Ethik und Rechtswissenschaft: Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens [1 ed.] 9783428446247, 9783428046249

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Ethik und Rechtswissenschaft: Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens [1 ed.]
 9783428446247, 9783428046249

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EGGERT WINTER

Ethik und Rechtswissenschaft

Schriften zur

Rechtetheorie

Heft 92

Ethik und Rechtswissenschaft Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens

Von Dr. Eggert W i n t e r

D U N C K E R

& H U M B L O T

/

B E R L I N

Gedruckt m i t Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

D 30 Alle Rechte vorbehalten © 1980 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Zippel-Druck in Firma Büro-Technik GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISBN 3 428 04624 2

Meinen Eltern

„Wenn an dem zweideutigen Worte, der Einzelne sei das Produkt der Gesamtheit, ein Titelchen Unwahrheit ist, so ist es dies, daß bei weitem nicht hinlänglich erkannt wird, in welchem Maße das unbestimmte Individuelle selbst erst im Lichte des Allgemeinen, unter dem erzeugenden Gedanken der Gesamtheit moralischer Wesen, eine von phrasenhafter Geltung freie Realität gewinnt." Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik, 1877, S. 9

Vorwort Die Arbeit hat dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Wintersemester 1977/78 als Dissertation vorgelegen. Die nach Abschluß der Untersuchung erschienene Literatur wurde, soweit sie den Marburger Neukantianismus zum Gegenstand hat, berücksichtigt und eingearbeitet. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Wolfgang Naucke, der die Arbeit angeregt und sie über viele Jahre mit bemerkenswerter Geduld und Nachsicht durch Rat und Tat gefördert hat. Zu danken habe ich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Veröffentlichung überaus großzügig unterstützt hat. Frankfurt, im Dezember 1979

Eggert Winter

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

19

1.

Ein Problemaufriß: Bergbohm - Stammler - Cohen

19

2.

Rezeption und Wirkungsgeschichte der Cohenschen Ethik

28

3.

Zielsetzung der Untersuchung

48

Erster Teil

Die historischen und systematischen Grundlagen Erstes Kapitel Philosophiegeschichtliche Einführung 1.

Vorbemerkung

59

2.

Die Entwicklung der Hegeischen Schule.

60

3.

Vulgärmaterialismus und das neue Verhältnis der Philosophie zu den positiven Wissenschaften

66

4.

Positivismus und De-Facto-Positivismus

69

5.

Philosophie als Geschichte der Philosophie in der Hegeischen Rechten

71

6.

Irrationalismus und Pessimismus: Schopenhauer

72

7.

Der erkenntnistheoretische Einsatzpunkt der auf Kant zurückgehenden philosophischen Bemühungen

76

7.1.

Hermann Helmholtz

77

7.2.

Kuno Fischer

78

7.3.

Eduard Zeller

79

7.4.

Otto Liebmann

80

7.5.

Friedrich Albert Lange

81

7.6.

Die weitere Entwicklung im Umriß

84

12

Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel Der Begriff der Philosophie im Cohenschen Kritizismus

1.

Die „Wiederherstellung der Kantischen Philosophie"

86

1.1.

Erste Phase: Kants Theorie der Erfahrung

86

1.2.

Zweite Phase: Kants Begründung der Ethik

115

2.

Der Umbau der Kantischen Philosophie

144

3.

Der entwickelte Begriff der Philosophie im „System der Philosophie"..

173

3.1.

Einleitung

173

3.2.

Charakteristik der Grundintention

177

3.3.

Disposition des „Systems der Philosophie"

182

4.

Das methodische Zentrum: Die „Logik der reinen Erkenntnis" als die Grundlage des Systems

191

4.1.

Das reine Denken

191

4.2.

Probleme und Konsequenzen: Idealismus ohne Subjekt?

202

Zweiter Teil

Cohens Begründung der Ethik Erstes Kapitel Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption 1.

Historische Vergegenwärtigung: Cohens Ethik im Verhältnis zu den ethische Konzeptionen am Ausgang des 19. Jahrhunderts

212

Die Entwicklung der Auffassungen Cohens zum Zusammenhang von Logik und Ethik

219

2.1.

Erste Phase: Ethik als Konsequenz der Erfahrungslehre

220

2.2.

Zweite Phase: Ethik nach der Richtschnur der transzentendalen Methode

224

3.

Die methodische Disposition der „Deduktion der Ethik"

230

3.1.

Ethik als „Logik der Geisteswissenschaften"

230

3.2.

Exkurs I: Cohens Kritik an Kants Deduktion

235

3.3.

Exkurs II: Cohens eigene Unsicherheit in der Deduktion der Ethik

238

3.4.

Zusammenfassung

247

2.

Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel Ethik als Lehre vom Menschen: Die Leitgedanken der „Ethik des reinen Willens" 1.

Cohens Vorbegriff von der Richtung der zu lösenden ethischen Probleme

252

1.1.

Der Leitgedanke des Aufbaus der Ethik: Ethik als Lehre vom Menschen

252

1.2.

Abweisung konkurrierender Wissenschaften vom Menschen

255

1.3.

Ethik als Prinzipienlehre der Philosophie von Recht und Staat

260

2.

Bemerkungen zum Problem des Verständnisses der Cohenschen „Ethik des reinen Willens"

263

Die „Gemeinschaft moralischer Wesen" aus „Kants Begründung der Ethik" als Leitidee der „Ethik des reinen Willens"

269

3.

Drittes Kapitel Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit 1.

Vorbemerkung

277

2.

Klärung der „Zweideutigkeiten" im Begriffe des Individuums nach den Ergebnissen der „Logik der reinen Erkenntnis"

278

Die „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" als Material für die Konstitution des sittlichen Subjekts

279

3.1.

Vorbemerkungen zum Aufbau

279

3.2.

Erläuterung: Das sittliche Subjekt als Selbstbewußtsein

281

3.3.

Transzendentalanalyse des Vertrages

282

3.3.1.

Die willenstheoretische Vertragskonstruktion in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts: Savigny und Windscheid

283

3.3.2.

Cohens geltungstheoretische Konstruktion des Vertrages

286

3.4.

Weitere Folgerungen: Die Bestimmung von Willen und Handlung

286

3.5.

Folgerungen für die Konstitution des Selbstbewußtseins

290

3.6.

Die innere Struktur des „ethischen Willenssubjekts": Transzendentalanalyse der juristischen Person

291

3.6.1.

Vorbemerkung

291

3.6.2.

Zum Begriff der juristischen Person in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Die ältere Fiktionstheorie: Carl Friedrich von Savigny Bernhard Windscheid Die Theorie der realen Verbandspersönlichkeit: Otto von Gierke

294 298 300 301

3.

3.6.21. 3.6.22. 3.6.23.

14

Inhaltsverzeichnis

3.6.24.

Die „Zwecktheorie": Rudolf von Ihering

303

3.6.25. 3.6.26. 3.6.27.

Die gemeinsame Grundannahme in Savignys, Windscheids, Gierkes und Iherings Auffassungen Die jüngere Fiktionstheorie: Paul Laband Georg Jellinek

305 306 309

3.7.

Entfaltung der Cohenschen Auffassung der juristischen Person

310

4.

Konsequenzen für den Begriff des ethischen Subjekts

315

5.

Abweisung des Begriffs der Gemeinschaft für die Bestimmung des ethischen Subjekts

320

Das ethische Subjekt seinem Inhalte nach: der Staat als Subjekt der Sittlichkeit

322

6.1.

Entwicklung des Begriffs dés Staates als „ethischer Leitbegriff"

323

6.2.

Der Vertrag als sittliche Rechtfertigung des Staates

327

6.3.

Abweisung des Volks- und Volksgeistbegriffs und des soziologischen Gesellschaftsbegriffs für die Begründung des Staates

332

6.3.1.

Motive für die Abweisung des Volksbegriffs

333

6.3.2. 6.3.21. 6.3.22.

Kritik des Volksgeistbegriffs Savigny Lassalle

335 335 337

6.3.3.

Positive Würdigung des Volksbegriffs

339

6.

6.3.4.

Exkurs: Der Volksbegriff im „Kritischen Nachtrag"

340

6.3.5. 6.3.51. 6.3.52.

Das Verhältnis des Gesellschaftsbegriffs zum Staatsbegriff Die „doppelte Gebrauchsgeschichte " des Gesellschaftsbegriffs Der Gesellschaftsbegriff des Sozialismus als versteckter Staatsbegriff..

342 342 343

7.

Zusammenfassung: Das Problem der Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

346

Viertes Kapitel Die Handlungsform des Staates - das Gesetz 1.

Einleitung

349

2.

Gesetz und Zwang

352

3.

Gesetz und Imperativ

361

4.

Rechtsgesetz und Naturgesetz

366

5.

Gesetz und Allgemeinheit

376

6.

Zusammenfassung

384

Inhaltsverzeichnis

15

Fünftes Kapitel Cohens Begriff der Autonomie 1.

Autonomie und das „Problem der alten Metaphysik": die Freiheitsfrage

387

2.

Selbstgesetzgebung

394

3.

Selbstbestimmung

396

4.

Selbstverantwortung

408

4.1.

Cohens Begriff der rechtlichen Zurechnung

417

4.2.

Cohens Begriff der sittlichen Zurechnung

421

5.

Selbsterhaltung

424

5.1.

Das Problem der Wiedergewinnung sittlicher Identität - Cohens Straftheorie

425

5.2.

Die Aufgabe der Selbsterhaltung und das Problem der Todesstrafe

433

5.3.

Cohens Stellungnahme zur Straftheorie der „modernen Schule"

436

6.

Zusammenfassung

440

Anhang

Hermann Cohen - Kurzbiographie

444

Literaturverzeichnis

449

Abkürzungsverzeichnis a. a. Ο.

am angegebenen Ort

Abt.

Abteilung

AEAT

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches - Allgemeiner Teil

ÄrG

Ästhetik des reinen Gefühls

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

ARWP

Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie

Aufl.

Auflage

Bd.

Band

BRSP

Der Begriff der Religion im System der Philosophie

BVerGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

d. h.

das heißt

Diss,

Dissertatio(n)

ebd.

ebenda

ed.

edited

eingl.

eingeleitet

ErW f(f).

Ethik des reinen Willens und die folgende(n)

Fn.

Fußnote

GdM

Geschichte des Materialismus

GMS

Grundlegung der Metaphysik der Sitten

GW

Gesammelte Werke

GS

Gesammelte Schriften

hrsg.

herausgegeben

Hrsg.

Herausgeber

Jg.

Jahrgang

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristenzeitung

Kap.

Kapitel

KBÄ

Kants Begründung der Ästhetik

KB E

Kants Begründung der Ethik

KpV

Kritik der praktischen Vernunft

KrV

Kritik der reinen Vernunft (A = 1781, Β = 1786)

Abkürzungsverzeichnis KTE

Kants Theorie der Erfahrung

LrE

Logik der reinen Erkenntnis

MEW

Marx-Engels, Werke

MS

Metaphysik der Sitten

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

NZsystThR Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsgeschichte o. J.

ohne Jahr

ÖZöffR

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht

Phil. Jahrb. Philosophisches Jahrbuch PI

Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte

RdV

Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums

s.

siehe

S.

Seite

Sp.

Spalte

sogn.

sogenannte

StGB

Strafgesetzbuch

teilw.

teilweise

u.

und

u. a.

unter anderem

v.

von

vgl.

vergleiche

Vol.

Volume

WdDStL

Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer

WW

Werke

ζ. B.

zum Beispiel

ZfphF

Zeitschrift für philosophische Forschung

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

zit.

zitiert

2

Winter

Einleitung

1. Ein Problemaufriß: Bergbohm - Stammler - Cohen

Anmaßend selbstgewiß resümiert Karl Bergbohm 1892 in „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie" als Programm positivistischen Rechts Verständnisses: „Mögen die Leute sich unter Recht denken, was sie wollen, und an ein Recht glauben, so hoch und himmlisch als sie es sich irgend vorstellen können. Aber von allem, was sich Jurisprudenz, Rechtslehre, Rechtsphilosophie nennt und auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erhebt, ist jeder Gedanke daran, daß etwas Recht sein könnte, ohne positives Recht zu sein und das Recht betreffen könnte, ohne im wirklichen Recht Bestätigung zu finden, auf das entschiedenste fernzuhalten 1." Die zeitgenössische rechtstheoretische Literatur, stellt Bergbohm fest, sei allerdings noch weit davon entfernt, ein „System der Philosophie des positiven Rechts"2 als „Sammelstelle für die umherirrenden allgemeinen Rechtsbegriffe und Rechtslehren", als „allgemeinen oder allgemeinsten Teil der ganzen Rechtswissenschaft" 3 entworfen zu haben. Zwar verschaffe sich „das Bedürfnis nach sicheren Stützpunkten für die ohne allgemeine Lehren und juristische Grundbegriffe in der Luft schwebende Dogmatik der einzelnen Rechtsteile"4 vermehrt Artikulation, doch sei der Eindruck von Unabgeklärtheit und Verworrenheit der Grundbegriffe in der rechtstheoretischen Auseinandersetzung beherrschend. Die Ursache dafür, dessen ist Bergbohm sich ganz sicher, liege im noch nicht überwundenen Naturrecht. Das Naturrecht nämlich habe den Rechtsbegriff zwiespältig gemacht. Durch diesen Dualismus sei der Rechtsbegriff kompromittiert und die Rechtsphilosophie als wissenschaftliche Disziplin in Verruf gekommen. Wohl habe man schon frühzeitig ausgerufen, daß der Traum des Naturrechts ausgeträumt sei5; ja, nachdem „Theorie und Methode der Historischen Schule eine gewaltige Umwälzung" 6 in der Jurispru1 Bergbohm, Karl: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Kritische Abhandlungen, Erster Bd., Leipzig 1892, S. 118. 2 Ebd., S. 35. 3 Ebd., S. 96. 4 Ebd., S. 100. 5 Ebd., S. 110. Bergbohm bezieht sich auf Bernhard Windscheids Rede: Über Recht und Rechtswissenschaft, Rede, Greifswald 1854, S. 9. 6 Ebd., S. 110. 2*

20

Einleitung

denz herbeigeführt hätten, sei man sogar Glaubens gewesen, „die naturrechtliche Herrlichkeit, wenigstens für Deutschland, zu Grabe getragen" 7 zu haben, doch seien „diese Leichenreden zu früh gehalten worden 8 ." Es fließe nämlich „nach wie vor breit und flach das Naturrecht daher, ein nimmer versiegender, durch zahlreiche Nebenflüsse von mannigfachem Charakter gespeister Strom" 9 . Wenn es auch als contra bonos mores für einen Juristen gelte, noch irgendwie, und sei es auch nur platonisch, Verbindung mit dem so stark kompromittierten Naturrecht zu unterhalten 10 , und wenn das Naturrecht deshalb im Schultalar nur noch ausnahmesweise auftrete, so sei es dort „dafür um so häufiger in allerlei Verkleidungen" 11 anzutreffen. Bergbohm hält diesen Zustand für „einfach unerträglich", weshalb „das Haupthindernis der Lösung derjenigen Aufgaben der Rechtswissenschaft, bei deren Bewältigung sie sich zur Rechtsphilosophie erhebt,... endlich und allendlich hinweggeräumt werden muß: ... Es muß m. e. W. das Unkraut Naturrecht, in welcher Form und Verhüllung es auch auftreten möge, offen oder verschämt, ausgerottet werden, schonungslos, mit Stumpf und Stiel 12." Rudolf Stammlers „Lehre von dem richtigen Rechte" 13 , zehn Jahre nach „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie" veröffentlicht, scheint schon im Titel den Affront mit der positivistischen Rechtslehre zu suchen. Diese Vermutung ist wohlbegründet. Tatsächlich läßt sich in den Jahren um die Jahrhundertwende eine Veränderung des rechtsphilosophischen Frageinteresses feststellen; deutlich verstärkt ist die Bemühung um die Gewinnung materialer Kriterien für die Begründung und Beurteilung von Normen zu beobachten 14 . Jedoch hütet Stammler sich bei seinem Versuch, „nach der Methode des richtigen Rechts zu bestimmen, wie sich jemand gerechterweise verhalten soll 15 ", davor, den Anschein zu erwecken, als knüpfe er an irgendwelche naturrechtlichen Traditionen an. Er bestreitet der allgemeinen Rechtslehre oder juristischen Prinzipien7 Ebd., S. 111. 8 Ebd., S. 111. 9 Ebd., S. 9. !0 Vgl. Zitelmann, Ernst: Über die Möglichkeit eines Weltrechts, Wien 1888, S. 4, zitiert bei Bergbohm, S. 137. 11 Bergbohm, S. IX. !2 Ebd., S. 118. 13 Stammler, Rudolf: Die Lehre von dem richtigen Rechte, Berlin 1902. 14 Stammler hat auf die Notwendigkeit der Wiederaufnahme der Probleme und Fragestellungen des Naturrechts durch die Rechtsphilosophie in einer Kritik des Historismus der historischen Rechtsschule schon früh hingewiesen in seinem Aufsatz: Über die Methode der geschichtlichen Rechtstheorie, in: Festgabe für Bernhard Windscheid, hrsg. von Stammler und Kipp, Halle 1889, S. 1 ff.; wiederabgedruckt in: Rudolf Stammler: Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, Bd. 1 (1880-1913), Berlin 1925, S. 1 ff. Vgl. weiterhin unten die Ausführungen und Literaturzusammenstellungen im Kapitel über „Cohens Ethik im Verhältnis zu den ethischen Konzeptionen am Ausgang des 19. Jahrhunderts" (Zweiter Teil, 1. Kapitel). 15 Stammler, Die Lehre, S. 70.

