- und Filmadaptionen manifestiert: Wenn Christopher Roths filmische Inszenierung den erotisch anziehenden Anführer der ›ersten Generation‹ der RAF, Andreas Baader, als einen von Groupies bewunderten Star vorführt (»›Du bist der Baader, stimmt’s?‹ – ›Ich bin der Baader.‹ – ›Wow.‹«), ist der Terrorismus ebenso zum radical chic geworden wie in Cosgroves parodistischem Roman. Leander Scholz’ von der Literaturkritik wenig günstig aufgenommener Roman Rosenfest hat sich mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen von 1977 ebenfalls der Romanze als Form des emplotments angenommen, indem er die frühe Geschichte der RAF als Liebesgeschichte zwischen ihren Gründungsfiguren »Andreas« und »Gudrun« erzählt. Die Vorlage für diese Romantisierung hat freilich bereits die zeitgenössische Berichterstattung der Boulevardpresse über die Suizide in Stammheim gegeben: Schon am 19. Oktober 1977 veröffentlichte die zur Springer-Presse gehörenden BZ ein Bild aus dem Frankfurter Brandstifterprozess vom Oktober 1968, das »eine fröhlich lachende Gudrun und einen hübschen, sanften Baader« zeigte, »dazu die Unterzeile: Die beiden liebten sich auch im Gefängnis.«314 Die Romantisierung der RAF und der »stammheimliche[n]«315 Liebe ihrer Führungsgestalten begann offenbar gleich nach dem Tod der Terroristen; in ihrer Geschichte war alles enthalten, was ein Roman braucht: die Liebe (einst definierendes Thema des Romans schlechthin), aber auch die Hindernisse dieser Liebe, die Gewalt und der Tod. Der Tod erstattete sich bei seinen Eltern um Andreas Baader und Gudrun Ensslin handelt, während seine Mutter noch dazu in die legale Rolle Ulrike Meinhofs, in deren Haus die Familie wohnt, geschlüpft ist: »Andreas liebte nur Gudrun. Es war vielleicht sein größter Coup, die Polizei auf die Fährte seines Ammerländer Bratkartoffelverhältnisses zu hetzen, während er sich mit Gudrun, dem Rasseweib, im Untergrund vergnügte. Oder was man so ›Untergrund‹ nennt.« John von Düffel: Born in the R.A.F. Lebensbeichte eines Terroristenkindes. Gifkendorf 1999, S. 47. 313 Vgl. Knobbe, Schmitz: Terrorjahr 1977, S. 192. 314 Peter Schneider: Der Sand an Baaders Schuhen. In: Kursbuch 51 (1978), S. 1 – 15, hier S. 2. – Vgl. Berliner Zeitung (BZ) Nr. 244 vom 19. 10. 1977, S. 10 f. 315 Geissler : Im Vorfeld einer Schussverletzung, S. 38 (herablassend das netz des friedens).

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den Terroristen ihre ›menschlichen‹ Gesichter und Geschichten zurück, während sie auf den polizeilich aufgenommenen Bildern der Fahndungsplakate zuvor nur als gefährliche Gewalttäter – zu »Monstren mythisiert«, wie Peter Schneider 1978 im Kursbuch schrieb – erscheinen durften.316 Das ›romantisierende‹ Narrativ, das sich in Scholz’ Roman vor das politische schiebt, rekurriert offenbar auf diese vom Tod ermöglichte Humanisierung, die von den Ereignissen Abstand gewinnt und in den Grundelementen der terroristischen Geschichte – Schuld und Rache, Liebe, Tod und Gewalt – den Stoff einer Erzählung von womöglich sagenhaftem Format entdeckt. Nachdem er mit Gudrun fliehen konnte, und ihn die Verfolger stellten, verteidigte Walther den Felsdurchgang, die Höhle, in der Gudrun wartete. Der Durchgang war eng, und einzeln mußten sich ihm die Verfolger stellen. Er tötete alle. Den letzten beiden, Gunther und Hagen von Tronje, gelang es, ihn, Walther, hervorzulocken aus seinem, ihn schützenden Durchgang317

– woraufhin »Walther« zwar schwer verletzt wird, aber mit »Gudrun« fliehen kann. Wenn die Mathematiklehrerin Manon in Michael Wildenhains genau »zum Zwanzigsten des Terrorjahres« erschienenem Roman Erste Liebe Deutscher Herbst die epischen Verse aus dem Waltharius im Unterricht (allerdings stark komprimiert und abgewandelt318) zitiert, rückt das Zitat die Geschichte der Terroristen in den Horizont der Heldensage. Es ist die radikale Unbedingtheit der Liebe und der gewalthaften Tat, die Walther trotz der von Hagen ihm abgehauenen Schwerthand dem Gegner mit der anderen noch das Kurzschwert durch die Wange zu stoßen befähigt, so dass die Klinge in sein Auge dringt. Dieselbe drastische Unbedingtheit verleiht aber auch der gefährlichen Liebschaft der Terroristen eine beinah mythische Qualität, um die die befriedete Gegenwart jenseits des Terrors und der Tode von Stammheim sie offenbar beneidet.

316 Schneider: Der Sand an Baaders Schuhen, S. 6. 317 Michael Wildenhain: Erste Liebe Deutscher Herbst. Frankfurt/M. 1997, S. 17 f. 318 Vgl. die Kampfschilderung in: Waltharius. Hg. von Karl Strecker. Deutsche Übersetzung von Peter Vossen. Nachdruck der 1. Auflage Berlin 1947. Hildesheim 1987, insbes. S. 111 – 113 (v. 1376 – 1396). Im Waltharius stillen die Recken nach dem unentschiedenen Schlagabtausch den Blutstrom ihrer Wunden mit Heilkräutern, Walther und Hagen erneuern ihren Freundschaftsbund und Walther heiratet schließlich Hiltgunde.

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Neukonfiguration der Bilder

Scholz’ Roman geht von diesen Mythen und Bildern aus, die sich an die Geschichte des Terroristenpaars Ensslin und Baader angelagert haben: Denn »es sind nicht die Helden der Roten Armee Fraktion, die überleben werden, sondern die Bilder, die uns ›Helden‹ oder ›Verbrecher‹ zeigen, immer aber ›Helden‹ oder ›Verbrecher‹.«319 Scholz’ Darstellung liegt eine Ästhetisierung voraus, die von der Ikonisierung der Terroristen und ihrer eigenen Bilderpolitik ausging, in der sie wahlweise als Objekte der Verehrung oder des Abscheus figurierten – und die etwa in Gerhard Richters großformatigem Bilderzyklus October 18, 1977 (1988; Abb. 7) zu einer an Andachtsbilder heranreichenden Form gesteigert worden ist. »[S]he was sitting as a person does in a mortuary chapel, keeping watch over the body of a relative or a friend«, heißt es von einer Galeriebesucherin in Don DeLillos Kurzgeschichte Looking at Meinhof (2002).320 Indem Richter die massenhaft verbreiteten Bilder »aus dem Kontext der Massenmedien […] löste und verfremdete«,321 also durch präzise Unschärfe und Verzicht auf Farbigkeit eine kontemplative Haltung nahelegt, schaffen die Bilder eine gedenkhafte Stille, die die Mortifikation in den Fotografien der Toten mit dem figurativen Medienwechsel vom fotografischen zum malerischen Bild noch einmal potenziert. Die Unschärfe der Bilder wirft zugleich die Frage nach der ›Wahrheit‹ der Ereignisse, die zum Tod der Terroristen führten, noch einmal auf: »They committed suicide. Or the state killed them.«322 Es sind jedoch weniger die Bilder der Toten als die der Lebenden, wie sie die 1998 zuerst erschienene, ästhetisch anspruchsvolle Fotodokumentation Hans und Grete des ehemaligen RAF-Mitglieds Astrid Proll sammelt, welche Scholz’ Roman sich zur Vorlage nimmt. Auf einigen der hier zusammengestellten Fotografien, die unter anderen auch Ensslin und Baader als Liebespaar 1969 in einem Pariser Caf¦ zeigen, bemerkt die Herausgeberin eine »jugendliche Kraft, Vitalität und ungeschminkte Schönheit, die aus den Gesichtern und Körpern spricht.«323 Wie Richters Bilderzyklus hat Scholz solche Vorlagen jedoch keineswegs einfach narrativ reproduziert oder ›auserzählt‹, sondern vielmehr zerschnitten und collagiert, also zu einer neuen Konstellation zusammengefügt. Auch Scholz’ Erzählen geht vom Apriori der technisch bebilderten Geschichte aus: »Ein Jahrhundert liegt hinter uns, in dem Geschichte nicht geschrieben,

319 Scholz: Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF, S. 215. 320 Don DeLillo: Looking at Meinhof. Paintings of a German terrorist gang bring together two strangers in a gallery. In: The Guardian vom 17. August 2002, S. 27. 321 Proll: Selbstauslöser. Self-Timer, S. 6. 322 DeLillo: Looking at Meinhof. 323 Proll: Selbstauslöser. Self-Timer, S. 6.

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Abb. 7: Gerhard Richter, Dead, from October 18, 1977, 1988. New York, Museum of Modern Art (MoMA). Öl auf Leinwand, 62 x 73 cm. The Sidney and Harriet Janis Collection, gift of Philip Johnson, and acquired through the Lillie P. Bliss Bequest (all by exchange) – Enid A. Haupt Fund – Nina and Gordon Bunshaft Bequest Fund – and gift of Emily Rauh Pulitzer. 169.1995.i (Ó 2012. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence)

sondern gefilmt worden ist.«324 Die Beschäftigung mit dieser Geschichte aber bewegt sich geradezu in einem geschlossenen Universum der Bilder, aus dem auch kein Erzählen hinausführt: »Es kann nicht oft genug gesagt werden, dass da kein Außen der Repräsentation anzusteuern ist.«325 Aus der Neukonfiguration der Bilder entsteht jedoch eine »eigene Chronologie«, eine eigenwillige Ordnung, die nach dramaturgisch-narrativen Gesetzen mit der Zeit der Ereignisse schaltet, sie »beschleunigt und zusammenzieht«:326 Die Fiktion konzentriert die Geschichte der Jahre 1967 bis 1972 – von der Initiation bis zur Festnahme der RAF-Terroristen der ›ersten Generation‹ – auf eine ›geraffte‹ Romanze, wie sich mit dem pointierten Titel eines Bandes zur literarischen Darstellung des deutschen Linksterrorismus sagen lässt.327 Sie beginnt mit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, woraufhin Baader das (tatsächlich von der »Kommune I« veröffentlichte und von Peter Szondi vor Gericht gutachterlich verteidigte) Flugblatt Burn, warehouse, burn 324 Scholz: Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF, S. 214. 325 Ebd., S. 215. 326 Lorenz Jäger hat in seiner Rezension des Romans dessen Abweichungen von der Chronologie der Ereignisse genau vor- bzw. nachgerechnet; vgl. Lorenz Jäger : Terror und Stil. Wir basteln eine RAF: ›Rosenfest‹ von Leander Scholz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 37 vom 13. 2. 1001, S. 50. 327 Vgl. den schon zitierten Band GeRAFftes.

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verfasst; gleich nach der Teilnahme an einem SDS-Kongress legen »Andreas« und »Gudrun« den Brandsatz im Frankfurter Kaufhaus Schneider, am Morgen darauf fliehen die Beteiligten nach Frankreich und von dort nach Italien. Die Pariser Revolte vom Mai 1968 synchronisiert die Romanerzählung mit dem Attentat auf Rudi Dutschke vom 11. April, und das Attentat auf das Hamburger Haus der Springer-Presse, das tatsächlich erst am 19. Mai 1972 stattgefunden hat, liefert schließlich gleich nach dem vergeblichen Versuch, die Mitarbeiter noch zu warnen, den Auftakt zum blutigen show down, bei dem »Andreas« im Kugelhagel der Polizei niedergeschossen wird und »Gudrun«, nachdem sie sich »in eine kleine Boutique geflüchtet hat«,328 bald darauf festgenommen wird. Ensslins Festnahme erfolgte tatsächlich erst zweieinhalb Wochen später (eine Woche nach der Festnahme Baaders, Meins’ und Raspes) am 7. Juni 1972. Die Neukonfiguration des Bild- und Diskurs-Materials ordnet demnach nicht nur die Chronologie der Ereignisse neu, sondern erfindet auch ›neue‹, unhistorische Ereignisse: »Andreas« bekommt im Text ein ›heroisches‹ (allerdings nicht ganz gewisses329) Ende im Kugelhagel der Polizisten zugestanden – ein Finale ähnlich wie in Christopher Roths Spielfilm Baader, der seinem Helden ebenfalls das »quälend langatmige[]«330 Ende in Stammheim erspart. Wenn der angeschossene Andreas Baader dort, nachdem er sich bereits ergeben hat, plötzlich zwei Revolver aus dem hinteren Hosenbund zieht, um in auswegloser Situation noch mal das Feuer zu eröffnen, ist die erzählte Geschichte dem spektakulären Schluss der amerikanischen Westernkomödie Butch Cassidy and the Sundance Kid von 1969331 weit näher als der faktischen Ereignisgeschichte des Jahres 1972. Und wenn in der letzten Filmaufnahme schließlich der BKA-Chef »Kurt Krone« den Kopf des am Boden Liegenden hält und in unbestimmter Richtung emporblickt, stellt der Film das zur Ikone der protestierenden Linken gewordene Pressefoto des sterbenden Benno Ohnesorg nach – und zitiert so das Initialereignis vom 2. Juni 1967, mit dem auch die ›romantische‹ Nacherzählung der Geschichte des bundesrepublikanischen Linksterrorismus bei Scholz beginnt. Auf faktizistische Treue kommt es dem Roman wie dem Spielfilm offenbar nicht an. Mehr als der politischen Dimension seines Stoffes verdankt sich sein Interesse daran dem Umstand, dass die Geschichte Baaders und Ensslins die Hauptmotive literarischen Erzählens, Liebe, Gewalt und Tod, engführt und in einen medial geprägten Zusammenhang stellt.332 Schon im Titel des Romans ist 328 Leander Scholz: Rosenfest. München, Wien 2001, S. 240. 329 »[V]ielleicht ist er gar nicht gefaßt worden, redet sie sich ein, vielleicht waren die Fernsehbilder nur Propagandaaufnahmen.« Ebd., S. 137. 330 Knobbe, Schmitz: Terrorjahr 1977, S. 190. 331 Denselben Film sehen sich die Protagonisten im Übrigen auch in Peter-Jürgen Boocks RAFRoman Der Abgang an einem »Herbstabend 1972« im Kino an; Boock: Abgang, S. 61. 332 Die auf dem Schutzumschlag wiedergegebenen Bilder – das Pressefoto von Baader und

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diese Engführung, genau besehen, andeutungsweise enthalten: ›Rosenfest‹ ist nicht nur das Kryptogramm einer ›romantischen‹ Liebschaft, sondern bezeichnet – literaturgeschichtlich anspielend auf Kleists Penthesilea –333 das Heiratsfest der Amazonen, das die Geschlechter für kurze Zeit im Zeichen der Gewalt vereinigt. Die physische Interaktion zwischen »Gudrun« und »Andreas« besteht auch erstmal in Schlägen, bevor er ihr den ersten »Kuß auf die Lippen [presst]«.334 Wie ihre Liebe von Anfang an von der Gewalt bedingt ist, nimmt ihre Intimität selbst gewalthafte Züge an: »sie schlägt ihn, er schlägt sie, zwei Herzen haben sich gefunden.«335 Wie Roths Spielfilm Baader auf die Western-Folie verweist, stellt auch Scholz’ Roman die vertikale Referenz auf historische Wirklichkeit auf eine horizontale Ebene intertextueller und ikonografischer Verweise um. Scholz’ Geschichte der Gründungsfiguren der RAF ist zunächst eine Geschichte der Initiierung. Das Ereignis, das die Protagonisten des Romans kontrafaktisch336 zusammenführt, ist gleichzeitig jenes zeitgeschichtliche Schlüsselereignis, das für die gewalthafte Radikalisierung der ›linken‹ Opposition in der Bundesrepublik den Ausschlag gab: die Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 nahe der Deutschen Oper in Berlin. Mit der ihr eigenen Souveränität nimmt die Fiktion dieses Ereignis als Keimentschluss nicht nur des bundesrepublikanischen Linksterrorismus, sondern auch der privaten Liebesgeschichte an, indem sie »Andreas« und »Gudrun« zu dessen unmittelbaren Zeugen aus nächster Nähe macht: »Gudrun bibberte, Andreas’ Mund blieb sperrangelweit offen.«337 Indem der Roman die Gründungsgestalten der RAF zu ›authentischen‹ Zeugen des Ereignisses macht, also die Chronik des Terrorismus und einer Liebe genetisch auf dasselbe folgenträchtige Datum zurückdatiert,338 benutzt er die realgeschichtliche Folie als Ausgangspunkt für eine ›romantische‹ Fiktion, die den überlieferten Geschichtszusammenhang überbietet. Im »Augenblick der

333

334 335 336

337 338

Ensslin in zärtlicher Zuwendung während des Frankfurter Brandstifter-Prozesses von 1968, daneben die Abbildung einer Pistole – illustrieren diesen Zusammenhang. Auch der Erzählanfang wurde von der Rezensentin Iris Radisch als »beinahe kleistisch« empfunden, vgl. Iris Radisch: Rote-Helden-Fraktion. Die Ästhetik der Schreckschusspistole: Leander Scholz und die poetische Verklärung der RAF. In: Die Zeit Nr. 8 vom 15. 2. 2001, S. 47. Scholz: Rosenfest, S. 28. Radisch: Rote-Helden-Fraktion. Tatsächlich hat Gudrun Ensslin an der Berliner Demonstration gegen den Schah-Besuch teilgenommen, während Andreas Baader gerade eine dreiwöchige Gefängnisstrafe absaß, weil er ohne Führerschein auf einem gestohlenen Motorrad mit 120 km/h durch den Englischen Garten in München gefahren war. Scholz: Rosenfest, S. 20. Zur ›genetischen‹ Narrativierung von Geschichte vgl. Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens, S. 539.

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Aufmerksamkeit auf Gudrun«, die sich dem Zugriff eines Polizisten zu erwehren versucht, gelang es einem anderen vermeintlichen Rädelsführer, den Polizisten zu entkommen. Mit dünnem Schnurrbart und rotem Hemd, die Füße wie die meisten der Jungen in Sandalen ohne Socken gesteckt, krabbelte er aus der Verwirrung der kräftigen Polizeikörper und rannte so schnell, wie es sich mit Sandalen eben laufen ließ, als ein Polizist, der vorher noch mit seiner Waffe vor Gudruns Gesicht herumgefuchtelt hatte, auf den Störenfried deutete und orgelte: ›Die Sau hole ich mir.‹ Noch bevor Benno sich vollständig zum Lauf aufrichten konnte, drang eine 7,65 Millimeter starke Kugel über seinem rechten Ohr ein, durchwühlte das Gehirn und öffnete die Schädeldecke, daß man tief hineinsehen konnte.339

Sehr genau folgt der narrative Ereignisbericht der Rekonstruktion, die etwa in Stefan Austs Baader-Meinhof-Komplex nachzulesen ist: »›Die ist mir losgegangen‹, entrüstete sich der Bewaffnete gegenüber der plötzlichen Stille.«340 Das Bild des Sterbenden wurde in zahllosen Zeitungen und im Fernsehen reproduziert.341 Dann aber stellt der Erzählbericht von der in der Fotografie statisch geronnenen Sichtbarkeit auf ein anderes sensorisches Medium um – auf das Gehör und damit auf die weder im Tatsachenbericht noch im Bilddokument festgehaltenen Geräusche, die in der Stille nach dem Schuss hörbar sind. Der zusammensackende Körper machte ein Geräusch, als würde ein gespanntes Tuch langsam zerrissen. Echo der platzenden Arterien. Lautes Gerinnsel, das unter den Schuhsohlen klumpt. Körperkrach. Die Polizisten lauschten ungläubig dem Ton des sterbenden Benno. Wie kann ein einzelner Körper so laut sein?342

Indem die narrative Darstellung über das Medium des Hörsinns eine visuelle Wahrnehmung ergänzt, die infolge der massenmedialen Verbreitung der Presseaufnahme längst gewöhnlich geworden ist, gewinnt sie dem dokumentierten Datum über die unbezeugte Wahrnehmung der Zugegenen seine verloren gegangene Ereignisqualität zurück. Die leblose Stille der erstarrten Bildaufnahme wird durch den Lärm des Todes in Bewegung versetzt; als ›lautes‹ Ereignis, das die bundesdeutsche Linke alarmierte und den Ursprung des Linksterrorismus markiert, ist der 2. Juni 1967 in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingegangen. Es ist demnach durchaus plausibel, wenn Scholz ohne Rücksicht auf die überlieferte Faktizität seine Geschichte der RAF mit diesem Schlüsselereignis anfangen lässt – und nicht mit der Befreiung Andreas Baaders im Berliner ›Institut 339 Scholz: Rosenfest, S. 19 f. 340 Ebd., S. 20. – Vgl. Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, S. 56 – 61, hier S. 58, wo auch das Kaliber der Waffe angegeben wird. 341 Vgl. dazu die Ausführungen im vorigen Kap. »1968. Vietnam«, 3, zu Uwe Timms Der Freund und der Fremde. 342 Scholz: Rosenfest, S. 20.

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für soziale Fragen‹ am 14. Mai 1970, mit dem die ›offizielle‹ Geschichte der RAF beginnt. Scholz’ Erzähler sympathisiert von Beginn an mit dem terroristischen Paar, indem er vor allem »Gudrun« zur unfreiwilligen Mittäterin macht. Dass der Roman die Geschichte der RAF daher streng genommen auslässt, hat die Literaturkritik ihm zur Last gelegt. Die Baader-Befreiung vom 14. März 1970, die das Gründungsereignis der RAF markiert, hat in der impliziten Geschichtsdeutung des Romans dagegen offenbar bei weitem nicht jene ereignishafte Bedeutung, die ihr in der üblich gewordenen Lesart zugewiesen wird. Die narrative Neukonfiguration impliziert auch eine (Neu-)Bewertung der Zeitgeschichte. Dass der Tod Benno Ohnesorgs ein Ursprungsereignis ›linker‹ Radikalisierung wurde, das in eine religiöse Dimension hineinragt, wurde im Blick auf seine Ikonisierung bereits herausgestellt. Scholz’ Roman legt diese religiöse Motivik narrativ aus, wenn er der verstörten »Gudrun« auf ihrer Flucht vom Tatort den Toten noch einmal begegnen lässt: Gudruns Schreie gehen in ein Wimmern über. In ihrem Kopf haben sich die Ereignisse kurzgeschlossen. Benno steht vor ihr. Er nimmt seinen Schädel ab und bietet ihr daraus einen Schluck zu trinken an. Sie will nicht, die wehrt sich dagegen, festgehalten zu werden. Du musst trinken, sagt Benno, dann wird es dir bald bessergehen.343

Das (un-)heilsgeschichtliche Ereignis des Todes vollendet sich in der Eucharistie: Der zerschmetterte Schädel wird zum Kelch, aus dem die Zeugin das Sakrament des Blutes empfangen soll. Damit wird das Opfer vom eher zufälligen victim zum sacrifice, sein Tod zur existenziellen Gabe, die zur Nachfolge (imitatio) aufruft. Mit dem Trinken des Blutes würde ein Bund zwischen der Lebenden und dem Toten geschlossen. »Gudrun« wehrt sich dagegen; sie trinkt das dargebotene Blut nicht. Ihr Weg in den Terrorismus hat gerade erst begonnen, und der Bund, den sie – der Romanfiktion zufolge – am 2. Juni 1967 unausdrücklich mit »Andreas« schließt, ist einer zwischen Lebenden. Dennoch steht die phantasierte Figur des christusgleichen »Benno« als ›Blutzeuge‹ im Hintergrund der erzählten Geschichte. Auch anlässlich von Gudruns Flucht nimmt der Roman das religiöse Narrativ noch einmal auf, wenn »Andreas’« Stimme in ihrer Phantasie nachklingt: »Gudrun! Warum verläßt du mich?«344 Mit dem Zitat der Sterbensworte Christi (nach Mt 27,46) hat die Hagiografie des Terroristenpaars ihren Gipfel erreicht: Der Roman stemmt seinen zeitgeschichtlichen Stoff ins Heilsgeschichtliche hoch. Indem aber die Erzählung die heilsgeschichtliche Folie adaptiert, ohne eine eschatologische Aussicht ernsthaft zu eröffnen, kehrt sie sie als ästhetisches Formular hervor, während sie seine Semantik aufgekündigt hat. 343 Ebd., S. 35 f. 344 Ebd., S. 235; vgl. bereits S. 39: »›G-u-d-r-u-n‹, brüllt er, ›G-u-d-r-u-n, warum verlässt du mich?‹«

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Ereignisse und Texte

Hans und Grete im Medienwald

In wie starkem Maß die Medialisierung des Terrorismus auf die Geschichte seiner Hauptfiguren zurückwirkt, stellt besonders eine Szene im Roman dar, in der »Andreas« und Gudrun« an ihrem italienischen Zufluchtsort die deutschsprachige Zeitungspresse studieren. Wie buchstäblich erdrückend die »Unmenge von Versalien«, welche die Boulevardzeitungen über die flüchtigen Terroristen verbreiten, die Betroffenen selber affiziert, veranschaulicht der Erzählbericht in geradezu überdeterminierter Weise: Unter den vielen Schlagworten kann Gudrun sich nicht rühren. Wahlsprüche, stehende Wendungen, Programme und Leitsätze, Devisen und Losungen haben sich auf ihre Brust gesetzt. Im Buchstabenwald wird die Luft knapper. Phrasen, glänzende Metaphern und rhetorische Fragen versperren ihr den Weg. Allgemeinplätze, Redensarten, Formeln und Floskeln. Binsenwahrheiten werden zu großen Worten. Da steht Pistole und Glassplitter, bäumt sich Kriegserklärung und Notstand vor ihr auf, zeigen Milchbrüder des Terrorismus und Radikalenerlaß mit winkenden Gesten auf sie, signalisieren freies Geleit und deutsche Rechtsgeschichte kein Durchkommen, schleppen Beamte, Juristen, Minister den Sturm der Empörung, buchstabieren G-n-a-d-e und K-r-i-m-i-n-a-l-i-t-ä-t, singen in exemplum, die Baader-Bande bist du und deklamieren im Chor : D-i-e-s-e-r P-r-o-z-e-ß m-u-ß s-t-a-t-t-f-i-n-d-e-n-!345

Unter den zitierten Schlagzeilen ist die Geschichte der beiden Liebenden nicht zu finden. Aus dem »ausgebreiteten Zeitungshaufen«, unter dem Gudrun bereits begraben liegt, streckt sie auf Andreas’ Zuruf (»Gretel, wo bist du? Ich kann dich nicht finden«) die Hände aus: »Hier bin ich, mein lieber Hänsel!«346 Anknüpfend an die Decknamen des Terroristenpaars, Hans und Grete, variiert die Szene das Grimmsche Märchen von Hänsel und Gretel. Aus dem Märchenwald ist indes der mediale Blätterwald geworden, in dem die Figuren sich nicht wiederfinden, weil die »I-DEN-TI-FI-KA-TION«347 mit ihren Repräsentanten in den Massenmedien schwerfällt. Aber die Liebenden finden den Ausgang ohne die gewaltsame Hänsel-Befreiung hier auch so: »Ich habe dich im dunklen Wald gesucht, Liebster!’ sagt sie. Sie küssen sich und schlendern in den Garten.«348 Indem Scholz’ Roman die Zeitgeschichtshandlung mit dem Märchennarrativ engführt, verdeutlicht er zum einen, dass die ›authentische‹ Geschichte zweier Menschen von den Formen ihrer Diskursivierung und Medialisierung so zugedeckt worden ist, dass sie auch von der Fiktion nicht mehr einfach freigelegt werden kann. Zum anderen aber zeigt er die Chance der Fiktion, die Geschichte des Jahres 1977 mit Hilfe ästhetisch tradierter Formen und ohne Anspruch auf außerästhetische 345 346 347 348

Ebd., S. 178. Ebd., S. 179. Ebd., S. 178. Ebd., S. 179.

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Glaubwürdigkeit neu zu erzählen: Schon der Erzählbeginn – »[e]s war der 2. Juni« – hat die Eingangsformel des Märchens (»es war einmal«) zitiert. 5.3

Abschlusszwang

Es gehört zur Morphologie des Märchens, dass es mit dem topisch eingesetzten Anfang auch einen zwingend herbeigeführten Schluss korrespondieren lässt. Wenn am Ende der Romanhandlung »Gudrun« in einer Boutique verhaftet wird, nachdem »unversehens die Pistole auf den Tresen gefallen ist«,349 macht die Fiktion noch einmal ihre Differenz zur Dokumentation deutlich, auch wenn sie dabei bis ins Detail auf die faktische Überlieferung zurückgreift. Von der Verkäuferin, die die Polizei alarmiert, heißt es: »Sie telefoniert, damit die Geschichte endlich ein Ende hat, gibt den Aufenthaltsort der Flüchtigen durch, damit die Polizei baldmöglichst eintreffen und die Flüchtlinge verhaften kann.«350 Die Erzählung unterschiebt der Motivation der Figur das Gesetz ihrer selbst: Dass die Geschichte ein Ende habe, ist nicht so sehr Folge einer internen Logik der erzählten Handlung wie der Reflex eines ›Abschlusszwangs‹, der auch in Goetz’ Kontrolliert Terror und Text zusammenführt351 und damit zugleich der mythosgemäßen Abfolge von ›Anfang‹, ›Mitte‹ und ›Ende‹ Genüge tut. Die Erzählung markiert damit zwei Aspekte zugleich: dass sie – unabhängig von der stofflichen Chronologie – eigenen Gesetzen folgt, wie auch, dass die überlieferte (Zeit-) Geschichte selber Gesetzmäßigkeiten der Fiktion unterliegt. Nur darum begibt sich die verstörte »Gudrun« in jene Hamburger Boutique, damit sie gefasst werden und ihre ›Romanze‹ mit dem Terrorismus zum erzählten Ende finden kann. Die märchenhafte Vorausdeutung ganz am Beginn des Romans hat diese gesetzmäßige Logik bereits angedeutet: »Als Hänsel gefangengenommen wurde, ging Gretel ins Kaufhaus, um sich eine rote Bluse zu kaufen. Als Gretel an der Kasse gefangengenommen wurde, sagte sie zu den Häschern, was für ein Glück, und sie gab die Bluse zurück.«352 Tatsächlich zeigt sich an diesem genuin narrativ determinierten Schluss eine mythosanaloge Motivation ›von hinten‹, wie Clemens Lugowski sie am Beispiel des frühneuhochdeutschen Prosaromans herausgearbeitet hat.353 – ›Erklärt‹ im zeitgeschichtlich aufschlussreichen Sinn wird mit der Erzählung der Liebesgeschichte zwischen »Andreas« und »Gudrun« 349 350 351 352 353

Ebd., S. 244. Ebd., S. 245. Vgl. Goetz: Kontrolliert, S. 100. Scholz: Rosenfest, S. 7. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. 2. Auflage Frankfurt/M. 1994. – In seinem Essay bestätigt Scholz diese Motivierung ›von hinten‹ für den Schreibprozess: »Am Anfang meines Romans ›Rosenfest‹ stand ein Bild: der Blusenkauf.« Scholz: Hyperrealität oder Das Traumbild der RAF, S. 217.

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mithin nichts. Der Romantext bekennt diese Erklärungslosigkeit am Ende ausdrücklich ein: »Kein Text kann jetzt mehr erklären, warum die das getan haben.«354 Indem der Roman so die eigene, fiktionale Gesetzmäßigkeit zugleich als die der erzählten Geschichte hervorkehrt, führt er vor, dass es ein transzendentes ›Jenseits‹ der Fiktion oder »Außen der Repräsentation« – oder anders gewendet: ein pures ›Diesseits‹ der Geschichte – nicht gibt.

26. 4. 1986. Tschernobyl Unterscheiden nicht die Objekte ihrer Angst die Generationen mehr als alles andere?355

Die Reaktorkatastrophe im russischen Kernkraftwerk Tschernobyl, die sich am 26. April 1986 zutrug und erst Tage später in ihrem ganzen Ausmaß der europäischen Medienöffentlichkeit bekannt wurde, hat wie kein anderes Datum des zwanzigsten Jahrhunderts seit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 eine globalisierte Bedrohung zum Bewusstsein gebracht, die sich nicht mehr an territorial und ideologisch definierte Grenzen hält. Es ist das Ereignis von Tschernobyl, durch das Ulrich Beck seine soziologischen Analysen, die im selben Jahr unter dem Titel Risikogesellschaft erschienen, bestätigt sah; unter dem unmittelbaren Eindruck schrieb er in einer auf »Mai 1986« datierten Vorbemerkung: »Es ist das Ende der ›anderen‹, das Ende all unserer hochgezüchteten Distanzierungsmöglichkeiten, das mit der atomaren Verseuchung erfahrbar geworden ist. Not läßt sich ausgrenzen, die Gefahren des Atomzeitalters nicht mehr. Darin liegt ihre neuartige kulturelle und politische Kraft. Ihre Gewalt ist die Gewalt der Gefahr, die alle Schutzzonen und Differenzierungen der Moderne aufhebt.«356 Unter den zahlreichen »geschichtlichen Katastrophen« des zwanzigsten Jahrhunderts, in die Beck das Ereignis einreiht – »zwei Weltkriege, Auschwitz, Nagasaki, dann Harrisburg und Bhopal, nun Tschernobyl« –357 markiert der 26. April 1986 das Empirischwerden einer buchstäblich grenzenlosen Gefährdung, die alle bisher bekannten, begrenzten Gewaltformen der Geschichte hinter sich lässt. Becks Einordnung der Reaktorunfälle von Harrisburg (bei dem niemand ums Leben kam) und Tschernobyl 354 Scholz: Rosenfest, S. 234. 355 Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages. In: dies: Störfall. Nachrichten eines Tages. Verblendung. Disput über einen Störfall. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger. München 2001 (Werke Bd. 9), S. 9 – 112, hier S. 99. 356 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986, S. 7. 357 Ebd.

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neben Auschwitz und den beiden Weltkriegen dokumentiert nicht nur die außerordentliche Signifikanz, die dem Ereignis im politischen wie wissenschaftlichen Diskurs358 aus der zeitlichen Nähe zugesprochen wurde, sondern provoziert auch Fragen etwa nach der Vergleichbarkeit. Unter ihnen sticht eine hervor, die für ästhetische Verarbeitungen des Ereignisses vor allen anderen relevant ist: Was lässt sich unter der Erfahrung eines Ereignisses verstehen, das vor allem in den sinnlich gar nicht wahrnehmbaren, langfristigen Risiken seiner buchstäblichen Ausstrahlungskraft bestand?

1.

Das unsichtbare Ereignis

Tatsächlich stellt die Havarie des Atomreaktors von Tschernobyl in der Reihe der hier thematisierten Ereignisse in mehr als einer Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung dar. Denn anders als alle anderen Ereignisse hat es sich kaum – und dann erst verspätet – in visuellen Nachrichten manifestiert, sondern in zunächst bildlosen Meldungen des Radios und des Fernsehens sowie der gedruckten Zeitungen. Diese auf dem mediengeschichtlichen Stand untypische Bildlosigkeit war nicht zuletzt eine Folge der repressiven Informationspolitik der sowjetischen Medienagentur TASS, die erst zwei Tage nach der Explosion des Reaktorblocks IV im Kraftwerk Tschernobyl, am 28. April, von einem ›Unfall’ berichtete; erst am 29. April war von zwei Todesopfern und von einer ›Katastrophe’ die Rede. Was sich dem Gedächtnis der medialen Öffentlichkeit daher an Bildern eingeprägt hat, sind vor allem Ansichten des zerstörten oder bereits einbetonierten Reaktorblocks und der verstrahlten ukrainischen Städte Tschernobyl und Prypjat, in deren Hintergrund die Kulisse des Kernkraftwerks aufragt. Vom zerstörten Reaktor am Tag der Katastrophe existiert dagegen nur ein einziges Bild, das wesentlich später publiziert worden ist und aufgrund der Grobkörnigkeit der Aufnahme, die auf die hohe radioaktive Strahlung zurückzuführen ist, mehr einem Daguerrotyp aus der Frühzeit der Fotografie als einer modernen Bildaufnahme gleicht (Abb. 8); die übrigen am Tag des Ereignisses belichteten Negative des Fotografen Igor Kostin waren schwarz.359 – Es gehört zu den bemerkenswerten, ironischen Interferenzen technologischer Innovationen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, dass die modernste Technologie, 358 Das schloss auch den literaturwissenschaftlichen Diskurs ein, vgl. etwa Axel Schalk: Sprachverlust – Schreiben nach Hiroschima und Tschernobyl. In: Literatur für Leser 4 (1991), S. 199 – 210, oder Holger Rudloff: Literatur nach Tschernobyl. In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 37 (1990), H. 2, S. 11 – 19. 359 Igor Kostin: Tschernobyl. Nahaufnahme. Unter Mitarbeit von Thomas Johnson. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. München 2006, S. 6.

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welche die durch die Physik »entfesselte Macht des Atoms«360 zu bändigen und zu mediatisieren versprach, das prototypische Medium moderner Wirklichkeitsvermittlung immerhin für einen Moment gleichsam in seine Frühzeit zurückstieß.

Abb. 8: Igor Kostin, Chernobyl – The Aftermath (Ó Igor Kostin/Sygma/Corbis)

Die weitgehende Bildlosigkeit des Ereignisses hat jedoch noch einen weiteren Grund, der außerhalb medienpolitischer und technischer Zusammenhänge liegt – und der für das Erzählen von schwer zu unterschätzender Bedeutung ist. Denn die Erzeugung einer ›unsinnlichen‹ Gewalt neuer Art, die unterhalb der Schwelle menschlicher Wahrnehmbarkeit geschieht, ist für die technologische Moderne ebenso charakteristisch wie ihre Passion, jedwedes Geschehen zu visualisieren. »Die eigentliche Gefahr von heute besteht in der Unsichtbarkeit der Gefahr«, 360 Albert Einstein: O. T. [Unserer Welt droht eine Krise]. In: Zeitwende. Die neue Furche 27 (1956), H. 12, S. 820.

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26. 4. 1986. Tschernobyl

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lautet die erste von Günther Anders’ Zehn Thesen zu Tschernobyl, mit denen er 1986 seine Thesen zum Atomzeitalter von 1959 ergänzte: Die »Zumutung«, »das Unsichtbare als da ständig zu verstehen«, überfordert das durch die Sinnesmedien geprägte Weltverhältnis des Menschen.361 Auf diese Unsinnlichkeit der atomaren Bedrohung legt Hans Magnus Enzensbergers Gedicht an alle fernsprechteilnehmer schon 1960 angesichts der zahlreichen Atomwaffenversuche der Nuklearmächte im ›kalten Krieg‹ den Akzent: etwas, das keine farbe hat, etwas das nach nichts riecht, etwas zähes, trieft aus den verstärkerämtern, setzt sich fest in die nähte der zeit und der schuhe […]. es ist etwas in der luft, klebrig und zäh, etwas das keine farbe hat (nur die jungen aktien spüren es nicht): gegen uns geht es, gegen den seestern und das getreide. und wir essen davon und verleiben uns ein etwas zähes und schlafen im blühenden boom, im fünfjahresplan, arglos schlafend im brennenden hemd, wie geiseln, umzingelt von einem zähen, farblosen, einem gedunsenen schlund.362

Die Kontaminierung der Atmosphäre, deren Kennzeichnungen – farblos, ›zäh‹, ›gedunsen‹ – mit redundanter Unabweisbarkeit Enzensbergers Verse infiltrieren, gehört zur latenten Realität der modernen technizistischen Welt, die sich in ihren technologischen Restrisiken ›arglos‹ eingerichtet hat (»schlafend im brennenden hemd«). Diese sinnlich nicht wahrnehmbare Gewalt bringt sich – als intentionale – bereits im ›Gaskampf‹ des Ersten Weltkriegs zu tödlicher Geltung, der die »soldatischen Kategorien«, wie bereits Walter Benjamin aus zeitgenössischer Nähe diagnostizierte, in der Statistik von anonymen »Vernichtungsrekorden« verschwinden ließ,363 womit auch die Frage nach der Erzählbarkeit des technifizierten Krieges aufgeworfen war. Ebenso ist die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl bis heute vor allem eine Sache 361 Günther Anders: Zehn Thesen zu Tschernobyl. In: die tageszeitung Nr. 1923 vom 3. 6. 1986, S. 8. 362 Hans Magnus Enzensberger : an alle fernsprechteilnehmer. In: ders.: Landessprache. Gedichte. Frankfurt/M. 1969, S. 26. 363 Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen 1930. Zu der Sammelschrift ›Krieg und Krieger‹. Herausgegeben von Ernst Jünger. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. III, Frankfurt/M. 1972, S. 238 – 250, hier S. 240.

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mathematischer Opferstatistiken und Hochrechnungen geblieben: Nicht anders als beim militärischen Einsatz der Radioaktivität in Hiroshima und Nagasaki sind der Zahl der unmittelbaren Opfer die radiologisch Verstrahlten und – aufgrund der teratogenen Wirkung der Radioaktivität – selbst die Versehrten künftiger Generationen hinzuzuaddieren. Auch die Langfristigkeit der radioaktiven Kontamination unterläuft die Möglichkeiten der unmittelbaren ikonischen Repräsentation, weil sich das ganze Ausmaß ihrer Wirkungen gar nicht aktuell, in einem ereignishaften Moment, manifestiert. Nur die formelhaft abstrakte Beschreibungssprache der Naturwissenschaft scheint einer Bedrohung beikommen zu können, die auch im Fall der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für die Sinne zunächst abstrakt blieb. Unsichtbar wie die Langzeitfolgen der Katastrophe ist jene Wolke von Aerosolen, die sich beim Graphitbrand im Reaktorkern infolge einer außer Kontrolle geratenen Kettenreaktion aus den leicht flüchtigen Isotopen Iod-131, Cäsium-134 und -137 gebildet hatte und die tausende Kilometer weit in Richtung Russland und Skandinavien und dann, bei wechselndem Wind, Richtung Mittel- und Südosteuropa zog, bevor sie durch meteorologische Niederschläge aus der Atmosphäre ausgewaschen wurde (und so über die Nahrungskette schließlich auch die Konsumenten in weit entfernten Regionen erreichte).364 Wie die auf frühe technische Entwicklungsstufen verweisende grobkörnige Fotografie gehört es zu den Anachronismen des Ereignisses, dass angesichts der durch moderne Hochtechnologie herbeigeführten Katastrophe nur mehr auf die scheinbar beherrschte Natur, also wie bei den seefahrenden Griechen der Antike auf günstigen Wind zu hoffen war.365 In seiner Bildlosigkeit wird das Ereignis durch das abstrakt-technokratische Akronym ›GAU‹ für den ›größten anzunehmenden Unfall‹ vertreten, dessen hypothetische Unwahrscheinlichkeit mit einem Schlage Wirklichkeit geworden war. »Damals, nach dem Unfall in dem russischen Kernkraftwerk, hatte man vom GAU geredet«, heißt es in Gudrun Pausewangs ein Jahr nach der Reak-

364 Vgl. dazu A. Knöchel (Hg.): Folgen und Konsequenzen des Tschernobyl-Unfalls. Abschlussbericht des Projekts ›Aktiver Strahlenschutz für den Bürger‹ der Universität Hamburg unter Beteiligung des GKSS-Forschungszentrums Geesthacht. Hamburg 1988, wo auch der Hergang des Unfalls (S. 20 – 22) dargestellt wird. Zur radioaktiven Kontamination vgl. Detlef Gumprecht (Red.): 10 Jahre nach Tschernobyl. Informationen der Strahlenschutzkommission zu den radiologischen Auswirkungen und Konsequenzen insbesondere in Deutschland. Berichte der Strahlenschutzkommission (SSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Natur und Reaktorsicherheit (1996), H. 4. – Hergang und Folgen der Havarie sind in mehreren Büchern dargestellt worden, vgl. etwa Reinhold Koepp, Tatjana KoeppSchewyrina: Tschernobyl. Katastrophe und Langzeitfolgen. Stuttgart, Leipzig, Zürich 1996 (Einblicke in die Wissenschaft: Ökologie); Franz-Josef Brüggemeier: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung. München 1998 (20 Tage im 20. Jahrhundert). 365 Vgl. Euripides: Iphigenie in Aulis, v. 88.

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torkatastrophe erschienenem Jugendroman Die Wolke.366 Für die jugendliche Heldin, deren Sicht die intern fokussierende Erzählrede folgt, sticht aus der Fülle der ihr wie den meisten Medienempfängern unverständlichen physikalischtechnischen Informationen nur der Ortsname hervor, der durch vielfache Nennung zum Geschichtszeichen geworden ist: Wochenlang. Sie war noch in der Grundschule gewesen, und ihr war unbegreiflich geblieben, was ihnen der Lehrer über ›Rem‹ und ›Becquerel‹ und ›radioaktive Strahlung‹ zu erklären versucht hatte. Sie hatte sich nur den Namen des russischen Kernkraftwerks gemerkt: Tschernobyl.367

Die unsinnliche Qualität der Katastrophe und ihrer Folgen stellt die Möglichkeit der Repräsentation demnach auch unabhängig davon in Frage, ob diese politisch überhaupt zugelassen wird. Dass es weitgehend bildlos geblieben ist, ist der Erzählung jedoch nicht etwa günstig: Denn die Bildarmut, die das Ereignis umgibt, beruht auf einem Mangel an jener sinnlichen Präsenz, deren auch das Erzählen bedarf. Die Abstraktheit der von ihm ausgehenden Bedrohung entzieht sich dem Zugriff der Bildapparate wie der Narration. Das Risiko der radioaktiven Verstrahlung lässt sich kaum erzählen, allenfalls die davon ausgelöste Angst. Der ›Bildverlust‹, der sich mit der Wirkungsweise technologischer Gewalten verknüpft, erschwert auch ihre ästhetische Repräsentation; sowenig wie die Nachrichten selbst kommt aber auch das neue wissenschaftliche Vokabular, das ihren Empfängern zu lernen aufgegeben ist, mit Benjamins Wendung ›der Erzählung zugute‹. Weil mit den sprachlichen und numerischen Zeichen des ›neuen‹, hochspezialisierten (kern-)physikalischen Diskurses ästhetisch wenig anzufangen ist, wendet sich die literarische Darstellung entschieden ›alten‹ Begriffen zu, um die Dimension des technisch möglich gewordenen Endes der Geschichte zu begreifen: Und wissen Sie, was das Wort Tschernobyl bedeutet? Nein, er wußte es nicht. Er bat um Verzeihung, aber er wußte es nicht. – Es bedeutet ›schwarzes Gras‹ … Oder ›bitteres Gras‹ … anders gesagt Wermut … Sie sah Marroux an, vielleicht in der Hoffnung, daß dieser Hinweis genügen würde, ihm zu verstehen zu geben, worum es ging. Aber Roger Marroux verstand offensichtlich immer noch nicht. – ›Und der Name des Sterns heißt Wermut …‹, deklamierte sie plötzlich. Erinnern Sie sich an den Wermutstern? Nein, Marroux erinnerte sich nicht daran. Er wußte nicht einmal, worauf Carola Blumstein anspielen mochte. Auf die Bibel natürlich. Genauer gesagt auf das Buch der Offenbarung. Und da rezitierte Carola den Text der Apokalypse, nach dem Aufbrechen des siebten 366 Gudrun Pausewang: Die Wolke. Ravensburg 1989, S. 11. 367 Ebd.

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Ereignisse und Texte

Siegels. ›Und ich sah sieben Engel, die da stehen vor Gott, und ihnen wurden sieben Posaunen gegeben …‹ […] – ›Und der dritte Engel posaunte; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und auf die Wasserbrunnen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern, denn sie waren bitter geworden …‹ Sie sah Roger Marroux triumphierend an. – Deutlicher geht es gar nicht, nicht war? Tschernobyl ist der Wermutstern … Das Kernkraftwerk ist explodiert, es brannte wie eine Fackel, das Trinkwasser wurde verseucht …368

Die Figur in Jorge Sempruns Roman Netschajew kehrt zurück (frz. 1987) deutet den Ortsnamen und das Geschichtszeichen ›Tschernobyl‹ auf der Folie der Johannes-Offenbarung (Off 8, 10 f.) im Sinne der Apokalypse, die doch kein transzendentes, von jenseits der Geschichte eintreffendes und diese endigendes Ereignis mehr ist, sondern technologisch real herbeiführbar wurde.369 Statt im Diskursbereich eines spezialisierten Wissens findet das katastrophale Ereignis einen Widerhall im kulturellen Langzeitgedächtnis, das es in vielsagenden ›Sinn‹ übersetzt, indem es an die mythische Erzählung anschließt. Aber der kurze Dialog gibt zugleich Rechenschaft von einem Vergessen, das dessen Bestände bereits erfasst und gegen das sich der literarische Text mit der Kraft seiner funktionalisierenden Erinnerung stellt. Ein dritter Aspekt der ›Anomalität‹ des Ereignisses betrifft dessen Begriff. Wenn ›Tschernobyl‹ vor allem für die Bedrohung steht, die von der Reaktorkatastrophe ausging, so unterläuft das Ereignis vom 26. April 1986 in gewisser Weise seinen eigenen Begriff: Nur die plötzliche, chockhafte Explosion entspricht der Semantik des Ereignisses in seiner radikalen Vertikalität; die von ihm ausgehende Gefahr trägt sich dagegen auf einer Horizontalen ab, die von Erwartungen und Ängsten, Prognosen und Folgenabschätzungen geprägt ist. Nicht so sehr das Unvorhergesehene seines Eintretens, sondern das ›Absehbare‹ seiner Folgen macht seine spezifische Ereignishaftigkeit aus. Damit zwingt es 368 Jorge Semprun: Netschajew kehrt zurück. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. O.O. 1996, S. 142 f. – Zu diesem apokalyptischen Deutungsmuster, das sich auf die Übereinstimmung des Ortsnamens mit dem russischen Wort für »Wermut«, Tschernobylnik, stützt und zudem den ›Stern‹ der Johanneischen Offenbarung auf den Halleyschen Kometen bezieht, der 1986 der Erde so nah kam wie niemals zuvor, vgl. auch Nikolaj Buchowetz, Marion Jerschowa: Super GAU Tschernobyl. Vom Leben mit der Katastrophe. Deutsche Fassung des russischen Originals [übersetzt von] Marion Jerschowa. Graz, Wien, Köln 1996, S. 19 – 22 (»Weltuntergangsvisionen oder Ein Stern namens Wermut«). 369 Vgl. dazu Hans Krah: Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom ›Ende‹ in Literatur und Film 1945 – 1990. Kiel 2004, sowie Heinz-Peter Preusser : Letzte Welten.

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jedoch dazu, auch die Horizontale der Normalität neu zu bedenken; Christa Wolfs (noch eingehend zu interpretierende) Störfall-Erzählung knüpft an diese Problematik an. Dass das Ereignis ›Tschernobyl‹ sich somit, paradox zu seinem Begriff, in eine horizontale Dimension verlegt, kommt seiner Erzählbarkeit indes erneut nicht zugute. Denn die so kontaminierte Normalität entzieht sich gewissermaßen doppelt: als an sich bereits unauffällige Struktur wie als Sphäre (nicht aber als Schauplatz) einer Gefahr, die unterhalb sinnlich-konkreter Erfahrbarkeit bleibt.

2.

Literatur im Atomzeitalter

Die technologischen Bedingungen der eben zitierten Apokalypse sind mit dem Begriff des ›Atomzeitalters‹ angegeben. In dessen Zeitrechnung tritt an die Stelle der pathetischen Posaune des dritten apokalyptischen Engels die nüchterne Sprache des historischen Kalenders: »Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatag, hat ein neues Zeitalter begonnen: das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblicke jeden Ort, nein unsere Erde als ganze, in ein Hiroshima verwandeln können«, schreibt Günther Anders in seinen Thesen zum Atomzeitalter. »Seit diesem Tage sind wir modo negativo allmächtig geworden; aber da wir in jedem Augenblick ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage sind wir total ohnmächtig.«370 Mit dem Realwerden der bisher im Mythische aufgehobenen Möglichkeit der Apokalypse verbindet sich jedoch das bereits auf seiner ikonischen und literarischen Seite angesprochene Darstellungsproblem: Weil die Wirkung atomarer Katastrophen sich langfristig vollzieht, tritt die Apokalypse gewissermaßen als Nicht-Ereignis ein. Es gehört zudem zur ›systemischen‹ Anonymität des Atomzeitalters, dass es die Subjekte (wie die kritische Theorie behauptet) abschafft, bevor es sie physisch vernichtet. Mit dem Fraglichwerden der Erzählbarkeit einer Welt, die »ebenso zur Groteske […] wie zur Atombombe« geführt hat,371 verknüpft sich daher dasjenige der Verantwortlichkeit. Wo aber verantwortliche Subjekte einer verwissenschaftlichten, technokratischen Gewalt nicht mehr zu benennen sind, stößt das Erzählen abermals an eine Grenze. Bereits der geschichtsphilosophisch-ästhetische Disput, den Rolf Hochhuth nach dem Skandal-Erfolg seines Dramas Der Stellvertreter in der Theatersaison 1963 / 64 mit seinem Angriff auf den »modische[n] Chef-Theoretiker« Theodor 370 Günther Anders: Thesen zum Atomzeitalter. In: ders.: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen. 2., durch ein Vorwort erweiterte Auflage von »Endzeit und Zeitenende«. München 1981, S. 93 – 105, hier S. 93. 371 Dürrenmatt: Theaterprobleme, S. 68.

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Ereignisse und Texte

W. Adorno in der Georg-Luk‚cs-Festschrift auslöste und auf den Adorno wenig später mit einem Offenen Brief an Rolf Hochhuth geantwortet hat,372 kreiste um die ›transzendentalpoetologische‹ Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit literarischer Darstellung im ›Atomzeitalter‹. Für Adorno ist dessen Realität von einem Sog der Abstraktion erfasst, der alle empirische Konkretion erlebbarer Phänomene wie entscheidungsfähiger Subjekte aus der modernen Welterfahrung entfernt. Unter gesellschaftlichen Voraussetzungen, welche die Idee des geschichtsmächtigen Subjekts im Bann der ökonomisch-politischen Realität ein für allemal ›liquidieren‹,373 erschien Adorno jede Form von Literatur, die menschliche Subjekte noch in den Mittelpunkt stellt, als Euphemismus: Sie behaupte nur den Schein entscheidungsfähiger Subjektivität, wie ihn Boulevardpresse und Werbung nach wie vor errichten, während sie von den realen Verhältnissen längst ›unmöglich‹ gemacht worden ist. Hochhuth hielt dagegen – trotz gemeinsamer Kritik am ›Verblendungszusammenhang‹ einer subjektfeindlichen Welt – an der ästhetischen Behauptung geschichtsmächtiger Subjekte im Drama fest, indem er Adorno vorwarf, ihrer Liquidierung theoretisch das Wort zu reden. Der mit dem reziproken Vorwurf von ›diskursiver Barbarei‹ und ›poetischer Beschönigung‹374 ausgetragene Konflikt lässt sich argumentativ kaum entscheiden. Die zentralen Fragen für den hier interessierenden Zusammenhang wurden darin jedoch gestellt: Auch der ›Größte anzunehmende Unfall‹ im ukrainischen Tschernobyl implizierte die Frage nach den Subjekten eines technologischen Fortschritts, der mit der Verbesserung von Lebenschancen auch die Möglichkeiten der Lebensvernichtung immens gesteigert hat, und damit auch die Frage nach der Darstellbarkeit seiner Risiken, die bis zum ultimativen Ende reichen. Wenn sich die naturwissenschaftlich-medizinischen Prognosen in Bezug auf die möglich gewordene nukleare Auslöschung der Menschheit imaginativ kaum angemessen einholen lassen, bleibt jedoch immer noch die Möglichkeit der Groteske, die gerade die Unangemessenheit der Repräsentation zum ästhetischen Darstellungsprinzip macht. Bereits für Dürrenmatt kamen nur mehr Komödie und Parodie der Wirklichkeit des Atomzeitalters und ihres tödlichen Potenzials bei, und keineswegs wenige Texte – von Arno Schmidts Trilogie Nobaddy’s Kinder (1951 – 53) bis zu Harald Muellers Totenfloß (1984 / 86) – sind derselben ästhetischen Wegweisung gefolgt. Mit 372 Rolf Hochhuth: Die Rettung des Menschen. In: Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Luk‚cs. Hg. von Frank Benseler. Neuwied und Berlin 1965, S. 484 – 490, hier S. 484. – Theodor W. Adorno: Offener Brief an Rolf Hochhuth. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur I. Frankfurt/M. 1974, S. 591 – 598 (zuerst abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 132 vom 10. 6. 1967, Beilage). 373 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1973, S. 54. 374 Vgl. ebd., S. 54.

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einer unbeeindruckbaren Beiläufigkeit, die an Jacob van Hoddis’ apokalyptische Großstadtdichtung Weltende erinnert,375 stellt Konrad Bayer in einem Gedicht das Ereignis eines Atomschlags und seiner entsetzlichen physischen Folgen vor, wobei das apokalyptische Ereignis am Ende doch nur den Vorwand für triviale Liebeslyrik liefert: plötzlich ging die sonne aus wie eine gaslaterne und ein rauchpilz zischte auf. es war nicht gar so ferne. dann trocknet mir das rückgrat ein. ich denk mir, das wird heiter, das kann doch bloss der anfang sein. da ging’s auch fröhlich weiter. der mond fiel auf die erde drauf mit kosmischem geknalle. der horizont schob sich zuhauf. jetzt sitz’ ich in der falle. mir platzt das dritte äderchen. das blut schiesst aus den ohren. ich denk mir, liebes väterchen, gleich kommt es aus den poren. und während mir die haut abgeht und ich mich sacht verkrümme und rechts und links die welt vergeht, da hör’ ich eine stimme: liebster, sag mir, liebst du mich? sag mir, lass mich’s wissen. ich, du weisst es, liebe dich, und ich will dich küssen.376

Was etwa in Udo Rabschs Roman Julius oder Der schwarze Sommer (1983) aus der überlegenen Kenntnis eines Erzählers der dritten Person beschrieben wird, als ließe sich die Erfahrung des Strahlenopfers vorwegnehmend imaginieren,377 gerät in der Selbstaussage im Gedicht zur selbstdistanzierten Groteske, die Einfühlbarkeit gar nicht erst vortäuscht. Dass die Entwicklung technologischer Produktivkräfte immer auch die Steigerung intentionaler oder in Kauf genommener Destruktivkräfte impliziert, wird am erwartbar-unerwarteten Ereignis von Tschernobyl deutlich: »Die Kultur stellt die Technologie bereit, mit der sie selbst vernichtet wird.«378 Die kernphysikalische Forschung und Energiegewinnung verschärft diesen Zusammenhang von Erfinden und Zerstören insofern, als bereits die ›Störfälle‹ im Ablauf ihrer friedlichen Verfahren maximale Gefahrenpotenziale enthalten. Die philosophische und naturwissenschaftliche Technikfolgenabschätzung hat diesen Sachverhalt auf den Begriff der mangelnden ›Fehlerfreundlichkeit‹ 375 Jacob van Hoddis: Weltende. In: ders.: Dichtungen und Briefe. Hg. und kommentiert von Regina Nörtemann. Göttingen 2007, S. 9. 376 Konrad Bayer: plötzlich ging die Sonne aus. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Rühm. Überarbeitete Neuausgabe Wien 1996, S. 96. 377 Udo Rabsch: Julius oder Der schwarze Sommer. Tübingen 1983, S. 14: »Vorher war noch Waldduft in der Lunge gewesen. Ein einziger Lichtblitz hatte sie verbraucht. Aber das konnte er nicht wissen.« 378 Sofsky : Traktat über die Gewalt, S. 219. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988, S. 431 f.

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Ereignisse und Texte

gebracht: Statt aus Fehlern und Defekten Lerneffekte für das System zu generieren, zerstört deren Auftreten das System als Ganzes.379 Abseits des einschlägigen wissenschaftlichen Diskurses hat Erich Fried das Problem einer Störung, die die Möglichkeit ihrer künftigen Vermeidung annulliert, in seinem argumentierenden Gedicht Fragen nach Tschernobyl (1987) zum Ausdruck gebracht, das eine ›Heuristik der Furcht‹ entwickelt.380 Auf die Lehrmeisterin Erfahrung – historia magistra vitae –, lautet der Appell am Ende seines Nachfragens nach den Implikationen des Ereignisses von Tschernobyl, lässt sich im Fall der Atomenergie aufgrund der die Gattung bedrohenden Dimension ihrer Gefahren nicht zählen. Denn der katastrophale Störfall, aus dem die angemessenen ethisch-technopolitischen Konsequenzen zu ziehen wären, vernichtet deren Möglichkeit gleich mit: Wenn soviel geschehen mußte damit die Angst der Menschen sich selbst erkennt wie viel müsste dann geschehen damit auch der Widerstand der Menschen so groß wird und allgemein wie jetzt ihre Angst? Aber wenn soviel geschähe wären dann nachher noch Menschen da um Widerstand zu leisten?381

379 Zum Begriff vgl. Christine Weizsäcker, Ernst Ulrich von Weizsäcker : Fehlerfreundlichkeit. In: Offenheit – Zeitlichkeit – Komplexität. Zur Theorie der offenen Systeme. Hg. von Klaus Kornwachs. Frankfurt/M., New York 1984, S. 167 – 201. 380 Vgl. in diesem Zusammenhang Hans Jonas’ Formulierung einer »Heuristik der Furcht« in seiner 1979 zuerst erschienenen Auseinandersetzung mit dem ›entfesselten Prometheus‹ der technischen Machbarkeit; Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 7. Auflage Frankfurt/M. 1987, S. 63 f. 381 Erich Fried: Fragen nach Tschernobyl. In: ders.: Am Rand unserer Lebenszeit. Gedichte. Berlin o. J., S. 31.

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3.

»Der bösartige Himmel«. Christa Wolfs Störfall

3.1

Nachrichten

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Zeitgeschichtliche Ereignisse haben in der Erzählprosa Christa Wolfs wiederholt ein literarisches Echo hervorgerufen: In Kindheitsmuster (1976) werden der Vietnamkrieg und die Ermordung Salvador Allendes beim Militärputsch in Chile von 1973,382 in Nachdenken über Christa T. (1969) der Tod Stalins oder der Ungarnaufstand von 1956 thematisiert.383 Die Erzählung Störfall (1987) stellt schon über den Titel den Bezug auf ein zeitgeschichtliches Ereignis her, das zum Ausgangspunkt des ganzen Textes wird: Seinen ›Namen‹ indes – Tschernobyl – spart die Erzählung ebenso wie das exakte Datum aus.384 Diese Aussparung entspricht dem Prinzip einer fiktionalisierenden Abstraktion, das die Präambel explizit benennt: »Keine der Figuren dieses Textes ist mit einer lebenden Person identisch. Sie sind alle von mir erfunden.«385 Die Fiktionalisierung, deren stofflichen Ausgangspunkt die wohlwollend-kritische Rezension im Neuen Deutschland ebenfalls mit keinem Wort erwähnt,386 ist freilich die Bedingung dafür, dass Wolfs Text in der DDR überhaupt publiziert werden konnte. Monika Marons Roman Flugasche, der zuerst in der DDR-Literatur mit dem Tabu über ökologisch-politische Missstände auf der sozialistischen Seite brach, konnte dagegen 1981 nur in Westdeutschland erscheinen. Wolfs Störfall will demzufolge kein ›Tschernobyl-Text‹ sein – und setzt dennoch alle Informationen, die das ausgesparte Geschichtszeichen konkretisieren, voraus.387 Dass indes jede Einlassung auf rezente Geschichte sich auf die vorgängigen Formen massenmedialer Informationsvermittlung beziehen muss, ist für Wolf keine triviale Einsicht. Im Essay Lesen und Schreiben hat sie 1968 die Situation der Prosa in der wissenschaftlich-medientechnischen Moderne auf eine Weise reflektiert, die Walter Jens’ fünf Jahre zuvor veröffentlichter Analyse

382 Vgl. Wolf: Kindheitsmuster, S. 240. 383 Vgl. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger. München 1999 (Werke Bd. 2), S. 83, S. 148. 384 Im Text heißt es lediglich an einer Stelle: »Wir schreiben das Jahr neunzehnhundertsechsundachtzig.« (Wolf: Störfall, S. 22). – Der Klappentext der Taschenbuchausgabe macht dagegen den Bezug auf »die verheerende Nachricht aus Tschernobyl« explizit: Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages. 5. Auflage München 1998. 385 Wolf: Störfall, [S. 10]. 386 Klaus-Dieter Schönewerk: Nachdenken über Geschichte und Zukunft menschlicher Vernunft. Christa Wolfs Prosaband ›Störfall‹ erschien im Aufbau-Verlag. In: Neues Deutschland 42. Jg. Nr. 101 vom 30. 4. 1987, S. 4. 387 Vgl. dazu auch Bodo Plachta: Schreiben nach Tschernobyl: Harald Muellers »Totenfloß« und Christa Wolfs »Störfall«. In: German Studies in India 12 (1988), S. 79 – 91, hier S. 82.

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Ereignisse und Texte

Der Schriftsteller und die Politik bis aufs einzelne Argument gleicht.388 Es ist die seit den 1950er Jahren beinah allgemein – von Dürrenmatt, Adorno oder Jens – geteilte ›Verdrängungs-‹ oder ›Entzugshypothese‹, gegen die auch Wolf die unersetzliche Leistung der Literatur in Stellung zu bringen sucht: »Der Kuchen Wirklichkeit, von dem der Prosaschreiber sich früher in aller Seelenruhe Stück für Stück abschnitt, ist aufgeteilt.«389 Dass der Neuigkeitswert von Nachrichten sich auf einen einzigen Punkt der Aktualität zusammenzieht, setzt die gegenwärtigen Bedingungen des Schreibens über zeitgeschichtliche Wirklichkeit, ihrer Argumentation zufolge, in einen Gegensatz zur literarischen Frühzeit der antiken Epik. Denn dort erschien jedes Ereignis noch retentional-›weitschweifig‹ genug, um die zuerst mündlich tradierte Erzählrede im Horizont der Aktualität zu verorten: Mag der wechselhafte Verlauf des Troianischen Krieges in entlegenen Gegenden der damals bekannten Welt noch nach Jahren als Neuigkeit durchgegangen sein – heutzutage wäre ein ähnliches verlustreiches Massaker schon nach Stunden im letzten Dorf durch die Nachricht von neueren Untaten verdrängt.390

In der medialen Gegenwart dagegen gerät das Feld der Zeitgeschichte nicht nur zum umkämpften Schauplatz konkurrierender, ›temporeicher‹ Informationen, sondern auch zum Schauplatz interdiskursiver Aufmerksamkeitsgewinne und Kompetenzverluste. »Schlag« auf Schlag büßt die literarische Prosa Aufgaben der Informationsvermittlung, der Geschichtsschreibung und der Gesellschaftsanalyse ein.391 Zwar habe die Prosa die »Entlastung von ihren Pflichten als Nachrichtenträger« ebenso gut überstanden wie die »Trennung von der Historie, der Geschichtsschreibung«, indem sie – bürgerlich geworden – dem »neu entdeckten Subjekt wichtige Dienste« leistete.392 Aber »[a]uch die Wissenschaften gewinnen gegen sie an Boden«, und »[s]elbst die Analyse der Gesellschaft, früher Domäne des Romanautors, wird jetzt planmäßig von ganzen Wissenschaftlerstäben besorgt, und anders wäre sie wohl auch nicht mehr zu leisten.«393 In der Abgrenzung fiktionalen Erzählens vom historistischen Diskurs kehrt Rankes Formel ›wie es eigentlich gewesen‹ wieder : »Wer also die Wahrheit lesen will, das heißt: wie es wirklich gewesen ist, der greift zu Tatsachenberichten, Biographien, Dokumentensammlungen, Tagebüchern, Memoiren.«394 In Hinsicht auf 388 Vgl. Jens: Der Schriftsteller und die Politik, sowie die Überlegungen dazu im Kap. II.2: »Poetik der Zeitgeschichte«. 389 Christa Wolf: Lesen und Schreiben, S. 471. 390 Ebd., S. 468. 391 Ebd., S. 468 f. – »Die Mittel der modernen Nachrichtentechnik schufen die Superinformation, deren Wesen das Tempo ist« (S. 468). 392 Ebd., S. 468 f. 393 Ebd., S. 471. 394 Ebd.

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die Möglichkeiten literarischer Prosa wiederholt auch Christa Wolf ein Argument, das Friedrich Dürrenmatt 1954 gegen die Geschichtstragödie eingewandt hat: »Das Letzte zu sagen: Die Wirklichkeit dieses Jahrhunderts selbst wendet sich gegen die Prosaschreiber. Sie ist phantastischer als jedes Phantasieprodukt.«395 In Hinsicht auf ihre Erzählung Kassandra, die den Trojanischen Krieg aus der Perspektive der keinen Glauben findenden Wahrsagerin und Priamos-Tochter thematisiert, formuliert Wolf die poetologische Prämisse, »die so durch und durch ›bekannte‹ Geschichte noch einmal mit einem großen Staunen – und […] mit großem Erschrecken an[zu]sehen.«396 ›Historisieren‹ heißt überraschenderweise hier einmal nicht: ›verfremden‹, sondern: diese historische Periode, weggeschoben und in ein Kampffeld anonymer gesellschaftlicher Kräfte verwandelt, wieder heranzurücken, die agierenden oder nicht agierenden Individuen – uns – noch einmal sichtbar zu machen und auf ihre Motive, ihre Verantwortlichkeit zu befragen …397

Es ist jedoch der Primat der technischen Bilder, der jedes geschichtliche Ereignis durchdringt, jede ›Neugier‹ nach Geschichten immer schon befriedigt und der Literatur vorweggenommen hat, ohne den Rezipienten erst die Entzifferung und imaginative Synthese abstrakter Zeichen zuzumuten: Bewegte Bilder auf Leinwand und Mattscheibe – was immer sie sonst auch leisten – schonen unsere Abstraktions- und Vorstellungskraft, die durch die winzigen abstrakten Symbole auf den Buchseiten herausgefordert wird. Die ursprüngliche menschliche Neugier auf Geschichten, die unsereins passieren können – ein Homer verdankte ihr seinen Zulauf –, wird sauber und perfekt, sogar überreichlich befriedigt: soviel Neugier kann kein Mensch dauernd in sich erzeugen, wie geschulte Techniker Tag für Tag stillen.398

Dass Nachrichten auch im modernen Informationszeitalter dennoch als Erzählanlässe fungieren können, hat Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel (1963) vorgeführt. Es ist »Die Nachricht« vom ersten bemannten Raumflug des Kosmonauten Juri Gagarin am 12. April 1961, die – hervorgehoben durch Versalien – im Text wiederholt angekündigt wird, bevor ihr Inhalt explizit gemacht wird:399 »Wißt ihr’s schon?« sagte er, gar nicht besonders laut. »Seit einer Stunde haben die Russen einen Mann im Kosmos.« 395 396 397 398 399

Ebd., S. 471. Wolf: Subjektive Authentizität, S. 793. Ebd. Wolf: Lesen und Schreiben, S. 469. Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sonja Hilzinger. München 1999 (Werke Bd. 1), S. 191, 192, 193, 194, 195.

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Ich sah die Wolken und ihre leichten Schatten auf der fernen, lieben Erde. Für einen Moment erwachte in mir der Bauernsohn. Der vollkommen schwarze Himmel sah wie ein frischgepflügtes Feld aus, und die Sterne waren die Saatkörner. Wann hörte die Stille auf, die dröhnend den Worten des Jungen folgte? Danach bekam alles, was bisher geschehen ist, seinen Sinn: daß ein Bauernsohn den Himmel pflügt und Sterne als Saatkörner über ihn verstreut …«400

Zwar wird der gerade technologisch erweiterte Horizont mit dem kursiv gesetzten, in den Erzähltext hineinmontierten Zitat des Kosmonauten interpretierend geschlossen: Das Ereignis verleiht »alle[m], was bisher geschehen ist, seinen Sinn« – nämlich einen, der den triumphalen Technizismus des sowjetischen Weltraumprogramms mit der Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaats zusammenschließt. Doch während jedermann in der auf die Nachricht folgenden Stille dem »neuen Ton lauschte, den man da also, in diesen Minuten, dem wohlbekannten Erdenkonzert hinzugefügt hatte«, forscht das rhetorische Fragen der Erzählstimme der radikalen Aufkündigung der Vertrautheiten im ›kosmischen‹ Maßstab nach, die das Ereignis zeitigt: Wohlbekannt? Fuhr nicht der Schatten der blitzenden Kapsel da oben wie ein Skalpell quer über alle Meridiane und schlitzte die Erdkruste auf bis auf ihren kochenden rotglühenden Kern? War sie das denn noch, die Runde, Bedächtige, die mit ihrer lebenden Last gemächlich durch das All trudelte? Wurde sie nicht mit einem Schlag jünger, zorniger durch die Herausforderung ihres Sohnes?401

* Es ist »die Nachricht« vom Störfall in einem Atomreaktor, die – erneut im Druckbild durch Versalien hervorgehoben und von der Icherzählerin ebenfalls akustisch, allerdings »aus dem kleinen Radiogerät Marke Sanyo […] empfangen« – den Ausgangspunkt von Christa Wolfs Erzählung Störfall. Nachrichten eines Tages bildet.402 Dass die Erde durch die Leistung der weltraumtechnologisch angewandten Physik »bis auf ihren kochenden rotglühenden Kern« hin verletzt und durchdrungen werden könnte, wie es in Der geteilte Himmel heißt, kehrt in Störfall in der Vorstellung vom »Reaktorkern« wieder, der »sich durch den Erdmittelpunkt schmelzend, aktiv bleiben [kann], bis er, verwandelt sicherlich, aber immer noch strahlend, bei den Antipoden wieder herauskäme.«403 Auch direkt nimmt Störfall auf die Raumfahrt Bezug, wenn die Erzählerin den »Turm mit Raketenantrieb« in den Kontext der babylonischen Hybris stellt, 400 401 402 403

Ebd., S. 196. Ebd. Wolf: Störfall, S. 15. Ebd., S. 15 f.

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während sich auf die »basic language« des fortschrittsoptimistischen Countdowns ein jeder versteht: »Five – four – three – two – one – zero! Nur manchmal stürzen die Türme wieder herunter, mit ihrer blutigen Fracht –«.404 In der Korrespondenz der Bildvorstellungen, durch die dem mehr als zwanzig Jahre vorausliegenden Text ex post eine vorwegnehmende Signifikanz zuwächst, zeigt sich auch eine semantische Rückwirkung des Ereignisses an, von der Wolfs Erzählung selbst Rechenschaft gibt: Indem es die Zeichen der bisher verwendeten – literarischen wie außerliterarischen – Rede neu semantisiert, betrifft das Ereignis ›Tschernobyl‹ die Sprache des Alltags ebenso wie die Sphäre der Dichtung. Zu meiner Großmutter Zeiten hat man sich unter dem Wort »Wolke« nichts anderes vorstellen können als kondensierten Wasserdampf. Weiß, womöglich, ein mehr oder weniger schön geformtes, die Phantasie anregendes Gebilde am Himmel. Eilende Wolken, Segler der Lüfte / Wer mit euch wanderte, wer mit euch schiffte …405

Technische Eingriffe in die Natur implizieren semantische Eingriffe in die Sprache: »Der strahlende Himmel. Das kann man auch nicht mehr denken.«406 Störfall ist nicht nur mit solchen Beobachtungen zur Bedeutungsverschiebung idiomatischer Ausdrücke durchsetzt, sondern unterzieht auch den literarischen Kanon einer katastrophensensibilisierten Revision. Die Erzählung deutet das Ereignis als Zäsur, da es als Eintrag in der zeitgeschichtlichen Chronologie auch die subjektive Zeit in ein »Vorher und Nachher« aufteilt.407 Es storniert nicht nur die Verheißung technischer Beherrschbarkeit der Natur, sondern revidiert das menschliche Naturverhältnis insgesamt und trennt damit zugleich die Sprachund Literaturgeschichte semantisch auf. Die ›naiven‹ oder mythischen Naturbezüge von der Aufnahme des auferstehenden Christus durch eine Wolke408 bis zu Kinderreimen auf der einen,409 die deutschsprachige Natur- und Liebesdichtung von Goethes Mayfest bis zu Bertolt Brechts Erinnerung an die Marie A. (»war eine Wolke, die ich lange sah«)410 auf der anderen Seite belegen jenen unvorhersehbaren Zuwachs an Bedeutsamkeit, der mehr als Verlust denn als Gewinn registriert wird; denn das katastrophale Ereignis treibt dem Vokabular 404 405 406 407 408 409

Ebd., S. 89. Ebd., S. 19. Ebd., S. 30. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 56. Ebd., S. 46: »Es regnet, Gott segnet / Die Erde wird naß / Da freun sich die Kinder / Da freut sich das Gras«. 410 Ebd., S. 60: »… war eine Wolke, die ich lange sah / sie war sehr weiß und ungeheuer oben / und als ich aufsah war sie nimmer da …« Vgl. Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A. In: ders.: Werke. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 11: Gedichte 1. Sammlungen 1918 – 1938. Berlin und Weimar, Frankfurt/M. 1988, S. 92 f., hier S. 92.

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seine Unschuld aus. Sub specie eventus werden die Zeichen als Vorboten der technologischen Katastrophe lesbar.411 Die Erzählrede zitiert indes mit Stephan Hermlins Die Milch (»O Milch unfrommer Denkungsart, bittrer Trank«412) auch ein Gedicht an, das den Bezug zu den Risiken des Atomzeitalters schon früher explizit hergestellt hat: »Wissenschaftler stellten fest, daß Strontium 90 über die aus radioaktiven Weiden stammende Milch in den menschlichen Organismus gelangt und Leukämie hervorruft.« Hermlins Gedicht thematisiert einerseits die semantische ›Entstellung‹ bis zum Beginn des Atomzeitalters verdachtsloser Bilder und Begriffe, während es andererseits den chemischen Namen des Strontium 90 (90Sr), das sich durch Atomwaffenversuche, aber auch infolge des Reaktorunfalls von Tschernobyl in der Biosphäre anreichert und mit einer Halbwertszeit von 28,8 Jahren noch lange nachweisbar bleibt, dem Lexikon einer dezidiert zeitgenössischen und informierten Lyrik hinzufügt. Zu der These, dass sich mit der abstrakten Sprache der Naturwissenschaft ästhetisch nichts anfangen lässt, tritt das Gedicht den Gegenbeweis an, indem es auch für Strontium einen Reim findet: Ein seltsames Gras wächst auf im grünen Feld. Ein neuer Regen hat es da benetzt. Es weiden Herden unterm Wolkenzelt. Was ist euch, dass ihr euch darob entsetzt? Hier wächst die Milch heran, die Kinder nährt. Sie sind kaum da. Doch ihre Zeit ist um. Einst mütterliche Milch, die sie versehrt, O du, tückisch durchblüht vom Strontium … Wer mit den Seuchen da zu Rate saß, Ehe mit seiner Raubwelt er versank, Plante Mißwuchs und Tod in einem Glas Voll weißer Milch. Die macht Gesunde krank. Wer hat in Gift gekehrt dich? Wer? Und was? O Milch unfrommer Denkart, bittrer Trank …413

Es handelt sich nicht um das einzige Gedicht des (nach der Wiedervereinigung aufgrund seiner Kontakte zur Staatssicherheit diskreditierten und entkanonisierten) Lyrikers und DDR-Nationalpreisträgers Hermlin, das sich kritisch mit der auch von der Sowjetunion verfolgten atomaren Aufrüstung auseinander setzt. Im 1957 entstandenen Sonett Die Vögel und der Test stellt gleichfalls eine 411 Vgl. Wolf: Störfall, S. 35, wo es über die blaue Farbe des Himmels an einem »der schönsten Tage des Jahres« (ebd., S. 27) heißt: »Allein der Verdacht […] macht es, daß die unschuldige Himmelfarbe diesen giftigen Ton annimmt. Der bösartige Himmel.« 412 Ebd., S. 25. 413 Stephan Hermlin: Die Milch. In: ders.: Gesammelte Gedichte. München, Wien 1979, S. 62.