Einleitung

lehre als positivistischem Typus von Rechtsphilosophie nicht den Wert ihrer Ergebnisse, er schränkt ihre Arbeit jedoch ein auf „die scharfe Durchleuchtung des empirischen Rechtsstoffes, seine Versetzung in Ordnung und konkrete Einheit 16 ". Als „technische Rechtslehre" trifft sie die systematisch-ordnenden Vorkehrungen für die „theoretische", deren Aufgabe es ist zu lehren: „Unter welchen Bedingungen ein Rechtsinhalt das richtige Mittel zum rechten Ziele sei; - mit was für einer Methode man dessen habhaft werden könne; - und wie eine praktische Durchführung dieses Wollens möglich erscheine 17 ." Doch auch die theoretische Rechtslehre darf nur auf den Stoff des gesetzten Rechts sich beziehen, um vermittels einer „allgemeingültigen formalen Methode" 18 die Kriterien richtigen Rechts zu gewinnen. Jedes Heraustreten aus der Immanenz des Rechtsstoffes bedeutet für Stammler einen Rückfall in die Fehler des alten Naturrechts. Stammler wird nicht müde zu wiederholen, daß das richtige Recht „nicht außerhalb des gesetzten Rechts" 19 zu suchen sei, daß es „ein positives Recht" sei, dessen Willensinhalt die Eigenschaft der Richtigkeit" 20 besitze. Stammler ist deshalb gezwungen, seine Lehre vom richtigen Recht von der Ethik abzugrenzen. Er stellt die Frage, ob „denn nicht der Inhalt vom rìchtigen Rechte aus der sittlichen Lehre zu entnehmen" 21 sei. „Bedingungslos" 22 verneint er dies. „Das Urteil über die sachliche Richtigkeit eines gewissen Rechtsinhaltes darf nicht von außen her herangetragen werden, sondern ist lediglich der dem Rechte immanenten Gesetzmäßigkeit zu entnehmen. Es ist also weder das richtige Recht außerhalb des Inhalts von gesetztem Recht fertig zu machen; noch auch hat eine andere Disziplin in jenen Willensinhalt maßgeblich einzugreifen und ihn nach ihren auswärtigen Gesetzen zu regieren. Es ist immer und lediglich eine Frage der Rechtslehre selbst 2*." Schließlich wird auch gegen naturrechtliche Anklänge die Methode des richtigen Rechts abgehoben: „Alle Richtungen des Naturrechts haben es unternommen, in dem ihnen jeweils eigenen Beweisverfahren ein ideales Rechtsbuch mit einem unwandelbaren, unbedingt gültigen Rechtsinhalte zu entwerfen. Stattdessen ist es unsere Absicht, nur eine allgemeingültige formale Methode zu finden, in der man den notwendig wechselnden Stoff empirisch bedingter

16

Ebd., S. 15. Ebd., S. 11. 18 Stammler, Die Lehre, S. 116. 19 Ebd., S. 23. 20 Ebd., S. 22; dabei ist allerdings festzuhalten, daß für Stammler die Frage der Geltung des Rechts ohne Belang ist. Er bezieht sich auf bestehendes und vergangenes Recht, das aber immer in Satzung, als Normensystem vorliegen muß; vgl.: Die Lehre, S. 22 f. 21 Ebd., S. 51. 22 Ebd., S. 51. 23 Ebd., S. 50. 17

22

Einleitung

Rechtssatzungen dahin bearbeiten, richten und bestimmen mag, daß er die Eigenschaft des objektiv Richtigen erhält 24 ." Diese „allgemeingültige formale Methode" gewinnt Stammler dadurch, daß er die Einheit der „bedingenden" Elemente, die „jeder rechtlichen Regel immanent innewohnen" 25 , auffinden will. Diese Einheit nun erkennt er in dem Zweck jeder Rechtssatzung nach Harmonisierung der besonderen subjektiven Einzelzwecke. Und die Formel, „welche alle möglichen Zwecke von rechtlich Verbundenen einheitlich zusammenfaßt" 26, nennt Stammler „die Gemeinschaft frei wollender Menschen" 27. Er gibt ihr den Namen des „sozialen Ideals" 28 . Mit der Hilfe dieser „Formel" soll die Feststellung möglich werden: „Der Inhalt einer Norm des Verhaltens ist richtig, wenn er in seiner besonderen Lage dem Gedanken des sozialen Ideals entspricht 29 ." Dieses „soziale Ideal" wird von Stammler also gedacht als eine Art Kontrollinstrument, das Rechtsnormensysteme verschiedenster Art und Herkunft auf ihre Stimmigkeit und „Richtigkeit" überprüft 30 . Es soll - darin besteht die sich auf Kant berufende 31 Stammlersche Wendung des Problems - keine inhaltlich definierte Norm sein, denn das würde den Rückfall in die alte naturrechtliche Position bedeuten, sondern ein aus der Rechtsnorm gewonnenes formales Schema zur Beurteilung und Bewertung des gesetzten Rechts. Stammlers Instrument der Richtigkeitskontrolle von Rechtsnormsystemen, das soziale Ideal, das durchaus nichts mehr als ein „formales Verfahren des Ordnens von Zwecksetzungen" darstellen soll, entpuppt sich bei näherer Betrachtung unschwer als transpositive, d. h. naturrechtlicher Ausfüllung bedürftige Formel 32 . In der wiederholten Unterstreichung und ausdrücklichen Beto24

Ebd., S. 116 f. Stammler, Die Lehre, S. 196. 26 Ebd., S. 198. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Verständlich wird dieses Ergebnis Stammlerscher Überlegungen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er jede Rechtssatzung - in einer für die heutige Auffassung kaum nachvollziehbaren Naivität - als „Zwangsversuch zum Richtigen" (Die Lehre, S. 27.) betrachtet. 31 Daß die Berufung auf Kant illegitim sei und daß Stammler vielmehr unter dem Einfluß der Zwecklehren von Jherings gestanden habe, versucht - mit sehr drastischen Zurechtweisungen nicht sparend - Julius Ebbinghaus in seinem Aufsatz: Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, in: Erkenntnis und Verantwortung, Festschrift für Theodor Litt, herausgegeben von Josef Derbolav und Friedhelm Nicolin, Düsseldorf 1960, S. 317-334, nachzuweisen. 32 Wielikowski, G. H.: Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, München 1914, S. 26 ff., 64 ff.; Kantorowicz, Hermann: Zur Lehre von dem richtigen Rechte, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1908/09, S. 9 ff., 31 ff. Bestätigt wird dies durch die Kritik, die ausführlich und scharf Stammlers methodisches Vorgehen als mißverstandenc Anwendung der transzendentalen Fragestellung erkannte. Vgl. vor allem aus der umfangreichen Literatur: Binder, Julius: Rechtsbegriff und Rechtsidee. Bemerkungen zur 25

Einleitung nung, daß es sich „bei der Idee des richtigen Rechts, die i n der Formel des sozialen Ideals definiert ist, nicht u m einen inhaltlichen Rechtssatz, sondern u m eine formale Methode" 33 handele, d r ü c k t sich deutlich das schlechte Gewissen über den Status der gefundenen „Schemata" aus 3 4 . Zwei Jahre nach Erscheinen der „Lehre von d e m richtigen Rechte" w i r d der Jurist Stammler von einem Philosophen zurechtgewiesen. Hennann Cohen35, Begründer u n d H a u p t der Schule des Marburgers Neukantianismus, hält Stammler i n der „ E t h i k des reinen W i l l e n s " 3 6 vor: „Es darf in keiner Weise zugestanden werden, was der Gedanke des Richtigen Rechts u n t e r n i m m t , das Recht richtig zu machen, ohne den G r u n d der Richtigkeit unzweideutig i n der E t h i k zu suchen, zu legen u n d festzuhalten. Es darf nicht zugestanden werden, daß selbständig u n d schlechterdings unabhängig das Recht seine eigenen Wege ginge; u n d daß, sei es vorher oder hinterher, eine Ethik k o m m e n dürfe, als die E t h i k des I n d i v i d u u m s u n d der Gesinnung" 3 7 . Cohen betrachtet StammRechtsphilosophie Rudolf Stammlers, Leipzig 1915; ders.: Philosphie des Rechts, Berlin 1925, S. 122 ff., S. 771 ff.; Kaufimtm, Erich: Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Beziehungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft, Tübingen 1921, S. 10 ff.; Latenz, Karl: Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Auflage, Berlin 1935, S. 25 ff.; Marek, Siegfried: Substanzbegriff und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925, S. 61 ff.; neuerdings: Engisch, Karl: Auf der Suche nach der Gerechtigkeit. Hauptthemen der Rechtsphilosophie, München 1971, S. 202 ff.; Larenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin-Heidelberg 1975, S. 91 ff. 33 Stammler, Die Lehre, S. 202. 34 So sehr Stammlers Lehre von dem richtigen Rechte von der Absicht getragen ist, die Rechtsphilosophie als Ort der wissenschaftlichen Behandlung praktisch-rechtlicher Fragen gegen die positivistische Tendenz der Zeit erneut in ihr Recht zu setzen, so sehr ist diese Lehre noch aus dem positivistischen Geist gezeugt, den sie zu überwinden trachtete. Das zeigt sich in der Fixierung auf das gesetzte Recht, aus dem die Bewertungsmaßstäbe gewonnen werden sollen; das zeigt sich in dem Versuch, die Bewertungsmaßstäbe nicht nach Seiten ihrer Inhaltlichkeit als vernünftig zu rechtfertigen, sondern ihnen in der Gestalt einer „allgemeingültigen formalen Methode" den Anschein der Sachlichkeit, Objektivität und Festigkeit zu geben. Zum Verhältnis Stammlers zum Positivismus vgl. die Bemerkungen von Carl August Emge: Philosphie der Rechtswissenschaft, Berlin 1961, S. 146; ebenso Julius Binders Nachwort auf Rudolf Stammler, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 1937/38, S. 433-440. Daß Stammler nach der Blütezeit von Historismus und Positivismus die Rechtswertfragen wieder erörterbar gemacht hat und insofern als der „Neubegründer", „Erneuerer", „Reformator" der Rechtsphilosphihhhphie in Deutschland gilt, ist unbestritten, doch wird die Haltbarkeit und der methodische Wert seiner Bemühungen, im Unterschied zur Publizität, die sein Werk hatte, gering eingeschätzt. Stammlers Bedeutung wird mehr im Hinblick auf die Fragen gesehen, die er gestellt hat, als im Hinblick auf die Antworten, die er darauf gegeben hat. Vgl. die ausführliche Würdigung Felix Somlos : Juristische Grundlehre, Leipzig 1917, S. 45 f., Fußnote 2; Wilhelm Sauer: System der Rechts- und Sozialphilosophie, 2. Auflage, Basel 1949, S. 463; Max Ernst Mayer: Rechtsphilosphie, Berlin 1922, S. 21; Binder, Julius: Philosophie des Rechts, Berlin 1925, S. 122 ff.; Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, 4. Auflage, Stuttgart 1950, S. 116 f. 35 Ein Lebensabriß Hermann Cohens findet sich im Anhang dieser Arbeit. 36 Cohen, Hermann: Ethik des reinen Willens, Berlin 1904 (im folgenden abgekürzt „ErW"). 37 Cohen, ErW, S. 214.

24

Einleitung

lers Versuch, das Kriterium für die Richtigkeit einer rechtlichen Regelung, das soziale Ideal, dem Recht wiederum selbst zu entnehmen, als Scheinlösung. Entweder muß nämlich als Konsequenz der Stammlerschen Konzeption jede Rechtsordnung, auch die menschenverachtendste, unter dem Gesichtspunkt der Stimmigkeitskontrolle rechtfertigbar sein, oder aber in der Idee des richtigen Rechts liegt ein Beurteilungsmaßstab, der ein bestimmtes positives Recht kritisierbar macht. Nach der letzten Alternative aber kann die Richtigkeitsgewähr nicht der positiven Satzung selbst entnommen werden, sondern bedarf der Legitimation durch eine andere Instanz. Stammler glaubt in seiner „Lehre von dem richtigen Rechte" nachweisen zu können, daß aus dem positiven Recht nicht nur der Maßstab seiner Beurteilung nach Richtigkeit im Sinne logischer Stimmigkeit, sondern auch im Sinne von Gerechtigkeit erschließbar ist 38 . Allerdings wendet Cohen nun das Problem nicht in der Weise, daß er, wie das alte Naturrecht, das richtige Recht aus einer bestimmten Anthropologie entwickelt, sondern indem er in seiner „Ethik des reinen Willens" auf dem Erkenntnisgrund der Rechtswissenschaft die Prinzipien der Sittlichkeit als Rechtsprinzipien erkennt und rechtfertigt. Cohen legt sich damit quer zu den rechtsphilosophischen Tendenzen des Positivismus und knüpft an die im 19. Jahrhundert zunehmend geächtete naturrechtliche Tradition an. Der Wandel des Interesses an Rechtsphilosophie und des rechtsphilosophischen Interesses ist bemerkenswert: Bergbohm weiß noch zu berichten, daß „die einst so rege Mitarbeit der Philosophie an den Problemen des Rechts immer schwächer geworden" ist und sie „gegenwärtig... endlich ganz und gar eingestellt zu sein" 39 scheint. Er sieht die Ursache der „muthlosen Zurückhaltung" 40 gegenüber juristischen Fragen seitens der Philosophen und der üblichen Perhorreszierung des bloßen Namens der Rechtsphilosophie von seiten der Juristen 41 darin, daß die „entfesselte phi38 Stammler hat diese Kritik Cohens als „grundlegendes Mißverständnis" (Rechtsphilosophie, S. 188, Fußnote 6) seiner Lehre aufgefaßt und in seinen späteren Werken Klarstellungen zu geben versucht, wobei er zugesteht, daß das Mißverständnis „durch diesen oder jenen Ausdruck oder die Art der früheren Darstellung" (Theorie der Rechtswissenschaft, S. 489) veranlaßt sein könnte. Vgl. dazu folgende Stellen: Theorie der Rechtswissenschaft, Halle 1911, S. 488 ff.; Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung, 5. Auflage, Berlin 1924, S. 376, S. 666 f., Anm. 207; Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Auflage, Berlin 1928, S. 188 f., Fußnote 6. Eine Schlichtung der „Kontroverse" zwischen Stammler und dem „führenden Philosophen, insbesondere Ethik er dieser Schule in unserer Zeit: Hermann Cohen" (S. 1) unternahm Paul Natorp in seinem Aufsatz: Recht und Sittlichkeit. Ein Beitrag zur kategorialen Begründung der praktischen Philosophie mit beonserem Bezug auf Hermann Cohens „Ethik des reinen Willens" und Rudolf Stammlers „Theorie der Rechtswissenschaft", in: Kant-Studien 18 (1913), S. 1-79. 39 Bergbohm, Jurisprudenz, S. 3. 40 Ebd., S. 5. 41 Vgl. ebd., S. 26.

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losophische Spekulation eben vornehmlich auf dem Gebiete des Rechts und des Staates die schwersten Niederlagen erlitten hat 42 ." Da von Seiten der Fachphilosophie mangels der wegen des Aufschwungs der positiven Rechts- und Staatswissenschaft notwendig gewordenen differenzierten juristischen Kenntnisse wenig Neigung bestehe, „erneut sich der Rechtsphilosophie zu bemächtigen", so bleibe den Juristen nur übrig, „auf eigene Hand über das Recht zu philosophieren" 43 . Bergbohm stellt sich die Aufgabe nachzuweisen, daß eine neue Rechtsphilosophie als „Philosophie des positiven Rechts" 44 erforderlich sei, andernfalls „dem System der juristischen Wissenschaft... ein schwerer Mangel an (haftet), wenn der Kreis derselben nicht durch eine philosophische Rechtslehre, die allen einzelnen Teilen, aber keinem besonders angehört, zusammengehalten wird" 4 5 . Auch die inhaltlichen Möglichkeiten des rechtsphilosophischen Interesses werden durch diese Aufgabenbestimmung festgelegt. Der positivistische Begriff von Rechtsphilosophie als allgemeiner Rechtslehre oder Allgemeiner Teil der Rechtswissenschaft markiert das Verhältnis zu praktisch-politischen Problemen. „Wir sehen sehr wohl, daß man das Recht verbessern kann und muß, und haben gar nichts dagegen einzuwenden, daß man einen Teil der Politik, sofern hierunter Maximen der Kunst, die gesellschaftliche Ordnung und Wohlfahrt zu erhalten und zu steigern, verstanden werden, auch Rechtspolitik nenne. Aber Rechts Wissenschaft und ÄecÄtephilosophie nennen wir sie nicht und ihre Motive, Ideen, Zwecke nicht Recht 46." Bergbohms Feststellungen verdeutlichen, daß in diesem Verstände Politik ein der Wissenschaft prinzipiell unzugänglicher Bereich ist, weil die dort aufgestellten Ziele „keine Wahrheiten sind, die sich beweisen lassen" 47 . Konsequenz dieser Auffassung ist, daß praktisch-politisches Handeln keinen Gegenstand darstellt, der der wissenschaftlichen Behandlung fähig wäre, allenfalls „Inhalt eines Wünschens und Verlangens, das ein jeder auf seine Weise zu motivieren und durchzusetzen versucht" 48 . „Weder hat sie (die Rechtsphilosophie - E. W.) zu lehren, wie man seine Handlungen einzurichten hat, worüber die Rechtsnormen selbst Auskunft geben; noch hat sie direkt über die von einer Rechtsordnung, wenn sie wohl gefallen soll, zu erfüllenden Ansprüche aufzuklären, denn das ist Sache der Kritik und Politik. Sie lehrt uns im Grunde überhaupt nichts Praktisches, sie ist etwas Theoretisches: 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 5. Ebd., S. 7, 33. Ebd., S. 27. Ebd., S. 102. Ebd., S. 145. Ebd., S. 234. Ebd., S. 234.

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sie ist das rein um des Wissens willen mittels abstrakter Begriffe und aus diesen zusammengesetzten Urteile zustande kommende Begreifen des Wie und Warum des Rechts dieser Menschenwelt im allgemeinen, durchgeführt bis an den Punkt, wo ehrliche Wissenschaft endlich Ignoramus! sprechen muß 49 ." Für Cohen bedeutet die von Bergbohm skizzierte wissenschaftstheoretische Position eine sachlich nicht legitimerbare Verkürzung rechtsphilosophischer Problemstellungen. Die Ursache dafür sieht er zu einem gewissen Grade in dem Bestreben manchen Fachwissenschaftlers, die Leerstelle einer Philosophie der Wissenschaft auszufüllen, ohne über die nötige philosophiegeschichtliche Problemorientierung zu verfügen. Gleichsam als antezipierte Replik auf Bergbohms Forderung, daß dem Juristen nichts übrig bleibe, „als auf eigene Hand über das Recht zu philosophieren 50 ", insistiert Cohen schon 1877 in der Vorrede zu „Kants Begründung der Ethik" darauf, daß „diesem Philosophieren auf eigene Faust ein Ende gemacht werden (muß)" 51 . Für Cohen ist die Ethik in Rückbesinnung und bewußter Anknüpfung an die naturrechtliche Tradition eine Theorie des richtigen Handelns. Er wendet sich energisch sowohl gegen eine sich auf Kant berufende Individual- und Gesinnungsethik, als auch die - damals vorherrschenden - utilitaristischen und naturalistischen Ethiken darwinistisch-sozialevolutionistischer Prägung 52. Ethik als Theorie richtigen Handelns ist bezogen auf die Feststellung und Sicherung des Inbegriffs der Bedingungen, welche unter der Voraussetzung der Freiheit die Handlungen der Individuen miteinander verträglich machen. Sie steht damit im engsten Zusammenhang mit dem Recht als hervorragendster Form ihrer Verwirklichung. „Handlung ist das Grundproblem der Ethik. In der Handlung offenbart sich der Mensch. Die Handlung ist das Leben des sittlichen Menschen. Und die Handlung ist gleichsam zum Ausdruck des Rechts geworden 53 ." Für Cohen bleibt „zwischen der Ethik und der Rechtsphilosophie kein Unterschied bestehen" 54 , denn „wenn sie (die Rechtsphilosophie - E. W.) vielmehr auf Schritt und Tritt mit den Problemen und Begriffen der Ethik zusammenstößt, so begreift es sich, daß die Rechtsphilosophie auf dem Grunde der Ethik mehr oder weniger bewußt errichtet und behauptet wird. Ist es doch der alte Zusammenhang des positiven Rechts mit dem Naturrecht, der immer wieder durchbricht. Und wie sehr man das Naturrecht bestreiten, oder gar durch den Ersatz eines richtigen Rechts ersetzen zu können vermeint, so wird durch sol49

Ebd., S. 103. Ebd., S. 7, S. 33. 51 Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877, zit. n. d. 2. Aufl. 1910, S. VIII. 52 Vgl. dazu die Ausführungen und Literaturübersichten im Kapitel über „Cohens Ethik im Verhältnis zu den ethischen Konzeptionen am Ausgang des 19. Jahrhunderts" (Zweiter Teil, 1. Abschnitt). 53 Cohen, ErW 1 , S. 68. 5 E b d . , S. 1 . 50

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ches Anstürmen das Vernunftrecht, welches dem Gedanken des Naturrechts beiwohnt, ... nur desto inniger bekräftigt" 55 . Die Differenz der Standpunkte scheint sich kaum stärker denken zu lassen. Zwölf Jahre nachdem Bergbohm monierte, daß die philosophische Rechtslehre, „ehe sie nicht das naturrechtliche Gift bis auf das letzte Atom ausgestoßen"56 habe, nicht die Grundlagen einer wissenschaftlichen Entwicklung finden könne, stellt Cohen fest: „Es kann keine Rechtswissenschaft sich ausdenken, auf ihre letzten Gründe sich zurückdenken lassen, die den Zusammenhang mit der Ethik verschmäht. Das Recht des Rechts ist das Naturrecht oder die Ethik des Rechts 51." Für eine als „Prinzipienlehre der Philosophie von Recht und Staat" 58 begriffene Ethik gelten auch die vom Positivismus aufgezogenen Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik, Theorie und Praxis nicht. Das praktische Interesse als das „Interesse an der Handlung und an dem Willen" 5 9 ist zugleich ein theoretisches. Das „Vernunftinteresse am Sittlichen" beläßt die „Theorie der Ethik" 6 0 nicht der Sphäre einer zur Realität transzendenten Idealität, sondern richtet sich auf die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung. Im Zusammenhang mit der Eigentumsfrage, der „alten crux der Ethik" 6 1 führt Cohen aus: „Die ökonomische Einsicht muß zu einer Rechtsbildung führen, welche den Prinzipien der Ethik gemäß ist. Und die Rechtsphilosophie hat sich, als ausgeführte Ethik, mit der Geschichte des Rechts in Verbindung zu setzen, um die Mittel und Wege zu erkennen, welche das Recht versucht hat einzurichten und auszubilden, um das Problem des Eigentums den Anforderungen der Ökonomie gemäß zu behandeln, seine Konflikte zu heben oder zu steigern. Durch solche von der Rechtsgeschichte durchleuchtete rechtsphilosophische Ethik dürfte sich das Mysterium des Eigentums lichten, der Schein von unüberwindlichen, unentwirrbaren Schwierigkeiten zerstreuen und auflösen 62 ." Mit Cohen, soviel sollte die Gegenüberstellung deutlich machen, scheint um die Jahrhundertwende nicht nur der Bann des rechtsphilosphischen Positivismus gebrochen, sondern auch der Versuch gemacht worden zu sein, der Philosophie das Fundament für ihre praktisch-philosophische Stellungnahme neu zu bauen. Ethik und Rechtsphilosophie waren als Forum ausersehen, auf welchem mit den Mitteln und Methoden wissenschaftlicher Kritik die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Gegenstand moralischer Beurteilung gemacht werden sollten. 55

Cohen, ErW 1 , S. 64. Bergbohm, Jurisprudenz, S. 231. 57 Cohen, ErW 1 , S. 66. 58 Ebd., S. V. 59 Ebd., S. 45. 60 Ebd., S. 46. 61 Ebd., S. 579. 62 Cohen, ErW 1 , S. 579.

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Allerdings war diesem Versuch, soweit er auf ein verändertes Verhältnis der Philosophie zur politischen W i r k l i c h k e i t drängte, kein nachhaltiger Erfolg beschieden.

2. Rezeption und Wirkungsgeschichte der Cohenschen E t h i k Zunächst jedoch schien eher das Gegenteil der Fall. Einige Jahre vor der Jahrhundertwende setzte n ä m l i c h eine Auseinandersetzung ein, i n der sozialistisch engagierte Neukantianer, die der M a r b u r g e r Schule nahestanden 6 3 , kantianisch orientierte Sozialisten 64 u n d die sozialdemokratische Orthodoxie 65 u m den sittlichen Gehalt des Sozialismus u n d die Notwendigkeit einer ethischen B e g r ü n d u n g des Sozialismus stritten. Cohen w a r zwar an dieser Diskussion nicht u n m i t t e l b a r beteiligt, doch hat er jenen, die den Sozialismus ethisch zu rechtfertigen suchten, die Argumente vorgezeichnet. Er deklariert die zweite u n d dritte Fassung des Kantischen kategorischen Imperativs, „welche man d e m Bewußtsein der allgemeinen Bild u n g entzogen" 6 6 habe, für „die Idee der Menschheit u n d die politische Idee des Sozialismus" 6 7 , in d e m „das sittliche Programm der neuen Zeit u n d aller Zukunft der Weltgeschichte" 6 8 enthalten sei, u n d ruft K a n t als „ d e n w a h r e n u n d w i r k l i c h e n Urheber des deutschen Sozialismus" 6 9 aus. 63

Zu nennen ist hier zuerst der als Philosophiehistoriker bekanntgewordene Karl Vorländer, der am intensivsten die Auseinandersetzungen beobachtet und analysiert hat. Vgl. u. a. seine Schriften: Kant und der Sozialismus. Unter besonderer Berücksichtigung der neuesten theoretischen Bewegung innerhalb des Marxismus, Berlin 1900 (ebenfalls in Kant-Studien 4 (1900), S. 361-412); Die neukantische Bewegung im Sozialismus, in: KantStudien 7 (1902), S. 23-84; Kant und Marx, Vortrag Wien 1904; Die Stellung des modernen Sozialismus zur Ethik, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 22 (1906), S. 727 ff.; Marx oder Kant? Ein Beitrag zur neuesten Diskussion über dieses Thema, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie 28, (190); Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus, Tübingen 1911,2. Aufl., Tübingen 1926. Hierher gehört weiterhin Franz Staudinger, der in sozialdemokratischen Zeitschriften auch unter dem Pseudonym Sadi Gunter publizierte: Ethik und Politik, Berlin 1899; Kant und der Sozialismus. Ein Gedenkwort zu Kants Todestage, in: Sozialistische Monatshefte 8 (1904), S. 103-114; Kulturgrundlagen der Politik, 2 Bände, Jena 1914. 64 Neben Ludwig Woltmann (System des moralischen Bewußtseins, Düsseldorf 1898; Die Begründung der Moral, in: Sozialistische Monatshefte 4 (1900) sind hier zu nennen die sog. Austro-Marxisten; am stärksten in der Kantischen Orientierung Max Adler Vgl. ζ. B.: Marxismus und Ethik, in: Archiv für Sozialwissenschaften 34 (1912); Kant und der Marxismus. Gesammelte Aufsätze zur Erkenntniskritik und Theorie des Sozialen. Berlin 1925. Weiterhin Otto Bauer: Marxismus und Ethik, in: Die Neue Zeit, 24 (1905/06); vgl. zum Ganzen: Austromarxismus. Texte zu „Ideologie und Klassenkampf' von Otto Bauer, Max Adler, Karl Renner, Sigmund Kunfi, Bela Fogarasi und Julius Lengyel, hrsg. und eingeleitet von Hans-Jürgen Sandkühler und Raphael de la Vega, Frankfurt 1970. 65 Vertreten vor allem durch Karl Kautsky: Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. Ein Versuch, Stuttgart 1906. 66 Cohen, ErW 1 , S. 303. 67 Cohen, ErW 1 , S. 303. Ebd., S. .

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Die Auseinandersetzung um einen ethisch begründeten Sozialismus blieb jedoch episodisch. Von der sozialdemokratischen Orthodoxie wurde die neukantianische Ethik zusammen mit dem Bernsteinschen Revisionismus 70, durch den sie in der innerparteilichen Auseinandersetzung erst ihre Stelle erhielt, abgelehnt 71 . Historisch hat jedoch in der Programmatik der Sozialdemokratie - ohne den expliziten Rückbezug auf Cohen 72 oder den Neukantianismus - der ethisch begründete Sozialismus sich gegenüber der geschichtsevolutionistisch fundierten Gesellschaftsphilosophie der Sozialdemokratie der Zweiten Internationale durchgesetzt 73. 69 Cohen, Hermann: Biographisches Vorwort und Einleitung mit kritischem Nachtrag, zu: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 5. Auflage, Leipzig 1896, Band 2, S. LXV. In diesem Nachtrag aus dem Jahre 1896, der in der 8. Auflage von F.-A. Langes „Geschichte des Materialismus", 1908, leicht überarbeitet wurde, hat sich Cohen am klarsten mit den philosophischen Grundlagen des „Partei-Sozialismus" auseinandergesetzt. Für ihn bildet „der Materialismus den unversöhnlichsten Widerspruch gegen den Sozialismus". Das Festhalten an diesem Dogma bedeutet „die schwerste Schädigung, die einer Partei der Zukunft drohen kann, die: ihres eigenen Prinzips verlustig zu gehen und so unrettbar zu verschwinden. Der Sozialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus gegründet ist. Und der Idealismus der Ethik hat ihn begründet" (S. LXV). 70 Vgl. vor allem Bernstein, Eduard : Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 1899. Dieser Schrift, der „Bibel des Revisionismus", ist bezeichnenderweise das Motto vorangestellt: „Kant wider Cant". 71 Aus der umfangreichen Literatur zum Verhältnis von Marxismus, Revisionismus und Neukantianismus vgl. u.a.: Miller, Susanne: Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat und Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von Cassalle bis zum Revisionismusstreit, Frankfurt 1964; Steinberg, Hans-Josef: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem Ersten Weltkrieg, 4. Aufl. Berlin 1976; Gustaffson, B.: Marxismus und Revisionismus. Eduard Bernsteins Kritik des Marxismus und ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Frankfurt 1972; Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt, Berlin, Wien 1973; Aufschlußreiches Quellenmaterial bietet die Textsammlung: Marxismus und Ethik. Texte zum neukantianischen Sozialismus, hrsg. von Hans-Jörg Sandkühler und Raphael de la Vega, 1. Aufl. Frankfurt 1970, 2. Aufl. mit einer neuen Einleitung von Hans-Jörg Sandkühler, Frankfurt 1974; vgl. neuestens Meyer, Thomas: Bernsteins konstruktiver Sozialismus. Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus, Berlin 1977 mit reichhaltigen Nachweisen. 72 Cohen beklagt sich im Vorwort zu zweiten Auflage der„Ethik des reinen Willens" (1907) über die fehlende Resonanz seiner Überlegungen in der Sozialdemokratie: „Die Literatur des Sozialismus hat die Einsicht vermissen lassen, die sie diesem Buche gegenüber hätte beweisen sollen. Auch hier bleibt meine Zuversicht auf die geistige Vertiefung und auf die kommende Reife in ethischer Strenge und systematischer Klarheit unerschüttert. Wir stehen für diese Fragen erst am frühen Anfange und an einem langen Vorabend" (S. XIII). 73 Diese Bewertung deckt sich mit der Bernstein-Renaissance in der aktuellen TheorieDiskussion der Sozialdemokratie. Vgl. dazu Meyer, Thomas: Bernsteins konstruktiver Sozialismus. Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus, Berlin 1977; Heimann, Horst/Meyer, Thomas (Hrsg.): Bernstein und der Demokratische Sozialismus. Bericht über den wissenschaftlichen Kongreß „Die historische Leistung und aktuelle Bedeutung Eduard Bernsteins, Berlin 1978. Ebenso schon früher Carlo Schmid in seiner Festrede zum einhunderjährigen Bestehen der Sozialistischen Internationale am 5. September 1964 in Amsterdam, zitiert in: H. Hirsch (Hrsg.), Ein revisionistisches Sozialismusbild. Drei Vorträge von Eduard Bernstein, 2. Aufl. Berlin 1976, S. 13; ebenso auch Steinberg,

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I n fachphilosophischen Kreisen allerdings vermochten die auf einer politisch-moralischen Stellungnahme der Philosophie beharrenden B e m ü h u n g e n Cohens weder den Umkreis des M a r b u r g e r Neukantianismus zu verlassen, n o c h i n i h m eine weiterführende Nachfolge v o n Belang zu f i n d e n 7 4 . Bei Albert Görland 75, einem stark moralphilosophisch orientierten Schüler Cohens u n d Natorps, verfallt die politische I n t e n t i o n einer fast völligen Akademisierung, i m übrigen w i r d der U m b a u der E t h i k m i t den v o n Natorp vorgeschlagenen Veränderungen d e n a t u r i e r t 7 6 . E i n anderer Schüler, Walter Kinkel 77, unterstreicht den humanitärmenschheitlichen Zug der Cohenschen Ethik. I n der theoretischen u n d praktischen Tätigkeit des späteren Professors u n d Leiters der Frankfurter Akademie für Arbeit, Wilhelm Sturmfels 7*, sind die praktisch-moralischen M o t i v e der Cohen-

Sozialismus, S. 106; Vgl. kontrastiv dazu die Einleitung von Hans-Jörg Sandkühler in der ersten Auflage des o. a. Buches (FN 71 ): „Kant, neukantianischer Sozialismus, Revisionismus", (S. 7-44) und vor allem jene in der zweiten Auflage („Marxismus und Ethik", S. I-XLX). Sandkühler, der sich in der Einleitung zur ersten Auflage noch das Recht zum Zweifel an der These vom „ethischen Revisionismus" anmaßt, ist in der 2. Auflage nach der notwendigen Selbstkritik voll auf die sowjet-marxistische Linie eingeschwenkt. Dort verurteilt er den „ethischen Revisionismus" der Sozialdemokratie und der „Praxisphilosophie" als „Traditionsträger des neukantianischen Revisionismus". Sachlich aufschlußreich der Vergleich der von Cohen auf der Grundlage seiner Ausdeutung der Kantischen Idee als Aufgabe entwickelten Konzeption des Sozialismus als „unendlicher Aufgabe", die den Menschen gestellt ist mit den Forderungen aus dem Godesberger Programm von 1959 : „Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe - Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren." In: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 187. 74 Vgl. zur zeitgenössischen Beurteilung der der Ethik gewidmeten Schriften Cohens die Literaturzusammenstellungen unten im Kapitel „Bemerkungen zum Problem des Verständnisses der Cohenschen Ethik" (Zweiter Teil, 2. Abschnitt). Außer den dort angegebenen Rezensionen und Literaturberichten wurden Cohens ethische Schriften, soweit ersichtlich, bis Mitte der zwanziger Jahre in folgenden Monographien behandelt oder mitbehandelt: Lindheimer, Franz P.: Beiträge zur Geschichte und Kritik der Neukantischen Philosophie, 1. Reihe: Hermann Cohen, Diss. Bern 1900; Weise, Johannes: Die Begründung der Ethik bei Hermann Cohen, Diss. Erlangen 1911; Steriad, Alice: L'interpretation de la doctrine de Kant par 1 ecole de Marburg. Etude sur l'idéalisme critique, Paris 1913; Chojnacki, P.: Die Ethik Kants und die Ethik des Sozialismus. Ein Vermittlungsversuch der Marburger Schule. Darstellung und Kritik, Freiburg (Schweiz) 1924. 75 Görland, Albert: Ethik als Kritik der Weltgeschichte, Leipzig 1914; ders.: Neubegründung der Ethik aus ihrem Verhältnis zu den besonderen Gemeinschaftswissenschaften, Berlin 1918. 76 Klein, Joseph: (Die Grundlegung der Ethik in der Philosophie Hermann Cohensund Paul Natorps - Eine Kritik des Neukantianismus, Göttingen 1976) charakterisiert Görlands Bemühungen als „geradezu ein abstoßendes Beispiel für die Unfruchtbarkeit einer bloßen wissenschaftskritischen Philosophie der Praxis". Görland habe „ganz und gar das aus einem letzten existentiellen Anliegen kommende Pathos seines Lehrers" (S. 99) gefehlt. 77 Kinkel, Walter: Was ist Sozialismus?, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. X I I ( 1918/1919), S. 321 -353; Die Idee des Staates und die Idee der Menschheit, Stuttgart 1917.