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als Motto verwendete Zeitungsmeldung den Ausgangspunkt der lyrischen Einlassung dar, die aus spröden Informationen ästhetisch-politische Appellationskraft zieht: »Zeitungen melden, daß unter dem Einfluß der Wasserstoffbombenversuche die Zugvögel über der Südsee ihre herkömmlichen Routen ändern.« Von den Savannen übers Tropenmeer Trieb sie des Leibes Notdurft mit den Winden, Wie taub und blind, von weit- und altersher, Um Nahrung und um ein Geäst zu finden Nicht Donner hielt sie auf, Taifun nicht, auch Kein Netz, wenn sie was rief zu großen Flügen, Strebend nach gleichem Ziel, ein schreiender Rauch, Auf gleicher Bahn und stets in gleichen Flügen. Die nicht vor Wasser zagten noch Gewittern Sahn eines Tags im hohen Mittagslicht Ein höhres Licht. Das schreckliche Gesicht Zwang sie von nun an ihren Flug zu ändern. Da suchten sie nach neuen sanften Ländern. Laßt diese Änderung euer Herz erschüttern …414

»Vielleicht ist es nicht die dringendste Frage, was wir mit den Bibliotheken voller Naturgedichte machen«, überlegt die Erzählerin in Störfall:415 »Nun aber […] durfte man gespannt sein, welcher Dichter es als erster wieder wagen würde, eine weiße Wolke zu besingen.«416 Das Ereignis, das zur Neusemantisierung eingeführter naturlyrischer Wörter zwingt, habe »die weiße Wolke der Poesie ins Archiv gestoßen«:417 Während der ›Störfall‹ Teile des literarischen Kanons aus dem aktiven Funktionsgedächtnis der Poesie exiliert, weil ihre Zeichen ›unbrauchbar‹ geworden sind und der Selbstverständigung im atomaren Zeitalter nicht mehr gerecht werden, schreibt sich ›Tschernobyl‹ als symbolischer Name der aktiven sozialen Erinnerung auf unbestimmte Dauer ein. Der technische Störfall wird demzufolge auch zu einem Störfall der Sprache. Die Sprache, in der die zahlreicheren Beispiele assoziativ herbeizitierter Naturlyrik verfasst sind, weiß freilich von der semantischen Kontamination ihrer lexikalischen Symbolträger noch nichts. Dass ihre Begriffe überhaupt ins semantische Strahlungsfeld des Ereignisses geraten, liegt nicht zuletzt an einer Wortverlegenheit, die der Unvorstellbarkeit der Ereignisfolgen der atomaren Katastrophe entspricht: »Daß wir es ›Wolke‹ nennen, ist ja nur Zeichen unseres 414 415 416 417

Stephan Hermlin: Die Vögel und der Test. In: ders.: Gesammelte Gedichte, S. 64. Wolf: Störfall, S. 44. Ebd., S. 61. Ebd.

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Unvermögens, mit den Fortschritten der Wissenschaft sprachlich Schritt zu halten.«418 Weil die Wirkung des katastrophalen Ereignisses unterhalb der Schwelle der Anschaulichkeit liegt, auf die die kommunikativen Symbole der Alltagssprache wie der Poesie gemünzt sind, zwingt es, wie schon Pausewangs Jugendroman Die Wolke registriert, auch die Erzählerin in Wolfs Störfall-Text zum Erlernen eines neuen, physikalisch-technischen Vokabulars, das die ›veralteten‹ Zeichen des präatomaren Zeitalters durch eine ›angemessene‹ Terminologie ersetzt: »Während du schläfst, lieber Bruder, lerne ich neue Wörter.«419 »Ein neuer Name für Gefahr wird in Umlauf gesetzt: Jod 131.«420 »Halbwertszeit, lernen die Mütter heute. Jod 131. Caesium.«421 Die Zumutung der wissenschaftlichen oder technokratischen Sprache aber betrifft besonders das Sprechen aus dem Abseits der urbanen Räume, in dem die Veränderungen der modernen Lebenswelt weniger spürbar sind und deshalb sprachliche Traditionalismen sich festsetzen können: »Auf dem Lande ist man immer in Gefahr, auf veraltete Vokabeln zurückzugreifen.«422 »Noch fliegt die Graugans, spaziert der Storch / Durch unvergiftete Wiesen. / Ach, die Wolken / Wie Berge fliegen sie über die Wälder«, hatte Sarah Kirsch ein knappes Jahrzehnt zuvor, aber bereits im Horizont der seit den siebziger Jahren aufkommenden Ökologiebewegung, in ihrem Gedicht Im Sommer (1977) geschrieben. »Wenn man hier keine Zeitung hält / Ist die Welt in Ordnung.«423 Die Schönheit des ländlichen Ortes, die durch die nachbarschaftlichen Vertraulichkeiten sozial abgerundet wird, und des Frühlingstages, der »makellos […] bis zu seiner letzten Minute« bleibt, wird auch in Wolfs Erzählung breit entfaltet. Wie der locus amoenus seit dem Mittelalter über ein festes Inventar topischer Elemente verfügt, gehört zur festen Topik des eventum terribile offenbar, dass das katastrophische Ereignis buchstäblich ›aus heiterem Himmel‹ eintrifft: Die zahllosen Verweise auf den makellos blauen Himmel am Morgen des 11. September 2001 bestätigen die Festigkeit dieser Assoziation. Dass der Erfahrungsraum, in dem die Erzählfigur ihre Sprechposition be418 Ebd., S. 36. – Wilfried F. Schoeller hat in seiner Besprechung die »Blässen dieser Prosa« kritisiert, die ihren »objektiven« Grund in der mangelnden »literarischen Anschaulichkeit« des Ereignisses hätten und ihren subjektiven Grund in der fehlenden Teilhabe der Autorin an der differenzierten Diskussion über die Gefahren der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR. Dass Wolfs Erzählung mit einem Tabu der DDR-Literatur gebrochen habe, das »Umweltprobleme und Naturzerstörung« als nicht literaturfähige Gegenstände behandelte, rechnet er der Erzählung hingegen an. Wilfried F. Schoeller : Ein Tag wie keiner davor. Christa Wolfs Prosa über den Störfall. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 87 vom 14. 4. 1987, S. 53 (Beilage »Literatur«). 419 Wolf: Störfall, S. 14. 420 Ebd., S. 24. 421 Ebd., S. 35. 422 Ebd., S. 18. 423 Sarah Kirsch: Im Sommer. In: diess.: Sämtliche Gedichte. München 2005, S. 153.

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zieht, vom ›Störfall‹ des Reaktors in unbestimmt weiter Ferne auf nicht wahrnehmbare Weise deformiert wird, hat seinen Grund in der angesprochenen, spezifisch paradoxen Struktur des Ereignisses selbst. Denn es stellt sich eben nicht als vertikal-gewalthafter Einbruch dar, sondern vor allem als abstrakte Bedrohung einer langfristigen chemophysikalischen Kontamination, die im Übrigen mehr aus der Nachricht emaniert als aus dem Ereignis selbst; schließlich hat dessen unsinnliche Wirkung die ostdeutsche Region noch gar nicht erreicht. Indem es sich aber auf die zeitliche Horizontale verlegt, auf der es zukunftsgerichtete Ängste und Erwartungen hervorruft, ›stört‹ das Ereignis auf nachhaltige Weise die andauernde Normalität, statt sie mit einem Mal zu zerstören. Indem es die Kontinuität nicht radikal unterbricht, wird das Ereignis zum ›Störfall‹ eines verlässlich geglaubten Konzepts von Normalität. Der Erzählbericht ist daher durch eine äußere Ereignislosigkeit geprägt, die zusammen mit dem bedächtigen, verlangsamten Beobachtungs-, Beschreibungs- und Reflexionsprozess der Erzählfigur etwa Peter Handkes Nachmittag eines Schriftstellers (1987) näher steht als der dramatischen Inszenierung eines Ereignisses. Dass sich am nirgendwo genauer bezeichneten Datum dieses Tages die größte Katastrophe in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie ereignet hat, teilt sich der empirischen Welt der Erzählerin nur auf medial vermittelte Weise mit. Dieses Nebeneinander von Idylle und Katastrophe, das die Grundstruktur von Wolfs Erzählung prägt, hat bereits Bertolt Brecht 1938 im Rahmen seiner poetologischen Begrifflichkeit als »Verfremdungseffekt« beschrieben – und zwar anhand von Pieter Breughel d. Ä. Gemälde Der Sturz des Ikarus (oder Landschaft mit dem Sturz des Ikarus; Abb. 9), auf dem das katastrophale mythische Ereignis wie ein bloß hinzugefügtes, eher unauffälliges Ornament der Darstellung ländlich-rustikalen Lebens erscheint. Im ›Sturz des Ikarus‹ überfällt etwa die Katastrophe die Idylle in solcher Art, daß sie sich höchst deutlich absetzt und daß auch über die Idylle wertvolle Einsichten entstehen. Er erlaubt der Katastrophe nicht, die Idylle zu verändern; vielmehr wird diese, selbst unverändert bleibend, nach wie vor unzerstört erhalten, lediglich gestört.424

424 Bertolt Brecht: Verfremdungseffekt in den erzählenden Bildern des älteren Breughel. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22: Schriften 2, Teil 1. Berlin und Weimar, Frankfurt/M. 1993, S. 270 f., hier S. 270. – Auf diesen Bezug macht bereits Horst Nalewski aufmerksam: Ernstfall: Störfall. Woraufhin schreiben? Fragen eines Jahrzehnts. In: Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Studien, Dokumente, Bibliographie. Hg. von Angela Drescher. Frankfurt/M. 1990, S. 270 – 291, hier S. 284.

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Christa Wolfs Erzählung beschreibt einen »Störfall«, der auf die beschriebene Normalität der provinziellen Idylle vergleichbar verfremdende Rückwirkungen hat, wie sie Brechts Überlegungen zur Geltung bringen. Wären nicht die technischen Medien des Informationszeitalters, würde auch das Abseits der technisch-politischen Geschichte nicht so bald vom Ereignis erreicht. Die Nachrichten aber überholen die molekulare Wolke, die alle topografischen und politischen Grenzen indifferent überstreicht. Wie das Ereignis jedoch das Lexikon der lyrischen Sprache semantisch unterwandert, höhlt es auch den Boden der Idylle so aus, dass sie einen Abgrund an Gefährdung preisgibt.

Abb. 9: Pieter Breughel der Ältere, Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, 1558. Öl auf Leinwand, 73,5 x 112 cm (Ó Königliche Museen der Schönen Künste von Belgien, Brüssel. Foto: J. Geleyns)

3.2

Zerstreuung und Verdichtung

Der ländlich abgelegene Standort in Wolfs Erzählung ist längst von den technischen Informationsmedien in einen beliebigen Ort jener globalen MedienPeripherie verwandelt worden, die jeden Beobachterstandpunkt in Bezug auf das Ereignis in gleiche Nähe rückt. Wie die chemophysikalische Ausstrahlung lässt auch die mediale Ausstrahlung des Ereignisses einen exterritorialen Standpunkt nicht zu. Dass die Beobachtungs- oder Empfängerposition der Erzählerin in Störfall dabei auf dem Gebiet der DDR liegt, ist eine vernachlässigbare Koordinate: Viel mehr, als die sowjetischen Staatsmedien über die Katastrophe verlautbarten und die Medien der DDR ihre Empfänger wissen ließen, wusste und sah man auch in den westdeutschen, in den meisten Regionen Ostdeutschlands gleichfalls zu empfangenden Medien nicht. Wenn also die Blicke der Medienteilhaber »in den beiden Ländern sich abends auf dem Bild-

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schirm vereinen«,425 sehen alle dasselbe: Zu sehen gab es am Tag der Katastrophe allerdings nichts. Erst zwei Tage nach dem Ereignis »haben sie auf mehreren Fernsehkanälen zum ersten Mal den Umriß des Reaktors gezeigt, ein Schema, das sich uns mit der Zeit ebenso einprägen müßte wie das Symbol des Atompilzes.«426 Gerade in der Überschätzung, die dem ersten, realzeitlich verspäteten Bild sogleich den Status eines ikonischen Archetyps oder ›Ikonotopos‹ des atomaren Zeitalters zumisst, bestätigt sich der Primat der technischen Bilder. Die Bilder sind offenbar vorlaut: Noch das nachgereichte Bild überholt jede frühere Form der Information. Dass das Ereignis die Normalität affiziert, während es die Lebenswelt der Erzählfigur äußerlich unberührt lässt, bezeugt die Erzählstimme gleich im ersten Satz durch das ungewöhnliche grammatische Tempus des zweiten Futurs: Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann, werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein. Ich werde vermieden haben, zu denken: »explodiert«; die Kirschbäume sind explodiert, wie ich es noch ein Jahr zuvor, obwohl nicht mehr ganz unwissend, ohne weiteres nicht nur denken, auch sagen konnte.427

Es entspricht der nachhaltigen Gefährdung durch die – den ›geteilten Himmel‹ auf unwillkommene Weise überwindende – radioaktive »Wolke«, dass das Ereignis nicht in der akuten Tempusform des Präsens, sondern in der grammatischen Form der antizipierten Nachträglichkeit eingeführt wird. In der Grammatik klingt ein Interpretament apokalyptischer Weltauffassung an, für die selbst das absolute Ereignis des Endes immer schon gewesen ist.428 Von Anfang an stellt der literarische Text dem ›unfassbaren‹, in vorläufigen Nachrichten, prognostischen Hochrechnungen und Befürchtungen zerstreuten Ereignis seine eigenwillige Zeitbehandlung entgegen. Von einem »Rückzugsgefecht gegen konkurrierende Nachrichten-Medien«, wie Horst Nalewski meinte,429 kann schon deshalb keine Rede sein, weil deren Informationen selbst eher unbestimmt und unanschaulich sind. Während das Ereignis, statt sich in akuter Präsenz zu manifestieren, sich vielmehr auf der horizontalen Zeitachse zerstreut, verdichtet die Erzählung das Datum seines Eintreffens; dass sie seine kalendarische Stelle nicht präzisiert, hängt nicht zuletzt mit dieser Verdichtung zusammen. Die Erzählstimme antizipiert nicht nur wie in den einleitenden Sätzen Zukunft als Vergangenheit, sondern konzentriert vor allem die Infor425 Wolf: Störfall, S. 104. – Jörg Magenau hält in seiner Wolf-Biografie fest, dass »die Bevölkerung der DDR« sich »über die Medien der Bundesrepublik« über das Ereignis informierte. Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie. 2. Auflage Berlin 2002, S. 343. 426 Wolf: Störfall, S. 104. 427 Ebd., S. 13. 428 Vgl. Frank: ›Die eigentliche Zeit in der Zeit‹, sowie die Überlegungen zur ›Defuturisierung der Zukunft‹ in Kap. II.3: »Das Apriori der technischen Bilder«. 429 Nalewski: Ernstfall: Störfall, S. 277.

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mationen, Reflexionen und Erfahrungen vieler Wochen zwischen dem Morgen und dem Abend »eines Tages« im April; ohne Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit drängt der Text alle Nachrichten und Gedanken, die seine Entstehung zwischen Juni und September bedingen und begleiten,430 auf die »Nachrichten eines Tages« zusammen. Nicht nur die um Tage verspäteten Bilder können ihnen deshalb eingefügt werden, sondern sogar die Nachricht vom Ausstieg des amerikanischen Atomphysikers Peter Hagelstein aus der Forschung am SDIRaketenabwehrprogramm, die »[f]ast fünf Monate nach jenem Tag, den ich hier immer noch beschreibe,« in den Zeitungen erschien.431 Angesichts der Anonymität des subjektlosen ›Störfalls‹ gewinnt diese Nachricht ihre Signifikanz, indem sie im wissenschaftlich-technischen System ein Subjekt namhaft macht, dessen ethisch autonome Verantwortlichkeit im ›Atomzeitalter‹ gar nicht mehr vorgesehen schien. – In stark verkleinertem Maßstab imitiert die zeitlich-mimetische Unwahrscheinlichkeit dieses »eine[n] Tages« letztlich die (Un-) Wahrscheinlichkeit des Störfall-Ereignisses selbst: Mit der Kernschmelze im Reaktor sind auch die auf Jahrtausende ausgelegten Wahrscheinlichkeitsrechnungen hinsichtlich des GAUs auf ein diskretes Datum zusammengeschmolzen. Die ereignishafte Realisierung des Restrisikos diskreditiert die Stochastik als Glaubensform des wissenschaftlich-industriellen Fortschritts: »Zehntausend Jahre sind eingeschmolzen auf diesen Tag.«432 Während das Ereignis sich einerseits durch die jahrzehntelange Kontamination großer Teile Europas in die Zukunft ausspannt, zieht es andererseits die langfristige Risikoprognostik, die in Jahrtausenden denkt, auf einen historischen Punkt zusammen. Im Horizont dieser extrem expandierten Zeit gewinnt der ›Störfall‹ die Qualität einer Zäsur – epoch¦ – innerhalb der Geschichte der wissenschaftlich-technischen Moderne: »Wieder einmal, so ist es mir vorgekommen, hatte das Zeitalter sich ein Vorher und Nachher geschaffen.«433 Diese Zäsur manifestiert sich weniger im Erleben als in einer Reflexion, die den Störfall als Markierung des Umschlags von zivilisatorischem Erfindungsgeist in Selbstzerstörung interpretiert. Im Datum der Katastrophe fallen Unwahrscheinlichkeit und Erwartung zusammen: »Nicht unvorbereitet, doch ahnungslos werden wir gewesen sein, ehe wir die Nachricht empfingen«, äußert abermals im zweiten Futur die Erzählerin. »War uns nicht, als würden wir sie wiedererkennen?«434 – Plötzlichkeit und Erwartung verbinden sich im Eindruck einer Anamnesis, welche den Erfahrungsmodus des nachrichtenvermittelten Chocks in Christa Wolfs Erzählung bestimmt: Was auch immer auf unvorhergesehene, ereignis430 431 432 433 434

Wolf: Störfall, S. 112. Ebd., S. 97. Ebd., S. 49. Ebd., S. 44. Ebd., S. 15.

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hafte Weise geschieht, wurde durch politisch-publizistische Diskurse oder die Bilder technischer Imaginationen meist zuvor bereits weitläufiger oder enger umkreist. Auch das Ereignis von Tschernobyl war längst in den Erwartungshorizont des Atomzeitalters eingetragen, bevor die Nachricht ihm Wirklichkeit verlieh; nur dass es ›jetzt‹, an jenem diskreten Datum des 26. April 1986, geschah, war von der mathematischen Katastrophenkalkulation nicht vor(her) gesehen. Und nur dies verleiht das Recht, gegenüber jeder Form vorwegnehmenden oder nachträglichen Wissens von einem Ereignis zu sprechen.

3.3

Poesie und technologisches Wissen

Es gehört zur Problematik der Literatur als Agentur gesellschaftlich kommunizierten Wissens, dass die Begriffe, mit denen naturwissenschaftlich-technologische Ereignisse wie ›Tschernobyl‹ angemessen zu beschreiben sind, in den Beständen ihres kulturellen Gedächtnisses nicht immer zu finden sind. Das Lernprogramm »neue[r] Wörter«,435 das die Erzählerin in Störfall absolvieren muss, legt davon Zeugnis ab. Das Verhältnis von Poesie und Wissen436 erweist sich für die Erzählung als konstitutiv. Hat zwischen beiden möglicherweise eine anfängliche Einheit bestanden, so hat der Prozess der Moderne nicht zuletzt mit der Ausformung disziplinenspezifischer Separatsprachen eine weitgehende Entfremdung zwischen ihnen bewirkt. Es ist die sprachliche Abbildung »neue[r] Informationen«, die »unaufhörlich« auf den »Erkennungsapparat« des menschlichen Gehirns einwirken,437 auf das ›alte‹ System kognitiv vertrauter Zeichensysteme, in der sich die Ungleichzeitigkeit zwischen wissenschaftlichtechnischem und literarischem Diskurs anzeigt. Aber dieser literarische Diskurs erweist sich in Wolfs Erzählung (wie etwa im zitierten Gedicht Stephan Hermlins) als durchaus gelehrig; er hält die Stelle offen, an der ›neue‹ Informationen mit ›alten‹ Beständen des Wissens in Beziehung treten können. Der literarische Diskurs stellt jedoch zugleich das Reflexionsmedium dar, um Chancen und Risiken, also Schau- und Rückseite technologischer Innovationsprozesse in Zusammenhang zu setzen. Dieser Konnex bildet über das Anlass gebende Ereignis hinaus das reflexive Einheitsmoment von Wolfs Erzählung: Denn die Reaktion auf die Nachricht vom Reaktorunfall von Tschernobyl konstituiert nur eine Seite der erzählerischen Reflexion; die andere bezieht sich auf die Hirnoperation des Bruders der Erzählerin, dem am gleichen Tag ein Hirntumor entfernt werden soll. Dieser Bruder wird als vertraute Bezugsperson der Er435 Ebd., S. 14. 436 Vgl. Heinz Schlaffer : Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990. 437 Wolf: Störfall, S. 36.

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zählerin schon in Wolfs Kindheitsmustern eingeführt. Die Erzählung parallelisiert somit die Hoffnung auf moderne, Leben erhaltende chirurgische Verfahren mit der Furcht vor einer Leben vernichtenden Katastrophe; aber ihre Pointe besteht darin, dass beide aus demselben technologischen Denken der Machbarkeit erwachsen sind: zwei »Angstfelder«,438 die durch die unaufhebbare Fehlbarkeit wissenschaftlicher Technologie wie handwerklicher Technik angelegt sind. Sie beleuchtet damit die grundsätzliche Ambivalenz eines technischen Fortschritts, dessen immense Produktivkräfte jederzeit auch proportionale Destruktivkräfte freisetzen. Bereits das Carl Sagans The Dragons of Eden (1977; dt. 1978) entnommene, im Text wiederholte Motto stellt die Beziehung zwischen beiden Aspekten her : »Die Verbindung zwischen Töten und Erfinden hat uns nie verlassen. Beide entstammen dem Ackerbau und der Zivilisation.«439 Es ist dieser Konnex, der den »blinden Fleck«440 der technologischen Moderne bildet und in den ›einzudringen‹ die Erzählrede als Aufgabe der Literatur postuliert.441 Systemtheoretisch betrachtet stellt sie damit eine zweite, aparte Beobachtungsebene bereit, die den wissenschaftlich-technischen Diskurs, der sich wie jeder andere nicht selbst beobachten kann, der Beobachtung zuführt (nur dass die Erzählerreflexion bei Wolf darüber hinaus ihre systemlogisch paradoxe Fähigkeit behauptet, auch den eigenen ›blinden Fleck‹ noch bewusst machen zu können). Indem er das Ereignis des ›Störfalls‹ mit dem neurochirurgischen Eingriff engführt, stellt der Text zwischen produktiven und destruktiven Potenzialen wissenschaftlicher Technologie einen anthropologischen Zusammenhang her, der auf die evolutiv-zerebralen Bedingungen des zivilisatorischen ›Fortschritts‹ überhaupt zurückführt. Es ist das »Wuchern des Gehirns«442 bis zum ›hypertrophen‹ kognitiven Niveau des homo sapiens sapiens, das – dem selbstzerstörerischen Tumor des Bruders analog – am Ende das Überleben der Gattung als Ganzer in Frage stellt: Hat unser übergroßer unbeschäftigter Gehirnteil sich in eine manisch-destruktive Hyperaktivität geflüchtet und, schneller und schneller, schließlich – heute – in rasender Geschwindigkeit immer neue Phantasien herausgeschleudert, die wir, unfähig, uns zu bremsen, in Wunschziele umgewandelt und unserer Maschinenwelt als Produktionsaufgaben übertragen haben?443

438 Schoeller : Ein Tag wie keiner davor. 439 Wolf: Störfall, S. 11; vgl. S. 67. – Vgl. Carl Sagan: Die Drachen von Eden. München, Zürich 1978. 440 Wolf: Störfall, S. 97; vgl. S. 111 u. ö. 441 Vgl. ebd., S. 97. 442 Ebd., S. 76. 443 Ebd., S. 77.

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Wenn es die moderne Neurochirurgie vermag, »die Schädeldecke einfach hochzunehmen wie eine Pudelmütze und sie später wieder aufzusetzen« (und damit einen materialistischen Erkenntnis-Topos realisiert, der schon in Büchners Dantons Tod angesprochen wird444), müssten sich auch Einblicke in die Struktur menschlichen Denkens gewinnen lassen, welche den katastrophalen Verlauf der Geschichte erklären können. Aber während die erzählende Reflexion versucht, in den ›blinden Fleck‹ des zivilisatorischen Fortschritts einzudringen, um die Verknüpfung von Erfindung und Zerstörung zu verstehen, erkennt sie ihre eigene Teilhabe daran. Auch Literatur ist das Produkt einer zerebralen Evolution, die derselben Logik gehorcht wie die Hervorbringung kernphysikalischer Erkenntnisse und deren Anwendung in Form einer überlebensriskanten Technik. Wie die wissenschaftliche Rationalität Erfindung und Zerstörung paart, sind auch »Schreib-Lust und Zerstörung«445 verkoppelt. Es ist die ethische Indifferenz der Kunst, der sich realer Wirklichkeit und realer Personen nicht minder rücksichtslos bemächtigt wie eine ihrer Autodynamik überlassene wissenschaftliche Technologie (auch wenn der Text jede direkte Referenz auf Personen wie auf das Ereignisdatum meidet446): Es liege »in der Natur der Sache, im Wesen des Lasters Schreiben […], daß es Rücksichten nicht kennt«.447 Der »eingreifende Schreibvorgang«, überlegt die Erzählfigur in theoretischer Nähe zu einer Formulierung Julia Kristevas,448 greift doch auch immer Menschen mit […], Personen, die durch die Beschreibung zu Betroffenen werden, sich beobachtet, aufgespießt, kategorisiert fühlen müssen, verkannt, in schlimmeren Fällen verraten, immer aber auf Distanz gebracht, um der gelungenen Formulierung willen, und dagegen weiß ich kein Mittel außer Schweigen, was das Übel von außen nach innen verlegt, dann also sich selbst weniger schonen als die anderen, wiederum Selbstbetrug.449

Es ist diese (ihn selbst einbeziehende) Rücksichtslosigkeit, die es dem literarischen Autor ermöglichen soll, sich »mitten hinein[zu]begeben in den blinden 444 Ebd., S. 17. – Vgl. Georg Büchner : Dantons Tod (1, 1). In: ders.: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörmbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Sinnen und Edda Ziegler. Nachwort von Werner E. Lehmann. München, Wien 1980, S. 7 – 68, hier S. 8: »Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« 445 Wolf: Störfall, S. 103. 446 Vgl. ebd. [S. 6]. 447 Ebd., S. 103. 448 Vgl. Julia Kristeva: Zu einer Semiologie der Paragramme. In: Strukturalismus als interpretatives Verfahren. Hg. von Helga Gallas. Darmstadt, Neuwied 1972, S. 163 – 200, hier S. 171: »›Lesen weist also auf eine aggressive Teilnahme, auf eine aktive Aneignung des anderen hin. ›Schreiben‹ wäre demnach ein zur Produktion, zur Tätigkeit gewordenes ›Lesen‹: Schreiben-Lesen (¦criture-lecture).« 449 Wolf: Störfall, S. 103.

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Fleck jener Kultur, der auch er angehört.«450 Das Modell dieser Literatur, die jenseits aktueller Informiertheit über Antriebe und Mechanismen des zivilisatorischen »Fortschritts« »Bescheid weiß«, findet die Erzählerin am Ende des erzählten Tages in der Lektüre von Joseph Conrads Herz der Finsternis (Heart of darkness, 1899)451 – dem schonungslosen literarischen Dokument einer rücksichtslosen Natur- und Menschenausbeutung in der zentralafrikanischen ›Wildnis‹ durch den Kolonialismus der westlichen Zivilisation. Die »›Wahrheit‹« des fiktionalen Textes besteht darin, dass seine Fortschrittsskepsis, »des Zeitgewandes entkleidet!‹,« auch um den ›Störfall‹ des Jahres 1986 gewissermaßen schon weiß. Und so ist es ein Satz dieses Textes, der, zwischen Vergangenheitstempus und gegenwartsbezogener Deixis oszillierend, das Nebeneinander von Idylle und Katastrophe als Darstellungsprinzip des zitierenden Textes schon oder noch einmal benennt: »Und auch dies ist einmal einer der dunklen Orte der Erde gewesen.«452

4.

Drama des zweiten Futurs: Harald Muellers Totenfloß

In der postapokalyptischen Welt, in dem Harald Muellers nur drei Monate nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl in der Zeitschrift Theater heute veröffentlichtes Drama Totenfloß spielt, ist das Ereignis der atomaren Verseuchung wie jeder Art von chemischer Verwüstung der natürlichen Lebensbedingungen, die das Ereignis vom 26. April 1986 vorerst nur anzukündigen schien, bereits geschehen. Die dramatis personae, Bewohner eines negativen Utopia, das sich in ›bewohnbare‹ und ›unbewohnbare Areale‹ (»BA« und »UA«) aufteilt, haben die drohende ökologische Apokalypse schon hinter sich: Muellers Drama zeigt Deutschland als einen fast vollständig verseuchten Raum, in dem nur mehr mit Waffengewalt bewachte Enklaven der Bewohnbarkeit existieren. In ihnen lebt eine überwiegend geklonte, posthumane Retorten-Spezies, deren Wächter – analog zu dem von Popper als totalitär kritisierten platonischen Staat –453 über die strikte Einhaltung festgelegter Verhaltensregeln und Grenzwerte der Kontaminierung wachen. An die Ereignisse selbst, die den topografischen Raum außerhalb der »bewohnbaren Areale« in ein verseuchtes vaste land verwandelt haben, kann sich von den vier Figuren des Stücks nur der älteste Überlebende Kuckuck, ein »Neunzehnhunderter«, der »bis zum Hals in einem Berg aus alten Schuhen« sitzend angetroffen wird, erinnern.454 Der aber leidet an einem 450 451 452 453 454

Ebd., S. 112. Ebd., S. 111: »Wie hat er Bescheid gewusst. Wie muß er allein gewesen sein.« Ebd., S. 109. Vgl. Popper : Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2, S. 304 – 328. Harald Mueller : Totenfloß. Ein Stück. In: Theater heute 7 (1986), S. 35 – 46, hier S. 38a.

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aphasischen »Atomtrauma«, wie der Paratext mitteilt,455 das die Ordnung der Zeit und der Erinnerungen durcheinander bringt, so dass die Bilder eines präkatastrophisch-paradiesischen Diesseits mit Erinnerungen an die Apokalypse und die Realität jenseits in seiner Rede unvermittelt wechseln: Die toten Bäume dort waren Eichen. Sie lebten lange. Und Buchen, Erlen, Fichten, Tannen. Dort bis zum Horizont war alles grün. Und Vögel gabs, Hunderte von Vögeln. […] Die ganze Lanschaft war clean und grün. So war es. Damals. Wirklich. Bis zur Katastrophe – Da, glotz die Latschen! Sie kamen alle hier vorbei. Noch Wochen danach. Ein endlos langer Zug von Menschen.456

Absichtsvoll ruft der Text das Bild des Berges von Schuhen als Imago systematischer Vernichtung auf, das im kollektiven Gedächtnis mit der nationalsozialistischen Shoah im Zusammenhang steht. Das Stück verzichtet auf kein Mittel der wirkungsästhetischen Intensivierung: Indem sie in der Vorstellungskraft der Zuschauer und Leser von der drohenden Katastrophe die Bilder des größten empirischen Grauens evoziert, sucht die Auslöschungsphantasie des Dramas der realen Auslöschung der Phantasie (»Die Phantasie ist ex«457) zuvorzukommen. In der Raumordnung, die Totenfloß entwirft, liegt die todbringende Barbarei, in der die letzten Überlebenden zu »reine[n] Überlebensmaschine[n]« degeneriert sind, im ›Außerhalb‹ waffenbewehrter Sicherheitszonen, die jeden kontaminierten Körper oberhalb festgelegter Belastungsschwellen über den »GROSSEN AUSSPUCKER« in die death zone exilieren.458 Bevor sie der sichere Tod ereilt, begeben sich die Figuren des Dramas jedoch auf eine Odyssee durch das ›Unbewohnbare‹ – auf einem Floß über den verseuchten Rhein hin zum utopischen Fluchtpunkt, dem ›cleanen‹, vermeintlich frei zugänglichen rheinischen Xanten; eine Irrfahrt, auf der sie schließlich als entindividualisiertes »Menschenknäuel« verenden.459 – Das auslösende Ereignis des kriegerischen Atomschlags indes, das sich »[g]anz plötzlich. Ganz unvermittelt. Ganz plötzlich und unvermittelt und unbegreiflich schnell« ereignet hat – »[i]ch sah durchs Kellerfenster den Himmel, und da, wo jetzt die bleiche Mondsichel steht, wuchs der rote Pilz« –,460 entzieht sich der Nachforschung, weil es offenbar durch ein ›System‹ ermöglicht wurde, das keine konkreten Entscheider und Verantwortliche kennt. »Die Dinge nahmen ihren Lauf –« kann der letzte Überlebende des zwanzigsten Jahrhunderts im Stück der hartnäckigen Nachfrage der Nachgeborenen nur entgegnen (Itai: »Warum habt ihr das alles kaputtgemacht?!«).461 Die postapokalyptische 455 456 457 458 459 460 461

Ebd., S. 38b. Ebd., S. 39a. Ebd., S. 46b. Ebd., S. 35. Ebd., S. 46c. – Der Fluchtort Xanten weist auf den Ausgangsort der Nibelungensage hin. Ebd., S. 43b. Ebd., S. 45a.

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Ereignisse und Texte

Landschaft, durch die das Totenfloß fährt, ist das Produkt einer konzertierten Katastrophe, in der sich zur allmählichen chemischen Devastierung der Natur der Nuklearkrieg bloß noch abschließend hinzuaddiert. Dass sich das absolute Ereignis der technologischen Apokalypse in der Verlaufsform einer »schleichende[n] Katastrophe« vollzieht – »man hat die Katastrophe abgestottert«, meinte Mueller dazu im Interview –;462 dass sie also die Zeitgenossen »[n]icht unvorbereitet, doch ahnungslos« traf, wie die Erzählerin in Störfall feststellt, entspricht nicht nur der paradoxen Horizontalität der Ereignisse im Atomzeitalter, sondern definiert auch den pragmatischen Appellationshorizont des Stücks: Noch wäre Zeit, ein Ereignis aufzuhalten, das jeder kommen sehen kann – und dessen point of no return, träte er ein, doch im vollen Sinn ›Ereignis‹ wäre, weil er die Geschichte menschlicher Kultur ein für allemal endigte. Zugleich aber stellt Muellers Totenfloß, indem es eine nachapokalyptische Situation vorstellt, die technologischen, radioaktiven und biochemischen Gefahren der Gegenwart auf den Modus sinnlicher Wahrnehmbarkeit um: Während die Gefahr der Katastrophe selbst noch im ereignishaften Moment, wie Christa Wolfs Störfall-Text dokumentiert, abstrakt bleibt, hat das Theater ihr bereits eine anschauliche Gestalt gegeben. Ad oculos stellen die zahlreichen Inszenierungen des Dramas den Zuschauern jene Risiken vor, die sich diskursiv bislang zu statistischen Prospekten abstrahieren; indem es deshumanisierte Opfer-Figuren in einer verwüsteten Wirklichkeit agieren lässt, demonstriert das Theater zugleich, wohin es mit dem technologischen Fortschritt zu kommen droht. In dieser anschaulichen Unmittelbarkeit bringt sich zugleich die gattungsspezifische Differenz zur Geltung, die Muellers Drama von Wolfs reflektierender Prosa trennt. Was die Zeit des Ereignisses angeht, stellt es aus der Perspektive der DramenFiguren bereits ein Vergangenes dar. Die Zeitkonstruktion des Dramas stellt die nukleare und biochemische Katastrophe in den Modus des zweiten Futurs: Was den Empfängern der Nachricht vom 26. April 1986 als apokalyptische Möglichkeit immer noch bevorsteht, wird für die Überlebenden des Jahres 2050 – so will es die dramatische Fiktion – bereits gewesen sein.463 Die vorweggenommene Erinnerung an die Zukunft, die das Stück der Figurenrede und -handlung überträgt, macht die dann endgültig entrückte, vorvergangene Welt, die mit der Gegenwart der Zuschauer identisch ist, zum Gegenstand eines schon fast ausgelöschten, dysfunktionalen Gedächtnisses. Das theatrale Spiel erinnert so an eine Erfahrungs-Gegenwart, deren unwiederbringliche Realität und Schönheit 462 Harald Mueller im Gespräch mit Peter von Becker und Michael Merschmeier : »Der Dramatiker muß den Instinkt für Mord besitzen«. Ein Theater heute-Gespräch. In: Theater heute 7 (1986), S. 1 – 9 und S. 12 – 17, hier S. 1c bzw. 2a. 463 Dass Mueller die Handlung im Jahr 2050 ansiedelt, geht aus seinem Interview hervor (ebd., S. 2a).

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buchstäblich auf dem Spiel steht. Es gehört zum Gemeinsamen ästhetischer Imaginationen einer postatomar verwüsteten Welt, an den Wert des präkatastrophisch Verlierbaren zu erinnern: »Weißt du’s noch, die grüne Stromschnelle, und wir wateten stromauf und die Angler saßen auf Klappstühlen auf der Brücke und schauten uns nach […].«464 Von der gewissermaßen entgegengesetzten Seite her – also von einer Gegenwart aus, die noch seltsam unversehrt gegen das Ereignis und die sich ankündigende Katastrophe absticht – hat auch Christa Wolfs Störfall-Text die Schwere dieses drohenden Verlusts vorausblickend in Erinnerung gebracht: »Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen«, lautet der letzte Satz ihrer Erzählung.465

4.1

Endzeit als Zitat

Muellers Totenfloß ist jedoch, anders als sein Publikationsdatum erwarten lässt, kein ›Tschernobyl-Stück‹: Seine Erstfassung wurde schon 1984 aufgeführt, und die in Theater heute publizierte Zweitfassung lag bereits im Januar 1986 vor. Dass der Münchner Aufführung unter der Regie von George Tabori im Oktober desselben Jahres bereits drei zeitgleiche Uraufführungen in Basel, Düsseldorf und Stuttgart vorausgingen und 17 weitere Inszenierungen folgten, belegt indes, dass die zeitgenössische Rezeption es dennoch als solches aufgefasst hat. Dem postapokalyptischen Drama stieß sein zeitgeschichtlicher Gegenstand gewissermaßen ex post zu; zugespitzt lässt sich sagen, dass nicht das Stück auf das Ereignis referierte, sondern das Ereignis auf das Stück. Statt dass das Drama ein aktuelles Ereignis repräsentierte, schien das Ereignis genau das zu repräsentieren, worum es in Muellers Drama geht. Statt der ›rollenden Weltgeschichte‹ nachzueilen, schien dieses Mal umgekehrt »die Wirklichkeit den Dramatiker eingeholt« zu haben.466 Dass aber die Wirklichkeit die Imagination der Kunst nachträglich einholt, überbietet den Aktualitätsanspruch des dramatischen Werks: Oscar Wildes Bemerkung, dass nicht die Kunst das Leben, sondern das Leben die Kunst imitiert, hat in Hinsicht auf diesen Zusammenhang inversiver Referenzierung schon der Regisseur George Tabori zitiert.467 Es ist das Ereignis von Tschernobyl, durch welches das in der Erstfassung bereits zwei Jahre zuvor entstandene Drama gewissermaßen neu gerahmt wurde: ›Tschernobyl‹ hat aus 464 465 466 467

Rabsch: Julius oder Der schwarze Sommer, S. 22. Wolf: Störfall, S. 112. Mueller : »Der Dramatiker muß den Instinkt für Mord besitzen«, S. 1a. »Paradox though it may seem – and paradoxes are always dangerous things – it is non the less true that Life imitates art far more than art imitates life …« Oscar Wilde: The Decay of Lying. In: ders.: The Complete Works. Vol. 4: Criticism. Ed. by Josephine M. Guy. Oxford 2007, S. 73 – 103, hier S. 90. – Vgl. George Tabori: Wir sind keine Götter. Brief an die Schauspieler des »Totenfloß«. In: Theater heute 7 (1986), S. 11, hier S. 11a

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dem 1985 zum »Stück des Jahres« nominierten Drama das »Stück zum Thema des Jahres« 1986 gemacht, dem die Zeitschrift Theater heute den Titel ihrer Juliausgabe widmete.468 Ihr Coverfoto zeigt indes nicht den »Umriß des Reaktors«, sondern den Wolkenpilz der atomaren Explosion, der seit Hiroshima und Nagasaki das emblematische Ikon des Atomzeitalters geblieben ist.469 Dass Muellers Stück sich auf das reale Ereignis des Jahres 1986 so wenig unmittelbar beziehen konnte wie auf den Zustand nach der Katastrophe, den es entwirft, bedeutet zugleich, dass es seine Referenzen außerhalb der rezenten Ereignisgeschichte suchen muss. Es findet sie – abgesehen von zahlreichen Informationen wissenschaftlicher und journalistischer Provenienz – in bereits vorliegenden literarischen und filmischen Prätexten, die die katastrophalen Möglichkeiten der Zukunft fiktional ausloten. »I tell you: you and your readers don’t know what you are in for«, hält der Wissenschaftler dem Romancier am Ende von Hildesheimers Essay The End of Fiction entgegen.470 Diese Unvorstellbarkeit der machbar gewordenen Apokalypse wird in Muellers Drama durch einen Raum substituiert, der kein unmögliches mimetisches Abbild, sondern eher schon ein Echoraum (chambre d’¦cho, Roland Barthes) verschiedener textueller und filmischer Vorlagen, Ansichten und Stimmen ist. Indem es über den politisch-publizistischen Diskurs hinaus auf einen Vorrat ästhetischer Imaginationen zurückgreift, stellt das Drama zugleich seinen Kunstanspruch heraus. »Mir ging es nicht um ein platt-realistisches Drama, das Nachrichten aus der Zeitung bebildert, sondern um ein Stück, das auch in einem Kunstraum bestehen kann«, hat der Dramatiker Mueller selbst mitgeteilt.471 Tatsächlich ist Totenfloß nicht nur das Produkt informationsintensiver Recherchen, die an früheren ökokatastrophalen Ereignissen und ›Störfällen‹ wie dem Chemieunfall von Seveso am 10. 7. 1976 oder dem Reaktorunfall im amerikanischen Harrisburg am 28. 3. 1979 Maß nehmen konnten,472 sondern nicht zuletzt der Reflex einer ganzen Reihe von ästhetischen Texten und Filmen. Drei Jahre vor dem Reaktorunfall hatte Nicholas Meyers The day after (USA 1983) das Szenario einer postnuklear-apokalyptischen Welt entworfen, in der die durch Atomwaffen Verstrahlten in der völlig devastierten Umgebung von Kansas City – 468 Vgl. den Titel der Ausgabe von Theater heute 7 (1986). 469 Wolf: Störfall, S. 104. – Jörg Magenau hat dagegen in seiner Wolf-Biografie die Behauptung der Erzählerin in Störfall einfach übernommen, der zufolge das Bild des zerstörten Reaktors als »neues Symbol« den Atompilz abgelöst hat; vgl. Magenau: Christa Wolf, S. 344. 470 Hildesheimer : The End of Fiction, S. 139. 471 Mueller : »Der Dramatiker muß den Instinkt für Mord besitzen«, S. 17c. 472 »Ich habe mich gut ein halbes Jahr damit beschäftigt, was da schon alles entgleist, außer Kontrolle geraten ist und unser Leben bedroht: chemische Kontaminierungen, Müllager, verseuchtes Wasser, habe dann weitergedacht, hochgerechnet auf die Mitte des kommenden Jahrhunderts und mir überlegt, welche Auswirkungen das auf Menschen haben wird, auch im Psychischen, denn das ist bisher kaum untersucht worden.« (Ebd., S. 2a.)

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einem der Hauptstationierungsorte amerikanischer Interkontinentalraketen – um ihr Überleben kämpfen. Während dieser wie andere Filme und Texte das Panorama der atomaren Verwüstung entwerfen – Anton Andreas Guhas Ende. Tagebuch aus dem 3. Weltkrieg oder Udo Rabschs schon genannte Erzählung Julius oder Der schwarze Sommer (beide 1983) gehören hierher –,473 enthält der Wortlaut des Textes auch diskretere intertextuelle Anknüpfungen. Sie verweisen nicht zuletzt auf die ›kanonischen‹ Texte negativer Zukunftsentwürfe im zwanzigsten Jahrhundert zurück: Die »ZEHN GROSSEN GEBOTE« des postatomaren reststaatlichen Totalitarismus rufen die »slogans of the party« in George Orwells Zukunftsroman Nineteen eighty-four (1949) in Erinnerung, zu denen wie in Muellers Stück auch die Auslöschung der Erinnerung gehört.474 An derselben Stelle ruft das Drama aber auch Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1919) als Prätext auf; Itai sind diese Normen (anders als in der Ursprungsfassung) in den Rücken eingeätzt, von dem sie Checker abliest: Du sollst nicht lieben. Du sollst keinen andern Menschen berühren. Du sollst kein Tier berühren und keine Pflanze. Du sollst deine Nahrung mit dem Counter checken. Du sollst jede chemisch verseuchte Person anzeigen. Du sollst nicht über dein Leben nachdenken. Du sollst nicht fragen, was früher war. Du sollst keine alten Bücher lesen. Du sollst nicht fragen, warum du etwas sollst. Du sollst dem Vorstand gehorsam sein.475

Wie in Kafkas Erzählung lassen die buchstäblich ›inkorporierten‹ Gesetze, die Itai stets befolgt zu haben versichert, dem Beschuldigten keine Chance der Rechtfertigung oder Rehabilitation.476 »Die Schuld ist immer zweifellos«, heißt es in Kafkas Text.477 Mit der Fiktion der »Organjäger«, die nach dem Erinnerungsbericht der Dramenfigur Bjuti »im Jahr nach der Trinkwasserkatastrophe […] Nacht für Nacht unterwegs« waren, um »den Leuten das Fleisch aus dem Leib« zu schneiden,478 stellt sich ein Resonanzverhältnis zu Rainer Erlers Fernsehthriller Fleisch (1979) her, in dem ein junger Ehemann von Sanitätern entführt wird, damit ihm in einer Spezialklinik Organe entnommen und gewinnbringend über Organbanken an zahlungskräftige Patienten verkauft werden können. Die wiederholte Apostrophe an den »großen Bog« als anonyme, 473 Anton Andreas Guha: Ende. Tagebuch aus dem 3. Weltkrieg. Königstein/Ts. 1983. – Udo Rabsch: Julius oder Der schwarze Sommer. 474 Vgl. George Orwell: Nineteen eighty-four. London 1956, S. 7. 475 Mueller : Totenfloß, S. 36b-c. 476 »Ihr dürft mich nicht aus dem BA verjagen mit Nullkommavier PPM Cadmium! Das ist ungesetzlich!« Mueller : Totenfloß, S. 35. 477 Vgl. Franz Kafka: In der Strafkolonie. In: ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt/M. 1994 (Schriften, Tagbücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit), S. 201 – 248, hier insbes. S. 214 ff. 478 Mueller : Totenfloß, S. 41c.

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eher dämonische als göttliche Instanz spielt nicht nur auf Samuel Becketts En Attendant Godot (1953) an, sondern expliziter noch auf Anthony Burgess’ A Clockwork Orange (1962).479 Grundsätzlicher als mit diesen literarischen und filmischen Reminiszenzen spielt die Handlung des Dramas auf das Grimmsche Märchen Die Bremer Stadtmusikanten an, dessen Kontrafaktur sie darstellt: Indem Checker die Utopie verfolgt, in Xanten einen nichtkontaminierten, offenen Lebensraum zu finden, sammelt er – allerdings in eigennütziger Absicht – die Todgeweihten um sich. »In Xanten ist die Erde clean! In Xanten ist das Wasser clean! In Xanten sind die Winde clean!« lautet die am Ende der ersten, zweiten und sechsten Szene wiederholte Verheißung.480 Kuckucks Kommentar konterkariert jedoch die Chancen dieser märchenhaften Utopie in wortwörtlicher Nicht-Übereinstimmung mit dem Text, den er zitiert: »Etwas Bessres als den Tod wirste auch in Xanten nicht finden.«481 Nicht zuletzt ist es Ray Bradburys 1953 veröffentlichter Zukunftsroman Fahrenheit 451, den das Drama mit der Figur der Bjuti ins intertextuelle Spiel solcher nichtmarkierter Text- und Film-Referenzen einführt. Bjuti, teilt die Figur den anderen Dramen-Figuren mit, arbeitete vor ihrer Aussetzung im lebensfeindlichen Niemandsland als »Memory-Distroyer« und hat bei dieser Berufstätigkeit »Bücher, Bilder, Fotos, alte Dokumente«, kurz »[a]lle Memoris verbrannt«. Genau wie der Feuerwehrmann Monday in Bradburys Roman nach zwanzig Jahren organisierter Bücherverbrennung und Leservernichtung selbst zum Leser wird und sich am Ende zu einer im Verborgenen lebenden Gemeinschaft von Gedächtnis-Anarchisten durchschlägt, welche die in literarischen Dokumenten abgelegte kulturelle Erinnerung durch das Memorieren der verbotenen und verbrannten Schriften aus der Vergangenheit für die Zukunft zu retten versuchen,482 ist Bjuti vom poetophoben Saulus zum poetischen Paulus konvertiert:

479 Ebd., S. 38c: »Kuckuck Bog? Wer ist Bog? / Checker Wohnt hoch am Himmel. Schon dreimal gesehn. Ein nackter Globus voller Blut. Elfäugig, geritzt und gehäutet. Total asiatisch und hypermalad. In einer Kampfmaschine aus Blei. Steinern glotzt er auf uns herab. Wir sind der blutigste seiner blutigen Träume.« – Anthony Burgess: A Clockwork Orange. London 1972, S. 7 u. ö. Vgl. dazu auch Michaela Bürger-Koftis: Das Drama als Zitierimperium. Zur Dramaturgie der Sprache bei Harald Mueller. St. Ingbert 2005 (Ost-, mittel- und südosteuropäische Literatur-, Theater- und Sprachwissenschaft; 6), S. 237. 480 Mueller : Totenfloß, S. 38a und S. 39c, vgl. 44a. 481 Ebd., S. 39c. – Vgl. Die Bremer Stadtmusikanten. In: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hg. von Heinz Rölleke. Frankfurt/M. 1985, S. 137 – 140, hier S. 138. 482 Ray Bradbury : Fahrenheit 451. Bath 1988. – Neben dem Feuerwehrmann Monday wird auch die junge Leserin Clarisse, die Monday vom Wert der Bücher überzeugt, in Muellers Figur verschmolzen; vgl. dazu auch Bürger-Koftis: Das Drama als Zitierimperium, S. 235.

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Checker Und weshalb biste im Unbewohnbaren, Sister? Bjuti Ich habe in alten Büchern gelesen. Itai Verstoß gegen das achte Gebot! Kuckuck Alte Bücher kriegt man nicht mehr. Bjuti Zum Kaputtmachen schon. Itai Memory-Distroyer? Bjuti Bücher, Bilder, Fotos, alte Dokumente. Alle Memoris haben wir verbrannt. Kuckuck Ein schlimmer Beruf. Itai Und warum haste gelesen? Bjuti Vielleicht weils verboten war. Hirnrissiger Reiz! Dann wurde ich süchtig. Nach alten Wörtern, Bildern, Geschichten. Nach Stimmungen, Phantasien, Gefühlen. Und jetzt sperrt eure Schallöcher auf: Ich war ein einziges Verlangen und Sehnen, ein Zurückfließen in die Vergangenheit! Dasn Satz, eh? Wien verstreuter Stern inner endlosen Nacht. Ja, ich wollte alles über uns wissen und verschlang das Vergangene wie – wie ein Hungerbrot! Ha, heut bin ich aber really voll drauf!483

Mit dem gleichzeitig vereinigten und sich auflösenden »Menschenknäuel«, das am Ende des Dramas auf dem Floß in Richtung Meer hinaustreibt,484 zitiert der Text noch einmal einen dramatischen Referenztext, der bereits im Titel anklingt: Georg Kaisers Theaterstück Das Floß der Medusa (1940 / 43), das aus unmittelbar zeitgeschichtlicher Nähe die siebentägige Irrfahrt von dreizehn Kindern auf einem Rettungsboot im Jahr 1940 darstellt. Nachdem das Schiff, das sie aus England nach Kanada in Sicherheit bringen sollte, von den Torpedos eines deutschen Unterseeboots getroffen worden ist, kommt das rettende Flugzeug am Ende für zwei der Kinder zu spät: Wie »gekreuzigt« über die Ruderbank gestreckt treibt der von einem deutschen Flieger erschossene Allan mit der Leiche eines anderen Kindes, Füchslein, auf dem offenen Meer.485 Muellers Totenfloß stellt freilich schon im Titel klar, dass es für keine der vorgeführten Figuren eine Überlebenschance gibt. Während in Kaisers Drama noch eine gesellschaftlichhumane Umwelt (gegen das kriegführende Deutschland) existiert, welche die Überlebenden aufnimmt, ist in Muellers Drama die Katastrophe so vollständig und abgeschlossen, dass sie keine Zuflucht für die Flüchtlinge mehr übrig lässt. 483 Mueller : Totenfloß, S. 41b-c. 484 Ebd., S. 46c. 485 Kaiser : Das Floß der Medusa, S. 820. – Die intertextuelle Bezugnahme stellt den Dramenschluss allerdings nicht soweit in den Schutz des Zitats, dass es nicht als »peinlichkitschiges Sonnenuntergangsende« kritisiert werden konnte (Plachta : Schreiben nach Tschernobyl, S. 88). Mueller selbst hat von seinem Versuch gesprochen, mit Totenfloß »ein positives Stück zu schreiben. Natürlich nicht von dieser lächerlichen Positivität, die am Ende eines schrecklichen Geschehens die Liebenden Hand in Hand in die aufgehende Sonne schreiten läßt.« Gezeigt werde vielmehr »auch der Versuch der Figuren, gegen die Dunkelheit anzugehen, gegen die Angst sich zu behaupten und der Depression keine Chance zu geben.« Mueller : »Der Dramatiker muß den Instinkt für Mord besitzen«, S. 3c4a.

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Postapokalyptische Angstlust

Während ›Kuckuck‹ die Stimmen der ausgerotteten Vögel nachahmend zu »retten« versucht,486 sammelt und speichert Bjuti Wörter, um sie dem Vergessen zu entreißen (»[s]one Wörter dürfen nicht exgehn, Bodies!«487). Konsequent speist sich die Figurenrede, wie Mueller in einem Selbstkommentar offengelegt hat, »aus dem Fundus der letzten hundert Jahre«, auch wenn der positivistische Nachweis – möglicherweise aufgrund der Verfremdung der literarischen Vorlagen – nur ausnahmsweise zu führen ist.488 Wie der Dramentext als ganzer rechnet die Figurenrede ›mit den Beständen‹ (Gottfried Benn), die die Literaturgeschichte hinterlassen hat; deren Teile fügen sich jedoch keineswegs zu einer ästhetischen Ganzheit. Denn wie die Physiognomie des jungen Mädchens, dessen »linke Gesichtshälfte chemisch zerstört« ist, während »die rechte zeigt, daß es früher sehr schön war«,489 Schönheit und Hässlichkeit konfrontiert, trifft in der Rede der Figur poetische Rede auf eine depravierte ›Trümmersprache‹, übrig gebliebene Versatzstücke eines poetischen Codes auf eine regressiv-aggressive Mischung aus Anglizismen, technizistischem Jargon und Punk-Idiom. Durch ihre Doppelgesichtigkeit widerspricht die disparate Rede dem endzeitlichen anarchisch-technoiden Argot, in dessen Milieu der aussätzige Checker ausschließlich vegetiert. Dass Bjutis Rede dabei oft genug die Grenze zum Kitschigen berührt, mag der Entbehrung kritischer Maßstäbe im nachapokalyptischen Zustand der Sprache zugerechnet werden, wenn es nicht als literaturkritischer Einwand gegen das Drama selbst gewendet werden soll.490 Im Ganzen

486 Mueller : Totenfloß, S. 39a. 487 Ebd., S. 40b. 488 Harald Mueller : In unseren Augen spiegelt sich der Abgrund. In: Theater heute 13 (1987), S. 72 – 77, hier S. 74. – Zur Nachweisbarkeit des Zitatcharakters der Figurenrede vgl. Bürger-Koftis: Das Drama als Zitierimperium, S. 218 ff. Die letzten Worte in Bjutis Figurenrede und im Drama lassen sich allerdings als nur leicht verfremdetes Zitat identifizieren: »Meer, das früher war als mein Lied« (Mueller : Totenfloß, S. 46c) variiert einen Vers aus Saint-John Perses Mer de Bal, Mer de Mammon (Meer des Baal, Meer des Mammon), das sich in Hans Magnus Enzensbergers Anthologie Museum der modernen Poesie findet: »Mer ant¦rieure — notre chant« – »Meer, das früher war als unser Lied«. Vgl. Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Museum der modernen Poesie eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. Mehrsprachige Ausgabe. Frankfurt/M. 2002, S. 136 – 240, hier S. 236 bzw. S. 237. 489 Mueller : Totenfloß, S. 40a. 490 Vgl. etwa Plachta: Schreiben nach Tschernobyl, S. 88, der besonders das Ende des Stücks kritisiert. Der abgeänderte Schluss der Stuttgarter Aufführung, in der die Figuren am Leben und ihnen ihre Hoffnungen erhalten bleiben, verstärkt solche Einwände noch: »Am Ende, wenn die Familie gerettet ist und ihrer Hoffnung entgegentreibt, ist das Totenfloß endgültig in dem schwarzen Meer von saurem Kitsch versunken, das es so tapfer befahren hat.« Georg Hensel: Eine hypermalade Horrorschau. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 242 vom 18. 10. 1986, S. 25 (Hensels Titel bezieht sich auf die Figurenrede im Drama, vgl. Mueller : Totenfloß, S. 37c). – Zum Kitschvorwurf gegen Bjutis Poesie-Versatzstücke vgl. auch Mu-

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entspricht die Sprache von Muellers Figuren jedoch eher einer entgegengesetzten Tendenz: In ihrem Jargon bringt sich nicht zuletzt – wie schon in Muellers vorausgegangenen Dramen Großer Wolf (1968) und Halbdeutsch (1969) –491 eine anarchische, jede Norm negierende Sprachlust zur Geltung, die die Gestaltung der postapokalyptischen Welt in die Nähe der Groteske rückt. Dass apokalyptische Angst und ästhetische Angstlust keinen Widerspruch bilden,492 manifest sich auch in der Wirkung der Aufführungen von Muellers »hypermalade[r] Horrorschau«, die beim Publikum eher Amüsement als Chock hervorriefen, wie Georg Hensel in einer Rezension berichtet hat (»Jetzt’n Bier, Body!«).493 Denn die anarchische Entbindung von jeglichem Gesetz, die sich im imaginierten Jenseits von Gesellschaft und Geschichte frei entfalten kann, stimmt mit einem modernen Kunstbegehren überein, das jegliche normative Regel als ästhetische Fessel abhorresziert: Am »Heimweh nach der Barbarei«, das die Zivilisation letztlich umtreibt und das dem Drama vorangestellte Zitat Êmile M. Ciorans ausdrücklich benennt, hat das Drama auch in ästhetischer Hinsicht teil.494 Auch Totenfloß steht damit in einer Tradition von Texten, die Dürrenmatts ästhetischen Folgerungen zur Literatur im ›Atomzeitalter‹ entspricht. In der Durchdringung von apokalyptischem Schrecken und anarchischer Untergangslust stellt Muellers Stück eher eine Tragikomödie der postapokalyptischen Endzeit als eine Tragödie vor. Die Zurückweisung einer »platt-realistische[n]« Darstellung, die der Dramatiker im Interview vornahm,495 täuscht allerdings über die Schwierigkeit hinweg, dass ein ›realistisches‹ Drama über die Realität nach der Atomkatastrophe auch nur schwer vorstellbar wäre, während der Verzicht auf jegliche

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ellers Nachsatz zum gegebenen Zitat (Mueller : In unseren Augen spiegelt sich der Abgrund, S. 74): »Ob das Edelkitsch ist, mögen Germanisten entscheiden.« Harald Mueller : Großer Wolf / Halbdeutsch. Zwei Stücke. Frankfurt/M. 1970. Vgl. Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, S. 433: »Erzeugt nicht jede künstlerische Darstellung per se ästhetisches Vergnügen […]; und ist ästhetisches Vergnügen angesichts des finalen Ernstfalls alles Seins und Denkens nicht grundsätzlich deplaziert?« Hensel: Eine hypermalade Horrorschau. – Muellers Selbstauskunft im Interview bestätigt diesen Aspekt: »Man […] liest einen Stapel einschlägiger Literatur, kriegt darob eine mittelschwere Depression, setzt sich dann hin und schreibt. Und beim Schreiben pinkelt man sich natürlich ständig in die Hose vor Lachen. Wirklich! Denn die Grenze zur Satire wird ständig überschritten, wie in der Wirklichkeit auch. Da sind sich Satire und Wirklichkeit ja schon gleich geworden.« Mueller : »Der Dramatiker muß den Instinkt für Mord besitzen«, S. 1a-b. Mueller : Totenfloß, S. 35. – Vgl. Ê[mile] M. Cioran: Skeptiker und Barbar. In: ders.: Der Absturz in die Zeit, S. 46 – 63, hier S. 62. – Lothar Schmidt-Mühlisch hat seine Besprechung der gleichzeitigen Uraufführungen in Düsseldorf, Stuttgart und Basel dementsprechend überschrieben: Hurra, endlich ist alles im Eimer! Eine Rheinfahrt am Ende aller Tage: Das »Totenfloß« von Harald Mueller an drei Bühnen aufgeführt. In: Die Welt Nr. 243 vom 18. 10. 1986, S. 23. Mueller : »Der Dramatiker muss den Instinkt für Mord besitzen«, S. 17c.

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Darstellung einer Kapitulation gleichkäme. Nur Wolfgang Hildesheimer hat aus der vermeintlichen Gewissheit des »schreckliche[n] Ende[s]« die radikale Konsequenz des Schreibverzichts gezogen: »Jedenfalls mir hat es die Worte verschlagen.«496 Anderen deutschsprachigen Autoren, zu denen auch Mueller gehört, wird die Angst vor der atomaren Apokalypse dagegen zum Anlass eines Schreibens, das moralischen Widerstand in produktive Energie umwandelt – und daraus auch ästhetische Lust zu generieren vermag.497 4.3

Erinnerung an die apokalyptische Zukunft

Durch die spielerisch-ästhetische Lust am Untergang hindurch lässt die grotesk überspannte Figurensprache von Muellers Totenfloß dennoch den katastrophalen Ernst entmenschlichter Verhältnisse in der atomar und chemisch verseuchten Wüste des Realen spürbar werden. In der reduzierten Sprache, an der alle vier Figuren in unterschiedlichem Maße partizipieren, teilt sich eine Deshumanisierung mit, die in der Reduktion menschlicher Subjekte auf die chemisch-physikalischen und genetischen ›Werte‹ ihrer Körper besteht. Den Begriff des Menschen und seinen individuellen Namen hat in der heruntergekommenen Version des Orwellschen »Newspeak«498 der Ausdruck »Body« ersetzt: So sehr ist der Status des Subjekts der Sprache auch grammatisch ausgetrieben, dass Checker die Möglichkeit, »ich« zu sagen, erst durch Bjuti von neuem erlernen muss.499 Auch die Städtenamen als Zeichen individuell-vertrauter Lokalitäten und Erinnerungsorte werden in der Kartografie der postkatastrophischen Welt, die nur aus Nicht-Orten500 besteht, durch abstrakte Markierungen ersetzt, die nur von fern noch – durch die Benennung der Region – an die präkatastrophische Landschaft erinnern: »Nordbaden drei (Heidelberg)«; »BA Nordrhein eins, früher Bonn«.501 Es entspricht dieser Löschung der kollektiven Erinnerung in der Topographie, dass auch die Denkmäler der vernichteten Kultur nur mehr als Ruinen im Horizont der Wahrnehmung aufragen: »Kuckuck Glotz die Ruine da! / Checker Fresse, Solofresser, Fresse! / Kuckuck Das war der Kölner Dom.«502 So hoffnungslos demnach der Dramenschluss gerät, wird er doch durch zwei 496 Vgl. Wolfgang Hildesheimer : Warum gibt es keine Hoffnung, die Welt zu verändern, Herr Hildesheimer? Ein Interview von Birgitta Ashoff. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Magazin Nr. 354 vom 12. 12. 1986, S. 86 – 87, hier S. 86. 497 Vgl. dazu auch Vondung: Die Apokalypse in Deutschland, S. 433. 498 Orwell: Nineteen eighty-four. 499 »Bjuti Ich bin der Checker. / Checker Ich – bin – der – Checker – / Checker bricht zusammen und weint. Bjuti streichelt ihn«. Mueller : Totenfloß, S. 45c. 500 Vgl. Marc Aug¦: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. 1., um ein Nachwort erweiterte Auflage München 2010. 501 Mueller : Totenfloß, S. 35 und S. 45a. 502 Ebd., S. 45c.

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unterschiedliche Qualitäten ›gedämpft‹, die das Drama gegenläufig zu seiner tödlichen Endgültigkeit ausspielt. Inmitten des radikal pessimistischen Panoramas bringt die Stimme der Wörtersammlerin Bjuti einen Literatur- und Kunstoptimismus zum Ausdruck, mit dem das Drama sich selbst eine wirkungsästhetische Chance attestiert. So trügerisch sich die Utopie an dessen Ende auch erweist – Xanten, wohin die vier Figuren mit Hilfe des Floßes zu gelangen versuchen, ist eine waffenbewehrte Zone wie alle anderen ›bewohnbaren Areale‹ auch –, so deutlich humanisieren sich die Figuren im Verlauf ihrer Odyssee, auch wenn diese schließlich doch nur auf den physischen Verfall, den Tod und das Meer hinausläuft. Auf der Floßfahrt über den verseuchten ›Schicksalsstrom‹ Rhein entdecken Checker und Bjuti nach denkbar grobem Geschlechtsakt die Liebe, aus der sogar ein Kind hervorgeht: freilich eine Missbildung ohne Mund und Gesicht, die alle Aussicht auf Zukunft dementiert.503 Im Moment des Endes lässt das Drama dennoch die Möglichkeit versöhnter Menschlichkeit aufscheinen, indem es die Liebe für Checker sprachlich noch einmal ganz von vorn beginnen lässt: Checker Lieb isser Checker, lieb – Bjuti Ich bin lieb. Checker Ich bin lieb. Bjuti Wie weich deine Hand ist –504

Die Regieanweisung in Muellers Drama unterstreicht diese Utopie musikalisch durch die Mozart-Einspielung aus Bjutis »Minirecorder«, die am Anfang der letzten Szene platziert ist.505 Deren humane Harmonien kontrastieren mit dem ›dröhnenden‹ »GROSSEN TAMTAM«, das den monotonen Rhythmus des Untergangs angibt und am Ende triumphiert.506 Schon mit der Vereinigung der Figuren auf dem Floß, das sie zum utopischen Ziel »Xanten« bringen soll, bereitet sich eine Verminderung der »räumliche[n] Distanz« zwischen ihnen vor, wie erneut die Regieanweisung vorgibt: Im weiteren Verlauf finden sich die »Einzelnen […] zur Urhorde zusammen« und entdecken »ihre Menschlichkeit«. Gegenläufig zum physischen Zerfall vollzieht sich die Bildung einer »Solidargemeinschaft«,507 die den paradoxen Naturzustand nach dem Untergang von Kultur und Natur aufhebt. Wie sich also nach dem Ende von Natur, Gesellschaft und Geschichte der (von Thomas Hobbes beschriebene) Naturzustand – technologisch herbeigeführt – wiederherstellt, der jeden Einzelnen auf eine ausschließlich selbstinteressierte, gewissermaßen ›atomare‹ Existenz in der Kon503 504 505 506 507

Ebd., S. 46a. Ebd., S. 45c. Ebd., S. 44c (»Bjuti spielt Mozart«), S. 45a. Ebd., S. 35; zuletzt noch ebd., S. 46c. Ebd., S. 41a-b.

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kurrenz um die letzten verbliebenen Lebensressourcen reduziert, zu denen im Stück sogar der Körper des anderen gehört,508 so wiederholt sich gegen Ende des Dramas auch der konstruktive Akt menschlicher Gesellschaftsbildung erneut. Denn mit der »Urhorde« ist ein weiterer Referenztext (und ein mythisches Narrativ) angesprochen, der zum Anspielungshorizont des Textes gehört: Auch Freuds Totem und Tabu zufolge geht der gesellschaftlichen Gründung in der »Urhorde« eine abscheuliche Gewalttat voraus, der sparagmos, den der »Brüderclan« am Vater vollzieht.509 Dass die Neubegründung gesellschaftlicher Solidarität im Zeichen und unter der Voraussetzung eines monströsen Gewaltaktes geschieht, stellt Muellers Drama in den Horizont der Freudschen Theorie. Wenn das Theaterstück mithin die Geschichte menschlicher Vergesellschaftung nach ihrem Ende – freilich chancenlos – von Neuem beginnen lässt, stellt sich in der Wiederholung des die Kultur begründenden Musters ein Naturzusammenhang dar, der auch die Katastrophe erneut in sich enthält. Ciorans Diktum vom »Heimweh nach der Barbarei«510 pointiert diese Ambivalenz von Zivilisierung, kulturellem Fortschritt und Selbstvernichtung aus. Damit ist genau jene Verknüpfung von kultureller ›Erfindung‹ und ›Zerstörung‹ angesprochen, die auch Christa Wolfs Störfall-Erzählung gedanklich umkreist. Die Unterbrechung dieses Naturzusammenhangs, dessen integrales Moment die Naturzerstörung ist, liegt jedoch jenseits aller zeitgeschichtlichen wie utopischen Repräsentationen: Das Drama stellt sie den Zuschauern und Lesern anheim, indem es ihnen – jenseits der Kunst und diesseits der technologisch herbeigeführten Apokalypse – die Verhinderung der Katastrophe aufgibt. Muellers Drama artikuliert demnach eine Erinnerung an die Zukunft. Zwischen der Erinnerung des Vergangenen und dem katastrophal Zukünftigen, welches das Drama im zweiten Futur vorstellt, stellt sich ein analoger Zusammenhang her : Wie eine Gesellschaft, die ihre Geschichte vergisst, zur Wiederholung des Vergangenen gezwungen wäre, wäre das Vergessen der apokalyptischen Zukunft dazu verurteilt, sie allererst zu realisieren.

508 Vgl. ebd., S. 37b. 509 Vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu. In: ders.: Studienausgabe Bd. 9, Frankfurt/M. 1974, S. 287 – 444. 510 Mueller : Totenfloß, S. 35. – Vgl. Cioran: Skeptiker und Barbar, S. 62.

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9. November 1989. Mauerfall

9. November 1989. Mauerfall The revolution was televised. Now it’s over, bye bye.511

In der hier eingerichteten chronologischen Reihe stellt der 9. November 1989 eines der wenigen positiv konnotierten Geschichtszeichen dar. Denn das mit diesem Datum bezeichnete Ereignis leitete das Ende der machtpolitischen OstWest-Konfrontation ein und damit die Überwindung einer gefahrvollen bilateral-feindlichen Mächtebeziehung, deren zeitliche Entfaltung über Aufrüstungsspirale und Abrüstungsabkommen hinweg vor allem von der Friedensbewegung der achtziger Jahre als Zusteuern auf die Apokalypse eines Atomkriegs hin gedeutet worden ist. Es ist dieses im unmittelbaren zeitlichen Kontext der sowjetischen Perestroika, der ersten freien Wahlen in Polen und der rumänischen Revolution angesiedelte Datum, das nach der posthistorischen Statik der vorangegangenen Jahrzehnte als eindrückliche ›Wiederkehr der Geschichte‹ begriffen worden ist. Aber der 9. November 1989 stellt zugleich ein markantes mediengeschichtliches Datum dar : Wie kaum ein anderes steht es für eine Rückkopplung zwischen Ereignis und Repräsentation, medialer Beobachtung und Beobachtetem – so dass sich behaupten lässt, dass das Ereignis ohne seine fernsehmediale Repräsentation gar nicht stattgefunden hätte. Der Fall der Berliner Mauer bildete die symbolische Klimax der politischen Ereigniskette, die – unmittelbar vor dem Sturz der Ceaus¸escu-Diktatur in Rumänien im Dezember 1989 – mit Recht als erste »Fernsehrevolution« bezeichnet worden ist: Die »Mauer-Show« in der Nacht vom 9. auf den 10. November512 wurde erst durch die Fernsehübertragung der Pressekonferenz des DDR-Regierungssprechers Günter Schabowski ermöglicht, welche in einer Art televisioneller Teichoskopie von den Fernsehzuschauern diesseits und jenseits der Mauer live an den Bildschirmen miterlebt werden konnte. Wie die nicht zuletzt durch Medien induzierten Vorgänge dieser Nacht wahrgenommen wurden, ist auch literarisch vielfach festgehalten worden: »Ist es erlaubt zu fragen, wie Ernst Jünger diesen Abend verbringt?« fragt eine der Figuren in Reinhard Kiefers Roman Halbstadt (2006). In dem November überschriebenen Kapitel zitiert der Roman die entsprechende Passage aus Jüngers Strahlungen VI: 511 Pulp: Irony is over. Album: This is Hardcore (Island Records, 1998). 512 Vgl. dazu den Band von Rainer Bohn, Knut Hickethier, Eggo Müller (Hg.): Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien. Berlin 1993 (Sigma-Medienwissenschaft; 11). – Das Ende der Ceaus¸escu-Diktatur in Rumänien dokumentiert und diskutiert in medientheoretischer Perspektive der Band von Hubertus von Ameluxen und Andrei Ujica (Hg.): Television/Revolution. Das Ultimatum des Bildes. Rumänien im Dezember 1989. Marburg 1990.

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Ereignisse und Texte

Wir saßen bis über Mitternacht vorm Bildschirm und nahmen am Jubel rund um das Brandenburger Tor teil. Die Enkel riefen aus Berlin an – sie haben auf der Mauer getanzt. Endlich auch einmal eine gute Nachricht für unser Land.513

Auch in Kiefers Roman ist die Zeitgenossenschaft der Figuren vom »blaue[n] Schein« der Bildschirme illuminiert.514 Es entspricht der Rekursivität zwischen zeitgeschichtlichem Ereignis und Repräsentation, dass der 9. November in Romantexten fast durchweg als über Fernsehbilder vermitteltes Ereignis zur Darstellung gelangt. Selbst wo sich die Figuren in unmittelbarer Nähe zum unerwarteten Geschehen befinden wie im letzten, »Party« überschriebenen Kapitel von Sven Regeners Berlin-Roman Herr Lehmann (2001), rekurriert die mündliche Weitergabe auf das zeitgeschichtliche Leitmedium: »Hast du schon gehört?« fragte er den Mann hinter der Bar. »Was denn?« »Die Mauer ist offen.« »Was ist?« »Die Mauer ist offen.« »Ach du Scheiße.« »Hast du gehört?« fragte Herr Lehmann, der jetzt ziemlich betrunken war. »Was denn?« fragte Sylvio, der schon Anzeichen machte, wegzunicken. »Die Mauer ist offen.« »Ach du Scheiße.« »Hör mal, Sylvio, schließlich bist du selber aus dem Osten.« »Das geht mir schon seit Wochen auf die Nerven. Immer, wenn ich den Fernseher anmache: Osten, Osten, Osten. Was kann ich dafür, daß ich aus dem Osten komme?«515

Die keineswegs enthusiastische Reaktion, die das Ereignis des Mauerfalls hervorruft, entspricht dem Bewusstsein einer Generation, die die Stadt Berlin nur als geteilte kannte.516 Für sie bedeutete der Mauerfall vor allem eine Verunsicherung ihres geopolitischen Weltbildes. Der Versuch, das spektakuläre Ereignis authentisch zu erfahren (»Nur mal eben gucken«), führt am Grenzübergang Oberbaumbrücke jedoch ins Abseits des in den Medien spektakulär inszenierten 513 Reinhard Kiefer: Halbstadt. Aachen 2006, S. 340. – Vgl. Ernst Jünger : Strahlungen VI. Stuttgart 2001 (Sämtliche Werke; 21), S. 383 (Tagebucheintrag »Wilfingen, 10. November 1989«). – Kiefers Roman thematisiert (mit verfremdeten Namen) auch den ungeklärten Tod des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, dessen Entdeckung im Genfer Hotel Bon-Rivage am 11. Oktober 1987 durch Reporter des Nachrichtenmagazins Stern für Aufsehen sorgte. Die Vorgänge werden über eine Romanfiktion dargestellt, die ein an Peter Handke angenäherter Autor namens Wachtendonk verfasst. 514 Kiefer : Halbstadt, S. 333. 515 Sven Regener : Herr Lehmann. 18. Auflage München 2003, S. 280 f. 516 Vgl. dazu Edgar Wolfrum: Die Mauer. In: Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2, München 2001, S. 552 – 568, hier S. 559.

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Ereignisses: »Richtige Stimmung ist das nicht«.517 Systematisch frustriert der Text die Erwartung einer von den Figuren unmittelbar erlebten Erfahrung: »Vielleicht sollte ich mir doch mal wieder einen Fernseher anschaffen, dachte er. Oder mal Urlaub machen.«518 Der mediologischen Deprivilegierung des Zeugen entsprechend verpasst gerade der Versuch, authentische Zeugenschaft zu erlangen, das Ereignis selbst. Die Fernsehzuschauer, die wie Ernst Jünger vor den Bildschirmen sitzen, sind entschieden näher dabei. Es ist bezeichnend für das Spektakularitätsprinzip des bildtechnischen Mediums, dass die Verfilmung von Regeners Roman durch Leander Haußmann (2003) – abweichend von der Vorlage – an die Stelle des verpassten Ereignisses die bekannten turbulenteuphorischen Bilder des 9. Novembers setzt – und zugleich damit die Szenen der Verbrüderung auf der gefallenen deutsch-deutschen Grenze in einer Szene der Versöhnung zwischen den Hauptfiguren fortsetzt, die so von der Romanvorlage ebenfalls nicht vorgesehen ist. Während der literarische Text sich demnach eine ›dissidente‹ Diskursivierung des Ereignisses erlaubt, indem er die spektakulären Szenen des historischen Datums ausblendet, macht die Verfilmung des Romans diese rückgängig.

1.

»Sie kennen die Bilder«. Den Mauerfall erzählen

Der Journalist und Lyriker Thomas Kielinger hat die mediale Seite der ›friedlichen Revolution‹ in der DDR, die dem 9. November vorausging, in einem Gedicht thematisiert, das die kollektivierende Macht des die Geschichtsbilder bis heute bestimmenden Fernsehens kritisch kommentiert: Eingeschaltet Wanderer kommst du nach Dresden verkündige dort du habest uns hier einig gesehen wie das TV es befahl519

Das Gedicht versteht die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als fernsehmediale Inszenierung, der die Ostdeutschen zum Opfer gefallen sind: Denn der Wortlaut variiert Schillers Übersetzung des Distichons des Simonides für die 517 Regener : Herr Lehmann, S. 282. 518 Ebd., S. 285. 519 Thomas Kielinger: Eingeschaltet. In: Vom einen Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende. Hg. von Karl Otto Conrady. Frankfurt/M. 1993, S. 97.

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gefallenen Spartaner in der siegreichen Schlacht bei den Thermopylen.520 Das intertextuelle Verfahren, das die Oberfläche oder Schauseite des politischen Vereinigungsprozesses auf antike Vorlagen hin transzendiert, wiederholt sich etwa in Volker Brauns (auf Euripides’, Sophokles’ und Goethes Bearbeitungen des Stoffes rückbezogenes) Langgedicht Iphigenie in Freiheit;521 das Gedicht gehört mithin zu den ›gelehrten‹ Texten der so genannten Wende-Literatur, zu denen auch der im Folgenden untersuchte Roman Nox (1995) von Thomas Hettche zählt. Wenn im parodistischen Zitat von Schillers Elegie (1795) das ›Gesetz‹ der Spartaner indes durch das »TV« ersetzt wird, erscheint das Ereignis der Dresdner Demonstrationen als Inszenierung einer medialen Macht, deren abstrakte Autorität der gesetzlichen des herausgeforderten Staates selbst in nichts nachsteht. Damit deutet es eine strukturinvariante Wiederholung an, die nur die Namen, Schauplätze und Machtinstanzen vertauscht – und gerade deshalb ereignishafte Gegenwart über formale Muster und Reminiszenzen an die literaturgeschichtliche Überlieferung darstellbar werden lässt. Vom Ereignis des 9. Novembers 1989 hat das kulturelle Gedächtnis des Abendlands gewissermaßen immer schon gewusst. Mit der Assoziation von 1989 und 1933, die im Anklang von »Eingeschaltet« und ›Gleichgeschaltet‹ aufscheint, ordnet Kielingers Gedicht zudem die Öffnung der Berliner Mauer in eine Chronologie nationaler Gedächtnisbildung ein, die durch die Datenreihe 1918 – 1923 – 1938 – 1989 hergestellt wird: Karl Liebknechts und Philipp Scheidemanns taggleiche Ausrufung der Republik, Hitlers gescheiterter Putschversuch in München, die ›Reichsprogromnacht‹ und am Ende eben der Mauerfall. Als Geschichtszeichen erscheint der 9. November im kollektiven Gedächtnis der Deutschen daher derart überdeterminiert, dass Peter Sloterdijk schreibt: »[W]enn Nationen als ganze Nervenzusammenbrüche erleiden könnten – es müsste im Falle der Deutschen an einem 9. November geschehen.«522 Es gehört indes zu den Vorzügen eines ›langsamen‹ Mediums, dass literarische Texte im Rückbezug auf Ereignisse der nationalen Geschichte die ästhetische Fassung bewahren. Nicht nur im zitierten Gedicht wird durch Ironie zum euphorisierenden Ereignis Distanz gewonnen und zugleich der Abstand zu den ›autoritären‹ Bildern vergrößert. Auch Thomas Brussigs Roman Helden wie wir (1998) erzählt vom Tag der Maueröffnung, und wie Regener bezieht er sich dabei auf dessen allgegenwärtige bildmediale Repräsentation: 520 »›Wanderer, kommst du nach Sparta, gieb Kunde dorten, du habest / ›Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.‹ / Ruhet sanft ihr Theuren! Von eurem Blute begossen / Grünet der Oelbaum, es keimt lustig die köstliche Saat.« Friedrich Schiller : Elegie. In: ders.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776 – 1799. Hg. von Julius Petersen und Friedrich Beißner. Weimar 1943, S. 260 – 266, hier S. 263. 521 Volker Braun: Iphigenie in Freiheit. Frankfurt/M. 1992. 522 Peter Sloterdijk: Der starke Grund, zusammen zu sein. Frankfurt/M. 1998, S. 7.