Einleitung sehen E t h i k bis i n das letzte Jahrzehnt w i r k s a m gewesen. V o n seiner Gießener Dissertation aus d e m Jahre 1912 „Recht u n d E t h i k i n i h r e m gegenseitigen Verh ä l t n i s " 7 9 , die i n Inhalt u n d Duktus ganz der Cohenschen „ E t h i k des reinen Willens" folgt, bis zu d e m 1973 p o s t h u m veröffentlichten M a n u s k r i p t „Probleme der Rechts- u n d Sozialphilosophie" 8 0 bleibt Sturmfels der Cohenschen Deut u n g der Kantischen E t h i k verpflichtet. Das politische Interesse der Moralphilosophie Cohens hat bei den selbständigeren u n d bedeutenderen Schülern Cohens u n d Natorps, bei Ernst Cassirer u n d Nicolai Hartmann 81, gar keine Bedeutung mehr. Es sind dies bemerkenswerterweise auch jene, die sich aus d e m Bannkreis der Marburger Begriffswelt a m weitesten entfernt haben. Die Cohensche Ethik hat gerade unter d e m Aspekt ihrer moralisch-politischen I n t e n t i o n in der Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie i h r e r Zeit n u r mäßige B e a c h t u n g 8 2 u n d wenig Wertschätzung 8 3 erfahren. Auch bei den der Marburger Schule nahestehenden rechtsphilosophischen Autoren wie Max Salomon, Siegfried Marek oder Karl August Emge* A vermochten Cohens praktische Absichten keine engagierten Anhänger zu f i n d e n 8 5 . 78

Wilhelm Sturmfels (1887-1967), von 1921-1933 Dozent und Leiter der Akademie der Arbeit (der Universität Frankfurt angeschlossene Hochschule für Arbeiterbildung), von 1932-1933 und von 1946-1947 Professor an der Universität Frankfurt. 79 Ders. : Recht und Ethik in ihrem gegenseitigen Verhältnis, Diss., Gießen 1912. Diese Dissertation ist auch deshalb von großem Interesse, weil in ihr rechtswissenschaftliche Literatur zitiert ist, die vermutlich Cohen, der nur allerspärlichste Quellenangaben macht, zur Grundlage seiner Überlegungen gemacht hat. Die Hinweise für diese Literatur hat Sturmfels möglicherweise über Cohens Schüler Walter Kinkel erhalten. 80 Sturtnfels, Wilhelm: Probleme der Rechts- und Sozialphilosophie, Meisenheim am Glan 1973. 81 Daran ändert auch nichts der Tatbestand, daß Hartmanns „Ethik", 1925 in der 1. Auflage erschienen, wirkungsgeschichtlich ungleich stärker rezipiert wurde als Cohens „Ethik des reinen Willens". 82 Selbständige Auseinandersetzungen rechtsphilosophischer Autoren fehlen ganz; außer den unten genannten Autoren wird Cohens Ethik kurz gewürdigt vom Inspirator des rechtsphilosophischen Südwestdeutschen Neukantianismus Emil Lask in seiner gedrängten „Rechtsphilosophie", in : Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Festschrift für Kuno Fischer, hrsg. von Wilhelm Windelband, Heidelberg 1905, II. Bd., S. 1 ff. (9 f., 24 f.); ferner Wielikowski, G. H.: Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, Minden 1914, S. 124 ff.; Lisser , Kurt: Der Begriff des Rechts bei Kant, mit einem Anhang über Cohen und Görland, Kant-Studien-Ergänzungsheft Nr. 58, Berlin 1922; ferner die Besprechungen der „Ethik des reinen Willens" von H. Lilienfeld, in: ZStW 26 (1906), S. 41-49; Theodor Sternberg, J W 1906, S. 671. Bei Lisser: Der Begriff des Rechts, S. 77, wird ferner die mir nicht erreichbare Schrift von W. Ssawalski: Grundlagen der Rechtsphilosophie im wissenschaftlichen Idealismus, Die Marburger philosophische Schule, Bd. 1, Moskau 1908 genannt. 83 Beispiellos in der Schärfe der Verurteilung blieb Hermann Kantorowicz in seiner Besprechung der „Ethik des reinen Willens", in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 31 (1910), S. 602-606. 84 Aus den Hauptschriften Carl August Emges sind zu nennen: Über das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus, 1916; Vorschule der Rechtsphilosophie, 1925; Geschichte der Rechtsphilosophie, 1931; Sicherheit und Gerechtigkeit - ihre gemeinsame metajuristische Wurzel - 1940; Philosophie der Rechtswissenschaft, Berlin 1961; ein

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Belangvoller als die inhaltliche Ausgestaltung der Cohenschen E t h i k waren die methodischen Anregungen, die von i h r ausgingen. So hat der Frankfurter Rechtsphilosoph Max Salomon 86 eine „Grundlegung der Rechtsphilosophie" 8 7 geschrieben, die sich i m methodischen Ansatz an die Cohensche Disposition a n l e h n t 8 8 - w e n n sie sich auch gegen Cohens Hypostasierung der Rechtswissenschaft als eines gesicherten Faktums, das als ratio cognoscendi der E t h i k dienen könnte, aus d e m die Ethik ihre Grundbegriffe gew i n n e n könnte, w e n d e t 8 9 . Salomons Thema ist, die Rechtswissenschaft als Fakt u m erst einmal zu begründen u n d zu beglaubigen. Dabei bestimmt er die Rechtswissenschaft nicht als Wissenschaft „ v o n den Rechtsnormen, sondern von den R e c h t s p r o b l e m e n " 9 0 ' 9 1 ; Rechtswissenschaft hat als Rechtsproblematik z u m Gegenstand „das System der Probleme möglicher Gesetzgebung" 9 2 . Siegfried Mareks Arbeit über „Substanzbegriff und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie 64 KTE 2 , S. 591. 163

1

. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

und Wissenschaft, in der Neuinterpretation der Kantischen Schriften bald gefunden. In der Kantischen Philosophie sieht er die Probleme auf der Höhe der Zeit formuliert, an deren Lösung die idealistische Linie in der Geschichte der Philosophie und Wissenschaft, die für ihn von Parmenides über Plato, Cusa, Galilei, Kepler, Newton, Descartes, Leibniz zu Kant führt, schon immer gearbeitet hat. Die unüberholte Aktualität der philosophischen Fragestellungen, wie sie durch die „transzendentale Methode" Kants systematisch entwickelt worden sind, zu erweisen, ist Ziel seiner der „Rekonstruktion des Kantischen Systems"1 gewidmeten Auslegungsarbeiten an den drei Kritiken in der ersten Hälfte seines Lebens. Wie Cohen in der Vorrede zur „Logik der reinen Erkenntnis" bekennt, war es ihm dabei von vornherein um die „Weiterbildung von Kants System" zu tun: „Der historische Kant war mir der Eckstein, in dessen Richtung das Weiterbauen erfolgen, der stetige Gang, wie Kant selbst von der Wissenschaft sagt, auch von der Philosophie und ihrer Geschichte zuversichtlich angestrebt werden müsse2." Obgleich nun die Weiterbildung von „Kants System" eine eigene systematische Position Cohens zu den Problemen schon voraussetzte, war diese nicht von vornherein fertig, sondern entwickelte, präzisierte und festigte sich erst in der Auseinandersetzung mit Kants Kritiken. Als Leitgesichtspunkt schälte dabei mit immer größerer Bestimmtheit sich der Grundgedanke der „transzendentalen Methode" heraus. Von ihm aus wurden in „straffer Konsequenz, in bewußter Einseitigkeit" 3 die drei Kantischen Kritiken interpretiert. Diese mußten sich deshalb immer tiefergreifende Umstellungen und Änderungen gefallen lassen. Was sich der transzendentalen Methode nicht fügte, wurde umgebogen, umgruppiert oder weggelassen. Die oben angesprochene Konsequenz und Kontinuität der Cohenschen Entwicklung läßt sich in diesem Gefügigmachen des Materials und der Unterwerfung unter den Leitgedanken bis in die kleinste Verästelung der Ausführung des Gedankens verfolgen. Mit Cohens Tendenz zur Vereinheitlichung der Kant-Deutung aus dem Gesichtspunkt der transzendentalen Methode war zugleich die Tendenz der Vereinheitlichung der Kantischen Philosophie unter dem Gesichtspunkte des Systems gesetzt. Wiewohl Cohen unter den Prämissen der transzendentalen Methode den historischen Kant immer stärker dessen subintelligierten systematischen Motiven unterordnete, so ließen sich doch nicht alle kantischen Aufstellungen dem Kerngedanken „restlos" 4 fügen. Hier liegt der Grund, der Cohen bei der „Revision der kantischen Begriffe" 5 zu seinem eigenen Systemver1 2 3 4 5

LrE 2 , S. VII. LrE 2 , S. VII f. Natorp, Kant und die Marburger Schule, S. 194. Ebd. S. 201. KTE 3 , S. 784.

2. Kap.: 3. Cohens „System der Philosophie"

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such veranlaßte. Nachdem mit „Kants Begründung der Ästhetik" „die große Abrechnung mit Kant zum Abschluß gediehen war" 6 , wie Natorp etwas überzogen formuliert hat, legt Cohen mit der „Logik der reinen Erkenntnis" (1902), der „Ethik des reinen Willens" (1904) und der „Ästhetik des reinen Gefühls" (1912) sein „System der Philosophie" als Resultat der zweiten Hälfte seiner Lebensarbeit vor. Dieses „System der Philosophie" stellt sich nach Cohens eigenen Bekundungen in die Kontinuität seiner früheren Arbeiten über die Kantische Philosophie; es beansprucht, „in strenger und freier Form" 7 die tiefen Motive der Kantischen Philosophie „ausgeschöpft und abgewandelt"8 zu haben und in Verarbeitung des Standes der Forschung in Wissenschaft und Philosophie der Transzendental-Philosophie ihre konsequente und aktualisierte Fassung gegeben zu haben. „Daher darf ich den Sinn und Inhalt meiner Bücher über Kant im Ganzen aufrechterhalten; und zwar neben der scharfen Polemik, welche ich in dem vorliegenden Buche gegen die wichtigsten Pfeiler jenes Systems verfolge. Beides schließt sich nur nicht aus und verträgt sich nicht nur zufällig in mir, sondern es ergänzt sich zur Einheit einer systematischen Arbeit 9 ." Daß Cohen seine eigene Fortentwicklung der kritischen Philosophie in der Form des Systems entwirft, kann aufgrund seiner Überlegungen in den achtziger Jahren zum „System des kritischen Idealismus", die oben 1 0 dargestellt wurden, nicht verwundern. Schon in der zweiten Auflage von „Kants Theorie der Erfahrung" heißt es: „Transzendental-Philosophie ist ihrem Begriffe nach Systematik" 11 und in „Kants Begründung der Ästhetik" erläutert Cohen diese Aussage: „Das System bedeutet bei Kant nicht einen geschlossenen Zusammenhang von Erkenntnissen, sondern einen Zusammenhang von Erzeugungsweisen des Bewußtseins, deren jede für sich einen eigentümlichen Inhalt hervorbringt 12 ." Damit war gemeint, daß Kant nicht ein System der gegenständlichen Erkenntnis geschaffen hatte, sondern ein System der Methoden, mittels derer erst die Gegenständlichkeit der Gegenstände konstituierbar werden sollte. Als Einheit, die den systematischen Zusammenhang der Methoden bildete, war das Bewußtsein als die Instanz, die die Gesetzlichkeiten der unterschiedlichen Bewußtseinsarten erzeugte, bestimmt. Cohen hält an dieser Auffassung in seinem eigenen System, wenn auch in verschiedener Art und Weise der Durchführung, fest. „Die Philosophie kommt nur als System zu ihrem Begriffe verkündet Cohen in der Logik der reinen Erkenntnis programmatisch. „Wel6

Natorp, Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher, S. 23. 7 LrE 1 , S. VIII. 8 LrE 1 , S. VIII. 9 Ebd. 10 Vgl. oben 1. Teil, 1. Kap., 2. 11 KTE 2 , S. 576. 12 KBÄ, S. 94 f.

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. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

chen Sinn und Wert hat der Zusammenschluß aller Probleme der Philosophie in die Einheit eines Systems? In der Sammlung und Ordnung kann derselbe sich doch nicht erschöpfen. Die Einheit der Probleme bedeutet zugleich ihre Einheitlichkeit Es darf keine Frage auftauchen und Zulaß erhalten, welche nicht in einem methodischen Zusammenhang mit allen anderen Fragen steht. Der Grund des Systems ist sein Mittelpunkt, der zum Schwerpunkt für die Tragkraft aller Fragen wird 1 3 ." Cohen stellt sich mit dem Versuch, seiner Philosophie die Form des Systems zu geben, in die Tradition der idealistischen, der Bewußtseinsphilosophie, die, auf der Suche nach einem Kriterium für Erkenntnisgewißheit und Wahrheit, dies allein im Rückbezug auf Selbstgewißheit des sum cogitans, auf die Vernunft, den Geist oder das Bewußtsein entdeckt zu haben glaubt. System, Systematik kann für die Bewußtseinsphilosophie nur vom Subjekt (von der Vernunft) in das erscheinende Wissen gelegt werden. Folglich muß das Subjekt das System in sich tragen. Bei Kant wird die Vernunft als in sich geschlossenes System allgemeiner Prinzipien genommen. Vernünftigkeit und Einheit des Systems sind identisch. System ist die „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" 14 . Worin die Idee als System wiederum ihren Grund hat, wenn nicht in einem äußerlichen Begriff von Vernunft, bleibt bei Kant im Dunkeln. Cohen hat dasselbe Problem: „Wenn es ein einheitliches System der Philosophie geben darf, so muß es eine Norm, ein Kriterium, eine allgemeine Regel, einen Grundsatz geben, der das Prinzip der Gewißheit enthält; der es genau bestimmt und deutlich formuliert, was die Gewißheit der Erkenntnis zu bedeuten habe; worauf sie beruhe; worin sie bestehe; woran sie ursprünglich sich bezeuge; und ob und wie sie sich übertragen lasse15." Die Lösung dieses Problems fällt Cohen zufolge der Logik als der „Grundlegung" 16 des Systems der Philosophie zu. „Die Einheitlichkeit des Systems fordert einen Mittelpunkt in dem Fundament der Logik. Dieses methodische Zentrum bildet die Idee der Hypothesis, die wir zum Urteil und zur Logik des Ursprungs entwickelt haben 17 ." Bevor allerdings die Idee der Hypothesis im „methodischen Zentrum" des Systems der Philosophie in der „Logik der reinen Erkenntnis" als der Logik des Ursprungs erläutert wird, sollen zunächst die Grundintentionen des Cohenschen Systemversuchs charakterisiert und die Disposition und Gliederung des Systems gekennzeichnet werden. Dabei muß es bei einem Vorbegriff des Systems notwendig bleiben, weil der entfaltete Begriff des Cohenschen Systems der Philosophie zugleich die Auseinanderlegung der Cohenschen Grundbegriffe zur Voraussetzung hat. Unter dem Anspruch letztbegründender 13 14 15 16 17

LrE 1 , S. 512 f. Kant, KrV, Β 861/A 833. LrE 1 , S. 513. LrE 1 , S. V. LrE 1 , S. 513.

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Philosophie können erst die Einführung und Fundamentierung dieser Grundkategorien einen Durchblick auf den Begriff des Systems eröffnen, der ihnen selbst angehört und eigener Rechtfertigung bedarf. Als entwickelter Begriff enthüllt sich dann aber der Systembegriff nicht als Ausgangspunkt, sondern als Ziel philosophischer Erkenntnis; System bezeichnet dann die ideale Totalität dieser Erkenntnis. System ist als Idee nur die Aufgabe letzter Einheit; auf sie hin und auszurichten ist alle Erkenntnis. Die Systemidee gewinnt damit Einfluß auf die Methode, wird „methodischer Gesichtspunkt", wie Cohen schon früh die Idee bezeichnet hat, unter dem die Erkenntnisse geordnet werden. Die Systemidee verstanden sowohl als Methode als auch als Ziel kann mithin nicht vorschreibende, unterbindende Bedeutung haben, sondern muß notwendig unabgeschlossenes, „offenes" System bleiben. „System bedeutet keine gegebene Systatik, sondern das Suchen nach ihr, die Systase18."

3.2. Charakteristik der Grundintention

Der heutige Leser von Texten aus der Phase der entwickelten philosophischen Anschauungen Cohens muß auf Verständnisschwierigkeiten gefaßt sein, die als solche der Cohenschen Darstellungsweise zwar schon damals bekannt waren, die als solche der Begrifflichkeit aber außerhalb der Texte selbst liegen. Der „Verlust selbstverständlicher Begreiflichkeit der kategorialen Nomenklatur" 1 9 hat seine Ursachen in der bis heute andauernden Zäsur, die in den zwanziger Jahren mit der Wende zur Existential-Ontologie, Phänomenologie und Lebensphilosophie und dem offenen oder latenten Antisemitismus einsetzte und im Faschismus schließlich mit der Exstirpation jüdischen Geistes radikaler und tiefer nicht gehen konnte. Die - gemessen an den Standards und Ansprüchen heutiger wissenschaftlicher Begriffsbildung - manchmal geradezu anstößig überholt anmutende Begrifflichkeit Cohens nötigt dazu, sie in das moderne Problemverständnis erst einmal zu übersetzen und einzuholen, soweit und so gut es dem Verfasser möglich ist. Hilfreich kann es deshalb sein, in Anknüpfung an die Ausführungen zum Einsatzpunkte von Cohens frühen philosophischen Bemühungen zunächst eine Charakteristik der entwickelten Konzeption zu geben. Schon das in den Titeln der drei Teile des Systems gemeinsame Wort „rein", das umgangssprachlich einen klaren Sinn hat und keine Schwierigkeit der Anwendung aufweist, gerät im Zusammenhang einer philosophischen Theorie, deren Gebiete als ,Logik der reinen Erkenntnis', ,Ethik des reinen Willens', »Ästhetik des reinen Gefühls' überschrieben sind, in den Verdacht einer poe18 Hartmann, Nicolai: Systematische Methode, in: Kleine Schriften, Band III, S. 23, zuerst erschienen in: Logos I I I (1912). 19 Marx, Wolfgang: Idealität als dialektisch konstruierbare Totalität und als Hypothese der Fundierung wissenschaftlicher Geltung, in: Hegel-Tage 1970, S. 515 f.

12 Winter

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tischen Metapher. Eine wissenschaftlich präzise und handhabbare Bedeutung scheint ihm kaum abzugewinnen sein. Dabei wird das Wort in der Tradition der Philosophie von Plato über Kant, Hegel bis zu Cohen, Husserl und Russell ganz selbstverständlich zur Bezeichnung von Idealitäten überhaupt verwendet. Bei Cohen taucht der Terminus „rein" an zahllosen Stellen auf. Diese geradezu „inflationäre" 20 Häufigkeit des Begriffs weist auf seine Bedeutung für die Cohenschen Überlegungen hin. Und in der Tat läßt sich die Gesamtkonzeption der Cohenschen Transzendental-Philosophie von diesem Begriff aus entwickeln. Was besagt er nun? „Rein" bedeutet zunächst nicht das von materialen Inhalten Abgelöste, Befreite; es hat nicht den Sinn der Kantischen ,reinen Vernunft', die als die sich über die Erfahrung hinwegsetzende, von dieser losgelöste,spekulative kritisiert wird. „Fern bleibe der profane Verdacht, als ob das Reine des Inhalts entledigt wäre. Nur der unreine Inhalt, der kein wahrhafter Inhalt ist, bildet den Gegensatz zum Reinen; aber auch nur in dem Sinne, daß das Reine auf den unreinen Inhalt bezogen werde, um ihn in reinen Inhalt zu verwandeln. Das ist die unweigerliche Beziehung, die das Reine auf den Inhalt hat. Ohne diese wird das Reine sinnlos 21 ." Wenn Reinheit „unweigerlich" auf den Inhalt angewiesen bleibt, so fragt sich aber, was die Reinheit des Inhalts, was den reinen Inhalt des Gegenstandes ausmacht. Der reine Inhalt des Gegenstandes ist seine „Gesetzlichkeit". Reinheit 22 bedeutet positiv die vollständige Erfassung des Gegenstandes und die restlose Aufweisung und Auseinanderlegung seiner gesetzlichen Bezüge. Der von Cohen viel verwendete Ausdruck „Methode der Reinheit" bedeutet in diesem Zusammenhang das Verfahren der Gewinnung und Herstellung oder'„Erzeugung" von Gesetzlichkeiten. Substituiert man das Attribut „rein" durch „gesetzlich" in den Titeln der Systemglieder, so bekommt das Programm Cohens im System der Philosophie allmählich Kontur. In der Logik der reinen Erkenntnis werden in den Begriffen und Methoden der mathematischen Naturwissenschaft Gesetzlichkeiten der Erkenntnis entdeckt und begründet. Die Ethik des reinen Willens hat nicht zunächst Moralgesetze aufzustellen, sondern zu rechtfertigen, daß Sittlichkeit 20 Marx, Wolfgang: Cassirers Symboltheorie als Entwicklung und Kritik der Neukantianischen Grundlagen einer Theorie des Denkens und Erkennens, in: Archiv für die Geschichte der Philosophie, 1975, S. 188. 21 LrE 1 , S. 4 f. 22 Rosenzweig erläutert den Cohenschen Begriff der Reinheit in einem anschaulichen Beispiel: „Rein bedeutet also hier zwar auch rein von etwas, aber nicht wie bei Kant rein von allem andern, sondern nur rein von allem, was die gesetzmäßige Leistung, zu der das Reine bestimmt ist, stören würde. Rein im kantischen Sinne wäre chemisch reiner Alkohol, rein im Sinne Cohens wäre ein reiner Wein, bei dem die Reinheit auf der gesetzmäßigen Mischung der Elemente ruht." Einleitung zu Hermann Cohens jüdische Schriften, Bd. 1 (1923), abgedruckt in: Rosenzweig, Vom alten zum neuen Denken, S. 305.