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Sie kennen die Bilder : Sektparties am Brandenburger Tor, Ritt auf der Mauerkrone, Happenings mit Hammer und Meißel. Alle freuten sich, und keiner hatte begriffen, was wirklich passiert war […].523

Das außerordentliche Ereignis, das alle Erwartungen der Zeitgenossen übersteigt, setzt sich in die Hybris des Erzählers um, der es ganz allein bewirkt haben will: »und wenn ich bereits damals behauptet hätte, dass ich es allein war, hätte mir niemand geglaubt.«524 Im Schutz dieser wiederholt unterstrichenen Unglaubhaftigkeit525 kann der Erzähler sein erzähltes Ich – »Honeckers Kleine[n] Trompeter«526 – als entscheidenden Akteur in die politische Geschichte der Gegenwart eintragen: »Denn ich bin das Missing link der jüngsten deutschen Geschichte!«527 Es ist die monströse Schwellung seines Geschlechts, die die Grenzer am Übergang Bornholmer Straße (Abb. 10) so überrascht, dass sie die Schranke öffnen, so dass das unwahrscheinliche Ereignis auf noch unwahrscheinlichere Weise eintritt: »So was hätten sie nie für möglich gehalten! Was ich ihnen darbot, war so unglaublich, daß sie mit niemandem darüber sprechen konnten, weil ihnen niemand glauben wird.«528 Diese Unmöglichkeit, darüber zu sprechen, schützt natürlich die Fiktion, so wie sie aus der geschichtlichen Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses selbst gerade ihre Plausibilität bezieht.529 Auch wenn Brussigs Fiktion eine apokryphe Version der Ereignisse vom 9. November 1989 erzählt, ist sie doch so angelegt, dass sie die reale Geschichte nicht kontrafasziert, sondern mit ihr koinzidiert: »In dieser Nacht glückte mir einfach alles! Schwanz gerettet, Kalten Krieg beendet, Wort des Jahres in Umlauf gebracht.«530 Helden wie wir steht in der Tradition des pikaresken Romans. Es ist die entschiedene (in Grimmelshausens simplizianischem Romanzyklus vorbildhaft gestaltete) geschichtliche und gesellschaftliche Gegenwartszugewandtheit des Schelmenromans, die ihn als literarische Form empfiehlt, um Ereignisse der politischen Gegenwart zu reflektieren.531 Tatsächlich bezieht sich der Roman 523 Thomas Brussig: Helden wie wir. 7. Auflage Frankfurt/M. 1999, S. 319. 524 Ebd. 525 Vgl. auch den Romanschluss, ebd., S. 323: »Ich mache mir keine Illusionen. Mir, dem Paria, dem perversen Stasi, dem Kindesentführer und Beinahe-Vergewaltiger wird niemand glauben – na und!« 526 Ebd., S. 282 u. ö. 527 Ebd., S. 323. 528 Ebd., S. 319. 529 »Erst der Gang der Zeit, die weiteren Ereignisse in Deutschland, machen meine Version vom Mauerfall rundum plausibel: Sehen Sie sich die Ostdeutschen an, vor und nach dem Fall der Mauer. Vorher passiv, nachher passiv – wie sollen die je die Mauer umgeschmissen haben?« Ebd., S. 319 f. 530 Brussig: Helden wie wir, S. 320. – Das von der Gesellschaft für deutsche Sprache prämierte ›Wort des Jahres‹ lautete für 1989 ›Wahnsinn‹. 531 Ein anderes Beispiel für die zeitgeschichtliche Adaption des Schelmenromans ist Peter Paul

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vielfach auf konkrete Momente der ›Wendegeschichte‹ – etwa auf Christa Wolfs Rede bei der Demonstration vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, die er beinah wörtlich wiedergibt.532 Aber die pikareske Form stellt zugleich den Abstand heraus, der zwischen der medialen Bebilderung und öffentlichen Diskursivierung einerseits und seiner eigenwilligen Auffassung des historischen Geschehens besteht. An der Fabulierlust dieser Fiktion gemessen erscheint die offizielle Version der deutschen Geschichte fast schon als unspektakulär : »Wie phantasielos!«533

Abb. 10: Der Grenzübergang Bornholmer Straße in der Nacht der Maueröffnung (Ó ullstein bild/Schraps)

2.

»Es gibt keine Spur mehr jenseits der Speicher«. Thomas Hettches Nox

Den wahrscheinlich komplexesten literarischen Text, dessen Narrativ vom Ereignis des 9. Novembers 1989 abgeleitet ist, stellt Thomas Hettches sechs Jahre nach der Nacht des Mauerfalls erschienener Roman Nox dar. Auch er stellt aber die Auseinandersetzung mit der mediologischen Problematik zeitgeschichtliZahls oben (im Kap. »1977. Deutscher Herbst«) bereits erwähnter LinksterrorismusRoman Die Glücklichen (1979). 532 Brussig: Helden wie wir, S. 283 ff. – Das Verdienst, »der erste« gewesen zu sein, »der mit tendenziöser Absicht Christa Wolfs Bücher fledderte«, ist dem Erzähler noch auf der letzten Seite wichtig (ebd., S. 323). 533 Ebd., S. 322.

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cher Darstellungen in den Mittelpunkt:534 Tatsächlich erzählt Hettches Roman weniger vom historischen Ereignis des 9. Novembers selbst, sondern mehr noch – unterhalb der Ebene seiner zahlreichen und datengenauen zeitgeschichtlichen Bezugnahmen – eine Geschichte der technischen Bildmedien überhaupt. Die fiktionale Romanhandlung spielt um die Nacht des Berliner Mauerfalls: Der Ich-Erzähler, ein junger Autor, trifft nach einer Lesung im Literaturhaus am Berliner Wannsee, das unschwer als Sitz des Literarischen Colloquiums Berlin ausgemacht werden kann, eine junge Frau. Nach schnellem sexuellen Kontakt schneidet sie ihm kurzerhand die Kehle durch. Sein Erzählen aber geht weiter, folgt der Heldin – »in pfadlosen Irren«, wie es in Wagners Parsifal, einem der intertextuellen Stichwortgeber des Romans, heißt –535 von West nach Ost durch Berlin. Ein Grenzhund der DDR, der sich von seiner Laufleine losgemacht hat und durch den Teltowkanal geschwommen ist, schließt sich ihr auf ihrem nächtlichen Weg an.536 In einer Kneipe begegnet sie einem ungewöhnlichen Paar : Lara Matern, der Gattin des Chef-Pathologen der (Ost-)Berliner Charit¦, und David, einem stark verstümmelten Masochisten. Nach einem sexuellen Akt zwischen der jungen Frau und David, in den auch die Kellnerin einbezogen wird, begleitet sie diese auf ein Schiff, das den Landwehr-Kanal hinabfährt und auf dem ein Berliner Medienunternehmer – eine Anspielung auf den Gründer des zur Zeit der Wiedervereinigung äußerst erfolgreichen Radiosenders »Hundertkommasechs« und eines Privatfernsehkanals, den Schauspieler, Regisseur und Geschäftsmann Ulrich Schamoni – eine Party gibt. Dort erfahren die Gäste von der Maueröffnung; ein Ostberliner Paar, im Trabant herbeigefahren, stößt zu ihnen. Die Heldin, die ihren Namen und ihre Geschichte vergessen hat, verlässt das Schiff, geht zum (Westberliner) Europa-Center und wird dort später nach einem Telefongespräch von David und Lara in ihrem Wartburg abgeholt; sie fahren zur Virchow-Klinik der Charit¦ im Ostteil der Stadt. Eine sadomasochistische Orgie in der dortigen Anatomie, bei der sie und David an Seilwinden an der Decke aufgehängt werden, die der Chefpathologe Professor 534 Zur Problematik des Erzählens vom 9. November 1989 in der deutschsprachigen ›Wendeliteratur‹ vgl. v. a. Albert Meier, Heide Hollmer : »Wie ich das mit der Mauer hingekriegt habe«. Der 9. November 1989 in Thomas Brussigs ›Helden wie wir‹ und in Thomas Hettches ›Nox‹. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1999. Darmstadt 2000, S. 112 – 131. – Zu den folgenden Ausführungen über Hettches Nox vgl. bereits Christoph Deupmann: »Es gibt keine Spur mehr jenseits der Speicher«. Zur Paradoxie von Sehen und Erzählen in Thomas Hettches Roman ›Nox‹. In: Paradoxien der Wiederholung. Hg. von Robert Andr¦ und Christoph Deupmann. Heidelberg 2003. S. 193 – 214. 535 Richard Wagner : Parsifal. Ein Bühnenweihefestspiel in drei Aufzügen. Vollständiges Buch hg. und eingeleitet von Wilhelm Zentner. Stuttgart 1999, S. 53. 536 Die Fiktion rekurriert hier auf eine Reportage von Marie-Luise Scherer : Die Hundegrenze. In: Der Spiegel Nr. 6 vom 7. 2. 1994, S. 94 – 115. Vgl. dazu auch Hollmer, Meier : »Wie ich das mit der Mauer hingekriegt habe«, S. 127.

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Matern bedient, beschließt ihr nächtliches Irren: David, kopfüber an der Decke aufgehängt, stirbt dabei. Der Grenzhund flüstert der jungen Frau – nicht aber dem Leser – ihren vergessenen Namen zu.537 Ein Epilog beschließt den Roman: Frau, Hund sowie der unverhofft wieder auferstandene Erzähler begegnen einander noch einmal. Am Ende der Nacht, durch die die junge Mörderin streunt, ist auch der Autor-Erzähler durch die Nacht seines eigenen Todes hindurchgegangen. Ihre Wiederbegegnung ereignet sich in einer irrealen Sphäre, in der die Fäden der Handlung, die Figuren, christliche und mythische Motive – Auferstehung des Autors und Totenwächteramt des Kerberos-Grenzhundes – zusammenlaufen. »Wir alle drei«, sagt schließlich der Hund, du und ich und sie, gehören zu einer Geschichte. Zu einer alten Geschichte, die sich wieder ereignet. Warum? Wer weiß? Nichts von dem, was du kennst, wird nach dieser Nacht bleiben, wie es ist. Und nur die Geschichten, die man sich davon erzählt, bestimmen, was wird.538

Die Nacht im Titel von Hettches Roman ist offenbar nicht allein auf das zeitgeschichtliche Datum bezogen. Sie fungiert zugleich – mit einem von Jörn Rüsen aufgegriffenen Begriff, den Gottfried Korff in die geschichtswissenschaftliche Diskussion eingeführt hat – als Semiophoron: als faszinierender symbolischer Sinnträger, der »zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt«.539 Als solches reichert die ›Nacht‹ das zeitgeschichtliche Datum semantisch an, indem es einen weiten historisch-mythisch-anthropologischen Assoziationsraum eröffnet: Die Nacht des Mauerfalls wird mit der Umnachtung des Vergessens, der Nachtseite des Humanum, der Nacht des Todes, dem Schattenreich des Hades und der Nacht auf Golgatha in der heterotropen Einheit der Narration enggeführt und verwoben. In diesem komplexen Resonanzraum bewegt sich die narrative Erinnerung und Imagination im Roman. Mit seiner Entfaltung des Motivs der Nacht erscheint der Text gleichsam als Versuch, dem Stammeln Kundrys, der wilden, Erlösung heischenden Frau aus Wagners ›Bühnenweihfestspiel‹ Parsifal, zur Sprache zu verhelfen: »Ach! – Ach! / Tiefe Nacht! – / Wahnsinn! – Oh! – Wut! – / Ach! – Jammer! – / Schlaf – Schlaf – / tiefer Schlaf! – Tod!«540 Die Nacht bezeichnet schließlich auch das Milieu, in dem die Ordnung des Sichtbaren aufgehoben wird: Es ist diese Ordnung des Sichtbaren, deren Geschichte Hettches Roman vor allem erzählt.

537 »Dann war plötzlich die Schnauze des Hundes neben ihrem Kopf, Hecheln ganz dicht an ihrem Ohr, und der Hund flüsterte ihren Namen.« Hettche: Nox, S. 140. 538 Ebd., S. 156. 539 Vgl. Rüsen: Was ist Geschichtskultur? S. 9; Korff, Roth: Das historische Museum, S. 20. 540 Wagner : Parsifal, S. 32.

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2.1

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Sehen und Erzählen

Sehen und Erzählen sind nicht erst im gegenwärtigen ›Medienzeitalter‹ in eine paradoxe Beziehung gestellt. Im dritten Buch von Ovids Metamorphosen – allesamt Wiedererzählungen der griechischen und italischen Mythologie – findet sich die Erzählung vom jugendlichen Jäger Aktäon, der die Göttin der Jagd bei ihrem Bad überrascht: Siehe, da kam in den Hain der Enkel des Cadmus – verschoben Hat er die weitere Jagd auf morgen – und schweifte nun planlos Durch das Gehölz, das ihm fremd war : so führte das Schicksal den Jüngling. Als er die von den Wassern triefende Grotte betreten, Schlugen die Nymphen, entblößt, wie sie waren, beim Anblick des Mannes Sich an die Brust, und die Weite des Waldes erfüllte sich plötzlich Mit ihrem lauten Geschrei und, dicht um Diana sich drängend, Deckten sie sie mit den Leibern; die Göttin jedoch überragte, Höher gewachsen als alle, um Haupteslänge die Nymphen. Gleich dem Gewölk, das direkt von den Strahlen der Sonne getroffen Rötlich erglänzt, oder gleich der Purpurfarbe Auroras, Also erglühte das Antlitz Dianens, wie ohne Gewandung Man sie erblickte. Obwohl von der Schar der Mädchen umschlossen, Wandte sie schräg sich zur Seite, den Kopf nur bog sie nach hinten; Dringend wünschte sie jetzt, zur Hand die Pfeile zu haben, Aber sie nahm, was sie hatte: sie schöpfte vom Wasser und gab es Über des Mannes Gesicht und sagte, mit rächenden Spritzern Ihm die Haare besprengend, die Unheil verkündenden Worte: »So, nun erzähle, du habest mich ohne Umhüllung gesehen, Wenn du es noch zu erzählen vermagst!«541

Der erotische Blick steht als literarisches Motiv für einen gleichermaßen lustwie angstbesetzten Voyeurismus, eine Skopophilie, an der sich eine ›Männerphantasie‹ und deren Zensur gleichermaßen zeigen.542 Der Jäger der hier erzählten Mythe ist seit dem 17. Jahrhundert die Verkörperung einer curiositas, die sich im Sehsinn zentriert.543 Aktäon bezahlt den verbotenen Anblick der Göttin mit dem Tod: Diana verwandelt ihn in einen Hirsch, so dass ihn die eigene Hundemeute zerreißt, und verhindert so, dass die Überschreitung des Tabus im 541 Ovid: Metamorphosen. 3. Buch, v. 174 – 193; dt. Übersetzung nach Ovid: Metamorphosen – Epos in 15 Büchern. Übersetzt und hg. von Hermann Breitenbach. Mit einer Einleitung von L.P. Wilkinson. Stuttgart 2001, S. 95 f. 542 Vgl. dazu Wolfram Mauser : Diana und Aktäon. Zur Angst-Lust des verbotenen Blicks. In: Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Hg. von Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1992 (Thetis. Literatur im Spiegel der Geschlechter ; 1), S. 293 – 329. 543 Vgl. Wolfgang Cziesla: Aktaion polypr‚gmon. Variationen eines antiken Themas in der europäischen Renaissance. Frankfurt/M. u. a. 1989 (Literarische Studien; 2), S. 54 und S. 112.

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Erzählen davon wiederholt und vervielfältigt werden kann. Damit aber steht im Zentrum der mythischen Geschichte nicht nur ein verbotenes Sehen, das Dianas tödliches Erzählverbot negativ sanktioniert, sondern auch eine Paradoxie des Erzählens selbst. Aktäon wird nie berichten können, was er erblickt hat; dafür hat Diana mit der tödlichen Verwandlung des Jägers in den Gejagten gesorgt. Erzählt aber wird das von ihm Gesehene dennoch – über den Tod des einzigen Zeugen und potenziellen Erzählers hinaus: durch den unbeteiligten Erzähler im epischen Text des Dichters Ovid. Der epische Erzähler, ein medialer Beobachter der verbotenen Beobachtung, ›überlebt‹ den Tod Aktäons – und speist so, gegen die Absicht der Göttin, dessen gewaltsam ausgelöschte, individuelle Erinnerung in das kollektive Gedächtnis abendländischen Erzählens ein. Die paradoxe Logik der narrativen Wiederholung ist demnach diese: Nur der Zeuge, der Diana beobachtet, kann die geschilderte Situation erzählen. Weil aber seine Beobachtung beobachtet wird, kann er sie nicht mehr erzählen. Weil Diana dem verbotenen Blick Aktäons begegnet, also zurückblickt, wird dieser als Beobachter erster Ordnung liquidiert. Der ovidische Erzähler aber ist ein Beobachter zweiter Ordnung, der selbst unbeobachtbar bleibt, weil er unter den Bedingungen der erzählten Situation gar nicht vorgesehenen ist: eine von dieser her gesehen paradoxe, unmögliche Instanz, welche die Erzählung erst ermöglicht. Thomas Hettches Roman Nox beginnt mit einer verrätselten Reprise dieser ovidischen Erzählung.544 Es ist indes nicht das erste Mal, dass der hier berichtete Mythos mit den Ereignissen der ›Wiedervereinigung‹ in Verbindung gebracht wird. Ein Gedicht von Hans Arnfrid Astel hat im Jahr 1989 die zeitgeschichtlichen Vorgänge ebenfalls am Mythos von Diana und Aktäon gespiegelt: Baden gehen für Elke Erb Baden gehen hab ich die Utopie gesehn. Nackt und schön, eine Jägerin. War ich Aktäon? Ich wurde kein Hirsch. Meine Hunde haben mich nicht zerrissen.545

544 Zur Ovid-Anspielung bei Hettche vgl. bereits Franziska Schößler : Mythos als Kritik. Zu Thomas Hettches Wenderoman ›Nox‹. In: Literatur für Leser 21 (1999), H. 3, S. 171 – 183, hier S. 175 ff. 545 Hans Arnfrid Astel: Baden gehen. In: Vom einen Land und vom andern, S. 74.

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Die mythische Geschichte wird in eine Allegorie der politischen Geschichte umgemünzt, indem die Szene der badenden Diana mit einem geläufigen Idiom des Scheiterns kurzgeschlossen wird: Die sozialistische Utopie geht mit dem Scheitern des ›real existierenden Sozialismus‹ buchstäblich baden. Diese zeigt im Moment ihres Untergangs jedoch noch einmal ihre ganze verführerische Schönheit. Aktäon überlebt ihren Anblick, und so wird die Utopie im Gedächtnis dessen überleben, der ihren Anblick bewahrt und im Gedicht weitergibt. Indem das Gedicht den mythischen Referenztext konterkariert, wird er zugleich zur Kontrafaktur der ›offiziellen‹ postsozialistischen Geschichtsauffassung. Die realgeschichtlich gescheiterte Utopie erhält einen Zufluchtsraum im literarischen Text; auf dem von ihm aufgespannten mythopoetischen Schauplatz ist das Utopische, mit Ernst Bloch gedacht, »wirklich«:546 Astels Gedicht ruft mit der antiken Diana-Mythologie die älteste Form der Erschließung utopischer Räume und Zeiten auf;547 gerade in der Durchbrechung des Mythos bringt sich jedoch die emanzipatorische Kraft des ›utopischen Bewußtseins‹548 schon einmal zur Geltung. Auch wenn der Konnex von Literatur und Utopie als später Nachklang einer Diskussion gelesen werden kann, die in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die literatur- und kunsttheoretische Theorie beherrschte,549 behaupten Astels Verse das Gedicht als Bewahrungs- und ›Erinnerungs‹-Medium eines Kontrafaktischen, dessen unwiderrufliches Ende die Nachrichtenmedien und Kommentare seit der Erosion der sozialistischen Staaten in den 1990er Jahren mit merklicher Genugtuung versichert haben. Hettches Roman bezieht den Diana-Mythos gleichfalls auf die Ereignisse von 1989. Aber anders als das Gedicht zielt seine Reminiszenz nicht aufs Allegori546 Zur »utopisch wirklichen Ebene« der Dichtung vgl. etwa Ernst Bloch: Geist der Utopie. Bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923 (Gesamtausgabe, Bd. 3). Frankfurt/ M. 1964, S. 282. 547 Vgl. Lucian Hölscher : Utopie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 733 – 788, hier S. 734. 548 Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 3. Auflage Frankfurt/M. 1952, S. 169. 549 Vgl. etwa die Einleitung des Herausgebers in Gerd Ueding (Hg.): Literatur ist Utopie. Mit Beiträgen von Burghart Schmidt, Rolf Grimminger, Gert Ueding, Ernst Osterkamp, Bernd Steinbrink, Joachim Campe, Anselm Maler, Cornelie Ueding, Gerd Enno Rieger, Gotthart Wunberg, Klaus L. Berghahn, Hermann Wiegmann, Klaus-Detlef Müller, Wolfgang Promies. Frankfurt/M. 1978, S. 7: »Literatur ist Utopie in dem gewiß sehr weiten Verstande, daß sie nicht identisch mit der Realität ist, die uns als Natur und Gesellschaft gegenübertritt. Sie ist Utopie in dem sehr viel präziseren Sinne, daß ihre Beziehung zu dieser Realität wie die der Erfüllung zum Mangel ist.« Vor allem in der Negativität des Utopischen, die sich noch in ›korrumpiertesten‹ Formen wie dem Trivialroman geltend mache, verdeutlicht sich die prägende Kraft der Ästhetischen Theorie Adornos für dieses Literaturkonzept. Dasselbe Problem einer unverfügbaren positiven Utopie stellt sich auch Nicolas Born in der Vorbemerkung zum von ihm 1975 herausgegebenen 3. Band des Literaturmagazins (Born: Vorbemerkung. In: Literaturmagazin 3. ›Die Phantasie an die Macht‹. Literatur als Utopie. Hg. von Nicolas Born. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 9 – 12, hier S. 10).

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sche, sondern stellt jene Paradoxie des Erzählens aus, welche die poetische Vorlage Ovids überspielt: Erzähler, mythische Figur bzw. Subjekt des verbotenen Sehens sind jetzt ein und dieselbe Person. Der Ich-Erzähler erzählt von jenseits der Grenze seines eigenen Todes: Ich sah in ihrer Hand das Messer nicht. Sie hatte es vor kurzem erst gekauft. Plötzlich, als sie es absichtslos aus dem Etui nahm und in der Hand wog, fasziniert von seinem Gewicht und von der Fertigkeit, die es zu verlangen schien. Das Heft mit großen stählernen Nieten war aus schwarzem Holz. Die etwa zwölf Zentimeter lange Klinge lief mit leichtem Schwung spitz zu. Kühl und angenehm schwer fühlte sie es in der Hand und beugte sich von hinten über mich im Sessel.550

Als Toter hat er am erzählten Geschehen prinzipiell genauso wenig Teil wie das Erzählmedium in den Metamorphosen Ovids. Als Erzähler jedoch kann er berichten, was gesehen zu haben er mit dem Tod bezahlt: Im Anschluss an eine Lesung im Berliner Literaturhaus am Wannsee begegnet der Ich-Erzähler der ihm unbekannten jungen Frau. Hartnäckig wird der Autor von seiner Leserin befragt, ob er die in seinen Texten erzählten Gewaltakte auch selbst vollziehen könne. Nicht rhetorisch also, ob er zu erzählen vermag, was er gesehen, sondern praktisch: ob er zu tun vermag, was er erzählt hat, lautet ihre Frage, auf die der Autor nur ausweichend, erst verneinend, dann bejahend, antworten will.551 Die Rollen des Jägers und des überraschten Objekts sind in dieser Begegnung vertauscht: Hinter dem Erzählten sucht das insistierende Nachfragen der Leserin den Autor zu stellen wie ein flüchtendes Wild. Ihre Nachforschung verrät indes die Fragende mehr als den Befragten, indem sie ihm etwas Verbotenes ›enthüllt‹: das Geheimnis ihres eigenen Begehrens, das in seiner Nacktheit gleichfalls nicht angeschaut werden darf. Der Befragte ›reflektiert‹ die Frage und erhält eine Antwort, nach der er gar nicht gefragt hat: »Und für einen Moment sah ich sie so, wie niemand sie kannte, ihr geheimes Gesicht und die Lust darin«.552 Die (ungewollte) Überschreitung einer Grenze der Scham begründet wie in der mythischen Geschichte das Todesurteil über den Zeugen. Fast wörtlich wird der klassische Referenztext durch die rhetorische Aufforderung der jungen Frau in den Romantext eingespielt: »Jetzt erzähl nur, du habest mich so gesehen. Wenn du noch erzählen kannst.«553 Diese »Unheil verkündenden Worte«, wie es bei 550 Hettche: Nox, S. 9. 551 »Nein, sagte ich schließlich leise […] und überlegte, ob es mir gelingen konnte, ungesehen in mein Zimmer zu kommen. Da wurde die Tür des Wintergartens wieder geöffnet und Stimmen wurden laut. Schnell ging ich hinab zum See. Und sie kam mir nach.« (Hettche: Nox, S. 16) – »Als hätte es meine Antwort nicht gegeben, fragte sie erneut. Doch leise nun, flüsternd, ihr Mund nah an meinem Ohr. Und ich belog sie und nickte. Sie ging mich nichts an. Ja, sagte ich« (S. 21). 552 Ebd., S. 22. 553 Ebd.

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Ovid heißt,554 kündigen die Ermordung des Schriftstellers an. Mit der Szene dieser Ermordung beginnt der Roman. Ein ›Diesseits‹ und ein ›Jenseits‹ des Todes werden so in der histoire durch einen Schnitt getrennt, der im Moment des Nicht-Sehens besteht; und dieser Schnitt bildet (wie ein paradoxer, anfänglicher Filmschnitt) den ersten Satz des discours. 2.2

Unmögliches Erzählen

Diana, deren entblößten Körper Aktäon erschaut, verurteilt den einzigen Zeugen zum Tod; Nox wiederholt am Beginn der Romanhandlung die mythische Szene und macht sie zum Ausgangspunkt einer unmöglichen Erzählsituation. Der Roman wiederholt damit jene literaturtheoretische Leitmetapher, die Roland Barthes’ programmatischer Essay La mort de l’auteur 1968 eingeführt hatte und die seither zu einem Axiom der literarischen Postmoderne geworden ist. Der ›Tod des Autors‹ wird in der Diegese beim Wort genommen;555 ein Verfahren der narrativen Umsetzung literatur- und zeichentheoretischer Metaphern, das Hettche bereits in seinem ersten Roman angewandt hat.556 Damit wird der Roman teilweise zur erzählten Erzähl-Theorie, zu einem narratologischen Exerzitium. Die Unmöglichkeit der so entstandenen Erzählsituation hat jedoch ihre eigene Logik: Weil in der Darstellung des Todes die Darstellung den Tod immer schon überschritten hat, kann das Ich seinen eigenen Tod erzählen – und über ihn hinaus. Der Roman ›widerlegt‹ so gewissermaßen das Gesetz, die Fiktion des Endes sei auch das Ende der Fiktion.557 Das Paradoxon des Erzählens über den eigenen Tod hinaus entspricht einer narrativen Metalepse, einem ›Kurzschluss‹ in der Logik des Erzählens, weil das erzählte Geschehen des Todes die Möglichkeit des Erzählens davon kassiert.558 Die erzähltheoretische ›Regel‹, 554 Ovid: Metamorphosen, 3. Buch, v. 191, S. 96. 555 Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: ders.: Œuvres complÀtes. Nouvelle ¦dition revue, corrig¦e et pr¦sent¦e par Êric Marty. Tome III: 1968 – 1971. Paris 2002, S. 40 – 45. 556 Vgl. etwa Thomas Hettche: Ludwig muß sterben. Frankfurt/M 1992, S. 28 f. – Die ästhetische Kritik, »Hettches Artistik« winke an solchen Stellen »mit dem poststrukturalistischen Zaunpfahl«, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Andrea Köhler : Das Atmen der Dinge, das Dröhnen des Sterbens. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 69 vom 23. 3. 1995, S. 45. 557 Vgl. Christiaan L. Hart Nibbrig: Ästhetik des Todes. Frankfurt/M./Leipzig 1995, S. 9. 558 Für ein Erzählen, das den Tod des Erzählers überschreitet, gibt es zahlreiche Prätexte: In Vladimir Nabokovs 1929/30 in russischer Sprache entstandenem Roman Sogljadataj (englische Fassung: The Eye, 1965) berichtet der Ich-Erzähler Sumurow von seiner Selbsterschießung, um daraufhin – reduziert auf einen bloßen »Beobachter« seiner selbst und der anderen – Erinnertes und Imaginiertes zu einer Geschichte zu verknüpfen (Vladimir Nabokov: Der Späher. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Dieter E. Zimmer. Bd. 2: Frühe Romane 2. Reinbek bei Hamburg 1992. S. 319 – 450). Auch in Nabokovs Priglasˇnie na kazn’ (Einladung zur Enthauptung, 1935/36) erzählt der Held von der eigenen Exekution (Vladimir Nabokov : Einladung zur Enthauptung. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von

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der diese paradoxe Konstruktion untersteht, hat Vladimir Nabokov in seinem letzten Roman Look at the Harlequins (1974) formuliert: There exists an old rule – so old and trite that I blush to mention it. Let me twist it into a jingle – to stylize the staleness: The I of the book Cannot die in the book.559

Als erzähltechnische Instanz steht das Ich unter dem Gesetz der Unsterblichkeit, weil sein ›Leben‹ allein im Vorgang des Erzählens besteht. Auch Hettches Roman gewinnt dieser erzähltheoretischen Regel seine Möglichkeit und erzähltechnische Raffinesse ab. Infolge der entfalteten Paradoxie trennen sich die Möglichkeitsbedingungen der Erzählung von denen der außerliterarischen Welt radikal. Sind schon die Bedingungen der Erzählbarkeit in Ovids Metamorphosen in der erläuterten Weise paradox angelegt, so sind es die Bedingungen der Erzählbarkeit der in Nox erzählten Geschichte erst recht. Der Erzähler kann seinen eigenen Tod überleben, gerade weil der Tod ihn auf den subjektlosen Schauplatz eines materiellen Zersetzungsprozesses reduziert. Im pathologisch präzisen Protokoll der »Autolyse«, der zunächst mikroskopisch latenten, allmählich immer sichtbareren Auflösung der physischen Strukturen wird der Körper des Erzählers buchstäblich de-konstruiert: Ich sah zum offenen Fenster hinaus […]. Die Totenstarre stieg mit zunehmender Konzentration an Adenosin-Triphosphorsäure im Muskelgewebe abwärts in meinen Körper hinein und öffnete die Wunde weiter. Langsam und zuerst wurde das Herz mir starr. Dann Zwerchfell-, Hals- und Nackenmuskulatur. Ganz von selbst winkelten sich Beine und Arme an, und die Finger schlossen meine Hände zu Fäusten.560

Das Autor-Subjekt löst sich buchstäblich auf in die Materialität der Zeichen des erzählten Textes. Der Tod übergibt den Körper der Schrift, indem das sich zersetzende Gewebe des Körpers metonymisch in das Gewebe des Textes übergeht. Und indem der Roman den bei Ovid erzählten Mythos von Diana und Aktäon mit dem Tod des Autors zusammenführt, verwebt er auch Mythos und Theorie in jenes ›Gewebe von Zitaten‹ (tissue des citations), aus dem er besteht. Sowenig aber der Tod Aktäons die Erzählbarkeit des Geschauten wirksam verDieter E. Zimmer. Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1990). In beiden Fällen wird das Paradox des Erzählens über den eigenen Tod hinaus indes wieder normalisiert. Gerold Späths Roman Commedia (1980) enthält in seinem ersten Teil (»Menschen«) ebenfalls paradox-autobiografische Erzählberichte, die noch den Tod der Erzählinstanz umfassen (Gerold Späth: Commedia. Frankfurt/M. 1980, S. 48 f. u. ö.). Von Friedrich Christian Delius’ Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992) war bereits im Kapitel »1977. Deutscher Herbst« die Rede. Auch Ulrike Kolbs Roman ohne Held (1997) lässt den Ich-Erzähler vom Ertrinken im Swimmingpool und der Obduktion seines Leichnams detailreich berichten. 559 Vladimir Vladimirovich Nabokov : Look at the Harlequins! New York, St. Louis, San Francisco, Toronto 1974, S. 239. 560 Hettche: Nox, S. 32.

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nichtet, sowenig dementiert auch der bei Barthes postulierte und im Roman erzählte ›Tod des Autors‹ offenbar die Möglichkeit des Erzählens. Umgekehrt aber dementiert das Erzählen auch nicht den Tod, von dem es erzählt. Beide Male, bei Hettche wie im Falle Ovids, ist der Tod des teilhabenden, ›authentischen‹ Erzählers der Preis, den das Erzählen für seine Möglichkeit entrichten muss. 2.3

Subjektlosigkeit und ›Ursprung‹ der Schrift

Die paradoxe Konstruktion der Bedingungen des Erzählaktes macht die Stimme des Textes zu einer unmöglichen Kategorie, welche die narratologischen Ordnungsbegriffe durcheinander bringt. Denn der (erzählte) Tod hat den greifbaren ›Ursprung‹ des Erzählens, das schreibende Subjekt jenseits des Textes, buchstäblich beseitigt (umso mehr, als der Erzähltext auch Autor und Erzähler metonymisch zusammenrückt561). Übrig bleibt allein das Schwarzweiß (»le noiret-blanc«) der Schrift, »o¾ vient se perdre toute identit¦, — commencer par cellel— mÞme du corps qui ¦crit«,562 wie Barthes formuliert. Auch an dieser Stelle leitet der Roman aus der Wörtlichkeit literaturtheoretischer Modellvorstellungen seine Narration ab: Der verwesende, sich selbst »schreibende« Körper im Text generiert eine paradoxe Schrift, die sich gewissermaßen an die theoretische ›Ursprungsszene‹ ihrer Ursprungslosigkeit, den von Barthes behaupteten Tod des Autors, erinnert. Und sie wiederholt den genetischen ›Ursprung‹ der Schrift als Ablösung des Zeichens vom Körper, also von der Präsenz des Signifikats, mit der der semiotische Prozess des Bedeutens überhaupt beginnt. Weil die Schrift mit der Ablösung von der körperlichen Präsenz aber ihren Ursprung verliert und nur ihre eigene Materialität zurückbehält, wird sie zum Schauplatz einer genuinen Wiederholung, die selbst auf kein ursprüngliches Geschehen mehr zurückbezogen werden kann. Es ist die in den Körper des Masochisten David eingebrannte Narben-Schrift, die diese Materialität der Zeichen exponiert. Aber die erneute Einschreibung der Zeichen in den Körper und die masochistische Lust am Schmerz zielt hier wiederum auf jene pure Präsenz, die keinen Abstand von Zeichen und Bezeichnetem mehr kennt. Führt der Roman so auf der einen Seite die Substitution des Körpers durch die Schrift vor, welche die bedeutungsfähigen Zeichen jenseits der Präsenz hervorbringt, so bezeugt er andererseits ein in allem Schriftgebrauch wirksames semiotisches ›Begehren‹ nach unmittelbarer Gegenwär561 Die Annäherung von Erzähler und Autor wird dadurch verstärkt, dass Hettche selbst am Abend des 8. November 1989 zusammen mit Walter Klier eine Stipendiaten-Lesung im Literarischen Colloquium Berlin abgehalten hat. Für diese Auskunft danke ich Renate von Mangold. 562 Barthes: La mort de l’auteur, S. 40.

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tigkeit oder Präsenz, von dem die zahlreichen sexuell-gewalthaften Momente der Romanhandlung Rechenschaft geben. Auch die Schrift des Romans im Ganzen verwandelt, was sie an außertextueller Welt aufnimmt, in solche Zeichen ihrer Abwesenheit, während sich ihr Urheber, der Autor / Erzähler, als Wahrheit vermittelnde Instanz in der Schrift auflöst. Diese alles in sich einziehende Verschriftlichung erfasst aber auch den Leser als dem Autor / Erzähler gegenübergestellte Instanz: Unversehens verwandelt sie das Subjekt, dessen lesender Blick die Zeilen abtastet, in ein Objekt des zeichenhaften Geschehens. Nox führt diese Umkehrung bereits in der Wiederholung der mythischen Szene zwischen Diana und Aktäon vor: Vom begehrenden Subjekt eines Sehens, das den unverhüllt dargebotenen Körper der Göttin erblickt und in seiner Scham verletzt, wird Aktäon zum Objekt eines Sehens, das ihn als Sehenden auslöscht. Thomas Hettche hat diese Peripetie des Sehens im titelgebenden Prosatext seiner Erzähltextsammlung Inkubation (1992) auf den Vorgang des Lesens bezogen und präzisiert; die Struktur dieses Sehens ist dabei erneut als Wiederholung eines narrativen Modells angelegt, diesmal des Märchenmotivs von Brüderchen und Schwesterchen. Zwischen den offenen Seiten ist Dezember, und mir ist kalt, bin krank, hab mich nicht identifiziert mit einer Figur, infiziert hab ich mich an deinem Blut, das als feine Spur Zeile um Zeile austritt immer weiter dort, wo die Berührung meines lesenden Blicks deine Haut ritzt.563

Die Begegnung von Leser und Figur im Text wird zum Schauplatz einer intensiven Semiose, in der das fiktionale Leben des Textes ebenso eine Funktion des Lesens wie umgekehrt das Lesen eine Funktion des fiktionalen Textes ist; das lesende Subjekt wird vom »Betrachter« zum »Teilhaber am Spiel von Bedeutung und Wunsch«. Der »begierig« lesende Blick wird – wie Aktäons Blick auf Diana – von diesem erwidert; der Text sagt es mit einem Rilke-Zitat: Die in der Bezeichnung gebannten Dinge verwandeln sich in allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge, da ist keine Stelle, die mich nicht sieht, unentscheidbar, wer in wessen Blick sich spiegelt, und ob nicht du in der Feuchte meiner Augäpfel dich selbst besiehst.564 563 Thomas Hettche: Inkubation. In: ders.: Inkubation. Frankfurt/M 1992, S. 32 – 34, hier S. 32. – Dazu auch Hubert Winkels: Vom Buch zum Hypertext und zurück – Thomas Hettches testende Texte. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur – Wider ihre Verächter. Hg. von Christian Döring. Frankfurt/M. 1995, S. 215 – 233. 564 Hettche: Inkubation, S. 32. – Vgl. Rainer Maria Rilke: Archascher Torso Apollos. In: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bdn. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M., Leipzig 1996, S. 513: »denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.«

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Die Modellierung des Lesevorgangs als wechselseitiges Sehen verweist wiederum auf die Betrachtung einer Fotografie, deren Struktur Roland Barthes’ Essay La chambre claire erläutert hat. Im Blickwechsel zwischen Leser und Text (wie zwischen Betrachter und Fotografie) wirkt sich offenbar ein »punctum« aus, das den Leser in den Text hineinzieht – ein ›kleiner Schnitt‹ (»petit coupure«), wie Barthes bezeichnenderweise formuliert, ein Detail oder eine ›empfindliche Stelle‹, mit der dieser (wie die von Barthes betrachtete Fotografie) den Betrachter besticht.565 Innerhalb der Diegese sind es offenbar die sexuellen Gewaltdarstellungen, welche für die junge Frau das »punctum« der vorgetragenen Texte bilden und ihr insistierendes Nachfragen veranlassen; aber sie sind, von der Tötung des Autors auf den ersten Textseiten an, auch das punctum, mit dem Hettches Roman selbst den Blick des Lesers zu bestechen sucht. Derselbe, eben beschriebene ›verletzliche‹ Blickwechsel, der Subjekt und Objekt gegeneinander vertauscht, wiederholt sich also in der tödlichen Begegnung im Roman: Was in Inkubation zwischen Leser und Textfigur geschieht, ereignet sich im Roman in der Begegnung zwischen dem Autor und seiner jungen Leserin. War sein Blick schon zu Beginn der Lesung »an ihren dunklen Pupillen hängengeblieben«,566 so begegnet ihr begehrlicher Blick umgekehrt dem erkennenden des Autors, der ihr »geheimes Gesicht«567 erfasst; unentscheidbar, wer der Sehende und wer der Gesehene ist (oder ob der Autor sich im Blick der Leserin nur selber reflektiert). Es ist dieser letztlich tödliche Blickwechsel, der gleichzeitig die Leserin in jenen »stillen Raum des Augenblicks«, die Fiktion, hineinzieht, in dem ihr die in Nox erzählte Geschichte widerfährt und die mitgebrachte Identität abhanden kommt: Es war, als entkleidete sich im Gehen ihr Gedächtnis mit jedem Schritt. Verschwunden schon die eigene Geschichte. Wie fremde Photographien blitzen Erinnerungsbilder auf, die sie, gleichgültig, nicht mehr ordnete.568

Der Schrift-Körper des Textes verleibt auch die Leserin als Figur sich ein, nachdem er ihren Ursprung außerhalb der Fiktion – wie es in Hettches Essay heißt – auf einen »Punkt« reduziert hat, »dessen Ausdehnung gleich null ist«: auf das eine Ende der Sehachse, die »mich und das Angesehene verbindet«,569 so dass es gleichsam nur vom Text »aus[ge]stülpt« wird.570 Für das andere Ende dieser Sehachse gilt dasselbe: Auch der Autor erfährt in Nox durch seinen 565 566 567 568 569

Barthes: La chambre claire, S. 809. Hettche: Nox, S. 16. Ebd., S. 22. Ebd., S. 27. Hettche: Inkubation, S. 32. – Vgl. auch Barthes’ Charakterisierung des Lesers als »l’¦space mÞme o¾ s’inscrivent […] toutes les citations dont est faite une ¦criture.« Barthes: La mort de l’auteur, S. 45. 570 Hettche: Inkubation, S. 33.

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Verwesungsprozess »nur eine seltsame Metamorphose, die jenen Blick, den sie mir nicht verzeihen konnte, nach außen stülpte.«571 Beider Geschichte wird so als Konsequenz dieser Annihilierung eines textunabhängigen Seins verstehbar : Wie der Autor ist der Leser (bzw. die Leserin) »un homme sans histoire, sans biographie, sans psychologie«,572 schreibt Roland Barthes. Mit dem Tod des Autors im Text wird auch die junge Leserin daher zur Schreibfläche einer Intextuation, die ihr durch die Erzählung geschieht: »Meine Haut ist das Gelände einer Schlacht, deren Verlauf ich nicht begreife. […] Doch immer lesbarer wird die Schrift, dachte sie […]«.573 Diese Schrift, die von ihr erzählt, erstattet ihr am Ende auch den vergessenen Namen, denn sie verleiht ihr eine »identit¦ narrative« (Paul Ricoeur):574 »Es schien ihr, als wäre ihre Haut überzogen mit all den Blicken und Wörtern, die auf ihr kondensiert waren zur Schrift ihres Namens.«575 Werden so die Subjektpositionen von Autor und Leser in den Erzähltext eingezogen, in dem sie ein an Zeichen gebundenes Leben führen, ergeben sich daraus Konsequenzen für die Darstellbarkeit der geschichtlichen Welt, die ebenso in Zeichenprozesse eingegangen sein muss. Damit aber bekommt der Text über die eigene Medialität hinaus auch die Effekte anderer (technischikonischer) Medien in den Blick, die seine mediale Umwelt bilden.

2.4

Sehmaschinen und Erzählmaschinen

Tod, fortschreitende Verwesung und ›Verdinglichung‹ als Leichnam schließen den Autor-Erzähler keineswegs von der erzählbaren Welt aus, sondern vielmehr an sie an: Nicht obwohl, sondern weil er daliegt »wie ein Ding am Tag«, wird er zum Medium eines teilnahmslosen Aufzeichnungsprozesses. Wie in Nabokovs Roman Sogljadataj (1929 / 30; The eye, 1965) macht der Tod aus dem Erzähler einen reinen Beobachter mit prinzipiell unbegrenztem Wahrnehmungsfeld. Im gleichen Maß, in dem er seine chemophysische ›Autolyse‹ naturwissenschaftlich exakt beobachtet und protokolliert, wird er zum Empfänger technisch vermittelter und sinnlicher Wahrnehmungen, die über den Radius eines einzelnen Subjekts hinausgehen: »Nur, wenn man tot ist, hört man, wie in einer Stadt alles die Steine zerfrißt. Nun den Dingen gleich, öffnete die Stadt sich hinein in 571 572 573 574

Hettche: Nox, S. 72. Barthes: La mort de l’auteur, S. 45. Hettche: Nox, S. 133. Vgl. Paul Ricoeur : Zeit und Erzählung. Bd. 3, München 1991, S. 395: »Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt […] die Geschichte eines Lebens erzählen«. Oder in nuce, wie in Nox: die Geschichte einer Nacht. – Zum Problem der narrativen Identität vgl. auch ders.: L’identit¦ narrative. In: Esprit 7/8 (1988), S. 295 – 304. 575 Hettche: Nox, S. 143.

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meinen Kopf, und mein Körper reflektierte ihren Lärm«.576 Der gespaltene, ›verstümmelte‹ Körper der Stadt Berlin und der durch chemische Reaktionen in seine Bestandteile sich aufspaltende Erzähler-Körper bilden einen metonymischen Übergang: »Der Schmerz brannte im Körper der Stadt, und ihre Augen zuckten hinter den geschlossenen Lidern im Schlaf«.577 Aber der geöffnete Körper als Erzählmedium ist auch an den Schaltkreis der öffentlichen Informationsströme einer globalen Daten-Zirkulation angeschlossen: Ich wußte, an den Aktienmärkten war es zu einer deutlichen Erholung gekommen. Durch die von den USA ausgehenden Zinssenkungstendenzen und den stabilisierten Rentenmarkt waren vor allem Bauwerte, aber auch Papiere aus dem Versorgungsbereich und Kaufhaustitel gefragt. Diskontsatz und Lombardsatz weiterhin unverändert. Ich kannte Dollar- und Goldkurs und wußte, daß die Menge der im Westen kursierenden Ostmark […] zehn Millionen erreichte, während sie noch immer schlief und zu ihren Füßen der Hund. Im Ostteil der Stadt berief die SED zum vierten Mal in ihrer Geschichte eine Parteikonferenz ein, und weit im Süden, an der Germaniastraße, erlitt ein Mädchen schwere innere Verletzungen, als es von einem Lastwagen erfaßt wurde.578

Der Tod macht den Ich-Erzähler zu einer Wahrnehmungsmaschine,579 zu einem selbststeuerungslosen Aufzeichnungsapparat, der den Barthesschen scripteur ins Technische überträgt. Die Grammatik trägt dieser passiven Technizität durch das Scheinsubjekt Rechnung, welches das reale, sehende Subjekt substituiert: »So bewegungslos und still, wie es ein Zuschauer nur sein kann, folgte ich jeder ihrer Bewegungen, und es hörte in mir noch immer nicht auf, hinzusehen.«580 Damit wird der Erzähler zu einem automatischen Relais, das zwischen den Fiktionen des ästhetischen Textes und dem ›faktualen‹ Material der Fernsehbilder und Agenturmeldungen, die über die Faxgeräte der Nachrichtenredaktionen tickern oder auf den Bildschirmoberflächen des Fernsehens und des Internet erscheinen, geräuschlos umschaltet. Indem der Tod die menschliche Gestalt defiguriert und das Subjekt liquidiert, konfiguriert er den Körper als medial-maschinelle Schnittstelle zwischen dem Gewebe der Fiktion und den Kupfer- oder Glasfaser-Netzen einer ›infografischen Maschine‹:

576 Ebd., S. 31. 577 Ebd., S. 80. – Vgl. auch folgende Textstelle über die ›Mauerspechte‹, S. 96 f.: »Wie Madenfraß, wie Fliegenlarven auf der offenen Wunde, die sich hineinbohrten ins nekrotische Gewebe, klammerten sich überall im Fackelschein welche mit Hämmern und Händen an die Mauer.« 578 Ebd., S. 31. 579 Das Problem der Identität des Erzählers erörtert im Hinblick auf die Problematik der ›deutschen Identität‹ Aminia Brueggemann: Identity Construction and Computers in Thomas Hettche’s Novel ›Nox‹. In: The German Quarterly 72 (Fall 1999), H. 4, S. 340 – 348. 580 Hettche: Nox, S. 71 f.

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Über Nacht würde in den Wechselstuben der Kurs der Ostmark weiter steigen, und die Unruhe, die in meinem Kopf echote, würde unsichtbar als elektrische Entladung aus der Stadt hinauszittern und durch die atlantischen Kabel dorthin, wo Tag war, zu den überseeischen Käufern und ins grelle Licht des Dow Jones.581

Diese infografischen Netze korrespondieren mit den neuronalen Netzen, deren chemophysische Struktur der neuromedizinischen Theorie zufolge nur die Illusion eines freien Willens erzeugt. Willensimpulse und Bewusstseinsakte sind ihrer Natur nach verspätet: Der lebendige Mensch, so scheint der tote Erzähler implizit zu bestätigen, war gewissermaßen immer schon antiquiert. Was Günther Anders als technikinduzierte Deshumanisation des Menschen warnend beschrieb,582 war die Selbstentfremdungsfurcht eines Geistes, der sich gegen die Anerkenntnis seiner eigenen Technizität sperrt. Wenn Hettches Erzähler im Tod die Grenze zur Maschine überschreitet, holt er dagegen nur ein, was das Pathos seiner Subjektivität dem lebendigen Subjekt bisher verbarg. Durch seinen Tod gewinnt er keineswegs die quasi-theologische Position eines ›allwissenden‹ Narrators zurück, vielmehr übernimmt er die Funktion einer Schnittstelle zwischen dem ›alten‹ Medium der Schrift und den ›neuen‹, elektronischen Medien. Dadurch kann sein Erzählen auch die ›alte‹ autorschaftliche »Tätigkeit des Registrierens, Konstatierens, Repräsentierens, ›Malens‹« (»une op¦ration d’enregistrement, de constatation, de r¦presentation, de ›peinture‹«583) mit der Performanz eines Schreibens »ici et maintenant« verknüpfen. Diese intermedialen Möglichkeiten eines technisch erweiterten Sehens mit »gleichgültigen Augen« verdankt er gerade seiner Mortifikation – jedenfalls für die Dauer des Erzählens. Am Ende des chemophysischen Auflösungsprozesses werden mit dem Ende der Narration »auch die Bilder« verschwinden.584 Aber solange das Erzählen andauert, bleibt der Narrator eins mit einem technischen Prozessor, dessen Funktionsweise lediglich in der Konfiguration von ihm nicht verantworteter Daten und in der Realisierung einer subjektlosen Aufschreibefunktion besteht: […] immer wieder dachte ich an das, was ich nicht hatte sehen dürfen. Deshalb war ich noch da. Und mußte nun zusehen bei dem, was in mir geschah, und um mich her und ihr. Wie ein Computer, den man, lange bevor er nicht mehr funktioniert, einfach vergißt. Er wartet und saugt die Zeit auf, bis einer den On-schalter drückt. Nur jenen

581 Ebd., S. 32. 582 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. 583 Barthes: La mort de l’auteur, S. 43; dt. Übersetzung in: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. und kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185 – 193, hier S. 189. 584 Hettche: Nox, S. 152.

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Moment des Zögerns, so, wie jemand Ruhe erbittet, bis wieder alle Daten konfiguriert sind und der Cursor blinkt.585

Der Tod des Autors und Subjekts macht die Verselbständigung eines Aufschreibesystems kenntlich, dessen Repräsentationen prinzipiell ohne wahrnehmende Subjekte auskommen könnten. In einer technischen Welt, in der das neuronale Netz eines lebendigen Erzähl-Ichs verlustlos durch die physikalischelektronischen Netze ersetzt werden kann, hat das Erzählen seinen Anspruch auf erfahrungsgesättigte Authentizität verloren: Längst findet »in Form der neuronalen, namenlosen Datennetze« das »Selbstgespräch dieses Planeten« statt, schreibt Hettche in Animationen.586 Der Tod des Erzählers, der keinen körperlosen ›Geist‹ mehr freisetzt, sondern Wahrnehmen und Erzählen als maschinell simulierbaren Vorgang desillusioniert, belegt einen Primat des Materiellen, der in der Erzählerrede auch ausdrücklich ausformuliert wird: Der Körper, in dem wir sind, tut nur so, als gehorchte er uns. Doch er allein entscheidet, wohin er den Blick wendet, und wir bemerken nicht, daß wir durch seine gleichgültigen Augen über die Dinge huschen, wie er will.587

Als apparatives Seh- und Erzähl-Medium leitet der Erzähler die Informationsund Datenströme der modernen Bild- und Printmedien ab in die Materialität der Schrift, die er hervorbringt.588 Diese wiederholt neben mythologischen, theoretischen und literarischen Intertexten auch die ›beglaubigten‹ Informationen und Nachrichtensequenzen des historischen Datums, welche die Romanhandlung zeitlich und räumlich situieren und mit der außertextuellen Welt verbinden. Fiktion und Faktizität sind durch eine halbdurchlässige, ›semipermeable‹ semiotische Schleuse getrennt, über die in einer Art informationeller Osmose der ständige Übertritt ›faktual‹-medialer Partikel in die literarische Fiktion ermöglicht wird. Damit aber wird die erzählte Welt zu einer hybriden Konstruktion, zu einem nur schwer entwirrbaren Amalgam aus narrativer Phantasie, Mythos, literarischen Zitaten, zeitgeschichtlichen Ereignissen und den medialen faits divers vom 9. November 1989: Ein Mann tötete zu dieser Zeit seine vierunddreißigjährige Ehefrau. Versehentlich berührte er den Abzug einer mit sieben Patronen geladenen und entsicherten Pistole des Modells P1, die er als ältester Sohn im vergangenen Jahr von seinem in der Türkei verstorbenen Vater geerbt und nach Berlin geschmuggelt hatte. Beinahe jede Nacht

585 586 587 588

Ebd., S. 51. Hettche: Animationen, S. 12. Hettche: Nox, S. 31. Vgl. dazu den Band von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift. München 1993.

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hatte er sie aus dem Nachttischschrank im ehelichen Schlafzimmer genommen, betrachtet, gereinigt und wieder zurückgelegt.589

Diese kontingenten, erzählökonomisch im Grunde dysfunktionalen Informationen, die den gesamten Text durchsetzen, lassen sich mit Roland Barthes als effets de r¦el verstehen:590 Innerhalb der Fiktion tragen sie die Spannung zwischen den Zerstreuungseffekten technischer Informationsmedien und dem Verdichtungseffekt literarischen Erzählens, zwischen der Exuberanz von fiktional verarbeitetem Material und der Emergenz von textuellem Sinn aus. Die Montage medialer Materialien reflektiert die Mittelbarkeit des Erzählten, das keineswegs durch direkten Zugriff zur Darstellung zu gelangen vermag. Schon Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), Johnsons Jahrestage (1970 – 1983) und noch Hettches 2006 erschienener Roman Woraus wir gemacht sind591 bedienen sich dieses Montageverfahrens technisch vermittelter Informationen im erzählenden Text. Während jedoch die Verschriftlichung die Elemente der »realen Welt« in Zeichen ihrer Absenz verwandelt – »weil«, so Hettche, »das Wort immer dasjenige absentiert, was es bezeichnet«592 -, suggerieren die audiovisuellen Medien (Film und Fernsehen) unmittelbare Präsenz. Während die abstrakte Schrift das Reale erst codiert, um seine Wiederkehr der synthetisierenden Einbildungskraft der Leser anheim zu stellen, schafft die Technik der (visuellen) Informationsmedien eine »elektro-optische Umgebung«, die das Subjekt ihrer sinnlichen Einwirkung unmittelbar aussetzt – und in der das Reale, »in Wellen« übersetzt,593 auch vom Erzählen vorgefunden wird.

2.5

Teletopie

In diesem elektronisch generierten Raum verschlingt sich auch die klar gegliederte mimetische Beziehung zwischen ›primären‹ Ereignissen und ›sekundären‹ Bildern in der Figur einer Inversion: Nicht die Bilder gleichen den Ereignissen, sondern die Ereignisse gleichen den Bildern. Hettches Roman 589 Hettche: Nox, S. 52. 590 Vgl. Roland Barthes: L’Effet de R¦el. In: ders.: Œuvres complÀtes. Nouvelle ¦dition revue, corrig¦e et pr¦sent¦e par Êric Marty. Tome III: 1968 – 1971. Paris 2002, S. 25 – 32. 591 Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind. Köln 2006. – Die hier wiedergegebenen Nachrichten (unter anderem, wie bei Johnson, aus der New York Times) und Fernsehbilder betreffen vor allem die amerikanischen Vorbereitungen auf den Irak-Krieg nach dem 11. September 2001. Sie verdichten sich im Roman zur Chronik eines angekündigten Krieges, der am Ende (S. 319 f.) unmittelbar bevorsteht. 592 Hettche: Animationen, S. 72. – Vgl. auch Thomas Hettche: Es gibt keine Kriterien für Texte – außer ihrem Gelingen. Gespräch mit Thomas Hettche – 10. Dezember 1999. In: LebensBeschreibungen – Zwanzig Gespräche mit Schriftstellern. Hg. von Daniel Lenz und Eric Pütz. München 2000, S. 207 – 216, hier S. 210. 593 Virilio: Rasender Stillstand, S. 10.

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macht sich diese konfundierende Logik zueigen, indem er die Engführung von medialen effets de r¦el und literarischer Fiktion zum Erzählverfahren macht. Die Darstellung geschichtlicher Wirklichkeit verweist nicht mehr auf eine unter den epistemischen Bedingungen des technischen Informationszeitalters unmögliche Authentizität des Sehens und Erzählens, sondern nur mehr auf eine sekundäre Welt, die immer schon als Medienwirklichkeit in Erscheinung tritt. Dieser Primat der technischen Bilder wird an der Wiedererzählung jener ›historischen‹ Pressekonferenz des Regierungssprechers der DDR, Günter Schabowski, im fiktiven Zeitsystem594 des Romans besonders manifest, welche die Initialzündung zur Öffnung der Berliner Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 gab (Abb. 11). Die vom Ersten Programm des DDR-Fernsehens übertragene internationale Pressekonferenz zur dreitägigen Sitzung des SED-Zentralkomitees in Ost-Berlin dauerte schon über eine Stunde. Es war achtzehn Uhr siebenundfünfzig. […] Die Paßfrage, sagte er so langsam, als frage er sich selbst, kann ich jetzt nicht beantworten. Das ist auch eine technische Frage. Ich weiß nicht, die Pässe müssen ja, damit jeder im Besitz eines Passes ist, überhaupt erst mal ausgegeben werden. Und wieder schwieg er. So, als lösten seine Gedanken sich von dem losen Ende des Satzes, das in der Stille flatterte. Trieben weg zu einer Erinnerung, in eine andere Zeit und in ein ganz anderes Licht. Und erst, als er pelzig auf der Zunge schmeckte und bitter, wie weit er sich entfernt hatte, schrak Schabowski auf. Noch einmal befühlte er die Erinnerung mit der Zunge, nahm sie dann zwischen die Zähne und zerbiß sie schnell. Wir wollten aber, sagte er. Doch schon implodierte der Raum, den sein Schweigen geschaffen hatte. Wann? Nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich.595

Nicht die historische Szene wird hier erzählt, sondern eine Fernsehsequenz mitsamt ihrer exakten realzeitlichen Situierung (»es war achtzehn Uhr siebenundfünfzig«). Eine ›authentische‹ Beobachtung sucht die Erzählung gar nicht erst zu suggerieren; sie geht bereits von einem Apriori der technischen Bilder aus, deren Unhintergehbarkeit für die Apperzeption zeitgeschichtlicher Ereignisse kaum überzeugend bestritten werden kann. Gerade in jener Nacht, die Nox den Titel gibt, wurde das Repräsentationsmedium Fernsehen zum Motor der repräsentierten Ereignisse selbst: Die ›historische‹ Nacht der Maueröffnung ist die Klimax der von den Montagsdemonstrationen ausgelösten Ereigniskette, die 594 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 4. Auflage Stuttgart 1994, S. 80. 595 Hettche: Nox, S. 61. – Die Aussagen Schabowskis sind nachzuhören auf dem Tonträger: Die Mauer fällt. Die Wende in Deutschland vom Januar 1989 bis zum 3. Oktober 1990. Hg. vom Deutschen Historischen Museum und dem Deutschen Rundfunkarchiv. Text und Tonauswahl: Walter Roller. Berlin, Frankfurt/M. 1999 (Stimmen des 20. Jahrhunderts). – Hettches Verschriftung nimmt allerdings geringfügige ästhetische Glättungen im Wortlaut vor und dehnt die tatsächlich sehr kurzen Pausen im Redefluss.

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erst durch die Fernsehübertragung der im Roman wiedererzählten Pressekonferenz ermöglicht wurde. Diese gleichzeitige Übertragung stellt eine Kontiguität her zwischen dem realen Raum und der »Teletopie«,596 die den point of view von Hettches Erzähler mediologisch und narratologisch definiert.

Abb. 11: Pressekonferenz des DDR-Regierungssprechers Günter Schabowski am 9. 11. 1989 (Ó ullstein bild/ADN Bildarchiv)

Es ist dieser ›teletopische‹ Raum, der in Nox mit dem allegorischen Raum des Platonischen Höhlengleichnisses zusammengeschoben wird: Die »bernsteinfarbene«, »augenschonende Dämmerung«597 entspricht der elektronischen Höhle mit ihren ikonischen Schatten. An »hellen Feuern«, heißt die bereits in der Einleitung dieser Untersuchung zitierte Stelle, steigt man »in der Tiefe und immer weiter ins Flimmern der Halbleiter hinab und in jene einfachen Zustände stummer Ladungsübertragung«, in die »Dämmerung der elektronischen Speicherräume«.598 Der elektronische Schaltkreis ist das medientechnische Modell einer Simulation, die über die Abwesenheit des Originals jenseits der Repräsentation hinwegzutäuschen vermag.599 Das Computerprogramm, über dem der Ich-Erzähler im Roman sich in diesen virtuellen Raum hineinträumt, trägt den Namen »Simcunt«. ›Sim‹, gepaart mit einem sexuellen Argotismus, steht für 596 597 598 599

Virilio: Rasender Stillstand, S. 29. Hettche: Nox, S. 51 f. Ebd., S. 52. Vgl. Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. 2., unveränderte Auflage München 1992, S. 109.

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›Simulation‹; »SimCity«, »SimEarth« oder »SimLife« lauten die Namen der Computerspiele, mit welchen der amerikanische Softwarehersteller Maxis in den neunziger Jahren systematisch die Grenze zwischen Wirklichkeits- und simulativen Modellen perforierte – also »die Grenzen zwischen Spielen und Simulationen, zwischen Spielen und Lernen – sogar zwischen Maschinen und Lebewesen«, wie der Werbetext zu SimLife verhieß.600 In diesem virtuellen, durch technische Programmiersprachen hervorgebrachten Raum, den Hettches Erzähler mit der platonischen Höhle identifiziert, verliert die Unterscheidung zwischen primärer Wirklichkeit und medialen Repräsentationen endgültig ihren Sinn.

2.6

Grenzüberschreitungen

Weil aber dem Modell der Simulation zufolge hinter den ikonischen Schatten keine ›Wahrheit‹ liegt, deren der narrative Diskurs auf direktem Wege habhaft werden könnte, operiert der Roman mit Figuren der Überschreitung – durch intertextuelle und intermediale Referenzen, Metaphern und metonymische Verkettungen.601 Als Tropen der Grenzüberschreitung oder -verschiebung setzen Metaphern und Metonymien auf der Ebene des discours um, wovon die histoire mit der Überschreitung der geografisch-politischen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten handelt. Figuren der Transgression verbinden den Schnitt durch die Kehle des Ich-Erzählers mit der gespaltenen Stadt, deren vernarbte Wunde in der Novembernacht wieder aufreißt,602 mit dem gespaltenen Genital des Masochisten David603 und mit dem Mythos der Kugelwesen aus Platons Symposion.604 Sie verknüpfen die beschriebene Zersetzung des Leichnams mit den missgebildeten »Monstra«,605 welche die von Professor Matern rekonstruierte Virchowsche Sammlung medizinischer Schauobjekte zeigt, und verbinden diese – als »ein Stück Kulturgeschichte der Menschheit« – mit den Gestalten des Mythos.606 Sie verkoppeln weiterhin die erzählten sexuellen Vereinigungen mit 600 Vgl. das Zitat bei Timothy Druckrey : Illusionen der Simulation. In: Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität. Hg. von Stefan Iglhaut, Florian Rötzer und Elisabeth Schweeger. Ostfildern 1995, S. 138 – 157, hier S. 140. 601 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Franziska Schößlers Hinweis auf Nietzsches Charakterisierung der Wahrheit als »ein bewegliches Heer von Metaphern, von Metonymien«; Schößler : Mythos als Kritik, S. 178. 602 »Die Mauer war der Schnitt, mit dem sich die Stadt vom Osten trennte. Wie man ein Glied amputiert, bevor die Ptomaine den ganzen Körper überschwemmen.« Hettche: Nox, S. 86 f. – Vgl. auch S. 89 f., 91, 96, 128. 603 Ebd., S. 45. 604 Ebd., S. 158. 605 Ebd., S. 84. 606 Ebd., S. 25.

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der Vereinigung der geteilten Stadt. Und nicht zuletzt verschalten sie die historische Nacht vom 9. auf den 10. November mit der Umnachtung des Vergessens, der Nacht des Todes, dem Schattenreich des Hades und der Nacht auf Golgatha. Während solche Verkettungen den komplexen Sinngehalt des zeitgeschichtlichen Datums im Sinne eines ›Semiophorons‹ entfalten, verknüpfen mediologische Referenzen schließlich auch mythische Erzählungen mit den modernen Informationsmedien. Durch solche motivischen, metonymischen und metaphorischen Verknüpfungen wird aber auch der Raum des Gedächtnisses, den der Text aufspannt, »auf neue Weise«607 konstituiert: Weit über die Leistung der audiovisuellen Aufzeichnungssysteme hinaus archiviert er kulturgeschichtliche Bestände und Prozesse, zu denen die Geschichte der modernen Medien selbst gehört, und schließt das ›singuläre‹ Ereignis an den Resonanzraum kultureller Erinnerung an. Die im Text zitierte Virchowsche Sammlung fungiert als Modell dieses kulturgeschichtlichen Archivs – zumal der Berliner Pathologe selbst seine Sammeltätigkeit als Arbeit am (hier : naturgeschichtlichen) Archiv verstanden wissen wollte: »So ist […] viel zu fixieren, was der große Strom der Geschichte schnell hinwegschwemmen dürfte; ja man kann […] behaupten, daß Vieles unrettbar verloren sein würde, wenn die gegenwärtige Generation nicht wenigstens die Erinnerung daran sicher stellt.«608 Wenn die Erinnerung an die Ereignisse des Novembers 1989 bereits zu beträchtlichen Teilen in einem »Fernseharchiv« abgelegt worden ist,609 das die Vorgänge der Nacht des Mauerfalls im kollektiven Gedächtnis der ›Fernsehnation‹ verwahrt, so reflektiert Hettches Roman diese ›neue‹, medientechnologisch bedingte Form der Gedächtnisbildung in den bereits einleitend zitierten Aussagen explizit: »Nichts mehr kann nicht angesehen werden. Nichts an den Dingen vergeht mehr. Erinnerung entsteht auf neue Weise. Es gibt keine Spur mehr jenseits der Speicher.«610 Geschichtliche Erinnerung bildet sich demnach nicht mehr vor allem in Form abstrakter, lesbarer Zeichen, sondern in den anschaulichen Bildern der Informationsmedien. Soweit der literarische Text (zeit-)geschichtliche Erinnerung aufzurufen versucht, sieht er sich auf die Wiederholung der Bilder und bewegten Bildsequenzen verwiesen. Diese Wie607 Ebd., S. 52. 608 Rudolf Virchows Aussage von 1875 wird zitiert nach Anke te Heesen: Das Archiv. Die Inventarisierung des Menschen. In: Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vom 22. April bis 8. August 1999. Hg. von Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel. Ostfildern-Ruit 1999, S. 115 – 141, hier S. 116. 609 Helmut Kreuzer, Helmut Schanze: Vorwort der Herausgeber. In: Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 8. 610 Hettche: Nox, S. 52.

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dererzählung (oder wiederholende Vertextung) reichert den literarischen Text einerseits mit medialer ›Wirklichkeit‹, umgekehrt aber auch diese Medienwirklichkeit mit einer Fülle von ›Geschichten‹ an, welche der Roman aus den Speichern der kulturellen Erinnerung abruft. Was Nox auf diese Weise zu erzählen vermag, ist letztlich auch die Geschichte der modernen Bildmedien selbst. 2.7

Illicit pleasures: Die Inszenierung des Blicks

Diana wird von Aktäon verbotenerweise in ihrer Nacktheit angeschaut: Sein Blick ›exponiert‹ ihren Körper, der sich ihm ungewollt darbietet. Die »illicit pleasures«611 dieses verbotenen Sehens verstricken den Betrachter in eine Schuld, die er mit dem Tod büßen muss. Damit aber wiederholt die Ausgangsszene des Romans den mythischen Ausgangspunkt der modernen Bildmedien überhaupt: Aktäons Blick auf Diana bildet gewissermaßen die Ursprungsszene der Geschichte der ›modernen‹ ikonischen Medien, wie Hettche sie erzählt. Denn jede mediale Anschauung wiederholt den mythischen Augenblick, der kein Wegsehen mehr erlaubt, der den Betrachter verurteilt, »hinsehen zu müssen«.612 Der ›illegitime Blick‹ wird so zum Bindeglied zwischen der mythischen Erzählung und der Romanerzählung, die den Vorgang der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im sexuell-pornografischen Sinn wörtlich nimmt. Aber auch der für den lesenden Blick ›geöffnete‹ Leichnam des Erzählers ist mit der historischen Genealogie der medialen Moderne verknüpft, denn sie geht auf das anatomische Theater der Frühen Neuzeit zurück. In den Anatomiesälen mit den halböffentlichen (und manchmal öffentlichen) Sektionen des menschlichen Leichnams geschieht bereits jene »Inszenierung des Blickes«, die im televisionell vermittelten »Augenschein« ihre volle Verwirklichung findet.613 Das Anatomietheater der Renaissance hat das antike Amphitheater, einen auf die Mitte hin ausgerichteten, steil gestaffelten Raum, in einen Schauplatz der medizinischen Demonstration des Körpers verwandelt; und diese »Umdeutung der Architektur des antiken Theaters« durch das Anatomietheater steht »auch am Anfang der Geschichte der modernen Medien«, wie Thomas Hettche meint: Alle Medien in der Nachfolge des anatomischen Theaters sind wesentlich Instrumente der Ersetzung jenes geöffneten Leibes. Ihnen obliegt, dessen Abbild nach dem jeweiligen und historisch sich verändernden Verhältnis von Furcht und Neugier vor den

611 Thomas Hettche: Das Sehen gehört zu den glänzenden und farbigen Dingen. Graz 1997, S. 29. 612 Ebd., S. 16. 613 Ebd., S. 16 f.

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Augen des Betrachters zu justieren. Ihre Geschichte ist nicht die von Fiktionen, sondern eine von Abbild-Maschinen, von Ingenieursleistungen der Verstellung.614

Von hier an datiert die Geschichte der modernen bildmedialen Obsession: »Pan horama – Alles sehen! – lautete das Versprechen der ersten Maschine des totalen Scheins.«615 Es ist daher nur konsequent, wenn die Romanhandlung im Anatomiesaal der Berliner Charit¦ ihren Abschluss findet: In einem Raum, in dem die »halbkreisförmig, wie ineinander verschachtelte[n] Kulissen« und »Balustraden« »sich hoch auftürmten bis dorthin, wo der Saal ins Dunkel ging«.616 Indem der Roman dieses anatomische Theater als Handlungsschauplatz wählt, reinszeniert er die ›Ersetzung des geöffneten Leibes‹ gleichsam noch einmal im Medium der Schrift und erinnert so neben dem mythischen auch an den historischen Ursprung der Medien der Sichtbarkeit. Für die Zeichenbildung des literarischen Textes ist freilich eine Verspätung konstitutiv, die auch innerhalb der Fiktion ihre Reflexionsform findet. Der Roman bietet für den Vorgang der medialen Ersetzung ein kryptisches mediologisches Zeichen auf: die (im Erzählverlauf mehrfach erwähnte) Streichholzschachtel mit dem Werbeaufdruck »Phänomen-Werke«, die zwischen den Figuren des Romans ausgetauscht wird. Bei einer zufälligen Begegnung in einer Berliner U-Bahnstation bittet die junge Frau einen »Geräuschemacher« um Feuer für ihre Zigarette; die Ordnungen des Sichtbaren und des Hörbaren aber verhalten sich dabei asynchron zueinander : Wie immer las er die Werbung auf der Pappe. Phänomen-Werke. Sie wartete unaufmerksam darauf, daß er ihr Feuer gebe. Phänomen-Werke las auch sie und glaubte zu hören, wie das Streichholz angerissen wurde. Das Schrammen des Zündkopfes über die Reibefläche. Das Aufzischen des Schwefels. Doch als sie sich mit der Zigarette dem Mann zuwandte, sah sie das Streichholz in seiner Hand noch immer unangebrannt. Sie registrierte noch einmal verwundert und unsicher, daß sie gehört, aber nicht gerochen hatte, wie der Schwefel entflammte. […] Da riß er es endlich an. Und sie legte […] die Linke schirmend um die Flamme.617

Während am Ende der Szene die junge Frau mit der U-Bahn davon fährt, »bewegten sich mit einem Mal seine Lippen. Das Zischen eines Streichholzes kam aus seinem Mund.«618 Die Szene allegorisiert eine semiologische diff¦rance (im Sinne Jacques Derridas): die Verschiebung zwischen Signifikant und Signifikat, die hier im zeitlichen Aufschub der erwarteten Referenz, von indexikalischen Zeichen und 614 615 616 617 618

Ebd., S. 18. Ebd. Hettche: Nox, S. 127. Ebd., S. 19 f. Ebd., S. 20.

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dinglichem Vollzug, auseinandergelegt erscheinen. Ebenso selbstreflexiv wie verspielt verschlüsselt der Roman den substitutiven Charakter jeglicher Medialität, an der er selbst teilhat. Damit wird das Streichholzbriefchen auch zu einem poetologischen Symbol: Der fiktionale Text funktioniert selbst als eine Art »Phänomen-Werk«, das seine Zeichen-Effekte produziert, ohne dabei eine strikte Referenz auf Wirklichkeit zu behaupten. Wenn die narrative Fiktion auf Geschehenes zurückkommt, fügt sie der medialen Erscheinung der Welt ihre lesbaren Zeichen hinzu wie die nachträgliche Synchronisation durch den Geräuschemacher, der über eine Bilderfolge seine Tonspur legt.619 Aber der Anatomiesaal als historischer Ursprungsraum der modernen Bildmedien wird in Nox gleichzeitig als Ort der Wiederholung einer anderen, historisch-mythischen Szene inszeniert: der Schaustellung des gefolterten Christus und seiner Kreuzigung zwischen den beiden Schächern. In einer Orgie sadomasochistischer Gewalt, bei dem die junge Frau kopfüber neben dem Masochisten David aufgehängt wird, wiederholt sich das biblische Geschehen, auf das der Roman seine intertextuelle Anspielungsreihe zulaufen lässt: Ich finde, dachte sie, keine Schuld an ihr und nichts, das des Todes wert wäre. Darum will ich sie züchtigen. Warum spricht sie nicht mit mir? Weiß sie nicht, daß ich die Macht habe, sie loszugeben?620 Was also ist Wahrheit? […] Welche ein Mensch, dachte Lara und wählte aus dem Kästchen ein Skalpell mit sichelförmiger Schneide.621 Denk an mich, flüsterte er, und sie küßte ihn schnell. Noch heute wirst du mit mir im Westen sein.622 Die Nacht zerriß wie ein Vorhang.623

Auch in der Passion Christi geschieht eine Exposition des menschlichen Körpers, die die rhetorische Tradition unter den Begriffen hypotyposis oder enargeia kennt; dadurch reiht sich auch dieses Narrativ in die Geschichte der modernen Medien ein. Die bei Ovid berichtete Beobachtung oder ›Entdeckung‹ Dianas, die erzählte Verwesung des Autor-Körpers, die Virchowsche Sammlung medizinischer ›Monstra‹, die Filme von menschlichen Leichnamen in Zinkwannen, der Anatomiesaal der Charit¦ und schließlich das Ecce homo der biblischen Passion – alle diese in Nox zu einer Textur verwobenen Geschichten fügen sich zu einer 619 Der Symbolträger ist übrigens selbst der (Wirtschafts-)Geschichte entliehen: Die Phänomen-Werke Gustav Hiller waren ein Hersteller von Fahrrädern und Kraftfahrzeugen im ostdeutschen Zittau, der 1946 in einen volkseigenen Betrieb, den Karosseriehersteller Robur, umgewandelt wurde. 620 Ebd., S. 137. 621 Ebd., S. 138. 622 Ebd., S. 139. – Vgl. Lk. 23,43. 623 Ebd., S. 140. – Vgl. Lk. 23,45; Mt. 27,51; Mk 15,38.

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»Geschichte der Geschichte der Medien« zusammen,624 die in Nox erzählt wird. Damit lässt sich der Roman als mediologische Erzählung (oder als erzählte Medientheorie) lesen,625 welche die transzendentalen Bedingungen des Erzählens in einer medial konstituierten Welt reflektiert. 2.8

Mediologisches Erzählen

Wenn Hettches Roman also Mythen und technische Bilder, Realitätseffekte und fiktionale Momente zu einer impliziten Geschichte der modernen Bildmedien verbindet, so wiederholt er auf der Ebene seines narrativen Verfahrens performativ, was er auf der thematischen Ebene erzählt: Die Schrift des Romans stellt selbst einen Schauplatz der Grenzüberschreitung und Vereinigung dar. Sie vollzieht damit, was sie erzählt, und erzählt, was sie vollzieht. Das gilt auch für das Ende des Romans, der mit der engführenden Wiederholung von biblischer Passion und Autortod auch dessen Auferstehung ins Spiel bringt. Der Text verlagert sie konsequenterweise in ein Jenseits der Erzählhandlung, eine Art Koda: Licht zitterte durch den Vorhang auf das Kissen. Ich zündete mir eine Zigarette an und spürte, als ich mit der Hand über die Lichtflecken wischte, wie warm die Stellen auf dem Stoff waren. Sah zu, wie der Rauch ins Licht hineinwirbelte und aufleuchtete. Mein Körper, an dem ich ungläubig entlangstrich, fühlte sich warm an und wie hinterlegt vom Schlaf. Ich sah dem Rauch zu und vergaß zu rauchen.626

Abermals – wie mit dem ›Tod des Autors‹ am Anfang – wiederholt und realisiert der Roman damit ein theoretisches Konzept: Die Auferstehung des Körpers im Text, die Christiaan L. Hart Nibbrig zehn Jahre vor Nox materialreich als eine von der Schrift an den Leser übergebene Aufgabe bestimmt hat.627 Die Auferstehung des Autor-Erzählers dementiert deshalb nicht seinen Tod, weil die Erwartung seiner (und jeglicher) Präsenz sich nur an die Lektüre der Schrift richten kann, die das, was sie bezeichnet, zugleich absentiert und mit Hilfe der leserseitigen Einbildungskraft erneut re-präsentiert. Die Auferstehung, so unwahrscheinlich sie unter mimetischem Gesichtspunkt erscheinen mag, vervollständigt daher nur die Logik eines Erzählens, das den Nullpunkt des Todes kraft der genuinen Möglichkeit der literarischen Fiktion bereits durchschritten 624 Hettche: Das Sehen gehört zu den glänzenden und farbigen Dingen, S. 17. 625 Zum Begriff vgl. Stefan Scherer : Mediologische Narrationen. Sinnliche Gewißheit und erzählte Medientheorie in Prosatexten der 90er Jahre. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 »Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert«. Hg. von Peter Wiesinger. Bd. 7: Gegenwartsliteratur. Bern u. a. 2002, S. 113 – 118. 626 Hettche: Nox, S. 153. 627 Christiaan L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung der Körpers im Text. Frankfurt/M. 1985.

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hat. Der entlaufene Grenzhund kann dementsprechend seine mythische Rolle als Kerberos, als Bewacher der Grenze zwischen dem Totenreich und der Welt der Lebenden, wieder aufnehmen, indem er den auferstandenen Autor-Erzähler erinnert: »Du hast doch nicht vergessen, daß du tot bist?«628 Aber als würde es diese Grenze – Lethe, den Fluss des Vergessens – gar nicht geben, kann er ihn paradoxerweise auch zum Erinnern des Geschehenen auffordern: »Denk an das, was geschehen ist, knurrte er leise.« »Erinnere dich an die Nacht […]«.629 Der Erzähler erinnert daraufhin die Geschichte, die Nox erzählt, und schließt so – ähnlich wie durch den finalen Doppelpunkt in Hettches Erstling Ludwig muß sterben – das Ende der Erzählung mit ihrem Anfang zu einer Figur der mise en abyme zusammen.630 Zugleich aber wird der Erzähler daran gemahnt, dass er selbst und seine Geschichte nur als Teile »einer alten Geschichte« existieren, »die sich wieder ereignet«:631 des bei Ovid berichteten – und von den anderen, im Erzählverlauf erinnerten Geschichten verstärkten – Mythos, der die Geschichte der modernen Medien der Sichtbarkeit bereits in nuce enthält. Die Rede des sprechenden Kerberos von der Hundegrenze bezieht sich aber auch auf die Dimension einer geschichtsträchtigen Gedächtnismacht: »Nichts von dem, was du kennst, wird nach dieser Nacht bleiben, wie es war. Und nur die Geschichten, die man sich davon erzählt, bestimmen, was wird«.632 Hettches Roman antwortet damit implizit auf den Titel von Christa Wolfs fünf Jahre zuvor erschienener Erzählung Was bleibt,633 aber er bringt offenbar vor allem die eigene Schrift als Medium der (zukunftsmächtigen) Erinnerung zur Geltung. Dass Literatur im technischen Informationszeitalter die veränderten Bedingungen der Produktion von Erinnerung nicht verleugnen kann, sondern ihnen Rechnung zu tragen hat, macht Hettches Roman zu einem Prinzip seiner Referenz auf das Geschehen des 9. Novembers 1989. Aber die »Spur« des zeitgeschichtlichen Ereignisses, von dessen Absorption in den technischen »Speicher[n]« die mnemo-mediologische Reflexion des Erzählers sprach,634 ist in gewisser Weise unlesbar, da sie wie die Datensätze der Computerprogramme erst zu sinnhaften Strukturen oder »Geschichten« konfiguriert werden muss. Es ist diese sinnstiftende, also Sinnbildungen anstiftende Konfiguration, die auf komplexeste Weise der ästhetische Text zu leisten vermag. Nox lässt sich daher kaum als 628 629 630 631 632 633

Hettche: Nox, S. 154. Ebd. Vgl. Hettche: Ludwig muß sterben, S. 181. Hettche: Nox, S. 156. Ebd. Vgl. Therese Hörnigk: Eine Suche nach der verlorenen Zeit? – Christa Wolf und ihre Erzählung ›Was bleibt‹. In: Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder »Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge« – Analysen und Materialien. Hg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Hamburg, Zürich 1991, S. 95 – 101, hier S. 96. 634 Vgl. Hettche: Nox, S. 52.

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Darstellung des Ereignisses der Nacht des Mauerfalls lesen, so präzise der Roman sich auch zuweilen an die fernsehmedial dokumentierten Ereignisse hält. Literatur, hat Thomas Hettche gesagt, kann nur »beschreiben, unter welchen Koordinaten wir wahrnehmen, kann zum Beispiel den ideologischen Charakter von Bildern zeigen, und genau das ist ihre Aufgabe.«635 Diese Beobachtung der medialen Konstitution von Wirklichkeit impliziert die Entlastung der Literatur von jeglicher »Informationsträgerpflicht«.636 Was Hettches Roman an zeitgeschichtlicher ›Wirklichkeit‹ darstellt, darf als bild- (bzw. fernseh-)medial längst bekannt vorausgesetzt werden. Aber mit derselben sprachlichen Bezeichnungskraft, welche die »Dinge« der Welt bannt, bezeichnet er die Bedingungen und Effekte ihrer technischen Medialisierung: »Ich stelle mir vor«, schreibt Hettche in Animationen, »wie die Literatur noch einmal mit derselben Geste, mit der sie einst – immun gegen das Verstummen – der tönenden Bilderwelt der Natur entgegentrat, für jedes Hologramm und jeden simulierten Raum ein Wort finden wird, das deren Geheimnis bannt.«637

Exkurs: Uchronien der Zeitgeschichte It means that it is my job to tell you the true story of what never happened. Perhaps that’s the definition of fiction.638

In seinem 1996 erschienenen Roman Making History erzählt der britische Schauspieler und Schriftsteller Stephen Fry von der folgenreichen Begegnung eines Doktoranden der Geschichtswissenschaft namens Michael Young mit dem Physikprofessor Leo Zuckermann an der Universität Cambridge. Die Dissertation des jungen Historikers und Ich-Erzählers Von Braunau nach Wien, die von der Kindheit und Jugend Adolf Hitlers handeln soll, hat das Interesse des Physikers geweckt: Denn Zuckermann ist, wie sich später herausstellt, nicht – wie sein Name nahelegt – der Nachkomme einer jüdischen Familie, der dem Genozid der Nationalsozialisten durch rechtzeitige Emigration entkam, sondern der Sohn eines SS-Arztes in Auschwitz, der Frau und Kind am Ende des Krieges mit der Familiengeschichte eines ermordeten jüdischen Arztes ausgestattet hat. Seit er am Totenbett der Mutter von der ihm übergestülpten ›Lebenslüge‹ des NaziVaters erfahren hat, treibt den Naturwissenschaftler der Gedanke an, den fatalen 635 636 637 638

Hettche: Es gibt keine Kriterien für Texte, S. 211. Ebd. Hettche: Animationen, S. 12. Stephen Fry : Making History. London 1996, S. 6.

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Verlauf der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts durch Eingriff in die Struktur der Zeit rückgängig zu machen. Was der junge Doktorand dann beim ersten Treffen im Büro des Professors auf dem Monitor eines unscheinbaren Laptops vorgeführt bekommt, dessen Tasten mit für ihn kryptischen Zeichen beschriftet sind, ergibt auf den ersten Blick keinen Sinn: Es handelt sich um eine Art »Light-Show« aus ›psychedelischen‹ Rosa-, Grün- und Orangetönen, die keinerlei mimetische Evidenz produziert. Aber die abstrakte Darstellung stellt sich als elektronisches Fenster zur Vergangenheit heraus, wie der Physiker dem bisher nur mit schriftlichen Dokumenten vertrauten Historiker erläutert: ›This is Auschwitz on October 9th. Three o’clock in the afternoon. You are looking at that day.‹ […] ›How do you mean?‹ ›I mean how I mean. This is Auschwitz on October 9th. Three o’clock in the afternoon. You are looking at that day.‹ I stare again at the lovely billowing shapes in their sweet rippling colours. ›You mean … a film?‹639

Die farbigen Strukturen, die auf dem Bildschirm erscheinen, bilden keine Wirklichkeit ikonisch ab, sondern stellen nur einen Zusammenhang zwischen Koordinaten dar, die »both a place and a time« repräsentieren. When you look into this screen, it is the same, a window. All these shapes, these motions, they are the movements of men and women in Auschwitz, Poland, October 9th, 1942. You could call them energy signatures. Particular traces.640

Noch fehlt es an einer technologischen ›Metasprache‹, die solche Daten als wieder-erkennbare Bilder zu visualisieren vermag – so wie die digitalen Bilder der visuellen Informationsmedien stets anschauliche Interpretationen abstrakter Datenströmen aufgrund von Regeln einer technologischen Metasprache sind. Die Idee, kalendarische Daten und Geschehnisse einer unanschaulichen Vergangenheit mit Hilfe technischer Apparate zu visualisieren, setzt das Anschaulichwerden der Zeitgeschichte in den visuellen Massenmedien auf utopische Weise fort: in der Fiktion einer die Distanzverhältnisse der Zeit überwindenden Apparatur, die dem Beobachter sich ›von Gestern zu Gestern‹ in die Vergangenheit zurückzuschrauben erlaubt. Ernst Jünger hat in seinem Roman Eumeswil mit dem ›Luminar‹ eine solche Technik ›erfunden‹.641 Die TechnoImagination des Vergangenen bleibt in Frys Roman dagegen abstrakt wie der Rückkopplungsvorgang, der in der Black box des mit dem Namen »Tim« – 639 Ebd., S. 83. 640 Ebd., S. 107. 641 Vgl. dazu die Einleitung dieser Untersuchung.

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»Temporal Imaging Machine« –642 bezeichneten Apparats abläuft. Zwar reicht die Technik quasi-visuell in die Tiefe der Zeit hinab: I have watched Hiroshima. I have looked too at the Western Front in the Great War. Many times and places. Always, I’m afraid, I return to Auschwitz.643

Aber die Forschungen des Physikers richten sich gar nicht auf die Visualisierung des Vergangenen, sondern vor allem – und mehr noch – auf seine faktische Revokation. Denn als Erinnerungsort repräsentiert Auschwitz die Irreversibilität des Geschichtsprozesses auf besonders tragische Weise. In der Romanfiktion geht es deshalb darum, die real gewordene Möglichkeit von Auschwitz rückwirkend unmöglich zu machen. Aufgrund der Kenntnis genauer historischer Daten, die der Ich-Erzähler in seiner Dissertation zusammengetragen hat, aufgrund der technisch-physikalischen Umkehrung von ›Empfangen‹ und ›Senden‹, die eine zentrale medienkritische Forderung an die modernen Informationstechnologien in die Tat umsetzt, sowie mit Hilfe einer Brunnenvergiftung durch ein Impotenzmittel gelingt es in der Romanfiktion tatsächlich, die Zeugung Adolf Hitlers rückwirkend zu verhindern. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nimmt damit einen anderen Verlauf: Was Frys Roman erzählt, läuft auf eine alternative Geschichte hinaus. Aber die veränderte Gegenwart, in der das erzählte Ich im zweiten Romanteil erwacht, lässt es am Sinn der erfolgreichen Geschichtsrevision (ver-)zweifeln. Anstelle Hitlers ist ein bayerischer Hauptmann namens Gloder zum ›Führer‹ Deutschlands (einschließlich Österreichs) aufgestiegen; Moskau und Leningrad wurden durch Atombomben vernichtet, die europäischen Juden in Bosnien ghettoisiert und mit Hilfe des vom Erzähler selbst in die Braunauer Zisterne eingebrachten Unfruchtbarkeitsmittels genealogisch vernichtet. Der Physiker und der Doktorand revidieren am Ende die von ihnen revidierte Geschichte: Denn sie geriet erneut – nur anders – in die katastrophale Spur, aus der sie herauszulenken beide gerade angetreten waren. Die Entwicklung hin zu gesellschaftlicher Offenheit und Liberalität, welche die westlichen Gesellschaften nach 1945 – also nach dem Sieg der alliierten Mächte über die Nazi-Diktatur – kennzeichnet, ist infolge des Eingriffs in die Zeitgeschichte ausgeblieben; auch in Cambridge herrscht ein kaltes Klima anti-individualistischer, politischer und sexueller Repression. Der auf technische Weise geänderte Geschichtsverlauf hat sich als unplanbar und letztlich nicht minder katastrophal erwiesen als die Shoah, deren Unvergleichlichkeit der Text damit allerdings in Abrede stellt. So unvorhersehbar bereits die Folgewirkungen von Ereignissen der zeitgeschichtlichen Gegenwart auf die Zukunft hin erscheinen, so unabsehbar wären auch die Folgen ihrer Revision, 642 Fry : Making History, S. 100. 643 Ebd., S. 84 f.

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welche die Gegenwart unter gänzlich andere Bedingungen stellt. – Dass sich die rückgängig gemachte Geschichte im Roman wiederum so einfach rückgängig machen lässt, setzt freilich eine logische Folgerichtigkeit ihres Ablaufs voraus, die mit der experimentellen Annahme, alles hätte auch ganz anders kommen können, geschichtsphilosophisch nicht ganz zusammenstimmt.

a)

Apokryphen der Geschichte

Stephen Frys Making History ist nicht die einzige Romanfiktion, in der die jüngere deutsche Geschichte revidiert wird. Während in Frys Roman die Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts vorübergehend gelöscht wird, um Adolf Hitler dann nur durch eine unvorhersehbar andere, katastrophale Figur zu ersetzen, fingieren Robert Harris’ Roman Fatherland (1992) oder Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) eine entgegengesetzte Entwicklung: Dort haben die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts die Welt ganz anders hinterlassen als in der historischen Empirie. Bei Kracht ist der Krieg, der in der realen historiografischen Ordnung als Erster Weltkrieg verzeichnet worden ist, überhaupt nicht zu Ende gegangen. Der Revolutionsführer Lenin ist, »anstatt in einem plombierten Zug in das zerfallende, verstrahle Russland zurückzukehren, in der Schweiz geblieben […], um dort nach Jahrzehnten des Krieges den Sowjet zu gründen, in Zürich, Basel und NeuBern. Russland war durch die Folgen der ungeklärt gebliebenen Tunguska-Explosion von Zentralsibirien bis nach Neu-Minsk viral verseucht worden.«644 Seither kämpft eine sowjetische Schweiz in weit ausgreifenden Kriegskoalitionen gegen das faschistische Deutschland. So fiktiv die geschilderte Situation ist, nimmt sie doch historische Realien wie Spielangebote zum Weiter-Fingieren auf: Sowohl Lenins Aufenthalt in der Schweiz von 1914 bis zu seiner Abreise nach Russland am 9. April 1917 wie die möglicherweise durch einen Asteroiden- oder Meteoriden-Einschlag ausgelöste Explosion nahe dem sibirischen Fluss Potkamennaja Tunguska am 30. Juni 1908 des gregorianischen Kalenders sind historisch bezeugt.645 Die Permanenz des Krieges hat die (waffen-)technische Entwicklung angehalten, woraus sich die beklemmende Überblendung von Zukünftigkeit und Antiquität in Krachts Roman ergibt: Das R¦duit, die Alpenfestung mit zahlreichen Geschützstandpunkten und verborgenen Gängen, die durchaus realen schweizerischen Kriegsvorrichtungen entspricht und wel644 Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008, S. 58. 645 Zum Tunguska-Ereignis vgl. auch die Science fiction-Adaption von Stanislaw Lem: Die Astronauten (1951) sowie Wladimir Sorokin: Ljod. Das Eis (2002). – Nach dem julianischen Kalender fiel das Ereignis auf den 17. Juni; der gregorianische Kalender wurde in Russland erst 1918 eingeführt.

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che die Berge aushöhlt wie einen Schweizer Käse, wird von deutschen Luftschiffen aus bombardiert, die noch bis 1937, als die Hindenburg nach ihrer Atlantik-Überquerung im amerikanischen Lakehurst Feuer fing, als Inbegriff der aviatischen Moderne galten. Am Ende aber wirft die Fiktion die kriegerischdüstere, uchronische Welt, in die sie die Realgeschichte umgedacht hat, selbst gleichsam auf den Schutthaufen der Geschichte. Der Ich-Erzähler, ein in Afrika von den Schweizer Sowjets angeworbener und ausgebildeter Parteikommissär, verlässt die Schweiz, das R¦duit und das im unendlichen Krieg sich aufreibende Europa, um sich nach langem Fußmarsch über Genua Richtung Afrika einzuschiffen. Dort haben auch die afrikanischen Einwohner die Le Corbusierschen Musterstädte »über Nacht« verlassen und sind »zurück in die Dörfer« gekehrt.646 Die Bewegung des Protagonisten im Roman lässt den Schauplatz der europäischen Geschichte und die europäische Zivilisation einfach hinter sich. Sie verabschiedet damit zugleich die Ideologien und prospektiven Geschichtsmodelle, die das von Europa aus exportierte Geschichtsbewusstsein der Moderne prägen.647 Die »Revolution« indes, die von hier ausgehen mag und die aus den irritierender Weise blau gewordenen »Augen« der Hauptfigur »mit der notwendigen Grausamkeit« blickt,648 verheißt trotz aller Rückkehr der erzählten Geschichte an den Anfang der Geschichte überhaupt – nach Afrika, an die ›Wiege der Menschheit‹ – nichts Gutes. Robert Harris’ Roman schlägt dagegen seinen Schauplatz in einem Nachkriegsdeutschland der sechziger Jahre auf, nachdem die Nationalsozialisten im Weltkrieg den militärischen Sieg errungen haben. Das Gedächtnis der ermordeten Juden ist darin vollständig getilgt – so wie schon der ›Baedeker‹ über Das Generalgouvernement von 1943, den der letzte Teil des Romans als Motto zitiert, 646 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 148. – Auf den schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier, nach dessen Plänen seit 1951 eine solche Musterstadt als Hauptstadt der indischen Provinz Pandschab, Tschandigarh, errichtet wurde, spielt das letzte Kapitel mit der Figur des »Welschschweizer[s] mit Namen Jeanneret« an. Der Architekt erhängt sich an einer »von ihm selbst entworfene[n], stählerne[n] Strassenlaterne«: »Seine schwarze runde Brille, die ihn immer begleitet hatte und zu seinem Markenzeichen geworden war, fiel ihm von der Nase und landete im gelben Staub […].« (Ebd., S. 149). Le Corbusiers Geburtsname lautete Charles-Êdouard Jeanneret. 647 In dieser völligen Zurücklassung des europäischen Zivilisationsmodells schließt Krachts uchronische Erzählung an seinen Roman 1979 an, der im Iran kurz vor der islamischen Revolution beginnt und nach einer Pilgerreise nach Tibet in einem chinesischen Umerziehungslager endet. Vgl. Christian Kracht: 1979. Köln 2001. 648 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 147. – Der Text zitiert hier Verse aus Louis Aragons – nach einem Besuch in der Sowjetunion entstandenes – Gedicht Front Rouge (1931): »Les yeux bleus de la R¦volution/ brillent d’une cruaut¦ n¦cessaire«. Vgl. dazu auch Johannes Birgfeld, Claude D. Conter : Morgenröte des Post-Humanismus. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten und der Abschied vom Begehren. In: dies. (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln 2009, S. 252 – 269.

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den polnischen Ort »Auschwitz« als eine »348 kilometres from Vienna« entfernt gelegene »industrial town of 12,000 inhabitants, the former capital of the Piast Duchies of Auschwitz und Zator (Hotel Zator 20 bedrooms), whence a secondary railway runs via Skawina to Krakau (69 kilometres in three hours) …« verzeichnet.649 Der Zynismus des historischen Dokuments, das touristische Zugverbindungen und empfehlenswerte Unterkünfte penibel auflistet, während Deportation und Massenmord am selben Ort auf Hochtouren liefen, ist schwer zu überbieten. Die fiktive Hauptfigur des Romans jedoch, der SS-Sturmbannführer und Kriminalkommissar Xavier March, entdeckt bei der Renovierung seiner Wohnung das unter der Tapete verwahrte Foto einer Familie, an die sich keiner der älteren Hausbewohner erinnern kann oder will. March aber geht ihrer Geschichte nach und kommt so – auch im Wege seiner kriminologischen Ermittlung im Fall eines ermordeten Nazi-Bonzen, dessen Leiche am Berliner Schwanensee aufgefunden wird – der im offiziellen Gedächtnis des nationalsozialistischen Nachkriegs-Deutschland gelöschten Ermordung der europäischen Juden auf die Spur. Am Tag der Feierlichkeiten zu Hitlers 75. Geburtstag am 20. April 1964 macht er seinem Leben ein Ende. – Auch hier ist es wie in Frys Making History ein technisches Medium, allerdings eine einfache Familienfotografie, über das die Herstellung des Bezugs auf geschichtliche Vergangenheit geschieht; es fungiert buchstäblich als »Totenmaske«,650 die die Gesichter von Toten festhält, nicht als Medium einer rekursiv erreichbaren und damit revidierbaren Vergangenheit. Während der Protagonist in einer irreal-uchronischen Welt einem bildtechnischen Dokument aus der realen begegnet und so einen Teil des empirischen Geschichtsverlaufs wieder erschließt, widerruft der Held in Frys Roman aus der realen Welt heraus den realen Geschichtsverlauf, indem er einen irreal-uchronischen erzeugt (und später erneut ›korrigiert‹). Gerade dadurch macht die unwirkliche Version der Geschichte, die Harris’ Roman erzählt, deutlich, »daß Bilder die ästhetische Grundlage für das Erinnern und Erzählen von Geschichte(n) abgeben und daß das Gedächtnis umgekehrt vielleicht vor allem ästhetisch organisiert ist«, wie Harald Welzer im Hinblick auf Harris’ Roman und die bildhafte Inszenierung und Repräsentation des Nationalsozialismus überhaupt schreibt.651 Nicht von unwirklichen, mit realen Gegebenheiten zeitgleichen Orten wird in den bisher genannten Texten erzählt wie in den narrativen Utopien seit Thomas Morus Utopia (1516), sondern von nichtwirklichen Geschichtsverläufen, die an

649 Robert Harris: Fatherland. London 1992, S. 355. 650 Sontag: Über Photographie, S. 147. 651 Harald Welzer : Das Gedächtnis der Bilder. Eine Einleitung. In: ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, S. 7 – 13, hier S. 8.

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reale historische Ausgangspunkte und Topografien652 angeschlossen sind. Ohne diese Anbindung an ›realgeschichtliche‹ Daten gäbe es kein Unterscheidungskriterium uchronischer Texte von einer historisch frei schwebenden Fiktion, die mit der zeitgeschichtlichen Realität gar keine Berührungspunkte hat und keinerlei Beziehung unterhält. Mit dieser historischen und topografischen Bindung aber nimmt das erzählende Fingieren ›Abstoßungspunkte‹ der Realität in Anspruch, die es als uchronisches Erzählen erst konstituieren. Die Desantiquierung der Vergangenheit, von der in Hinsicht auf die veränderten Zeitverhältnisse durch technische Medien der Präsenz schon die Rede war, wird durch diese (teilweise) Derealisierung von Geschichte und Gegenwart überboten. Dass Harris’ Romanheld im Fiktionszusammenhang gerade der Realgeschichte der Shoah auf die Spur kommt, macht die erzähllogische Pointe der uchronischen Romankonstruktion aus.

b)

Zur Theorie der Uchronie Ein jedes wohlerfundenes Gedicht ist […] nicht anderst anzusehen, als eine Historie aus einer andern möglichen Welt.653

Uchronische Erzähltexte beziehen sich auf Ereignisse, die niemals stattgefunden haben. Diese Genrebestimmung enthält ein Paradox. Wenn schon die (literarische) Rede von Ereignissen als problematisch, wenn schon nicht als ›unmöglich‹ erscheint, ist es die Rede von ›Nicht-Ereignissen‹ erst recht. Uchronische Erzählungen ›reifizieren‹ geschichtliche Ereignisse oder Zustände, die durch gar keine stoffliche res konstituiert werden. Das entspricht der Definition der Fiktion als Darstellung einer ›anderen möglichen Welt‹, wie sie bereits in den Poetiken der Frühen Neuzeit fixiert wird. In einem radikaleren Sinn, als es für alle hier behandelten Ereignis-Geschichten gilt, sind die Ereignisse uchronischer Texte Textereignisse stricte dicta: Ihre Schauplätze sind ausschließlich literarische Texte, und ihr ontologischer Status ist eindeutig fiktiv. Auch als fiktive sind uchronische ›Ereignisse‹ jedoch keineswegs unabhängig von den außertextuellen Realitätsverhältnissen der Zeitgeschichte; eher schon ist das Gegenteil der Fall. Denn die Beziehung uchronischer Texte auf empirische Geschichte besteht in der Abhängigkeit der Negation; es ist die irreale, gewissermaßen apokryphe 652 Schauplatz von Harris’ Fatherland ist allerdings ein verwandeltes Berlin, »the Berlin that Albert Spee planned to build« (Harris: Fatherland, S. 372). 653 Breitinger : Critische Dichtkunst. Bd. 1, S. 60.

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Sphäre vergangener oder versäumter geschichtlicher Möglichkeiten, die in der Diegese – anders als in der wirklichen Welt – partiell ›verwirklicht‹ wird. Im Unterschied zur Utopie und zur zukunftsoffenen science fiction stellen literarische Uchronien kontrafaktische Erzählungen dar, deren faktischen Ausgangsoder Abstoßungspunkt stets die dokumentierte Zeitgeschichte bildet. Kontrafaktisches Erzählen lebt gewissermaßen parasitär von den Bedingungen des ›Faktischen‹, weil seine Irrealität ontologisch auf die unbestrittene geschichtliche Möglichkeit des Realen angewiesen ist: Ohne die Folie des Faktischen verlöre sich sein Spannungsmoment völlig, das im negativen und gleichzeitig evokativen Bezug auf Realgeschichte liegt. Mit dem Vokabular der Intertextualitätstheorie formuliert, evoziert der uchronische ›Hypertext‹ in seiner Lektüre ständig den realgeschichtlichen ›Hypotext‹, der textuell und / oder ikonisch codiert sein kann. Wirkliche Geschichtlichkeit als Gegenstand zeitgenössischen Wissens bildet die Bedingung dafür, dass Ungeschichtliches als solches überhaupt dargestellt und rezipiert werden kann. Auf die Verpflichtung (zeit-)geschichtlicher Darstellungen auf Faktizität und Information, die im vorangegangenen Kapitel zur Poetik der Zeitgeschichte dargestellt worden ist, antwortet uchronische Literatur mit einem genrebildenden Programm autonomer Entpflichtung, das in der signifikanten Abweichung vom geschichtlich Wirklichen besteht. Der uchronische Text nimmt somit Konjekturen im Buch der Geschichte (im Sinne der historia rerum gestarum) vor, die dessen Gültigkeit nicht dementieren, sondern präsupponieren. Denn uchronische Texte formulieren Apokryphen gegenüber dem ›kanonischen‹ Text der Geschichte, die über ihren Status als Fiktionen nicht rechten. Damit eröffnen sie jedoch eine ›metatextuelle‹ – oder ›metareflexive‹ –- Perspektive auf die Geschichte, in der die Virtualität der uchronischen Fiktionen die naturwüchsig-entelechische Notwendigkeit des Faktischen grundsätzlich bestreitet. Die implizite Geschichtsphilosophie der Uchronie ist antideterministischer Art. Literarische Uchronien schreiben sich von den im geschichtlichen Ablauf normalerweise unbemerkt bleibenden ›Weichenstellungen‹ der Geschichte her. Während die Ereignis-Geschichten, die bisher behandelt worden sind, dem empirischen Verlauf der Geschichte folgen, konstruieren jene ihren bloß denkbaren, aber unrealisiert gebliebenen Verlauf. Heimito von Doderer hat diese Weichenstellungen oder Wendepunkte im Rahmen der individuellen (Lebens-)Geschichte einer literarischen Figur mit einem prägnanten Bild illustriert. Es handelt sich um den signifikanten Moment, in dem die erzählte Figur zum staunenden Zeugen ihrer eigenen Biografie wird: Aber solcher Vorbeisturz an uns selbst, revue pass¦e im Schnellzugstempo, er lässt dasjenige, worauf es ankommt, intensiver aufleuchten als jede mühsam wurmisierende Denkerei, aufleuchten an den Weichen oder Wechseln, die jener Schnellzug abfährt, in

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sein angemessenes Gleis gleitend (das sind eben die Wendepunkte oder Trûpoi, wie’s die Alten nannten). An den Wechseln leuchten die Lichtlein. Man sieht das gradaus weiterlaufende Gleis als eine Möglichkeit, die damals bestanden hat, oder ebenso die Weiche, die für uns nicht auf ›Offen‹ gestellt war, und so fuhren wir geräuschvoll vorbei und weiter. Man sieht’s. Aber jetzt erst. An den Wechseln leuchten die Lichtlein auf bei solchem summierenden Sturz durch die Strecke, rasch hintereinander leuchten sie auf und verschwinden wieder. Es gibt Apparate für Geschicklichkeits- und Glücks-Spiele, wo eine Kugel, die man hineinrollen lässt, immer zwei Wege nehmen kann […]. Um die Sache eindrucksvoller zu machen, blitzt dann überall, wo die Kugel ihren Weg entscheidet, eine kleine elektrische Birne auf, grün, rot oder gelb. Damit könnte man solch eine sekundenlange revue pass¦e oder revue du pass¦ vergleichen.654

Wie die Kugel eines Spielautomaten nehmen geschichtliche Subjekte von den Verzweigungen oder Bifurkationen im eigenen Geschichtsverlauf keine Kenntnis; nur dem aposteriorischen Blick werden die Weichenstellen erkennbar, die sie beim »Vorbeisturz« in die Zeit‹655 passierten. Diese Weichenstellungen nachträglich zu verzeichnen ist aber eine der Leistungen literarischer Texte; den gewissermaßen negativen, nicht realisierten Lauf zu illustrieren, den die Kugel auch hätte nehmen können, ist die besondere Funktion literarischer Uchronien. Indem sie erzählen, was auch oder stattdessen hätte passieren können, illuminieren sie die latenten Verzweigungsstellen der empirischen Geschichte. Literarische Uchronien erzählen, um Rankes Wort abzuwandeln, ›wie es nicht gewesen‹,656 aber doch – mit größeren oder geringeren Chancen – eigentlich auch hätte gewesen sein können. So, als »histoire, non telle qu‹ elle fut, mais telle qu‹elle aurait pu Þtre«, hat Charles Renouvier 1857 den Begriff der Uchronie eingeführt.657 Insofern implizieren uchronische Texte ein tendenziell posthistorisches Bewusstsein, das die teleologische Struktur und Sinnproduktion realer zeitgeschichtlicher Verläufe dementiert. Auch wenn die Mentalität des Posthistoire ihnen nicht jederzeit bewusst unterstellt werden kann,658 prägt sie die hier untersuchten Texte strukturell: Immer legen sie auch dar, dass das geschichtlich Erwiesene nicht zugleich das geschichtlich Notwendige war. Systematisch lässt sich verallgemeinern, dass uchronische Erzählungen gewissermaßen die monologische Rede der empirischen Geschichte dekonstruieren, indem sie sich der 654 Heimito von Doderer: Die Strudelhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. München 1995, S. 310 f. 655 Vgl. Cioran: Der Absturz in die Zeit. 656 Vgl. Ranke: Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, S. 24. 657 Charles Renouvier : Uchronie. Tableau historique aopcryphe des R¦volutions de l’Empire romain et de la fondation d’une federation europ¦enne. In: Revue philosophique et religieuse 7 (1857), S. 187 – 208 und S. 510 – 541; 8 (1857), S. 246 – 279. Angabe nach Christoph Rodiek: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt/M. 1997, S. 9. 658 Vgl. dazu Rodiek: Erfundene Vergangenheit, S. 12 f.

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Exkurs: Uchronien der Zeitgeschichte

Heterologie unverwirklichter Möglichkeiten verschreiben. Immer indes ist diese abweichende, am offiziellen Geschichtsverlauf gemessen dissidente Rede auch das Echo der real-zeitgeschichtlichen Informationen, deren Geltung für die Dauer des Erzählens ausgesetzt – und die doch zum Verständnis uchronischer Erzählungen vorausgesetzt wird. Das ästhetische Projekt der Uchronie, den realen zeitgeschichtlichen Verlauf virtuell ›auf Null‹ zu stellen und seine Alternativen zu beschreiben, ruft das Problem der Unabsehbarkeit der geschichtlichen Entwicklung auf. »Würde man die Weltzeit zurückstellen bis zum Zeitpunkt unserer Geburt, um von identischen Ausgangspositionen her das ganze Weltgeschehen wieder in Gang zu setzen, dann käme weder im Großen noch im Kleinen dasselbe dabei heraus, sondern etwas unabsehbar anderes«, merkt Dieter Wellershoff im Vorwort seines Essaybandes Das geordnete Chaos an.659 Literarische Uchronien fingieren jedoch solche Unabsehbarkeiten aus: Ihre Plausibilität speist sich aus realgeschichtlichen Ausgangsbedingungen, deren möglichkeitsbildender Horizont in ihnen ausgemessen wird. * Die Weltzeit in der Fiktion prinzipiell oder punktuell gleichsam ›auf Null‹ zu stellen ist jedoch nicht erst die Idee einer posthistorischen (oder gar ›postmodernen‹) Literatur, die sich am Ende aller religiösen und ideologischen Großerzählungen (»grands recits«, Jean-FranÅois Lyotard) weiß. Bereits um 1300 wagte es ein Versepos, die mögliche Annullierung der christlichen Heilsgeschichte auszudenken: Die Rede ist vom Reinfrid-Epos, einer literaturgeschichtlich beispiellosen, über 27.000 Verszeilen umfassenden und dennoch fragmentarisch gebliebenen Dichtung eines anonymen Verfassers aus dem Alemannischen.660 Hatte sich Frys uchronische Fiktion auf die Verhinderung der Geburt eines Verderbers der Geschichte fixiert, geht es im Reinfrid um die Verhinderung der Geburt des Erlösers Jesus Christus. Die fiktive Geschichte, welche die christliche Heilsgeschichte beinah selbst zur Fiktion erklärt, ist diese: Auf seiner gelobten Pilgerfahrt ins Heilige Land reist der epische Held, Herzog 659 Dieter Wellershoff: Unabsehbarkeit. Vorwort. In: ders.: Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur. Köln 1992, S. 9 – 15, hier S. 10. 660 Reinfrid von Braunschweig. Hg. von Karl Bartsch. Tübingen 1871. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Mathias Herweg. – Bartsch bezeichnet den Text als »eine sehr freie bearbeitung der sage von Heinrich dem Löwen«: »in allen einzelheiten der erfindung und ausführung bewegt sich jedoch der dichter ganz selbständig und läßt der eigenen phantasie spielraum, und in dieser Hinsicht gehört sein werk zu der klasse von gedichten, die an historische und geographische verhältnisse anknüpfend unter dem täuschenden gewande der geschichte doch willkürliche erfindungen geben.« (Ebd., S. 811.) – Der Text wird im Folgenden nach dieser Ausgabe nur durch Angabe der Verszeilen zitiert.

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Ereignisse und Texte

Reinfried von Braunschweig, zum Magnetberg, der alle mit Eisen beschlagenen Schiffe mit unwiderstehlicher Gewalt an sich zieht; das Motiv ist aus der antiken und mittelalterlichen Tradition bekannt.661 Reinfrids Schiff aber ist ohne eiserne Nägel gebaut, und seine Reise ist kein Produkt des Zufalls, kein VerschlagenWerden an den todbringenden Fels etwa infolge eines Seesturms wie im Herzog Ernst, sondern das einer versatilen, im Gebrauch von Zaubermitteln662 beschlagenen curiositas, die die tödliche Gefahr zu neutralisieren vermag. Außer Ernst gelang zuvor nur dem Zauberer und Teufelsbündner Vergil die Rückkehr vom Magnetberg, und Vergil war es auch, der die Verhinderung der Heilsgeschichte knapp, aber gewissermaßen just in time verhinderte. Wie dies geschah, erfahren Reinfried und seine Begleiter aus einem Buch, welches an das in ein monumentales Mausoleum eingebettete Grab des Magiers Savilon angekettet und in einer wunderbaren Universalsprache abgefasst ist. In der Schrift, allerdings einer keineswegs heiligen, ereignet sich das Pfingstereignis zum wiederholten Mal: Die seefahrenden Abenteurer können lesen, was in keiner bestimmten Sprache abgefasst ist (»über daz buoch s„ s–zen, / wan ez alsú geschriben was / daz ez mennecl„ch wol las / von aller spr–che zungen«, v. 21302 ff.). Medien wie Personen dienen ungewollt einer List des heilsgeschichtlichen Logos, der beide zu seinen Agenten bzw. Agenturen bestellt. In diesem Buch, über dessen Lektüre die Anreisenden einen ganzen Tag verbringen, ist die Geschichte des Magiers Savilon nachzulesen, der die aus den Sternen herausgelesene Geburt des Messias zu verhindern versucht hat. Kurz vor dem Jahr Null christlicher Zeitrechnung aber hat sich der verarmte Zauberer Vergil zum Magnetberg aufgemacht, um sich Savilons Kenntnisse eigennützig anzueignen. Sein nigromantisches Zauberbuch hat Savilon gegen fremde Aneignungen mit einem sorgfältig konstruierten Sicherheitsmechanismus ausgestattet: Sobald jemand es unter seinen Füßen wegzieht, saust ein mächtiger Hammer nieder, den ein hinter ihm aufragendes Standbild in Händen hält. Erschlagen wird jedoch am Ende nur Savilon, Vergil entkommt, und mit Hilfe seines magischen Wissens auch dem Ort, an dem sein diesseitiges wie das jenseitige Leben der Menschheit überhaupt beinah beschlossen worden sind. Zuvor aber bricht er den antisalvatorischen Zauberbann eines mikroskopisch kleinen Briefes, den Savilon seit 661 Vgl. dazu Franz Kirnbauer, Karl Leopold Schubert: Die Sage vom Magnetberg. Wien 1957. 662 Der Schiffbau ohne eiserne Nägel gelingt mit Hilfe eines Heilkrauts (»krefterıc kr˜t«, v. 20779), zu dem die Amazonenkönigin Penthesilea Reinfried rät. Unternommen wird die Reise auf Anregung des Perserkönigs. – Zur Vergil-Savilon-Erzählung im Reinfrid und den Traditionszusammenhängen vgl. auch Klaus Ridder : Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ›Reinfried von Braunschweig‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Friedrich von Schwaben‹. Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 12), S. 71 – 76.

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Exkurs: Uchronien der Zeitgeschichte

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zwölfhundert Jahren in seinem Ohr verwahrt, indem er ihn mit Hilfe von zuvor aus einem Glas entbannten (und später wieder darin eingesperrten, v. 21034 f.) Teufeln entdeckt und ›vorzeitig‹ – also gerade noch rechtzeitig – erbricht.663 In wörtlich und weltgeschichtlich letzter Minute und mit knapper, Vergil selbst jedoch völlig unbewusster Not wird mit Jesu Geburt die christliche Heilsgeschichte doch noch ermöglicht: mit disem funde und da von des brieves kraft vil balde brach, dú man die karakter sach und ouch der fig˜ren schrift. diz was eben in der trift dú diz vant Virgil„us, daz ouch Octav„–nus ze Rúme lepte keiserl„ch und diu reine minnencl„ch Mar„– muoter magt gebar Got mensch ˜f di erden har. (v. 21670 – 21680)

Die Fiktion der gerade noch verhinderten Verhinderung der Geburt Jesu erscheint nicht nur theologisch riskant, sondern auf den ersten Blick tendenziell häretisch: ein Fall für die Inquisition, könnte man meinen. Tatsächlich jedoch demonstriert der Text, indem er die Heilsgeschichte auf den Punkt des immerhin vorstellbaren Nicht-Ereignisses der Geburt des Erlösers zurückführt, im Grunde nur deren absolute Durchsetzungskraft: So raffiniert die Vorkehrungen zur Vereitelung der Erlösung auch ausgedacht sein mögen, so notwendig sind sie zum Scheitern verurteilt. Was wie die Rettung des göttlichen Heilsplans in letzter Minute aussieht, ist darin offenbar längst vorausbedacht. Auch das Raffinement der Fiktion sieht sich immer schon durch das Raffinement der heilsgeschichtliche Vorausschau überboten. Aber auch wenn der spätmittelalterliche Text damit letztlich die ontologische Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs jenseits der wirklichen Heilsgeschichte verneint, hat er doch die Frage danach ein für allemal gestellt. Indem er die Möglichkeit ihrer Revision am Nullpunkt der christlichen Zeitrechnung anvisiert, um sie gerade noch abzuwenden, repräsentiert er gewissermaßen den Ursprung aller literarischen Uchronie. Mit einem Wort: Die Antwort, die der Text erteilt, wird die Frage, die er einmal gestellt hat, nicht wieder los. Sie bestimmt – heruntergebrochen auf das vergleichsweise ›mikroskopische‹ Maß der profanen Zeitgeschichte – auch noch die fiktionalen Spe-

663 »nu s–hen s„ dem alten / daz wunderkleine brievel„n / ligen in dem úren s„n: daz wart von in dan genon.« (v. 21666 ff.)

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kulationen, welche die Literatur im zwanzigsten Jahrhundert über die Alternativen zu ihrem Geschichtsverlauf anstellt.

c)

Noch einmal: 1989

Die Überlegung, dass auch die deutsche Geschichte ganz anders hätte verlaufen können, setzt sich auch in anderen literarischen Zeitgeschichts-Revisionen neben Harris‹ Fatherland fort. In Reinhard Jirgls Roman Abschied von den Feinden (1995) reflektiert der Erzähler gleich auf der ersten Seite die unausgetragenen Möglichkeiten der empirischen Geschichte, die – jedenfalls in ihren Krisenmomenten – immer auch einen anderen als den faktisch gewordenen Verlauf hätte nehmen können. Immerhin, solch erste Stunden sind unsicher, die Haut des Neuen noch dünn, Rückfälle jederzeit möglich: Panzer würden aufrücken, Polizisten + Soldaten Straßen + Häuser besetzen, Gestalten, die Hände erhoben, eilig aus den Wohnungen heraus-, in geschlossene Lastwagen hineingetrieben werden, + tauchen niemals wieder auf-; vereinzelte Schüsse in den Alleen, + anderntags auf einigen Straßen neben ausgebrannten Autowracks in schwarzrote Qualmfetzen gehüllte Leichen, ihre Gesichter von Zeitungsbögen verdeckt –, sie würden auch am folgenden Abend noch dort liegen, Niemand der die Straßen zu betreten wagt; aufflammende Leuchtraketen, Hundegebell Stiefel gegen Asphalt wieder Schüsse, Wetterleuchten, ein blutiges Feuerwerk zum Bürgerkrieg. Und in Schwärmen auch hier allerorts die Fliegen… –!Genug. Sagt mit entschlossener Stimme die Frau, als hätte sie meine Fantasien erraten.664

Das sind, gemessen am realen Verlauf der sogenannten Montagsdemonstrationen, die seit Anfang September 1989 in Leipzig und anderen Städten der DDR stattfanden, Zeitgeschichts-»Fantasien«, deren Potenzial, Realität zu werden, nur vom faktischen Verlauf der Geschichte zunichte gemacht worden ist. Es handelt sich um eine Fiktion innerhalb der Fiktion, deren Möglichkeit der Roman in den Blick rückt. Denn wie die Erinnerungen an die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands und des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei im August 1968 oder das Massaker auf dem Tian‹anmen-Platz in Beijing am 4. Juni 1989 zeigen, war auch den Demonstrationen in der DDR der Erfolg keineswegs von vornherein garantiert. »Der Wandel ist schon unübersehbar, aber noch ist er umkehrbar«, hatte Friedrich Schorlemmer am 4. November 1989 bei der Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz gesagt.665 Jirgls Roman ist 664 Reinhard Jirgl: Abschied von den Feinden. München, Wien 1995, S. 7. 665 Friedrich Schorlemmer, zit. nach Bernd Lindner: Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90. Durchgesehener Nachdruck Bonn 1998, S. 98.

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nicht der erste Text, der die Geschichte der deutschen Teilung bzw. der DDR in abweichender Weise ›neu‹ erzählt. Thorsten Beckers Roman Schönes Deutschland (1996) schildert ein Land, das die Teilung nicht überwunden hat, und Christian von Ditfurths Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus (1999) legt aus umgekehrter Perspektive dar, wie ein Deutschland aussehen könnte, mit dem die Geschichte ganz anders als in der überlieferten Richtung verfährt. Bereits Stefan Heyms Roman Schwarzenberg (1984) fingiert die Geschichte eines Dorfes im Grenzgebiet zwischen BRD und DDR, das von der Zeitgeschichte einfach vergessen worden ist: Die Einwohner des fiktiven Ortes finden sich wieder als Bewohner einer real gewordenen Utopie, in einem ›unmöglichen‹ Abseits zwischen beiden politischen Systemen, weil es genau an deren Bruchstelle, im Grenzverlauf liegt und doch von beiden ausgespart wird.666 Der ›dritte Weg‹ zwischen sozialistischen und kapitalistischen Gesellschaftsmodellen wird innerhalb der Fiktion an einem begrenzten Schauplatz möglich. Wolfgang Menge hat in der am 9. Januar 1969 ausgestrahlte Fernsehsatire Die Dubrowkrise die Geschichte eines Dorfes erzählt, das aufgrund eines Vermessungsfehlers über Nacht vom politischen Osten in den Westen ›transloziert‹ wird: Über die Bewohner bricht ein Systemchock in Gestalt von Kamerateams und Touristenscharen herein, die sie bestaunen wie eine exotische Spezies im Zoo. Uchronien sind Roman und Fernsehfilm allerdings nicht, sondern Utopien, die ihre unwahrscheinlichen Schauplätze inmitten der realen zeitgeschichtlichen Verhältnisse aufschlagen. Rolf Schneider, von dem auch das 1967 entstandene Dokumentardrama prozess in nürnberg über den zwischen November 1945 und Oktober 1946 vor einem amerikanischen Militärgerichtshof abgehaltenen Prozess gegen die Hauptverbrecher des Naziregimes stammt,667 hat in seiner kurzen Erzählung Blutmontag (1995) das katastrophische Potenzial, das die krisenhaften letzten Monate der DDR auch in sich barg, zu Ende gedacht. Der Text macht die Probe auf die Logik der Geschichte. Sein uchronisches Experiment kann auf die Frage gebracht werden: Lässt sich ein anderer Verlauf der jüngsten Geschichte, der anstelle der Wiedervereinigung die Stabilisierung der DDR herbeigeführt hätte, wahrscheinlich machen – also plausibel motivieren und kohärent fingieren? Anstatt vom Fall der Mauer zu erzählen, nimmt Schneider jene realgeschichtlich widerlegte Prophetie des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker beim Wort, der noch in Januar 1989 geäußert hatte, die Mauer werde »noch fünfzig oder hundert Jahre bestehen bleiben«.668 Die Form, die das literarische Experiment wählt,

666 Stefan Heym: Schwarzenberg. München 1984. 667 Rolf Schneider: prozess in nürnberg. In: ders.: Stücke. Berlin 1970, S. 111 – 206. 668 Honeckers Erklärung ist dokumentiert auf dem Tonträger: Die Mauer fällt.

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besteht in der sachlich-historiografischen Rekonstruktion eines Geschichtsverlaufs, der so niemals stattgefunden hat. Viele Autoren, heißt es in der einleitenden Passage, verweigerten »[u]nter Hinweis auf die übergroße zeitlich Nähe und die noch immer unübersichtliche Quellenlage […] überhaupt die Bilanz.«669 Das beschreibt die Lage der historischen Urteilskraft auch noch vier Jahre nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten; es ist das notorische Problem der literarischen wie historiografischen Zeitgeschichtsschreibung, auch wenn das Resultat der Geschichte in diesem Fall – bei aller Unübersichtlichkeit der Vorgänge, die es herbeigeführt haben – im Jahr 1995 empirisch längst vorlag. Der Text fährt jedoch fort: »Immerhin liegen die beredeten Ereignisse inzwischen genügend lange zurück, daß wir heute den Versuch einer vergleichsweise objektiven Bewertung wagen dürfen.« Und mit subtiler Ironie merkt der Erzähler weiterhin an: »Dabei wird geschehen, daß unser Eindruck manchem gegenwärtig gepflegten Vorurteil zuwiderläuft. Um der Wahrheit willen werden wir dem nicht ausweichen.«670 Tatsächlich nimmt der Text eine Weiche von der historischen ›Wahrheit‹, nachdem er die durch vermehrte Ausreiseanträge und Fluchtversuche über die westdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau geprägte »kritisch [e]« Situation »im Frühherbst 1989« zunächst durchaus realitätsgerecht rekonstruiert: Über mehrere Seiten hinweg folgt der Erzähler dem überlieferten Geschichtsverlauf bis zur Ansprache des Chefdirigenten des Gewandhausorchesters Kurt Masur über den Leipziger Stadtrundfunk, der die Bevölkerung zur Besonnenheit mahnte und vor gewaltsamen Auseinandersetzungen warnte. Masurs Rede, so behauptet der Text, sei jedoch »der letzte und geradezu verzweifelte Versuch« gewesen, »das drohende Unheil doch noch aufzuhalten.«671 Vorausdeutend baut der Text eine Erwartungsspannung auf das erzählte Ereignis hin auf, zumal es den Zeitgenossen – nicht zuletzt durch die einprägsamen Fernsehbilder – ganz anders als in der hier gegebenen Vorausdeutung in Erinnerung geblieben ist. Der Text verstärkt zugleich seine uchronische Irritation, indem er hervorhebt, dass das irreale Ereignis als in der Vergangenheit liegendes fait accomplit nur mehr Gegenstand nachträglicher Rekonstruktion und Analyse sein kann. Das Datum, an dem die Erzählung mit ihrer uchronischen Abweichung ansetzt, ist keineswegs willkürlich gewählt: Es ist die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, die zum ersten Mal die Masse der Bevölkerung mobilisierte und damit zum »Tag der Entscheidung« über Gelingen oder 669 Rolf Schneider: Blutmontag. In: ders.: Versuch über den Schrecken. Rostock 1995, S. 112 – 129, hier S. 112. 670 Ebd. 671 Ebd., S. 117 f.

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Scheitern der ›friedlichen Revolution‹ wurde.672 Die Gründe dafür, warum eine gewaltsame Auflösung der Demonstration unterblieb, sind bis heute nicht völlig geklärt. Insofern markiert die Stelle, an der der Erzählbericht sich vom Faktischen abstößt, einen Moment der historischen Unentschiedenheit; einen Augenblick, in dem zentrifugale und zentripetale, die gegebene Ordnung sprengende und sie stabilisierende Kräfte mit gleichen Chancen miteinander ringen. Was in dieser instabilen Lage den Ausschlag gibt, hat die naturwissenschaftliche Chaostheorie mit dem Begriff des ›seltsamen Attraktors‹ bezeichnet:673 Er benennt einen zweiten potenziellen Anziehungspunkt, der als kaum messbare Kraft ein Umkippen der alten Ordnung in eine neue, also die Neukonfiguration der Ordnungen bewirkt, wie sie mit der ›deutschen Wende‹ in der Folge der Montagsdemonstrationen auch geschehen ist. So ist die oft zitierte Veranschaulichung der Chaostheorie zu verstehen, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in China einen Wirbelsturm über dem Pazifik auslösen könne. Kontrafaktische Geschichtsnarrationen spielen wie Schneiders Text mit diesem chaostheoretischen Arrangement, dessen Struktur sie für geschichtliche Situationen adaptieren. Auch in historischen Konstellationen werden offenbar Momente chaotischer Instabilität erreicht, in denen die Auflösung systemischer Ordnung wie ihre Erhaltung und Fortsetzung, die Neukonfigurationen wie die Bewahrung des gesellschaftspolitischen Systems gleichermaßen möglich sind. Welchen Verlauf die Geschichte nimmt, hängt dann von Faktoren ab, die von sich aus keine Entscheidungskraft zu haben scheinen und doch den Umschlag oder die Restabilisierung bewirken. Was die Chaostheorie, historiologisch gewendet, beschreibt, hat in einer illustrativen, skizzenhaften Geschichtserzählung innerhalb eines Essays Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (ca. 1805) bereits Heinrich von Kleist gesehen. Kleist führt darin aus, wie Mirabeau in der Französischen Nationalversammlung am 23. Juni 1789 zu Beginn seiner Rede noch gar nicht recht weiß, was er dem Repräsentanten des Königs antworten wird, der die Auflösung der Versammlung befohlen hat. Sein plötzlicher Einfall – der »Donnerkeil«, mit dem er »den Zeremonienmeister abfertigte« – zerbricht schließlich die alte Ordnung und gibt den Auftakt zur Revolution. Es handelt sich um eine strikte Manifestation des hypsos im Sinne der Rhetorik des Pseudo-Longin, wenn aus dem Rede-Ereignis das historische 672 Vgl. dazu die Rekonstruktion der Ereignisse von Ekkehard Kuhn: Der Tag der Entscheidung. Leipzig, 9. Oktober 1989. Berlin, Frankfurt/M. 1992. 673 Eine solche chaostheoretische Annäherung unternimmt Niall Ferguson: Einführung: Virtuelle Geschichtsschreibung. Unterwegs zu einer Chaostheorie der Vergangenheit. In: ders. (Hg.): Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen übersetzt von Raul Niemann. Darmstadt 1999 (engl. Original 1997), S. 9 – 114. – Zum Jahr 1989 vgl. auch den Beitrag von Mark Almond: Das Jahr 1989 ohne Gorbatschow. Wenn der Kommunismus nicht zusammengebrochen wäre, ebd., S. 313 – 343.

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folgt.674 Zum Auslöser dieses Einfalls bemerkt Kleist nur, dass es vielleicht »das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte«;675 ein kaum registriertes, jedenfalls in den Geschichtsbüchern nicht verzeichnetes Signal also, das im historisch entscheidenden Moment der chaotischen Instabilität der politischen Ordnung ihren Umschlag auszulösen vermochte. Von solchen minimalen Momenten, Eindrücken oder Ereignissen hängt der empirische Gang der Geschichte ab, von dem nur in kontingenter – nicht in teleologischer, fortschrittsorientierter – Bedeutung die Rede sein kann. Der analoge, ›minimale‹ Eingriff in die geschichtliche Konstellation des Jahres 1989, den Schneiders Fiktion vornimmt, besteht darin, dass er die Kraft des systemischen Zentrums im entscheidenden Augenblick stärkt. Der Sturm staatlicher Gewalt, der Schneiders Uchronie zufolge über die Leipziger Demonstranten am 9. Oktober hereinbricht, entspricht dem »chinesischen Modell« oder der »Pekinger Lösung«:676 Tatsächlich hatte der ›zweite Mann‹ der DDR, Egon Krenz, im Juni 1989 (noch vor seinem Besuch der Volksrepublik im September) das Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die aufständischen Studenten ausdrücklich gutgeheißen. Schneiders Text verwendet diese Information neben anderen überlieferten Daten, zu denen etwa die gewaltsame Auflösung einer Demonstration auf dem Prenzlauer Berg in Berlin am 7. Oktober gehört, als Teil einer Indizienkette, die die uchronische Fiktion wahrscheinlich – und die historische Wahrheit desto unwahrscheinlicher macht. Von jetzt an wiederholt der Erzähltext nicht mehr die Geschichte, sondern die Geschichte sich selbst: Schneiders fiktiver 9. Oktober 1989 reiht sich in die Datenund Beispielkette von ›Budapest 1954‹, ›Prag 1968‹ und ›Beijing‹ vom selben Jahr ein. Nachdem sie wahrheitsgemäß den Ruf der Demonstrierenden – »[W]ir sind das Volk!« – zitiert, fährt die dokumentarische Fiktion, die andere im historischen Moment angelegte Möglichkeit ausphantasierend, fort: Etwa fünfzig Meter von dem Polizeikordon kam der Zug ins Stocken. Die vorderen Marschierer wurden von hinten weitergeschoben. Die Volkspolizisten erhielten daraufhin Befehl, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Es erfolgten Warnschüsse, dann mehrere gezielte Salven in die Menge der Demonstranten. Die Verwundeten stürzten zu Boden. Gruppen radikaler Jugendlicher gingen 674 Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Otto Schönberger. Stuttgart 2002. 675 Heinrich von Kleist: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II/ 9: Sonstige Prosa. Frankfurt/M. 2007, S. 25 – 32, hier S. 29. 676 Schneider: Blutmontag, S. 120. – Zur »chinesischen Lösung« vgl. auch Wolfgang Schneider: Oktoberrevolution 1989. In: ders. (Hg.): Leipziger Demontagebuch. Demo Montag Tagebuch Demontage. 3. Auflage Leipzig, Weimar 1991, S. 5a-9c, hier S. 7c.

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jetzt mit Steinen und Metallgegenständen gegen die Ordnungskräfte vor. Es kam zu einer förmlichen Straßenschlacht. Aus den Seitenstraßen drangen neue Polizeikräfte vor, verstärkt durch Armee-Einheiten.677

Die berichtete Szene hat nicht die szenisch-präsentische Dramatik der unmittelbaren (und doch unmöglichen) Teilhabe, die der Monolog des »Hamletdarstellers« in Heiner Müllers Drama Die Hamletmaschine (1977) dem Budapester Ereignis vom Abend des 23. Oktober 1956, also dem Beginn des Ungarnaufstands, abgewinnt: Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Man beginnt die Polizisten zu entwaffnen, stürmt zwei drei Gebäude, ein Gefängnis eine Polizeistation ein Büro der Geheimpolizei, hängt ein Dutzend Handlanger der Macht an den Füßen auf, die Regierung setzt Truppen ein, Panzer. Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht.678

Aber Schneiders Text strebt sie auch gar nicht an. Stattdessen wählt er die distanzierte Erzählfunktion des objektiven Chronisten, der eine ›U-Chronologie‹ des Jahres 1989 vorlegt. Wenn dieser Uchronist jedoch die kontrafaktische Frage stellt, »[o]b die blutigen Ereignisse von Leipzig vorhersehbar gewesen waren und ob sie sich hätten vermeiden lassen«,679 erfährt das fiktionale Arrangement eine weitere ›Drehung‹, die über die bloße Einsetzung eines kontrafaktischen Geschichtsverlaufs hinausgeht: indem es vom historisch Kontrafaktischen her das historisch Faktische auf seine Möglichkeit hin befragt. Die empirische Geschichte kommt somit nur mehr als Alternative ihrer Alternative in Betracht, und als solche steht sie in Frage. Der zeitgeschichtliche Möglichkeitssinn, den die Erzählung entfaltet, potenziert sich innerhalb der Fiktion durch die Frage nach der Möglichkeit der Möglichkeit des realen Geschichtsverlaufs selbst. Helmut Heißenbüttels »Historische Novellen und wahre Begebenheiten«, die 1979 unter dem logisch intrikaten Titel Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte erschienen, haben dieses Spiel auf die Spitze getrieben. Bereits der Titel impliziert eine Negation der Negation, indem er innerhalb seiner uchro677 Schneider: Blutmontag, S. 118. 678 Heiner Müller : Die Hamletmaschine. In: ders.: Werke. Hg. von Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Bd. 4: Die Stücke 2. Frankfurt/M. 2001, S. 543 – 554, hier S. 550 f. – Der Hamletdarsteller bezieht eine ›unmögliche‹ Position zugleich auf der demonstrierenden Straße wie hinter der gepanzerten Flügeltür des Regierungsgebäudes, hinter die sich der Regierungsvertreter, »ein Mann mit schlecht sitzendem Frack«, nach dem ersten Steinwurf zurückgezogen hat. 679 Schneider: Blutmontag, S. 119.

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nischen Voraussetzung die Realgeschichte des verlorenen Krieges ihrerseits zur uchronischen Hypothese macht: Was wäre, wenn nicht gewesen wäre, was nicht gewesen ist? Dass mit dieser doppelten Inversion »die Parodie an die Stelle des Tragischen« tritt, wie Heißenbüttel im Vorwort seiner ›historischen Novellen‹ erklärt, stimmt mit Dürrenmatts Forderung aus dem Jahr 1954 genau überein.680 Die doppelte Verneinung des geschichtlich Realen führt dem Faktischen seine historischen Risiken vor, unter denen es zu ihm gar nicht gekommen sein könnte – und zeigt damit, wie unwahrscheinlich in Wahrheit das Werden des historisch Realen war. Im unheimlichen, flackernden Licht der uchronischen Fiktion erscheint das Reale als gespenstischer Wiedergänger seiner selbst: In einer geschichtlich notwendigen Wahrheit oder Vernunft ist es so wenig verankert wie sein Gegenteil, die literarische Fiktion. Die Antwort, die Rolf Schneiders Text der von ihm gestellten Frage nach der Vorhersehbarkeit des fiktiven, uchronischen Geschehens erteilt, ist positiv : »Der Zusammenstoß war vorhersehbar.«681 Wer die geschichtlichen Zeichen zu lesen verstand, hätte antizipieren können, dass der ›Blutmontag‹ von Leipzig »sich kaum vermeiden ließ.«682 Die Frage nach der epistemischen Absehbarkeit setzt nicht nur die ontologische Möglichkeit des irrealen Geschichtsverlaufs voraus, sondern auch eine starke Kausalität, welche die Uchronologie der nicht stattgefundenen ›friedlichen Revolution‹ im Text plausibel zu machen sucht. Dass Bereitschaftspolizei, Betriebskampfgruppen und Nationale Volksarmee am Leipziger 9. Oktober in erhöhte Alarm- bzw. Gefechtsbereitschaft gesetzt waren, gehört noch zur realen Chronik der ostdeutschen ›Oktoberrevolution‹.683 Anders als bei der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 bedarf es daher am fiktiven 9. Oktober keiner Intervention durch die Streitkräfte der Sowjets: »Die Rote Armee hat nicht eingegriffen, weil sie nicht eingreifen musste. Nach allem, was wir inzwischen wissen, befand sie sich in höchster Alarmbereitschaft, übrigens mit der Billigung von Michail Gorbatschow.«684 Für dessen Duldung des Massakers führt der Chronist auch machtpolitische Gründe an: Der Liberalismus von »Gorbatschows Perestroika« habe »stabile[r] Grenzen« nach außen bedurft;685 mit Blut wurde in Leipzig der Preis für die Reformen in Sowjetrussland bezahlt. Der Titel, unter dem Schneiders uchronische Version der deutschen Geschichte steht, datiert den russischen und irischen ›Blutsonntag‹ nur um einen 680 Helmut Heißenbüttel: Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte. Historische Novellen und wahre Begebenheiten. Projekte 3/2. Stuttgart 1979, S. 5. 681 Schneider: Blutmontag, S. 120. 682 Ebd., S. 129. 683 Vgl. Kuhn: Der Tag der Entscheidung, S. 38 – 54. 684 Schneider: Blutmontag, S. 120. 685 Ebd., S. 121.

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Wochentag weiter : Am 9. Januar des julianischen bzw. am 22. Januar des gregorianischen Kalenders 1905 schlugen Soldaten im zaristischen Russland einen Generalstreik nieder, indem sie in die Menge der Demonstrierenden schossen. Am Nachmittag des 21. November 1920 wurden in der irischen Hauptstadt Dublin während des anglo-irischen Krieges zahlreiche Teilnehmer und Spieler einer Football-Veranstaltung von der britischen Armee niedergeschossen, nachdem zwölf britische Agenten und Informanten am Vormittag von der Irish Republican Brotherhood ermordet worden waren. Auch dadurch, dass er auf ein beglaubigtes Geschichtszeichen anspielt, gewinnt der Erzählbericht Plausibilität. Der »Leipziger Blutmontag« führt jedoch nur vorübergehend zur internationalen »Isolierung« der DDR, zumal niemand in den westlichen Staaten eine Wiederkehr des Kalten Krieges will.686 Statt eine retrograde, stalinistische »Trendwende« einzuleiten, leitet er nach der propagandistisch genutzten Aburteilung zweier ›Rädelsführer‹ des Leipziger Aufstands jenen »radikalen Generationswechsel« innerhalb der Staatsführung ein, den die Staatsführung der DDR in Wirklichkeit zu spät vollzog. Nach der uchronischen Trennung von der unwahrscheinlichen Realgeschichte am Datum des 9. Oktober nähert sich der Erzählbericht ihr noch einmal an, indem er die Demissionierung Erich Honeckers vom Amt des Generalsekretärs der SED und seine Ersetzung durch den zweiten Mann im Politbüro, Egon Krenz (18. Oktober 1989), sowie die Ablösung des Ministerpräsidenten Willy Stoph durch den bisherigen Ersten Sekretär der Dresdner Bezirksleitung der SED, Hans Modrow, aufnimmt.687 Statt die Grenzen zu öffnen und so die Kontrolle preiszugeben, bereitet die verjüngte Regierung auf sehr viel geordnetere Weise ein liberaleres »Reisegesetz« vor. Es gehört zur zeitgeschichtlichen Ironie des Textes, dass er Günter Schabowski, den Regierungssprecher der DDR, dessen Pressekonferenz am Abend des 9. November den Mauerfall ermöglicht hat, seit dem XII. Parteitag der SED im April 1990 zum »Verantwortliche[n] für Information und Medien« und sogar zum voraussichtlichen Nachfolger des durch das Leipziger Ereignis belasteten ›Kronprinzen‹ Honeckers, Egon Krenz, macht.688 Am Ende sitzt die Regierung der DDR fester im Sattel, als es sich der politische Möglichkeitssinn im Jahr 1989 offenbar träumen ließ. Zu riskant erschien der Staatsgewalt offenbar der Einsatz von Waffen gegen die Demonstrierenden, da die Rückendeckung durch den im Wandel der Perestroika befindlichen sowjetischen ›Bruderstaat‹ wegfiel. In Schneiders Geschichtsfiktion führt die Machtprobe von Staat und Bürgern dagegen zur erfolgreichen Durchsetzung des 686 Vgl. ebd., S. 123. 687 Ebd., S. 126. – Zur Demissionierung Erich Honeckers vgl. Thomas Kunze: Staatschef a. D. Die letzten Jahre des Erich Honecker. Berlin 2001, besonders S. 41 f. 688 Schneider: Blutmontag, S. 127.

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ersteren. »Wir erleben das paradoxe Schauspiel, daß der Leipziger Blutmontag, wie grausam er war, am Ende eine beträchtliche innenpolitischen [!] Entspannung bewirkt hat.« Nach einer kurzen »Schamfrist« haben die Reformkräfte in der SED die Führung übernommen: »Der Ostblock existiert. Sein Ende, oft prophezeit, ist ungeachtet der immer wiederkehrenden Krisenerscheinungen überhaupt nicht absehbar.«689 Ad infinitum könnte die Geschichte der DDR sich fortsetzen, nachdem der Geschichtsverlauf einmal, zu einem diskreten und wahrscheinlichen Zeitpunkt, von der realen Chronologie abgezweigt ist. Wie von der blutigen Machprobe, die er fingiert, lässt sich auch von Schneiders narrativem Experiment behaupten, dass es erfolgreich verlaufen ist: Die uchronische Transformation der Realgeschichtliche in ein kontrafaktisches Geschehen weist keine logischen Bruchstellen oder auffälligen Inkohärenzen auf. Weniger brüchig jedenfalls, als der Gang der erzählten Geschichte über die ereignishafte Stelle des ›Leipziger Blutmontags‹ hinweg erscheint, ist die reale Geschichte des Oktobers 1989 auch nicht verlaufen. Nichts also spricht gegen diese Version der Zeitgeschichte, die anstelle der friedlichen Revolution den durch Gewalt begründeten Fortbestand der DDR herbeigeführt hat – außer dem Verlauf der realen Geschichte selbst. Mit der Widerlegung der Alternativlosigkeit der Geschichte im fiktionalen Experiment, das die Geschichte der ›deutschen Wende‹ ihrer Unwahrscheinlichkeit überführt und eine andere Wahrscheinlichkeit anstelle der überlieferten ›Wahrheit‹ vorstellt, sind die Implikationen der Uchronie des Jahres 1989 indes noch nicht zu Ende gedacht. Auch wenn die apokryphe Version der rezenten Geschichte vielleicht die größere Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite hat, führt Schneiders Blutmontag vor allem eine diskursive Kohärenzbildung vor, die den ›Text‹ der Geschichte als kausallogischen Ablauf von Ereignissen und Reaktionen zu entwerfen versucht. Der Vorbehalt, den die literarische Uchronie gegen die reale Geschichte einzuwenden hat – dass alles auch ganz anders sich hätte ereignen können –, trifft ihre eigene Darstellung auch: Indem die Uchronie die absehbare Folgerichtigkeit eines Geschichtsverlaufs darlegt, der niemals stattgefunden hat, storniert sie die Stringenz ihrer Logik von vornherein. Treten historische Wahrscheinlichkeit und Wahrheit auseinander, so tun sie dies zum Nachteil der ersteren. Dass geschichtliche Prozesse sich diskontinuierlich vollziehen und weder einer prospektiven noch einer retrospektiven Logik entsprechen, gehört zu den prinzipiellen Lehren, welche das uchronische Experiment erteilt. Das aber heißt: Die Vertextung der Geschichte steht im Zeichen einer Kontingenz, die alle Anstrengungen, sie als logischen Ablauf zu begreifen, narrt.

689 Ebd., S. 128.

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»Meine Box macht Bilder, die gibt’s nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch nicht im Traum einfallen. Ist allsichtig, meine Box.«690 Bei dieser ›Box‹, deren Bilder Dinge und Geschehnisse zeigt, die es nicht gibt (soweit die behauptete Nichtexistenz sich nicht auf die Bilder selbst bezieht), handelt es sich um eine Kastenkamera der Firma Agfa; Marie, eine der Erzählfiguren in Günter Grass’ Roman Die Box (2008), hat sie im Jahr 1932 erworben. Marie ist eines der vielen Kinder eines Schriftstellers, der sie alle zu seinem achtzigsten Geburtstag zusammengerufen hat, um sie in wechselnden Zusammensetzungen von ihrem Leben mit dem Vater erzählen zu lassen, während er selbst abwesend bleibt. Die Figuren ›plaudern‹ »alle durcheinander, zwar ausgedacht vom Vater und nach seinen Worten, doch eigensinnig und ohne ihn, bei aller Liebe, schonen zu wollen.«691 Ihre Erzählungen fassen ein gutes Stück deutscher (Zeit-)Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen: vom Zweiten Weltkrieg über den Mauerbau, Vietnam- und Anti-Atomkraft-Demonstrationen bis zu Mauerfall und Wiedervereinigung. Die »Box«, die »Bilder« von »Sachen« macht, die es nicht gibt, hat ihre a-mimetische Verwandlung im »Brand« des Zweiten Weltkriegs erfahren: »Spielt verrückt seitdem.«692 Die Fähigkeiten der Kamera, historisch Abwesendes zu repräsentieren, reichen jedoch nicht nur weit über den Ausschnitt der von ihr fotografierten Objektwelt, sondern auch über die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus: Wie das ›Luminar‹ in Jüngers Eumeswil vermag sie jegliche historische Zeit zu bebildern – von der Steinzeit bis zu einer apokalyptischen Zukunft, die sie als eine Art postdiluvianische water world imaginiert.693 Als technische Phantasie-Apparatur liefert die Kamera ihre Bilder dem Schriftsteller zu, der mit ihrer Hilfe die Themen und Erfahrungen seines Lebens literarisch abarbeitet. Die ›Allsichtigkeit‹, die der obskuren Kamera nachgesagt wird, gehört zu den frühesten Utopien, die sich mit der Technisierung der Bilder verknüpfen. Aber die Fotografin Marie vermag mit ihrer »Box« zudem auch die »heimlichsten Wünsche« gegenwärtiger Personen zu ›knipsen‹, so dass die Kamera zugleich als »Wünschdirwasbox« fungiert.694 Und daher zeigen die in der Dunkelkammer entwickelten »Schwarzweißfotos« auch die in jeder Weise der Autorfigur Grass angenäherte Vater-Figur mitsamt seiner Ehefrau als Revolutionäre auf den Barrikaden des Matrosenaufstands vom November 1918: 690 691 692 693 694

Günter Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten. Göttingen 2008, S. 19. Ebd., S. 7. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 144 und S. 208. Ebd., S. 200.

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Da hättet ihr unseren Vater bewundern können: mit ner Matrosenmütze auffem Kopp. […] Standen beide hinter ner Barrikade. Fanden das anscheinend lustig. Hatten Patronengurte um den Hals und ein Maschinengewehr aussem Ersten Weltkrieg, mit dem sie auf einem anderen Foto auch gezielt und womöglich geschossen haben. Und links von ihnen wehte eine Fahne, nehm an, eine rote. Waren ja nur Schwarzweißfotos, die Mariechen mir zeigte. ›Hier in Berlin ist so was passiert, als Revolution war‹, sagte sie.695

Das traumatische Ereignis des Krieges provoziert historische Perspektiven, die sich buchstäblich umsehen nach dem Möglich-Gewesenen – auch wenn der Roman selbst den damit eröffneten Raum und die Zeit der irrealen Fiktion nicht bis zur kontrafaktischen Abweichungsfigur der Uchronie ausschöpft. Dennoch trägt die »Box« die Autor-Figur als irrealen Akteur in die ›reale‹ Geschichte ein, die sie nicht ändert, an der sie jedoch immerhin teilhat. Black-»Box« und »Dunkelkammer« werden so zu medientechnischen Allegorien der erzählerischen Phantasie. Die Imagination des Autors, der tatsächlich »immer nur Reformist« gewesen sei,696 als Revolutionär ist auch als selbstironischer Kommentar zu Grass’ spätem öffentlichen Eingeständnis seiner unfreiwilligen Mitgliedschaft in der Waffen-SS in der 2006 erschienenen Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel zu lesen. Dass es »[i]n Wirklichkeit« ganz anders war, als es auf Maries erzählten Bildern zu sehen ist, macht eine der vielen Stimmen im Roman auch deutlich: »Ach was! Sowas kann nur Vater sich ausgedacht haben.«697 – So ›schonungslos‹ uchronische Fiktionen die reale Geschichte mit ihren verpassten, glücklicher- oder unglücklicherweise entgangenen Möglichkeiten konfrontieren, und so sehr sie die aristotelische Unterscheidung, der Historiker beschreibe, was wirklich gewesen, der Dichter hingegen das Mögliche, auf der poetischen Seite radikalisieren, so sehr anerkennen sie den Primat der (zeit-)geschichtlichen Faktizität: ›Ausgedacht‹, gleichzeitig aber angewiesen auf ein medial vermitteltes Wissen über zeitgeschichtliche Ereignisse und Verläufe sind sie alle.

695 Ebd., S. 116. 696 Ebd., S. 117. 697 Ebd.

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1992 – 1999. Postjugoslawische Kriege

1992 – 1999. Postjugoslawische Kriege Der Bürgerkrieg ist keine Literatur; und zwei Geschichten über ihn sind verschiedene Werke.698

Auf zweifache Weise haben sich die ab 1992 nach der staatlichen Sezession Sloweniens ausgebrochenen Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Gesamtstaats Jugoslawien, die das ganze letzte Jahrzehnt des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts in Atem hielten,699 in das europäische Geschichtsgedächtnis eingetragen: zum einen durch die Rückkehr des Krieges nach Europa, nachdem er seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus europäischer Sicht in exterritoriale Räume expediert zu sein schien. Während sich der ›zweite‹ Golf-Krieg 1991 / 1992, in dem die USA gegen die völkerrechtswidrige irakische Annexion Kuwaits mit waffentechnologisch überlegenen Mitteln intervenierten, noch weit außerhalb der europäischen Grenzen abspielte, war der Krieg mit den militärischen und paramilitärischen Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien mit einem Mal auf die Distanz einer Tagesreise gerückt. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieser Wiederkehr des Krieges nach Europa, dass es dem Typ nach ›alte‹, also ohne Hochtechnologiewaffen und administrative Medien-Kontrolle wie im Irak-Krieg geführte Kriege waren, die ihn allmählich wieder ins Bewusstsein einer nahen Möglichkeit zurückgeführt und ihm sein erschreckendes Gesicht zurückgegeben haben. Zum anderen aber markieren die JugoslawienKriege in gewisser Weise auch das Ende der deutschen intellektuellen Nachkriegszeit. Denn die innereuropäischen Kriege konterkarierten gewissermaßen einen bis dahin kaum von politischen Ereignissen in Frage gestellten Konsens, der sich in den Formeln ›Nie wieder Krieg‹ und ›Nie wieder Auschwitz‹ artikulierte. Zwischen den übereinstimmend geglaubten Maximen, die die Erinnerung des Genozids an den europäischen Juden mit der grundsätzlichen Ablehnung des Krieges verbanden, tat sich auf einmal ein Widerspruch auf; selbst angesichts des unter den Augen der Unprofor-Schutztruppen verübten Massakers in Srebrenica blieb die Bereitschaft, mit militärischen Mitteln zu reagieren, gelähmt. Aber derselbe Widerspruch paralysierte auch die Bereitschaft der 698 Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übersetzt von Bernd Philippi. 2. Auflage Frankfurt/M. 1998, S. 195. 699 Klaus Naumann: Das nervöse Jahrzehnt. Krieg, Medien und Erinnerung am Beginn der Berliner Republik. In: Mittelweg 36 10 (2001), H. 3, S. 25 – 44. – Zum Folgenden vgl. auch Chrtistoph Deupmann: Die Unmöglichkeit des Dritten. Peter Handke, die Jugoslawienkriege und die Rolle der deutschsprachigen Schriftsteller. In: Zeithistorische Forschungen 5 (2008), H. 1, S. 87 – 109 (zugleich als Onlineversion, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Deupmann-1 – 2008).

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deutschsprachigen Schriftsteller und Intellektuellen, in Hinsicht auf den nahegerückten Krieg auf engagierte Weise Stellung zu beziehen. Richard Herzinger hat 1996 in der Zeitschrift Merkur den deutschsprachigen Literaten und Intellektuellen ›nach Srebrenica‹ den Vorwurf des Versagens gemacht und zugleich zu ergründen versucht, warum es ihnen so schwer fiel, »den Krieg als Ernstfall zu denken«:700 Aus dem ethischen Anathema über den Krieg sei ein »erbarmungsloser Pazifismus« geworden, der die praktische Konsequenz aus dem nationalsozialistischen Genozid zu ziehen gerade verhindert habe.701 Den Umstand, dass die Konsensformel ›nie wieder Krieg‹ »wohl nur im Land der Täter populär werden konnte«, während sich Verfolgte und Überfallene mit Waffengewalt zu wehren hatten, hat später Peter Schneider in der Diskussion um den Kosovokrieg hinzugefügt.702 Die Herausforderung, das Denken des Krieges am benachbarten Ernstfall zu erproben, barg jedoch die Gefahr der bellizistischen Austreibung einer nach 1945 mühsam erreichten Bürgergesellschaft und Zivilkultur, wie die Diskussion um die out of area-Einsätze der Bundeswehr etwa in Somalia ab 1992 gezeigt hat.703 Dass »keiner der berühmten, im ehemaligen Jugoslawien publizierten deutschen Autoren wie Grass, Heiner Müller oder Christa Wolf seine Stimme erhoben« hat,704 erklärt sich zum Teil aus der von Herzinger beschriebenen Selbstblockierung eines Denkens, das sich den Krieg als Verunsicherung unverrückbar geglaubter ethischer Normen vom Leib halten wollte. Dass Einlassungen deutschsprachiger Schriftsteller auf die postjugoslawischen Kriege lange ausgeblieben sind, lag demnach nicht nur an der konstitutionellen Überforderung literarischer und intellektueller Zeitgenossenschaft, in eventu bereits Einordnungen und Bewertungen formulieren zu sollen, die allenfalls post eventum ausreichend begründ- und belegbar sind. Mehr noch stand der intellektuellen Wahrnehmung, die sich stets an vergangenen ideologischen, ökonomischen und machtpolitischen Konfliktlinien des zwanzigsten Jahrhunderts orientiert hatte, keine Deutungsmatrix zur Verfügung, welche die 700 Vgl. Richard Herzinger: Flucht aus der Politik. Deutsche Intellektuelle nach Srebrenica. In: Merkur 50 (1996), S. 375 – 388, hier S. 378. 701 Ebd., S. 375 f. 702 Peter Schneider: »Ich kann über Leichen gehen, ihr könnt es nicht«. Die Menschenrechte brauchen verlässliche Fürsprecher. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 119 vom 26. 5. 1999, S. 52, wieder abgedruckt in: Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum KosovoKrieg. Hg. von Frank Schirrmacher. Stuttgart 1999, S. 226 – 233, hier S. 232 f. – Ähnliches hatte zuvor schon die Grünen-Politikerin Krista Sager formuliert, vgl. Michael SchwabTrapp: Der deutsche Diskurs über den Jugoslawienkrieg. Skizzen zur Karriere eines moralischen Dilemmas. In: Medien in Konflikten. Holocaust – Krieg – Ausgrenzung. Hg. von Adi Grewenig und Margret Jäger. Duisburg 2000, S. 97 – 110, hier S. 104. 703 Vgl. dazu etwa Bodo Kirchhoffs Reisebericht über den Somalia-Einsatz der Bundeswehr; Bodo Kirchhoff: Herrenmenschlichkeit. Frankfurt/M. 1994. 704 Peter Schneider: Der Ritt über den Balkan. Peter Schneider gegen die Parteinahme Peter Handkes für die Serben. In: Der Spiegel Nr. 3 vom 15. 1. 1996, S. 163 – 165, hier S. 164 f.

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neuen, ethnisch begründeten Kriege zu beurteilen half. Die friedliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nach 1989 und die Erosion der sowjetischen Machthemisphäre hatten zugleich den Optimismus einer friedvollen Zukunft genährt, in der der ›kalte‹ Krieg der machtpolitischen Blöcke beigelegt und der ›heiße‹ Krieg erst recht auf Dauer aus Europa ausgewiesen wäre. Der Krieg jedoch, der infolge der Unabhängigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepubliken ausbrach, hat nicht nur jeglichen Geschichtsoptimismus gründlich desillusioniert, sondern auch das theoretisch heitere Konzept eines entspannten ›posthistorischen‹ Zustands, in dem die bisher gekannte Form militärisch bewehrter Politik überflüssig geworden sei.705 Tatsächlich wurden die Stimmen deutschsprachiger Schriftsteller erst zu einem späten Zeitpunkt zahlreicher und laut, als die Bombardements der Nato während des Kosovo-Kriegs 1999 gegen Ziele in Serbien bereits eingesetzt hatten. Auch diese kriegerische Intervention, die weder aus geostrategischen oder territorialen noch aus ökonomischen Motiven erklärt werden konnte, irritierte die bis dahin geltende Wahrnehmungsform kriegerischer Gewalt: ein »historisches Novum«, wie Hans Magnus Enzensberger erstaunt konstatierte.706 Dass es allerdings selbst zu diesen Stellungnahmen deutschsprachiger Literaten »nicht gekommen wäre«,707 wären sie nicht von den Feuilletons großer Zeitungen angeregt worden, weist einmal mehr auf die generative Rolle der Medien für intellektuelle Debatten hin – und auf das im Ganzen geringe politische Positionierungsinteresse deutschsprachiger Schriftsteller seit den achtziger Jahren. Der Vorwurf eines »Bankrott[s] der kritischen Intellektuellen«708 rührt nicht von ungefähr. Wenn es im Blick auf die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien bis zum Kosovokrieg indes eine öffentliche Diskussion unter deutschsprachigen Literaten gegeben hat, war es eine Debatte um Peter Handke.

705 Vgl. dazu Dusˇan Reljic: Killing screens, S. 16 – 19. 706 Hans Magnus Enzensberger : Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 86 vom 14. 4. 1999, S. 49, wieder abgedruckt in: Der westliche Kreuzzug, S. 28 – 30, hier S. 28. 707 Frank Schirrmacher im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band Der westliche Kreuzzug. 708 Vgl. den Vorwurf von Dunja Melcˇic´ : Der Bankrott der kritischen Intellektuellen. In: Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M. 1992, S. 35 – 45.