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nur als Gesetzlichkeit Verbindlichkeit und Gültigkeit beanspruchen kann. Die Ästhetik des reinen Gefühls hat am Kunstobjekt jene Gesetzlichkeiten ans Licht zu heben, die es als ästhetisches qualifiziert. Indem der Terminus „Reinheit" mit „Gesetzlichkeit" übersetzt wird, eine Umformulierung, die übrigens erst in Cohens Alterswerk deutlich in den Vordergrund tritt 2 3 , wird gleichsam das Ende, das Resultat, die Summe, der höchste Punkt der philosophischen Überlegungen Cohens vorweggenommen. Wenn das Ziel von Erkenntnis Gewißheit ist, Gewißheit über die Geltungsprinzipien der Wissenschaft, die Prinzipien der Moral und Kunst, so kann diese Gewißheit - das ist das Ergebnis der „transzendentalen Inquisition" - nur die Form von Gesetzlichkeit haben. Mehr kann über die Gewißheit der Erkenntnis nicht gesagt werden. Die Gewißheit ist kein göttlicher Offenbarungsakt und kann nicht aus einem materialen Ursprungsprinzip bezogen werden, sie besteht einzig in dem erfolgreichen Aufweis von Gesetzlichkeiten. In seinem Nachlaßwerk, der „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums", formuliert Cohen diese Grundidee, die sein Philosophieren zeit seines Lebens begleitet hat, in einer Klarheit und Deutlichkeit, wie es vorher bei ihm nicht zu lesen war. „Die Philosophie ist die Wissenschaft der Vernunft. Und wenn anders der Begriff das eminente Zeugnis aller Wissenschaft ist, so hat alle Wissenschaft und alle Erkenntnis, die im Begriffe ihren Gesamtinhalt, so in der Vernunft ihre gemeinschaftliche Quelle. Die Vernunft... bedeutet positiv die Gesetzlichkeit, den Urgrund der Gesetzlichkeit Und es kann keinen festeren, keinen tieferen Grund geben, als welchen die Gesetzlichkeit bildet Wo Gesetzlichkeit waltet, da ist das Gebiet der Vernunft gesichert Die Gesetzlichkeit hat ein solches Gewicht, daß gegen sie jeder Einwand zurücktritt. Denn was könnte eine andere Vernunft an Sicherung und Gewißheit mehr bieten als die Gesetzlichkeit24?" In diesem Gedanken vom gesetzlichen Charakter der Vernunft tritt deutlich ein Moment hervor, das Cohens häufigen Rückbezug auf die rationalistische Tradition der Philosophie, insbesondere auf Leibniz verständlich macht. Es ist die Idee einer „characteristica universalis", die eine universelle Struktur dar23

Vgl. ÄrG, S. 68 ff. - Allerdings findet sich dieser Begriff schon früh in der Marburger Terminologie. So schreibt Natorp in seinem Aufsatz „Uber objective und subjective Begründung der Erkenntnis", in: Phil. Monatshefte X X I I I (1887), S. 257 ff. (S. 285): „Als dai objective Grundgesetz der Erkenntnis würden wir das Gesetz der Gesetzlichkeit selbst bezeichnen, das Gesetz, wonach die gesetzmäßige Ansicht der Dinge die wahre gegenständliche bedeutet. Alle besonderen Erkenntnisgesetze sind nur die besonderen konkreten Gestaltungen dieses Grundgesetzes." Vgl. ebenso Cassirer: Hermann Cohen und die Erneuerung der kantischen Philosophie, in: Kantstudien 1912, S. 258: „Diese Gesetzlichkeit bildet die erste Hypothese der transzendentalen Forschung, die aber in dem Maße, als sie selbst fortschreitet, sich mehr und mehr in assertorische Gewißheit wandelt." Eine begriffsanalytische Behandlung findet sich bei Schloemann, Martin: „Gesetzlichkeit". Uber die Tragweite eines theologischen Werturteils, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 16 (1974), S. 15 ff., mit weiteren Nachweisen. 24

12*

RdV, S. 6, 11 f.

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. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

stellt, durch die alle Gegenständlichkeiten überhaupt erst ermöglicht werden und die alle Aussagen über mögliche Welten fixiert. Eine solche allgemeine logische Grammatik besagt, „daß in der Gesamtheit der reinen Beziehungsfunktionen des Erkennens zugleich der Inhalt der Wissenschaft vorgebildet sein muß. Auch diejenigen Erkenntnisse, die uns gleichsam zufällig und von außen her gegeben werden, vermögen wir nur deshalb zu verstehen und anzuerkennen, weil ihre Bedingungen im Denken selbst liegen; diese Bedingungen aber, die schon für die Rezeption des Wissens zu fordern sind, enthalten andererseits die allgemeine Möglichkeit einer selbständigen Erzeugung nach einer bestimmten logischen Methodik 25 ." Der Unterschied Cohens zur traditionellen rationalistischen Position besteht nun aber darin, daß bei ihm das Kategoriensystem nicht ein geschlossenes System ein für alle mal feststehender Grundrelationen ist, sondern als veränderbares offenes System anzusehen ist, das mit dem Fortgang des Wissens auch neue Kategorien aufnehmen kann. Diese Veränderung hängt zusammen mit Cohens Versuch der Bewältigung des gewandelten Verhältnisses der Philosophie zur Wissenschaft. Unter den Bedingungen einer Realität, deren Komplexität die Einzelwissenschaften aufgedeckt haben und die deshalb auch nur noch in den Begriffen der Einzelwissenschaften faßbar ist, kann die Alltagsperspektive des Einzelindividuums nur noch den Schein der Gegenstände wahrnehmen. Die Philosophie kann nur um den Verlust ihrer Bedeutung diese Perspektive teilen. Sie muß deshalb zunächst die Perspektive der Wissenschaften einnehmen und dann den Realitätsgehalt der Wissenschaften auf seine Bedingungen und Voraussetzungen hin prüfen. Philosophie kann sich deshalb nicht auf den Standpunkt einer Metaphysik stellen, die neben und außerhalb der Wissenschaften ein dem Wissen der Wissenschaft konkurrierendes Wissen hervorbringen will. Vielmehr kann über Metaphysik, die nach dem Wesen der Dinge fragt, sinnvoll nur noch gehandelt werden im Rahmen der transzendentalen Voraussetzungen von Wissenschaft. Cohens Grundannahme ist nämlich, wie schon mehrfach oben hervorgehoben wurde, die „Immanenz der Philosophie in allen Hauptrichtungen der Kultur" 2 6 und damit in aller Wissenschaft. Dieses ihres philosophischen Anteils werden die Einzelwissenschaften nicht gewahr; sie zeichnen sich geradezu durch eine gewisse Borniertheit gegenüber ihren eigenen transzendentalen Voraussetzungen aus 27 .

25 Cassirer, Ernst: Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902, S. 135. 26 BRSP, S. 9. 27 Vgl. LrE 1 , S. 502: „Diesen Zusammenhang von Substanz und Realität fordert der Gang der Wissenschaft, die in ihrem dunkelen Drange des rechten Weges sich wohl nicht immer bewußt ist, nichtsdestoweniger aber so sicher ihn geht, als er ihre Geschichte vollzieht. Dieses ihres Weges die Wissenschaft bewußt zu machen, das ist die Aufgabe der Logik."

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Die „Logik der reinen Erkenntnis" vollzieht die Analyse der Wissenschaften und dokumentiert 28 die transzendentalen Leistungen des reinen Denkens in ihr. Diese Entdeckungen, die die „transzendentale Inquisition" dort macht, erweisen sich fruchtbar für die Analyse anderer Kulturobjektivationen. Diesen Anteil der Philosophie in der durch die Wissenschaften konstituierten, d. h. konstruierten und verwandelten Natur und Kultur nennt Cohen Metaphysik. „Wir wissen, daß kein Gegensatz zwischen Logik und Metaphysik bestehen darf. Die Logik, als die Logik der reinen Erkenntnis, ist immerdar Metaphysik gewesen; oder hat die Grundlage der Metaphysik gebildet 29 ." Für Cohen haben die Dinge kein anderes Sein mehr und keinen anderen Sinn mehr als durch die Wissenschaft. Deshalb ist das System der die Wissenschaften aufbauenden transzendentalen Konstitutionsbedingungen der Ort, an dem nur noch über das Wesen der Dinge verhandelt werden kann. „Jener vagen Metaphysik gegenüber behaupten wir die Logik der reinen Erkenntnis als die eine und die erste Richtung der Metaphysik, welche die Voraussetzung der anderen Richtungen wird. Keine Metaphysik ohne Logik. Und keine Metaphysik ohne das System der Philosophie 30." In der so gefaßten Konzeption enthüllt sich deutlich die Absicht Cohens, dem im Verlauf des 19. Jahrhunderts radikal veränderten Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften Rechnung zu tragen in einer Weise, daß die philosophische Theorie selbst geändert wird, ohne zugleich das an Erkenntnissen und Einsichten aufzugeben, was in der philosophischen Tradition erarbeitet worden ist. Cohen wird dabei bestimmt von seiner Maxime, wonach er „die Kraft der Vernunft nicht abgetrennt zu denken vermag von ihrer geschichtlichen Kontinuität" 31 . „Es muß daher unweigerlich zugestanden werden, daß der Logik das Interessengebiet der alten Metaphysik nicht entrückt werden darf, genauer, daß die Logik die Lehre von den Erkenntnissen sein müsse. Denn daß die Logik sich über das Gebiet der mathematischen Naturwissenschaft hinaus auch auf die Geisteswissenschaften beziehen müsse, ändert nichts an der grundlegenden Beziehung der Logik auf die Erkenntnisse der mathematischen Naturwissenschaft. Denn die Geisteswissenschaften sind nicht ohne methodischen Zusammenhang mit jenen Erkenntnissen, die sie somit voraussetzen. Es muß daher bei der Relation verbleiben, die Parmenides als Identität von Denken und Sein geschmiedet hat. Das Sein ist Sein des Denkens. Daher ist das Denken als Denken des Seins, Denken der Erkenntnis 32 ."

28

Vgl. Marx, Cassirers Symboltheorie, S. 194. LrE 1 , S. 516. 30 LrE 1 , S. 517 - Deutlich wird hier, daß Cohen mit zwei Metaphysikbegriffen operiert: Die „vage Metaphysik" der Ontologie oder Romantik und die Metaphysik der Wissenschaften. 31 LrE 1 , S. VII. 32 LrE 2 , S. 14. 29

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. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen 3.3. Disposition des „Systems der Philosophie"

Schon in „Kants Begründung der Ästhetik" weist Cohen einem Begriff eine zentrale Stelle in der Disposition des Systems der Philosophie zu, den er, obwohl jener auch in der Fortentwicklung der Cohenschen Konzeption seine Stelle behalten sollte, auch später nur spärlich expliziert: es ist der Begriff der Kultur. Die Aufgabe der Philosophie, so heißt es schon in „Kants Begründung der Ästhetik", ist es, „die Inhalte der Kultur als Erzeugnisse des Bewußtseins zu begründen" 33 . Was Inhalte der Kultur sind, erläutert Cohen in der „Ästhetik des reinen Gefühls" : „Das Bewußtsein der Kultur ist nun aber durch Wissenschaft und Sittlichkeit nicht ausgefüllt; die Geschichte der Kultur lehrt uns, daß der Begriff der Kultur nicht erschöpfend durch Wissenschaft und Sittlichkeit bestimmt wird. Diese Lehre, an und für sich betrachtet nur eine faktische Mahnung, hat dennoch keine geringere Kompetenz, als welche auch in der Faktizität der Wissenschaft und der sittlichen Kultur in Recht und Staat besteht. Könnte die Reinheit der erzeugenden Grundlegungen nicht entdeckt und klar- * gestellt werden, so würden jene Facta freilich immer Mahnungen bleiben, aber sie würden dann doch nur ewige Fragezeichen zu bedeuten haben. Ebenso steht es nun auch mit dem absonderlichen Faktum, welches die Kultur in der Kunst aufstellt 34 ." Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst also sind die „Inhalte" oder „Gebiete" der Kultur. Auf ihre Begründung richtet sich die Intention der Philosophie, das heißt die Philosophie hat die Grundlagen, die Prinzipien der Kultur zu schaffen, freizulegen oder - im Cohenschen Sprachgebrauch - „zu erzeugen". Indem aber von „Erzeugung" der Kulturgrundlagen die Rede ist, nämlich von der Hervorbringung der Prinzipien der Kultur, die dieser erst Bestimmtheit verleihen, wird die durch die kopernikanische Wende der transzendentalen Methode ermöglichte Erkenntnis von der subjektgeleisteten Konstitution der Kulturwelt schon vorausgesetzt. Die transzendentale Methode macht mithin eine dogmatische Voraussetzung: Kultur mit ihren „Hauptrichtungen" 35 Natur, Sittlichkeit und Kunst muß als Vorwurf immer schon gegeben sein. „Von ihrer Faktizität gehen wir aus und fragen daraufhin nach ihrem Rechte. Dieser transzendentalen Inquisition haben sich Mathematik und Physik unterwerfen müssen und nicht minder auch Recht und Staat und endlich das Kulturfaktum der Kunst 36." Ergebnis der „transzendentalen Inquisition" ist, daß die starre Gegenständlichkeit der Kulturobjektivationen nur scheinhaft ist, sie vielmehr nur möglich 33 34 35 36

KBÄ, S. 101 ÄrG, S. 5. BRSP, S. 9. Ebd., S. 8.

2. Kap.: 3. Cohens „System der Philosophie"

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ist durch die Gesetzlichkeit, die das erkennende Bewußtsein ihr von vornherein unterlegt hat. Die Leistung der Vergesetzlichung vollziehen in den Kulturgebieten der Wissenschaft, der Sittlichkeit und Kunst die „Grundrichtungen des das System der Philosophie bildenden Bewußtseins", nämlich Logik, Ethik und Ästhetik. Im wissenschaftlichen - später nennt Cohen es auch das logische -, im sittlichen und ästhetischen Bewußtsein entfaltet sich das System der Philosophie zur „Einheit des Kulturbewußtseins" 37 . Das Problem der Einheit des Kulturbewußtseins fällt jedoch dem vierten Glied des Systems der Philosophie zu, der Psychologie. Wie die Psychologie als „Einheit des gesamten Kulturbewußtseins" 38 den „Gipfel" 39 und Abschluß des Systems bildet, das die verschiedenartigen Formen des objektiven Geistes in ihrer Individualität und ihren Gemeinsamkeiten enzyklopädisch zusammenzufassen trachtet, stellt die „Logik der reinen Erkenntnis" als erstes Glied des Systems den Anfang oder „die Grundlegung eines Systems der Philosophie" 40 dar. Als Grundlegung des Systems fällt der Logik die Aufgabe zu, nicht nur die Grundbegriffe ihres Gegenstandsbereichs, der Natur der mathematischen Naturwissenschaften zu erzeugen, sondern den anderen Bewußtseinsarten die Methode zu lehren, mit Hilfe welcher jene ihre spezifischen Gesetzlichkeiten zur Erkenntnis bringen können. „Die Logik ist immanent in aller Wissenschaft; in vorbildlicher Methodik enthüllt sie sich in der mathematischen Naturwissenschaft." Die mathematischen Naturwissenschaften stellen gleichsam das Experimentierfeld der Transzendental-Philosophie dar. Die kopernikanische Wende wird an ihrem Beispiel vollzogen; und soweit das Experiment der transzendentalen Methode sich an der mathematischen Naturwissenschaft bewährt, so weit sind zugleich Grundcharaktere des reinen Denkens gesichert. Der Logik kommt also innerhalb des Systems ein besonderer, bevorzugter Rang zu. Natorp trennt später die beiden Aufgaben der Logik als Logik des Systems und Logik der Naturwissenschaft, indem er die erste „allgemeine Logik" und die zweite „Theoretik" nennt, die der „Praktik" und „Ästhetik" koordiniert ist 42 . „So ist auch der Erkenntniswert der Logik durch die Natur der Naturwissenschaft bedingt. Wir wissen von der Logik her, daß die letzten Grundlagen der Erkenntnis vielmehr Grundlegungen sind, deren Formulierungen sich wandeln müssen gemäß dem Fortgang der Probleme und der Einsichten. ... Die Grundlagen sind Grundlegungen. Die Tätigkeit des Legens eines Grundes setzt das Objekt voraus, dem der Grund zu legen sei. Dieses Objekt ist zwar 37

LrE, S. 15, ÄrG, S. 431. LrE 1 , S. 369. 39 ÄrG, S. 431. 40 LrE 1 , S. V. 41 BRSP, S. 8. 42 Vgl. ζ. B. Natorp, Paul: Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme, Göttingen 1918, S. 24 ff. 38

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. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

nicht schlechthin die Natur, aber es ist die Natur der Naturwissenschaft. Daher wird die Natur zunächst wieder in einer Erkenntnis zum Objekte, nämlich in der Mathematik. Aber auch diese, so rein sie ist, und je reiner sie ist, ist selbst als Grund der Natur gelegt 43 ." In der Einstellung der transzendentalen Methode ist demgemäß weiterzufragen nach dem logischen Ursprung der mathematischen Axiome und Prinzipien, aus welchem letztere sich erst entfalten können. Die Philosophie kann sich mit dem methodischen Anfang der intern-mathematischen Begründung nicht zufriedenstellen, die hinter das Axiom nicht zurückgeht und nicht zurückfragt, sondern es schlicht voraussetzt 44. Doch andererseits kann die Logik ohne die Mathematik gar nicht zum Verständnis ihrer Formen kommen. „Wir wissen von der Logik her, wie diese im Zusammenhange steht mit der Mathematik. Zwar gibt es auch für die Mathematik allgemeine Voraussetzungen, welche selbständig in der Logik gelegen sind. Aber für den Aufbau und Ausbau selbst dieser Grundlagen ist die Logik auf die Mathematik angewiesen. Das haben wir sogleich in dem Urteile des Ursprungs erkannt. Es besteht also ein deutliches Wechselverhältnis zwischen der Logik und der Mathematik. Die logischen Motive, welche der Mathematik eingeboren sind, wachsen in ihr so inhaltvoll aus, daß die Logik von diesem Inhalte in ihrer eigenen Inhaltsbestimmung abhängig wird. Bleibt es doch Geist von ihrem Geiste, der dort Fleisch geworden ist, und den sie als neuen Geistesinhalt in ihr Gebein einzufügen hat 45 ." Oben wurde festgestellt, daß die transzendentale Methode die dogmatische Voraussetzung macht, von der Kultur in der Unterschiedenheit ihrer Provinzen als problematischem Vorwurf auszugehen. Die Grundbegriffe der Sittlichkeit zu klären, ist Aufgabe der Ethik. Das Material, an dem die Ethik ihre Grundbegriffe entdeckt und beglaubigt, sind in der Cohenschen Konzeption die Geisteswissenschaften. Die Methode der Erzeugung dieser Grundbegriffe aus dem Vorwurfe einer Wissenschaft war von der Logik gewiesen worden; das „Primat des Logischen" 46 behauptet sich auch für die Ethik. „Die Logik ist nur in dem Sinne die Grundlage des Systems und also der Ethik, daß sie allein es lehren kann, in welcher methodischen Weise die Ethik Gesetze zu suchen und zu errichten habe. Diese Gesetze aber nach ihrem Inhalte hat die Ethik selbst zu finden. Und da die von der Ethik zu findenden Gesetze für die Geisteswissenschaften aufgestellt werden, in deren Material die Ethik sie zu suchen hat, so dürfen wir daher im engeren Sinne des Gesetzes die Ethik als die Logik der Geisteswissenschaften bezeichnen47." Entsprechend den Aufstellungen zur allgemeinen, d. h. transzendentalen Logik, deren Grundbegriffe in der Logik der mathe43

ErW 1 , S. 81. Das kommt plastisch in dem bekannten Ausspruch Kroneckers zum Ausdruck: „Der liebe Gott schuf die ganze Zahl, alles andere ist Menschenwerk." 45 ErW 1 , S. 62. 44

46

Heinemann, Fritz: Neue Wege der Philosophie, Leipzig 1929, S. 76. 47 LrE 1 , S. 518.