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Aussichten auf die postjugoslawischen Kriege

Hans Magnus Enzensbergers 1993 erschienener Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg hat die Schwierigkeiten, sich zu den neuen, alten Kriegen im zerfallenden Jugoslawien intellektuell und praktisch zu verhalten, exemplarisch vorgeführt. Enzensberger bringt seine Generalthese auf den diagnostischen Begriff einer »molekularen Gewalt«, welche die gehegten Staatenkriege der Vergangenheit hinter sich gelassen und sich überall auf der Welt dem Zufall grundloser Feindschaften überantwortet habe: »In den Bürgerkriegen der Gegenwart ist jede Legitimation verdampft. Die Gewalt hat sich von ideologischen Begründungen vollkommen freigemacht.«709 Die ›molekularen Bürgerkriege‹ der Gegenwart versteht er als Eruptionen einer völlig programmfreien Gewalt, deren Akteure »Todesschwadrone, Neonazis und Schwarze Sheriffs«, aber auch unauffällige Bürger seien, »die sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln«.710 Diese atavistische, letztlich kontingente Gewalt sei zum »Retrovirus des Politischen« geworden; die zeitgenössischen Kriege würden »ohne jeden Einsatz« geführt, weil es »buchstäblich um nichts geht«.711 Sogar der islamistische Terrorismus belegt für Enzensberger – weit vor dem Datum des 11. September 2001 – den Autismus einer überzeugungslosen Gewalt,712 in der sich zerstörerische und selbstzerstörerische Kräfte durchdringen. Angesichts solcher ungeordneter Gewaltverhältnisse erweise sich freilich jeder moralische Universalismus, der sich für Konfliktbefriedungen überall auf der Welt zuständig fühlt, als illusionär und naiv. Enzensberger votiert deshalb für einen verantwortungsethischen Gradualismus, dem die ›einheimische‹ Gewalt, deren aktuelle Geschichtszeichen Hoyerswerda, Rostock und Mölln heißen, buchstäblich näher liegt als die ›auswärtige‹ Gewalt des allerdings beunruhigend nahen Krieges.713 Gerade der politische Attentismus der europäischen Staaten gegenüber dem »Krieg in Jugoslawien« wird dabei zum tautologischen Argument: Ihr Abwarten habe deutlich »gezeigt, daß die Europäer weder willens noch fähig sind, den Frieden zu erzwingen«.714 Im Blick auf den nahen Bosnienkrieg zieht Enzensberger eine Konsequenz, welche die politische Unzuständigkeit auf allerdings auch sachlich bemerkenswert unzuständige Weise begründet:

709 710 711 712 713 714

Hans Magnus Enzensberger : Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt/M. 1996, S. 20. Ebd., S. 19. Ebd., S. 35. Ebd., S. 24 f. Vgl. ebd., S. 86. Ebd., S. 85.

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Bevor wir den verfeindeten Bosniern in den Arm fallen, müssen wir den Bürgerkrieg im eigenen Land austrocknen. Für die Deutschen muß es heißen: Nicht Somalia ist unsere Priorität, sondern Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen. […] Man muß kein Deutscher sein, und erst recht muß man nicht Englisch oder Latein können, um zu begreifen, was das heißt: Hic Rhodus, hic salta! First things first. Überall brennt es vor der eigenen Haustür.715

Indem Enzensberger den ethisch-politischen Universalismus als »letzte Zuflucht des Eurozentrismus« (und als säkulare Variante der christlichen Mission) diskreditiert, begründet er eine weit stärkere Form der Selbstbezüglichkeit: einen »Isolationismus« (Seyla Benhabib),716 dessen Zuständigkeitsradius sich auf die Probleme des ›eigenen‹ Landes beschränkt. Mit der Maxime first things first, welche die rechtsradikale Gewalt prioritär auf die Agenda setzt, wäre freilich auch die Übersichtlichkeit gewohnter Gegnerschaften wieder hergestellt. Es ist der seit Anfang der achtziger Jahre vergrößerte Abstand zwischen Politik und intellektuell-literarischer Kultur, der sich – anders als etwa in Frankreich717 – in der verhältnismäßigen Ungleichzeitigkeit von politisch relevantem Diskurs und den Anliegen deutschsprachiger Schriftsteller ausprägt. Aber die Gründe für das in Rede stehende Schweigen liegen eben zum Teil in der Wahrnehmung des Krieges selbst. Denn der Krieg, der nach über vierzigjähriger Absenz nach Europa zurückgekehrt war, mutete wie eine katastrophale Konkretisierung jener ›neuen Unübersichtlichkeit‹ an, von der Jürgen Habermas 1985 gesprochen hatte.718 »›Sarajevo‹«, schreibt Juli Zeh noch in ihrer bosnischen Reiseerzählung Die Stille ist ein Geräusch (2002), »ist ein verwirrender Kampf, bei dem man nicht weiß, wem die Daumen gedrückt werden sollen.«719 Diese Unübersichtlichkeit entspricht gewiss einem stereotypen ›Balkanismus‹, der sich durch die ethnischen Separatismen aktuell ins Recht gesetzt sah. Die aus westeuropäischer Perspektive als kontingent erscheinenden Feindschaften schlagen nicht nur in der Schwierigkeit moralisch-politischer Parteinahme und Urteilsbildung zu Buche. Die Verstörung, welche die Kriege auf dem Balkan im Bewusstsein der deutschsprachigen Literaten bewirken, schlägt sich auch in der 715 Ebd., S. 90 f. In einem anderen Beitrag zitiert Enzensberger ein Gespräch mit einem Dramatiker aus Kampala (Uganda): »Ich habe gehört, daß die Europäer sich Vorwürfe machen, weil sie auf dem Balkan nicht intervenieren wollen. […] Lassen Sie die Finger davon! Es gibt nur eines, das einen Bürgerkrieg beenden kann. Das ist die Erschöpfung.« (Hans Magnus Enzensberger : Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte. In: Europa im Krieg, S. 85 – 90, hier S. 89 f.) 716 Seyla Benhabib: Eine Träne im Ozean. Vom ›Praxis‹-Sozialismus zum serbischen Nationalismus. In: Europa im Krieg, S. 146 – 157, hier S. 153. 717 Vgl. dazu Lothar Baier : Die Lieben und die Bösen. In: Europa im Krieg, S. 58 – 65, hier S. 58 f. 718 Vgl. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt/M. 1985. 719 Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt/M. 2002, S. 61.

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Schwierigkeit des Erzählens von den Kriegen nieder. Es ist die schwierige ›Wahrheit‹ der Ereignisse und ihrer Bezeugung, die in den Romanen der Österreicher Gerhard Roth und Norbert Gstrein oder in Juli Zehs Reisebeschreibung auf dem Prüfstand steht.

2.

Fotografische Palimpseste: Gerhard Roths Roman Der Berg

Gerhard Roths fünf Jahre ›nach Srebrenica‹ erschienener Roman Der Berg stellt eine Mischung von Kriminal-, Agenten- oder Detektivroman und (exakt kartografierter) Reiseerzählung dar :720 Im Zentrum steht ein unter dem Pseudonym Viktor Gartner schreibender Journalist und Filmkritiker, der aufgrund von Enthüllungen, die er nicht belegen konnte, vom politischen zum Reiseteil seiner Zeitung versetzt wurde. Offiziell schreibt Gartner an einem Reisebericht über die nordgriechische Halbinsel und Mönchsrepublik Athos,721 in Wahrheit aber forscht er den Spuren des fiktiven serbischen Schriftstellers Goran R. nach. Der Gesuchte, Schachspielpartner des »Ministerpräsident[en] K.«722 der »serbischbosnischen Republik, der Psychiater war und selbst Gedichtbände veröffentlichte«,723 und des »General[s] M.«,724 hält sich mutmaßlich auf dem heiligen Berg Athos versteckt, da er an der Seite des zuletzt Genannten Zeuge eines »Massaker[s] an den bosnischen Moslems«,725 des »Massakers von S.«, geworden war. Der Zeugenvorladung vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag hat sich R. jedoch entzogen: »die Spuren des Dichters [verloren] sich in Belgrad.«726 Schlüsselromanhaft spielt der Text auf Verantwortliche und Täter (wie den bosnischen Serbenführer und selbsternannten Präsidenten der Republika Srpska, Radovan Karadzˇic´, und den bosnisch-serbischen Armeeführer Ratko Mladic´) sowie Orte (das bosnische Srebrenica im Juli 1995) der Kriegsgreuel an;727 Personen und Orte, die »dem internationalen Fernsehpublikum aus dem bosnischen Krieg bekannt sind«, wie Karl-Markus Gauss in seiner Rezension des 720 Gerhard Roth: Der Berg. Frankfurt/M. 2000. – Dass Gerhard Roths 1995 erschienener Roman Der See, der ein gescheitertes Attentat auf einen rechtspopulistischen österreichischen Politiker schildert, zum Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage der FPÖ unter Jörg Haider wurde, sei nur am Rande vermerkt. Vgl. dazu auch Uwe Schütte: Das Schweigen der Dichter. Gerhard Roths politischer Athos- und Österreich-Roman »Der Berg«. In: Frankfurter Rundschau Nr. 121 vom 25. 5. 2000, S. 26. 721 Vgl. Roth: Der Berg, S. 103, S. 131 u. ö. 722 Ebd., S. 69. 723 Ebd., S. 60. 724 Ebd., S. 69. 725 Ebd., S. 35. 726 Ebd., S. 35. 727 Vgl. ebd., S. 66, S. 69, S. 137, S. 168 f.

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Romans schreibt.728 Bis ins Detail einer aufgefundenen Fotografie liefert der vermutete Aufenthalt Karadzˇic´s, gegen den seit 1996 ein Haftbefehl des Haager Gerichtshofs vorlag, im serbisch-orthodoxen Kloster Chilandar die Folie der Fiktion.729 Aber die umwegige Investigation, bei der der Held des Romans den spärlichen Spuren des flüchtigen Zeugen fotografierend und notierend nachreist, um ihn zu einer Interview-Aussage zu bewegen, führt am Ende zu keinem Ergebnis: Zwar trifft er gegen Ende den Schriftsteller Goran R. (freilich nicht auf Athos, sondern in Istanbul) an, aber eher findet der Gesuchte ihn als dass er von ihm gefunden wird, bevor er erneut verschwindet. Mehr als die zielgerichtete Nachforschung sind es »unglaubliche« Zufälle,730 die Gartner bis hierhin überhaupt gelangen lassen. Die Frage nach dem Massaker – »Was hat sich in S. ereignet?« –731 »beantwortet[]« der Befragte »mit einem langen Schweigen«,732 und auch die nachgeschobenen Erinnerungen, die mitzuteilen er nach Zahlung von tausend Dollar bereit ist, können keinen positiven Gehalt fixieren: Ich hatte getrunken. Ich bilde mir auch ein, Schüsse gehört zu haben. Soldaten, wenn sie einen Ort besetzen, feuern allerdings immer Salven ab … später hörte ich den Motorenlärm von Lastwagen, dann wieder Gewehrsalven. Ich weiß übrigens nicht, was ich mir davon nur eingebildet habe. Ich war halb verrückt vor Grauen … und ich erinnere mich bloß an Bruchstücke. Ich kann diese Bruchstücke nicht miteinander verbinden, aber die Journalisten werden gewiß daraus ein Bild rekonstruieren, das es nie gegeben hat. Wozu soll ich meine Eindrücke also preisgeben?733

Dieses ›Bild‹ kommt indes sowenig wie die fotografischen Bilder zustande, die der nach Wien zurückgekehrte Gartner über Nacht in seiner Zeitungsredaktion entwickeln lässt. Am Ende erscheint in Gartners Zeitung lediglich eine fiktional ausgeschmückte »Reisereportage über die Mönchsklöster«, die »auf der Fähre nach Daphni« beginnt und »auf dem Gipfel des Berges Athos« endet, »den er nie 728 Karl-Markus Gauss: Ein Wiener beim Komplott auf dem Balkan. Gerhard Roths Roman »Der Berg«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 139 vom 17. 5. 2000, S. V. – Bereits das dem Roman vorangestellte Motto signalisiert die eigenwillige Verwendung zeitgeschichtlicher Informationen in der literarischen Fiktion: »Ein Geschichtsschreiber, auch der bloße Liebhaber dieser Kunst, besitzt natürlich immer Dokumente. So hat denn auch der Erzähler dieser Geschichte die seinen: zunächst sein eigenes Zeugnis, dann dasjenige der anderen, und schließlich die Schriftstücke, die ihm in die Hände fielen. Er hat die Absicht, sie zu verwenden, wenn es ihm gut dünkt und wie es ihm gefällt.« (Roth: Der Berg, unpag. [S. 5].) 729 Während der Journalist Gartner in Roths Roman dort ein Foto des gesuchten Goran R. entdeckt, hing im Weinkeller des Klosters Chilandar ein Portrait des ehemaligen bosnischen Serbenführers Karadzˇic´. Vgl. Michael Martens: Aus einem Bergdorf in die Weltpolitik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 170 vom 23. 7. 2008, S. 3. 730 Roth: Der Berg, S. 145 u. ö. 731 Ebd., S. 276. 732 Ebd., S. 277. 733 Ebd.

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betreten hatte«,734 sowie ein offenbar informationsarmer Bericht über den nach wie vor untergetauchten Goran R.. Während der publizierte Reisebericht authentische Erinnerung und »Phantasie« konfundiert, reduziert der Bericht über R. das Ergebnis der Investigation auf das, was Gartner an ihrem Anfang bereits wusste: Am Zeitungsstand […] sah er eine Fotografie von Goran R. auf der Titelseite. Er blieb stehen und las, daß der gesuchte Dichter »unserem Redakteur Viktor Gartner« erklärt habe, Zeuge des Massakers in S. gewesen zu sein. Der Bericht enthielt zahlreiche Fehler.735

Der Roman kopiert damit die Differenz der Genres, an denen er teilhat, gewissermaßen in sich hinein: Von der Erzählung einer ergebnislosen Detektion bleibt schließlich nur der Roman einer Reise übrig, die buchstäblich auf ihren Anfang zurückführt und so wenig an neuen Informationen präsentiert, als hätte sich der Protagonist vom Ausgangspunkt niemals wegbegeben. Tatsächlich überführt die Narration das nachforschende Begehren, authentische Zeugenschaft zu ermitteln, von Anfang an einer Vergeblichkeit, die sich durchgängig in der Unlesbarkeit von Zeichen, Spuren und Dokumente anzeigt. Zwar gehört es zur Genretypik des Detektivromans, irreführende Spuren und trügende Zeichen zu streuen; Gartner indes gelangt – genre-untypisch – auch am Ende nicht aus dem Spiegelkabinett vermeintlicher Indizien und Bilder hinaus. Von Beginn an durchquert der Rechercheur desorientierende, fremde und fremdartig beschriftete Räume,736 wobei temporäre Amnesien seine Desorientierung verstärken: Gleich mehrere Kapitel enden mit der Umnachtung des Helden, der erst im folgenden erneut zum Bewusstsein gelangt.737 Gartners Reisebericht oszilliert zwischen der taghellen Intentionalität seines detektivischen Spürsinns und der scheinbaren Macht eines nächtigen Mythos; die selbstbestimmte Aktivität des Anfangs überlässt sich zunehmend einem passiven Geführtwerden auf Spuren, auf die andere, mehr oder weniger anonyme 734 Ebd., S. 304. 735 Ebd., S. 306. 736 Dass Gartner weder die griechische noch die serbokroatische Sprache beherrscht, setzt seiner Orientierung und Ermittlung von vornherein enge Grenzen. 737 Vgl. ebd., S. 44: »Er trat in den Lift, suchte sein Zimmer auf, entkleidete sich und wurde kurz darauf zu einem winzigen physischen Teil der endlosen Schwärze.« – »Gartner lauschte weiter und weiter und bemerkte dabei nicht, daß es dunkel in ihm wurde.« (Ebd., S. 87) – »Er wartete nicht auf den Schlaf, der jedoch so schnell über ihn kam, daß er nicht mehr merkte, wie er die Augen schloß.« (Ebd., S. 97) – »Dann stieg Müdigkeit in ihm auf, und bevor ihm schwarz vor Augen wurde, zog er rasch seine Schuhe und die Jacke aus.« (Ebd., S. 284) – Am Ende des vorletzten Kapitels gelingt die nun gewollte Umnachtung allerdings nicht: »Er saß da, mit geschlossenen Augen, und versuchte, das Denken auszuschalten. / Die Maschine flog kurz darauf ruhig unter dem abendroten Himmel über den dunklen Wolken, es war gerade so, wie er sich das Erwachen in der Hölle vorstellte.« (Ebd., S. 297)

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Instanzen (wie Goran R.s Biograf Professor Avramis) ihn setzen. Die zunächst scheiternde Überfahrt nach Athos gleicht eher einer Fahrt über den Styx als dem Aufbruch zu einem investigativ vielversprechenden Ziel, und der heilige Berg mit der vom Feuer teilweise zerstörten Klosteranlage Skiti Agios Andreas, »die auch […] Serail genannt wird«,738 erweckt den Anschein eines Totenreichs. Im Ganzen gleicht die Reise auch mehr einer Odyssee als einer zielführenden Ermittlung.739 Das serbisch-orthodoxe Kloster von Chilandar, in dem sich der gesuchte Zeuge mutmaßlich aufhält, gleicht einem »Labyrinth«: »Sie kennen das Serail. Wer würde ihn dort je finden?«740 Vor allem schieben sich ständig Komplikationen und Ereignisse vor das Ziel seiner Nachforschung – wie die Ermordung eines Informanten, des serbischen Exilanten Dr. Bosicˇ, der am Paläontologischen Institut der Aristoteles-Universität in Thessaloniki arbeitet. Und wenn sich Gartner wie ein anderer David vor seiner Überfahrt nach Athos mit einem aussätzigen Mönch, der auf den Namen des alttestamentlichen Propheten Elias hört, mit einer Steinschleuder rüstet,741 weist seine archaische, technisch unzeitgemäße Waffe umso mehr – gegen das ›Script‹ des biblischen Prätextes – auf die goliathhafte Überlegenheit seiner anonym bleibenden Gegenspieler sowie darauf hin, dass er für die Ermittlung der Wahrheit nur unzulänglich gerüstet ist. Die mutmaßlich geheimdienstlichen Hinter- und Dunkelmänner der am Anfang wie am Ende geschehenden Morde zu entdecken gelingt ihm jedenfalls bis zum Ende seiner detektivischen Reise nicht. So systematisch, wie die Narration die Wahrheits- und Zeugnissuche ihres Helden frustriert, schaffen jedoch auch die technischen Medien der Sichtbarkeit, deren er sich neben verschiedenen Notizbüchern bedient, keine Evidenz. Während Gartner fast obsessiv die fotografische Beweissicherung aufgefundener Spuren und Dokumente betreibt,742 lässt der Text diese Anstrengungen medialer Beweisaufnahme ins Leere laufen. Auch wenn die zufällig aufgefundenen, freilich meist »unscharf[en]« Fotografien des Gesuchten zu den zentralen Indizien der Detektion zählen,743 führen ihre Verweisungen nur auf Fährten, 738 Ebd., S. 149. 739 Vgl. auch Heribert Hoven: Der Blick des Odysseus ins Innere Europas. Gefährliche Recherchen auf dem Balkan und am Athos: Gerhard Roths Roman »Der Berg«. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 68 vom 22. 3. 2000, S. L 3. 740 Roth: Der Berg, S. 216. 741 Vgl. 1 Sam 17, 40. 742 Vgl. Roth: Der Berg, bes. S. 241 ff. 743 Eine Fotografie des Schriftstellers sowie seiner Frau, das eine so »unscharf« wie das andere, erhält Gartner mit der Post in Ouranopolis an der Grenze zur Mönchsrepublik Athos (S. 111 f.); der »unglaubliche[] Zufall« will es, dass er dort, auf dem »Berg«, wiederum in einem Devotionalienladen eine »kleine[] Schwarzweißfotografie« Goran R.s entdeckt, die er »mit der Pocketkamera« abfotografiert (S. 145 f.). Auch im Kloster Chilandar entdeckt Gartner eine Fotografie des Schriftstellers und seiner Frau vor der Blauen Moschee (S. 240). In Istanbul schließlich rekonstruiert er den Ort der Aufnahme.

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deren Ziel sich immer aufs Neue entzieht. Mit der technisch-ikonischen Repräsentation bezweifelt Roths Roman die Möglichkeit prinzipiell, zeitgeschichtliche Wirklichkeit auch literarisch zu repräsentieren. Denn die (nicht zuletzt fotografischen) Zeugnisse und Spuren, die Gartner bei seiner Reise festzuhalten sucht, bezeugen vor allem eine Unlesbarkeit, die im Erzähltext immer wieder deutlich gemacht wird. Sogar die Schaben an der Wand seines Hotelzimmers ergeben für ihn eine ›zeichenhafte‹ Konstellation, die im gleichen Moment Bedeutung suggeriert und verbirgt. »Es war nur ein winziger Ausschnitt eines gewaltigen Freskos, das er nicht erfassen konnte«, heißt es bei Gartners gescheitertem Versuch, in einem gesprenkelten Steinboden ein Bild zu »entziffern«; »und es war unmöglich zu erraten, was darauf abgebildet war, weil der Ausschnitt zu klein war und er zu nahe daran.«744 Wieder einmal ist es die Nähe zur zeitgenössischen Geschichte, die ihre Aufklärung oder Deutung unmöglich macht. Wenn der nach Wien zurückgekehrte Held schließlich den Umschlag mit den über Nacht entwickelten Fotografien, verheißungsvoll »schwer von Abzügen«, öffnet, findet er Bilder, wie Gartner sie noch nie gesehen hatte. Aus einem kupfrigroten Wolken-Hintergrund wuchsen Reste von Gesichtern und Häusern, die er aufgenommen hatte. Sie waren nicht mehr identifizierbar. […] Keiner der Abzüge glich dem anderen, keiner glich dem anderen, obwohl sich alle ähnlich waren. Die meisten oszillierten grünlich und bräunlich. Der chemische Prozeß hatte zu früh geendet oder zu spät begonnen. Verschiedene Schichten hatten sich gebildet, Überlagerungen, Tönungen, Flecken, etwas Dreidimensionales mit Vordergrund und Tiefe. Und während Gartner das Dargestellte zu entziffern suchte, blieb sein Auge an der Schönheit der gedämpften Farben hängen, den schwarzgrauen Rinnspuren der Gebilde, die ihn an eine Flüssigkeit zwischen zwei Glasscheiben erinnerten.745

Der chemische Defekt (wobei die Möglichkeit der Sabotage im Ungewissen bleibt) transformiert die fotografische Oberfläche in eine palimpsestartig geschichtete Struktur, die sie den vielfach übermalten Ikonen, denen Gartner in den orthodoxen Klöstern auf Athos begegnet, ähnlich werden lassen. Anstelle der optischen Oberfläche, die ihren Gegenstand diskret und eindeutig fixiert, setzt die Narration ein Modell der Schichtungen, das als Motiv immer wieder kehrt: in den einander überlagernden Schichten der übermalten Ikonen, den vom Meerwasser abgelösten Wandfarben eines Hotelzimmers746 oder – aufs 744 Ebd., S. 214. 745 Ebd., S. 303 f. 746 »Von seinem Zimmer hatte er sich jede Einzelheit eingeprägt. Es war gelb, aber das Meerwasser des Bosporus hatte die Wände durchdrungen. Er war davon überzeugt, daß man von Jahr zu Jahr deutlicher erkennen konnte, wie andere Schichten von darunter liegenden Farben zum Vorschein kamen: ein Grün, ein angedeutetes helles Blau.« (Ebd., S. 271.)

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engste angenähert an das poststrukturalistische Konzept des Palimpsests –747 in den verschiedenen Farben der von Gartner verwendeten Notizbücher, die der Roman seiner Gliederung zugrunde legt;748 die Schrift eines der Notizbücher löst sich im Wasser auf, wodurch sie ebenfalls unlesbar wird. Auch der Roman bedient sich dieser schichtenden Struktur, indem er – vermittelt über die fiktiv intertextuelle Referenz auf einen Gedichtband Goran R.s, Ikonen, in denen Gartner die Ereignisse der Kriege vorausgesehen scheinen –749 immer wieder die historische Legende von der Blendung des serbischen Märtyrer-Königs Stefan Urosˇ III. Decˇanski (1321 – 1331) ins Spiel bringt, ohne dass sich daraus jedoch eine ausdeutbare Folie für die Ereignisse des Krieges ergibt. Schon anfangs seiner Reise hatte Gartner im Ikonen-Band R.s eine stark angegriffene »Darstellung der Schlacht von Velbuzd im 14. Jahrhundert mit einem rotflügeligen Engel und abgebröckelten Farben« fasziniert: »Das Bild war so angegriffen, daß die Figuren im Hintergrund sich in schwarzblaue tintige Flecken auflösten und gesichtslos geworden waren, nur ihre haardünnen Lanzen ragten in eine Luft, die aus goldgelben Wolken bestand, in die Sprünge des Ikonenholzes Zeilen geschnitten hatten.«750 Durch den Sieg des Serbenkönigs über das Heer des bulgarischen Zaren Michael in der Schlacht von Velbuzd am 28. Juli 1330 erlangte Serbien für Jahrhunderte die machtpolitische Hegemonie auf dem Balkan: Sein Nachfolger Stefan Urosˇ IV. Dusˇan (1331 – 1355) ließ sich 1346 in Skopje durch den serbischen Patriarchen zum Kaiser der Serben und Griechen krönen. Insofern spiegelt das geschichtliche Zitat die kriegerischen Absichten Serbiens in den 1990er Jahren in die Vergangenheit zurück, sieht man vom Ausgang der Ereignisse ab. »Das Bild zeigte aber nur etwas Blasses, sich Auflösendes und Verfärbendes, als sei vor langer Zeit Wasser darüber geronnen und habe Teile der Farbschicht mit sich genommen und Grundierungsfarben bloßgelegt, so daß etwas ganz anderes daraus geworden war als die bloße, naiv gemalte Darstellung einer Schlacht«. Statt als ikonografischer Speicher das historische Ereignis im Bildgedächtnis zu bewahren, erscheint die Ikone nur mehr als »ein Bild des Entschwindens der Geschehnisse aus dem Gedächtnis.«751 Als palimpsestartige Strukturen bewahren auch die fotografischen Bilder ebenso wenig eine ›originale‹ Anschauung auf, wie die opaken Schichten der gemalten Bilder das Ereignis bewahren oder in der letzten Tiefenschicht ein ›ursprüngliches‹ Bild freigeben. Es ist der rätselhafte (und mit bezeichnend 747 Vgl. G¦rard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1993. 748 Den ›schwarzen‹ Notizbüchern »I« und »II« folgt in der Kapiteleinteilung »das rote Notizbuch«, »das gelbe Notizbuch« und schließlich »das weiße Notizbuch«. 749 Roth: Der Berg, S. 277. 750 Ebd., S. 45. 751 Ebd., S. 46.

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›semiotischem‹ Namen benannte) Ohrenarzt und nebenberufliche Ikonen-Restaurator Dr. Siegle, der in einem als »Experiment« überschriebenen Kapitel752 die jüngeren Übermalungen einer beim Brand des Klosters erhalten gebliebenen Ikone, eine nach der anderen, mit einem ›heißen‹ Abbrenn-Verfahren abträgt, um sich am Ende bei der beabsichtigten Freilegung der ältesten, vermeintlich ›originalen‹ Farbschicht gründlich enttäuscht zu sehen: »Ich bin kein Spezialist«, fuhr Dr. Siegle hartnäckig fort, »aber ich würde sagen, daß wir ein altes Ikonenbild vor uns haben, das allerdings ein noch älteres, darunter liegendes Bild, das Original, überdeckt.« Er zog das Mikroskop und die Ikone an sich heran, studierte aufmerksam den Farbrand und setzte schließlich das Bild noch unauffälliger und rascher in Brand als beim letzten Mal. Der Flammensaum verschwand schnell, unbeweglich saß der Ohrenarzt über die Ikone gebeugt da, dann rieb er Tinkturen mit Schwämmchen und Leinenfleckchen über sie, zuletzt duftendes Bienenwachs. Plötzlich sprang er auf, erklärte schroff, daß es sich um eine Fälschung handele, denn unter dem Pantokrator sei zwar eine Olifa sowie eine weitere Farbschicht an den Rändern angedeutet gewesen, doch hätte sich hinter dem Bild nichts anderes befunden als das auf mehrere Schichten Leim befestigte Hanftuch und der Malgrund aus Kreiden und Alabaster-Pulver.753

Das Fehlen einer originalen, ›ursprünglichen‹ Schicht dementiert die Grammatik der christlich-orthodoxen Ikonografie, die der Text eigens erläutert. Auf allegorische Weise falsifiziert es aber zugleich auch die Wahrheitssuche, von der der Roman erzählt. Denn das oberflächliche Bild, das die Ikone zeigt, legitimiert sich als authentische, invariante Wiedergabe eines eikons oder typos, das die Züge Christi unverfälscht darstellt. Die christlich-orthodoxe Ikonenmalerei sucht diese authentische Referenz auf das Heilige – jenseits der idolatrischen Verselbständigung des Bildes oder seiner ästhetischen Autonomie – dadurch sicherzustellen, dass sie die Varianz der bildhaften Repräsentationen aufs Äußerste beschränkt und das ikonische Abbild als ›Abdruck‹ der ursprünglichen Erscheinung des Mensch gewordenen Gottes (ektypoma, ekmageion) versteht. Wenn jedoch im »Experiment« des Dr. Siegle die scheinbar letzte, ›authentische‹ Schicht trügt und sich als gegenstandslose Grundierung herausstellt, gibt der Text zu verstehen, dass auch die letzte Wahrheit des investigierten Ereignisses auf immer unverfügbar bleibt: Jenseits der vielfältigen Zeichen und Spuren, die auf das Ziel der Ermittlung immer nur verweisen, existiert buchstäblich nichts, was als Wahrheit oder Signifikat den abgründigen semiotischen Prozess zum Abschluss bringen könnte. Wie die Ikone signifizieren auch die fotografischen Bilder ungewollt jene Opazität der Zeichen, die jedes darstellende Bild von der Wirklichkeit trennt. »Die künstlerische Einsicht und Entdeckung«, zitiert Roth 752 Ebd., S. 175 – 191. 753 Ebd., S. 185.

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an anderer Stelle den russischen Filmregisseur Andrej Tarkowskij, »entsteht jedes Mal als ein neues und einzigartiges Bild der Welt, als eine Hieroglyphe der Wahrheit.«754 Indem Roths Roman so die Bilder des technischen Zeitalters mit der christlich-orthodoxen Ikonik engführt und beider Wahrheitsreferenz dekonstruiert, formuliert er zugleich einen skeptischen Kommentar zur medialen Moderne und ihrer Suggestion, zeitgeschichtliche Wirklichkeit authentisch zu repräsentieren. Insofern parallelisiert sich der Roman auch mit den Versuchen Peter Handkes, »der Medienvereinfachung komplexer historischer und sozialer Faktoren in der Geschichte des Balkans einen literarisch geprägten Diskurs entgegenzustellen«.755 Dass sich seit der Erfindung der Fotografie im neunzehnten Jahrhundert die »Wahrheitsfindung« auf eine technisch-ikonische Ordnung stützt,756 wird von der Erzählung gewissermaßen als ideologische Obsession entlarvt. Zwar ist die Erzählweise wie die erzählte Wahrnehmung des Helden von den Medien der Anschaulichkeit zutiefst geprägt: Bei seiner Ankunft in Thessaloniki blickt Gartner durch die Windschutzscheibe des Taxis »auf die nächtliche Stadt, die vor ihm lag wie die Großaufnahme eines Filmes.«757 Das Meer vor dem Klosterfenster dehnt sich wie »eine Cinemascopeleinwand und eine lange Kameraeinstellung«,758 und »wie in einem hektisch geschnittenen Film« sieht Gartner erneut bei der Verfolgung des Schriftstellers in Istanbul das Geschehen vor sich ablaufen.759 Der detailscharfe, fotografische Realismus, mit der die personale, intern fokussierende Erzählweise die von seinem Helden wahrgenommenen Bilder und Szenen repräsentiert, trägt derselben Durchdringung von technischer Medialität und Perzeption Rechnung; sie nähert den Protagonisten, den wie Camus’ Etranger »seit seiner Kindheit […] ein Universum der Gleichgültigkeit umgab«,760 selbst seinem bildtechnischen Equipment an, indem sie ihn als eine Art »Wahrnehmungsmaschine«761 vorstellt, die auf das ›puctum‹ des Angeschauten eingestellt ist: »Ihm fielen die nebensächlichsten Details besonders dann auf, wenn eine Nachricht ihn niederschmetterte, er in Gefahr war oder wenn er vor einer schweren Entscheidung stand.«762 Dass auch die penible fotografische Dokumentation zur Wahrheitsfindung letztlich nichts beiträgt, ebnet jedoch den Unterschied zwischen den fotografisch-›veristischen‹ Bildern 754 Andrej Tarkowskij bzw. Gerhard Roth, zit. nach Hoven: Der Blick des Odysseus ins Innere Europas. 755 Schütte: Das Schweigen der Dichter. 756 Vgl. Rouill¦: Ein photographisches Gefecht auf der Krim, S. 363. 757 Roth: Der Berg, S. 31. 758 Ebd., S. 207. 759 Ebd., S. 280. 760 Ebd., S. 13. 761 Gauss: Ein Wiener beim Komplott auf dem Balkan. 762 Roth: Der Berg, S. 13.

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und den traditionell überlieferten Bildmotiven der orthodoxen Ikonenmalerei ein. Für den Mönch, von dem Gartner ein von einem Reisenden zurückgelassenes »Taschen TV-Gerät« für fünfzig Dollar erwirbt, sind die technisch vermittelten Informationen ohnehin seinem spirituellen Wissen immer nur hinterher, so dass die Zeitverhältnisse sich ironisch umkehren: »Die Maschine sechzehn weiß alles immer zu spät.«763 Es entspricht dieser medienhistorischen Überblendung von Legende, Ikonenmalerei und Fotografie, dass auch das Ikonenmotiv des Christus Pantokrator eine mediologische Deutung erfährt. In der bildmedial geprägten Sichtweise des Protagonisten verwandelt sich die Darstellung des allwissenden und weltbeherrschenden Christus in die eines medialen Beobachters; sie ersetzt die ikonografische Konvention, die in der christlich-byzantinischen Ikonenmalerei den Christus Pantokrator durch die Segensgeste der Rechten und das Buch des Lebens in der Linken auszeichnet, durch den Auslösegestus des Fotografen: Er wusste nicht, was der Mönch sich dabei gedacht hatte, ihn hierher zu führen, doch er erkannte sofort die rote fotografische Box des Weltenherrschers, und jetzt, so unmittelbar vor der Ikone, war er davon überzeugt, daß die Haltung seiner Hand nicht eine Segensgeste war, sondern daß sie vielmehr gerade den Auslöser betätigte, um ihn, wo immer er war und was immer er tat, aufzunehmen.764

Die Segensgeste, welche die »große Originalikone« des Christus Pantokrator zeigt, verwandelt sich in die charakteristische Geste des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit: die »Gebärde des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens«, des »›Knipsen[s]‹ des Photographen«, die Benjamin schon 1937 ausgemacht hat.765 Die Macht und Omniszienz des Weltenherrschers ist übergegangen an das Regime der totalen technischen Sichtbarkeit. Dass die Medien der Sichtbarkeit die ›Wahrheit‹ zeitgeschichtlicher Realität indes so wenig festzuhalten vermögen wie die handwerkliche Ikonenmalerei oder die camera obscura früherer Stufen der optischen Repräsentation, begrenzt auch ihre Funktion bei der Bereitstellung zeitgeschichtlichen Wissens, dessen Unzulänglichkeit der Roman trotz der Unentrinnbarkeit seiner Medien vorführt. Es ist die von der technischen Ikonik geprägte, medientechnische oder ›cinematische‹ Wahrnehmung, welche die Erzählung buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite umspannt. Während Gartner zu Beginn das »Areal« der Aristoteles-Universität »durch die Windschutzscheibe wie eine Kinoleinwand« mustert, nachdem er in der Nacht von einem »vor vielen Jahren gesehen[en]« Film geträumt hat, sieht er nach der Rückkehr nach Wien am Schluss auf der Kinoleinwand den Film seiner eigenen Reise. Als Filmkritiker wohnt er der 763 Ebd., S. 172. 764 Ebd., S. 244. 765 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 630.

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»Pressevorführung eines Abenteuerfilmes im Apollokino« bei, dessen »erste[s] Bild […] Viktor Gartner sofort in Bann zog. Es zeigte, durch die Windschutzscheibe eines fahrenden Autos, ein menschenleeres, großes Areal mit Neubauten, dem sich die Kamera mit einem schnellen Zoom näherte.«766 Derselbe ›Zoom‹ zieht auch die erzählte Geschichte in sich selbst hinein und stellt sie damit en abyme, indem er die Narration zirkulär werden lässt. Diese mise en abyme transformiert die erzählte Wirklichkeit endgültig in ein geschlossenes System von Verweisungen, das nirgendwo über das Spiel der Signifikanten hinausführt. Sie verdeutlicht damit zugleich, dass die Suche nach der ›Wahrheit‹ am Ende, ihren vielfältigen medialen Bezeugungen zum Trotz, immer wieder mit der Uneindeutigkeit des Anfangs beginnt.

3.

Ausbruch aus der Nähe. Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens

Auch Norbert Gstreins 2003 erschienener Roman stellt sich der Paradoxie der fernen Nähe des zeitlich, räumlich und medial nahegerückten Krieges: »›Ich habe die längste Zeit gar nicht richtig begriffen, daß der Krieg begonnen hatte‹«, bekennt der Gesprächspartner des Erzählers, der Journalist Paul, der sich als Autor eines Romans über den im Kosovo getöteten Kriegsreporter Allmayer versucht. »Gerade weil alles so nah war, ist es mir ganz und gar unwahrscheinlich vorgekommen. […] Ich habe am Anfang geglaubt, ein Wort von wem auch immer würde genügen, und der Spuk wäre augenblicklich vorbei.«767 Wie Roths Roman, der die aporetische Schwierigkeit der Wahrheitsfindung und Bezeugung auf motivisch und strukturell komplexe Weise darstellt, erzählt Das Handwerk des Tötens nicht von den Ereignissen des Krieges selbst, sondern vom Problem des Erzählens davon. Es handelt sich um den Roman eines Romans, der nicht zustande kommt: eines Romans über einen im Kosovo getöteten Journalisten, dessen gescheiterter Autor sich am Ende in Zagreb das Leben nimmt. Sein Gesprächspartner dagegen schreibt ihre Unterhaltungen auf, so dass der Leser gewissermaßen Zeuge der Entstehung jenes Romans wird, den er liest und der sich gerade der protokollierten Unmöglichkeit verdankt, in direkter Zuwendung von den Kriegen zu erzählen. Erzählt wird der Roman eines gescheiterten Romans von einer unbeteiligten Figur, die mit dem im Grunde gleichfalls unbeteiligten Journalisten Paul im Dialog steht. Was dieser über den erschossenen, ihm persönlich bekannten Kriegsjournalisten Allmayer mitteilt, ist wiederum meist durch weitere Zeugen vermittelt. Zwischen den Text und den Krieg – oder das für den Roman zentrale 766 Roth: Der Berg, S. 306 f. 767 Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens. Frankfurt/M. 2003, S. 104 f.

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Ereignis, die Ermordung des Journalisten – legt sich damit eine eminente Distanz: Es ist eine bis zum Vierfachen gestaffelte Beobachtung (der Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung), die zwischen der Erzählposition des Erzählers und den Ereignissen vermittelt. Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich um eine Figur des Re-entry, welche die Operation des unbeteiligten Beobachters in die Beobachtung nochmals hineinkopiert. Damit verneint der Roman – wiederum ähnlich dem Roman Gerhard Roths – die Möglichkeit der ›authentischen‹ Erzählung und Bezeugung strukturell. Dass er auf diese Weise zugleich eine politische Festlegbarkeit und Positionierung ausschließt, entspricht Gstreins Bekenntnis zu einer literarischen Fiktion jenseits des intellektuellen ›Engagements‹: »Denn einer der Beweggründe wenigstens meines eigenen Schreibens ist, dass ich dabei gerade nicht Stellung beziehen muß.«768 Zusätzlich zu dieser erzählstrukturellen Einschachtelung nimmt der Roman jedoch eine weitere, in der Erzählerrede explizit gemachte epistemische Abstandnahme vor. Fortwährend distanziert sich der Erzähler von seinem Gesprächspartner und dessen Versuch, von Allmayers Geschichte und Tod zu erzählen, oder lässt bereits den anderen sich von Aussagen der ›Zeugen‹ distanzieren: »Das war mir zu billig, als daß ich es einfach hingenommen hätte«.769 »Das war Unsinn, aber ich ließ ihn reden. Sollte er sich die Welt doch zurechtlegen, wie er sie wollte, mich berührte es nicht.«770 Von einer Freundin des getöteten Allmayer, die einen Nachruf auf ihn verfasst, heißt es, sie habe »sich verhalten wie eine Figur aus einem miserablen Roman, mit allen Klischees, die man sich vorstellen konnte, allen Schwarzweißmalereien, allen zugehörigen Lächerlichkeiten und Hybriditäten, die jeden Schmerz überdeckten.«771 Auch zu den Berichten Allmayers, der Pauls kroatische Freundin mit seinen Erfahrungen im Bosnienkrieg konfrontiert, fügt der Erzähler das skeptische Urteil Pauls hinzu: »Dabei war ihm kein Klischee zu viel, habe er von Elendsgestalten gesprochen, die einer Hölle entronnen und in eine andere hineingeraten seien«.772 Beinah jegliche Aussage, die im Roman über die Ereignisse der Kriege geäußert wird, stellt die Erzählerrede derart unter Stereotypieverdacht: »Ich konnte mir nicht helfen«, kommentiert der Erzähler anlässlich der schon durch ihren 768 Norbert Gstrein: Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema. Frankfurt/M. 2003, S. 7. – Gstrein fährt fort: »Es hat für mich etwas Anmaßendes, wenn ich sehe, wie sich manche Kollegen auf dem Meinungsmarkt bewegen, wenn sie, gefragt, auf alles Antworten haben oder sich ungefragt zu Wort melden, als wären ausgerechnet sie mit ihren Schreibtischleben dazu berufen, der Welt die Richtung vorzugeben.« (Ebd.) 769 Gstrein: Das Handwerk des Tötens, S. 30. 770 Ebd., S. 54. 771 Ebd., S. 97. 772 Ebd., S. 44. – Von Klischees ist im Roman wörtlich oder umschreibend mit redundanter Häufigkeit die Rede, vgl. ebd., S. 30, 53 f., 97, 156, 232, 261.

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sprechenden Namen (»Schreyvogel«) fiktionsverdächtigen Figur eines »vor sich hinzeternden« Journalisten, dessen Familie angeblich aus dem Königreich Jugoslawien stammt und der zugunsten kleinökonomischer Besitzansprüche »wüste antiserbische Hetzartikel schrieb«;773 »auf mich wirkte die Figur ein bisschen plakativ […]. ›Es gibt nichts, was du an ihm nicht abstoßend darstellst‹, sagte ich. ›Wenn du ihn in deinem Roman auftreten lässt, sollte er vielleicht doch ein paar sympathische Züge haben, damit er glaubwürdig ist.‹«774 Die inversive Konstruktion des Romans eines (gescheiterten) Romans gestattet es, auch die eigenen Figurenentwürfe auf kritische Distanz zu rücken. Unter Stereotypieverdacht stellt sich der Roman mithin selbst, und er ›löst‹ sich davon über seine Struktur. Nicht zuletzt geht es bei dieser Distanzierung der Erzählerrede aber um ein Unterlaufen ›balkanistischer‹ Stereotype: »Das klang nach dem alten Vorurteil, daß man den Balkan nehmen sollte, wie er war, die Katastrophen dort als etwas Naturgegebenes, wenn keine Erklärung mehr ausreichte«775. Wie Handkes Jugoslawientexte enthält Gstreins Roman auch eine Kritik der Sprache über die postjugoslawischen Kriege. »›Mir gefällt die Art nicht, wie wir darüber sprechen‹, versuchte ich, meine Bedenken zu erklären. ›Für mich hat das etwas Hyänenhaftes.‹«776 Der Ausdruck, der in Handkes Journalistenschelte wiederkehrt,777 verweist auf die früheste literarische Kritik an der medialen Ausbeutung des Krieges in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit: Es war die österreichische Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, die über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zog und »vom Fieber des Erlebens gepackt«778 auch durch Kraus’ Menschheitstragödie geistert. Sie gibt den Typus eines modernen Kriegsjournalismus ab, der aus dem Krieg Kapital schlägt und in den »Hyänen des Schlachtfelds« am Ende des Dramas noch einmal abstoßende Gestalt gewinnt.779 Wie sehr diese Kapitalisierung des Krieges auf die erheischte ›Authentizität‹ von Erfahrung rekurriert und dabei nicht zuletzt über Bilder kommuniziert, hat Kraus’ Menschheitsdrama ebenfalls dargestellt.780 773 774 775 776 777 778 779 780

Ebd., S. 135. Ebd., S. 137. Ebd., S. 33. Ebd., S. 130. – Vom sensationalistischen Begehren nach »Stories & Shots«, wie das zweite Romankapitel überschrieben ist, handelt der Roman auch an anderer Stelle; vgl. Gstrein: Das Handwerk des Tötens, S. 110 ff. Von »Humanitätshyänen« spricht der »Grieche« in Peter Handke: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt/M. 1999, S. 94. Vgl. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, I, 26, S. 190. Ebd., Epilog, S. 746 – 755. »[…] was für Empfindungen haben Sie?« lautet die Frage der Schalek angesichts des Gefechts im ersten Akt des Dramas; »[a]lso was empfinden Sie jetzt, was denken Sie sich« lautet auch ihre letzte Frage im fünften Akt (ebd., S. 190 und S. 658). Vgl. auch die bereits zitierte Stelle, ebd., S. 735: »Es imponiert ja doch allen, / authentisch mit Bildern, / ist einer gefallen, / die Stimmung zu schildern«.

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Dass jede Apperzeption und Imagination des Krieges in der technischen Moderne von vornherein von seiner medialen Bildlichkeit her geprägt ist, lässt Gstreins Erzählerfigur im Blick auf Paul ebenfalls nicht unkommentiert. Für Paul gilt der Befund umso mehr, als er sich der Wirklichkeit des Krieges gar nicht ausgesetzt hat und bis zu seiner Nachkriegsreise auf den Balkan daheim gebliebenen ist: Fast kam es mir so vor, als dächte er selbst in Fernsehbildern, als würde er sie in Großaufnahme vor sich sehen, wenn er davon erzählte, wie die Kolonne im Morgengrauen, von den dort stationierten Gardisten beklatscht, ein trauriges Nest erreicht hatte, in Trance dahintrottete, bis auf die Haut durchnässte Figuren, die sich kaum mehr auf den Beinen zu halten vermochten, die am Leben gebliebenen zwei oder drei Duzend von den ehemals weit über hundert Gleichaltrigen, die ein paar Monate davor mit ihnen in den Krieg gezogen waren, und sie hätten alle geweint und nicht die geringsten Anstalten gemacht, ihre Gesichter zu verbergen, korkgeschwärzte und doch leichenblaß wirkende Masken.781

Die indirekte Narrativierung der Ereignisse – doppelt vermittelt über den Gesprächspartner Paul, der Äußerungen des Journalisten Allmayer wiedergibt – reflektiert in ihrem gleichsam verselbständigten Ablauf die Syntax der Fernsehnachrichten und -bilder und ruft zugleich das mediale Bildgedächtnis der Leser und Fernsehzuschauer ab. Auch Gstreins Roman rechnet mit medial informierten Rezipienten, die über die Geschehnisse der Jugoslawien-Kriege buchstäblich im Bilde sind: mit Lesern, welche »die Nahaufnahmen und Totalen von den zerstörten Dörfern« kennen, »die im Fernsehen bis zum Überdruß gezeigt worden waren […].«782 In seinem 2004 veröffentlichten Vortrag Wem gehört eine Geschichte? hat Gstrein sein Erzählverfahren mit dem »Unbehagen« begründet, das die suggestive Nähe der technischen Bilder zu den Kriegsereignissen erzeugt: Es ist der Blick, der dem Blick des Zuschauers vor dem Fernseher entspricht, äußerste Nähe bei gleichzeitig äußerster Distanz, der vielleicht verbotene Blick, der mich wie alle anderen automatisch involviert hat. Deshalb ist es zuallererst meine Geschichte, wenn ich eine Geschichte der jugoslawischen Kriege schreibe, wie die Medien sie vermitteln, und damit mein Unbehagen kundtue, den Wunsch, aus der aufgezwungenen Nähe auszubrechen, die bei diesen Ereignissen etwas Unanständiges hat, und zu einem anderen Umgang mit den Bildern zu gelangen, am Ende auch zu einer anderen Nähe, die aber nur durch fortwährende Distanzierung erreicht werden kann.783

Auch wenn sich das Erzählen zunehmend an die Ereignisse der Jugoslawienkriege herantastet, so dass der Erzähler schließlich sogar selbst mit Pauls (ins781 Gstrein: Das Handwerk des Tötens, S. 129 f. 782 Ebd., S. 228. 783 Gstrein: Wem gehört eine Geschichte?, S. 35 f.

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geheim geliebter) Freundin Helena nach Kroatien reist, einen von Allmayer interviewten ›Warlord‹ trifft und auch das Tonband protokolliert, das dieses Interview aufzeichnet, bleiben die Ereignisse des Krieges selbst auf Abstand. Gerade die technische Aufzeichnung stellt den aufmerksam Zuhörenden vor hermeneutische Probleme: Auf die zentrale, von Allmayer gestellte Frage – »Wie ist es, jemanden umzubringen?« – bekommt der Journalist von seinem Interviewpartner Slavko ein Gewehr in die Hände gedrückt: »Jetzt können Sie es versuchen«.784 Der »Knall« und »Allmayers Aufschrei«, die wenig später auf dem Tondokument hörbar sind, gewähren dem Erzähler »jedenfalls eine Erleichterung«:785 Damit scheint sich das Hineinspringen des Journalisten in die Totschlägerreihe, wie es in Nicolas Borns Die Fälschung am Ende geschieht, zu wiederholen. Paul ist sich jedoch ebenso sicher, dass der serbische Gefangene, den der Truppführer kurz zuvor zu den feindlichen Linien entließ, getroffen worden ist, wie »daß Allmayer unmöglich den Schuß abgegeben haben konnte«.786 Dass in der Druckfassung des Interviews indes »nichts von der Situation auftauchte«, wie der Erzähler mitteilt, »blieb ein Schwachpunkt, machte ihn [Allmayer] nicht unbedingt noch mehr verdächtig, gab aber ein Rätsel auf«. Dass der Journalist später von dem ehemaligen Warlord mit dem Tod bedroht (und sein Dolmetscher bereits ermordet) worden ist, klärt das Motiv dieser Auslassung erst »Monate später« auf.787 Norbert Gstrein hat sich für das Verfahren, anstelle des Krieges vom Problem des Erzählens vom Krieg zu erzählen, auf ein Diktum Uwe Johnsons berufen: »Wo die Realität nur ungenau bekannt ist, würde ich nicht versuchen, sie bekannter darzustellen«.788 Bereits die Widmung des Romans, die das reale Vorbild des fiktiven Journalisten Allmayer identifiziert,789 zeigt dieses Prinzip an, aus dem der Roman sein potenziertes Distanzierungsverfahren ableitet: »zur Erinnerung an / Gabriel Grüner / (1963 – 1999) / über dessen Leben und dessen Tod / ich zu wenig weiß / als daß ich / davon erzählen könnte«.790 Gabriel Grüner arbeitete für die Zeitschrift Stern, als er am 13. Juni 1999 im Kosovo zusammen mit dem Fotografen Volker Krämer und dem Dolmetscher Senol Alit auf einem Bergpass nahe der Ortschaft Dulje unter Beschuss geriet und durch einen

Gstrein: Das Handwerk des Tötens, S. 346 bzw. S. 349. Ebd., S. 350. Ebd., S. 353. Ebd. Norbert Gstrein: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt/M. 2004, S. 11. 789 Vgl. dazu die negative Besprechung des Romans durch Iris Radisch: Tonlos und banal. Wie Norbert Gstrein in seinem Roman »Das Handwerk des Tötens« nichts über einen ermordeten Journalisten erzählen will. In: Die Zeit Nr. 1 vom 22. 12. 2003, S. 46. 790 Gstrein: Das Handwerk des Tötens, unpag. [S. 7]. 784 785 786 787 788

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Bauchschuss getötet wurde.791 Es ist diese Bezugnahme auf die Person und das Ereignis ihres Todes, die zur Rezeption des fiktionalen Textes als ›Schlüsselroman‹ Anlass gegeben hat. Gstrein hat sich in dem bereits zitierten Vortrag (Wem gehört eine Geschichte?) gegen diesen Verdacht verteidigt, indem er sich mit dem Verhältnis von »Fakten und Fiktionen« auseinandergesetzt – und dabei die formale Pointe angebracht hat, sich seine Kritiker selbst nur in verschlüsselter Weise zu beziehen. Dabei spielt er auf ein Streitgespräch an, das Gabriel Grüner mit Peter Handke anlässlich des Erscheinens von dessen erstem Reisebericht aus Serbien geführt hat: Auch dabei handele es sich um »ein Gespräch über Fakten und Fiktionen, ein Gespräch darüber, wie man über Krieg schreiben kann, [um] eines über die Möglichkeiten des Journalismus und die der Literatur.«792 Gstreins eigene Position kommt mit derjenigen des jugoslawischen Autors Danilo Kisˇ überein, der für seine Verbindung des Dokumentarischen mit dem Imaginären den Doppelbegriff »faction-fiction« eingeführt hat. Aber die Verbindung von Fakten und Fiktionen erzeuge eine Welt eigenen Rechts, in der »diese Unterscheidung keine Rolle mehr spielt.«793 Der Schriftsteller, argumentiert Gstrein mit Bezug auf Handke, Johnson, W. G. Sebald und Marcel Beyer, sei »eine Trümmerfrau des Faktischen«, die ihre Fiktionen aus den Bruchstücken der Information erbaut.794

Exkurs: Hinter den Bildern – die Obszönität der Nähe. Bernard-Henri Lévys Qui a tué Daniel Pearl? Bernard-Henri L¦vys im gleichen Jahr wie Das Handwerk des Tötens erschienener ›Untersuchungsroman‹ (»romanquÞte«) Qui a tu¦ Daniel Pearl? führt drastischer als irgendein anderer Text über zeitgenössische Ereignisse vor, was Gstrein unter der »Obszönität und Pornographie einer allzu großen Nähe« versteht – und seiner eigenen Poetik am weitesten entgegengesetzt sieht.795 Charakteristisch für das verfehlte Programm einer aufdringlichen Nähe ist die darstellungslogische Unentschiedenheit: Einerseits will L¦vy in reportagehafter Weise »les faits; rien que les faits« präsentieren, die er über ein Jahr lang an verschiedenen Orten der Welt über den am 23. Januar 2002 im pakistanischen Karatschi vor laufender Kamera hingerichteten Südostasien-Korrespondenten 791 Vgl. Clemens von Höges: Einfach verdammtes Pech. In: Der Spiegel Nr. 25 vom 21. 6. 1999, S. 108 – 110. 792 Gstrein: Wem gehört eine Geschichte?, S. 83. 793 Ebd., S. 84. 794 Ebd., S. 85. 795 Gstrein: Wem gehört eine Geschichte?, S. 61.

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des Wall Street Journal796 zusammengetragen hat; unter anderem führt ihn die Nachforschung in die bosnische Hauptstadt Sarajewo, wo der Anführer der Entführung, Omar Sheikh, während des Krieges seine terroristische Initiation, eine »gr–ce bosniaque«, erfahren haben soll.797 Andererseits soll Imagination die Lücken schließen, die zwischen den recherchierten ›Fakten‹ offen geblieben sind (»quand le r¦el se d¦robait«).798 Markiert werden die Umschaltstellen zwischen Faktizismus und Fiktion freilich ebenso wenig wie der Erzählinstanz die Implikationen dieser fiktionalen Leerstellen-Besetzung für den Status des Textes überhaupt zu Bewusstsein kommen. Die Fiktion trägt vor allem eine subjektive Wahrnehmung des Opfers hinzu, von der die objektiven Fakten und Dokumente nichts zu sagen wissen. Von der Ermordung des Journalisten zeugt nur die Videoaufnahme, die unter der Regie der Täter entstanden ist; sie hält die grauenhafte Tat in Bild und Ton fest. L¦vy respektiert den Primat auch der mörderischen Bilder, wenn er den Akt des Tötens durch Nacherzählung des vom Fernsehsender CBS ausgestrahlten, »überall im Internet« zugänglichen799 Videos wiedergibt. Aber die Narrativierung der Bilder kehrt ihre Perspektive um, indem sie den Beobachterstandpunkt ›vor‹ und ›hinter‹ der Kamera vertauscht: also die Bilder von ihrer ›Rückseite‹ her erzählt, ihre mediale Vermittlung löscht und damit die Sicht des Opfers anstelle derjenigen der Zuschauer zur Geltung bringt. Ne restent dans la piÀce, outre Fazal Karim, que le Y¦m¦nite cameraman, essouffl¦, qui s’affaire sur son cam¦rascope; et les deux autres Y¦m¦nites qui sortent leur poignard de sa gaine et se lÀvent — leur tour. […] Il l’aperÅoit, tout — coup. […] Il voit ses yeux brillantes, fi¦vreux, trop enfonc¦s dans les orbites, estrangement suppliants – un instant, il se demande si on ne l’a pas drogue, lui aussi. Il voit son menton mou, ses lÀvres agit¦es d’un l¦ger tremblement, ses oreilles trop grandes, son nez osseux, ses cheveux raides et noirs, couleur goudron. Il voit sa main, large, velue, avec des jointures noueuses, des ongles noirs et uns longue cicatrice, granduleuse, qui court de pouce au poignet et semble la couper en deux. Il voit le couteau, enfin. Il n’a jamais vu un couteau d’aussi prÀs, se dit-il. Le Manche en corne de vache. Le cuir. Une ¦br¦chure prÀs du manche. Un peu de rouille. Et puis il y a une autre chose. Le Y¦m¦nite renifle. Il cligne de l’œil et, en mÞme temps, comme s’il battait la mesure, il ne cesse de renifler. Est-ce qu’il est enrhum¦? Non. C’est un tic. Il se dit: »c’est bizarre, c’est la premiÀre fois que je vois un musulman qui a un tic.« […] Il 796 L¦vy : Qui a tu¦ Daniel Pearl?, S. 10. – »RomanquÞte« ist eine Zusammenrückung aus den Begriffen »roman« und »enquÞte«. 797 Ebd., S. 114: »Omar est devenu, en quelques semaines, un enrag¦, un obs¦d¦, de Sarajevo. / Omar dit — qui veut l’entendre qu’il ne conna„tra pas un jour, une heure, de repos et de paix tant que restera, en Bosnie, un homme, une femme, un enfant, martyris¦s.« 798 Ebd., S. 10. 799 Gstrein: Wem gehört eine Geschichte?, S. 62.

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fait chaud. Il a mal au crane. Il a une terrible envie de dormer. Le signal vert de la cam¦ra s’allume.800

L¦vys Erzählung bricht den Wahrnehmungsmodus der videotechnischen Bilder, der das Leiden des anderen zu betrachten erlaubt,801 durch die Fiktion des umgekehrten Blicks: »il voit«, »il voit«. Die Fiktion dieser ›authentischen‹, auf tödliche Weise involvierten Beobachtung eines Menschen, der seine eigene ›Hinrichtung‹ erlebt, konstituiert sich aus Einzelheiten der detailversessenen Narration, die der Videomitschnitt gerade nicht festhält. Das grüne Signallicht der Aufnahmefunktion gehört ebenso dazu wie der abgewandte Blick des Henkers, der sich unmittelbar vor der mörderischen Handlung – dem Zuschauer entzogen – mit demjenigen des Opfer kreuzt: »Une fraction de seconde, leurs regards se croisent et il comprend, — cet instant, que cet homme va l’¦gorger.«802 L¦vys Roman fügt jedoch der minuziösen Ekphrasis der technischen Aufzeichnung eine nichtvisuelle mentale Spur hinzu, die aufgrund des Privilegs der Fiktion, die Bewusstseinszustände ›Dritter‹ zu erzählen, noch die Gedanken und Gefühle an der Schwelle des Todes präzise protokolliert, ohne je an eine Grenze der Einfühlbarkeit zu stoßen. Die naive Mimesis bezeugt ein unbegrenztes Vertrauen in die Fähigkeit der Fiktion, sich jede Wirklichkeit unbedenklich aneignen zu können: »Il voudrait dire quelque chose. / Il faudrait, il se sent bien, dire une derniÀre fois qu’il est un journaliste, un vrai, pas un espion […]. / Mais ce doit Þtre la drogue qui finit de faire son effet.«803 »Es folgt«, schreibt Norbert Gstrein in seiner harschen Kritik des Romans, »– wie unterlegt mit Streicherklängen – eine im Melodramatischen schwelgende Kamerafahrt durch seinen Kopf, mit Bildern aus seinem Leben, während die Klinge sich dem Hals nähert und man am liebsten ›cut‹ schreien würde, bevor man der Doppelbedeutung des Wortes gewahr wird …«:804 Il a des pens¦es parasites, alors, qui semblent revenir de zones trÀs obscures, comme assoupies, de sa m¦moire: sa bar-mitsva — J¦rusalem; sa premiÀre crÀme glac¦e, dans un caf¦ de Dizengoff, avec son pÀre, — Tel-Aviv […].805

Private, nicht zuletzt erotisch Momente und Reflexionen – »que veulent les femmes, dans le fond? la passion? l’¦ternit¦?«806 –, die die Fiktion genau zu kennen vorgibt, ziehen den Moment des Sterbens in die Länge, während der Erzähler die Figur mit dem realen Daniel Pearl unbekümmert gleichsetzt. Dass 800 801 802 803 804 805 806

Bernard-Henri L¦vy : Qui a tu¦ Daniel Pearl?, S. 60. Vgl. dazu Sontag: Das Leiden anderer betrachen. L¦vy : Qui a tu¦ Daniel Pearl?, S. 61. Ebd., S. 61. Ebd., S. 61. Ebd., S. 62. Ebd., S. 62.

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erst mit dem Eintritt des Todes die bisher verwendete, kumpelhaft-fraternisierende Ansprache »Danny«, die den ganzen ersten Teil des Romans überschreibt, gegen den Nachnamen »Pearl« oder das unpersönliche Personalpronomen ausgetauscht wird, zeugt immerhin von der finalen Auslöschung der erzählten Subjektivität. Indem der intern fokalisierte Erzählbericht jedoch die empathische Einfühlung in die Person bis zum äußersten Punkt ihres gewaltsamen Todes behauptet, ist er mit der Kamera, die den Vorgang gewissenlos aufzeichnet, in gewisser Weise einig. Denn ähnlich wie das von den Mördern hergestellte Video die letzten äußeren Lebensmomente Daniel Pearls im Augenblick seiner Ermordung festhält, bemächtigt sich L¦vys dokumentarischer Roman auch noch seines subjektiven Lebens mit der Penetranz einer voyeuristischen Imagination, gegen die das Opfer sich nicht zur Wehr setzen, der es nicht mehr widersprechen kann. Indem die Erzählung die Momente des Sterbens durch die Erfindung privater Erinnerungen sentimentalisiert, dient sie sich Gstrein zufolge zugleich dem »Kitschbedürfnis der Leserinnen von – sagen wir – Frauenzeitschriften und den Marktgesetzen Hollywoods« an.807 Gstreins eigener Roman bildet den diametralen Gegensatz zu dieser Art von ›Umschreibung‹ zeitgeschichtlicher Bilder. Seine ästhetische Distanzierung zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit den Bilddokumenten, die die Ermordung des nur in der Widmung des Romans beim Namen genannten Journalisten Gabriel Grüner bezeugen. Statt die Bilder in narrative Fiktionen umzusetzen, wendet sich Gstrein angesichts einer noch knapp zwei Jahre später im Stern erneut reproduzierten Fotografie gegen eine fotografische Fixierung, auf der das Opfer, »millionenfach vervielfältigt, für immer so liegenblieb«: »[E]in Toter am Straßenrand, in blauem Hemd und heller Hose, sein Gesicht nicht erkennbar, halb dem Betrachter zugekehrt, in einer Blutlache, die man bei der schlechten Druckqualität und der zu großen Auflösung erst auf den zweiten Blick ausmachen konnte.«808 Die strukturell maximierte Distanzierung, die Gstreins Roman in Hinsicht auf die Jugoslawienkriege vornimmt, minimiert indes auch das Risiko, an der grausamen Wirklichkeit der Kriegsereignisse ästhetisch zu scheitern. Indem die Erzählkonstruktion »gleich zwei Erzähler und verschiedene Zeugen […] vor dem Toten postiert«, also den größtmöglichen Abstand zwischen den Erzähler und die Ereignisse legt; indem der Erzähler noch dazu deren Darstellung an einen fiktiven Erzähler überweist, dessen Versuche, von den Ereignissen des Krieges zu erzählen, er zudem ständig zurückweist, weist der Erzähler auch jegliche Verantwortung für die Darstellung von sich – so dass im Ergebnis, wie Iris Radisch formuliert hat, »kein Satz wirklich zählt.«809 Mit seiner narrativen 807 Gstrein: Wem gehört eine Geschichte?, S. 63. 808 Ebd., S. 13. 809 Radisch: Tonlos und banal. – Radischs Hinzufügung, dass Gstrein jenseits von »inner-

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Konstruktion schreibt der Roman das Unvermögen, von den Ereignissen des Krieges angemessen zu erzählen, der Figur eines scheiternden Romanautors zu – während er selbst den Versuch, es besser zu machen, gar nicht erst antritt.

4.

Poetik der Befremdung. Juli Zehs Bosnien-Texte

So sehr Gstrein seinen Roman Das Handwerk des Tötens gegen den Verdacht verteidigt hat, einen Schlüsselroman vorgelegt zu haben, dessen Figuren mit realen Personen und Autoren umstandlos identifiziert werden können, bezieht er sich doch kritisch auf andere Autoren und Texte, die von den Jugoslawienkriegen gehandelt haben. Das gilt für Beatrix Gerstbergers Keine Zeit zum Abschiednehmen (2003)810 ebenso wie für Juli Zehs Reiseerzählung Die Stille ist ein Geräusch (2002), deren im Jahr 2001 unternommene Reise nach Bosnien im Roman als »Irrfahrt eines deutschen Girlies« angesprochen wird: »[D]ie letzte Kraft-durch-Freude-Touristin« und »höhere[] Tochter aus Berlin«, spottet der erzählte Erzähler Paul, »die im Rahmen eines Praktikums für eine Fernsehanstalt blind durch die ehemaligen Kampfgebiete gezogen war und sich darüber in einem kopf- und besinnungslosen Hauptsatzstakkato verbreitete«.811 Dabei ist Zehs Reisebericht keineswegs das Dokument einer reflexionsarmen und distanzlosen Perzeption, sondern konstatiert ganz im Gegenteil genau jenen auch durch räumliche Annäherung nicht überbrückbaren Abstand, der Gstreins Erzählen so wichtig ist: Gewissen Ereignissen gegenüber werde ich immer dreitausend Kilometer entfernt vor Radio oder Fernseher sitzen, genau da, wo ich saß, als sie stattfanden. Am Ort des Verbrechens zu stehen ändert nichts.812

Juli Zehs Reisebericht bekennt die Begrenztheit jeder ›authentischen‹ Beobachtung ein, die Handke auf den Schauplätzen jenseits des Krieges zu gewinnen sucht. Bei Zeh sind es nur mehr die Spuren des vergangenen, stattgefundenen Krieges, die ihr Bericht etwa beim Besuch Sarajewos aufzufassen und aufzuzeichnen vermag: »Vom Krieg ist nichts zu sehen, man muss davon wissen, um österreichischen Stammesfehden und deren ästhetischer Kostümierung« die Kriege in Jugoslawien nicht ernsthaft interessierten (ebd.), steht allerdings im Zusammenhang ihrer Rehabilitierung des Allmayer-Vorbilds Grüner, dessen Andenken sie durch den Roman verunglimpft sieht. 810 Beatrix Gerstberger : Keine Zeit zum Abschiednehmen. Weiterleben nach seinem Tod. 2. Auflage München 2003. 811 Gstrein: Das Handwerk des Tötens, S. 235 f. 812 Zeh: Die Stille ist ein Geräusch, S. 158. – Vgl. damit auch den Selbstkommentar der Autorfigur in Fr¦d¦ric Beigbeders 9/11-Roman Windows on the World: »MÞme si j’allais trÀs trÀs loin dans l’horreur, mon livre serait toujours — 410 mÀtres au-dessous de la v¦rit¦.« (Beigbeder : Windows on the World, S. 155.)

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die muslimischen Friedhöfe zu verstehen, die sich wie kalbende Gletscher von den Bergen ins Tal senken, von allen Seiten […]. Man muss davon wissen, um die eingravierten Sterbedaten zu bemerken, die alle nicht weiter als vier Jahre auseinanderliegen.«813 Die Greuel des Krieges zitiert die Reiseerzählerin dennoch, soweit sie ihr von Zeugen und Informanten mitgeteilt werden: »Von Preislisten für Moslems« berichtet der Presseoffizier der SFOR-Truppen, Monsieur Pescaran, von Menschen, »die Karadzˇic´ und seine Dichterkollegen zum Abschießen telephonisch wie Pizza nach Pale bestellten. Ein Mann für hundert, eine Frau für zweihundert, Mutter mit Kind für fünfhundert Dollar.«814 Solche Greuel, von denen auch in Juli Zehs Debütroman Adler und Engel (2001) die Rede ist, hinterlassen indes keine sichtbaren Spuren.815 Sie lagern sich allenfalls im Gedächtnis der Beteiligten ab: Im Roman ist es die Erinnerung Jessies, der psychisch labilen Freundin des Ich-Erzählers Max, eines Anwalts für Völkerrecht und »Balkanspezialist[en]«,816 die sich erst in vielfältig wiederholten Anläufen der Befragung allmählich preisgibt. Das ereignishafte Geschehen, das der Erzähler ihrer Erinnerung entreißt, besteht in Jessies Augenzeugenschaft beim »Guns-for-Drugs-Handel[]«, »mit dem große Teile des Balkankriegs auf serbischer Seite finanziert wurden«.817 Während der mediale Diskurs die Ereignisse der Balkankriege immer sogleich in eine Deutungsmatrix einträgt, verfügt das Gedächtnis der Figur, die sich während eines Telefongesprächs mit dem IchErzähler erschießt, aufgrund ihrer psychischen Isolation über die mediologisch unwahrscheinliche »Fähigkeit […], die Ereignisse ohne jedes Hinterfragen, ohne Interpretation im Gedächtnis zu behalten und wiederzugeben, abgetrennt von Informationen, die selbst sie, trotz aller Abgeschiedenheit, über Radio, Zeitung oder Fernsehen in irgendeiner Weise mitbekommen haben musste.«818 Die ›authentische‹ Erfahrung, die der Reisebericht nicht herzustellen vermag, imaginiert die Fiktion. Jessie ist die Tochter eines international tätigen Drogenhändlers, an dessen riskanten Schmuggelaktionen auch der Ich-Erzähler einst teilgenommen hat – und dem er sogar, wie sich später herausstellt, seine Anstellung bei einer der renommiertesten völkerrechtlichen Anwaltskanzleien Europas verdankt. Die Romanfiktion der studierten Völkerrechtlerin Zeh stellt über die Freundschaft des Drogenringchefs Hermann mit dem amerikanischen Chef der Anwaltskanzlei, Rufus, einen Zusammenhang zwischen internationalem Recht und kriminellen Interessen her. Im Fokus der erzählten Nachforschung stehen jedoch authentische Akteure des Bosnienkriegs – der als ›Säu813 814 815 816 817 818

Zeh: Die Stille ist ein Geräusch, S. 63. Ebd., S. 116. Vgl. Zeh: Adler und Engel, S. 309 f. Ebd., S. 116. Ebd., S. 308. Ebd., S. 303.

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berer‹ berüchtigte serbische Milizenführer Arkan und der mit internationalem Haftbefehl gesuchte serbische Geheimdienstchef Franko Simatovic´, »von dem auf der ganzen Welt nicht ein einziges Photo existiert und für dessen Beschreibung man in Den Haag ein Vermögen zahlen würde.«819 Der Roman verhandelt ein schwieriges justizielles Problemfeld zwischen eigenstaatlicher Souveränität, ›putativer Nothilfe‹ und Genozid, das er in der Konstellation seiner Figuren reproduziert.820 Vor allem aber verhandelt er die Problematik der Erzählbarkeit zeitgeschichtlichen Geschehens: Und genau wie bei einem Traum muss auch die Erinnerung an Vergangenes in eine logische Geschichte verwandelt werden, wenn man sie behalten will; sie braucht Anfang und Ende und Ereignisse, die in einer ordentlichen Kausalkette aufeinander folgen, sie braucht eine nachvollziehbare Handlung wie in einem Spielfilm. Alles, was sich nicht einpassen lässt, wird vergessen. Letztlich wird fast alles, denke ich, vergessen.821

Der Roman verbindet die Indizien und Bruchstücke der Erinnerung zu einer Geschichte. Solange die juristische Wahrheitsfindung am Beweisproblem der ›Fakten‹ scheitert, kommt die Fiktion einstweilen für den fehlenden Zusammenhang auf. Auch schon die bloße Inaugenscheinnahme der manifesten Spuren jedoch, nicht erst ihre literarische Verknüpfung, setzt bereits ein durch zeitgeschichtliche Medien generiertes ›Wissen‹ voraus, um die Zeichen des bereisten Raumes lesen zu können. In Zehs Reisebericht heißt es dementsprechend: Schon ein paar »Rosen von Sarajevo« habe ich gesehen, Granatenlöcher am Boden, die zum Andenken an jeweils drei Opfer mit leuchtend roter Gummimasse aufgefüllt wurden. Es sieht aus, als wären an diesen Stellen mit Blut gefüllte Ballons auf dem Pflaster zerplatzt. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass jedes Stück Boden, das meine Füße berühren, jede Mauer, jedes Fenster, jedes Blatt an jedem Baum ein kleines Stück dieses Namens tragen, »Sarajevo«, der sie miteinander verbindet zu einer wirklichen Stadt. Jahre lag sie für mich in der Blackbox hinter dem Eisernen Vorhang, war ein Ort, über den man auf der Weltkarte mit dem Finger hinwegfuhr. Bis die Stadt auf internationalem Parkett mit einem Kriegsauftritt debütierte, sich vorstellte mit qualitativ schlechten TV-Aufzeichnungen von dunklen Staubwolken und hochspritzenden Häusersplittern. »Sarajevo« ist ein verwirrender Kampf, bei dem man nicht weiß, wem die Daumen gedrückt werden sollen. Aus Steinen, Holz, Metall oder gar aus Menschen ist es nicht. Ich hab’s geschafft, ich bin da.822 819 Ebd., S. 303. 820 Vgl. dazu den Kommentar des Völkerrechtlers Wolfgang Graf Vitzthum zu Zehs BosnienTexten; Vitzthum: Gerechtigkeit für Bosnien? Zu Juli Zehs Bildern vom Balkan. In: Fiktionen der Gerechtigkeit. Literatur – Film – Philosophie – Recht. Hg. von Susanne Kaul und Rüdiger Bittner. Baden-Baden 2005 (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat; 35), S. 117 – 133. 821 Zeh: Adler und Engel, S. 337. 822 Zeh: Die Stille ist ein Geräusch, 60 f.

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Zehs Beobachtungen stoßen auf die materiellen Spuren des Krieges, während die Ereignisse selbst längst in den Archiven des Bilder- oder Fernsehgedächtnisses abgelegt worden sind. Kriegstouristische Erwartungen werden von der Reiseerzählerin deshalb systematisch enttäuscht: »So sehr ich mich bemühe, es gibt nichts zu sehen.«823 Auf den verlassenen Schauplätzen des Krieges ist vor allem dessen Absenz zu spüren: »Bei Tag, in der Stadt, gibt es ihn nicht, diesen Krieg, auch wenn er an jeder Ecke, in jedem zweiten Satz der Menschen seine Markierungen hinterlassen hat. Das mag sein Revier sein, aber er selbst ist nicht da.«824 Die Beobachtung, dass »das Töten, anders als die Geburt eines Kindes, eine Hochzeit oder der Tod eines geliebten Menschen, keine Spuren hinterlässt«,825 teilt die Erzählerin mit dem Erzähler in Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens, der sich anlässlich der Begegnung mit dem von Allmayer interviewten ›Warlord‹ an den serbischen ›Säuberer‹ Arkan erinnert.826 Auch vom Einsatz der deutschen Bundeswehr im Rahmen der SFOR-Truppen kann die Erzählerin zusammenfassend nur berichten: »[V]or allem ist er langweilig, langweilig, langweilig.«827 Die Antwort auf die sie bewegende Frage, woraus der kriegerisch entfesselte Hass resultiert, lässt sich in Ortsbegehungen und Begegnungen vor Ort sowenig herausfinden wie vor den Bildschirmen und mit Hilfe der Zeitungsnachrichten, aus denen die informierte Medienöffentlichkeit ihre Urteilskompetenz bezieht: Einmal scheinen es die sozialen Diskrepanzen zwischen der urbanen Bevölkerung und den Landbewohnern zu sein, ein anderes Mal der Konflikt zwischen (westlichem) Materialismus und einer »Welt von Glauben und Ideen«,828 die die bosnisch-postjugoslawische Katastrophe ausgelöst haben mögen. Demgegenüber ist es gerade das ›Bescheidwissen‹ der Berichterstatter über den Balkan, das die Erzählerin abstößt, und das Misstrauen gegenüber der »international crowd« wird zum Antrieb ihrer Weiter-Reise.829 Während »[b]ei den Berichterstattern auf dem Bildschirm […] Mitreden ein Akt der Unmöglichkeit« war, weil jeden Medienempfänger von den Ereignissen »dreitausend Kilometer und ein Fernsehschirm trennen«,830 wird ihr derselbe Verstehensvorsprung suspekt, als sie 823 824 825 826

827 828 829 830

Ebd., S. 115. Ebd., S. 94. Ebd. S. 84. Gstrein: Das Handwerk des Tötens, S. 303 ff. – Das Argument kehrt übrigens eine bei Brecht zu findende gegenteilige Auffassung um, der zufolge die Liebe, anders als die kriegerische Gewalt, keine Spur hinterlässt; vgl. Bertolt Brecht: Die Trophäen Lukullus. In: ders.: Werke Bd. 19: Prosa 4. Geschichten, Filmgeschichten, Drehbücher. Frankfurt/M. 1997, S. 425 – 433, hier S. 430: »Die Menschheit […] erinnert sich im allgemeinen länger der Misshandlungen, die sie erfährt, als der Liebkosungen. Was wird aus den Küssen? Aber die Wunden hinterlassen Narben.« Zeh: Die Stille ist ein Geräusch, S. 107. Ebd., S. 144. Ebd., S. 142. Ebd., S. 143.

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auf den Schauplätzen des mittlerweile befriedeten Krieges wiederholt einer amerikanischen Journalistin begegnet: »Vielmehr ertrage ich ihre Selbstsicherheit nicht, mit der sie davon berichtet, als hätte sie etwas verstanden, als wäre sie durch ihre Betroffenheit stets im Recht. Die mutige Fahrt ins Krisengebiet macht sie zur Expertin vor allen anderen. Selbst vor den Kindern Tuzlas.«831 Auch die BosnienReisende vermag »die Ursachen des Krieges« nicht zu »enthüll[en]«: »aber ich finde langsam heraus, was nicht für den Krieg verantwortlich war.«832 Wenn die Wahrheit über den Krieg sich dem Zugriff der scheinbar Sachverständigen entzieht, kann sie – einmal mehr wie in den Romanen Roths und Gstreins – auch nicht Sache des literarischen Textes sein. Jede unmittelbare Darstellung geschichtlichen Leids gravitiert unweigerlich zum Kitsch. Gstreins Rede über Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema hat diese Problematik in Hinsicht auf die Geschichte eines jüdischen Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland, die sein voriger Roman Die englischen Jahre (1999) erzählt, diskutiert.833 Dieselbe Beobachtung hält auch Zehs Reiseerzählung fest, ohne dass sich die Erzählerin selbst grundsätzlich freisprechen zu können glaubt: »Zehn Jahre nach einem Krieg kannst du nichts schreiben als … / Er ruft Cuki hinterher, um das Wort für ›Kitsch‹ in Erfahrung zu bringen. Ich habe schon verstanden.«834 Auch ihre eigenen Aufzeichnungen und Reflexionen entgehen dem ethisch-ästhetischen Verdikt des Kitsches nicht – während gleichzeitig klar wird, dass es das Jenseits kitschferner, ›authentischer‹ Rede nicht gibt: »Und schon sitze ich mitten im Kitsch, von dem Goran gesprochen hatte. Aber es beruhigt.«835 Nicht nur auf der Meta-Ebene solcher Reflexionen sucht Zehs Reiseerzählung jede Prätention der Nähe zu den vergangenen Ereignissen zu vermeiden, sondern auch auf der Ebene ihres ästhetischen Verfahrens. Es handelt sich um eine Poetik der Befremdung, welche die Fremdheit der erfahrenen Orte sprachlich in unerwartbaren Vergleichen und Metaphern codiert. Dass die Wirklichkeit (wie im Fall des augenfälligen Kultursynkretismus in der Stadtlandschaft von Sara831 Ebd., S. 142 f. 832 Ebd., S. 142. 833 Norbert Gstrein: Die englischen Jahre. Frankfurt/M. 1999. – Gstrein kritisiert vor allem Bernhard Schlinks Erfolgsroman Der Vorleser (Frankfurt/M. 1995), von dem der Leser »gerührt sein« mag, den man aber auch »einfach nur verlogen finden« könne (Gstrein: Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema, S. 13). – Zur Kritik an Schlinks Roman vgl. auch die überzeugenden Argumente von Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 69 – 71, bes. S. 70: »Ist das nicht ein unglaublicher Kitsch?« 834 Zeh: Die Stille ist ein Geräusch, S. 84. 835 Ebd., S. 95. – Dass der Kitsch auch eine ethische Dimension aufweist, hat vor allem Hermann Broch betont; Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst. In: ders.: Dichten und Erkennen. Essays. Bd.1. Hg. und eingeleitet von Hannah Arendt. Zürich 1955, S. 311 – 350.

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jevo) im Sinne einer beim Wort genommenen Korrespondenztheorie der Wahrheit mit den eingeführten, erprobten Begriffen direkt zusammenstimmt – »›Plopp‹ macht es, als die Wirklichkeit andockt an den Begriffen« –,836 stellt eher einen Ausnahmefall sprachlichen Begreifens dar ; dem befremdeten Blick wandelt sich vielmehr das Wahrgenommene selbst in eine Metapher eines endlosen Aufschubs der Wahrheit, so dass es angesichts der ebenso endlos erscheinenden Sniper Alley heißt: »Das ist kein Spaziergang, das ist eine Metapher.«837 Noch der letzte Satz der Erzählung legt von der unhintergehbaren Entfernung von den Ereignissen des Krieges Zeugnis ab: »Wer die Hölle überleben will, muss ihre Temperatur annehmen. / Mir ist kalt.«838 Zehs Reiseerzählung gibt demnach nicht vor, Neues über die Jugoslawienkriege mitteilen zu können, sondern ist vor allem das poetische Resultat einer experimentellen ›Aussetzung‹ der Erzählerin in jenen fremden Raum, der nach dem Abzug der Medienagenturen noch unzugänglicher geworden zu sein schien: »Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist«,839 lautete der Vorsatz am Ausgangspunkt ihrer Reise. Gemessen an diesem Ziel, die Realität eines europäischen Krieges empirisch und ästhetisch einzuholen, scheitert die Reiseerzählerin. Dass »Berlin und Jajce die ganze Zeit auf dem selben Planeten existieren. Gleichzeitig, nicht abwechselnd«,840 hält eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen fest, die auch durch Autopsie nicht auszugleichen ist. Dass im selben Moment der Wahrnehmung Ungeheures geschieht, dessen Realität tatsächlich nur räumlich entrückt, aber zeitlich gegenwärtig ist, gehört zu den tiefsten Verstörungen, die jedes zeitgeschichtliche Ereignis noch unter der Bedingung völliger Unbetroffenheit auf seine medial distanzierten Rezipienten ausüben kann. Auch Juli Zehs Texte stellen sich der Konkurrenz der Medien der Information, deren erschöpfender Anspruch der Literatur nichts mehr mitzuteilen übrig zu lassen scheint. Es ist, übereinstimmend mit Benjamins Behauptung von der Erzählfeindlichkeit der ›Information‹, die Einschüchterung durch deren ›objektiven‹ Maßstab des Wissens, die den »Rückzug der jungen Literatur« von der Politik nach Zehs Ansicht motiviert: »Wir fürchten die Frage: Woher wisst ihr das?«841 Zehs Antwort auf die mediologische ›Verdrängungsthese‹ – »Literatur ist kein Journalismus« – ergreift gegen den unbestrittenen Primat der Information für einen Subjektivismus Partei, der jenseits politischer Zuordnungen nach 836 837 838 839 840 841

Zeh: Die Stille ist ein Geräusch, S. 67. Ebd., S. 88. Ebd., S. 263 f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 32. Juli Zeh: Wir trauen uns nicht. Viele Schriftsteller halten Politik für Expertenkram – und vor allem für Privatsache. In: Die Zeit Nr. 11 vom 4. 3. 2004, S. 53.

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Ereignisse und Texte

›rechts‹ und ›links‹ die »politische Rolle« der Literatur profiliert. Sie stimmt bis ins Wort mit Günther Anders’ Postulat überein, demzufolge die Literatur die »Lücken und Löcher im Kontinuum« der Bilder und Informationen zu besetzen habe:842 Allein deshalb darf die Literatur auf dem Gebiet der Politik nicht durch den Journalismus ersetzt oder verdrängt werden, und sie soll sich nicht hinter ihrem fehlenden Experten- oder Spezialistentum verstecken. Sie steht vielmehr in der Verantwortung, die Lücken zu schließen, die der Journalismus aufreißt, während er bemüht ist, ein Bild von der Welt zu zeichnen.843

5.

Peter Handkes ›anstößige‹ Reiseberichte Von allen Gebieten des menschlichen Geistes lag mir nichts ferner als die Tagespolitik.844 Ich werde mich entschlossen verirren845

Gerhard Roths, Norbert Gstreins und Juli Zehs Erzähltexte haben sich zu einem Zeitpunkt den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien zugewandt, als die Zeitgeschichte mit dem Dayton-Vertrag von 1995 bereits zu einem vorläufigen Abschluss gekommen war. Peter Handkes im Januar 1996 zuerst unter dem Redaktionstitel Gerechtigkeit für Serbien. Eine Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morava und Drina in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichter Reisebericht hat dagegen eine Diskussion ausgelöst, die angesichts des Fehlens intellektuellen Engagements deutschsprachiger Literaten während der Kriege im Rückblick wie eine Stellvertreterdebatte erscheint: Die intellektuelle Diskussion um das Geschehen auf den realen Kriegsschauplätzen verschob sich auf den »Kriegsschauplatz Handke«, wie Michael Scharang 1999 in seiner HandkeVerteidigung festgestellt hat.846 Tatsächlich hat sich kein anderer deutschsprachiger Schriftsteller auf so eingehende Weise mit den postjugoslawischen Kriegen befasst wie Handke. Die Liste seiner stets auch in Buchform publizierten Einlassungen ist inzwischen lang: Sie reicht von der Winterlichen Reise (1996), deren Auftakt bereits der essayistische Abschied des Träumers vom Neunten 842 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2, S. 250. 843 Zeh: Wir trauen uns nicht. 844 Franz Grillparzer in einem Beitrag aus dem Jahr 1848, zit. bei Peter Handke: Gegenstimme [1986]. In: ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967 – 2007. Frankfurt/M. 2007, S. 481 – 489, hier S. 481. 845 Peter Handke: Phantasien der Wiederholung. Frankfurt/M. 1983, S. 99. 846 Michael Scharang: Kriegsschauplatz Handke. In: Die Zeit Nr. 16 vom 15. 4. 1999, S. 49 f., hier S. 49.

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Land (1993) über die Loslösung Sloweniens aus der jugoslawischen ›Völkergemeinschaft‹ gegeben hatte, über den Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1997), das Drama Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999), die nach dem Nato-Einsatz im Kosovokrieg entstandene Reiseerzählung Unter Tränen fragend (2000), die von den Den Haager Kriegsverbrecher-Prozessen handelnde Erzählung Rund um das große Tribunal (2003) und Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milosˇevic´ (2005) bis zu den Kuckucken von Velika Hocˇa (2009) und der Geschichte des Dragoljub Milanovic´ (2011). Ergänzt wird diese Liste durch eine Reihe von Interviews, in denen Handke seine Sichtweise und sein Selbstverständnis erläutert sowie die Anfeindungen seiner Kritiker – oft auch in aggressiver Weise – parierte. Dass gerade Peter Handke zur Hauptfigur einer zeitgeschichts-politischen Debatte wurde, muss vom werkgeschichtlichen Verlauf seines Schreibens her indes eigentlich überraschen. Denn der »Götterliebling« unter den SuhrkampAutoren,847 der selbstreflexive und narzisstische Vertreter einer literarischen ›Innerlichkeit‹,848 hatte Stoffe und Themen der politischen Zeitgeschichte bis in die Erzählprosa der 1990er Jahre aus seinem ästhetischen Kosmos strikt ausgewiesen. »Wiederholen (gut wiederholen) kann ich nur das Ereignislose«, schrieb Handke in den Phantasien der Wiederholung (1983).849 »Was man Weltgeschichte nennt«, heißt es noch im 1994 erschienenen Großroman Mein Jahr in der Niemandsbucht, sollte möglichst draußen bleiben, weniger aus meiner Abneigung oder meinem Mißtrauen gegen diese als aus meiner Schwäche, was nicht bloß sie, sondern darüber hinaus alle großen Ereignisse betrifft: Zwar nehme ich daran Anteil – und das Fernsehen verhindert nicht, daß meine Gefühle tiefgehen –, jedoch ich könnte dazu kaum etwas sagen, geschweige denn hinschreiben.850

Mit derselben provokant apolitischen Attitüde, mit der der Bewohner des Elfenbeinturms 1967 die Forderung nach ›Engagement‹ provokant zurückwies,851 konzedierte der Erzähler der Niemandsbucht seine Unzuständigkeit und ästhetische Ohnmacht angesichts des »unendliche[n] Hindernislauf[s] der

847 Vgl. Ulrich Holbein: Dichterpriester und Hordenclown. In: Peter Handke. Text+Kritik 24 (1999), S. 110 – 123, hier S. 110. 848 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Peter Handke. In: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing. Stuttgart, Weimar 2004, S. 268 – 270, hier S. 269. 849 Peter Handke: Phantasien der Wiederholung. Frankfurt/M. 1983, S. 56. 850 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. 3. Auflage Frankfurt/M. 1995, S. 734. 851 Vgl. Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 19 – 28.

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Welt«.852 Prägnant heißt es in der Kindergeschichte (1981): »Schande über meine Beflissenheit vor eurer Aktualität! – So wurde es ihm allmählich zur Gewißheit, daß für seinesgleichen seit je eine andere Weltgeschichte galt, die ihm damals an den Linien des schlafenden Kindes erschien.«853 Unter die »eingeschworenen Geschichte-Muffel« rechnete sich Handke 1990 im Nachwort zu Nicolas Borns Gedichten.854 Noch im »Jahr der Geschichte« 1989, angesichts des Mauerfalls und des Endes der Ost-West-Konfrontation, entzog sich Handkes Erzählen der politischen Aktualität mit der Arbeit über einen »so weltfremden Gegenstand[] wie d[ie] Jukebox, eine[] Sache ›für Weltflüchtlinge‹«. Und auch in der nach mehreren seiner Jugoslawientexte entstandenen Erzählung Don Juan (2004) sollte der »Rhythmus« des »stillen Aufeinanderfolgens ohne ein Ineinandergreifen, Kleines und Großes gleichwertig«, an die Stelle des »Tamtam der eigens ausholenden, sonor werdenden Erinnerung« treten.855 Die »Geschichtslosigkeit«,856 in deren Licht er seine oft erwanderte »Gehheimat«857 Slowenien bis zur Separation von 1991 sah, ermöglichte jene Präsenz, das »reine Gegenwärtigsein« der Dinge,858 das Handke dem Realitätsverlust des Lebens in den ›westlichen‹ Gesellschaften entgegen setzte. Die politische ›Realitätsferne‹ aber wird auch geschichtsphilosophisch-poetologisch motiviert, da der ›große‹ Geschichtsverlauf als grand r¦cit dem Erzählen ohnehin auf Dauer entrückt bleiben müsse: »das große Märchen der Welt, der Menschheit«859 bleibt unerzählbar. Dennoch ist die Zeitgeschichte in Handkes Erzählen bereits anwesend durch eine Abwesenheit, die thematisch wird – durch den Gestus der Abweisung. Weil zeitgeschichtliche Ereignisse, so affektiv aufregend sie sein mögen, sich dem Erzähler nicht »ins Bild verwandeln«, weil keine poetische Transformation die historischen Koordinaten in eine narrative »Rhythmik« zu zwingen vermag, ließ Handkes Erzählprosa das historische Thema aus – und überließ es damit einem journalistisch-politischen Diskurs, gegen den sich seine polemische Medienschelte seit der Winterlichen Reise dann gerade richtete. Politische Zeitgeschichte kennzeichnet ein Mangel narrativer wie dramatischer Bewältigbarkeit, 852 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht, S. 734. 853 Handke: Kindergeschichte. Frankfurt/M. 2002, S. 20. 854 Peter Handke: Kleine Chronik des Märchens eines Lebens (an Hand der Gedichte von Nicolas Born). In: Handke: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980 – 1992. Frankfurt/M. 1995, S. 35 – 48, hier S. 40. 855 Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst). Frankfurt/M. 2004, S. 41. 856 Handke: Versuch über die Jukebox, S. 27. – Ebenso Handke: Abschied der Träumers vom Neunten Land. In: ders.: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt/M. 1998, S. 5 – 32, hier S. 12. 857 Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. 3. Auflage Frankfurt/M. 1996, S. 108. 858 Handke: Abschied des Träumers vom Neunten Land, S. 12. 859 Ebd.

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der um sich, aber auch um die Beispiele gelungener Bewältigung weiß, »wie das zum Beispiel William Shakespeares Fähigkeit war und wessen noch?«860 – Der Einzug der (post-jugoslawischen) Zeitgeschichte in Handkes Werk kündigt sich indes bereits in der slowenischen Reiseerzählung Die Wiederholung an, wenn der Erzähler über einen Betenden im slowenischen Maribor, der »letzte[n] Station meiner jugoslawischen Reise«, schreibt: Da erst riß es mich aus dem Traum von der Zeitlosigkeit, und ich bekam ein klares Bild der Geschichte, jedenfalls dieses Landes hier, und nicht etwa keine Geschichte wollte ich da, sondern eine andere, und der einzelne Andächtige erschien mir als deren Verkörperung, als deren Volk, hochaufgerichtet, wachen Sinnes, strahlend, gesammelt, unbeirrbar, unüberwindlich, kindlich, im Recht.«861

Den Eindruck einer akuten Transformation vom geschichtslosen zum geschichtsbewussten Erzähler hat Handke selbst explizit unterstützt, wenn er im März 1996, gleich nach Erscheinen seiner Winterlichen Reise, in einem Interview mit der österreichischen Zeitschrift profil bekannte: »Mein Schreiber-Leben hat einen Sprung bekommen. Einen Sprung wie bei einem Gefäß oder einen Sprung wie hic Rhodus, hic salta! – da bin ich mir selbst noch nicht sicher. Etwas wird dazukommen müssen, was ich immer abgelehnt habe: Historie. Geschichte. Oder es wird überhaupt nichts mehr sein.«862 Handkes hic Rhodus, hic salta! liest sich wie ein wörtliches, aber sachlich inverses Echo von Enzensbergers drei Jahre zuvor publiziertem Votum im Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg, der mit derselben Formel gerade für die Unzuständigkeit in Hinsicht auf dieselben Vorgänge argumentierte. Das Zeichen des ›Sprungs‹, in das Handke seine Zuwendung zur Zeitgeschichte stellt, kennzeichnet daher eine Ambivalenz: Einerseits bezeichnet es eine Diskontinuität, andererseits aber eine Kontinuität innerhalb seines Schreibens, die als Einstehen für ein bereits zuvor verfolgtes Konzept verstanden werden will. Denn der 1968 im Aufsatz über den Elfenbeinturm programmatisch formulierte »Widerstand« gegen »Trivialkunst«, gegen die Sprache der Werbung und gegen eingespielte Kommunikationssysteme863 enthielt bereits einen ideologie-, sprach- und medienkritischen Impuls, den Handkes Jugoslawien-Texte seit der Winterlichen Reise auf die Sprache des politischen Journalismus hin konkretisierten. Bereits der frühe Handke setzte auf eine subversive Kraft der Literatur, die sich als dissidente Störgröße in den zeitgenössischen Diskurskonzerten zur 860 Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht, S. 735. 861 Handke: Die Wiederholung. Frankfurt/M. 1999, S. 321. 862 Peter Handke: »Nackter, blinder, blöder Wahnsinn«. Peter Handke im Gespräch mit Wolfgang Reiter und Christian Seiler. Interview mit der Zeitschrift profil vom 18. 3. 1996, wieder abgedruckt in: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Hg. von Thomas Deichmann. Frankfurt/M. 1999, S. 147 – 156, hier S. 155. 863 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 21.

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Geltung bringen sollte: »Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig erscheinenden Weltbilder.«864 Eine ästhetische »Methode« müsse »alles bisher Geklärte wieder in Frage stellen«.865 Denselben sprachkritischen Ansatz bringt auch das Langgedicht Leben ohne Poesie vor, in dem sich Handkes Auseinandersetzung mit der Forderung politischen Engagements in den späten sechziger Jahren manifestiert: In den Zeitungen stand alles schon schwarz auf weiß und jede Erscheinung erschien von vornherein als ein Begriff Nur in den Feuilletons wurde noch aufgefordert die Begriffe doch anzustrengen aber die Begriffsanstrengungen der Feuilletonisten waren nur ein Schleiertanz vor anderen tanzenden Schleiern Die Romane sollten »gewalttätig« sein und die Gedichte »Aktionen« Söldner hatten sich in die Sprache verirrt und hielten jedes Wort besetzt erpreßten sich untereinander indem sie die Begriffe als Losungsworte gebrauchten und ich wurde immer sprachloser866

Die ästhetische Opposition gegenüber konventionalisierten Sprachregimes setzte das Schreiben des frühen Handke einem indes auf Dauer kaum durchzuhaltenden Innovationsstress aus,867 der den von Luhmann gekennzeichneten »Formenverbrauchseffekt«868 der Kunst noch potenzierte: Jede ›andere‹ Darstellung zeige nur, »daß es noch eine Möglichkeit gab: denn diese Möglichkeit ist dadurch, dass sie gezeigt wurde, auch schon verbraucht worden.«869 Die Forderung im Elfenbeinturm-Aufsatz, eine ästhetische »Methode« nur ein einziges Mal zu verwenden, um jede »Manier« zu vermeiden,870 setzte auf die Ereignishaftigkeit des Textes oder der Kunst (statt auf eine Kunst der Ereignisse). Die Ablehnung von »Geschichten« trifft auch die Geschichte, nicht nur die Fiktion.871 864 Ebd., S. 20. 865 Ebd., S. 21 f. 866 Peter Handke: Leben ohne Poesie. In: ders.: Leben ohne Poesie. Gedichte. Hg. von Ulla Berk¦wicz. Frankfurt/M. 2007, S. 224 – 234, hier S. 226 f. 867 Vgl. auch Josef Haslinger : Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm. Frankfurt/M. 1996, S. 79 – 92. 868 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 77. 869 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 22. 870 Vgl. ebd., S. 20: »Eine Möglichkeit besteht für mich jeweils nur einmal. Die Nachahmung dieser Möglichkeit ist dann schon unmöglich.« 871 Ebd., S. 23: »[I]ch kann in der Literatur keine Geschichte mehr vertragen«; »ich bin der Geschichte, der Phantasie einfach überdrüssig geworden.«

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Auch wenn dieses Innovationsprogramm seit den neunzehnhundertachtziger Jahren dem von Uwe Wittstock benannten »Handke-Sound«872 Platz gemacht hat, steht Handkes Schreiben nach wie vor im Zeichen eines sprachlichen Antiroutinismus, der Ausdrucks- und Urteilsstereotype sorgfältig aus der eigenen Sprache auszusortieren sucht – und der den Schriftsteller von den Teilnehmern anderer Diskurse, auch von den sprachlich versierten ›Intellektuellen‹, prinzipiell unterscheiden soll: Die Wörter, anders als für die Sprecher, stehen ihm [dem Schriftsteller] nicht zur Verfügung; er gebraucht sie jeweils nicht – er entdeckt sie, besser es, das, ein (1) Wort, und nur für jetzt, an dieser einen Stelle im Text, nie zum Weiterleiern.873

Dass es gerade die »Geschichte« war, welche die »wesentlichen« Wörter der deutschen Sprache, auf die die Poesie angewiesen ist, »vergiftet« habe,874 bestärkte Handkes entschlossenes Absehen von der Zeitgeschichte bis zu den Jugoslawien-Texten der mittneunziger Jahre. 5.1

Im Abseits der Bilder. Handkes Aufzeichnungen aus Serbien Man achte grade auf kleine Dinge, gehe ihnen nach.875 Waren die großen Dichter nicht vor allem Ortskundige?876

»Kommt doch auch einmal zu uns / unser Lied ist ein schöner Schrei« – mit diesem Vers zitiert Handke in seinem Bericht über den Milosˇevic´-Prozess in Den Haag den serbischen Lyriker, Erzähler und Essayisten Miodrag Pavlovic´.877 Dass Handke nach Serbien, also nicht an die ›heißen‹ oder gerade erkalteten Kriegsschauplätze in Bosnien reiste, machte in den Augen seiner Kritiker das Skandalon seiner Texte aus. »Vor allem der Kriege wegen« ist Handke nach Serbien gereist, in »das Land der allgemein so genannten Aggressoren«.878 Serbien aber sei gerade »das falsche Land«, wie der Menschenrechtsaktivist Tilman Zülch kritisierte.879 Zu einer »winterlichen Reise zu den Ufern der Flüsse Bosna, 872 Uwe Wittstocks Formulierung zitiert Haslinger : Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm, S. 83. 873 Peter Handke: Über Lieblingswörter. In: Handke: Langsam im Schatten, S. 14 – 15, hier S. 14. 874 Ebd., S. 14 f. 875 Ernst Bloch: Das Merke. In: ders.: Spuren. Neue, erweiterte Ausgabe Frankfurt/M. 1969, S. 16 – 17, hier S. 16. 876 Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts. Frankfurt/M. 1985, S. 252. 877 Handke: Rund um das große Tribunal, S. 69. 878 Handke: Eine winterliche Reise, S. 12. 879 Tilman Zülch: Sprechen Sie endlich mit den Opfern von ›Großserbien, Herr Handke! In:

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Una und Naretva nach Bosnien«, um die »Ruinenlandschaften dieses von Milosˇevic´ mit Assistent Tudjman zerschlagenen Staates« zu besichtigen, wurde Handke anlässlich der Lesungen aus seiner Reiseerzählung 1996 eingeladen.880 Im bewussten Absehen von den Opfern lauert bereits die Komplizenschaft mit der Gewalt; mehr noch aber steckt in der Schilderung eines kriegsfernen, friedfertigen serbischen Hinterlands, das unter den Wirkungen des Embargos leidet, bereits die Gefahr der Apologie. Handkes Reiseberichte aus dem »Land der allgemein so genannten Aggressoren«881 sind nicht ohne zeitgeschichtliche Vor- und Nachbilder, an die in der Debatte auch erinnert wurde. Auf die »Glorifizierungen einst des Sowjetsystems durch manche Westreisende« hat Handke selbst als fragwürdiges Pendant zu seinen eigenen Erkundungen in Serbien und im Kosovo hingewiesen, und die Kritik hat dazu die faschistischen Verirrungen Ezra Pounds und Louis-Ferdinand C¦lines ergänzt.882 Hinzuzufügen wäre der Fall des norwegischen LiteraturNobelpreisträgers Knut Hamsun, der 1935 das nationalsozialistische Deutschland bereiste, mit Adolf Hitler zusammentraf und noch 1945 in der letzten Ausgabe der Zeitung Aftenposten einen hagiografischen Nachruf schrieb.883 – So weit sich Handke des Paktierens mit der politischen Macht enthielt, so sehr brachte doch auch sein ›Fall‹ in der öffentlichen Wahrnehmung eine gestörte Beziehung zwischen Ethik und Ästhetik zum Vorschein. Dass sich der Dichter auf die ›falsche Seite‹ einließ, macht das allen Vergleichsfällen gemeinsame Skandalon seiner Einlassungen zu den post-jugoslawischen Kriegen aus. Dass

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Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auf Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Hg. von Tilman Zülch. Göttingen 1996, S. 11. – Eine kroatische Übersetzung des Buches erschien 1997. Dieser Text eines Flugblattes wird zitiert bei Elisabeth von Thadden: Auch eine Art Publikumsbeschimpfung. Wie Peter Handke in Frankfurt seinen Serbien-Text der Kritik entzog. In: Wochenpost 10 (1996), wieder abgedruckt in: Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit, S. 103 – 105. Handke: Eine winterliche Reise, S. 12. Auf Ezra Pound (und Carl Schmitt) hat Botho Strauß hingewiesen. Er verteidigt Handke mit elitärem Ernst-Jünger-Pathos: »Einige andere aber müssen in der Höhe sich härter ausbilden und werden selbst aus einer Verrannt- oder Verstiegenheit heraus mehr Gutes unter die Menschen bringen als je tausend Richtige zusammen.« Strauß: Was bleibt von Handke? Über Schuld und Größe der Dichter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 126 vom 1. 6. 2006, S. 36. – Vgl. auch Ina Hartwig: Unser C¦line. In: Frankfurter Rundschau Nr. 68 vom 21. 3. 2006, S. 15: »Es ist ein bisschen wie seinerzeit mit C¦line, dessen phantastischer, wilder Roman Reise ans Ende der Nacht durch die antisemitischen Hetzschriften des Autors […] in keiner Weise delegitimiert wurde. Nicht, dass Handke im Verdacht des Antisemitismus stünde. Wenn der Vergleich mit C¦line zutrifft, dann in Bezug auf ein anderes beunruhigendes Phänomen: das der gespaltenen Persönlichkeit.« Handkes »eigensinnigste, ganz der individuellen Erfahrung verpflichtete Literatur« stehe im Widerspruch zu seiner »ideologisch-aggressive[n] Borniertheit« in den Jugoslawien-Texten. Vgl. dazu Robert Ferguson: Knut Hamsun. Leben gegen den Strom. Biographie. Aus dem Englischen von Götz Burghardt. München, Leipzig 1990, S. 469 – 555.

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angesichts der politischen Fragwürdigkeit auch der ästhetische Wert seiner Texte gelegentlich in Zweifel gezogen wurde, zeugt von der Hartnäckigkeit der Behauptung, Literatur – respektive literarische Qualität – und ethisch-politische ›Inkorrektheit‹ schlössen einander aus. In diesem Sinne hatte etwa Jean-Paul Sartre 1948 geschrieben, der dialogische Charakter der Literatur und die Freiheit, die sie im Produktions- und Rezeptionsakt voraussetze, ließen ein ›inhumanes‹ Kunstwerk nicht zu.884 Dass auch die Ideologie der ethnischen ›Spaltung‹, die er im serbischen Präsidenten Milosˇevic´ verkörpert sah, mit ›Literatur‹ und ihrem Ethos prinzipiell unvereinbar sei, hat etwa der bosnische Autor Dzˇevad Karahasan gegen Handkes Annäherung an den ehemaligen serbischen Machthaber ins Feld geführt.885 Aber Handkes Reiseberichte sind auch nicht ohne Nachfolger geblieben. In der linksliberalen Zeitschrift Marianne meldete sich im Mai 1999 der Philosoph und Medientheoretiker R¦gis Debray mit einem Reisebericht aus Serbien zu Wort, der ebenfalls von keinen serbischen Verbrechen zu berichten wusste, sich gegen eine »amerikanische« Konfliktwahrnehmung wandte und den NATO vorwarf, mit ihren Bombardements die ›humanitäre‹ Katastrophe im Kosovo erst ausgelöst zu haben. In einer Buchveröffentlichung von 2001 rechnete Debray mit den französischen ›Medienintellektuellen‹ Alain Finkielkraut und Andr¦ Glucksman ab, die ihr Denken einem rechthaberischen Meinungsbetrieb überantwortet hätten. Der Typus des intellectuel terminal (»I.T.«), der im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehe, habe sich denkbar weit vom Typus des intellectuel original (I.O.) entfernt, dessen Platz seit Êmile Zola und seinem Engagement in der Dreyfus-Affäre stets im Abseits der dominanten Diskursmacht liege.886 Auch Handke knüpft an dieses ›originale‹ intellektuelle Selbstverständnis des dissidenten Außenseiters und Anklägers an. Selbst da, wo er die populären Medien (und zuletzt vor allem die serbischen Rundfunk- und Fernsehstationen) mit Stellungnahmen bediente, suchte er seine Rede jenseits der politischen Publizistik zu verorten und ihren Konsens zu konterkarieren. Solche Distanz oder ›Randgängigkeit‹ ist jedoch Bestandteil von Handkes Poetik von jeher : »den Abstand wahren; umkreisen; umreißen; umspielen – deiner Sache von den 884 Vgl. Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la litt¦rature? Paris 1993 [1948], S. 71. Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Astrid Arndt: Ungeheure Größen: Malaparte – C¦line – Benn. Wertungsprobleme in der deutschen, französischen und italienischen Literaturkritik. Tübingen 2005, insbes. S. 14 ff. 885 [Dzˇevad Karahasan]: Gebt uns den Traum von der Gerechtigkeit zurück! Literatur und Ideologie sind Todfeinde: Dzevad Karahasan über Peter Handke, Slobodan Milosˇevic´ und seinen neuen Roman. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 12 vom 26. 3. 2006, S. 31. 886 Vgl. R¦gis Debray : I. F. Suite et Fin. Paris 2001.

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Rändern her den Begleitschutz geben.«887 Im peripatetischen Duktus seines Erzählens beabsichtigt Handke eine Art Gegen-Geschichte, die – zunächst durchaus unpolitisch – an die Gegenwart der Welt, auch die der unscheinbaren Dinge, erinnern will. In diesem Sinne versteht Handke seine Sammlung von Miniatur-›Epopöen‹ Noch einmal für Thukydides (1995), welche die literarische Großform des Epos herunterbrechen auf die sinnliche Konkretion alltäglich möglicher Erfahrungen, als Hommage an den Begründer der ›modernen‹ Historiografie.888 Die Aufmerksamkeit auf das Unscheinbare impliziert eine Beobachtungsgenauigkeit, einen ›authentischen‹ Blick, der nicht zuletzt in den zahlreichen und viel verspotteten sprachlichen Neuschöpfungen (»andersgelbe [] Nudelnester«, »erzdunkler Eigenbauwein«) seinen Ausdruck sucht.889 Dieser Blick stellt sich dem Panorama der Massenmedien entgegen, das eine trügerische Totalität der Wahrnehmung suggeriert, und dem ›entfremdeten‹ Informationskonsumismus der Moderne zugleich. Ihrer sekundären Weltvermittlung stellt Handke (ähnlich Botho Strauß890) das ›wesentliche‹ Wissen der Autopsie und eigenen Erfahrung gegenüber : »Denn was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jedes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann?« – fragt Handke bereits in der Winterlichen Reise.891 Weil Handke in den Medienberichten nichts »als bloße Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickseiten – als Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber« erblickt, setzt sein eigenes Schreiben auf eine durch technische Repräsentationen nicht substituierbare »Augenzeugenschaft«.892 Seine ›Zeitgeschichts‹-Schreibung wendet sich vor allem den ›unpolitischen‹ Dingen abseits der informationshaltigen Ereignisgeschichte zu, also einem Erzählen dessen, was – an seiner Ereignisqualität gemessen – als »gleichsam – ja, gleichsam – Nichtiges« erscheint.893 Die beiden Mottos des Sommerlichen Nachtrags, dessen erstes die Legitimität einer Geschichtsschreibung »seiner eigenen Zeit« befragt und dessen zweites eine gänzlich ereignislose Situationsbeschreibung bietet, ergänzen sich wie Frage und Antwort. Es ist dieser sorgfältig arrangierte Dialog der Zitate, der Handkes ganze Erzählpoetik der Zeitgenossenschaft in nuce enthält: »Zu bedenken: ob es 887 Handke: Versuch über die Jukebox, S. 70. 888 Peter Handke: Noch einmal für Thukydides. München 1997. 889 Handke: Eine winterliche Reise, S. 71. – Gerade diese Manierismen haben auch spöttische Reaktionen hervorgerufen, vgl. etwa Heiner Link: Mein Jahrtausend. Salzburg, Wien, Frankfurt/M. 2002, S. 172. 890 Vgl. die bereits zitierte Stelle bei Strauß: Das Partikular, S. 55. 891 Handke: Eine winterliche Reise, S. 30. 892 Ebd., S. 13. 893 Vgl. Peter Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Frankfurt/M. 2002, S. 340.

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erlaubt sei, die Geschichte, im Speziellen die seiner eigenen Zeit, zu schreiben und zu lesen«. – »Es war Sommer, und die Morgenstunde war schön, und die Bäume waren grün, und die Wiesen waren bedeckt mit Gras und Blumen«.894 Es gehört indes zu den einschränkenden Bedingungen dieser Autopsie, dass Handke in Serbien vor allem die Bestätigung seiner Idee vom multiethnischen, ›authentischen‹ Jugoslawien suchte und fand;895 das Gespräch mit den Dissidenten der politischen Opposition suchte er dagegen nicht. »Das Land« jedoch sagt im Grunde »gar nichts, es liegt und streckt sich nur um eins stummer«, und doch – »es bedeutet: Nein, nicht selber schuld! Nicht schuld! (Achtung: Antirationale Mystik!)«896 Handkes Prosaskizze Geschichte der Kopfbedeckungen in Skopje hatte bereits diese Multikulturalität beschworen.897 Dass mit dem »Zerschlagen Sarajevos« die »materielle Wirklichkeit« dieser alltäglichen Koexistenz »in eine ideelle übersiedelt, aus einem bergumstandenen Talbecken in das Gedächtnis, in die Erinnerung, ins Ideale«, so dass aus der Hauptstadt Bosniens und der Herzegovina im wörtlichen Sinn eine »innere Stadt« wird, welche die Exilanten mit sich nehmen, hat Dzˇevad Karahasan in seinem Tagebuch der Aussiedlung (Dnevnik Selidbe, 1993) beschrieben. Mit derselben logischen Ka894 Handke: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. In: ders.: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt/M. 1998, S. 163 – 250, hier S. 165. – Das erste Motto zitiert die Überschrift des ersten Kapitels in Saint-Simons M¦moires (entstanden 1694 – 1752), das zweite ist dem mittelhochdeutschen Prosalancelot entnommen, den Handke – leicht abgewandelt – nach der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags zitiert: Lancelot und Ginover. I. Prosalancelot I. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 147. Hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. Allem. 8017 – 8020 der BibliothÀque de l’Arsenal Paris. Übersetzt, kommentiert und hg. von Hans-Hugo Steinhoff. Frankfurt/M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters; 14), S. 841. – Handkes Zitat bezeugt eine ›hochselektive‹ Lektüre, die aus dem mittelalterlichen Ritterroman den locus einer völlig gattungsuntypischen Ereignislosigkeit herauslöst, um mit ihm die eigene Erzählpoetik zu belegen: Gawan reitet bereits »zwei Tage, ohne daß ihm eine Aventiüre begegnet wäre« (ebd.). Nur wenige Zeilen später nimmt die Erzählung ihren abenteuerlich-ereignishaften Modus wieder auf. – Handkes Roman Der Bildverlust bezieht sich erneut auf diese Stelle: »In den ihrer Geschichte jetzt vorangegangenen alten und ewigen Büchern wäre dieser Wegabschnitt wohl wieder so einer gewesen, von dem es dort geheißen hätte: ›Er (der Held, es kam nur ein ›er‹ in Frage?) ging, ritt, segelte (soundsoviel) Meilen und Stunden, ohne daß etwas Erzählenswertes (oder gar : ›Erzählwürdiges‹) geschah.‹« (Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos, S. 498.) 895 Vgl. Handkes Rede von der selbstverständlichen »serbische[n] Toleranz«, die den Begriff gar nicht nötig habe (Handke: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Frankfurt/M. 2000, S. 69), sowie sein Bekenntnis, »daß Jugoslawien mir das wirklichste Land in Europa bedeutete« (Handke: Abschied des Träumers vom Neunten Land, S. 27). 896 Handke: Unter Tränen fragend, S. 30. 897 Peter Handke: Geschichte der Kopfbedeckungen in Skopje. In: ders.: Noch einmal für Thukydides, S. 35 – 39.

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tegorie des ›Dritten‹, die Handke für seine Sicht auf Serbien 1996 geltend machen wird, hat bereits Karahasan seine Stadt als paradigmatischen Raum gegen jegliche ethnischen Ordnungs- und Teilungs-Ansprüche verteidigt: »Tertium datur, wie die Bosnier offenbar schon immer zu sagen pflegten, entgegen der Meinung der höchsten Autoritäten«.898 Sarajewo ist für Karahasan bis zu den Kriegen ein »Mikrokosmos«, der »die ganze Welt einschließt«, ein Raum kulturell synkretistischer Engführung der drei Buchreligionen und damit ein realtopografisches Paradigma humaner Koexistenzmöglichkeit schlechthin: »Alles, was in der Welt möglich ist, existiert in Sarajevo«.899 Gerade die Reise ins ›Herz der Finsternis‹ – nach Serbien – hält für Handke Lichtblicke eines modernitätskritischen Antikonsumismus bereit, der dem Selbstdarstellungsinteresse der serbischen Politik freilich kaum entsprochen haben dürfte. Was der Gegen-Chronist der Winterlichen Reise im vom Krieg weitgehend unbehelligten serbischen Hinterland, fernab der medialen Repräsentationen, findet und feiert, ist die frugale Ursprünglichkeit von »märchendicken Flußfischen«, »walddunklen massigen Honigtöpfen« und »truthahngroßen Suppenhühnern« – eine Epiphanie nicht zuletzt der Dinghaftigkeit jenseits von Markenartikeln und Massenproduktion.900 Der Reiseerzähler entdeckt den rustikalen Reiz einer embargobedingten Mangelökonomie: Dem in Trinkflaschen abgefüllten Benzin wird erneut die ontologische Würde seiner »Zeughaftigkeit« (Martin Heidegger) zuteil, einer »Kostbarkeit« oder eines »Bodenschatz[es].901 In dieser modernitätskritischen ›Dingmystik‹ artikuliert sich ein durchaus modernes Bewusstsein vom Verlust der persönlichen Beziehung zwischen Menschen und Dingen, das nur darum nicht elegisch ist, weil Handke sie in Serbien wieder findet. Seiner Erzählung vom Milosˇevic´-Prozess hat Handke die unbeholfene, stark konturierte Zeichnung eines für den Angeklagten bereitstehenden Wasserkrugs als »Beweis-Dokument« eingefügt, um den Vorwurf einer großserbischen Kriegsideologie, die tatsächlich »nie existiert« habe, zu konterkarieren (Abb. 12).902 Es ist die verlangsamende Schwere des Seins und der Dinge als ›geheimes‹ Gegenthema der Moderne – also gegen deren veloziferische (Goethe) Beschleunigungs- und Leichtigkeitsträume,903 die Handkes Jugoslawien-Texte als buchstäbliches Gegengewicht zur westlich-amerikanischen Konsum- und Popularkultur in Stellung bringen: »Die Bomben haben 898 Dzˇevad Karahasan: Tagebuch der Aussiedlung. Aus dem Serbokroatischen (Bosnischen) von Klaus Detlef Olof. Klagenfurt, Salzburg 1993, S. 67. 899 Ebd., S. 10. 900 Handke: Eine winterliche Reise, S. 71. 901 Ebd., S. 88 (kursiv im Original). 902 Handke: Rund um das große Tribunal, S. 40. 903 Vgl. dazu Joseph Hanimann: Vom Schweren. Ein geheimes Thema der Moderne, München 1999.

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immerhin bewirkt, daß wenigstens eine Jugend auf der Welt geheilt ist von CC und McD. – (Achtung, antiamerikanisch!)«.904 Schon Rilke sah 1925 »die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge […] zur Neige« gehen: »Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten […], sondern ihren humanen und larischen Wert. (›Larisch‹ im Sinne der Haus-Gottheiten)«.905 Rilkes Nachruf gilt einer (idealisierten) Dingkultur persönlicher Beziehungen zwischen Subjekten und handwerklich erzeugten Objekten, deren rapider Untergang mit dem massenhaften Absatz anonymer Industrieprodukte eingeleitet wird. Die Muster dieser (im neunzehnten Jahrhundert schon von Friedrich Theodor Vischer geübten)906 Dingkritik sind über hundertfünfzig Jahre hinweg weitgehend konstant geblieben:907 Auch Handke schreibt in den Phantasien der Wiederholung, wir hätten »keine Achtung mehr vor den meisten alltäglichen Gegenständen, weil sie nicht von Menschen gemacht sind.«908

Abb. 12: Zeichnung Peter Handkes in Rund um das große Tribunal, 2003 (Ó Suhrkamp)

Bereits ein Jahrzehnt vor der Winterlichen Reise, im Gedicht an die Dauer (1986), hat Handke dieses Gegenthema der Moderne zum Thema einer eingehenden phänomenologischen Reflexion gemacht: Denn »[d]ie Dauer drängt 904 Handke: Unter Tränen fragend, S. 44. 905 Rainer Maria Rilke an Witold Hulewicz vom 13.11.25, in: ders.: Briefe. Hg. vom RilkeArchiv in Weimar, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Karl Altheim. Bd. 3, Frankfurt/M. 1987, S. 894 – 901, hier S. 899 (Kursivierungen im Original). 906 Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Kunstbestrebungen der Gegenwart (1843). In: ders.: Kritische Gänge. Bd. 5. Hg. von Robert Vischer 2., vermehrte Auflage München 1922, S. 56 – 87, hier S. 71. 907 Vgl. Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Frankfurt/M. 2006, S. 23. 908 Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 35.

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zum Gedicht«909 – als derjenigen literarischen Form, die dem einzelnen Wort das größte Gewicht beimisst. Der eigentlich selbstverständliche Sachverhalt, dass diese ›Dauer‹ in den Unruhen der Zeitgeschichte nicht zu finden ist, unterstreicht ein weiteres Mal die Distanzierung des lyrischen Sprechers von der politischen Aktualität: »Unnötig vielleicht, zu sagen, / dass keine Dauer ausgeht / von den täglichen Katastrophen, / […] den neuaufflammenden Kämpfen, / dem Zählen der Opfer.«910 Dennoch kann ihr nur eine Beschreibung »gerecht werden«,911 welche die Dauer als Ereignis denkt – und nicht als statische Gegebenheit oder physikalisch messbare Zeiterstreckung. Das »Gefühl« der Dauer ist scheinbar paradoxerweise »das flüchtigste aller Gefühle, / oft rascher vorbei als ein Augenblick, / unvorhersehbar, unlenkbar, / ungreifbar, unmeßbar«;912 es ist »ein Ereignis des Aufhorchens, / ein Ereignis des Innewerdens, / ein Ereignis des Umfangenwerdens, / ein Ereignis des Eingeholtwerdens, / wovon?, von einer zusätzlichen Sonne, / von einem erfrischenden Wind, / von einem lautlosen, all die Mißtöne / zurechtstimmenden / und einigenden zarten Akkord.«913 Der »Ruck der Dauer« »rückt mich zurecht«;914 aber der ästhetisch geschulte Blick impliziert auch eine Korrektur medialer Wahrnehmungsformen. Es ist die Erfahrung des Dauernden jenseits der von Kriegen bewegten Aktualität, die Handke abseits der Fronten in Serbien suchte. Die Aufmerksamkeit auf die unspektakulären ›Nebensachen‹, die der massenmediale Diskurs aufgrund seines Spektakularitäts- und Aktualitätszwangs unterschlägt, impliziert ein poetisches Programm erzählender Zeugenschaft, das sich auch im politischen Diskurs-Umfeld zu bewähren hat: »stiller Zeuge sein«, »nur kein Ausfragen, nur kein Datenforschen, nur kein Sich-Hineindrängen in etwas«, formulierte Handke im Sommerlichen Nachtrag zur winterliche Reise (1997);915 »möglichst genau hinschauen, behalten, bezeugen!« lautet seine Devise auch angesichts der Nato-Bombardements gegen Ziele in Belgrad.916 »Was ich in Jugoslawien erlebt habe, in Palic´, in Beograd, in Porodin 909 910 911 912 913 914 915 916

Vgl. Peter Handke: Gedicht an die Dauer. Frankfurt/M. 1986, S. 9. Ebd., S. 13. Ebd., S. 23. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11 f. Ebd., S. 53 f. Handke: Sommerlicher Nachtrag, S. 191. Vgl. Handke: Unter Tränen fragend, S. 116. – Noch im Bericht seiner (im Mai 2008 unternommenen) Reise in die serbische Enklave Velika Hocˇa im Kosovo widerruft Handke die zunächst angenommene journalistische Rolle, indem er dagegen das Erzählen ausspielt: »Das Vorhaben, anders als all die Male zuvor, bestand bei diesem Besuch freilich nicht nur aus dem bloßen Dabeisein, Mitfeiern, Anschauen und Zuhören. Es drängte mich, den und jenen einzelnen im serbischen Kosovo ausführlich, sozusagen systematisch, in der Rolle des Reporters oder meinetwegen Journalisten, zu befragen, und die Antworten dem entsprechend mitzuschreiben.« – »Doch mit dem regelrechten, systematischen Fragen war es

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an der Morava, in der Frusˇka Gora, bei Novi Sad, das ist den westlichen Medien wie naturgemäß kaum eine Nachricht wert«.917 Der Versuch, dem Beobachteten in erzählender Zeugenschaft gerecht zu werden, impliziert ein Prinzip der poetischen Gerechtigkeit, das Handkes Poetik als dem Erzählen schlechthin inhärent postuliert: »Erzählung, nichts Weltlicheres als du, nichts Gerechteres, mein Allerheiligstes«, heißt es in einem seiner früheren Texte mit kunstreligiöser Überhöhung in einer Apostrophe an den Geist der Erzählung.918 Erzählbarkeit als ethische Gerechtigkeitsprobe löst im kategorischen Imperativ Handkes die Universalisierbarkeitsbedingung der Kantischen Ethik ab: »Die Erzählung, das Erzählen, ist die Moral: handle so, daß du dir deine Handlung als Erzählung vorstellen kannst (handle so, daß deine Handlungen sich zu einer Erzählung fügen [könnten])«.919 Die religiöse Dimension hat Handke auch in seinen Jugoslawientexten immer wieder bemüht. »Nur der Erzähler kann die Menschen verstehen, oder Gott – aber von dem laßt uns schweigen«, sagt die Wandererzählerin im »Königsdrama« Zurüstungen für die Unsterblichkeit.920 Auch in der Geschichte des Dragoljub Milanovic´ bringt der Erzähler den Vergleich mit einer »Predigt« erst einmal auf, bevor er ihn zurücknimmt.921 »Kein Jesus soll mehr auftreten, aber immer wieder ein Homer«, schrieb Handke bereits in den Phantasien der Wiederholung.922 Der Erzähler, der im Geist der homerischen Epik die Sacra Scriptura mitsamt ihrer evangelischen Friedensbotschaft beerbt, zitiert in der Winterlichen Reise dennoch die Logien Jesu: »Laßt die jugoslawischen Toten ihre Toten begraben, und die Lebenden so wieder zurückfinden zu ihren Lebenden.«923 Dem »Allerheiligste[n]924 der Erzählung eignet eine sakramentale Kraft, die an

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vorbei. Die Leute von Velika Hocˇa schienen sich mit dem Reden, und mehr noch mit dem Erzählen leichter zu tun, wenn ihnen keine Richtung vorgegeben wurde.« Peter Handke: Die Kuckucke von Velika Hocˇa. Eine Nachschrift. Frankfurt/M. 2009, S. 8 f. und S. 47. Im Gegensatz zu den abermals der Parteilichkeit beschuldigten Journalisten der Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung will der Erzähler vermeiden, »daß allein schon die Syntax eine Meinung oder ein Vorurteil, weder ein negatives noch auch ein positives, verriete« (ebd., S. 9 f.). Handke: Unter Tränen fragend, S. 71. Handke: Die Wiederholung, S. 333. Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 74 (eckige Klammern im Original). – Zu Handkes Begriff des Erzählens vgl. auch Andreas Schirmer : Peter-Handke-Wörterbuch. Prolegomena. Mit 619 begonnenen Artikeln auf einer CD-ROM. Wien 2007, S. 302 (s.v. »Erzählung«). Handke: Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Ein Königsdrama, Frankfurt/M. 1997, S. 49. Peter Handke: Die Geschichte des Dragoljub Milanovic´. 2. Auflage Salzburg, Wien 2011, S. 5. Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 7. Handke: Eine winterliche Reise, S. 128 (nach Mt 8, 22). Ebd.

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die Gebetsformel der katholischen Gemeinde vor dem Empfang der Eucharistie anklingt: »Ich sage das Wort, und meine Seele ist geheilt.«925 Im religiösen Zeichen schließen sich aber auch Zeitgeschichte und Heilsgeschichte zusammen: Die Serben erscheinen Handke als »Märtyrervolk«, als ein »Volk Hiob«,926 »ein schwerschuldbeladenes, eine Art Kainsvolk«,927 das deshalb – der biblischen Figur gemäß – für jeden Akt der Vergeltung unantastbar sein soll. Abgelehnt wird deshalb eine militärische Intervention, die von den »raubblinden« Publizisten und Politikern des Westens (»Taubblinde – aber leider nicht Stumme«928) gefordert wird. Die Schuld des Krieges stellt zusammen mit dem ihnen widerfahrenden Unglück die Serben ins Zeichen einer Tragik, die sie als »Volk« erst konstituiert: »Wenn heute noch Volk«, äußert in Handkes Drama Fahrt im Einbaum der ›Grieche‹, ein von der Zunft geächteter Journalist, »dann ein tragisches. Und das hier ist ein tragisches Volk.«929 Im 1997 entstandenen Drama Zurüstungen für die Unsterblichkeit ist es die Wandererzählerin, die dem identitätsstiftender Erzählungen bedürftigen Volk Ohr, Nase, Augen und Mund mit Speichel bestreicht:930 So werden nach dem Zeugnis des Markusevangeliums (Mk 8, 23) Taubstumme und Blinde geheilt. Dass »[d]ieses ganze Land da […], hingestreckt unter dem unverändert blauenden, unverändert leerbleibenden Himmel, […] zu einem einzigen stummen, umso mehr aber verkörperten Gebet geworden« sei,931 nähert Handkes Einlassungen freilich einer politischen Devotionalprosa an, die ihn gelegentlich zum Kitschisten der postjugoslawischen Kriege werden lässt. Die ›Gerechtigkeit‹ des Erzählens will jedoch nicht als statisches Urteil, sondern als Prozess verstanden werden – als »eine Tätigkeit, ein Gerechtwerden«932 oder »Zu-bedenken-Geben«,933 das die Statik der öffentlich eingeübten 925 Handke: Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke im Gespräch mit Joze Horvat. Klagenfurt, Salzburg 1993, S. 46. – Vgl. Lk. 7, 6 f. 926 Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 92. 927 Handke: Sommerlicher Nachtrag. In: Abschied des Träumers vom Neunten Land, S. 86. 928 Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 94 (»der Grieche«). 929 Ebd., S. 92. – Vgl. auch Handke: Rede zur Eröffnung der Belgrader Buchmesse am 21. Oktober 1997. In: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, S. 266 – 271, hier S. 267: »Ich mag das Wort Tragödie nicht. Aber in dem Fall Jugoslawien ist das Wort ›tragisch‘ angebracht. Und auch die Serben oder Jugoslawen, die schuldig geworden sind, sind auf eine tragische Weise schuldig geworden. Während die internationale Gemeinschaft auf eine zynische Weise schuldig ist.« 930 Handke: Zurüstungen für die Unsterblichkeit, S. 49. 931 Handke: Unter Tränen fragend, S. 29 f. 932 Handke: Nachmittag eines Schriftstellers. Frankfurt/M. 1989, S. 75. 933 Handke: Eine winterliche Reise, S. 124. – Vgl. auch Handkes Betonung der Unabschließbarkeit dieses Prozesses in den Phantasien der Wiederholung: »Sag nie: ›Sei gerecht!‘, sondern: ›Werde gerecht!‘ Es ist immer ein Werden – ein Aufschwung –, sich gerecht zu verhalten; ein Aufraffen« (Handke: Phantasien der Wiederholung, S. 18).

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Urteilsschemata unterläuft. Aus dieser Bedingung seiner Poetik erklärt sich nicht nur Handkes Ablehnung des ›westlichen‹ journalistischen Diskurses, sondern auch der justiziellen Gerechtigkeitspraxis des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, dessen Autorität in den Jugoslawien-Prozessen Handke bestritt. Dass die Informationsmedien ihren Fokus auf die ›heißen‹ Kriegsschauplätze in Bosnien richten und dabei das Land im Abseits übersehen, wurde Handke zum Motiv seiner erzählenden Zuwendung. Gerade angesichts des information overload der Kriegsberichterstattung ist für ihn »Serbien noch geheimnisvoller geworden. Nur wenige haben über Belgrad erzählt. Fernsehen und Zeitungen schreien nach Kanonen, Explosionen und verstümmelten Körpern. In Belgrad gibt es die nicht. Die Attraktion ist schwach, aber es gibt auch keine Verzweiflung. Die ist vergraben, und den Journalisten fehlt die Zeit, nach ihr zu suchen. Vielleicht ist das Aufgabe der Schriftsteller.«934 Die »nackte, intensivierte Wort- und Bilder-Pornographie«, die Handke in »Zeitungen und Fernsehen« erblickt, ist dagegen die Form einer erkenntnislosen Nähe,935 die sich an das Spektakuläre hält. Als Aufmerksamkeit für das Unbeachtete hat ähnlich wie Handke auch Jean-FranÅois Lyotard die Gerechtigkeit bestimmt: »Gerecht ist, sich ausdrücklich für etwas empfänglich zu halten, was immer vergessen wird.«936 Ihr Gegenteil ist die terreur eines ›unwidersprechlichen‹ Monologs, den Handke in der ›einstimmigen‹ Berichterstattung und Kommentierung der Informationsmedien wahrnimmt: »den anderen die Fähigkeit nehmen, auf diese Ausschließung zu antworten.«937 Dass Handkes Einschätzung der ›westlichen‹ Massenmedien dabei so pauschalierend und einseitig geriet, wie er es ihrer Informations- und Meinungspolitik selber vorhielt, stellt den Preis für den polemischen Gegensatz von aktualistischer Medialität und Sensibilität des Literaten dar. Indem Handke das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit mit der zeitgeschichtlichen Gegenwart der Jugoslawien-Kriege verknüpfte, politisierte sich sein poetisches Programm. Das diskursive ›Abseits‹ seiner literarischen Beschreibungen wird in einem geopolitischen Raum lokalisiert, dessen Wahl der öffentliche Diskurs als politische Parteinahme wertet. Vor allem an Handkes Aufwerfen der Schuldfrage und seiner Infragestellung von Täter- und Opfer934 Peter Handke im Gespräch mit Maurizio Chierici, in: Chierici, Handke: Ich bin der »Terrorist« für den Frieden. In: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, S. 125 – 131, hier S. 129 (zuerst in italienischer Sprache abgedruckt in: Corriere della Sera vom 15. 3. 1996). 935 Handke: Unter Tränen fragend, S. 155. 936 Christine Pries, Jean-FranÅois Lyotard: Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-FranÅois Lyotard und Christine Pries. In: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Hg. von Christine Pries. Weinheim 1989, S. 327. 937 Jean-FranÅois Lyotard: Postmoderne Moralitäten. Hg. von Peter Engelmann, Wien 1998, S. 181 f.

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rollen entzündete sich die politische Diskussion: Dass die serbischen Gewalthandlungen in Bosnien durch die staatlichen Separationen Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas ›provoziert‹ worden seien (»Wer nun war der Angreifer?«938), bildet einen der Brennpunkte der Debatte. Der Fragemodus, in den Handke immer wieder den Behauptungsgestus seiner Aussagen zurücknimmt, gerät oft genug in die Nähe der Insinuation. Nicht zuletzt ist es die (von Jean Baudrillard forciert formulierte) Kritik an den medialen ›Simulakra‹, gegen die sein Erzählen – als Korrektiv einer ›einseitigen‹ Medien-Repräsentation des Krieges – antritt: »Aber die Wirklichkeit, gibt’s die denn noch?«939 Sein Reisebericht Unter Tränen fragend endet mit einem bezeichnenden Satz, der die Repräsentation Serbiens in den Medien der »Westler[]« im Ganzen als ›Propaganda‹ denunziert: »Das Zeitalter der Informationen ist vorbei.«940 Die Relevanz von Stellungnahmen im politisch-publizistische Diskurs bemisst sich jedoch am Maßstab der ›Information‹. Dass Handkes Reisebericht »kein einziges recherchiertes oder nur zitiertes Indiz auf noch nie berichtete Kriegsverbrechen der ›anderen Seite‹, kein einziges neues Faktum« enthält, gehörte für Peter Schneider zu den entscheidenden Einwänden gegen seine »Parteinahme für die Serben«.941 Auf der anderen Seite ist es der Gestus ›sokratischer‹ Unwissenheit und die Unkorrumpierbarkeit des Literaten hinsichtlich diskursiver wie politischer ›Macht‹, die Handke gegen die Kompetenzbehauptung des politischen Diskurses ins Feld geführt hat: »Vielleicht weiß ich zu Jugoslawien nichts, oder zu wenig. Aber ich weiß: Ich bin kompetent. […] Weil mich die Macht nie fasziniert hat.«942 Dass Handke dennoch in Den Haag die Nähe des ehemals Mächtigen Milosˇevic´ (oder auch die des vom Haager Gericht verurteilten Novislav Djajic´) gesucht hat, gehört schon zur Dynamik der Verschiebung im Streit der Diskurse, auf den sich Handke eingelassen hat. 5.2

»Man müßte Shakespeare sein«. Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg

Dass die Grenzen des Wissens mit den Grenzen der Sprache indes nicht identisch sind, so anfechtbar die Rede jenseits der ›Information‹ auch gerät, hat Handke im bereits zitierten Interview mit der Zeitschrift profil deutlich gemacht: »Mehr weiß ich auch nicht. Man müßte Shakespeare sein, um das besser darzustellen«:943 Nicht zufällig bringt Handke die (politische) Dramatik 938 939 940 941 942 943

Handke: Eine winterliche Reise, S. 39. Handke: Rund um das große Tribunal, S. 21; vgl. auch S. 69 und S. 12 f. Handke: Unter Tränen fragend, S. 157 bzw. S. 158. Schneider: Der Ritt über den Balkan, S. 163. Handke: Moral ist ein anderes Wort für Willkür. Peter Handke: »Nackter, blinder, blöder Wahnsinn«, S. 148.

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Shakespeares ins Spiel: Wie in den Königsdramen des elisabethanischen Theaters dreht sich die postjugoslawische Zeit- und Kriegsgeschichte für Handke um Machtinteressen nicht zuletzt westeuropäisch-amerikanischer Akteure, die mit ihrer Begünstigung nationalstaatlicher Sezessionen für das »Unheil« der Kriege mitverantwortlich seien. Auch Handkes eigene Versuche, die Geschichte der politischen Gegenwart darzustellen, führen auf das Theater. Aber anders als Shakespeares Dramen – Modelle der Zeitgeschichtsdarstellung noch bei Elfriede Jelinek –944 macht das 1999 unter Claus Peymanns Regie am Wiener Burgtheater uraufgeführte (und sogleich als ›Skandalstück‹ apostrophierte945) Drama Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg schon im Titel deutlich, dass es selbst unter der Gattungsbedingung der Unmittelbarkeit nur um eine medial vermittelte Darstellung – oder um eine Darstellung der medialen Vermittlung – gehen kann. Handkes Drama variiert die selbstreferenzielle Struktur eines ›Stücks im Stück‹: Vorgeführt wird das Casting im »Speisesaal eines großen Provinzhotels irgendwo im tiefsten oder innersten Balkan«,946 das ein Amerikaner und ein Spanier für einen gemeinsamen Film durchführen wollen. John O’Hara ist ein Western-Regisseur, zuständig für die filmische ›Totale‹, für Aktionen und Dialoge, die story in der history ;947 Luis Machado ist der Spezialist für »Monologe« und »Träume« in naheinstellender Großaufnahme.948 Mit der Zeit, in der Handkes Zeitgeschichtsdrama spielt, antizipiert es jedoch einen distanten Standpunkt, der im Jahr des Kosovokrieges nur erst fiktional zu beziehen ist: »etwa ein Jahrzehnt nach dem vorläufig letzten Krieg«,949 also am Ende der ersten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Im fingierten zeitlichen Abstand zu den Ereignissen der Kriege simuliert das Stück die ästhetische Bedingung seiner eigenen Möglichkeit; diese Metafiktion, mit der das Drama seine fiktionalen Bedingungen offen legt, stellt es jedoch als reale Möglichkeit hin, ohne die Realisierung seiner Bedingung abzuwarten. Indem es die Logik der Zeitverhältnisse von Nähe und Distanz unterläuft, unternimmt Handkes Drama den Versuch, vorwegnehmend bereits den zurückgewandten Blick mitzubestimmen, der die zeitgeschichtliche Erinnerung an die Kriege in der Zukunft prägen wird. 944 Vgl. Ortrud Gutjahr (Hg.): Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann. Würzburg 2007 (Theater und Universität im Gespräch; 5). – Jelinek hat die Veröffentlichung des Dramas, das die Bezeichnung »Königinnendrama« trägt, nicht gestattet. 945 Zu Handkes Stück vgl. auch Franziska Schößler : Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen 2004 (Forum Modernes Theater ; 33), S. 200 – 211. 946 Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 9. 947 Vgl. ebd., S. 42 (O’Hara): »Die History ist für mich nur Material, eine Story zu erzählen.« 948 Ebd., S. 22. 949 Ebd., S. 8.

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Tatsächlich geht es bei der Auftragsproduktion des »europäisch-amerikanischen Gemeinschaftsfilm[s] vom Krieg«, für den die Darsteller »der Helden und der Schurken« gesichtet werden sollen,950 um nichts Geringeres als um die Produktion von Geschichtsmächtigkeit qua medialer Gedächtnismacht: »Wir beide bestimmen, nach Anhören der einen und der andern, die Geschichte. So haben unsere Produktionsgemeinschaften hüben und drüben es sich zumindest vorgestellt.«951 Indem die Dramenhandlung einer Reihe potentieller Zeugen – Statisten und zufällig Vorbeikommende, Einheimische wie Auswärtige – Gehör gibt, verwandelt sie die Bühne in ein Anhörungstribunal, in dem die Instanz des Richters freilich eliminiert ist. Bereits eines der Mottos, mit dem Handke den bosnischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andric´ zitiert, weist eine moralisch selbstgefällige ›Euphorie‹ zurück, welche nur »fürchterliche und erbarmungslose, ja sogar blutrünstige Richter« hervorbringe.952 Die heterogenen Stimmen, welche sich im Dialog der dramatis personae artikulieren, ergeben jedoch gerade keine semantisch homogene ›Totale‹, sondern nur untereinander inkompatible Interpretationen der Kriegsgeschichte; es entspricht der ›postmodernen‹ Verabschiedung des Autors und des universalgeschichtlichen Logos, dass der Autor des Filmskripts, dessen Rollenvorgaben die dissonante Vielheit der Stimmen laut werden lassen, nach Aussage des Ansagers »spurlos verschwunden; verschollen« ist: »Jedenfalls sind Sie den Autor los. Und außerdem wird er nicht mehr gebraucht. Sie sind frei.«953 Statt einer monologischen Instanz, die einen aussagbaren Sinn der Geschichte garantieren könnte, existieren »tausend einander widersprechende[] Geschichtsbücher«,954 deren Konkurrenz ihre Wahrheitsbehauptungen wechselseitig dekonstruiert. Die Logik indes, welche Handkes Sprachkritik zufolge politische Publizistik und poetisches Erzählen, Zeitgeschichte und Gegen-Geschichte als inkommensurable Diskurse miteinander konfrontiert, organisiert auch das Grundgerüst des Dramas. Die drei »Internationalen« personifizieren auf der Bühne die »Weltmedienverbände«,955 jene ›Auslandsreporterhorde‹ der Handkeschen Publizistenbeschimpfung seit der Winterlichen Reise und damit den tonangebenden politisch-publizistischen Diskurs, der sich durch das Ensemble von kapitalistischem Markt, medialer Macht und gelenkter Öffentlichkeit definiert: »Uns gehört die Sprache zu diesem Krieg«; jede andere wird dagegen – mit einer stehenden Wendung des von Handke kritisierten ›Humanitätsjargons‹ – als

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Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 7. Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 43. Handke: Eine winterliche Reise, S. 128.

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»Verhöhnung der Opfer« denunziert.956 Aber nicht nur das Kommunikationsund Repräsentationsmedium der »Sprache zum Krieg« wird in Handkes Stück von den »Internationalen« okkupiert, denen von einem diskreditierten Journalisten die patentierten »Rechte« auf die Darstellung und Diskursivierung des Krieges bescheinigt werden,957 »sondern auch sein Bild. Und uns gehört das Alleruniversalste: die Bilder-Geschichten!«958 Ihnen zugeordnet ist auch ein international renommierter »Historiker« und urteilsscharfer Analyst der Kriegsgeschichte des serbischen »Verbrechervolk[s]«959 und des bosnischen ›Opfervolks‹, der den ›Chronisten‹ als »Volksmystiker«960 denunziert: Er repräsentiert Geschichte in ihrer ›weltöffentlichen‹ Lesart. Gegen die Präparierung der Zeitgeschichte als mediales, mit fertigen Urteilsanleitungen ausgestattetes Produkt aber legen jene Figuren Einspruch ein, in denen der Dramatiker und Reiseerzähler nicht zuletzt die eigene Rolle in der medialen Öffentlichkeit reflektiert: Der »Chronist«, einheimischer Heimatforscher und »Amateur«, versieht ganz in Handkes Sinn die Rolle eines Advokaten für den jugoslawischen Vielvölkerstaat, während er den »erkünstelten und herbeimassakerten Kleinstaat« ablehnt.961 Der »Irrläufer« oder »Waldgänger«, den ein internationales Tribunal für sein bloßes »Dabeistehen und Aufnehmen«962 als Verbrecher schuldig spricht, erscheint als Opfer eines »Weltkomitee[s] für Ethik« und »Internationale[n] Ästhetik-Institut[s]«, in dem sich Handkes Wahrnehmung des Den Haager Tribunals und der Skandalisierung der eigenen Autorschaft offenbar überkreuzen.963 In der Figur des »Griechen«, eines in Misskredit geratenen Journalisten, modelliert Handke schließlich den Chronisten einer Gegen-Geschichte, der – wie Handke es im »Umwegzeugenbericht« auch für sich selbst formulierte – »auf Umwegen«964 eine andere Art von Informationen gewinnt, ohne die kein Friede möglich erscheint, und der an der unheilbaren ›Krankheit‹ der Skepsis laboriert: das scheinbar Offenkundige und ständig Wiederholte nicht glauben zu können. Schon in seiner Ansprache zur Eröffnung der Belgrader Buchmesse am 21. Oktober 1997 hat Handke die Marginalisierung 956 957 958 959 960 961 962 963

Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 70. Ebd., S. 75. Ebd., S. 70 f. Ebd., S. 35. Ebd., S. 34. Ebd., S. 27. Ebd., S. 50. Ebd., S. 14. – Zur Beziehbarkeit der Figur auf den vom Internationalen Gerichtshof verurteilten Novislav Djajic´ vgl. Andrzej Denka: Vom Bocksgesang (1993) zum Krebsgang (2002). Das Tragische im inszenierten Erinnerungsraum bei Botho Strauß, Peter Handke und Günter Grass. In: Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hg. von Carsten Gansel und Pawel Zimniak. Göttingen 2010 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien; 3), S. 241 – 263, hier S. 259 f. 964 Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 77.

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dieses aus dem Meinungsmarkt herausgedrängten Typus des »guten Journalisten« thematisiert, den sein ›jugoslawisches Drama‹ von 1999 als Figur auf die Bühne stellt: »[S]ie sind lächerliche Figuren geworden. Aber schriebe man ein Theaterstück über das jugoslawische Drama, zählten sie zu den Helden.«965 Sie versehen die (im wörtlichen Sinn) ausgefallene Funktion der Gegen-Geschichtsschreiber, weil auch durch ihr Schreiben ein »Wind von Thukydides her« weht.966 Die im politischen Diskurs vernachlässigte Friedenschance liegt Handke zufolge jedoch in der Hinwendung zum transhistorisch Gemeinsamen gegenwärtiger, elementarer Welterfahrung; eine Chance, die auch er mit der »Friedensschrift«, der Winterlichen Reise, wahrnehmen will. »Am Fluß stehen: das ist Frieden. An den Flüssen stehen: das wird Frieden sein.«967 Eine Erzählung, die davon handelt, ist offenbar das Gegenteil jener großen nationalen oder ideologischen Erzählungen, mit denen sich die »Töterich[e]«968 der postjugoslawischen Kriege legitimieren. Die »schwache, piepsige«969 Stimme der Wandererzählerin im Drama Zurüstungen für die Unsterblichkeit taugt jedenfalls kaum für die »Volksleidensgeschichten vom Amsel- bis zum Krähenfeld«,970 also die noch zur Rechtfertigung der Vertreibung der Kosovo-Albaner herbeigezogene serbische Nationalmythe.971 Handkes ›präpolitisches‹, freilich von aggressiver Polemik gegen die politische Presse-Berichterstattung flankiertes Erzählen vom Land der ›Geächteten‹ Handke: Rede zur Eröffnung der Belgrader Buchmesse, S. 267. Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 98. Ebd., S. 116. Ebd., S. 32. – Handkes Formulierung hat den Vorwurf einer Bagatellisierung oder Infantilisierung auf sich gezogen: »[W]er dächte nicht spontan an den Polizisten ›Unkerich‹ aus den ›Lurchi‹-Heften oder an den ›Struwwelpeter‹-Vers ›Der Friederich, der Friederich, der war ein arger Wüterich?‹« (Frauke Meyer-Gosau: Kinderland ist abgebrannt. Vom Krieg der Bilder in Peter Handkes Schriften zum jugoslawischen Krieg. In: Peter Handke. Text+Kritik 24 (1999), S. 3 – 20, hier S. 14.) Vgl. auch Schößler : Augen-Blicke, S. 203. – Der Vorwurf bezog sich auch auf den Vergleich der serbischen Belagerer Sarajevos mit den »auf den Felsklippen« für ihre Freiheit kämpfenden Indianern amerikanischer Westernfilme; vgl. Handke: Sommerlicher Nachtrag, S. 249 f. Dass in Bosnien und Kroatien Teile der Verfilmung von Karl Mays Winnetou gedreht wurden, gehört zum Motivationshintergrund von Handkes Assoziation. 969 Handke: Zurüstungen für die Unsterblichkeit, S. 49. 970 Ebd., S. 83. 971 Die ›Amselfeld-Rede‹ des damaligen KP-Vorsitzenden Milosˇevic´ vom 28. 6. 1989 wurde vielfach (aber nicht unwidersprochen) als Ankündigung der späteren Kriegsauseinandersetzungen gewertet. – Auch im Reisebericht Die Kuckucke von Velika Hocˇa bestreitet Handke die legitimatorische Funktion der »Schlacht auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld«, für das Rechts- und Unrechtsempfinden der serbischen Bewohner des Kosovo: »Dieses Recht brauchte keine Legende und schon gar keinen Mythos. Das Recht auf das Land kam aus dem Jetzt und dem Hier. Und dieses Land mußten die Leute von Velika Hocˇa nun, mir nichts, dir nichts, als verloren ansehen?« Handke: Die Kuckucke von Velika Hocˇa, S. 94 f.

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will sich demzufolge jenseits ideologischer Rede situieren. Vor allem aber soll es den Bann eines sanktionistischen Blickverbots brechen: Schon die erste winterliche Reiseerzählung wollte die medial erzeugte »Bilderstarre« lösen, indem sie die abgeschatteten Ränder rings um die medialen ›Spots‹ sichtbar macht. Handke vertraut einer genuin irenischen Kraft der erzählten Erinnerung an die (aus politischen Gründen) übergangene Gegenwart, welche den universalen Geltungsanspruch der unversöhnlichen Informationen in die Schranken weist: Kommst du jetzt mit dem Poetischen? Ja, wenn dieses als das gerade Gegenteil verstanden wird vom Nebulösen. Oder sag statt ›das Poetische‹ besser das Verbindende, das Umfassende – den Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, gemeinsame Kindheit.972

Kraft der versöhnenden Potenz, die Handke der erzählenden, ›poetischen‹ Rede zutraut, die aus der Hölle der verfestigten Feindbilder erlösen soll,973 wächst der Status der Erzählung über das Politische hinaus ins Religiöse; erneut also in eine »Zeitlosigkeit«, die unter der Chiffre der ›ewigen Kindheit‹ bei Handke bereits eingeführt ist. Auch das Motto des Dramas Die Fahrt im Einbaum markiert diese Differenz des Poetischen vom Diskurs der politischen Geschichte: »Es ist … ein Unmerkliches, welches wohlempfunden sein will, und durch das Ganze durchgehen muß, aber höchst wichtig, weil der poetische Vortrag sich dadurch ganz eigentlich und einzig von dem geschichtlichen unterscheidet.«974 Handkes Nachweis – »Johann Wolfgang von Goethe, Serbische Lieder« – ist freilich nicht ganz korrekt: Nicht in dem 1824 entstandenen Aufsatz über serbische ›Volksdichtung‹ unterstreicht Goethe den Unterschied zwischen Historiografie und Poesie, sondern in einem Aufsatz über Nationelle Dichtkunst von 1827 (der ebenfalls von »serbische[r] Dichtkunst« handelt975). Der eingetauschte Titel eskamotiert Serbien als ›nationelle‹ Größe, indem er an seine Stelle das Poetische (die »Lieder«) setzt. Und während die Differenz des poetischen vom geschichtlichen »Vortrag« bei Goethe an der vergegenwärtigenden Qualität der Dichtung festgemacht wird, wird das Poetische durch Handkes Auslassung im Zitat zum abstrakt ›Anderen‹ des historischen Diskurses schlechthin.976 972 Handke: Eine winterliche Reise, S. 133. 973 Vgl. Handke: Sommerlicher Nachtrag, S. 249: »Und das hier soll eine heutige Geschichte sein? Wer soll das heutzutage lesen – eine Geschichte ohne menschheitsfeindliche Bösewichte, ohne ein Feind-Bild?« 974 Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 7. 975 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Nationelle Dichtkunst. In: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Bd. 18,2. München, Wien 1996, S. 107 – 121, hier S. 108. 976 Das von Handke ausgelassene Demonstrativpronomen (»Es ist dieses ein Unmerkliches«, Hervorhebung C.D.) bezieht sich auf die im vorangehenden Satz benannte »unmittelbar

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Widerstreit und Absorption

Es ist ein vertiefter Welt- und Problemzugang der Literaten, welcher die gesellschaftliche Aufmerksamkeit und die Nachfrage der Medien nach Stellungnahmen von Schriftstellern zu zeitgeschichtlichen Ereignissen motiviert. In kulturgeschichtlicher Langzeitperspektive handelt es sich um den Rest eines Dichter-Bildes, das dem Autor einen privilegierten, ›divinatorischen‹ Zugang zur Wahrheit zutraut. Von daher rührt die Rollenerwartung, die Literaten als gesellschaftliches ›Gewissen‹ ansieht und die von Autoren wie Günter Grass oder Hans Magnus Enzensberger bedient wird. Schon die Publikationsgeschichte von Handkes Anstoß gebendem Reisebericht macht eine Differenz zwischen ›politischen‹ und ›poetischen‹ Diskursen deutlich, zwischen denen sich ein ›Widerstreit‹ austrägt. Während seine Winterliche Reise im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung den (redaktionell festgelegten977) Obertitel Gerechtigkeit für Serbien trug, hat die im gleichen Jahr erschienene Buchfassung im SuhrkampVerlag das Verhältnis von Ober- und Untertitel umgestellt (Eine Winterliche Reise […] oder Gerechtigkeit für Serbien). Derselbe Text wird je nach Publikationsmedium auf verschiedene – politische oder poetische – ›Lesarten‹ hin präpariert. Im publizitären Raum aber erlangen die Äußerungen von Literaten eine provozierende und polarisierende Valenz, die der ›Kunst‹ an ihren institutionellen Orten kaum mehr zukommt oder zugestanden wird. Dass Handkes Reisebericht bei seiner Lesereise meist positiv aufgenommen und seinem Drama Die Fahrt im Einbaum bei der Premiere am Wiener Burgtheater trotz einer politisch gespaltenen Öffentlichkeit vom Publikum fast »einhellig« applaudiert wurde,978 weist auf diese tendenziell neutralisierende Funktion der ›Kunst‹ (selbst in ihrer pragmatischsten Form, dem Theater) ebenso hin wie die Ovationen, die Martin Walsers Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche zunächst zuteil geworden sind.979 Zwischen Handkes ›poetischer‹ Position und seiner öffentlichen Positionierung scheint sich damit ein Widerspruch aufzutun: Einerseits bedient er sich der darstellende Art […], die uns gerad in die Gegenwart des Erzählten versetzt.« Goethe: Nationelle Dichtkunst, S. 108. 977 Vgl. Thomas Deichmann: Einleitung. In: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, S. 16. – Peter Handke: Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 4 vom 5./6./7. 1. 1996 und Nr. 10 vom 13./14. 1. 1996, jeweils S. I – IV (Feuilletonbeilage). 978 Vgl. Gerhard Scheit: Ein Volksstück. Über Handkes Fahrt nach Serbien und Peymanns Fahrt nach Berlin. In: konkret 7/1999, S. 46 f., hier S. 47. – Elisabeth von Thadden wies darauf hin, dass Handke den Text seiner Winterlichen Reise für die Lesungen geglättet und ›anstößige‹ Passagen ausgespart habe (Thadden: Auch eine Art Publikumsbeschimpfung). 979 Vgl. dazu auch die Streitschrift von Dieter Borchmeyer : Martin Walser und die Öffentlichkeit. Von einem neuerdings erhobenen unvornehmen Ton im Umgang mit einem Schriftsteller. Frankfurt/M. 2001, S. 9.

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Medien öffentlich-politischer Publizität (einschließlich der serbischen Staatsmedien) und sorgt für seine mediale Präsenz, während er andererseits die Medien des ›Westens‹ einer aggressiven Schelte (»Giftschlammschmeißer«980) unterzieht. Einerseits erklärt er bei der Entgegennahme des Preises der Belgrader Buchmesse seine Solidarität mit dem »serbischen Volk«, reist anlässlich der Nato-Bombardierungen nach Belgrad, lässt sich zum ›serbischen Ritter‹ ernennen981 und kündigt die Rückgabe des 1973 erhaltenen Büchnerpreises an (während der symbolische Bruch mit dem offiziellen Literaturbetrieb für seine Publikationstätigkeit ohne Folgen blieb). Andererseits zog sich Handke aus dem Zeugenstand vor den Schranken des Haager Gerichts, in den er durch Milosˇevic´s Verteidigung als »expert witness« berufen worden war, an den neutralen Ort der Zeitschrift Literaturen zurück: »Aber ich will nicht als Politiker reden.«982 »[A] lles, nur nicht als Partei auftreten.«983 Handkes literarische Einlassungen zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien gehen jedoch von dem Versuch aus, mittels der literarischen Erzählung der zweiwertigen Logik von Pro und Kontra, Freund- und Feindschaft, Opfern und Tätern, ein ›Drittes‹ (tertium datur) hinzuzufügen: »Mir fehlen die Dritten. So Leute wie ich.«984 In seinem Kleinen Versuch über den Dritten hat Handke diese Figur – ausgehend von einem Gedicht von Alfred Kolleritsch – als Stimme »aus einer, meinungs- und eindeutigkeitsfreien, Ferne« bestimmt985 (während die Geschwätzigkeit des massenmedialen Diskurses stets die größtmögliche Nähe zu den Ereignissen suggeriert): »Jetzt, nach all dem Gerede, bin ich an der Reihe, das Dritte, das Gedicht.«986 Das von der zweiwertigen Logik »ausgeschlossene[] Dritte« des Poetischen setzt gleichsam den Redezusammenhang – »die Schlagund Schlagerzeilen, die Meinungen, die Urteile, die Alternativen, die Reklamesprüche, die Zeitansagen«987 – für die Dauer des Textes aus. Während sich die öffentliche Urteilsbildung in Freund-Feind- oder Täter980 Handke: Unter Tränen fragend, S. 58. 981 Vgl. die tageszeitung Nr. 5802 vom 3.4. (Ostern) 1999, S. 8. 982 Handke: Moral ist ein anderes Wort für Willkür. – Die ›Sachverständigkeit‹ von Handkes Zeugenschaft entspricht seinem Selbstverständnis: »Ich möchte nicht bekannt sein als ›Schriftsteller‹, sondern? als Sachverständiger (der seine Sache liebt)«. Handke: Die Geschichte des Bleistifts, S. 81. 983 Peter Handke: Die Tablas vom Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milosˇevic´. In: Literaturen 7/8 (2005), H. 7/8, S. 84 – 103, hier S. 87. Auch dieser Text ist unter gleichem Titel bei Suhrkamp in Buchform erschienen (Frankfurt/M. 2006). 984 Handke: »Nackter, blinder, blöder Wahnsinn«, S. 153. 985 Peter Handke: Wer spricht in den Gedichten von Alfred Kolleritsch? Kleiner Versuch über den Dritten. In: Alfred Kolleritsch: Gedichte. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Peter Handke. Frankfurt/M. 1988, S. 7 – 10, hier S. 8 (wiederabgedruckt in Handke: Langsam im Schatten, S. 167 – 171, hier S. 167). 986 Handke: Kleiner Versuch über den Dritten, S. 9 (Handke: Langsam im Schatten, S. 169). 987 Handke: Kleiner Versuch über den Dritten, S. 7 (Handke: Langsam im Schatten, S. 167).