2. Kap.: 3. Cohens „System der Philosophie"

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matischen Naturwissenschaft begründet und gesichert werden sollen, wobei der Mathematik für die Naturwissenschaft wie für die logischen Fundamentalformen eine konstitutive Funktion zukommt, sucht Cohen für die Logik der Geisteswissenschaften nach einer Wissenschaft, die analog der Mathematik als Quelle der ethischen und geisteswissenschaftlichen Grundbegriffe dienen könne. Diese Wissenschaft glaubt er in der Rechtswissenschaft gefunden zu haben. „Ähnlich ist es mit dem Verhältnis der Ethik zur Rechtswissenschaft bewandt: Die Ethik läßt sich als die Logik der Geisteswissenschaften betrachten. Sie hat die Begriffe des Individuums, der Allheit, sowie des Willens und der Handlung zu ihrem Problem. Alle Philosophie ist auf das Faktum von Wissenschaften angewiesen. Diese Anweisung auf das Faktum der Wissenschaften gilt uns als das Ewige in Kants System. Das Analogon zur Mathematik bildet die Rechtswissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geisteswissenschaften und vornehmlich für die Ethik als ihre Mathematik bezeichnet werden 4*." Ohne die Cohensche Disposition des Systems der Philosophie hier problematisieren zu wollen, mag darauf hingewiesen werden, daß die konsequente Anwendung der transzendentalen Methode auf dem Gebiet der Sittlichkeit hier für Cohen eine entscheidende Korrektur der Kantischen Konzeption forderte. In „Kants Begründung der Ethik" aus dem Jahre 1877 war diese Ausrichtung auf die Rechtswissenschaft noch nicht absehbar; Cohen sah jedoch deutlich, daß die transzendentale Deduktion des Sittengesetzes nicht möglich war, weil das Faktum einer Wissenschaft fehlte, an der sie zu vollziehen gewesen wäre. Deshalb war „das Sittengesetz selbst erst zu finden; und die Begründung besteht in der Entdeckung 49 ." In der zweiten Auflage von „Kants Theorie der Erfahrung" zeigt sich, wie Cohen sich in der folgerechten Anwendung der transzendentalen Methode auf der Suche nach dem Faktum befindet, an welchem die Grundbegriffe der Ethik zu erweisen wären: „Zwar gibt es keine Wissenschaft der moralischen Probleme, gleichwertig mit dem Faktum der mathematischen Naturwissenschaft; aber die methodische Analogie besteht doch: daß der Ethiker nicht glauben dürfe, das Sittengesetz erzeugen zu müssen, während er nur die Formel desselben zu bestimmen habe. Seine Aufgabe ist zum mindesten für die Inangriffnahme des Problems schwieriger hier als dort: aber auf Kritik im negativen und im positiven Sinne hat auch der Ethiker sich zu bescheiden. An den Kulturtatsachen, welche das Sittengesetz erraten lassen oder offenbaren, hat er die Formel und den Wert desselben zu entdecken 50 ." In der umfangreichen Einleitung zu F. A. Langes „Geschichte des Materialismus" aus dem Jahre 1896 hat sich bei Cohen der Gedanke weiter gefestigt, daß die Ethik zu ihrer Begründung des Faktums einer Wissenschaft bedürfe. Nach der Abwägung, ob die Rechtswissenschaft oder die Geschichte besser geeignet 48

ErW 1 , S. 62. KBEi, S. 146. so KTE 2 , S. 579.

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. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

wäre, entscheidet er sich für die Geschichte51. Diese Ansicht behält Cohen noch in der Logik der reinen Erkenntnis bei, obwohl sich in seinen vorsichtigen Formulierungen die Unsicherheit in dieser Frage verrät. „Für die Geisteswissenschaften bildet die Ethik das Analogon der Logik; als Analogon der Mathematik dürfte für sie die Geschichte zu bezeichnen sein. Sie ist die Forschung der Wirklichkeit 52 ." Erst in der „Ethik des reinen Willens" ändert sich Cohens Ansicht. Nun hat die Rechtswissenschaft als Mathematik der Geisteswissenschaft die Grundbegriffe der Ethik zu liefern. An dieser Ansicht hält Cohen später trotz vehementer Kritik 5 3 aus der eigenen Schule unverwandt fest. Noch in „Der Begriff der Religion im System der Philosophie" des Jahres 1915 schreibt er: „In allen Geisteswissenschaften ist die Logik immanent; aber als eine neue Logik steigt für sie aus dem Bewußtsein des reinen Denkens herauf die Ethik, in der das reine Denken sich zum reinen Wollen entwickelt. Auch eine neue Art von Mathematik haben wir versucht, der Ethik zugrunde zu legen, indem wir in der Rechtswissenschaft ein Gerüst von Begriffen auszeichnen können, die in ihrer logischen Struktur einer ethischen Funktionierung fähig werden. Und in Analogie zur Natur ließe sich eine Einheit der Rechtsbegriffe in dem großen Problembegriffe des Staates aufstellen 54 ." Da zum Begriff der Kultur die Kunst gehört, obliegt der Ästhetik als dem dritten Glied des Systems der Philosophie die Feststellung der Gesetzlichkeiten des ästhetischen Bewußtseins. An welchem Material oder Faktum könnte sie ihre Grundbegriffe aber ausweisen? Denkt man an Cohens Diktum, daß die Anweisung auf das Faktum der Wissenschaft „das Ewige in Kants System" sei, so müßte konsequenterweise für die Kunst das Faktum in der Kunstwissenschaft liegen. Cohen zieht diese unabweisbare Konsequenz bedenkenswerterweise jedoch nicht. Am „Kulturfaktum der Kunst" 5 5 ist der Gesetzlichkeit des ästhetischen Bewußtseins der Grund zu legen. Das Problem, in welcher Weise die „drei Gebiete des Bewußtseins" miteinander zusammenhängen, was die wahrhafte Einheit der Kultur ausmacht, hatte Cohen in den achtziger Jahren in Anknüpfung an die traditionelle Dreigliederung der Provinzen der Philosophie mit der Formel vom „Prinzip des Bewußtseins" mehr bezeichnet als gelöst. Wohl durch Naturps Vorarbeiten in dessen „Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode" (1888) auf die systematische Stelle des Problems hingewiesen, hat für Cohen die Psychologie das Problem des Zusammenhangs, der Kollisionen und des Einklangs der drei Gebiete des Bewußtseins zur Prüfung und zur einheitlichen Darstellung zu bringen. „Alle drei Mächte und Richtungen des menschlichen Geistes, die Er51 52 53 54 55

GdM, S. LI f. LrE 1 , S. 425. Vgl. Natorp, Paul: Recht und Sittlichkeit, in: Kantstudien 18 (1913), S. 1 ff. BRSP, S. 8. BRSP, S. 8.

2. Kap.: 3. Cohens „System der Philosophie"

kenntnis, den Willen, das Gefühl, hat die Psychologie in ihrer Eigenart zu beschreiben; in ihrer eigenen Entwicklung zu bestimmen; und nach ihrem Verhältnis zueinander, nach ihrer Wechselwirkung aufeinander zu durchforschen und zu gestalten. Sofern es ihr gelingt, dieses Verhältnis zu ermitteln, und klarzulegen, stellt sie erst die Gesamtheit dessen dar, was Bewußtsein genannt werden darf. Und sie erst vermag aufgrund dieser Gesamtheit des Bewußtseins die Einheit des Bewußtseins zu vollziehen 56 ." Die Psychologie, die Cohen - zuerst in der „Logik der reinen Erkenntnis" als viertes Glied dem System der Philosophie einfügt, ist allerdings nicht als empirische Psychologie zu verstehen. Diese würde nach Cohenschen Vorstellungen der naturwissenschaftlich verfahrenden Physiologie zuzuordnen sein. Psychologie als Glied des Systems der Philosophie wäre vielmehr zu denken als eine Philosophie der Psychologie, deren Gegenstand das Problem der Subjektivität schlechthin ist. „Die drei Glieder, welche voraufgehen, behandeln drei Objekte: Natur, die Kultur der Sittlichkeit und die Kunst. Die Psychologie hat allein zu ihrem ausschließlichen Inhalte das Subjekt, die Einheit der menschlichen Kultur 5 7 ." Bei der Psychologie handelt es sich nicht um die Beschreibung und Bestimmung von Bewußtseinsinhalten, die in der Zeit erscheinen, sondern um das Problem der Erfassung der Wirkungsweise jenes einigen Bewußtseins in seinen verschiedenen Emanationen; es handelt sich, wie Rosenzweig formuliert, um eine „Psychologie des objektiven Geistes"58. „Die Einheit des Kulturbewußtseins ist nicht die Identität von Leib und Seele, von Materie und Bewußtsein, sondern die Vereinigung, die Vereinheitlichung von Stufen im Entwicklungsgange des Bewußtseins der Kultur, die selbst schon eine jede für sich eine Art der Einheit des Bewußtseins ausmachen. Die Psychologie nimmt die neue Aufgabe auf sich: alle jene Arten, wie sie im Bewußtsein der Kultur, im einzelnen Menschen, in einzelnen Völkern sich darstellen, wie sie dort sich durch Drängen und in Wechselwirkung stehen, nicht nur etwa zu isolieren, sondern ebenso auch in ihrer Wechselwirkung zu verfolgen und zu durchleuchten 59 ." In dieser Intention trifft Cohen sich mit der als „Kritik der historischen Vernunft" konzipierten geisteswissenschaftlichen Psychologie Diltheys. Cohen hat die Ausarbeitung dieser Psychologie bereits in der Logik der reinen Erkenntnis angekündigt, er hat auch in den folgenden Teilen des Systems der Philosophie immer Bezug auf die Psychologie als einer „hodegetischen 60 Enzyklopädie des Systems der Philosophie" 61 genommen, doch ist es zur Ausführung nicht mehr 56 57 58 59 60 61

ErW 1 , S. 603. LrE 1 , S. 16. Rosenzweig, Einleitung, S. 305. ÄrG, Bd. 1, S.431. hodegetisch = vorbereitend. Ebd.

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. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

gekommen 62 . Wie weit äußere Faktoren oder innersystematische Gründe dies verhindert haben, ist hier nicht zu erörtern 63 . Schließlich ist kurz auf die Stellung der Religion im Cohenschen System der Philosophie einzugehen. In der „Ethik des reinen Willens" war es Cohens Bestreben, die Religion in Ethik aufgehen zu lassen. Einzig die Gottesidee hatte, wie es von Cohen bereits in „Kants Begründung der Ethik" ausgeführt war, die Aufgabe, als „Klammer" der natürlichen und sittlichen Natur die „Verwirklichung der Sittlichkeit und die Versittlichung der Natur" 6 4 zu verbürgen. Gott, zum Prinzip der Ethik geworden, hatte hier der Ethik den Zusammenhang mit der Natur zu sichern, nicht aber eigene Ansprüche der Religion einzubringen. „Nicht an die Religion in irgend welcher verlarvten Form darf die Ethik abgetreten werden. Auch darf jener der Vortritt nicht eingeräumt werden. Was Ethik sei, hat die Philosophie nach ihren Methoden zu ermitteln und zu ergründen und also auch erst festzustellen. Was in der Religion Sittlichkeit sei, das hat die Religion selbst erst von der Ethik zu lernen. Die Theologie muß EthikoTheologie werden 65 ." In seinem Alterswerk, der Programmschrift 66 „Der Begriff der Religion im System der Philosophie" und dem Nachlaßwerk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" widersetzt sich Cohen der Auflösung der Religion in die Ethik. „Nun müssen wir aber fragen, ob es sich in Wahrheit so verhält, ob in der Tat die Ethik in der Verfassung ist, alle Probleme zu behandeln, die hergebrachterweise in der Religion entstehen, und von denen angenommen werden darf, daß ihr Fortbestand berechtigt und gesichert sei? 67 " Cohen verneint diese Frage, indem er in der Korrelation von Mensch und Gott „eigene Kombinationen" der Religion anerkennt, „die ihr eigentümlich sind und bleiben" 68 . In dem für seine späte Religionsphilosophie neuen Zentralbegriff der Korrelation von Mensch und Gott nimmt Cohen das Problem des von der Ethik nicht behandelten leidenden, durch Gott erlösten Individuums auf. Er formu62 Dafür hat Natorp in Anknüpfung an seine oben erwähnte 1888 erschienene „Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode" 1912 eine „Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode" vorgelegt, in der er das für den Marburger Neukantianismus prekäre Problem der unmittelbaren Subjektivität des Erlebens in einer „rekonstruktiven Psychologie", die den Abstieg von der Einheit zum Mannigfaltigen zum Thema hat, zu bewältigen sucht. 63 Vgl. dazu: Marek, Siegfried: Die Lehre vom erkennenden Subjekt im Marburger Neukantianismus, Logos IV (1913), S. 365 f. Vgl. neuestens: de Schmidt, Winrich: Psychologie und Transzendentalphilosophie. Zur Psychologie-Rezeption bei Hermann Cohen und Paul Natorp, Bonn 1976. 64 Vgl. Rosenzweig, Einleitung, S. 319; Löwith, Karl: Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in H. Cohens Religionsphilosophie (1969), in: Aufsätze und Vorträge (1930-1970), Stuttgart 1971, S. 124 ff. (134). 65 ErW 1 , S. 20. 66 So Rosenzweig, Einleitung, S. 331. 67 BRSP, S. 43. 68 BRSP, S. 44.

2. Kap.: 3. Cohens „System der Philosophie"

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liert hier einen, im System der Philosophie nicht zur Entdeckung gebrachten neuen Gottes- und Menschenbegriff. Allerdings räumt Cohen der Religion keine selbständige Stellung im System der Philosophie ein, denn „die Einheit des Systems weist auch keine Lücke auf, welche die Religion ausfüllen könnte, weder für die Glieder des Systems, die durch die Ethik befriedigt sind, noch für die den Kulturinhalt erzeugenden Richtungen des Bewußtseins, welche durch Erkenntnis, Wille und Gefühl alle drei in Reinheit begriffen, erschöpft zu sein scheinen" 69 . Dafür werden im Spätwerk von Cohen die Inhalte der Religion eingearbeitet. „Es ist nicht richtig, daß die systematische Philosophie, die in der reinen Erkenntnis ihr methodisches Fundament hat, in dieser auch aufginge. Wie zur reinen Erkenntnis die drei anderen Glieder des Systems hinzutreten, so tritt als gleichartige Grundlegung zu allen vier Gliedern die Religion hinzu. Aber sie bildet keineswegs ein eigenes Lehrgebiet, das man unter dem sachlich, wie geschichtlich, unklaren Worte der Metaphysik immer wieder der wissenschaftlichen, der systematischen Philosophie entgegenstellt, sondern der wissenschaftlichen Philosophie fügt sich die Religion ein. Sie ergänzt ihre Probleme. Sie ergänzt so auch die Probleme der menschlichen Kultur, die lückenhaft und schadhaft bleibt, ohne die Beziehung aller ihrer Probleme auf die Einzigkeit Gottes 70 ." Die von Rosenzweig eingeleitete Diskussion, wie weit Cohen in seinem religionsphilosophischen Alterswerk die Schranken der idealistisch-kritischen Philosophie überstiegen und ihren „Zauberkreis" 71 verlassen hat, um der ahnungslose Vorbereiter des „neuen Denkens" 72 der Existenz zu werden, bedarf im Rahmen dieses Themas keiner Erörterung. Zusammenfassend sei festgehalten, daß Cohens System der Philosophie sich in seinen vier Gliedern Logik, Ethik, Ästhetik und Psychologie entfaltet. Die Philosophie ist nicht ein Etwas außer diesen vier Gliedern 73 . Erst in deren Gesamtheit ist sie „wahrhafte Kulturphilosophie" 74 . Kulturphilosophie bedeutet bei Cohen nicht einen besonderen Zweig der Philosophie, der im Gegensatz oder neben der Naturphilosophie oder Naturwissenschaft stünde. Die Natur ist für den Marburger Neukantianismus zunächst die Natur der mathematischen Na69