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Opfer-Schemata verfestigt, geht es dem Reisenden des Sommerlichen Nachtrags »mit [s]einem Wissen so, daß es immer ungewisser wurde, während die Ahnung […] immer gewisser wurde – die Ahnung, oder eben jener dritte Blickwinkel, der kaumwo je vorkam – nicht vorkommen durfte – und warum nicht?«988 In der Abgrenzung seiner poetischen, ›ahnenden‹, von der politischen, sich informiert wissenden Rede, der harschen Kritik an der politisch-journalistischen Sprache der Informationsmedien, aber auch durch den Gestus der Unzuständigkeit gegenüber unmittelbar politischen und rechtlichen Fragen (»Was soll ich dazu sagen?«989) hat Handke auf diese Distanz stets aufs Neue insistiert. Dass Hans Magnus Enzensberger, wie Willi Winkler im Interview mit Handke bemerkt, »wie ein Politiker« spricht, »die U™K bewaffnen« möchte und der Nato Ratschläge erteilt, stellt ihn für Handke auf eine dem ›poetischen‹ Modus völlig abgewandte Seite: »Der weiß immer, wo’s langgeht […].«990 Die von Handke angestrebte Position des ›Dritten‹ sieht der zweiwertige politische Diskurs freilich nicht vor.991 Nimmt man sein Selbstverständnis beim Wort, so lassen sich Handkes Einlassungen auf die zeitgeschichtliche Wirklichkeit als Versuch interpretieren, die Paradoxien zwischen seinem ›poetischen‹ und dem ›politischen‹ Diskurs nicht zu lösen, sondern ihren Widerstreit durch das eigene Beispiel auszutragen oder zu ›bezeugen‹.992 Der Vorwurf, Handke halte seine Rollen nicht auseinander und verwechsle die Diskurse,993 wird seinem Verständnis von Literatur und politischer Öffentlichkeit daher kaum gerecht. Handke äußert sich nicht als Intellektueller, der zum öffentlichen Diskurs mit kritischer Kompetenz beiträgt, sondern dezidiert als Literat, der eine ganz andere, unvorhersehbare Sicht ins Spiel der publizistischen Medien zu bringen sucht. Dass Handke sein Programm der ›poetischen‹ Zeugenschaft dem öffentlichen Diskurs auf riskante – und hinsichtlich der provozierten Kritik zugleich absehbare – Weise aussetzt, impliziert die Bereitschaft, sich im Sinne des öffentlich-politischen Diskurses ›unmöglich‹ zu machen. Aber der Diskurszusammenhang, in den Handke sich irritierend einschalten 988 Handke: Sommerlicher Nachtrag, S. 243. – Im Drama Die Fahrt im Einbaum äußert einer der drei ›Internationalen‹: »Das ist kein Land, das ist eine Grauzone. Und Grauzonen können geopolitisch nicht mehr geduldet werden.« (Handke: Die Fahrt im Einbaum, S. 93.) 989 So Handke zweimal im Interview mit der Süddeutschen Zeitung; Handke: Moral ist ein anderes Wort für Willkür. 990 Willi Winkler im Interview mit Peter Handke, ebd. – Handke fährt fort, Enzensberger sei »ein grinsender höhnischer Zuschauer, der menschgewordene Hohn« (ebd.). 991 »Nicht am Platz zu sein« bezeichnet Handke als seine »vorherrschende Vorstellung« nach der Rückkehr nach Frankreich im April 1999 (Handke: Unter Tränen fragend, S. 81). 992 Vgl. Jean-FranÅois Lyotard: Le Diff¦rend. Paris 1983. 993 Vgl. etwa Christoph Parry : Zeitgeschichte im Roman. Der Schriftsteller und die Zeitgeschichte. Peter Handke und Jugoslawien. In: Erinnerte und erfundene Erfahrung. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hg. von Edgar Platen. München 2000, S. 116 – 129, hier S. 117.

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will, setzt seine eigene Logik und Dynamik durch. Das zeigt sich auch daran, dass im öffentlichen Raum an die Stelle des ›authentischen‹ (und Authentizität beanspruchenden) Autors die medial erzeugte Figur ›Peter Handke‹ trat: Während man seine anstößigen Äußerungen immer wieder in der Presse zitierte, wurden Handkes Selbstkorrekturen und Verurteilungen der Verbrecher des Krieges weithin ignoriert.994 Zu dieser Vereinnahmung durch den öffentlichen Diskurs gehört jedoch auch, dass Handkes eigenes Handeln dem fremdbestimmten Bild zunehmend entsprach und der Ton der Auseinandersetzung sich verschärfte: »Pro-serbisch ist für mich heute ein Ehrentitel.«995 Während er noch bei der Trauerrede für Slobodan Milosˇevic´ den Standpunkt des ›unwissenden‹ Beobachters und Zeugen zu behaupten versuchte,996 setzte seine bloße Anwesenheit am Ort ein ›eindeutiges‹ politisches Zeichen. Handkes Rechtfertigung seiner Teilnahme zeigte zudem, wie sehr seine Position ›autonomer‹ Zeugenschaft sich ihre Koordinaten vom öffentlich-politischen Diskurs vorgeben ließ: Es sei die Sprache der »Westmedien«, der Sprecher des Den Haager 994 Vgl. etwa Handkes »voller Wut auf die serbischen Verbrecher, Kommandanten, Planer« in Srebrenica geäußerte Verurteilung: »Es handelt sich bei Srebrenica um das schlimmste ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde.« Peter Handke: Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 125 vom 1. 6. 2006, S. 13. Wieder abgedruckt in: Handke: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln, S. 508 – 512. – Zit. auch auf der »Peter Handke Homepage« (»Aktuell«), URL: www.peterhandke.at/DesktopDefault.aspx?abindex=20tabid=76 (Abrufdatum: 29. 1. 2008). – Vor allem Handkes Roman Die morawische Nacht wurden aufgrund von Stellen wie dieser als Distanzierung von seinem ›proserbischem‹ Standpunkt gelesen: »Was hatte er bloß bei den Verlorenen auf dem Balkan zu suchen gehabt? Warum sie nicht ihrem Schicksal überlassen? Aber war das überhaupt noch der Balkan? […] Der Verlorene, war das nicht in Wirklichkeit er? Ein Griff in den Staub war das Unternehmen der Nacht gewesen?« (Peter Handke: Die morawische Nacht. Frankfurt/M. 2008, S. 557.) – Als eine der »Erregungsfiguren, die man genauso gut auch erfinden könnte« und die der »Herstellung und Verteidigung eines Konsenses« dienen, hat Georg Seeßlen in der Zeitschrift konkret die mediale ›Konstruktion‹ des Autors Handke und seiner Versöhnung mit der ›öffentlichen Meinung‹ beschrieben (Georg Seeßlen: Komm zurück, Peter Handke! Es ist alles vergeben! Über die Einfriedung einer Erregungsfigur. In: konkret 3/2008, S. 44 – 46, hier S. 44). 995 Handke: Moral ist ein anderes Wort für Willkür. – Ein öffentliches Gespräch mit Tilman Zülch in Frankfurt am Main brach Handke bereits nach dessen Eingangsstatement mit den Worten ab: »Zülch, du Arschloch, das Gespräch ist beendet.« (Pressemitteilung der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV): Erleichterung über die Entscheidung des Düsseldorfer Stadtrates, online unter der URL: www.gfbv.de/pressemit.php?id=557). 996 »Die sogenannte Welt weiß die Wahrheit. Deswegen ist die sogenannte Welt heute abwesend […]. Ich weiß, daß ich nicht weiß. Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue. Ich höre. Ich fühle […]. Ich frage. Deswegen bin ich heute anwesend«. (Peter Handke: Ich wollte Zeuge sein. Die Motive meiner Reise nach Pozarevac, Serbien – an Milosˇevic´s Grab. In: Focus Nr. 13 vom 27. 3. 2006, S. 70/72, hier S. 70.) Handkes Erläuterung seiner Motive endet mit den Worten: »Heißt denn inzwischen, Zeuge nicht im Sinn der Anklage sein zu wollen, für den Angeklagten zu sein? ›Zweifellos‹, gemäß einem der Hauptschlagworte der herrschenden Sprache?« (Ebd., S. 72.)

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Gerichts und einiger »›Historiker‹« gewesen, die ihn »auf den Weg« nach Pozarevac, zum Begräbnis des serbischen Präsidenten, gebracht habe.997 Wie zum Fass des intellektuellen Dissidenten Diogenes die athenische Stadtgesellschaft die Hölzer herbei trägt, wird auch Handkes Versuch, sich jenseits intellektueller Positionierung kritisch zu verhalten, offenbar in erheblichem Maß von jenem zeitgeschichtlichen Diskurs bestimmt, gegen den er anschreibt und agitiert. – Was Handkes ›Fall‹ über das Thema der postjugoslawischen Zeitgeschichte hinaus über den Status von Literaten in zeitgeschichtlichen Diskussionen aussagt, lässt sich als Paradoxie eines öffentlichen Diskurses beschreiben, der seine eigene Alternative zugleich herausfordert und absorbiert, nach ihr verlangt und ihre Möglichkeit verschlägt.

9 / 11 In jedem Kopf läuft heute ein anderer Film. Obwohl alle dasselbe sehen. Sehen alle dasselbe?998

Unmittelbar nach der zeitgeschichtlich nicht-signifikanten Jahrtausendwende markiert der 11. September 2001 im Selbstverständnis des an den USA als Leitnation ausgerichteten Westens eine Zäsur, die seine Zeitrechnung neu orientierte: »before« und »after the planes« lautet die Zeitunterteilung der Kinder in Don DeLillos Roman Falling Man.999 Die politische Rhetorik hat diese Zäsur fast unmittelbar nach den Anschlägen in New York und Washington auf die Formel gebracht, seit dem elften September sei ›nichts mehr wie es war‹. Das Ereignis vermittelte der auf unvorhergesehene Weise angegriffenen Ordnung offenbar ein lang erwartetes Deutungsangebot, das von den westlichen Gesellschaften angenommen wurde: Gerade indem die Anschläge ein politisches Selbstverständnis irritierten und herausforderten, das auch militärisch verteidigt werden konnte, entsprachen sie wie jedes im zeitgeschichtlichen Gedächtnis gebliebene Ereignis offenbar einem Bedürfnis nach strukturierter, ›gekerbter‹ 997 Ebd., S. 72. – Handkes Teilnahme am Begräbnis des serbischen Präsidenten hatte zur Folge, dass der Intendant der Comedie franÅaise das bereits 1989 publizierte (und gar nicht auf Jugoslawien bezogene) Drama Das Spiel vom Fragen oder Die Reise ins sonore Land, das die Spielzeit 2007 eröffnen sollte, absetzte. Vgl. Susanne Düwell: Der Skandal um Peter Handkes ästhetische Inszenierung von Serbien. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hg. von Stefan Neuhaus und Johann Holzner. Göttingen 2007, S. 577 – 587, hier S. 578. 998 Else Buschheuer : www.else-buschheuer.de. Das New York Tagebuch. Köln 2002, S. 169 (Tagebucheintrag vom 12. 9. 2001, 8.00 Uhr New Yorker Zeit). 999 Vgl. Don DeLillo: Falling Man. New York 2007, S. 170.

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Zeit und ›gekerbten‹ Räumen.1000 Die Beziehung von Ereignis, Erwartung und Bedürfnis geht jedoch noch weiter. Denn die terroristischen Anschläge haben auch Selbstzerstörungsphantasien des attackierten Systems in die Realität umgesetzt, die sich in zahlreichen Katastrophenfilmen und -texten lange vor dem elften September imaginativ entfaltet haben.1001 Man muss Jean Baudrillards These nicht folgen, dass die angegriffene Weltmacht die Komplizin ihrer eigenen Zerstörung sei,1002 oder Boris Groys’ provokativer Behauptung zustimmen, der 11. September 2001 markiere den Beginn einer »Liebesbeziehung« ›unserer‹ Zivilisation »mit dem Islam«, um zuzugestehen, dass die islamistischen Terroristen »[v]on Atta bis Bin Laden« auf im Doppelsinn aufnahmebereite Strukturen trafen, die sie umgehend zu »Medienstars« machten. Als solche ziehen sie ein Maß an psychologischer Einfühlsamkeit auf sich, in dem sich der Hass auf die Täter mit der empathischen Aufmerksamkeit der Liebe vereinigt: »Wir schauen gebannt auf ihre Porträts und denken über die Gründe ihres Handelns nach. Wir versuchen, uns geistig in sie hineinzuversetzen – und zu erraten, was hinter ihren Gesichtern verborgen sein mag. Und die Angst, die wir dabei empfinden – die Angst, definitiv konsumiert zu werden – ist bekanntlich ebenfalls ein konstitutiver Teil einer jeden Liebesgeschichte.«1003 (Abb. 13) Die epoch¦, die der elfte September der politischen Rhetorik zufolge bildet, ist jedoch auch als ästhetische Zäsur behauptet worden, die nicht zuletzt die Literatur affiziere. Mit dem elften September, schrieb Volker Hage im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, sei »Schluß mit Pop-Tralala, ernster Ton, elementare Themen«.1004 Auch Christian Krachts eher zufällig im September 2001 erschienener Roman 1979 wurde von Hubert Spiegel im Licht der explodierenden Türme des New Yorker World Trade Centers als »Auslöschungsphantasie« und »Endpunkt« der seit 1995 vieldiskutierten deutschsprachigen Popliteratur interpretiert.1005 Das zeitgeschichtliche Ereignis ermöglichte eine Abrechnung mit 1000 Vgl. Gilles Deleuze, F¦lix Guattari: 1440 – Das Glatte und das Gekerbte. In: dies.: Tausend Plateaus. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voulli¦. Berlin 1992, S. 658 – 694. 1001 Larry Collins’ und Dominique Lapierres Roman mit dem apokalyptischen Titel The fifth Horseman (1980) und Tom Clancys Executive Orders (1996) etwa fingieren bereits weit vor dem 11. September 2001 Terroranschläge inmitten der USA. 1002 Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes. In: ders.: Der Geist des Terrorismus. Hg. von Peter Engelmann. Wien 2002, S. 11 – 35, hier S. 13 (zuerst in: Lettre International 55 (2001), S. 11 – 14). 1003 Boris Groys: Szenen einer Liebesbeziehung. In: Schnitt 28 (2002), S. 94. 1004 Volker Hage: Literatur : Vorheben der Angst. In: Der Spiegel Nr. 41 vom 8. 10. 2001, S. 224 – 232, hier S. 224. 1005 Hubert Spiegel: Wir sehen uns mit Augen, die nicht die unseren sind. Der Blick auf die Oberfläche reicht nicht mehr : Aus Christian Krachts Roman »1979« spricht der Selbsthaß als Lebensgefühl des Westens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 234 vom 9. 10. 2001, S. L1 (Beilage »Literatur«). – Eine direkter auf den modernen Terrorismus bezogene

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Abb. 13: Max Färberböck, September, 2003. Szenenfoto (Ó zero fiction film)

der ›hedonistischen‹ Pop-Kultur und -Literatur der neunziger Jahre, also der so genannten ›Spaßkultur‹, auf die die Literaturkritik durchaus gewartet hatte. Dass der elfte September jedoch binnen kurzer Frist selbst zu einem produktiven Erzählanlass würde, erschien angesichts der anfänglichen Skepsis der Literaturkritik, die mit ground zero zugleich einen »Nullpunkt der Literatur« verbunden sah,1006 wenig aussichtsreich. Andrea Köhler hat in einer Kolumne der Zeitschrift Merkur im Hinblick auf den elften September angemerkt, dass »es auch für literarische Darstellbarkeit eine ästhetische Inkubationszeit« gibt,1007 und Jörg Plath meinte zum Jahrestag des Ereignisses 2002 im Tagespiegel, »für anspruchsvolle Romane« sei es »ein Jahr danach […] zu früh«.1008 Dennoch

Fiktion entwirft bereits Krachts Erzählung Der Gesang des Zauberers, in der ein Kurier mit Ampullen des Nervengiftes Sarin um die Welt fliegt, mit dem 1995 die Anschläge der AumSekte auf die Tokioter U-Bahn verübt worden sind. Krachts Text war abgedruckt in einer Sammlung, die den Untertitel »ein Avant-Pop-Reader« führt. Christian Kracht: Der Gesang des Zauberers. In: ders. (Hg.): Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader. Stuttgart 1999, S. 285 – 305. Vgl. auch die Reiseerzählung Der Islam ist eine grüne Wiese, auf der man sich ausruhen kann. Peshawar, 1996, in der der Reisende in einem pakistanischen Grenzort eine Reihe von Schusswaffen ausprobiert, in: Christian Kracht: Der gelbe Bleistift. Mit einem Vorwort von Joachim Bessing. Köln 2000, S. 65 – 75. 1006 Vgl. Ina Hartwig: ich-Krater. Literatur nach dem 11. September – am Nullpunkt? In: Frankfurter Rundschau Nr. 78 vom 4. 4. 2002, S. 17. 1007 Köhler : Literatur. Eine Kolumne. Ground zero, S. 237. – Dass Köhlers Postulat hinsichtlich der Qualität schnell publizierter literarischer Texte nicht unberechtigt ist, zeigt die Gedichtsammlung von Fritz Reutemann (Hg.): Fluchtzeiten. Das Ende der Totlachgesellschaft? Eine Lyrik-Anthrologie zum 11. September 2001 und seinen Folgen. Mit Grafiken von Miroslav Spousta. Vechta-Langförden 2002 (Bibliothek engagierter Lyrik; 3). 1008 Jörg Plath: Nun trifft es auch dich und dein Buch. Nine-eleven und die deutschen

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erschienen die ersten deutschsprachigen Texte bereits im Jahr 2002.1009 Die folgenden Ausführungen nehmen von diesem Befund ihren Ausgangspunkt, und sie wenden sich im Blick auf die ästhetische Repräsentierbarkeit des Ereignisses der Frage zu, wie sich zur dominanten »Sicht der Bilder«1010 die Sicht literarischer Texte verhält.

1.

»Décrire l’indescriptible«. Frédéric Beigbeders Windows on the World MÞme si j’allais trÀs trÀs loin dans l’horreur, mon livre serait toujours — 410 mÀtres au-dessous de la v¦rit¦.1011

»Vous connaissez la fin: tout le monde meurt.«1012 Gleich mit der Leseranrede des ersten Satzes stellt Fr¦d¦ric Beigbeders Roman Windows on the World (2004) explizit die Ausgangssituation eines Erzählens dar, das die Informiertheit über seinen Gegenstand zuverlässig voraussetzen kann. Mit »tout le monde« sind die 171 Gäste und Angestellten des Luxusrestaurants im 107. Stockwerk des nördlichen Turms des New Yorker Word Trade Centers gemeint, dessen Namen sich der Titel des Romans verdankt, sowie alle diejenigen, die sich zum Zeitpunkt des Terroranschlags oberhalb der Einschlagstelle des zuerst getroffenen Gebäudes befanden. Von ihnen hat niemand das Ereignis überlebt. Wie ein Repertorium zum 11. September 2001 wiederholt der Text die dokumentierten und rekonstruierten Details des terroristischen Anschlags: On sait maintenant assez pr¦cisement ce qui est arriv¦ — 8 h 46. Un Boeing 767 d’ American Airlines transportant 92 passagers dont 11 membres d’¦quipage s’est encastr¦ dans la face Nord de la tour no 1, entre le 94e et le 98e ¦tage, ses 40 000 litres de k¦rosÀne prenant imm¦diatement feu dans les bureaux des Marsh & McLennan Companies. Il s’agissait du vol AA 11 (Boston–Los Angeles) ayant d¦coll¦ — 7 h 59 de l’a¦roport de Logan et se d¦plaÅant — la vitesse de 800 km / h. La force d’un tel impact est estim¦e ¦quivalente — l’explosion de 240 tonnes de dynamite (choc de magnitude 0,9

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1010 1011 1012

Schriftsteller: Warum es so schwer ist, aus dem Trauma Literatur zu machen. In: tagesspiegel Nr. 17881 vom 11. 8. 2002, S. 31. Barbara Bongartz, Alban Nicolai Herbst: Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen. Hg. und für das Publikum lesbar gemacht von Norbert Wehr. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 58 (2002), S. 1 – 164. – Ebenfalls 2002 erschien die Textsammlung von Arnold Stadler : Tohuwabohu. Heiliges und Profanes, gelesen und wiedergelesen von Arnold Stadler nach dem 11. September 2001 und darüber hinaus. Köln 2002. Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 29. Beigbeder : Windows on the World, S. 155. Ebd., S. 11.

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qui durerait 12 secondes). On sait aussi qu’aucune des 1 344 personnes prisonniÀres des 19 ¦tages sup¦rieurs — cet impact n’a surv¦cu.1013

Damit sind die Fakten benannt, über die sich die Fiktion nicht umstandslos hinwegsetzen kann. Zwischen Ereignis und Erzählung stellt sich ein Verhältnis her, das scheinbar zuungunsten der letzteren wirkt: Denn die Fiktion wird hinsichtlich ihrer Imaginationsfähigkeit von der Realität des elften Septembers nicht nur übertroffen, sondern grundsätzlich in Frage gestellt. Über das Ereignis lässt sich mit den Mitteln der narrativen Fiktion nicht frei verfügen, ignorieren aber lässt es sich ebenfalls nicht – jedenfalls, sofern eine literarische Ästhetik auf konkrete Welthaltigkeit Wert legt. »Depuis le 11 septembre 2001, non seulement la r¦alit¦ d¦passe la fiction mais elle la d¦truit. On ne peut pas ¦crire sur ce sujet mais on ne peut pas ¦crire sur autre chose non plus. Plus rien ne nous atteint.«1014 Die Gewissheit der Katastrophe, deren Ablauf jedem bekannt ist, vernichtet jedoch die Bedingung ästhetischer ›Spannung‹ von Anfang an (und damit ein zentrales Konstituens des Erzählens überhaupt1015): »Evidemment, cette information úte tout suspense — ce bouquin. Tant mieux: ceci n’est pas un thriller ; juste une tentative – peut-Þtre vou¦e — l’¦chec – de d¦crire l’indescriptible.«1016 Die Zurückweisung des Genres ›Thriller‹ markiert mit der Distanzierung vom finalen suspense zugleich die ästhetische Ambitioniertheit des Textes, der jenseits gewohnter Bedingungen und erprobter Verfahren die Möglichkeiten der Ereignis-Darstellung praktisch zu befragen unternimmt. Dass die informationsdeterminierte Gewissheit des Endes die Finalspannung aufhebt, beseitigt die Möglichkeit von Spannung – rezeptionsseitig gesehen – indes keineswegs ganz, auch wenn die Reflexion der Autorfigur fortwährend die tödliche Abgeschlossenheit des erzählten Geschehens in Erinnerung ruft: Es ist die Empathie mit den am Rande ihres Lebens sprechenden und agierenden Figuren, die diese Gewissheit gleichsam einklammert und damit auch in der narrativen Wiederholung eine Spannungserfahrung zulässt, wenn sich der Lesers für die Dauer der

1013 Ebd., S. 74. – Die Ereignisse rekonstruieren ausführlich Stefan Aust, Cord Schnibben (Hg.): 11. September. Geschichte eines Terrorangriffs. Stuttgart, München 2002. Zu den politischen Aspekten des Terroranschlags vgl. Georg Stein, Volkhard Windfuhr (Hg.): Ein Tag im September. 11. 9. 2001. Hintergründe, Folgen, Perspektiven. Vorwort von Butros Butros-Ghali. Heidelberg 2002. 1014 Beigbeder : Windows on the World, S. 18. 1015 Zu den Differenzierungen des Spannungsbegriffs vgl. Thomas Anz: Spannung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 3, Berlin 2003, S. 464 – 467, sowie den Band von Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen und Daniela Langer (Hg.): Zwischen Text und Leser. Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. München 2008. 1016 Beigbeder : Windows on the World, S. 74.

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Lektüre dem intern fokalisierenden Erzählvorgang überlässt.1017 Indem der Erzähler jedoch von vornherein eine der Bedingungen der Narrativierung des Ereignisses ausdrücklich negiert, stellt er das Risiko heraus, sich unter scheinbar ungünstigen Bedingungen dennoch auf die Ereignis-Erzählung einzulassen – und an der gestellten Aufgabe ethisch und ästhetisch zu scheitern. Wie Jean Baudrillard den Zusammenbruch des World Trade Centers am 11. September 2001 zur »›Mutter‹ aller Ereignisse« ernannte, so dass der posthistorische »Streik der Ereignisse« beendet schien,1018 wurde das nur kurze Zeit nach der ereignislosen Jahrtausendwende situierte Ereignis auch als Rückkehr der ›Geschichte‹ im Realwerden archaisch-apokalyptischer Bilder behauptet – und damit als Ende jenes ›Endes‹ interpretiert, das die Theoretiker der Nachgeschichte wie Baudrillard über die Jahrtausendschwelle hinweg behaupteten.1019 Mit der posthistoristischen Dementierung der Realität hinter der Repräsentation verschwänden gewiss auch die Aporien des Erzählens; erst als ernst genommene Wirklichkeit stellt der elfte September dagegen eine Herausforderung ästhetischer Möglichkeiten dar. Auch Beigbeders Roman besteht ausdrücklich auf der Realität des Medienereignisses des elften Septembers: »Cet ¦v¦nement a exist¦, et on ne peut pas le raconter.«1020 Wie der Auftakt zu einem performativen Paradox steht die Erzähler-Reflexion über die Unerzählbarkeit des Ereignisses am Beginn des mehr als dreihundert Seiten umfassenden Romans. Dessen Grundstruktur ist von der Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Erzählens geprägt: Einerseits erzählen die im Minutentakt gegliederten Kapitel die letzten zwei Stunden – »8 h 30« bis »10 h 29« – im Leben fiktiver Figuren, des texanischen Immobilienmaklers Carthew Yorston und seiner beiden Söhne, die als Restaurantbesucher in den Stockwerken oberhalb der Einschlagstelle des Flugzeugs eingeschlossen sind; die Unerbittlichkeit dieses auf die Katastrophe des sicheren Todes zusteuernden Countdowns nimmt dem Leser jede Möglichkeit, ihr auszuweichen. Andererseits und parallel dazu reflektiert die Autorfigur »Beigbeder« – selbst im Restaurant »Ciel des Paris« im 56. Stockwerk des Tour Montparnasse sitzend – die objektiven und subjektiven Bedingungen ihres Erzählens selbst. Im Minutentakt der Kapitel wechseln fiktionale Handlung und poetologische Überlegungen ab. Beide Stränge des Romans – die inneren Monologe der erzählten Figuren1021 und die Reflexionen des 1017 Das Verhältnis zwischen Spannung und Wiederholung diskutiert bereits Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970, S. 13 f. 1018 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 11. 1019 Vgl. etwa Jean Baudrillard: Das Jahr 2000 findet nicht statt. Aus dem Französischen übersetzt von Peter Geble und Marianne Karbe. Berlin 1990 (Internationaler MerveDiskurs; 156). Vgl. auch Lucke: 9 – 11 – 01. Drehzahl-Mythos, S. 19. 1020 Beigbeder : Windows on the World, S. 19. 1021 Für wenige Kapitel des Romans unterbricht die Stimme des jüngeren Sohnes David die-

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Erzählers – stehen wie These und Anti-These eines dialektischen Prozesses einander gegenüber ; als Ganzer nimmt der Roman so die Unmöglichkeit des Erzählens ins Erzählen hinein. Aber so intensiv die reflexive Seite des Textes die Voraussetzungen und Implikationen des Erzählens vom Ereignis der Katastrophe bedenkt, so wenig gerät die Darstellung auf der anderen, fiktionalen Seite zur ›naiven‹ Mimesis des Geschehenen – so als wüsste man genau, was sich im unzugänglichen Raum oberhalb der Einschlagsstelle zugetragen hat. Während jeder Medienteilhaber über das Geschehen ›hinlänglich genau‹ Bescheid zu wissen meint (»on sait maintenant assez pr¦cisement«), weiß er von der Erfahrung im Inneren des Ereignisses in Wahrheit nichts: Denn niemand existiert, der davon noch zu erzählen vermag.1022 »Niemand / zeugt für den / Zeugen«, heißt es in einem Gedicht Paul Celans.1023 Dennoch versucht es der Text: Es ist dieses Unbezeugte und Unbezeugbare als Leerstelle der Repräsentation, dessen sich die Imagination annimmt. Indem sie von den letzten Minuten derer erzählt, die nicht mehr Zeugnis ablegen können, besetzt die Fiktion genau die epistemische Lücke, die in der medialen Repräsentation des Ereignisses unaufhebbar offen geblieben ist. Der Text trägt damit die Problematik dieses narrativen Imaginierens in sich aus. Aus der Spannung zwischen dem ›Realismus‹ vorstellbarer oder wahrscheinlicher Handlungen und innerer Monologe und der markierten Fiktion bezieht der erzählende Teil des Textes einen Teil seiner strukturellen Spannung, die ihm als narrative Spannung nur begrenzt zur Verfügung steht. Die Erzählung imputiert ihrer zentralen Figur ein Wissen, über das plausiblerweise erst der Leser außerhalb des Textes verfügt: »Dans deux heurs je serai mort«,1024 nimmt auch der fiktionale Ich-Erzähler die Gewissheit des Endes auf, von der der erste Satz sprach. In derselben diegetisch ›unlogischen‹ Weise nimmt die Hauptfigur Carthew Yorston sogar bereits zu den Medialisierungsformen des elften Septembers Stellung, über den sie genauso informiert ist wie über den Katastrophentourismus der Wochen und Monate danach: »Nous sommes devenus un site touristique; vous voyez les enfants? maintenant c’est nous qu’on vient visiter.«1025 Aufgrund dieser Loslösung von der mimetischen Diegese kann auch der Leser außerhalb des Textes direkt angesprochen werden, wie es der erste Satz

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jenige des Vaters: Er phantasiert diesen (bezeichnenderweise in dem »9 h 11« überschriebenen Erzählabschnitt) als Fantasy-Helden, der über »superpouvoirs« verfügt und zum Retter der Eingeschlossenen wird (ebd., S. 172 – 174). Mit dem Zusammenbruch dieses Traums stirbt er. Vgl. Ovid: Metamorphosen. 3. Buch, v. 193. Paul Celan: Aschenglorie. In: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 2, 2. Auflage Frankfurt/M. 1992, S. 72. Beigbeder : Windows on the World, S. 15. Ebd., S. 363.

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des Romans bereits tat.1026 Es gehört zu dieser unwahrscheinlichen Logik, dass die Erzählfigur sogar für kurze Zeit über den finalen Zeitpunkt des eigenen Todes hinaus erzählt – von jenseits des Sprungs aus dem 107. Stockwerk, den das Kapitel exakt auf 10.21 Uhr datiert.1027 Um den Preis einer paradoxen Mimesis gewinnt der Text der Unmöglichkeit, vom Ereignis des elften Septembers zu erzählen, eine Möglichkeit ab, es dennoch zu tun. Damit bekräftigt er die exzeptionelle Ereignishaftigkeit des Erzählten gegenüber der Voraussetzung seines Längst-bekannt-Seins: Indem er dennoch erzählt, was von der erzählten Wirklichkeit selbst ausgeschlossen wird, gewinnt der Roman gegenüber den unendlichen Wiederholungen ihrer medialen Repreäsentationen eine Ereignishaftigkeit zurück; indem es gegen die eigene Unmöglichkeit anschreibt, wird das Erzählen selbst zum Ereignis.

2.

Tabu und Erzählung

»Ich konnte mir immer nur zwei Menschen in einem Raum vorstellen, die zu überleben versuchen. An das gewaltige Ausmaß des Ereignisses habe ich weniger gedacht. […] Und womöglich ist ja der Roman ein Ort, der jene Leerstelle füllt, welche das offizielle Gedenken hinterlässt.«1028 Mit diesen Worten erläuterte Don DeLillo in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Poetik seines Romans Falling Man (2007). Anders als Beigbeders Windows on the World lässt DeLillo seinen Roman mit der Flucht eines seiner Protagonisten durch Straßen voll Qualm und Asche aus dem World Trade Center beginnen, das hinter ihm zusammenstürzt. Aber auch wenn die Erzählung vor allem von den Nachwirkungen des Ereignisses auf mittelbar wie unmittelbar Beteiligte handelt und einen Überlebenden, den New Yorker Anwalt Keith Neudecker, ins Zentrum stellt, besetzt die Fiktion jene »Lücken und Löcher im Kontinuum der Bildwelt«, die Günther Anders in der Antiquiertheit des Menschen als Refugien des Erzählens bestimmt hat.1029 »Stille und Bildlosigkeit«1030 umgeben nicht nur die Opfer des elften Septembers und die Momente ihres Sterbens, sondern auch die Täter und ihre Geschichte. Die Unauffälligkeit, mit der die Terroristen oft jahrelang als ›Schläfer‹ des radikalislamistischen Al Qaida-Netzwerks in europäischen Städten lebten, schafft einen Raum der Vorstellbarkeit, in die die Fiktion des Romans einzieht. Es handelt sich um eine Abstoßung der Fiktion von den 1026 Ebd., S. 358 (10 h 23). 1027 Ebd., S. 358 f. (10 h 23), S. 363 (10 h 25) und S. 367 (10 h 27). 1028 Don DeLillo über seinen Roman Falling Man im Interview: Was erzählt uns der Terror, Don DeLillo? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 36 v. 9. 9. 2007, S. 25. 1029 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, S. 250. 1030 Ebd.

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allbekannten Informationen und allgegenwärtigen Bildern, wenn die Erzählung in den jeweils am Ende der drei Romanteile situierten und – abweichend von den anderen, numerisch durchgezählten Kapiteln – mit präzisen Ortsangaben überschriebenen Kapiteln auf die Perspektive eines einzelnen Täters, des Al Qaida-Terroristen Hammad, übergeht (»On Marienstrasse«, »In Nokomis«, »In the Hudson Corridor«1031): Tatsächlich sind die Videoaufnahmen, welche etwa Mohammed Atta am Flughafen in Portland zeigen, die einzigen Bilder, die von den Terroristen im unmittelbaren Zusammenhang des elften Septembers überliefert und veröffentlicht worden sind. Es ist diese bildmedial weitgehend unbezeugte Seite des Ereignisses, die der Roman besonders im letzten Kapitel imaginativ einholt, wenn er mit interner Fokalisierung von den letzten Minuten im Innenraum der entführten Boeing im Anflug auf den Nordturm des World Trade Centers erzählt. Es handelt sich um die erzähltechnisch virtuoseste Passage des Romans, die den Gedankenbericht des Terroristen innerhalb derselben Satzkonstruktion genau im Moment des tödlichen Einschlags in den Gedankenbericht des überlebenden Opfers übergehen lässt: A bottle fell off the counter in the galley, on the other side of the aisle, and he watched it roll this way and that, a water bottle, empty, making an arc one way and rolling back other, and he watched it spin more quickly and then skitter across the floor an instant before the aircraft struck into the tower, heat, then fuel, then fire, and a blast wave passed through the structure that sent Keith Neudecker out of his chair and into the wall. He found himself walking into a wall. He didn’t drop the telephone until he hit the wall. The floor began to slide beneath him and he lost his balance and eased along the wall to the floor. He saw a chair bounce down the corridor in slow motion. He thought he saw the ceiling begin to ripple, lift and ripple.1032

Die Fiktion imaginiert nicht nur, wovon keine technische Aufzeichnungen existiert, sondern legt das Geschehen gleichsam analytisch – affin zur Technik der medialen Bilderproduktion – »in slow motion« aus, um es in präzisierter Naheinstellung zu fokussieren. Es ist der ambivalente Anspruch und das Privileg des Romans zugleich, sich imaginativ sowohl ins Bewusstsein eines überlebenden Opfers wie des Bewusstseins eines der Täter hineinzuversetzen. Mit den personal erzählten Erzählabschnitten, die von den Stationen des Terroristen Hammad berichten, gibt die Fiktion auch den Tätern des elften Septembers ihre Geschichte zurück, die in der öffentlichen Diskursivierung eher ausgeblendet wird. Damit aber perforiert der Roman – wie auch in den von der mutmaßlichen RAF-Vergangenheit der Romanfigur Ernst Hechinger handelnden Passagen der Erzählung – zugleich die scheinbar undurchlässige Grenze, die in der politisch1031 Don DeLillo: Falling Man, S. 77, S. 171 und S. 237. 1032 Ebd., S. 239.

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publizitären Diskursivierung des elften Septembers zwischen dem amerikanisch-europäischen ›Westen‹ und dem islamistischen Terror gezogen wird: Er inszeniert diese Überschreitung der diskursiven Ordnung genau im Moment jener tödlichen Transgression, die der Einschlag des Flugzeugs in die Fassade des Turms darstellt und die den technisch unabbildbaren ›Kern‹ des Ereignisses ausmacht. Dass auch der erzählte Raum in Beigbeders Roman – die zwölf Stockwerke oberhalb des Flugzeugeinschlags im ersten Tower – eine konkrete Leerstelle der visuellen Repräsentation markiert, wird durch die fiktionale Erzählstimme dem Leser ausdrücklich zum Bewusstsein gebracht: »Les secours ne sont jamais arriv¦s jusqu’— nous. Vous ne nous avez pas vus — la t¦l¦. Personne n’a pris nos visages en photo.«1033 Die visuelle Aussparung öffnet die mögliche Welt der Erzählung, denn das Jenseits der dokumentarischen Bilder und Daten lässt sich nur imaginieren; das szenische Präsens ersetzt den Präsentismus der technischen Bilder. Der (konkret wie medial) hermetische Raum jedoch, den die Imagination des Textes erschließt, eröffnet tabuierte Möglichkeiten des Lebens; er spannt ein Möglichkeitsfeld auf, in dem sich das Menschliche sozial entbunden darstellt. Gegen Ende (»10 h 15«) schildert der Text Szenen sexueller Enthemmung auf der Schwelle des sicheren Todes; der Tod entlässt die erzählten Figuren aus jeder subjektiven Verpflichtung zur sozialen Rücksichtnahme, weil jede Rückkehr ins Soziale ausgeschlossen ist. Wo niemand hinsieht, weil keine Kamera und kein Zeuge noch wird Auskunft geben können, brechen die unbehaglichen Hemmungen der Zivilisation weg, und niemand als die Fiktion ›weiß‹ davon. Der bis zum Obszönen reichenden Imagination der Erzählung kommt im Blick auf die Opfer jedoch umso größere Bedeutung zu, als die fernsehmediale Repräsentation die unerträglichsten, auf die Körperlichkeit der Opfer fokussierenden Ansichten gar nicht sehen und senden will, sondern systematisch ausspart. Unwahrscheinlicher Weise, in einer erzähllogisch paradoxen Metalepse, unterschiebt der Text der Erzählrede seiner Hauptfigur eine Medienkritik, die eigentlich nur dem Erzähler außerhalb der Fiktion zusteht: Et c’est ainsi qu’eut lieu une des plus grosses op¦rations de d¦sinformation audiovisuelle de l’aprÀs-guerre. Cachez ce sang que je ne saurais voir. Un building s’effondre, on le diffuse en boucle. Mais surtout ne montrez pas ce qu’il y avait dedans: nos corps.1034

Die massenmedial verbreiteten Bilder vom elften September errichten ein mediales Tabu über die schockierendsten Opferaufnahmen; eine ›Weigerung hinzuschauen‹ (»refuser de la regarder«1035), die prima vista dem Panoptismus der 1033 Beigbeder : Windows on the World, S. 320. 1034 Ebd., S. 322. 1035 Ebd., S. 321.

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modernen Massenmedien widerspricht. Aber dieses weltweit beachtete Bilderverbot entspricht weniger einem ethischen Abstandsgebot gegenüber den zerfetzten Körpern der Opfer als dem Umstand, dass es der massenmedialen Bilderproduktion um die unverfälschte Darstellung des Wirklichen gar nicht geht. Weit mehr geht es ihr darum, das katastrophale Ereignis unverzüglich in die Kreisläufe der Informationsindustrie einzuspeisen und mediale Anschlusskommunikationen zu ermöglichen.1036 Slavoj Zizek hat im Hinblick auf die Bilder vom elften September dieselbe Derealisierung als »ideologische Zensur« beschrieben.1037 Die visuelle Endlosschleife, die das scheinbar widerstandslose Eindringen der Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers wieder und wieder zeigt, neutralisiert das Ereignis und richtet es zugleich für politische und ideologische Zwecke zu. »Cinq minutes aprÀs l’entr¦e du premier avion dans notre tour, la trag¦die ¦tait d¦j— un enjeu dans la guerre des images.«1038 Der ›Krieg der Bilder‹ ist ein medienkritischer Topos,1039 der chiasmatisch auf die ›Bilder vom Krieg‹ verweist. Er zeigt auf eine politische Instrumentalisierung der Bilder, mit deren Hilfe reale Kriegführung begründet wird. Der war on terror indes, den die politische Führung der USA bald nach dem elften September ausrief, setzt sich über die Differenz von (substaatlichem) ›Terrorismus‹ und (staatlichem) ›Terror‹ hinweg –1040 und verbirgt damit die grundlegende Asymmetrie, die zwischen den Kriegsgegnern besteht: Denn der Krieg gegen den Terror wird gegen einen Gegner geführt, der keinen territorialen Frontverlauf kennt, über kein vergleichbares Arsenal an High-tech-Waffen verfügt und statt dessen Produktivkräfte der technologischen Moderne in Destruktivkräfte verwandelt, indem er zivile Verkehrsmittel in Massenvernichtungswaffen umfunktioniert.1041 Auch unabhängig von der ideologischen Begründung kriegerischer Intervention, die ihrerseits auf die ›Evidenz‹ der Bilder verweist, wird das Ereignis vom elften September unmittelbar mit dem Krieg assoziiert: »Ist das Krieg?«1042 Dass in der zeitlichen Nähe des Ereignisses freilich die Fähigkeit zur Beurteilung fehlt, worum es sich eigentlich handelt, lässt die Frage in Else Buschheuers New York Tagebuch, ob das ›Krieg‹ sei, wie das

1036 Zu dieser systemtheoretischen Perspektive vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 1037 Slavoj Zizek: Willkommen in der Wüste des Realen. In: Kunst nach Ground Zero. Hg. von Heinz Peter Schwerfel. Köln 2002, S. 57 – 65, hier S. 61 bzw. 65. 1038 Beigbeder : Windows on the World, S. 321. 1039 Vgl. Oppenheim: Der Krieg der Bilder. 1040 Vgl. zu dieser Unterscheidung Bruce Hoffman: Terrorismus. Der unerklärte Krieg. Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Kochmann. Aktualisierte 3. Auflage Frankfurt/M. 2002, S. 55 f. 1041 Vgl. dazu Herfried Münkler : Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 48 – 57. 1042 Buschheuer : www.else-buschheuer.de, S. 139 (Tagebucheintrag vom 11. 9. 2001, 10 Uhr 41 New Yorker Zeit, 16 Uhr 41 Berliner Zeit).

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ferne Echo der Verwunderung des Helden in Stendhals Chartreuse de Parme erscheinen: »ceci est-il une v¦ritable bataille […]?«1043 Während die massenmediale Visualisierung des Ereignisses mit ihrer Herstellung visueller Leerstellen, mit ihren Tabus und ideologischen Instrumentalisierungen einer politischen Regie unterliegt, gerät die ›tabulose‹ Diegese in Beigbeders Roman selbst an die Grenze ihrer Möglichkeiten. Die erzählerische Vorstellungskraft versagt vor der inkommensurablen Wirklichkeit des Ereignisses: »A partir d’ici«, bekennt der Erzähler gegen Ende des Romans, »on p¦nÀtre dans l’indicible, l’inracontable.«1044 Jedes imaginative Einholen des Ereignisses im narrativen Zeichenprozess könnte dessen chockhafte Gewalt nur unterbieten. So weit sich der literarische Text buchstäblich in die ›heiße‹ Sphäre der visuellen Bildlosigkeit vorwagt, stellt er das Geschehen in den letzten Minuten vor dem definitiven Ende, das mit dem Zusammenbruch des Nordturms und dem Sprung des Erzählers markiert ist, doch der Einbildungskraft seiner Leser anheim: Veuillez nous excuser pour l’abus d’ellipses. J’ai coup¦ des descriptions insoutenables. Je ne l’ai pas fait par pudeur ou respect pour les victimes, car je crois que d¦crire leur lente agonie, leur calvaire, est aussi une marque de respect. Je les ai coup¦es parce qu’— mon avis, il est encore plus atroce de vous laisser imaginer ce par quoi elles sont pass¦es.1045

Von dieser Grenze an wird jede literarische Wahrscheinlichkeit unmöglich. Auch der Versuch, in der Fiktion des Romans das ›Unsagbare zu sagen‹, führt an die Grenze des Schweigens: »(page coup¦e)« heißt es daraufhin zweimal im Text.1046 Wo die Rhetorik des Ereignishaften nur den Topos der Unsagbarkeit innerhalb der Rede vorsieht, bleibt im Roman tatsächlich der verbleibende Raum der Druckseite leer. »Il faut ¦crire ce qui est interdit«, lautet eine der letzten poetologischen Selbstkommentierungen im Roman. Aber mit dem ethischen Auftrag verbindet sich auch eine Reflexion der Rolle, die literarische Texte in Hinsicht auf Ereignisse der Zeitgeschichte wie den elften September wahrnehmen können: »Aujourd’hui des livres doivent aller l— o¾ la t¦l¦vision ne va pas. Montrer l’invisible, dire l’indicible. C’est peut-Þtre impossible mais c’est sa raison d’Þtre. La litt¦rature est une ›mission impossible‹.«1047 Dass die raison d’Þtre literarischer Texte im imaginativen Zugang zu Räumen bestehe, die auch die avancierteste Technik nicht auszuleuchten vermag, verdeutlicht einmal mehr die Problematik, 1043 1044 1045 1046 1047

Stendhal: La chartreuse de Parme, S. 103. Beigbeder : Windows on the World, S. 334. Ebd., S. 334. Ebd., S. 336 und S. 367. Ebd., S. 360.

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welche die vorliegende Untersuchung sich angelegen sein lässt. – Es mag als diskret optimistisches Zeichen zu werten sein, dass in dem Kinofilm, auf den hier angespielt wird (Mission: impossible, USA 1996, Regie: Brian de Palma), die ›unmögliche Mission‹ unter erheblichen Verlusten letztlich gelingt.

3.

Eine unmögliche Möglichkeit des Erinnerns

Im Zeichen der unmöglichen Möglichkeit, vom Ereignis zu erzählen, stehen alle (hier berücksichtigten) literarischen Texte über den 11. September 2001. Fr¦d¦ric Beigbeders aus dem empirisch unzugänglichen ›Inneren‹ des Ereignisses heraus erzählender Roman markiert jedoch eine Ausnahmeerscheinung insofern, als er den Versuch unternimmt, vom Ereignis selbst zu erzählen. Angesichts des Fehlens audiovisueller Aufzeichnungen und dokumentarischen Materials wird der Akt des Erzählens selbst zu einem Akt der »m¦moire«,1048 die durch kein anderes Medium ersetzt werden kann. Paul Greengrass’ Kinofilm United 93 (2006) setzt denselben Versuch konkretisierender Imagination mit filmischen Mitteln um, indem er von dem vierten von Terroristen entführten Flugzeug erzählt, das um 10 Uhr 10 örtlicher Zeit in der Nähe der Stadt Shanksville (Pennsylvania) vermutlich aufgrund der Gegenwehr der Passagiere abstürzte und mutmaßlich das Weiße Haus in Washington zum Ziel gehabt hat.1049 Ähnlich wie Delius’ Roman Mogadischu Fensterplatz über die 105 Stunden im Inneren der entführten Lufthansa-Maschine bezieht die Fiktion bei Greengrass wie bei Beigbeder einen leeren Raum medialer »Bildlosigkeit«;1050 anders jedoch als im Fall der befreiten Geiseln gibt es keine unmittelbaren Zeugen, an deren Auskünfte sich anknüpfen lässt: »tout le monde meurt.«1051 So problematisch die vom Vertreter der Autorinstanz in Beigbeders Roman vorgenommene Engführung des Gedenkens an die Opfer der Shoah mit der Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags vom elften September ist, wiederholt sich in den Bedingungen 1048 Ebd., S. 336. 1049 Der Film rekurriert u. a. auf die Rekonstruktion des Journalisten Jere Longman: Among the Heroes (New York 2002; deutsche Übersetzung: Todes-Flug UA 93. Was an Bord der vierten entführten Verkehrsmaschine am 11. September wirklich geschah. Aus dem Amerikanischen Englisch von Hanna van Laak. München 2003). – Beigbeders ErzählerKommentar : »Le seul film de la trag¦die est l’œuvre de deux FranÅais« (Beigbeder : Windows on the World, S. 320), bezieht sich auf die Dokumentation der Journalisten Jules und Gedeon Naudet: 11. Septembre (2002). Wie Greengrass’ United 93 erzählt Oliver Stones World Trade Center (2006) erzählt eine Heldengeschichte von Feuerwehrleuten und Zivilisten. 1050 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, S. 250. – Zu Delius’ Roman vgl. das Kap. »1977. Deutscher Herbst«. 1051 Beigbeder : Windows on the World, S. 11.

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der Fiktion gleichwohl das von Jean-FranÅois Lyotard diskutierte Paradox der (Un-)Bezeugbarkeit: Wahrhaftig bezeugen könnte die erzählten Vorgänge nur der, der nicht mehr bezeugen kann.1052 Das Ereignis vernichtet die einzig mögliche Position, von der aus es bezeugt werden könnte. In keinem anderern Text, der sich auf das Datum des elften Septembers bezieht, kommen Möglichkeit und Unmöglichkeit des literarischen Erinnerns einander so nahe wie hier. Gleichzeitig aber markiert nichts deutlicher als die ›unmögliche Möglichkeit‹ des hier verwirklichten Erzählens, was der fiktionale Text gegen die Evidenz der technischen Bilder aufzubieten vermag.

4.

»The simple solution to an impossible problem«: Jonathan Safran Foers Extremely loud & incredibly close

Anders als Beigbeders Windows on the world thematisiert Jonathan Safran Foers 2005 erschienener Roman die Ereignisse des elften Septembers nicht unmittelbar, sondern als Rekonstruktion aus der Perspektive des neunjährigen Ich-Erzählers und Roman-Protagonisten Oskar Shell, dessen Vater beim Anschlag auf das World Trade Center sein Leben verlor. Während das Ereignis auf wörtlicher Ebene kein einziges Mal benannt wird (und nur von einem ›Terroranschlag‹ die Rede ist), ist es doch in den Verstörungen und Ängsten, die es hervorrief, eindeutig bezeichnet und omnipräsent: Erzählt wird der Versuch des traumatisierten Kindes, die Spuren des Vaters bis zum Anschlag zurückzuverfolgen; ein Versuch, den der durch zahlreiche fotografische Bilder, farbige Handschrift›Dokumente‹ und Fotografien angereicherte Text gleichzeitig unterstützt und vereitelt. Stellenweise geht die Typografie in eine numerische Geheimschrift über oder verringert sukzessive den Zeilenabstand bis zur absoluten Unlesbarkeit, so dass die Seiten nahezu schwarz werden. Virtuos inszeniert der Text eine ›postmoderne‹ Poetik, die von der Unverfügbarkeit der Wahrheit und des Wissens vom konkreten Tod wie vom Ereignis überhaupt Rechenschaft gibt. Am Ende aber überantwortet sich die Narration ganz den fotografischen Bildern, freilich in einer eigenwillig ›verkehrten‹ Montage. Auf den letzten fünfzehn Seiten löst eine geschlossene Folge ganzseitiger Fotografien, die einen aus den obersten Stockwerken des World Trade Centers stürzenden menschlichen 1052 Vgl. Jean-FranÅois Lyotard: Le Diff¦rend. Paris 1983, S. 16 f. und passim. – Beigbeders Erzähler geht so weit, die Opfer des World Trade Centers mit den Opfern der nationalsozialistischen Shoah zu identifizieren und daraus denselben Anspruch auf das Gedächtnis der Lebenden abzuleiten: »Le Windows of [!] the World ¦tait une chambre — gaz de luxe. Ses clients ont ¦t¦ gaz¦s, puis br˜l¦s et r¦duits en cendres comme — Auschwitz. Ils m¦ritent le mÞme devoir de m¦moire. / (page coup¦e)« Beigbeder : Windows on the World, S. 336.

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Körper zeigen, den schriftlichen Erzählbericht ab. Dabei werden die Ausschnitte einer einizigen, mehrfach reproduzierten Fotografie1053 wie Momentaufnahmen angeordnet. Aber der Ich-Erzähler ordnet die »pictures of the falling body«, die er in Nachrichtenmagazinen, Zeitungen und im Internet findet und auf denen er den eigenen Vater sucht – »Was it Dad? / Maybe«1054 –, in umgekehrter Reihenfolge an. Rasch nach Art eines Daumenkinos durchgeblättert, synthetisieren sie sich zu einem einzigen Bewegungsablauf: I reversed the order, so the last one was first, and the first was last. When I flipped through them, it looked like the man was floating up through the sky. And if I’d had more pictures, he would’ve flown through a window, back into the building, and the smoke would’ve poured into the hole that the plane was about to come out of.1055

Realisiert der Leser den vorgeschlagenen stroboskopischen Effekt, gerät die Lektüre buchstäblich zu einer Lesart ›gegen den Strich‹ der technischen Bilder : Der tödliche Sturz wird zur Auferstehung. Indem er den televisuellen Effekt nachahmt und dabei die Bildfolge umkehrt, behauptet der Roman die Chance der Fiktion, aus der unbestreitbaren Evidenz der dokumentarischen Bilder dennoch ästhetische Freiheit abzuleiten. Das vorgenommene Arrangement unterscheidet sich von bloßer Bildmanipulation aber nicht nur durch die Reflexion des Verfahrens im Text, sondern auch dadurch, dass es neben dem manipulativen auch den ›gewohnten‹ Ablauf präsent hält. Daraus ergibt sich eine bemerkenswerte Vertauschung oder Überkreuzung: Denn der stroboskopische Effekt ergibt sich praktisch auch gegen die ›normale‹ Leserichtung, so dass sich die anomale Bildanordnung wieder normalisierte. Die kontrafaktische, gegenläufige Ordnung hängt ab von der geläufigen Lektüre des Buches oder der Schrift von links nach rechts und von vorn nach hinten, während sich in der gegenläufigen Leserichtung des flip books die tödliche Chronologie wieder herstellt. Der Roman legt diese Alternative zwischen faktischer und kontrafaktischer Erzählung, Unheils- und Heils-Geschichte buchstäblich in die Hände des Lesers – und macht ihm so die Frage unabweisbar, was er selbst mit dem Ereignis des elften Septembers anfängt. 1053 Es handelt sich um Aufnahmen von Lyle Owerko, die der Protagonist auf einer portugiesischen Website findet (Jonathan Safran Foer : Extremely loud & incredibly close. London 2005, S. 257). Zur Herkunft der Bilder und zum Roman im Ganzen vgl. Stefanie Hoth: From Individual Experience to Historical Event and Back Again: ›9/11‹ in Jonathan Safran Foer’s Extremely Loud & Incredibly Close. In: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Hg. von Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning. Trier 2006 (ELCH/ELK 22), S. 283 – 300, hier S. 296. 1054 Foer : Extremely loud & incredibly close, S. 325. 1055 Ebd.

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Ausnahmezustand des Erzählens. Ulrich Peltzers Bryant Park und andere Texte über den 11. September 2001

Das Ereignis vom 11. September 2001 ist vor allem als Fernsehereignis wahrgenommen worden;1056 weil aber den Bildern des Terroranschlags bereits Bildfiktionen vorausgingen, auf die sich das Genre des Katastrophenfilms spezialisiert hat, konnte es paradoxerweise zugleich als D¦j— vu in Erscheinung treten: »[C]e matin-l—«, heißt es noch einmal bei Beigbeder, »la r¦alit¦ s’est born¦e — imiter des effets sp¦ciaux. Certains t¦moins ne couraient pas se r¦fugier, tant ils avaient l’impression de regarder un spectacle d¦j—-vu.«1057 Schon der Anflug des Flugzeugs zitiert im Bewusstsein des Protagonisten die Erinnerung an einen Katastrophenfilm herbei: »Moi qui d¦teste les films-catastrophe«.1058 Tatsächlich sehnt Yorston angesichts der über ihn und seine Kinder hereinbrechenden Kontingenz die verlässliche Genrekonvention des Katastrophenfilms herbei, da sie zugleich die Garantie des happy end impliziert: »Finalement j’aurais bien aim¦ Þtre dans un de ces navets-catastrophe — la con. Parce que la plupart ont une happy end.«1059 Dass »von jeder möglichen Katastrophe ein Bild« existiert, »lange bevor sie eintritt«,1060 gilt für die Ereignisse vom elften September gewiss. Auch der Terroranschlag im Zentrum New Yorks wurde buchstäblich voraus-gesehen; aber – schreibt Florian Illies – »wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Wirklichkeit wirklicher sein könnte als ›wie im Film‹.«1061 Die Antizipationen des realen Ereignisses durch die celluloid hallucinations stellen den Terroranschlag sogar unter den Verdacht des Fakes.1062 Dass die (bild-)mediale Präsentation das reale Ereignis zunächst verdächtig macht, bloß ein Simulakrum zu sein, bestimmt auch Rafik Schamis Assoziation der Nachricht mit Orson Welles’ Hörspiel The War of the Worlds (nach dem gleichnamigen Roman von H. G. Wells, 1898),

1056 Vgl. oben das Kap. »Ereignis und Geschichte«. – Die folgenden Ausführungen zu Peltzers Erzählung stellen eine Überarbeitung meines Aufsatzes dar : Christoph Deupmann: Ausnahmezustand des Erzählens. Zeit und Ereignis in Ulrich Peltzers Erzählung ›Bryant Park‹ und anderen Texten über den elften September 2001. In: nine eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Hg. von Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen. Heidelberg 2008, S. 17 – 29. 1057 Beigbeder : Windows on the World, S. 327. 1058 Ebd., S. 72. 1059 Ebd., S. 79. 1060 Strauß: Der junge Mann, S. 38. 1061 Florian Illies: Generation Golf zwei. München 2003, S. 105. 1062 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Verschwörungstheorien und subtilen Beweisführungen anhand von dokumentarischem Filmmaterial, welche die Terroranschläge vom elften September als homemade job des amerikanischen Geheimdienstes CIA erweisen wollen.

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dessen Ausstrahlung am 30. Oktober 1938 panische Reaktionen an der amerikanischen Ostküste ausgelöst haben soll: Plötzlich kam die Nachricht vom Angriff in New York. Da ich selten auf die Uhr schaue, dachte ich im ersten Augenblick, es handle sich um ein Hörspiel auf dem Kultursender SWR 2. Orson Welles hat 1938 mit seinem berühmten, in Form von Nachrichten getarnten Hörspiel ›Der Krieg der Welten‹ (es geht darin um die Landung der Marsmenschen in Amerika) eine Panik in der amerikanischen Bevölkerung hervorgerufen, die mehrere Tote forderte. Einen Augenblick lang war ich nun erfüllt von Ekel angesichts der Sensationshascherei der Medien und der Kulturszene in Deutschland, die nur noch mit dem Nervenkitzel arbeiten. Dann zu Hause die schreckliche Gewißheit. Welch ein Verbrechen!1063

Im selben Sinne weist auch der Erzähler in Luc Langs 11 septembre mon amour (2003) auf Orson Welles’ Hörspiel hin, um die ›Wahrheit‹ des Ereignisses gegen den Verdacht seiner Simulation zu beschwören: »[…] cette fois, c’est vrai, c’est la v¦rit¦, la vraie v¦rit¦ vraie, ladies and gentlemen, it is true, it’s the truth! […] Attention! Ce n’est pas Orson Welles qui nous rejoue l’invasion radiophonique des extraterrestres, il faut y croire, guys, it’s the truth, the nude truth, guys!«1064 Die Anschläge irritieren ein medial geschultes Bewusstsein, das zwischen virtueller Darstellung und Realität sicher unterscheiden zu können glaubte. Es ist die Abwehr des Unvorhersehbaren und die Schwierigkeit seiner Apperzeption, die auch in Don DeLillos Roman Falling Man die Kinder veranlasst, mit dem Fernglas am Himmel nach weiteren Flugzeugen Ausschau zu halten: »they’re looking for more planes«,1065 während der Einsturz der Türme aus ihrem Bewusstsein ausgeblendet bleibt. Und doch werden es gerade die unablässig wiederholten Bilder sein, welche die Apperzeption des Ereignisses erzwingen und – wie Florian Illies angemerkt hat – das Weltverhältnis einer jüngeren, popsozialisierten und gegen jede akute Kriegsgefahr sich abgesichert glaubenden Generation verändern: »so sickerte am 11. September die Welt hinein in unser Weltbild.«1066 Dass die literarischen Texte kaum vom Ereignis selbst, sondern von seiner medialen Vermittlung erzählen, liegt auch an einer Äquidistanz, die bewirkt, dass selbst jene, die sich in direkter Nähe zum Schauplatz des Ereignisses befanden, den Zuschauern vor den Bildschirmen kaum etwas an Erfahrung voraus haben. Diese Deprivilegierung der authentischen Augen- und Ohrenzeugenschaft belegen die Essays und Tagebücher der Autorinnen Kathrin Röggla und Else Buschheuer, die sich zum Zeitpunkt des Terroranschlags von New York ganz 1063 Rafik Schami: Mit fremden Augen. Tagebuch über den elften September, den Palästinakonflikt und die arabische Welt. München 2004, S. 17 (11. 10. 2001). 1064 Luc Lang: 11 septembre mon amour. Paris 2003, S. 243. 1065 DeLillo: Falling Man, S. 72. 1066 Florian Illies: Generation Golf zwei. München 2003, S. 104.

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in der Nähe befanden. Buschheuer teilt auf Interview-Anfragen in ihrem Internet-Tagebuch mit: »ich bin nur halb eine Augenzeugin, eigentlich bin ich eine Ohrenzeugin, keinesfalls habe ich ›alles miterlebt‹.«1067 Die meisten ihrer elektronischen Korrespondenzpartner wissen zum Zeitpunkt des Ereignisses ebensoviel oder mehr als sie selbst. »[W]ir haben den ganzen tag ferngesehen«, schreibt Röggla selbst in einer bei Ulrich Peltzer zitierten Mail.1068 »[T]urn on TV«:1069 Die Augenzeugenschaft der Fernsehzuschauer hebt alle räumlichen Nähe- und Ferne-Verhältnisse auf, so dass sich auch die Berichterstattung der Presse vor allem auf die Ereignisse auf dem »Bildschirm« bezieht. »Das einzige, was einen in diesem Zusammenhang ›befriedigte‹, auch wenn es das falsche Wort ist«, äußerte Thomas Meinecke in einem Interview wenige Tage nach dem elften September, »war schon das Fernsehen.«1070 Wie sich die individuellen Wahrnehmungen in einem »synoptischen, künstlichen Blick«1071 konzentrieren, der unabhängig vom Standort dieselben Bilder sieht, bewirkt die Nachricht einen globalen Zeitvergleich. »11. September 2001, 16.00 Uhr : Unsere vierzehnjährige Tochter ist heute zu ihrem ersten Highschool-Tag aufgebrochen. Zum ersten Mal fuhr sie mit der U-Bahn von Brooklyn nach Manhattan – allein«, leitet Paul Auster seinen Essay über den ›Beginn des 21. Jahrhunderts‹ ein.1072 »Kurz vor 17 Uhr fuhr ich damals zum Supermarkt […]. Danach stieg ich ins Auto und wollte nach Hause fahren. Plötzlich kam die Nachricht vom Angriff in New York«, ist in Schamis Tagebuch zu lesen.1073 »Am Nachmittag schalte ich ahnungslos gegen Viertel nach drei das Fernsehgerät an und kann meinen Augen nicht trauen«, beginnt Durs Grünbein seinen Tagebuch-Essay Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt.1074 Zahlreiche

1067 Else Buschheuer : www.else-buschheuer.de. Das New York Tagebuch. Köln 2002, S. 160 (Tagebucheintrag vom 12. 9. 2001, 1 Uhr 25 New Yorker Zeit). Buschheuer fährt fort: »Ich war zu weit weg zum Sterben, zu nah zum Weiterleben. So fühlt sich das an. Drei Kilometer ; gestern hat sich mir das Herz zusammengekrampft, wie nah es doch war, als ich abends zur Unglückstelle ging. Wie knapp.« 1068 Ulrich Peltzer: Bryant Park. Erzählung. Berlin 2004, S. 141. 1069 DeLillo: Falling Man, S. 63. 1070 Thomas Meinecke im Interview mit Ina Hartwig: Glamour und Abgrund. Thomas Meinecke über die Auswirkungen der Anschläge. In: Frankfurter Rundschau Nr. 219 vom 20. 9. 2001, S. 19. 1071 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay von Alfred Andersch. 4. Aufl. Frankfurt/M. 2003, S. 33. 1072 Paul Auster. »Jetzt beginnt das 21. Jahrhundert. Wir alle wussten, dass dies geschehen könnte. Nun ist es viel schlimmer«. In: Dienstag 11. September 2001. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 13 – 15, hier S. 13. (Austers Beitrag erschien zuerst auf Deutsch in der Wochenzeitung Die Zeit vom 13. 9. 2001.) 1073 Schami: Mit fremden Augen, S. 17. 1074 Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 218 vom 19. 9. 2001, S. 53. – Grünbeins Tagebuch-Essay setzt seine gleichzeitig er-

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Texte wie Alltagsgespräche über den elften September beginnen mit der »Frage, die bald historisch sein wird: Wo warst du, als das Word Trade Center zerstört wurde? Es gibt ja viele dieser Fragen: Wo warst du, als Kennedy… als Lennon… als die Mauer… als Lady Di… Nun also die.«1075 »They wrote about the planes. They wrote about where they were when it happened«, heißt es über eine New Yorker Selbsthilfegruppe von Alzheimer-Patienten in Don DeLillos Falling Man,1076 denn das chockhafte Ereignis sperrt sich gegen den Sog des Vergessens: »Where were you when it happened?«1077 »Ja, wo war ich, als es geschah, wo war ich, als ich’s erfuhr?« fragt sich auch Max Goldt in seiner Tagebucheintragung »Ereignisverzerrter Tag«.1078 »I was in the guest room when it happened. I was watching the television […]«, antwortet eine der Erzählstimmen in Jonathan Safran Foers Extremly loud and incredibly close.1079 »Nous savons tous pr¦cis¦ment o¾ nous ¦tions le 11 septembre 2001«, konstatiert auch der Erzähler bei Beigbeder.1080 Die Erinnerung an den elften September hat offenbar redundante Rechenschaftsmuster hervorgebracht, die der Synchronisierung der außerordentlichen Erfahrung dienen. Ihre Funktion besteht darin, subjektive ›Zeit‹ und objektive ›Chronologie‹ abzugleichen und ineins damit den Chock in ein Moment gemeinsamer, kontinuierlicher Erfahrung zu verwandeln. Damit ist zugleich ein Anfang des Erzählens gemacht.

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schienenen »Berliner Aufzeichnungen« Das erste Jahr fort, die mit dem 31. Dezember 2000 enden; Durs Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Frankfurt/M. 2001). Buschheuer : www.else-buschheuer.de, S. 188 (Eintrag vom 13. 9. 2001, 10 Uhr 30 New Yorker Zeit). DeLillo: Falling Man, S. 60. Ebd., S. 126. Max Goldt: Wenn man einen weißen Anzug anhat. Ein Tagebuch-Buch. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 20. Jonathan Safran Foer : Extremly loud and incredibly close. London 2005, S. 224. – In Don DeLillos Falling Man erhält dieser Zeitvergleich eine für die erzählte Figur eher peinliche Note: »Ich war auf dem Klo. Später hasste ich mich dafür. Die Leute fragten, wo warst du, als es passierte. Ich habe es niemandem gesagt.« DeLillo: Falling Man, S. 68. Beigbeder : Windows on the World, S. 110. – Dass auch der 18. Oktober 1977, also das Datum der Geiselbefreiung in Mogadischu und der Suizide der Terroristen in Stammheim, »für Deutsche ein Datum wie in den USA die Ermordung von JFK und 9/11« darstellt, »bei dem man sich genau erinnert, wo man selber gerade war«, stellt gemessen an der redundanten Vielfalt der Belege hinsichtlich des letztgenannten Datums eher eine Einzelmeinung dar. Vgl. Christoph Draeger : Stammheim, 2003. Black & White Room-Memories of Terror from a Safe Distance, 1999/2003. In: Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF, Bd. 2, S. 210.

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Ereignis und Erzählzeit

Das Ereignis hat seine eigene Zeit. Als vertikaler Einbruch bedeutet es eine Zäsur des horizontalen Geschichtsverlaufs, dessen einschneidende Markierung es doch zugleich bildet. Das Geschichtszeichen Nine / eleven ist als Zäsur in die Chronologie der Zeitgeschichte des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts eingetragen worden, die es von der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts grundsätzlich trennt. Der Topos der politischen Rede, dass nichts mehr so sein werde, wie es war, wird in beinah jedem literarischen Text über den elften September zitiert: »Seit dem 11. September 2001 hörten und lasen wir – und konnten es schon nicht mehr hören –, daß sich die Welt verändert habe und daß nichts mehr so sei wie bisher«, schreibt Arnold Stadler in seiner Textsammlung Tohuwabohu (2002).1081 Die Aporie von Ereignis und Repräsentation bezieht sich jedoch nicht nur auf die Verspätung der Sprache und der Erzählung, sondern schon auf das ›Sich-Zeigen‹ des Ereignisses selbst. Denn der elfte September ist von seiner medialen Repräsentation kaum zu trennen; tatsächlich hat die Logik des Terrors von vornherein auf die Öffentlichkeitswirkung spekuliert. Wie der Missbrauch von zivilen Passagierflugzeugen als Massenvernichtungswaffen entspricht auch der terroristische Gebrauch der Massenmedien einem ›reak1081 Stadler : Tohuwabohu, S. 12. – Vgl. etwa Buschheuer : www.else-buschheuer.de, S. 134 (Eintrag vom 11. 9. 2001, 10 Uhr 25 New Yorker Zeit): »Nix wird je wieder so sein.« Vgl. auch ebd., S. 179: »Weil eben nichts mehr so ist, wie es war, niemand, ich auch nicht.« Vgl. auch den Roman von Katharina Hacker : Die Habenichtse. Frankfurt/M. 2006, S. 23, in dem besonders die rituelle Wiederholung der Phrase und der Konstruktionscharakter der behaupteten Zäsur deutlich wird: »später wiederholte sie immer wieder, was sie gehört hatte, daß es nie mehr sein würde wie bisher, die ganze Welt, das Leben […]«. Von einer anderen Figur, die dem Tod eines Kollegen beim Anschlag auf das World Trade Center ihren Karrieresprung nach London verdankt, heißt es: »Er dachte an den 11. September vor anderthalb Jahren, an seine hilflose Aufregung, die mit New York nichts zu tun hatte, an Bushs Rede, nichts, wie es war. Nichts hatte sich verändert. Es gab Schläfer, es hatte den Afghanistan-Krieg gegeben, es gab zerstörte Häuser, verbrannte Menschen, hastig beerdigte Tote und in unwegsamen Bergen weiter Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer, Namen und Dinge, die für sie hier nicht mehr bedeuteten als die Verwicklungen und Dramen einer Fernsehserie, über die alle sprachen, wie sie über Big Brother gesprochen hatten. […] Der 11. September war inzwischen nichts als die Scheidelinie zwischen einem phantasierten, unbeschwerten Vorher und dem ängstlichen, aggressiven Gejammer, das sich immer weiter ausbreitete. Nur für Roberts Eltern, dachte Jakob, hatte sich alles geändert, und für ihn selbst. Er hatte Isabelle gefunden, er würde nach London gehen.« (Ebd., S. 93.) Vgl. auch Goldt: Wenn man einen weißen Anzug anhat, S. 21: […] und dann kam auch noch Edmund Stoiber, und ich glaube, er war es, von dem ich zuerst den Satz hörte, nun sei nichts mehr wie zuvor.« – In einem bemerkenswert einträchtigen Gegensatz zur Behauptung einer radikalen Zäsur steht jedoch das Beharren auf Kontinuität und Wiederherstellung; vgl. die unmittelbar nach dem Anschlag auf das World Trade Center geäußerte Versicherung des damaligen New Yorker Bürgermeisters Ed Koch, die bei Kathrin Röggla zitiert wird: »we will rebuild!« (Kathrin Röggla: really ground zero. 11. september und folgendes. Frankfurt/M. 2001, S. 23.)

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tionären Modernismus‹,1082 der archaische Wirklichkeits-Interpretamente und Programme mit avancierten Formen der Technik verknüpft. Geht man dieser Verbindung zwischen terroristischem Ereignis und bildmedialer Repräsentation theoretisch weiter nach, so zeigt sich freilich zwischen Ereignis und Medialität kein strikter Gegensatz an, sondern eher schon eine Affinität. Den Bildmedien kommt dabei die ambivalente Rolle zu, einerseits für die globale Ausbreitung einer Chockwelle zu sorgen, andererseits aber (im Sinne von Freuds bzw. Benjamins ›Chockabwehr‹) eine Form der Bewältigung bereitzustellen. Der Zeitverzug literarischer Narrationen ist aber für die ästhetischen Verarbeitungen des elften Septembers ebenso problematisch wie konstitutiv. Dass zeitgeschichtliche Ereignisse sich eigentlich nur aus zeitlicher Distanz angemessen darstellen lassen, wird auch in den Tagebuchaufzeichnungen und Essays deutschsprachiger Autorinnen und Autoren manifest. Rafik Schami erkennt genau einen Monat nach den Anschlägen die Grenzen der Vernunft an den fehlenden Zahnrädern, die ein solches Ereignis irgendwie einordnen, verständlich machen. Wie und wo fängt man an? Jede Frage reißt einen Abgrund auf.1083

Anfang und Ende, die Eckpunkte des aristotelischen Mythos, sind vorläufig unerkennbar ; das Ereignis bleibt erratisch. In ähnlicher Weise hat Kathrin Röggla die unsichere Folgenabschätzung, Bewertung und Vermittlung des Ereignisses im Zeithorizont ihres ereignisnahen Schreibens benannt: »das ist zu groß, was hier passiert ist«, zitiert Ulrich Peltzer eine ihrer E-Mails vom Tag der Anschläge;1084 »weitaus zu groß« erscheint ihr das Ereignis auch im essayistischen Text, »um es irgendwie integrieren zu können.«1085 Dort heißt es präziser : die politischen implikationen der jetzigen situation sind jedenfalls nicht abzusehen, die weiteren auswirkungen nicht abschätzbar. alles erscheint groß, zu überdimensioniert, und der ausnahmezustand wird fortgesetzt bis auf weiteres.1086

Der politische Ausnahmezustand, der vom Ereignis eingesetzt worden ist, affiziert das Erzählen auch als ästhetischer : Denn das Erzählen ist sich seines Gegenstands so wenig sicher wie der Mittel seiner Darstellung. Während der politische Verstand der Zeitgenossen aus »Hilflosigkeit« auf Abwege offener Spekulation gerät, finden die Autoren in der Sprache bereits die Geschlossenheit 1082 Zum Begriff vgl. Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich. Cambridge 1984 (reprinted 1987), insbes. S. 1 – 18. 1083 Schami: Mit fremden Augen, S. 17 (Tagebucheintrag vom 11. 10. 2001). 1084 Peltzer : Bryant Park, S. 140. 1085 Röggla: really ground zero, S. 7. 1086 Ebd., S. 105. – Vgl. ebenso Thomas Meineckes Äußerung im Zusammenhang seiner Kritik an den Reaktionen der deutschen Feuilletons: »Dieses wäre mir jetzt zu groß gewesen.« (Meinecke: Glamour und Abgrund.)

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von historisch-politisch »besetzten Metaphern« vor. Schamis Rede von der »Metaphernfalle«1087 verdeutlicht die Interferenz zwischen einer geschichtlich präparierten Sprache und dem inkommensurablen Ereignis, die das (Un-)Sagbarkeitsparadox des elften Septembers konstituiert. Rögglas, Buschheuers und Schamis Essays und Tagebücher betreiben daher nicht zuletzt eine Kritik des öffentlichen Sprachgebrauchs, wie er sich in den Berichten und Kommentaren nach dem Datum der politischen Katastrophe zeigt. Einer der ersten und literarisch anspruchsvollsten Texte, die sich dem Ereignis ästhetisch stellen, liegt in einer Erzählung vor, deren Verfasser zunächst gar nicht die Absicht haben konnte, von diesem Ereignis zu handeln. Ulrich Peltzer hat es seinem Verlag daher ausdrücklich untersagt, für seine bereits im Jahr 2000 begonnene Erzählung Bryant Park mit dem spektakulären ›Label‹ Nine / eleven zu werben.1088 Zum Zeitpunkt der Anschläge war er wie der Erzähler im Text außerdem gar nicht mehr in New York. Die Erzählung setzt mit der atmosphärisch dichten Beschreibung eines Nachmittages in Manhattan ein, in dem »die Polizeisirenen und der in langen Wellen auf und abschwellende Ton der Ambulanzfahrzeuge« mit leichter apperzeptiver Verzögerung ins Bewusstsein des Ich-Erzählers Stefan Matenaar vordringen: Irgendwo in der sechsunddreißigsten sei ein Gerüst eingestürzt, wird gesagt, nein, ein Lastenaufzug, seitlich eingeknickt, so dass die Gefahr bestehe, dass Tonnen von Stahl, die ganze Einrüstung des Gebäudes zusammenbreche, alle Anwohner müssen evakuiert werden […].1089

Die ständig wiederholten Fernsehaufnahmen des Zusammenbruchs eines Krans, der zwei Seniorenheimbewohner erschlug, nehmen eine Katastrophe vorweg, die nicht eintritt. »Der Kopf eines Augen- oder eher eines Ohrenzeugen füllte jetzt den Monitor vor den Fenstern der untergemieteten Wohnung aus, er sprach von donnerndem Krach, den man überall im Viertel gehört haben müsste, […] wirklich ziemlich laut.«1090 Erst mehr als hundert Seiten später, also am Beginn des letzten Viertels des Textes, schaltet sich die Autorfigur »Ulrich« in die Erzählung ein und berichtet von der tatsächlichen Katastrophe des 11. Septembers 2001, von der er – wie das Erzähl-Ich Stefan Matenaar1091 aus der Bibliothek kommend – in Berlin telefonisch erfährt. Hier, am Beginn des letzten Drittels des Textes, setzt die Erzählung, typografisch markiert durch eine Initiale, unvermittelt neu ein. 1087 Schami: Mit fremden Augen, S. 18 und S. 64. – Shami diskutiert vor allem George W. Bushs Formel vom ›Kreuzzug gegen den Terror‹. 1088 Vgl. die Datierung »Dezember 2000/November 2001« in Peltzer : Bryant Park, S. 172. 1089 Ebd., S. 8. 1090 Ebd., S. 9. 1091 Der Name fällt zuerst ebd., S. 107.

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Als ich gegen siebzehn Uhr aus der Staatsbibliothek nach Hause komme, ist die Stimme Janas auf dem Anrufbeantworter, bestürzt sagt sie, es sei Krieg jetzt, es sei nicht zu fassen. Sofort schalte ich das Radio ein, in dem der DLF läuft, doch werde ich aus den Worten des Moderators nicht klug, er spricht immer nur von der Katastrophe, dem Terror bisher nicht bekannten Ausmaßes, der die Vereinigten Staaten ins Herz getroffen habe, es fallen die Namen der Städte Washington und New York […]. Was denn nun?, frage ich mich, halb ärgerlich über seine Unfähigkeit, das Geschehen bündig zusammenzufassen, während im selben Moment eine große Angst in mir hochsteigt, das Gefühl, es habe sich etwas ohne Vergleich ereignet.1092

Während die bisherige Erzählmontage die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen inszeniert, reduziert sich die Komplexität der Zeitebenen der Erzählung mit einem Mal auf eine pure Jetzt-Zeit, die Simultaneität von Ereignis und medialer Perzeption, und mit der Einschaltung der Autorfigur »Ulrich« wird sogar die narratologische Ungleichzeitigkeit von Autor und Erzähler einkassiert. Bis dahin aber entfaltet der Text eine mehrschichtige Zeit- und Handlungsstruktur, die montagehaft mehrere zeitlich getrennte Erzählstränge ineinanderschiebt: die Gegenwartshandlung des New Yorker Nachmittags, nachdem der Ich-Erzähler die Public Library verlassen hat und durch die Straßen in den abendlichen Bryant Park flaniert, um dort eine öffentliche Filmvorführung von Moby Dick abzuwarten; die Auseinandersetzungen mit der Freundin Sarah bei der Wohnungssuche in New York; die Geschichte eines gescheiterten Drogenschmuggels auf einer Reise nach Italien; Krankheit und Sterben des Vaters. Auf der Textoberfläche inszeniert die Schrift, die mit den recte und kursiv voneinander abgesetzten Geschichten sich selbst buchstäblich in den Satz fällt, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Die fortwährende Unterbrechung fächert die monologische Erzähl-Stimme auf polyphone Weise auf;1093 entgegen der Linearität der Schrift entsteht eine palimpsestartige Struktur sich überlagernder Zeitschichten, die durch die eine Geschichte hindurch die andere lesbar bleiben lässt. Ohne den absichtlichen Abruf abzuwarten, melden sich die Erinnerungen selbst zu Wort und reichern die wahrgenommene Wirklichkeit assoziativ an. In den Archiven der Vergangenheit, den Taufregistern neuenglischer Gemeinden, die der Erzähler »nach bestimmten Namen durchsuch[t]«, wiederholt sich diese Verselbständigung in Gestalt von »fehlenden oder plötzlich dazugekommenen Buchstaben, die sich in die Worte einschmuggeln von einer Spalte zur nächsten; scheinbar vorsätzlich, könnte man meinen […].«1094 Außerhalb der Bibliothek sind es die Eindrücke des urbanen Lebens, die sich in der äußersten Beschrei1092 Ebd., S. 134. 1093 Vgl. Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. u. mit einer Einleitung versehen von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Sabine Reese. Frankfurt/M. 1993, S. 157 u. ö. 1094 Peltzer : Bryant Park, S. 10 f.