BRSP, S. 10. BRSP, S. 137. 7 1 Rosenzweig, Einleitung, S. 335. 72 Vgl. Rosenzweig, Franz: Vertauschte Fronten (1929), in: Vom alten zum neuen Denken, S. 354 ff. Rosenzweig nimmt hier Bezug auf die berühmte Kontroverse zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger in Davos 1929 um die Aufgabe der Philosophie. Er schreibt: „Und hier hat nun Heidegger, der Husserl-Schüler, der Aristoteles-Scholastiker, dessen Innehaben des Cohenschen Katheders von jedem „alten Marburger" nur als eine Ironie der Geistesgeschichte empfunden werden kann, gegen Cassirer eine philosophische Haltung, eben die Haltung unseres, des neuen Denkens, vertreten, die ganz in der Linie liegt, die von jenem „letzten Cohen" ausgeht" (S. 356.). 73 Vgl. ÄrG, S. XI. Ebd. 70

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

turwissenschaft, dort erst kommt sie zu ihrem Begriffe und wird für die Philosophie zum Problem. Den anderen Weg zu gehen, nämlich Natur unvermittelt, ohne die Anweisung auf das Faktum der Wissenschaft, dem Zugriff des Philosophen zu überlassen, hieße die Fehler zu wiederholen, die die Nachkantianer mit ihren „Genieschwüngen" 75 , das „Bathos der Erfahrung" verachtend, in ihren romantischen Naturphilosophien begangen haben. Diese Auffassung von Kulturphilosophie ist einerseits Reflex der mit dem fortschreitenden Prozeß der Verwissenschaftlichung, Spezialisierung und Arbeitsteilung selbst auf dem Rückzug befindlichen Philosophie, andererseits Ausdruck der philosophischen Erkenntnis, daß die uns umgebende Kultur vor allem eine wissenschaftliche Kultur ist, die in ihren Objektivationen, seien sie wissenschaftserzeugt oder nicht, nur noch im Medium der Wissenschaften einigermaßen zureichend begreifbar ist. Entgegen aber einer konservativ-romantischen Kulturphilosophie 76 - wie sie sich seit Ende des 19. Jahrhunderts etabliert -, die auf die Schwundstufe der literarisch-geistigen Traditionsverarbeitung resigniert, und entgegen einer Wissenschaftsphilosophie positivistischer Provenienz, die dem der technischen Kultur eigenen Primat des Machens 77 huldigt, beharrt die Marburger Konzeption der Kulturphilosophie auf dem Primat des Handelns vor dem Machen, indem sie sich gegenüber der Zweckreflektion nicht agnostizistisch verhält, sondern ihren Wert gerade darin sieht, daß sie für ihre Zwecksetzungen sich zu rechtfertigen vermag. „Die systematische Philosophie nun hat ihre Wurzel in dem Gedanken, daß alle Probleme der Kultur der gemeinschaftlichen Quelle der Vernunft entspringen; der Vernunft in ihrer Einheit und ihrer Reife; und nicht etwa einzelnen Hilfsmitteln des Bewußtseins, geschweige Eingebungen und Enthüllungen, für die der Geist nicht verantwortlich gemacht werden kann. Geist und Vernunft werden nur dadurch die legitime Quelle der Erkenntnis, daß sie für ihre Emanationen die Verantwortung übernehmen können. Solche Rechtfertigung der Vernunft kann aber nur von der Erkenntnis der Wissenschaft geleistet werden. So muß denn allgemach die Einsicht lebendig werden, daß nur die wissenschaftliche Vernunft das Kriterium der menschlichen Vernunft bildet, nur der wissenschaftliche Geist den Wert des menschlichen Geistes begründet. Der Rationalismus entwickelt sich zum Idealismus, zum methodisch gereiften, wissenschaftlichen Rationalismus 78 ."

75

LrE 1 , S. 28. Vgl. dazu: Marcuse , Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. VI/1, Paris 1937. 77 Vgl. dazu: Maurer, Reinhart: Stichwort Kultur, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von Herman Krings, Hans-Michael Baumgartner und Christoph Wild, München 1973, S. 823 ff. 78 Rosenzweig, Einleitung, S. 304. 76

2. Kap.: 4. Die „Logik der reinen Erkenntnis"

191

4. Das methodische Zentrum: Die „Logik der reinen Erkenntnis" als die Grundlage des Systems

4.1. Das reine Denken

Wir waren von dem den drei Teilen des Systems „gemeinsamen, scheinbar klaren, in Wirklichkeit sehr schwierigen Wort" 7 9 „rein" ausgegangen und hatten es mit „gesetzlich" verständlich zu machen versucht, ohne allerdings genauer die Überlegungen Cohens zu entwickeln, die die Substituierung von Reinheit durch Gesetzlichkeit rechtfertigen könnten. Indem nun diese Auseinanderlegung der Cohenschen Gedanken nachgeliefert wird, soll zugleich versucht werden, ein Bild von der das System der Philosophie fundierenden Logik der reinen Erkenntnis als „methodisches Zentrum" zu zeichnen. Mit „Reinheit", das wurde oben schon angedeutet, wird bei Cohen nicht nur ein Ziel bezeichnet, nämlich das Ziel letzter gesetzmäßiger Bestimmung eines Gegenstandsbereichs - die reine Erkenntnis, der reine Willen, das reine Gefühl wären danach der Inbegriff der Gesetzlichkeit auf den Gebieten dieser Systemglieder -, sondern auch ein Verfahren, die „Methode der Reinheit", die die Mittel und Wege enthält, um Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Wo kommt nun dieser Begriff der Reinheit zu seiner Auszeichnung? Den Begriff der Reinheit bestimmt die „Logik der reinen Erkenntnis". Die Logik der reinen Erkenntnis ist nicht nur die transzendentale Methodologie der mathematischen Naturwissenschaft, sie ist auch die „Grundlage des Systems"80. In der „Logik" reflektiert die Vernunft ihr Tun. Sie versucht, Aufschluß zu gewinnen über den Grund der Gewißheit ihrer Leistungen. Solche Leistungen sind zuallererst gegeben in den Ergebnissen der Wissenschaft, denn in ihnen konzentriert sich ein Typus von Erkenntnis, der dem mannigfaltigen Täuschungen, Irrtümern und Schwankungen ausgesetzten Alltagswissen des einzelnen Individuums deutlich überlegen ist. Der Vorrang der Wissenschaft besteht also darin, daß sie ihrer Intention nach ihre Gegenstände in einem einigen, universalen Horizont bestimmt, während der Horizont der empirischen Erfahrung stets ein eingeschränkter, partikularer ist. Deshalb stellen vor allem die Wissenschaften das Experimentierfeld dar, auf welchem die Vernunft sich ihrer eigentümlichen Leistungen klarzuwerden versucht. Insofern sie nämlich die Grundlagen erforscht, auf denen die Gültigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis beruht, erweist sie zugleich die letzten Geltungsvoraussetzungen auch ihrer eigenen Urteile. „Die Schöpferkraft des Denkens kann dagegen nur von der Logik erst zur Offenbarung gebracht werden. Nur im Zusammenhang mit der Wissenschaft, mit dem Prototyp der Wissenschaft entdeckt die Logik die Eigenart und den 79 8

ÄrG, Bd. 1, XII. ° L r E i , S. 513

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

Eigenwert des Denkens 81 ." Als Prototyp von Wissenschaft gilt von alters her die Mathematik, später erst, nämlich mit ihrer Mathematisierbarkeit, die Naturwissenschaft. An ihnen müßte das Experiment der sich selbst befragenden Vernunft sein geeignetes Material haben; an diesem Stoff probiert die Vernunft die Hypothese, daß die Regelmäßigkeiten, die Wissenschaften über die Gegenstände aussagen, nicht den Dingen abgelesen werden, sondern in den Wissenschaften konstruiert werden. Das Experiment gelingt 82 und bewirkt eine „Revolution der Denkart" 83 . Es zeigt, daß die Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft die Erfahrung erst konstituieren, diese Prinzipien also die reinen Erkenntnisse, „gleichsam das ABC der Vernunft" 84 , darstellen. Gegenstände sind uns danach gegeben nur in der Erkenntnis. Alle unsere Erkenntnis vom Sein der Gegenstände hängt aber ab von den Prinzipien, auf denen die Gültigkeit unserer Erfahrungserkenntnis beruht. „Das ist der Nerv des gesamten kritischen Argumentationsverfahrens 85." Unter dieser Voraussetzung wird verständlich, daß Cohen in der Sicherstellung der reinen Erkenntnis durch die Logik der reinen Erkenntnis diese zugleich als „Grundlage des Systems" betrachtet. Wie bestimmt nun aber die Logik der reinen Erkenntnis den Begriff des Reinen? „Vor Allem befreit es uns von dem Vorurteil der Dinge; von dem falschen Anfang mit den Dingen, vor dem schon Descartes gewarnt hat, in dem er das reine Denken wieder lebendig machte. Die Gegebenheit von Dingen darf uns nicht berücken, als ob sie den unerläßlich richtigen Anfang der Untersuchung bildete; als ob man schlechterdings an diese Gegebenheit, als an die unerläßliche Gewißheit, anknüpfen müßte. Die Reinheit lehrt dagegen: nicht die Dinge sind das Erste, worauf die Untersuchung der Dinge selbst, sowie die auf den Wert der Erkenntnis gerichtete, zu achten hat; sondern die Erkenntnis von den Dingen, sofern sie in einer Wissenschaft gegeben ist, muß allemal das Erste sein. Nicht also die Dinge, sondern die wissenschaftlichen Erkenntnisse sucht die Reinheit klarzustellen. Dadurch erst können die Dinge selbst festgestellt werden. Sie sind nur scheinbar gegeben. Die Reinheit erst bringt sie an den Tag. Nur im Dämmerlichte des Problems und des Vorwurfs scheinen sie gegeben zu sein 86 ." 81

LrE 1 , S. 20. Cohen führt das auf diese Hypothese gestützte Experiment in seiner Logik der reinen Erkenntnis nicht vor. Er läßt den Leser nicht teilhaben gleichsam an der Aufstellung des Versuchsaufbaues, der Durchführung der Einzelexperimente am Material der Wissenschaft. Seine Logik der reinen Erkenntnis ist kein Forschungsbericht, in der der Prozeß der Entdeckung beschrieben wird, sondern setzt die erfolgreiche Bewährung der Hypothese voraus und richtet seine Darstellung auf die systematische Explikation der durch das gelungene Experiment erzielten Ergebnisse, ihrer Rechtfertigung und ihrer Folgerungen. 83 Kant, KrV, Β XI. 84 LrE 1 , S. 10. 85 Brelage, Manfred: Transzendentalphilosophie und konkrete Subjektivität. Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrh., in: Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965, S. 90. 86 ErW 1 , S. 88 f. 82

2. Kap.: 4. Die „Logik der reinen Erkenntnis"

193

Diese Kennzeichnung der „Methode der Reinheit", der „Quintessenz der Logik" 8 7 wird dem Leser sehr bekannt vorkommen: Es ist nichts anderes als eine Charakterisierung dessen, was Cohen in seinen Kant-Werken als die transzendentale Methode bezeichnet hat. Daß er jetzt fast nur noch von der „Methode der Reinheit" spricht, mag damit zusammenhängen, daß er aufgrund der gegenüber Kant vorgenommenen Veränderungen, vor allem der Verwerfung einer besonderen reinen Anschauung neben dem reinen Denken, eine mißverständliche Interpretation des Transzendentalen vermeiden wollte. Wenn die „Methode der Reinheit" oder das „reine Denken" die wissenschaftliche Erkenntnis klarzustellen sucht, so fragt sich, was an der letzteren klargestellt wird: Das reine Denken klärt die Wissenschaft darüber auf, daß die Gewißheit ihrer Erkenntnisse auf subjektkonstituierten Prinzipien und Grundlagen beruht. Die Grundlagen der mathematischen Naturwissenschaft, die synthetischen Grundsätze, sind nicht fest und unverrückbar am Gegenstand befestigt, sondern sind Grundlegungen des reinen Denkens. Diese Grundlegungen stellen intelligible Konstruktionen dar, nämlich Versuche, das Problem des Gegebenen zu lösen. Sie sind Ideen, deren Immanenz in den Wissenschaften die Methode der Reinheit dokumentiert und als Hypothesen identifiziert. „Die Logik der reinen Erkenntnis hat hauptsächlich den Platonischen Grundgedanken wieder zur Entdeckung gebracht, daß aller Grund des Seins nicht sowohl in an sich gegebenen Grundlagen angenommen und gesucht werden dürfe, sondern in Grundlegungen. Die Idee ist Hypothesis. Das ist die einzig zulängliche Charakteristik und Bezeichnung der Idee. ... Alle Theorie, alles Gesetz kann keinen anderen Grund haben, als den die Grundlegung legt. Und keine andere Sicherheit und Gewißheit kann es geben, als welche in der Grundlegung besteht Und doch ist sie auf die Übereinstimmung mit den Erscheinungen angewiesen, auf den Erfolg, den sie für die zusammenhängende Erklärung der Erscheinungen und der Probleme zu erzielen vermag. Erzielt sie diesen Erfolg nicht, so hat sie sich eben als Hypothesis nicht bewährt; aber den Geltungswert der Hypothesis kann das einzelne Beispiel derselben nicht erschüttern. Die Hypothesis, sofern sie ihren Begriff erfüllt, hat Sicherheit und Gewißheit. Eine andere Gewißheit gibt es nicht 88 ."

87

ErW 1 , S. 88. 88 ErW 1 , S. 92. Dieses letzte Zitat zeigt sehr deutlich, daß die Meinung, bei dem Marburger Neukantianismus handele es sich um einen ausgeprägt subjektivistischen Idealismus, unbegründet ist. Die „Logik der reinen Erkenntnis" läßt sich stellenweise vielmehr als das aus der philosophischen Tradition entwickelten Frühprogramm zu Poppers „Logik der Forschung" lesen. Unter dem Aspekt solcher Zitatstellen erweist sich die von Jaensch stammende Charakterisierung des Marburger Neukantianismus als einer „Komplementär-Theorie des Positivismus" als treffend. Die Formulierung Erich Jaensch findet sich in seinem Beitrag: Die Psychologie in Deutschland und die inneren Richtlinien ihrer Forschungsarbeit, in: Jahrbuch der Philosophie, hrsg. von Willy Moog, Berlin 19, S. 93 ff. (101 ff.) 13 Winter

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

Cohen verarbeitet in diesem Ansatz früh jene Erfahrung, die die „wissenschaftlichen Revolutionen" auf allen Gebieten der Wissenschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts der methodologischen Grundlagenforschung aufgezwungen haben: daß jeder Versuch einer Letztbegründung das Moment seiner Relativität zugleich mitenthalten muß. „Denn den mathematischen Ideen und Lehrsätzen wird kein Abbruch getan, wenn man ihre Abhängigkeit von den Axiomen anerkennt, wenn man die Axiome als die Grundlegungen begreift, die voraufgehen müssen, wenn auf ihrem Grunde die Lehrsätze aufgerichtet werden sollen. Man sagt hierbei nicht, es sei so nach alles auf Flugsand gebaut, denn das Schwergewicht dieser Grundlegungen wird richtig eingeschätzt. Man geht auch über den oberflächlichen Einwand zur Tagesordnung der Forschung über: daß diese Grundlegungen ja nur relativ und provisorisch seien. Sei es drum; mögen immer neue Hypothesen zu erdenken sein. Die Einsicht aber hebt die Grundlegung über jeden Verdacht der willkürlichen Subjektivität hinweg: daß anders die Forschung überhaupt nicht anfangen kann, daß anders die Forschung ein wahrhaftes Fundament nicht gewinnen kann, es sei denn durch die Grundlegung. Die Grundlegung ist der Grund alles wissenschaftlichen Denkens: es gibt keinen anderen und dieser ist der zulängliche 89 ." Wenn die „transzendentale Inquisition" des reinen Denkens zum Resultat hat, daß die Erkenntnis der mathematischen Naturwissenschaft auf der Geltung bewährter Hypothesen beruht, so kann sich die Logik der reinen Erkenntnis, deren Ziel das Auffinden letzter Bedingungen möglicher Erkenntnis ist, nicht mit diesem Ergebnis zufrieden geben. Es ist damit zunächst ja nur dies gesagt, daß Erkenntnis nur im Legen eines Grundes für den problematischen Gegenstand gesichert werden kann. Das Zugrundegelegte ist die Hypothesis, die das erfüllen muß, wozu sie erdacht ist. Das reine Denken erteilt die methodische Anweisung, zur Bestimmung des Gegenstandes Hypothesen zu erfinden; um vom Problem zum bestimmten Gegenstande zu gelangen, muß man dasjenige finden, was an ihm die Rolle des Bestimmenden spielt; das sind die zunächst nur angenommenen, hypothetischen Grundlegungen, Prinzipien oder Grundsätze. Dieser Eigenart der „Urmethode der Hypothesis" 90 , im Rückschluß vom noch unbegriffenen Gegenstand auf sein Prinzip, das logische prius, den Gegenstand als prinzipiierten zu erzeugen, läßt sich ein Unterschied zwischen der Methode der Wissenschaft und der der Philosophie nicht erkennen. Ebenso verhält es sich auch, denn von der Immanenz der Philosophie in allen Wissenschaften war ja ausgegangen worden. Der Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft wird erst sichtbar, wenn man sich dem Inhalt der Hypothesen zuwendet. Die Grundlegungen, die Prinzipien, die die Philosophie beschäftigen, liegen auf einer anderen Ebene als die der Wissenschaft, „sie liegen eine Stufe höher, bilden gleichsam ein oberes Stockwerk zu ihnen" 91 . 89 90 91

BRSP, S. 35 f. ÄrG, Bd. 1, S. 76. Hartmann, Systematische Methode, S. 30.