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bungsgenauigkeit der Sprache zur Geltung bringen. Zusammenhang und Dauer all dieser Momente konstituieren sich über die erzählende Stimme eines Ichs, das sich selbst als unlöslich ›in Geschichten verstrickt‹ erfährt.1095 Auch in der New Yorker Gegenwart erweist es sich als unmöglich, »die an jeder Ecke lauernden Bilder der Vergangenheit [loszuwerden], sich neu zu erfinden.«1096 5.2

Fernsehbilder erzählen

In diese komplexe Struktur schneidet das Ereignis des elften Septembers ein: Es teilt, indem es zum Neueinsatz zwingt, die Erzählung in zwei Abschnitte und fokussiert sie über neun Seiten hinweg auf seine unabweisbare Präsenz. Die Abweisung der immerzu durchscheinenden Vergangenheit geschieht durch die zwingende Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die fast zeitgleich weltweit ausgestrahlten Bilder. Peltzers Erzählung zollt dieser Zentrierung der Aufmerksamkeit ihren Tribut, indem sie über mehrere Seiten hinweg die Fernsehbilder vom 11. September 2001 fast kommentarlos nacherzählt: […] es sind auf allen Kanälen plötzlich Bilder zu sehen, die man nicht glaubt, gigantische Staubwolken, einstürzende Wolkenkratzer, Boeing-Flugzeuge, die in Hochhäuser rasen, in Panik wegrennende Menschen, wie von einer klebrigen, weißgrauen Puderschicht bedeckte oder bestäubte Rettungskräfte, Polizisten und Feuerwehrleute, die sich in das Inferno stürzen, um noch irgendwen rauszuholen, wagemutig ihnen nacheilende Passanten, das Pentagon brennt, wie Puppen segeln Verzweifelte, die sich aus den Fenstern gestürzt haben, knallen im Flug vor die Fassade, rotschwarz leuchtende Feuerbälle aus Kerosin, das eine Flugzeug durchbricht das Gebäude wie nichts, Stahlteile und Betonbrocken wirbeln durch die Luft, es stürzt alles zusammen […]1097

Dass die Wahrnehmung des Ereignisses vor allem der medial vermittelten »Sicht der Bilder« entspricht,1098 manifestiert sich im Protokollieren jener Fernsehaufnahmen, die sich dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt haben. Das Protokoll der Momentaufnahmen hebt mit der syntaktischen Ordnung auch die temporale Vielschichtigkeit des Erzähltextes auf. Das Ereignis fixiert die Zeitlichkeit der Erzählung auf eine Gegenwärtigkeit, die absolut ist und daher keine Einrede der Erinnerung und nicht mal eine Interpretation mehr gestattet. Diese 1095 Vgl. Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Hamburg 1953. 1096 Peltzer : Bryant Park, S. 108. 1097 Ebd., S. 135. 1098 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 29.

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überlässt sich einer Präsenz, welche die zuvor zwischen verschiedenen Zeitschichten und Geschichten vagierende Aufmerksamkeit vollständig okkupiert, ohne dabei eine erzählbare Geschichte zu ergeben: Das widerspruchslose BildRegime des Ereignisses in seiner Präsenz lässt keine ›Fabel‹ mehr zu. – Auch in Else Buschheuers (ohnehin episodischem) Tagebuch-Text fragmentiert das Ereignis die Form des Aufschreibprozesses in vergleichbarer Weise: Über fast zwanzig Seiten überantwortet sich die Erzählstimme dem (selektiven) Protokoll ihrer Mail-Korrespondenz,1099 bis sie vor der Nachwirkung des Ereignisses kapituliert, so dass das Schreiben zeitweilig ganz zum Stillstand kommt.1100 Ebenso reduziert sich bei Peltzer angesichts der zwingenden Objektivität der Bilder die Subjektivität der Erzählstimme auf die affektiv tingierte Mitteilung des Gesehens und die Versuche der Kontaktaufnahme und situativen Kommunikation: in einer absinkenden Kurve nähert sich ein Verkehrsflugzeug den Türmen und schlägt ein, zerplatzt in einem gewaltigen Feuerball, eine Staubwolke wälzt sich rasend durch das südliche Manhattan, ein Orkan aus zerriebenem Glas und Stahl und Beton fegt alles hinweg, was im Weg steht, oh my god, schreit eine Frau, ich glaube, sagt Horst, die werden jetzt Afghanistan angreifen, überleg dir mal diese irre narzisstische Kränkung.1101

Man kennt die Bilder. Ihre Nacherzählung setzt auf nichts anderes als auf den Wiedererkennungswert: Eingebettet in ein Erzählen, das schließlich doch wieder über ihre Nacherzählung hinaus gelangt, markiert das Ereignis selbst jenen ›Nullpunkt‹ der Literatur, von dem die Kritik sprach, im literarischen Text selbst. Was die absolute Gegenwart des Ereignisses angeht, gibt es nichts zu erzählen, was nicht mit dem Akt der visuellen Wahrnehmung identisch wäre. Wo aber die Erzählung mit der Wahrnehmung des Ereignisses selbst koinzidiert, partizipiert der Text am ehesten am Ereignis selbst, indem er dessen radikale Unterbrechung in der Diskontinuierung seines eigenen Zeichenprozesses noch einmal geschehen lässt. Während der Erzähler an dieser Stelle lediglich massenmedial verbreitete Bilder nachzuerzählen vermag, die jedem Leser aus eigener Anschauung bekannt sind, bewahrt die Augenzeugenschaft aus der räumlichen Nähe dennoch einen Rest an Authentizität, der durch keine medial vermittelte Teilhabe ersetzt wird. Et in New York ego: »Und du hast die Türme echt einstürzen sehen? / Einen, dann sind wir weggerannt.«1102 Aber indem sie ausführlich den E-Mail-Verkehr mit Kathrin Röggla zitiert, dokumentiert Peltzers Erzählung auch, wie der 1099 1100 1101 1102

Buschheuer : www.else-buschheuer.de, S. 128 – 147. »15.09.01: Wegen Krankheitsfall geschlossen. Der Webmaster.« Ebd., S. 204. Peltzer : Bryant Park, S. 139. Ebd., S. 142.

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Chock des elften Septembers allmählich »den Charakter des Erlebnisses«,1103 ja des Spektakulären annimmt, in den sich die Euphorie der ›Überlebenden‹ mischt: der wind war für uns ein riesen riesenglück. wir haben überhaupt keinen rauch abgekriegt, obwohl das unglück ca 700 m von uns passierte. das hättest du sehen müssen (ist einem eigentlich nicht zu wünschen), how das ding collapsed. waahhhhnsinn!1104

5.3

Präsenz und Dauer

Erst nach dem scharfen Einschnitt, der der Autorfigur »Ulrich« zuzuschreiben ist, nimmt der frühere Erzähler Stefan Matenaar die frühere, verschiedene Zeitebenen und Geschichten verschaltende Erzählweise wieder auf. Aber die ereignishafte Zäsur wirkt sich semantisch auf das Ganze des Textes aus, indem sie aus dem hermeneutischen Prozess seines Verstehens nicht mehr fortzudenken ist. Wie eine semantische Chockwelle setzt sich vom Fluchtpunkt des Ereignisses eine Anspielungskette fort,1105 die frühere wie spätere Elemente der Erzählung darauf bezieht. So wie die ausgebliebene Katastrophe des zusammengestürzten Baugerüsts auf die reale Katastrophe vorausdeutet, weisen die biografischen Nachforschungen des Ich-Erzählers »in Taufregistern und Pfarreichroniken des frühen neunzehnten Jahrhunderts«, welche die Mikrofiches der Public Library verwahren,1106 auf die Toten und Vermissten des Terrors voraus; und Kapitän Ahabs Mannschaft in Moby Dick, die seinen fanatischen »Angriffsbefehlen« blind Gefolgschaft leistet,1107 wird zum cineastischen VorBild der Al Qaida-Terroristen. Post eventum ergibt sich eine Isotopie von Anspielungen und Antizipationen, die auf das Ereignis des elften Septembers zulaufen. Aber auch den poetologischen Aussagen des Erzählers wächst eine darauf bezogene Bedeutung zu, nachdem die vom Ereignis erzwungene Rechenschaft das Programm des Erzählens auf so unvorhersehbare Weise eingelöst hat: »es hilft nichts, der Park, der Sonnenaufgang über dem East River, es wäre der Geschichte, der Gegenwart direkt ins Gesicht zu blicken, keine Vorwände mehr.«1108 Auch in den Internet-Tagebuchaufzeichnungen Else Buschheuers erscheint mit dem katastrophalen Ereignis die »Zeit […] außer Kraft gesetzt. Schreiben1103 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 614. 1104 Peltzer : Bryant Park, S. 141. 1105 Vgl. auch Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt, wo von der »Druckwelle, die von der blast zone in Downtown Manhattan ausging«, die Rede ist, welche den Autor »total arbeitsunfähig« macht. 1106 Peltzer : Bryant Park, S. 146. 1107 Ebd., S. 102 und S. 106. 1108 Ebd., S. 171.

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müssen, Nichtschlafenkönnen, Bleibenmüssen.«1109 »The time is out of joint«, heißt es in Shakespeares Hamlet.1110 Der Ausnahmezustand teilt sich der Syntax der weitgehend unredigiert wirkenden Einträge mit, während das ereignishafte Geschehen sich erst in der späteren »Rekonstruktion« narrativer Form nähert: »DANN KAM DAS FLUGZEUG. Es war so laut und flog so tief, dass es gar nicht sein konnte.«1111 Die anhaltende oder wiederkehrende Verstörung dokumentiert sich in den Lücken des Aufzeichnungsverlaufs. Es ist dieselbe Verstörung, die infolge der Fernsehbilder des Ereignisses auch eine der Figuren in Katharina Hackers Roman Die Taugenichtse (2006) erfasst: »Mae war außer sich, sie klammerte sich an ihn, im Treppenhaus, schluchzend. Völlig hysterisch. Jim hörte, daß der Fernseher lief.«1112 Auch noch in Rögglas zwischen »authentizität« und den »begriffsverschiebungen« der politisch-publizistischen Rhetorik sich bewegenden Reflexionen bezeugen die reproduzierten Fotoaufnahmen eine spontane Chockreaktion, die sie im Moment des Ereignisses »wahllos losfotografieren« lässt.1113 Das Tagebuch ordnet gleichwohl die Notizen und Reflexionen in einer linearen Form; zwar wird die Zeitwahrnehmung, nicht aber das zeitliche Gefüge des Textes durch das Ereignis gestört. Bei Peltzer dagegen unterbricht der elfte September eine Wirklichkeitsbeschreibung, die sich selbst immer schon von Geschichten unterbrochen sieht. Wie bei einem Filmprojektor die Spulen eines Films übergangslos ausgetauscht werden, scheint auch »aus den bruchstückhaften Bildern ein Bild zu werden, dann eine Abfolge von Bildern, als würde man Filmschnipsel zusammenkleben […]«.1114 Aber während die fortwährend einander ablösenden Erzählstränge doch als Geschichten lesbar bleiben, formiert sich das Ereignis des elften Septembers nicht dazu: Der »Anschlag« hat die Erzählung, bevor sie »zu ihrem Schlusspunkt« gelangt, »unterbrochen […] wie man beim Lesen eine Seite verschlägt, die man nicht auf Anhieb wiederfindet«.1115 Das disruptive Ereignis markiert so gewissermaßen einen Rand des Erzählens in der Mitte der Erzählung; an ihm bricht der Versuch ab, die vielschichtige Wirklichkeit in narrative Struktur zu überführen. Somit wird der Text zum Fragment, durch das die Bruchstelle des Ereignisses hindurchgeht, während die Erzählung sich neun Seiten später erneut um die Stelle des Bruchs herum schließt. Damit freilich fügt sich am Ende die Zäsur doch in 1109 Buschheuer : www.else-buschheuer.de, S. 205 (Eintrag vom 15. 9. 2001). 1110 William Shakespeare: Hamlet. Englisch/deutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Holger M. Klein. Bd. 1: Einführung, Text, Übersetzung, Textvarianten. Stuttgart 1996, S. 108 (I, 5, v. 188). 1111 Buschheuer : www.else-buschheuer.de, S. 161 (Eintrag vom 12. 9. 2001). 1112 Hacker : Die Habenichtse, S. 22. 1113 Röggla: really ground zero, S. 7. 1114 Peltzer : Bryant Park, S. 46. 1115 Ebd., S. 145.

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die bricolage des Textes ein, der auch das Unvorhersehbare in ein Moment seiner Poetik zu konvertieren vermag: Weil »die andere Geschichte im selben Moment weitergeht, sich einfach in den Text der Gedanken hineinschiebt, als sei es ein ihr unveräußerliches Recht«,1116 geht der Text nach neun monologischen Seiten erneut in den Modus des komplexen, mehrstimmigen Erzählens über. Das Wahrnehmungsprotokoll der Autorfigur erweitert die Montage von Erinnerungen und Bildeindrücken nur um eine weitere Sequenz, die sich in die rhizomartige Struktur des In- und Übereinanders der zuvor und hernach erzählten Geschichten einschreibt.1117 Auch damit entzieht sich indes das Ereignis des elften Septembers der symbolischen Stillstellung wie alles andere, dessen die Schrift habhaft zu werden versucht: Die Geschichte, das Leben. Fände man nur die richtigen Worte, gelänge es nur, alles in Schrift zu verwandeln bis zurück an den Anfang. Besäße man vielleicht einen Zipfel der Wahrheit.1118

Das letzte Wort behält daher nicht das verstörend katastrophale Ereignis, sondern es geht an die »Blätter, Kopien, Geschichten«, mit denen der Erzähler sich im Spiegelbild einer Schaufensterscheibe erblickt.1119 »[W]as übrig beibt«, heißt es kurz zuvor, sind Geschichten, jemand, der sie erzählt, erst das, dann dieses und jenes, wie es einem in die Gedanken kommt1120

6.

Jenseits von Mythos und Ereignis: Durs Grünbeins September-Elegien

In the Shadow of no Towers lautet der Titel von Art Spiegelmans graphic novel über den 11. September 2001. Sie betreibt eine bild- und textsemantisch hochkomplexe Auseinandersetzung mit den vielfältigen ikonografischen Traditionen 1116 Peltzer : Bryant Park , S. 144. 1117 Vgl. auch Claudia Kramatschek: Haltsuche. Haltlose Sprache – neue Bücher von Ulrich Peltzer und Michael Lentz. In: neue deutsche literatur 50 (2002), H. 3, S. 170 – 173. – Dass sich der »Filmriß« des Ereignisses in die poetische Komposition des Textes einfügt, betont dementsprechend Volker Mergenthaler : Katastrophenpoetik. Max Goldts und Ulrich Peltzers literarische Auseinandersetzungen mit Nine-Eleven. In: Wirkendes Wort 55 (2005), S. 281 – 294, hier S. 290. 1118 Peltzer : Bryant Park, S. 157. 1119 Ebd., S. 171. 1120 Ebd., S. 165. – Es ist dieselbe nicht geschichts-, sondern geschichten-optimistische Selbstversicherung der Funktion und Leistung narrativer Texte, die bereits am Ende von Thomas Hettches ›Wende-Roman‹ Nox ausgesprochen worden ist, wo sich ebenfalls die Zäsur des zeitgeschichtlichen Ereignisses mit dem Versprechen der Dauer narrativer Erinnerung verband: »Nichts von dem, was du kennst, wird […] bleiben, wie es ist. Und nur die Geschichten, die man sich davon erzählt, bestimmen, was wird.« Hettche: Nox, S. 156.

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und Diskursen, die sich auf das Ereignis beziehen oder beziehen lassen. Eine dreiteilige Bildsequenz, die wie ein grafisches Motto über den nachfolgenden Bildern und Texten steht, formuliert eine Art Metakommentar zu den vielfältigen Kommentaren des Ereignisses, die der Band entfaltet: Sie zeigt dessen Absorption durch eine medienequipierte Normalität, führt aber zugleich vor, wie das Ereignis diese Normalität verändert und als »the new normal« definiert. Während das mittlere Bild die plötzliche Diskontinuierung durch den Chock des Ereignisses darstellt, wird im letzten Bild der medial induzierte Dämmerzustand vor dem Fernsehbildschirm, den das erste bereits zeichnet, wiederholt. Nur die patriotische Flagge im Hintergrund, die den Abreißkalender ersetzt, und die zu Berge stehenden Haare der Figuren verraten den Eindruck, den das Ereignis hinterlässt, nachdem die Normalität von den chockierenden Bildern des elften Septembers Besitz ergriffen hat (Abb. 14):1121 Der Ausnahmezustand wird fortgesetzt, aber seine Fortsetzung verwandelt ihn in eine neue Normalität. Das am rechten Rand schräg eingerückte Bild der (im Band immer wiederkehrenden) glühenden Fassade des World Trade Centers mit der »Synopsis«, die die folgende ›Episode‹ als Fortsetzung einer Comic-Serie erscheinen lässt, setzt diese Syntax von Normalität, Ereignis und neuer Normalität weiter fort und gleichsam in Potenz. Dass in der »last episode« die Welt unterging, verkleinert die Apokalypse buchstäblich zu einer Episode der Geschichte – und zur Vorlage für ein Erzählen, das unbekümmert um die Logik des absoluten Endes einfach weitergehen kann.

Abb. 14: Art Spiegelman, In the Shadow of no Towers, 2004 (Ó Random House, New York/ Spiegelman)

Aus der Warte dieses letzten Bildes, aus einer Situation also, in der die Toten gezählt und die Trümmer auf ground zero weggeräumt sind, wenden sich auch Durs Grünbeins September-Elegien dem Ereignis vom elften September zu. Die Datierung des dreiteiligen Gedichts – »September 2001« – hält die unmittelbare Zeitnähe fest, aber die lyrische Stimme setzt da ein, wo das (im Gedicht ausgesparte) Ereignis bereits vorüber ist:

1121 Art Spiegelman: In the Shadow of no Towers. New York 2004, S. 2.

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Dann flaut die Erregung ab. Vom Anblick der Supernova Erholen die meisten sich bei Arbeit, Glücksspiel und Sex. Von allen Mementos bleibt als letztes das leise »It’s over«. Man betet im Stillen, faltet die Zeitungen, trinkt sein Becks. Heimgekehrt in die Liliput-Enge des Alltags gedenkt Wer davonkam des Nachbarn, den ein Hammerschlag traf. Schicksal, von Schläfern gemacht, erscheint nun als ferngelenkt. Daß Flugzeuge Bomben sind, stört kaum den technischen Schlaf. Verschämt sieht man manchmal zum Himmel auf. Was dort fliegt, Könnte ein Erzengel sein, unterwegs zum gewohnten Fanal.1122

Schon mit dem ersten Wort bekundet der Gedichttext die Voraussetzung der Vertrautheit mit dem Ereignis, auf das nur durch die Jahreszeit, verbunden mit der dichterischen Klageform der Elegie, abstrakt referiert wird. Statt auf seine unbeschreibliche Unmittelbarkeit bezieht sich das Gedicht auf etwas schon wieder Vergangenes, das durch die Kontinuität des Alltags auf Distanz gebracht worden ist: Der Alltag hat den Chock der »Supernova« – den durch innere Explosionen extrem hell strahlenden Stern, mit dem das Gedicht das Ereignis vergleicht – zusammen mit all den moralisch-politischen Mahnungen (»Mementos«) bereits verschluckt, welche die öffentliche Diskursivierung mit dem elften September verknüpfte. Grünbeins Gedankenlyrik setzt für diese Absorbtion des Außerordentlichen durch die Mechanismen der Gewöhnlichkeit ein überpersönliches »Man« als Subjekt ein: Nicht von subjektiver Erfahrung ist die Rede, sondern von ›objektiven‹ Mechanismen des Verhaltens in einer materiell saturierten Gegenwart, die sich in der lyrischen Stimme reflektiert. Es ist die Verkleinerung jeglicher Erfahrung in der »Liliput-Enge« des Alltags, die auch die Größe des Ereignisses zurücknimmt und die der Text mit frappierend gewöhnlichen Bildern illustriert. Die inadäquate Metapher vom »Hammerschlag« wird in einem anderen Gedicht, Vom Terror, aus dem gleichen Gedichtband ausgeführt, auch wenn der ›Terror‹ hier implizit auf die Terreur nach der Französischen Revolution datiert wird: Blauer Daumen – bebst noch lang Nach dem Schlag. Hast ihn verdient. So erschauert vor dem Volksandrang Der Marquis am Fuß der Guillotine. Aufruhr sammelt sich, und kalte Wut, Reißt die Adern aus dem Schlaf. Unterm Nagel brennt gestautes Blut. Zeigt dir, wo der Hammer traf.1123 1122 Durs Grünbein: September-Elegien. In: ders.: Erklärte Nacht. Frankfurt/M. 2002, S. 50 – 52, hier S. 50. 1123 Durs Grünbein: Vom Terror. In: ebd., S. 139.

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So sehr hat die unaufhörliche bildmediale und diskursive Wiederholung dem Datum des elften Septembers die Aura des Außerordentlichen ausgetrieben, dass das Fanal – wörtlich: das Feuerzeichen – des terroristischen Ereignisses selbst bereits den Charakter des Gewohnten angenommen hat: »ein Erzengel […], unterwegs zum gewohnten Fanal.« Dass »von diesem Augenblick […] die Enkel sich noch erzählen« werden und die gefallenen Türme des World Trade Centers »einen historischen Schatten werfen, der in vierhundert Jahren noch sichtbar sein wird«, ist sich auch Durs Grünbein wenige Tage nach dem katastrophischen Ereignis sicher.1124 Dass die Verse die Flugzeuge des elften Septembers hypothetisch mit Erzengeln vergleichen, bringt jedoch eine mythische Deutung des Ereignisses ins Spiel, die mit der formalen Gestaltung des Gedichts korrespondiert. Prosodisch nähert es sich mit den in der Regel sechshebigen Versen dem Distichon an, dem Grundvers der Elegie: Über die Form wird ein literaturgeschichtlicher Resonanzraum erschlossen, der das thematisierte Ereignis – erneut kontrastiv zur Banalität des Alltags – in einen bis auf die griechische Antike zurückreichenden Zusammenhang einträgt. Daraus ergibt sich ein performatives Paradox: Der elegische Ton, auf den das Gedicht gestimmt ist, entspricht wie seine Form dem Klagegesang über ein tragisches Geschehen (wie ihn Schillers Nänie musterhaft repräsentiert), während seine inhaltlichen Aussagen diese Tragik gerade dementieren. Es ist jedoch der Verlust tragischer Erfahrung in der modernen, jede Außerordentlichkeit in mediale und konsumtive Routinen ableitenden Lebenswelt, der den Gegenstand der elegischen Klage bildet. Derselbe Horizont wird im dritten Teil des Gedichtes noch einmal explizit angesprochen: Wie gut, daß es Mythen gibt, Lexikonworte wie Moira, Ananke. Sprache hilft uns, die verborgene Wunde sanft zu betupfen.1125

›Moira‹ und ›Ananke‹, Begriffe für die unausweichliche Notwendigkeit des Schicksals, holen den elften September aus der politischen Rhetorik heraus und stellen ihn in den rhetorischen Kontext des Mythos. Schon in seinem TagebuchEssay hatte Grünbein diese Beziehung bedacht, allerdings zugleich mit einem Vorbehalt versehen, der sich von der Mythen-Umschrift des Ereignisses distanziert: Auf einmal paßt alles wieder zusammen, die Komplexität einer Zivilisation, die zuletzt von einem Soziologen wie Niklas Luhmann zureichend analysiert wurde, und die großen Erzählungen nach dem Muster des Gilgamesch-Epos, der Bibel und des Koran. In dieser nachtschwarzen Melange sind die Märchen der Brüder Grimm und das Ti-

1124 Durs Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. 1125 Grünbein: September-Elegien, S. 52.

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betische Totenbuch eins. Natürlich liegt hier die tiefste Sehnsucht der Poesie, das Verlangen nach einem Reiseführer durch die Episoden der Menschheitsgeschichte.1126

Die Kritik gilt einem feuilletonistischen Diskurs, der mythische und literarische Textzeugnisse wie William Blakes America. A prophecy wörtlich als Prophetie oder »Orakel« bemüht.1127 Solche Vorwegnahmen erweisen sich jedoch im Tageslicht einer Prosa des Alltags als rhetorische ›Taschenspieler‹-Tricks: »Tatsächlich, in der Nacht des Entsetzens sind alle Texte grau.«1128 Auch die September-Elegien verneinen eine Mythologisierung des elften Septembers, wie sie in Albrecht von Luckes Rede vom »Drehzahl-Mythos« angesprochen wird,1129 denn »[m]an muß sich vor Gleichnissen hüten, vor jeder Art von Erklärung und Einordnung ins historische Einerlei. Die Metapher schießt aus der Hüfte, doch was sie trifft, hat sich längst schon verändert.«1130 Im Gedicht wird der Mythos gleichzeitig aufgerufen und distanziert; wie sehr er längst ›mythologisch‹, also unselbstverständlich geworden ist, dokumentiert sich im Status seiner Begriffe als Versatzstücke einer Rhetorik, die auf Lexika zurückgreifen muss, um dem Ereignis einen überzeitlichen Sinn zu unterschieben. Mythologischen Konstruktionen gegenüber haben Informationen Priorität: »Inzwischen gibt es präzise Opferzahlen.«1131 Das »Schicksal«, das in den Mythologisierungen des 11. Septembers 2001 aufgerufen wird, hat mit den technisch ausgerüsteten Netzwerken der Terroristen tatsächlich wenig zu tun: »Schicksal, von Schläfern gemacht, erscheint nun als ferngelenkt.«1132 Das kursiv markierte Zeitungswort »Schläfer« für jene Al Qaida-Terroristen, die sich unauffällig in den westlichen Städten auf ihre mörderischen Einsatzbefehle vorbereiteten, zeigt die Verwandlung des Schicksals in technisch geplantes ›Machsal‹ deutlich an. Die »Lexikonworte Moira, Ananke«1133 bestätigen demnach nicht nur einmal mehr den Ruf des Dichters Grünbein als poeta doctus, sondern ihre eigene Antiquiertheit im Zeitalter der massenmedialen Information. Dieselbe Fatalität, die der Mythos ex post behauptet und die das Gedicht dementiert, bezieht das Gedicht jedoch auf den Naturzusammenhang. Vor allem der zweite Teil zitiert die Form des Jahreszeiten-Zyklus, in dem die genuine Spätzeitlichkeit der Trauer sich mit der Jahreszeit und ihrer Metaphorik des nahenden Endes verbindet: »Herbst, der Regenmacher ist da«.1134 Schon in 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134

Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. Ebd. Ebd. Lucke: 9 – 11 – 01. Drehzahl-Mythos. Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. Ebd. Grünbein: September-Elegien, S. 50. Ebd., S. 52. Grünbein: September-Elegien, S. 51.

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Grünbeins Zeitungsessay hatte es geheißen: »[…] der Herbst zieht mit Macht in die Knochen ein.«1135 Auch die Rede vom ›Deutschen Herbst‹ des Terrorjahres 1977 knüpft an diesen naturalistischen Zusamenhang zwischen Kalender und Katastrophe an.1136 Die jahres- und geschichtszeitlichen Korrespondenz verbindet sich im Gedicht allerdings nicht so sehr semantische Kontiguitäten wie Gegensätze: »Grippe und Terror, ist die Parole, an der man den Nächsten erkennt.«1137 Derselbe Zusammenhang erscheint im zitierten Zeitungsessay als »blasphemische[r]« Witz, bei welchem dem Autor »das Lachen im Halse stecken« bleibt: »›Dschihad, der Heilige Krieg, Dschihad. Doch es klingt wie Hatschi.‹«1138 Die provokante Engführung des politisch Außerordentlichen mit dem unspektakulär Alltäglichen bezeugt eine Banalität des Bösen, die der Deseventisierung des Ereignisses in der Nachschau entspricht: Die ›neue Normalität‹ nach dem elften September ist der alten zum Verwechseln ähnlich. Der Chock des Ereignisses gerät in die Nähe banaler Inkommoditäten, mit denen sich letztlich immer schon recht komfortabel leben ließ. Grünbeins Gedicht liest sich daher wie ein skeptischer Kommentar zu dem oft wiederholten Topos, seit dem elften September sei ›nichts mehr wie es war‹; wenn auch der Tagebuch-Kommentar nur fünf Tage nach dem Anschlag immerhin zwischen der Zäsur des Todes und der Indifferenz des weitergehenden Lebens unterscheidet: »Dabei wird alles weitergehen, wenn auch nicht für die Toten. Am Montag endlich kehrt die Börse zu den gewohnten Geschägften zurück. Es gibt keine Feuerpause in der zivilisierten Welt, weder im Nachrichtengeschäft noch im Sinngebungsbetrieb von Literatur und Universität und erst recht nicht im Aktienhandel.«1139 In ähnlicher Weise wird in Katharina Hackers Roman Die Habenichtse die behauptete Zäsur durch die Kontinuität des geschäftigen Alltags relativiert: »Nichts hatte sich verändert. Es gab Schläfer, es hatte den Afghanistan-Krieg gegeben, es gab zerstörte Häuser, verbrannte Menschen, hastig beerdigte Tote und in unwegsamen Bergen weiter Taliban1135 1136 1137 1138 1139

Grünbein: Aus einer Welt die keine Feuerpause kennt. Vgl. dazu das Kap. »1977. Deutscher Herbst«. Grünbein: September-Elegien, S. 51. Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. Ebd., Eintrag vom 16. September. Zuvor (unter dem Datum 11. September) heißt es: »Dieser Moment, soviel steht fest, wird weltweite Folgen haben. Er markiert das Ende einer Politik der Besonnenheit, der nationalen Selbstgenügsamkeit der Vereinigten Staaten. Von nun an wird die Doktrin sich anpassen an die mörderische Logik der Selbstvernichter, die ihrem Gott, einem sehr späten Gott, im Namen des Propheten Mohammed in Himmelfahrtskommandos entgegenziehen.« – Dass die interventionalistische US-amerikanische Außenpolitik sich auch vor dem elften September kaum auf den Nenner der »Selbstgenügsamkeit« bringen lässt, wie das militärische Engagement im Golfkrieg oder im Kosovo zeigt, bleibt allerdings anzumerken; ebenso, dass der weltpolitische Interventionalismus, den Grünbein selbst unter dem Begriff der »Pax Americana« benennt, offensichtlich gerade zum Motivationshintergrund der Terroranschläge gehört.

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oder Al-Qaida-Kämpfer, Namen und Dinge, die für sie hier nicht mehr bedeuteten als die Verwicklungen und Dramen einer Fernsehserie, über die alle sprachen, wie sie über Big Brother gesprochen hatten.«1140 In Grünbeins Gedicht unterstreicht die nachlässige Diktion die Banalisierung, die aus dem über die ereignishafte Zäsur sich einfach hinwegsetzenden Fortgang der Welt folgt: Unter all den Erregern, Sarkasmen, hey, fühlst du dich pudelwohl. Rattenscharf in der Kälte, staunend, wie Zeit alles niederwalzt. Recht so. Ist Liebe denn nicht dies berauschende Aerosol, Das den Taumel zur Tanzstunde macht, im Kalender ein Halt?1141

›Im Kalender ein Halt‹: Damit ist die verzeichnende Stelle des Ereignisses in der Kontinuität der Zeit genau bezeichnet. Noch die letzte Strophe handelt von der Neutralisierung der exzeptionellen Erfahrung: Weniges dauert an. Zur Schnulze wird das Verlustgefühl, Von dem man noch eben sicher war, das geht niemals vorbei. Das Lamento der tief Betroffnen, ihr Kniefall im Beichtgestühl, Wird albern beim Anblick der brandneuen Uniformen der Polizei. Unter der Dusche am andern Morgen, was bleibt von den Tränen? Der Kühlschrank sagt dir : Nichts wird so heiß gegessen wies ist. Die verschobene Reise ändert wenig an den heimlichen Plänen. Auch die Wolke mit Trauerrand hat sich mittags verpißt.1142

Die Sprache des Gedichts teilt damit auch ästhetisch eine Neutralisierung mit, die dem 11. September 2001 im Zuge seiner medienöffentlichen Diskursivierung widerfuhr. Dass die Sprache selbst als ›Reizschutz‹ und Absorptionsmedium (im Sinne Freuds und Benjamins) dazu beiträgt, ist der lyrischen Stimme bewusst: »Sprache hilft uns, die verborgene Wunde sanft zu betupfen. / Wortlos schließt sich der Kreis: alles Unglück bleibt en famille.«1143 Sprechen und Schweigen sind sich einig, was die normalistische Dämpfung, Vertraulichung oder Familiarisierung des Ereignisses betrifft. In den letzten Verszeilen reflektiert die lyrische Stimme jedoch auch, dass die normalistische Integration für einen Verlust an transzendenter Geborgenheit einstehen muss, der den elegischen Ton im Gedicht gegen seine ironische Brechung wieder ins Recht setzt. Die medial ermöglichte Konvertierung des Außerordentlichen in Normalität, die das Sprechen über das Ereignis einschließt, wird umso dringender gebraucht, wo die metaphysischen Versicherungen in der Moderne abhanden gekommen sind:

1140 1141 1142 1143

Hacker : Die Habenichtse, S. 93. Grünbein: September-Elegien, S. 51. Ebd., S. 52. Ebd.

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Ereignisse und Texte

»Was hilft es zu träumen, daß jemand beim Namen dich riefe? / Am Telephon die vertraute Stimme grenzt schon ans Wunderbare.«1144

7.

Die Verschiebung zwischen Bildern und Sprache

So sehr Ereignis und Bild prima facie aufeinander zu verweisen scheinen,1145 so inkommensurabel erscheint zunächst das Verhältnis zwischen Ereignis und Sprache. Sucht die technische Ikonik des Fernsehens dem Außerordentlichen durch Wiederholung beizukommen, indem sie die entführten Flugzeuge in Endlosschleife in die Hochhaustürme fliegen lässt, bekennt die Sprache ihr eigenes Versagen angesichts des Entsetzlichen ein. Seit es die Möglichkeit gleichzeitiger bildlicher Dokumentation und sprachlicher Kommentierung gibt, stellt sich bei allen chockhaften, katastrophischen Ereignissen diese Verschobenheit zwischen Bildern und Sprechen ein: Während die Bilder auch das plötzliche, unvorhersehbare Ereignis unmittelbar bannen, versagt dem Sprecher die Stimme.1146 Während die Bilder selbst mit dem Unfasslichen auf Augenhöhe sind und allenfalls ihre Statik verwackelt, wird die Sprache ihm unmittelbar nicht gerecht; indem sie es dennoch versucht, verrät die unspezifische, austauschbare Formelhaftigkeit der spontanen Rede nur ihr Unvermögen, dem Ereignis Rechnung zu tragen: »oh my god, schreit eine Frau«.1147 Es entspricht dieser Inkommensurabilität von Ereignis und Sprache, wenn Zuschauer, Opfer 1144 Ebd. 1145 Vgl. dazu die Ausführungen zum Ereignisbegriff (Kap. »Ereignis und Geschichte«), insbesondere den Zusammenhang von ›Chock‹ und technischen Bildmedien bei Walter Benjamin. 1146 Vgl. etwa bereits die (auf Metallplatten aufgezeichnete) Radioreportage des Journalisten Herb Morrison über die Landung des größten deutschen Luftschiffes »Hindenburg« bei Lakehurst am 6. Mai 1937, die in der Katastrophe des Brandes ausging: »Es geht in Flammen auf … hier, Charlie, hier…, Versperr mir nicht die Sicht, bitte – oh, nein, das ist grauenhaft – oh, nein, geh mir aus dem Weg, bitte! Es brennt, wird von Flammen umtost und stürzt auf den Ankermast und all die Leute …, das ist eine der schlimmsten Katastrophen der Welt! … Oh, es ist noch hundert, hundertfünfzig Meter in der Luft, das gibt einen schrecklichen Absturz, meine Damen und Herren… Oh, die Menschheit und all die Passagiere!« Die deutschsprachige Übersetzung zitiert Rick Archbold: Luftschiff Hindenburg und die große Zeit der Zeppeline. Illustrationen von Ken Marschall. München 2005, S. 183. – Vgl. dazu auch die Erzählung von Alexander Häusser : Zeppelin! Frankfurt/ M. 1998, wo nicht das Ereignis selbst, sondern die Wirkung der »Katastrophe vor laufenden Kameras« (S. 116) auf die in Friedrichshafen Daheimgebliebenen dargestellt wird: »Jakob erfuhr auf der Straße, wie es sich zugetragen hatte. Der Fährverkehr war eingestellt, die Menschen wie gelähmt. Jeder sprach über den Anschlag [!], über die Katastrophe für die ganze Stadt; sie sorgten sich um die Arbeitsplätze und beschrieben dabei das brennende Schiff.« (S. 81 f.) 1147 Peltzer : Bryant Park, S. 139.

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und Täter am elften September im selben Moment Gottes Namen auf der Zunge haben.1148 Selbst wo das Trauma glaubhaft benannt wird, gerät es zur Phrase einer Unzeitigkeit, die dem Ereignis entweder hoffnungslos hinterher oder immer schon voraus, aber nicht gleichauf ist: »I’m traumatized for life« lautete der in Mikrophon und Fernsehkamera gesprochene Kommentar einer New Yorker Passantin, nachdem das World Trade Center eben eingestürzt war. Die spontane Äußerung macht das Trauma als usuelle Deutungsfigur schon dadurch verdächtig, dass sie, wenn sie wahr wäre, eben nicht geäußert werden könnte. Das individuell wie kollektiv behauptete Trauma des elften Septembers stellt demnach vor allem ein kulturelles Deutungsmuster dar.1149 Statt vom Trauma des Ereignisses Zeugnis abzulegen, stellen sich die literarischen Texte vielmehr einem entgegengesetzten Problem: Ihre Intention richtet sich nicht zuletzt darauf, an das Ereignis des elften Septembers allererst heranzukommen. Wenn der Performancekünstler in Don DeLillos Roman Falling Man die Haltung eines aus dem World Trade Center stürzenden Menschen auf einer der prominentesten Fotoaufnahmen genau imitiert, indem er dessen tödlichen Sprung irgendwo im New Yorker Alltag wiederholt, ist die verstörende Wirkung gerade der unvermittelten Vergegenwärtigung des Ereignisses zuzuschreiben, das seinen öffentlichen Schauplatz von Anfang an auf den Bildschirmen aufgeschlagen hat. Die Performanz rückt das Ereignis in eine chockhafte Nähe, während die mediale Rahmung der Fernsehbilder es von Anfang an auf Distanz gestellt haben. Kein literarischer Text reicht an diese Vergegenwärtigung heran. »Wofür wir Worte haben«, lautet Nietzsches schon zitiertes Diktum, »darüber sind wir auch schon hinaus.«1150 Die sprachskeptische Zurückweisung der symbolischen Repräsentation erneuert die Aporie, der zufolge das Erzählen ex post das Ereignis notwendig verfehlt. Dieselbe wortgewandte Verfehlung enthüllt aber möglicherweise auch ein unaufhebbares Verharren in der Referenz ex ante: Wofür wir Worte haben, da sind wir noch gar nicht angelangt. Es bestätigt diese Abständigkeit, dass literarische Einlassungen auf den elften September sich vor allem darum mühen, dieses Unvermögen selbstreflexiv zu überschreiten. Dass man »das Unbegreifliche zu bannen [versucht], indem man ihm handliche Namen gibt und den bewährten Formeln der politischen Herleitung einpasst«,1151 hat Peter Schneider bereits wenige Tage nach dem elften 1148 Vgl. DeLillo: Falling Man, S. 134: »[H]uman voices crying to God and how awful to imagine this, God’s name on the tongues of killers and victims both […].« – »God’s name got taken in vain a lot that morning«, kommentiert dazu Art Spiegelmans graphic novel: In the Shadow of no Towers, S. 2. 1149 Zur Trauma-Diskussion vgl. Elisabeth Bronfen, Sigrid Weigel (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln, Weimar, Wien 1999. 1150 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S. 128. 1151 Peter Schneider: »Verschon mein Haus, zünd andere an«. Nur wer das Böse anerkennt,

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Ereignisse und Texte

September festgestellt; auch wie die Sprache zu einer »rituell versicherte[n] Sprachlosigkeit«,1152 zum erprobten Unsagbarkeitstopos Zuflucht nimmt, gehört zu den gültigen Beobachtungen seiner Diskurskritik. Was die bildhaften Repräsentations- und Aufzeichnungsmedien sich widerstands- oder reibungslos aneignen, stößt auf die Sperrigkeit, die lexikalisch-idiomatische Redundanz und die genuine Retardation der sprachlichen Mittel, die sich dementsprechend – wie die politische Sprachkritik in Kathrin Rögglas und Rafik Schamis Aufzeichnungen zum elften September zeigt – vor allem selbst zu bedenken haben. Umso mehr zeigen sich sprachliche Narrationen des Ereignisses darum bemüht, gegenüber den bildmedialen Repräsentationen eine ästhetische Differenz zu behaupten. Während die technische Ikonik den Primat der Evidenz beansprucht, wuchert die Sprache der literarischen Texte mit dem Pfund des NichtEvidenten; während die visuelle Repräsentation sich letztlich in Wiederholungen erschöpft, wie die Fernsehprotokolle bei Peltzer und Buschheuer dokumentieren, suchen die literarischen Texte im wiederholenden Bezug auf das Ereignis ein Jenseits der ikonischen Präsenz zu besetzen. Die nächste Annäherung an das katastrophische Ereignis, wie sie Fr¦d¦ric Beigbeders Windows on the World versucht, wie die weiteste Abstandnahme der elegischen Reflexion in Durs Grünbeins September-Elegien kommen damit auf einem poetologischen Nenner überein: Stets geht es darum, angesichts der ›unmöglichen‹ Repräsentation des Ereignisses die ästhetische Zuständigkeit literarischer Texte zu erweisen.

wird es auch bekämpfen. In: Dienstag 11. September 2001, S. 80 – 86, hier S. 80 (zuerst abgedruckt in Die Woche vom 28. 9. 2001). 1152 Ebd.

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IV. Schluss Und dieser Bonaparte! Bitte wer, fragte er.1

In Franz Kafkas 1917 entstandenem Erzählfragment Beim Bau der chinesischen Mauer entwirft der Ich-Erzähler und Chronist des Mauerbaus eine Informationssituation, die im denkbar weitesten Gegensatz zum zeitgenössischen Informationszeitalter steht. Das Gebiet, das die chinesische Mauer eher lückenhaft umschließt, »ist das Endlose«,2 also eine indefinite Größe, die deshalb auch nicht kleiner ist als die moderne, globalisierte Mediensphäre im Ganzen. Diese unendliche Größe Chinas aber verkleinert auch das Zentrum der kaiserlichen Macht zu einem »Pünktchen«, das unendlich weit entfernt von jedem anderen topografischen Punkt des Landes liegt. Jede Nachricht, welche von diesem Zentrum oder irgendeinem anderen Punkt ausgesandt wird, käme deshalb – »selbst wenn sie uns erreichte« – immer »viel zu spät, wäre längst veraltet.«3 »[W]ie Zuspätgekommene, wie Stadtfremde«4 stehen die Menschen daher an der Peripherie der Geschichte ihres Landes, deren Zentrum ihren Blicken unaufhebbar verstellt und entzogen bleibt. Die Informationsverhältnisse in Kafkas China werden vom Chronisten durch eine »Sage« illustriert, der zufolge »der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft« sendet: »Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ.«5 Dass es sich um die testamentarische, beinah schon jenseitige Botschaft eines Sterbenden handelt, verleiht ihr für die Belange der Lebenden ein ultimatives Gewicht. Mit der Sendung aber beginnt ein Prozess des unendlichen Aufschubs, der die Zustellung der Botschaft, auf die es unbedingt ankommt, letztlich unmöglich macht: 1 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. 12. Auflage Reinbek bei Hamburg 2005, S. 98. 2 Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer. In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bdn. Nach der Kritischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch. Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Frankfurt / M.1994, S. 65 – 80, hier S. 71. 3 Ebd., S. 74. 4 Ebd., S. 75. 5 Ebd.

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»Aber die Menge ist so groß, ihre Wohnstätten nehmen kein Ende, öffnete sich freies Feld wie würde er [der Bote] fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen wie nutzlos müht er sich ab […].« Denn erst kommen die Gemächer des innersten Palastes, dann die Treppen, darauf die Höfe, dann der zweite umschließende Palast »und wieder Treppen und Höfe und wieder ein Palast und soweiter durch Jahrtausende und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals niemals kann es geschehn – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt […]«.6 Die räumliche Unendlichkeit korrespondiert mit der zeitlichen, die die Überstellung der Botschaft verhindert. Dieser unendliche Aufschub widerfährt aber allen »hoffnungslos und hoffnungsvoll« erwarteten Nachrichten im Kaiserreich: Schlachten unserer ältesten Geschichte werden jetzt erst geschlagen und mit glühendem Gesicht fällt der Nachbar mit der Nachricht Dir ins Haus. Die kaiserlichen Frauen […] verüben ihre Untaten immer wieder von Neuem; je mehr Zeit schon vergangen ist, desto schrecklicher leuchten alle Farben und mit lautem Wehgeschrei erfährt einmal das Dorf, wie eine Kaiserin vor Jahrtausenden in langen Zügen ihres Mannes Blut trank.7

In der extremen Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen vertauschen Gegenwart und Vergangenheit ihre zeitlichen Stellen: »So verfährt also das Volk mit den Vergangenen, die Gegenwärtigen aber mischt es unter die Toten.«8 Der zielgerade Weg, den die Nachricht nimmt, wird beständig unterbrochen; die Erreichung ihres Ziels wird durch eine infinite Einschachtelung aufgeschoben und aufgehoben, die der mathematischen Logik der unendlichen Teilbarkeit einer Strecke entspricht. Wie das Paradox des Zenon den Flug eines Pfeils als Folge unermesslich vielzähliger Ruhepunkte beschreibt, in denen seine Dynamik sich verliert und das Treffen des Ziels letztlich unvorstellbar wird, wird auch die kaiserliche Nachricht durch den Prozess ihrer Vermittlung unentwegt aufgehalten. Mit dem fortwährenden Aufschub zwischen Sender und Empfänger wird die Pragmatik des kommunikativen Zeichengebrauchs aber letztlich außer Funktion setzt. Im Abseits der Informationen, die dieser unendliche Aufschub schafft, gedeihen jedoch erzählte Legenden und Fiktionen: Unbehelligt von Bildern und Informationen, die zeitgeschichtliches Geschehen ›immer schon‹ vermittelt und ins Bild gesetzt haben, kann das Erzählen mit den Ereignissen schalten, ohne den Einspruch des Faktischen fürchten zu müssen. Das gegenwärtige Zeitalter der massenmedialen Information, dessen Zeitgenosse auch Kafka schon war, definiert sich jedoch dadurch, dass es in ihm ›tote 6 Ebd., S. 75 f. 7 Ebd., S. 76. 8 Ebd.

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Winkel‹ der Information kaum mehr gibt.9 Allenfalls an den Verzweigungsstellen und -winkeln der Geschichte, an denen realer Geschichtsverlauf und apokryphe, nicht realisierte Möglichkeiten sich trennen, stellt sich die Herrschaft des Erzählers über die Geschichte wieder her, die ihm die Medien der Information aus der Hand genommen haben. Das aber ist nur eine (zudem kontrafaktische) Option der Fiktion, die die poiesis autonomistisch beim Wort nimmt und den mimetischen Bezug auf Geschichte auf phantastische Weise aufgekündigt hat. So groß die Abstände zwischen der Informationssituation in Kafkas chinesischer Erzählung und dem gegenwärtigen Informationszeitalter offenbar sind, existiert zwischen ihnen doch eine Parallele – jedenfalls, was das rückgängige Verhältnis von Texten zu (medial vermittelten) Ereignissen betrifft. Zwar kommen die Nachrichten von Ereignissen mit Lichtgeschwindigkeit bei ihren Empfängern an, umgekehrt jedoch – von den Texten zu den Ereignissen – ist der Weg beinah ähnlich aufhaltsam und umständlich wie in Kafkas ›sagenhafter‹ Erzählung. Denkt man sich in der Rolle des kaiserlichen Boten die Literatur, hat sie ebenso grundsätzliche Hemmnisse und Schwierigkeiten zu überwinden, ehe sie – wenn es jemals geschehen kann – bei der ›Wirklichkeit‹ der Ereignisse anlangt. Stets stehen ihr die vorgängigen Medialisierungen, Nachrichten und Bilder, im Weg; verspäten muss sie sich dadurch allemal. Die »Schlachten« der jüngsten Geschichte werden in literarischen Texten ebenfalls dann erst geschlagen, wenn ihnen die Kennzeichnung des unmittelbar ›Neuen‹ schon nicht mehr ganz zukommt. Von der ästhetischen Präsenz und Wirkung ihrer Darstellungen, die bei Kafka den Mangel an Aktualität immerhin rezeptionsästhetisch ersetzt – »je mehr Zeit schon vergangen ist, desto schrecklicher leuchten alle Farben und mit lautem Wehgeschrei« hört das Publikum die Erzählungen an – können literarische Texte im Informationszeitalter nur träumen. *

Dass Literatur spätestens seit den 1960er Jahren in einem von modernen Medien der Information und Unterhaltung bestimmten Feld agiert, gehört mittlerweile zu den Gemeinplätzen der literaturwissenschaftlichen Forschung. Dass das 9 Bahman Nirumand hat in seinem schon zitierten Persien-Buch (vgl. oben das Kap. »1968. Vietnam«) allerdings eine fast kafkaeske Informationssituation im Iran der sechziger Jahre beschrieben: »Es gibt heute noch Gegenden im Iran, wo die Menschen gar nicht wissen, wer der gegenwärtige König von Persien ist. Sie erhalten keinerlei Informationen und leben unberührt von der Geschichte. […] Ihre Vorstellungen sind eher dem Reich der Sagen als dem der Wirklichkeit zuzuordnen, und der König spielt für sie hier wie dort die gleiche Rolle.« Nirumand: Persien, Modell eines Entwicklungslandes, S. 72.

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(zeit-)geschichtliche Gedächtnis im so genannten Medien- oder Informationszeitalter vor allem visuell bestimmt, also durch fotografische und filmische Bilder geprägt ist, zählt hingegen keineswegs zu den selbstverständlichen Voraussetzungen des Nachdenkens über den Zusammenhang von Literatur und Geschichte. Die vorliegende Arbeit hat versucht, die Konsequenzen darzustellen, die sich aus einer weitgehend visualisierten Geschichte für literarische Darstellungen ergeben. Ihre These lautet, dass sich literarische Einlassungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse seit den sechziger Jahren abarbeiten müssen an einem Primat technischer Bilder und massenmedialer Informationen. Unter den verschiedenartigen Kennzeichnungen des zwanzigsten Jahrhunderts – etwa als Zeitalter der Ideologien oder der Extreme – hebt die Untersuchung damit eine Kennzeichnung hervor: Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert der Information und der technischen Bildwerdung alles dessen, ›was ist‹ und ›was geschieht‹. Während der Prozess der medialen Informatisierung einerseits in ›zustellender‹ Richtung – völlig anders als in Kafkas Erzählung – beinah widerstandslos verläuft, bricht sich der Rückbezug der Texte auf zeitgeschichtliche Ereignisse andererseits an Bild- und Informationsmedien als vorgängige Gegebenheiten und unumgängliche formative Instanzen, ohne die Ereignisse der jüngeren Geschichte nun einmal nicht zu haben sind. Der Weg der Texte zu den Ereignissen, wie ›zeitnah‹ auch immer sie sich zu ihnen verhalten mögen, ist demzufolge niemals kurz, sondern mediologisch gesehen lang, unterbrochen, widerständig und aufhaltsam. Von den Möglichkeiten literarischer Texte, dennoch ästhetische Zugänge zu zeitgeschichtlichen Ereignissen zu gewinnen, handelten die vorangegangenen Kapitel. Fünf allgemeine Einsichten hinsichtlich des Erzählens von zeitgenössischer Ereignis-Geschichte sollen abschließend noch einmal hervorgehoben werden. (1) Literatur, die sich im Medienzeitalter auf zeitgeschichtliche Ereignisse einlässt und auf diese Weise ›Welthaltigkeit‹ behauptet, sieht sich auf ein epistemisches Apriori technischer Bilder und Informationen verwiesen. Jede ästhetische Darstellung rezenter Ereignisse hat es daher mit Rezeptionsbedingungen zu tun, unter denen diese ›immer schon‹ anschaulich bekannt gemacht und in die Registratur des kollektiven Bild-Gedächtnisses eingetragen sind. Damit ist zugleich ein Maßstab historischer ›Exaktheit‹ eingeführt, an dem sich literarische Darstellungen auch dann noch orientieren oder messen lassen müssen, wenn sie ihre Abweichung von der ›offiziellen‹ Version der Geschichte markieren. (2) So unverzüglich die Informationen und Bilder zu ihren Empfängern gelangen, so sehr wird der Zugang zu den von ihnen vorgestellten Ereignissen durch sie doch zugleich verstellt. Literarische Texte arbeiten sich deshalb an einem Problem des ›Realen‹ ab, das als ontologische Kategorie infolge der technischen Bebilderung und Ästhetisierung der Welt selbst problematisch geworden ist. Errichten die Medien schon einen virtuellen Raum ›zwischen‹ der

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Welt und den Subjekten, in dem Ereignisse erst als Realität definiert werden, so verdoppeln literarische Texte diesen Raum noch einmal – damit aber auch den Raum ihrer Interpretation. (3) Gegenüber dem Panoptismus einer visuell geprägten Informationskultur, der die vollständige und mühelose Transparenz und Aneigbarkeit zeitgeschichtlicher Wirklichkeit in effigie suggeriert, weisen literarische Texte auf die Grenzen der technisch hergestellten Sichtbarkeit hin. Gegenüber der medientechnischen Behauptung von Evidenz insistiert Literatur auf die Uneindeutigkeit oder Undeutbarkeit zeitgeschichtlicher Zeichen und Spuren.10 (4) Literarische Narrativierungen und fiktionale Ausgestaltungen zeitgeschichtlicher Ereignisse wenden sich daher besonders den medial abgeschatteten, nicht ausgeleuchteten Schauplätzen der zeitgeschichtlichen Erinnerung zu, die allenfalls der Imagination zugänglich sind. Fiktionen besetzen daher nicht zuletzt die »Lücken und Löcher im Kontinuum der Bildwelt«, auf die bereits Günther Anders in der Antiquiertheit des Menschen die Literatur im Medienzeitalter hingewiesen hat.11 (5) Wird der Raum der Literatur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend durch massenmedial vermitteltes Wissen und technische Bilder begrenzt oder gar verengt, geht es in literarischen Darstellungen darum, den Raum zeitgeschichtlicher Wirklichkeit und Erinnerung erneut als ästhetischen Spielraum zu erschließen.12 Gegenüber der audiovisualisierten Geschichte bringen die untersuchten Texte Geschichten zur Geltung; indem sie ›Ereignisgeschichten‹ erzählen, gewinnen sie rezente Ereignisse als Anlässe einer produktiven Einbildungskraft für sich zurück. Die informationell und bildmedial besetzte Zeitgeschichte wird damit erneut – mit Benjamins Ausdruck – zu einem »Quellpunkt der Poesie«.13 Dabei lässt sich im hier gewählten literatur- und mediengeschichtlichen Rahmen die Beobachtung festhalten, dass die Entwicklung von der politisch orientierten, gesellschaftsund medienkritischen Perspektive auf Medien in den späten 1960er und 70er Jahre sich seit den 80er Jahren hin zu eher spielerischen, selbst- und medienreflexiven Formen der Bezugnahme auf zeitgenössische Geschichte verschiebt. Immer jedoch geht es um die Erprobung eines ästhetischen Vorstellungs- und Gestaltungsraums jenseits medientechnisch hergestellter Evidenz. Darin liegt auch eine spezifische Medienkompetenz der Literatur. Indem die vorliegende Untersuchung visuelle Medien als Agenturen einer vor allem bildförmig ge10 Die aus systemtheoretischer Perspektive als systemkonstitutiv verstandene Ambiguität der Literatur oder des Poetischen (vgl. etwa Siegfried J. Schmidts ›Polyvalenz-Konvention‹) wird von Niklas Luhmann als generelle Reaktion auf das semiotische Eindeutigkeitspostulat der Massenmedien interpretiert; vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 41. 11 Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, S. 250. 12 Diese These ist angeregt von einer Formulierung von Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002, S. 101. 13 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 647.

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prägten kollektiven Erinnerung und Geschichtskultur versteht, sucht sie schließlich auch das literaturwissenschaftliche Verständnis um einen Aspekt zu ergänzen, der aus der konkreten Beziehung literarischer Texte auf Geschichte nicht mehr wegzudenken ist. *

Wo unter den Bedingungen des modernen Medienzeitalters von den einschlägigen Informationen und Geschichts-Bildern abgewichen wird, wird dieser Verstoß stets auffällig und als Einwand gegen literarische Fiktionen geltend gemacht. Zugleich aber unterstreicht diese Abweichung als markantes Fiktionalitätsmerkmal die Autonomie des literarischen Textes gegenüber Vorgaben der Information und der technischen Ikonik. In einer der »Geschichten« in Daniel Kehlmanns Roman Ruhm (2009) bekennt das erzählende Ich ausdrücklich, »daß ich eigentlich nicht die Art von Schriftsteller bin, bei dem die Fakten stimmen. […] mir ist so etwas egal.«14 So wenig sich dieser Inanspruchnahme fiktionaler Freiheit anstelle der »akribisch recherchiert[en]« Details argumentativ entgegensetzen lässt, so sehr rächt sich der Verstoß gegen die Bedingungen zeitgeschichtlichen Wissens noch innerhalb der Erzählung selbst. Die »Geschichten«, aus denen sich Kehlmanns Roman komponiert, entfalten ein semiotisch abgründiges Spiel mit den Ebenen des Erzählens, das Autorschaft, Erzählen und erzählte Welt wie in einem Spiegelkabinett ineinander kopiert. Wenn in der letzten Geschichte (»In Gefahr«) der erzählte Schriftsteller Leo Richter seine Geliebte Elisabeth, eine Mitarbeiterin der m¦decins sans frontiÀres, auf einen ihrer Hilfseinsätze in Afrika begleitet, trifft er nicht nur unversehens auf eine Figur aus seiner eigenen Romanwelt; so weit, so Schwindel erregend. Der Moment jedoch, an dem den Romanfiguren selbst der irreale Konstruktionscharakter der erzählten Welt, in der sie agieren, auffällig wird, ist da erreicht, als sich eine von ihnen, Rotmann, als Mitarbeiter der »UNPROFOR« vorstellt.15 Im selben Moment, in dem der erzählte Autor Leo »[z]um ersten Mal« an der vollen Wirklichkeit Teil zu haben glaubt16 (statt sie sofort ins Material seiner Fiktionen zu verwandeln), trifft ihn der Einspruch einer anderen erzählten Figur : »Wieso eigentlich UNPROFOR?« fragte Elisabeth plötzlich. »Bitte?« 14 Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 53. 15 Ebd., S. 197. 16 Ebd., S. 195.

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»Die UNPROFOR war in Jugoslawien. Schutztruppen der Vereinten Nationen müßten hier eine andere Bezeichnung tragen.«17

An den Schriftsteller gewandt fährt Elisabeth fort: »›Das mit der UNPROFOR hätte dir nicht passieren dürfen. Schon mal von Recherche gehört?‹ / ›Ich bin nicht diese Art von Autor‹«, wiederholt der Angeredete die Selbstauskunft in einem der vorigen Kapitel. »›Mag sein‹, sagte sie. ›Und ich werde dich verlassen.‹ […] ›Aber nicht jetzt‹«, gibt Leo Richter zurück. »›Nicht in dieser Geschichte.‹«18 So souverän der Autor über die von ihm erzählte Welt, ihre Figuren und Schicksale gebietet, so sehr hat er – »ein zweitklassiger Gott«,19 wie Elisabeth den poetologischen Topos vom second maker (Shaftesbury) zitiert – sich den Bedingungen der von ihm erfundenen wie der vorgefundenen, medial vermittelten Welt doch zu stellen, denn seine schwache Autorschaft sieht sich in beide Arten von Geschichte(n) verstrickt. Dass er es nicht tut, sondern sich auf den bemerkten ›Fehler‹ hin buchstäblich aus der Welt des Romans verflüchtigt, entspricht dem Vorbild des deus absconditus, der sich jeder befragbaren Verantwortlichkeit entzieht. Der Maßstab, der die narrative Illusion ihrer Fehlerhaftigkeit überführt und zusammenbrechen lässt, besteht in einem erzähllogisch externen Gesichtspunkt, in der Kohärenz zwischen Fiktion und zeitgeschichtlichem Wissen oder Information. Wo die erstere gegen die Autorität der letzteren verstößt, bricht die Kontinuität zwischen erzählter Welt und Wirklichkeit in aller Schärfe ab. Es ist diese Bruchstelle am Ende des Romans, an der sich noch einmal in nuce die Problematik literarischer Zeitgeschichts-Darstellung im Informationszeitalter ablesen lässt, von der diese Untersuchung handelte.

17 Ebd., S. 199. 18 Ebd., S. 201. 19 Ebd., S. 203.

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Literaturverzeichnis

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Forschung

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3.

Nachschlagewerke

Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 2. vermehrte und verbesserte Ausgabe Leipzig 1798. Campe, Johann Heinrich: Wörterbuch der deutschen Sprache. 4 Bde. und ein Ergänzungsband. Neue stark vermehrte und durchgängig verbesserte Ausgabe. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1807 – 1813. Hildesheim, New York 1969 – 1970. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbdn. Leipzig 1854 – 1960. Fuchs, Konrad / Heribert Raab: Wörterbuch Geschichte. 12. Auflage München 2001. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Völlig neubearbeitete Ausgabe des Wörterbuchs der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler. Lizenzausgabe Darmstadt 1971 – 2007. Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing. Stuttgart, Weimar 2004. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. 4 Bde. Berlin 1997 – 2003.

4.

Filme

Brauburger, Stefan / Oliver Halmburger / Stephan Vogel: Das Wunder von Mogadischu (Deutschland 2007). Conradt, Gerd: Starbuck Holger Meins (Deutschland 2001). Edel, Uli: Der Baader-Meinhof-Komplex (Deutschland 2008). Erler, Rainer : Fleisch (Bundesrepublik Deutschland 1979). Färberböck, Max: September (Deutschland 2003). Fassbinder, Rainer Werner / Alexander Kluge / Volker Schlöndorff / Edgar Reitz u. a.: Deutschland im Herbst (Bundesrepublik Deutschland 1978). Greengrass, Paul: United 93 (USA 2006). Haußmann, Leander : Herr Lehmann (Deutschland 2003).

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Tonträger

Hills, George Roy : Butch Cassidy and the Sundance Kid (USA 1969). Menge, Wolfgang: Die Dubrowkrise (Bundesrepublik Deutschland 1969). Merhige, E. Elias: Shadow of the Vampire (USA 2000). Meyer, Nicholas: The day after (USA 1983). Naudet, Jules / Gedeon Naudet: 11. Septembre (Frankreich 2002). Palma, Brian de: Mission impossible (USA 1996). Roth, Christopher : Baader (Deutschland 2002). Schlöndorff, Volker : Die Fälschung (Bundesrepublik Deutschland 1981). Schneider, Susanne: Es kommt der Tag (Deutschland 2009). Stone, Oliver : World Trade Center (USA 2006). Veiel, Andres: Wer wenn nicht wir (Deutschland 2011). Wachowski, Andy und Larry : Matrix (USA / Australien 1999).

5.

Tonträger

Die Mauer fällt. Die Wende in Deutschland vom Januar 1989 bis zum 3. Oktober 1990. Hg. vom Deutschen Historischen Museum und dem Deutschen Rundfunkarchiv. Text und Tonauswahl: Walter Roller. Berlin, Frankfurt / M. 1999 (Stimmen des 20. Jahrhunderts). Pulp: This is Hardcore. Island Records, 1998.

Autor und Verlag danken allen Inhabern von Bildrechten für die freundlichen Abdruckgenehmigungen. Es wurde versucht, alle Inhaber der Rechte an den abgedruckten Abbildungen ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Dies ist nicht in allen Fällen gelungen. Der Autor erklärt sich nach den üblichen Regularien zur Abgeltung solcher Rechte bereit, soweit diese nachgewiesen werden können.

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Namenregister

Adams, Eddie 161, 190, 193 Adorno, Theodor W. 42, 96, 98, 102 – 107, 139, 171 f., 251 f., 256 Aischylos 78, 129 Alciati, Andrea 73 Allende, Salvador 255 Anders, Günther 102, 108 f., 221, 231, 247, 251, 366, 404, 433 Aragon, Louis 318 Aristoteles, 58, 71 f., 74, 93 Arkan (Zˇeljko Razˇnatovic´) 362 f. Assmann, Aleida 26, 51, 54, 119, 121 f. Astel, Hans Arnfrid 292 f. Augustinus 52, 53 Aust, Stefan 240 Auster, Paul 409 Baader, Andreas 163, 196, 198, 200, 203, 234 – 242 Bacher, Gerd 195 Badiou, Alain 120 Barschel, Uwe 284 Barthes, Roland 24, 101, 123, 125, 274, 295, 297, 299 – 302, 304 Baudelaire, Charles 46 Baudrillard, Jean 28, 40, 116, 140 – 142, 228, 393, 397 Bayer, Konrad 253 Beck, Ulrich 244 Becker, Thorsten 327 Beckett, Samuel 276 Beigbeder, Fr¦d¦ric 41, 360, 395 – 405, 407, 410,428 Benhabib, Seyla 341

Benjamin, Walter 26 f., 40, 43 – 48, 51, 71, 92, 96 – 98, 105, 117, 119 f., 125, 131, 140, 143, 148 – 150, 165, 172, 247, 249, 350, 365, 425, 433 Benn, Gottfried 105, 278 Bethge, Friedrich 92 Beyer, Marcel 356 Blake, William 423 Bloch, Ernst 293 Bodmer, Johann Jacob 74 f. Böll, Heinrich 216 Bohrer, Karl Heinz 102, 266 Bolz, Norbert 123, 139, 306, 433 Boock, Peter-Jürgen 212, 214, 238 Borges, Jorge Luis 180 Born, Nicolas 106, 224, 355, 368 Börne, Ludwig 88 Bourdieu, Pierre 50 Bradbury, Ray 276 Braun, Volker 89, 94, 286 Brecht, Bertolt 94, 137, 259, 263, 363 Breitinger, Johann Jacob 47, 57, 74, 134, 320 Breloer, Heinrich 223 Breughel, Pieter d. Ä. 263 f. Brinkmann, Rolf Dieter 214 Broch, Hermann 364 Brückner, Christine 212 Brussig, Thomas 286 – 288 Buback, Siegfried 198, 200, 205 – 211 Buckwitz, Harry 183 Büchner, Georg 87 f., 209, 269 Burgess, Anthony 276

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Namenregister

Buschheuer, Else 392, 402, 408 – 411, 413, 416 – 418, 428 Buselmeier, Michael 166 Camus, Albert 161, 349 Canetti, Elias 68 Carlyle, Thomas 61 – 63, 64, 95 Celan, Paul 147, 150, 398 C¦line, Louis-Ferdinand 372 Chamisso, Adelbert von 16, 142 Cioran, Êmile M. 279, 282 Cocteau, Jean 160 Cohn-Bendit, Daniel 161 f., 164 Conrad, Joseph 270 Cosgrove, Erin 233 f. Debray, Francis 26, 114, 163, 373 Deleuze, Gilles 22 DeLillo, Don 236, 392, 399 f., 408, 427 Delius, Friedrich Christian 110 – 112, 214 – 233, 296, 404 Derrida, Jacques 34, 39 – 41, 48, 50, 55, 219, 310 Dilthey, Wilhelm 127 Ditfurth, Christian von 327 Doderer, Heimito von 321 f. Döblin, Alfred 15, 304 Dooley, Thomas A. 179 Dos Passos, John 221 Droysen, Johann Gustav 60 f., 62, 100 Dubcˇek, Alexander 153, 195 Düffel, John von 233 f. Duras, Marguerite 136 Dürrenmatt, Friedrich 99 – 101, 251, 256 f., 279 Dutschke, Rudi 161, 183 Dyan, Daniel / Elihu Katz 131 f., 178 Edel, Uli 204 Edison, Thomas A. 15 Einstein, Albert 246 Eisenhower, Dwight D. 177 Eliot, Thomas Stearns 57 Engell, Lorenz 49 Ensslin, Gudrun 162 f., 196, 198, 200, 203, 212, 234 – 243 Enzensberger, Hans Magnus 137 f., 150 – 153, 155, 157, 163 – 166, 168, 179, 213, 247, 278, 339 – 341, 369

Erler, Rainer 275 Euripides 248 Fanon, Frantz 164 Färberböck, Max 394 Fassbinder, Rainer Werner 202, 216 Feind, Barthold 81 f., 84 Finkielkraut, Alain 373 Flusser, Vil¦m 26, 44, 114, 137, 139 – 142 Foer, Jonathan Safran 405 f., 410 Fontane, Theodor 70 Forte, Dieter 94 Foucault, Michel 33, 39, 119, 134, 138, 140 Freud, Sigmund 43 f., 47, 148, 282, 425 Fried, Erich 178 f., 206 – 211, 254 Friedrichs, Hans Joachim 168 Fry, Stephen 314 – 317, 319, 323 Gadamer, Hans-Georg 70 Gagarin, Juri 257 Gansel, Dennis 204 Gauss, Karl-Markus 342 Gehlen, Arnold 138 Geissler, Christian 205, 210, 214, 234 Georg II. von Meinigen 69 Gerstberger, Beatrix 360 Glucksman, Andr¦ 373 Goering, Reinhard 91 Goethe, Johann Wolfgang 31 f., 36, 57 – 59, 81, 89, 139, 182, 259, 376 Goetz, Rainald 196, 214, 221, 243 Golz, Manuela 212 Goodman, Nelson 337 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 332 Grabbe, Christian Dietrich 18, 100, 138 Graetz, Wolfgang 94 Grams, Wolfgang 204 Grass, Günter 148 f., 164, 335 f., 338 Greengrass, Stephen 404 Grillparzer, Franz 366 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 287 Groys, Boris 24, 115, 393 Grünbein, Durs 116, 409 f., 417, 419 – 425 Grüner, Gabriel 355 f., 359 f. Gryphius, Andreas 77, 79 Gstrein, Norbert 342, 351 – 359, 366

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Namenregister

Guevara, Che (Guevara de la Serna, Ernesto) 162, 173, 183 Günther, Johann Christian 134 f. Guha, Anton Andreas 275 Gundling, Nicolaus Hieronymus 18 Gutzkow, Karl 89 Habermas, Jürgen 341 Hacker, Katharina 424 Hagelstein, Peter 266 Hage, Volker 393 Hagen, Chuck 191 Haider, Jörg 342 Halbwachs, Maurice 20, 46, 50, 51, 125 f., 130 Haller, Albrecht von 83 – 85 Hamsun, Knut 372 Handke, Peter 106, 163, 263, 284, 339, 349, 353, 356, 360, 366 – 392 Harris, Robert 317 – 320, 326 Hart Nibbrig, Christiaan L. 312 Haslinger, Josef 370 Hauptmann, Gerhart 90 Haußmann, Leander 285 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 60, 68, 73, 77, 88, 93, 113, 220 Heidegger, Martin 24, 39, 376 Hein, Christoph 204 Heißenbüttel, Helmut 331 f. Hejl, Peter M. 134 Hensel, Georg 279 Herder, Johann Gottfried 60 Hermlin, Stephan 260 f., 267 Herold, Horst 199 Herzinger, Richard 338 Hettche, Thomas 14, 21, 106, 118, 286, 288 – 314, 419 Heym, Stefan 327 Heyse, Paul 57 Hildesheimer, Wolfgang 103 f., 274, 280 Hitler, Adolf 286, 314, 316 f., 319, 372 Hobbes, Thomas 281 Hochhuth, Rolf 95 f., 100, 176, 251 f. Hoddis, Jacob van 253 Hoffmann, Gert 71 Hofmannsthal, Hugo von 66 Home, Henry 75 f.

Honecker, Erich 327, 333 Horkheimer, Max 98, 106, 139, 172 Horlemann, Jürgen 182 Hülbrock, Klaus 210 Huelsenbeck, Richard 103 Humboldt, Wilhelm von 106 Husserl, Edmund 53 f. Illies, Florian 407 f. Jaeggi, Urs 162 Jahraus, Oliver 144 Jankowski, Martin 205 Jaspers, Karl 114 Jauß, Hans Robert 34, 36 ff., 42 Jens, Walter 103 f., 107, 113, 175, 255 f. Jirgl, Reinhard 326 Johnson, Lyndon B. 179, 182 Johnson, Uwe 97, 148, 178, 186, 304, 355 f. Jonas, Hans 254 Jünger, Ernst 16 – 18, 116, 283 – 285, 315, 335 Kafka, Franz 68, 275, 429 – 432 Kaiser, Georg 92, 277 Karadzˇic´, Radovan 342 f., 361 Karahasan, Dzˇevad 373, 375 f. Kayser, Wolfgang 176 Kehlmann, Daniel 429, 434 Keiser, Reinhard 81 Kennedy, Robert F. 153, 173 Keun, Irmgard 141 Kiefer, Reinhard 283 f. Kielinger, Thomas 285 f. Kierkegaard, Sören 66 f. King, Martin Luther 153 Kipphardt, Heinar 94 Kirchhoff, Bodo 338 Kirsch, Sarah 262 Kisch, Egon Erwin 91 Klar, Christian 198 Kleist, Heinrich von 36, 204, 232, 239, 329 Kluge, Alexander 216 Köhler, Andrea 109, 295, 394 Koenen, Gerd 162 Kolb, Ulrike 296 Kosellek, Reinhart 34, 36, 42 Kostin, Igor 245 f.

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480

Namenregister

Kracauer, Siegfried 13, 24 f., 92, 97, 113 f., 124, 141 Kracht, Christian 317, 393 f. Kraus, Karl 122, 353 Krenz, Egon 330, 333 Kristeva, Julia 269 Kurras, Karl-Heinz 157 Lask, Berta 91 Le Corbusier, 318 Lem, Stanislaw 22, 317 Lenin, Wladimir Iljitsch 317 Lessing, Gotthold Ephraim 62, 68, 71, 82 – 85, 89, 125 L¦vinas, Emmanuel 192 L¦vy, Bernard-Henri 356 – 360 Liebknecht, Karl 286 Liesegang, Raphael Eduard 15 f., 48, 142 Lorenz, Peter 211 Lucke, Albrecht von 142, 149, 397, 423 Lugowski, Clemens 243 Luhmann, Niklas 22, 114, 140, 167, 227, 370, 402, 422, 433 Luk‚cs, Georg 73 Lyotard, Jean-FranÅois 147, 323, 381, 390, 405 Mahler, Horst 207, 211 Mallarm¦, St¦phane 13 Mann, Golo 100 Mann, Thomas 58, 59, 110, 118, 121, 178 Mao Tsetung 179 Marcicz, Heinz 197, 215 Marcuse, Herbert 156 Maron, Monika 255 Marx, Paul 90 Masur, Kurt 328 McLuhan, Marshall 26, 186 Meinecke, Thomas 116, 409, 412 Meinhof, Ulrike 198, 207, 234 Meins, Holger 159, 183, 198, 238 Menge, Wolfgang 327 Meyer, Nicholas 274 Milosˇevic´, Slobodan 367, 371, 376, 391 Mirzoeff, Nicholas 24, 137, 144 Mitchell, William J. Thomas Mladic´, Ratko 342 Modrow, Hans 333

Möller, Irmgard 196, 203 Morus, Thomas 319 Mueller, Harald 252, 270 – 282 Müller, Heiner 331, 338 Musil, Robert 65, 67, 215 Nabokov, Vladimir 295 f., 300 Napoleon Bonaparte 16, 18, 100, 429 NguyÞ˜ n Ngoc Loan 188 ˙ NguyÞ˜ n Va˘n L¦m 188 Nietzsche, Friedrich 41, 50, 52, 427 Nirumand, Bahman 157, 163, 179, 431 Nora, Pierre 63, 126 f., 148, 151 Novalis 17, 20 Nowak, Helga 164 Ohnesorg, Benno 153, 157 – 161, 189, 237 – 241 Ortheil, Hanns-Josef 108 Orwell, George 119, 275, 280 Ovid 291 f., 294 – 297, 311, 313, 398 Pahlavi, Mohammad Reza / Farah Diba 157 Pausewang, Gudrun 248 f. Pavlovic´, Miodrag 371 Pearl, Daniel 192, 356 – 359 Peltzer, Ulrich 407, 409, 412 – 419, 426, 428 Petzold, Christian 204 Plath, Jörg 394 Platon 21, 23, 107, 306 f. Poe, Edgar Allan 59 Ponto, Jürgen 198, 200 Popper, Karl 270 Pound, Ezra 372 Proll, Astrid 203, 205, 236 Proust, Marcel 27, 46, 149 Quandt, Siegfried 24 Raabe, Wilhelm 65, 142 Rabsch, Udo 253, 275 Racine, Jean 85 f. Ranke, Leopold von 32, 60, 62, 88, 108, 123, 256, 322 Raspe, Jan-Carl 196 – 198, 200, 203, 223, 238 Regener, Sven 284 f. Reißmüller, Johann Georg 209 Reitz, Edgar 216

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Namenregister

Renan, Ernest 131 Renouvier, Charles 322 Richard, Bruno 132 Richter, Gerhard 236 f. Ricoeur, Paul 300 Riefenstahl, Leni 135 Rilke, Rainer Maria 298, 377 Ritzel, Ulrich 204 Röggla, Kathrin 408 f., 411 – 413, 416, 418, 428 Roth, Christopher 204, 234, 238 f. Roth, Gerhard 342 – 352, 366 Roth, Karl-Heinz 207 Rotth, Albrecht Christian 72 f. Roulli¦, Andr¦ 122 Rüsen, Jörn 63, 123, 149, 290 Sagan, Carl 268 Salomon, Ernst von 221 Sarraute, Natalie 23, 102, 114 Sartre, Jean Paul 161, 373 Schabowski, Günter 283, 305 f., 333 Schalek, Alice 353 Schami, Rafik 407 – 409, 412 f., 428 Schamoni, Ulrich 289 Scharang, Michael 366 Scheidemann, Philipp 286 Schiller, Friedrich 60, 87, 93, 95, 100, 178, 286 Schindel, Robert 110 Schlegel, Friedrich 62 Schleyer, Hanns Martin 197 – 200, 203, 211, 215 – 217 Schlöndorff, Volker 204, 216 Schmidt, Arno 252 Schmitt, Carl 372 Schmitz-Scholemann, Christoph 105 Schneider, Peter 166, 234 f., 338, 427 Schneider, Rolf 327 – 334 Schneider, Susanne 204 Scholz, Leander 30, 51, 151, 204, 233 – 244 Schrott, Raoul 113 Schütz, Alfred 135 Scott, Walter 63 Sebald, W. G. 134, 356 Semprun, Jorge 250

Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 210, 435 Shakespeare, William 369 Silbermann, Alfons 136 Simatovic´, Franko 362 Simiand, Francois 34 Simmel, Georg 58, 65, 119 Sloterdijk, Peter 47, 132, 286 Sonner, Franz-Maria 204, 233 Sontag, Susan 13, 114, 120, 123, 139, 141, 167, 191 Sorokin, Wladimir 317 Späth, Gerold 296 Spiegel, Hubert 393 Spiegelman, Art 419 f., 427 Stadler, Arnold 148 Stefan Urosˇ III. Decˇanski 437 Stefan Urosˇ IV. Dusˇan 437 Stendhal 66, 70, 229, 403 Stoph, Willy 333 Strauß, Botho 14, 106 f., 116, 118, 372, 374, 407 Szondi, Peter 237 Tabori, George 273 Tarkowskij, Andrej 349 Timm, Uwe 157, 189, 240 Toller, Ernst 91 – 93 Tucholsky, Kurt 171 Ut, Nick 161 Vaneigem, Raoul 163 Veiel, Andreas 204 Vergil 324 Vico, Giambattista 60 Virchow, Rudolf 307 f. Virilio, Paul 19, 22, 40, 304 Vischer, Friedrich Theodor 377 Voltaire 76 Wabl, Matthias 164 Wagner, Richard 289 f. Walser, Martin 129, 156 f. Warburg, Aby 158 Weber, Sabine 131 Weise, Christian 79 – 81 Weiss, Peter 94, 99 f., 164, 169 – 186 Wellershoff, Dieter 323 Welles, Orson 407

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Namenregister

Welsch, Wolfgang 107, 136, 227 Welzer, Harald 319 White, Hayden 55, 63, 233 Wienbarg, Ludolf 88 Wilde, Oscar 143, 273 Wildenhain, Michael 235 Wittstock, Uwe 371 Woelk, Ulrich 204, 233 Wörlemann, Fritz 230 Wolf, Christa 101 f., 117, 148, 156, 167,

244, 251, 255 – 270, 273, 282, 288, 313, 338 Wolf, Friedrich 91 Wolff, Eugen 93 Zahl, Peter Paul 207, 212, 288 Zeh, Juli 125, 341 f., 360 – 366 Zerkaulen, Heinrich 92 Zizek, Slavoj 402 Zola, Êmile 373 Zülch, Tilman 371, 391 Zweig, Stefan 128 f.

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