2. Kap.: 4. Die „Logik der reinen Erkenntnis"

195

Die Gesetze der Einzelwissenschaften, ihre Grundlegungen, verlangen nach Rechtfertigung in höheren Grundlegungen. Der Verfahrensweise der Einzelwissenschaften genügen ihre Gesetze vollauf. Die Philosophie als Transzendental-Theorie der Wissenschaften fragt nach dem Rechtsgrund der Prinzipien der Einzelwissenschaften. Sie sucht die obersten, ersten Prinzipien, über die kein Rückschluß hinausführt, aus denen gleichsam die anderen abhängigen Prinzipien „entspringen". Die „hypothetische Methode" gelangt aber gemäß ihrem Begriffe nie zu den letzten Grundlegungen, denn jede Grundlegung verlangt nach weiterer Rechtfertigung. Da die „Methode der Reinheit" in ihrem regressus in infinitum nicht zu letzten Prinzipien führen kann, muß die Einheit dieser Prinzipien in der Unendlichkeit postuliert werden. Für diesen methodisch geforderten Bezug aller Grundlegungen auf die Unendlichkeit steht bei Cohen das Prinzip des Ursprungs. Im Denken des Ursprungs, der in der Sprache der Alten principium heißt, hat nach Cohen das Reine seinen tiefsten Ausdruck gefunden. Da alle Probleme der Letztbegründung, der Rechtfertigung des Anfangs der Philosophie, der Konstitution philosophischer Prinzipien, die in der Logik der reinen Erkenntnis zum Ausdruck kommen sollen, mit diesem Problem des Ursprungs zusammenhängen, verwickelt und nur aus ihm zu entwikkeln sind, nennt Cohen die Logik der reinen Erkenntnis auch die „Logik des Ursprungs". „Die Logik muß demnach die Logik des Ursprungs werden. Denn der Ursprung ist nicht nur der notwendige Anfang des Denkens; sondern in allem Fortgang muß er sich als das treibende Prinzip betätigen. Alle reinen Erkenntnisse müssen Abwandlungen des Prinzips des Ursprungs sein. Andernfalls hätten sie keinen selbständigen, sondern nur einen abgeleiteten Wert. Die Logik des Ursprungs muß sich daher in ihrem ganzen Aufbau als solche vollziehen. In allen reinen Erkenntnissen, die sie als Prinzipien beglaubigt, muß das Prinzip des Ursprungs durchwalten. So wird die Logik des Ursprungs zur Logik der reinen Erkenntnis. Das ist die neue Gestalt, die wir hier versuchen wollen, der Logik zu geben 92 ." Nachdem zunächst dem Begriff der „Reinheit" die Aufmerksamkeit gegolten hat, ist nun der Begriff des „Denkens" näher zu kennzeichnen. Kant unterscheidet zwei Erkenntnisfaktoren: reine Anschauung und reines Denken. Erkenntnis (Erfahrung) ist nur dann möglich, wenn Anschauung und Denken sich verbinden, wenn der spontane Verstand das vom affizierten Subjekt empfangene gegebene Mannigfaltige der Anschauung mit Hilfe der reinen Verstandesbegriffe bestimmt. „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. An92

13*

LrE 1 , S. 33.

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

schauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, eine Erkenntnis abgeben können. ... Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand mag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen 93 ." Cohens Haupteinwand gegen die Kantische Unterscheidung von reiner Anschauung und reinem Denken besteht darin, daß Kant mit der dem Denken voraufgehenden Anschauung als dem Vermögen des Affiziertwerdens durch das mannigfaltige Gegebene als Erkenntnisbedingung etwas aufstellt, das erst vom Standpunkt des Denkens seine zureichende Bestimmung erfahren könnte. Der Standpunkt des Denkens, die transzendentale Methode nämlich, enthüllt, daß allgemeine und notwendige, also gesetzmäßige Erkenntnis nur Zustandekommen kann, wenn der Gegenstand sich mit allen seinen Bezügen nach den Denkfunktionen richtet, d. h. aus ihnen entsteht. Bei Kant ist das Mannigfaltige zunächst in den Formen der reinen Anschauung gegeben, nämlich in Raum und Zeit geordnet. Damit hat das Mannigfaltige aber bereits eine Bestimmung erhalten. Die transzendentale Inquisition, die fragt, worin diese Möglichkeit der Bestimmung ihren Grund hat, führt zu dem Ergebnis, daß Raum und Zeit nichts anderes als Forderungen, Voraussetzungen, Funktionen des wissenschaftlichen Denkens sind; Hypothesen, die vorausgesetzt werden müssen, um überhaupt Aussagen über die Gegenständlichkeit machen zu können. Raum und Zeit verlieren damit jeden Charakter von Rezeptivität. Als Weisen, wie das Mannigfaltige der Erscheinungen „in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann", wie Kant selbst sagt, stellen sie Projektionen dar, in denen das Nach- und Nebeneinander der Gegenstände ermöglicht wird. Die Auffassung, daß die reine Anschauung nicht ein dem Denken entgegenstehender denkfremder Faktor sei, sondern vielmehr Denken sei, sehen die Marburger bei Kant „von allen Seiten vorbereitet" 94 . Dabei stützen sie sich vor allem auf die Veränderungen in der zweiten Auflage der transzendentalen Deduktion der Kategorien, wo, vor allem in der Anmerkung zu § 26, der synthetische, also der Denkursprung der Zeit- und Raumanschauung angesprochen wird. „Indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt", werden „Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben" 95. 93 94 95

Kant, KrV, Β 74/B 76 f. Natorp, Kant und die Marburger Schule, S. 204. Kant, KrV, Β 161.

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Mit der Aufhebung der reinen Anschauung in reines Denken mußte aber auch das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige, die Gegebenheit der Empfindung als die Materie der Erkenntnis fallen. Wenn bei Kant der Verstand keine andere Funktion hatte, als mit dem in der Anschauung gegebenen Material zu „wirtschaften" 96 , ihm seine Form einzuprägen, aufzudrücken, so hatte doch das Material als Gegebenes schon eine eigene Festigkeit und Bestimmtheit; der Verstand hatte also ein denkfremdes Moment, ihm nicht zugängliches, außer sich. Die Transzendenz eines solchen Gegebenen konnte Cohen nicht akzeptieren. Die Gegebenheit selbst ist nach seinem Konzept schon Setzung. Die Mehrheit, die in dem gegebenen Mannigfaltigen steckt, stellt schon eine Bestimmung des Verstandes dar. Also kann das sogenannte Mannigfaltige nicht anders als das ganz Unbestimmte, vom Denken erst zu bestimmende bedeuten. Die Gegebenheit ist nicht der letzte Anker, das unerschütterliche Empfindungsdatum, sondern das erste und größte Problem der Erkenntnis. Wenn das wichtigste Ergebnis der transzendentalen Methode in dem erkenntnistheoretischen Fundamentalsatz besteht, daß der Gegenstand sich nach dem erkennenden Subjekt richten muß, nicht das erkennende Subjekt nach dem Gegenstand, wenn eine gesetzmäßige Beziehung zwischen beiden überhaupt begreiflich werden soll, so hatte dieses Resultat für Cohen die notwendige Konsequenz, daß „eine Revision dieser Grundelemente, welche die Scheidewand zwischen der reinen Anschauung und dem reinen Denken aufhebt, für die Behauptung und Verteidigung der Lehre unentbehrlich und unausweichlich" 97 sei. In der Logik der reinen Erkenntnis wird „die Revision der Grundelemente" gleich zu Anfang mit wuchtigen Worten proklamiert: „Dem Denken geht so eine Anschauung voraus. Auch diese ist rein, also ist sie dem Denken verwandt. Aber das Denken hat doch seinen Anfang in etwas außerhalb seiner selbst. Hier liegt die Schwäche in der Grundlegung Kants. Hier liegt der Grund für den Abfall, der alsbald in seiner Schule hereinbrach. Indem wir uns wieder auf den Boden der Kritik stellen, lehnen wir es ab, der Logik eine Lehre von der Sinnlichkeit voraufgehen zu lassen. Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muß. Das reine Denken in sich selbst und ausschließlich muß die reinen Erkenntnisse zur Erzeugung bringen. Mithin muß die Lehre vom Denken die Lehre von der Erkenntnis sein. Als solche Lehre vom Denken, welche an sich Lehre von der Erkenntnis ist, suchen wir hier die Logik aufzubauen 98." Cohen nimmt mit seiner „Revision der Kantischen Grundbegriffe" die Kantkritik der nachkantischen Philosophie in aller Schärfe wieder auf: Erkenntnistheorie, die nach den letzten Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis 96 97 98

Gawronsky, Dimitry: Das Urteil der Realität, Marburg 1910, S. 13. KTE 3 , S. 786. LrE 1 , S. 11 f.

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

fragt, muß immer schon auf der Suche nach den Erkenntnisbedingungen sich erkennend verhalten, „kann nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist" 9 9 . Die Annahme irgendeiner Art von Gegebenheit oder Vermögen muß deshalb notwendig dogmatisch sein, weil etwas vorausgesetzt wird, das als Erkenntnis noch gar nicht vorausgesetzt werden darf. Doch mit irgendetwas muß auch die Erkenntnistheorie anfangen. Der Zirkel, der sich hier auftut, und in den Erkenntnistheorie von vornherein unvermeidlich verstrickt ist, muß nicht ein schlechthin vitiöser sein. Das reine Denken „als das Denken der Erkenntnis" 100 nimmt das Problem der Letztbegründung als Problem der Selbstbegründung, des voraussetzungslosen Anfangs methodisch in einer Weise auf sich, daß es zunächst die Voraussetzung einer vorgängig gegebenen Erkenntnis von hoher Gewißheit macht, auf deren Möglichkeitsbedingungen sie dann reflektiert und sie schließlich als ihr Werk, das Werk des reinen Denkens identifiziert. „Die Schöpferkraft des Denkens kann dagegen nur von der Logik erst zur Offenbarung gebracht werden. Nur im Zusammenhang mit der Wissenschaft, mit dem Prototyp der Wissenschaften entdeckt die Logik die Eigenart und den Eigenwert des Denkens 101 ." Damit wäre Cohen aber noch nicht über Kant hinaus. In Ansehung der Methode will er auch gar nicht über Kant hinaus, ist wahrscheinlich auch gar nicht über Kant hinauszugehen. Über Kant hinaus glaubt sich Cohen nur, was die Radikalität des Weiterfragens angeht. Die Frage nach den Bedingungen provoziert die Frage nach den Bedingungen der Bedingungen usf. Cohens Analyse des in dieser Weise mit sich selbst beschäftigten Denkens, des diese Probleme reflektierenden Denkens, führt ihn zu der Auffassung, daß letzte Bedingungen weniger in ihrer inhaltlichen Qualität als ihrer Formqualität charakterisierbar sind: Sie sind immerfort nur Entwürfe, Grundlegungen, Hypothesen. Diese Bestimmungen des reinen Denkens sind Cohen zufolge am Material der Infinitesimalrechnung zur vollen Entdeckung gebracht worden. Die Infinitesimalmethode ist gleichsam das Paradigma, in dem die Kraft des reinen Denkens und das Problem des voraussetzungslosen Anfangs, „des Ursprungs" zur klaren Auszeichnung gelangen. Cohen argumentiert folgendermaßen 102 : Das Tangentenproblem der Geometrie, das Reihenproblem der Algebra und das Problem der Geschwindigkeit und Beschleunigung in der Physik hätten aus dem ihnen gemeinsamen Problem des Ursprungs (nämlich der Tangente, der Zahl und der Geschwindigkeit) zur Entdeckung der Infinitesimalmethode geführt. Dabei habe sich erwiesen, daß die aus dem Tangentenpunkt entstehende Kurve zu voller geometrischer 99

Hegel, Geschichte der Philosophie, Edition Glockner, S. 555 f. LrE 1 , S. 48. 101 LrE 1 , S. 20. 102 Diese Erwägungen sind im „Prinzip der Infinitesimalmethode" von Cohen historisch und systematisch durchgeführt worden. 100

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Bestimmtheit erst dadurch gelangt, daß man mit Hilfe der Infinitesimalanalyse das Gesetz ermittelt, das die Richtung der Kurve im Gesetzesausdruck realisiert. Die Objektivität der Kurve sei also weniger durch ihre Anschaulichkeit gesichert als vielmehr wahrhaft erst durch das mit der Infinitesimalmethode gefundene Gesetz erzeugt. Die Infinitesimalmethode aber entziehe sich aller Anschaulichkeit, in ihr sei aller Bezug auf Gegebenes vertilgt, sie sei als reine Konstruktion Erzeugnis reinen Denkens. In ihr werde das Endliche, das Gegebene aus der Unendlichkeit, dem Inbegriff des nur denkend Erfahrbaren, erzeugt. Das Unendliche sei der wahre Ursprung alles Endlichen. „Aber die Physik ist den Weg der Mathematik gegangen, der zur Hypothesis des Unendlichen führte. Aus der Bewegung sollte das Seiende, Masse und Kraft zur Bestimmung gelangen. So fiel dem Begriff des Unendlichen die Aufgabe zu, das Seiende zu entdecken. Diese Entdeckung ist die wahrhafte, die wissenschaftliche Erzeugung. Die Infinitesimalanalysis ist das legitime Instrument der mathematischen Naturwissenschaft. Hier beruhen alle ihre Methoden. In ihrer Gewißheit ruht die Gewißheit der Wissenschaft. Das Problematische auch, das ihr noch anhaftet, enthält den Grund und den Grad des Problematischen, der noch für die mathematische Naturwissenschaft obwaltet. Diese mathematische Erzeugung der Bewegung und durch sie der Natur ist der Triumph des reinen Denkens m." In der Reflektion auf die Leistungen der Infinitesimalanalysis für die mathematische und naturwissenschaftliche Erkenntnis erhält das erkennende Bewußtsein auch Aufschluß über seine eigene Tätigkeit. „Die Mathematik hätte andererseits nicht die eminente methodische Bedeutung für die Erkenntnis, wenn die Begriffe, die sie aus den Urteilen der Qualität ableitet, durch ihre Methoden und die Richtung ihrer Probleme nicht eine eigene Prägnanz, eine selbständige Bedeutung erlangten. So geschieht es, daß durch die mathematische Behandlung dem allgemeinen Gedanken eine Kraft, Bestimmtheit und Tragweite gegeben wird, welcher rückwärts den allgemeinen Gedanken beleuchtet; aber es ist kaum fraglich, daß selbständig von ihm jenes Licht ursprünglich nicht ausgestrahlt wäre. Das gilt auch vom Ursprung 104 ." Der „allgemeine Gedanke", der durch die Infinitesimalmethode zwar erst nachträglich „beleuchtet" wird, ist der vom Ursprungscharakter des Denkens als des Anfangs und Prinzips aller Erkenntnis. Das sich Rechenschaft gebende Denken findet in dem Begriff des - für Cohen wissenschaftskonstitutiven - Unendlichen ein Erzeugnis der eigenen Tätigkeit wieder. Das Denken erkennt sich damit als die das Sein erst erzeugende Gesetzgeberin, als den Ursprung der Dinge. „Das ist die Frage, das ist die Angelegenheit, um die es sich bei dem Infinitesimalen für die Logik handelt: die ungeschmälerte Sicherung, die uneingeschränkte, schöpferische Selbständigkeit des reinen Denkens. Nicht darauf also etwa beschränkt sich die Bedeutung der neuen Richtung für die Logik, daß 103



4

LrE 1 , S. 30. LrE 1 , S. 107.

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

an diesem Musterbeispiel der Infinitesimalrechnung der Triumph des reinen Denkens zu demonstrieren wäre, sondern die präzise Frage und die erlösende Antwort auf eine unerläßliche und unersetzliche Bedeutung des Denkens, als Erzeugung, ist aus der Analyse des Unendlichen zu gewinnen. Es ist das Problem des Ursprungs, welches die neue Rechnung aufgerichtet, und welches zugleich das Denken, als Erzeugung, zur Klarheit und zur Genauigkeit bringt 1 0 5 ." Wenn das Denken „die Grundlagen des Seins erschaffen" 106 soll, so hat es nichts außer sich. Es ist rein mit sich selbst beschäftigt. Cohen versucht, diese Tätigkeit des Denkens als Erzeugung zu charakterisieren. „Das Erzeugen bringt die schöpferische Souveränität des Denkens zum bildlichen Ausdruck 107 ." Der Grund für diese terminologische Festsetzung liegt darin, daß Cohen Mißverständnisse, die aus der psychologisch orientierten Verwendung des Wortes Denken resultieren, um jeden Preis ausschließen will. Denken bezieht sich nicht auf den Vorgang des Erkennens, auf den Denkvorgang, sondern Denken bezieht sich auf den Denkinhalt, also das Gedachte. Denken ist deshalb nicht gleichzusetzen mit Vorstellung. Indem das Denken zur Vorstellung nivelliert wird, werden die geltungslogischen Zusammenhänge von Idealitäten konfundiert mit der Phantasiewelt des empirischen Bewußtseins, mit dem „Zusammenhang von Erkenntniserlebnissen" 108 . Die wissenschaftliche Erfahrung, ihre Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge repräsentieren prototypisch Denkinhalte. Deshalb ist das Denken der Logik zunächst das Denken der Wissenschaft 109 . Cohen lehnt auch die Charakteristik des Denkens als Verbindung ab. Nicht so sehr, daß wegen seiner Bestimmung durch die englische Assoziationspsychologie und den Empirismus sich die Übersetzung des Denkens als Verbindung schon verböte, stört Cohen, sondern daß das Verbinden immer schon etwas voraussetzte, was verbunden werden muß, was außerhalb der Kompetenz des Denkens liegt. DieserEinwand trifft auch Kant, der das Denken zwar als Einheit der Synthesis Cohen zufolge richtig bestimmt, aber als „schlichten Mangel in der klaren Durchführung der Methode der Kritik" 1 1 0 , in der Einheit der Synthesis des Denkens das Mannigfaltige der Anschauung weiter voraussetzt. „Aber die Mathematik vermag nur durch ihre reine Anschauung das Geben zu leisten; als ob ihr das Denken versagt wäre. Auch die Synthesis im Ziehen einer Linie ist nicht sowohl Denken als vielmehr Anschauung. Und so bleibt es dabei, daß auch unter dieser Bedeutung des Gegebenseins kraft der Synthesis dasselbe nicht vom Denken her kommt. Das ist der Grundfehler der 105 106 107 108 109 110

LrE 1 , S. 32. LrE 1 , S. 18. LrE 1 , S. 25 f. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Bd. 1, S. 178, 4. Aufl., Halle 1928. Vgl. LrE 1 , S. 17. LrE 1 , S. 25.

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Sache in der Anlage der Synthesis. Dieser Fehler ist mit den Mitteln der kantischen Terminologie zu korrigieren. Und es ist nicht allein die Terminologie, in welcher die Wurzel des Übels läge, so daß man sie zu verbessern suchen müßte; sondern es ist ein Mangel in der Disposition 111 ." Auch das Denken in seiner Bedeutung als Erzeugen ist Einheit der Synthesis; bei diesem Begriff vom Denken macht nicht die Zusammensetzung und Zusammenstellung gegebener Elemente die Synthesis aus, sondern erst ihr Ergebnis. Dieses Ergebnis ist Einheit, Einheit der Synthesis. Auch die Mehrheit, die einer Einheit soll zur Voraussetzung dienen, muß, bevor sie diese Aufgabe erfüllen kann, erst einmal gedacht werden, d. h. erzeugt werden. Die Mehrheit muß aber als zu erzeugende immer erst als Einheit gedacht werden. Das Bild vom Denken als Erzeugen zielt neben dem Aspekt der Einheit ebenso auf den der im Erzeugen vollzogenen Tätigkeit. Das Gedachte ist nichts außerhalb des Denkens, es ist nicht da, um durchs Denken identifiziert, wiederholt oder wiedererinnert zu werden. Das Gedachte ist der Denkvollzug selbst, entsteht erst als Denkvollzug und hat kein anderes Sein. Deshalb kommt es „bei dem Erzeugen nicht sowohl auf das Erzeugnis (an), als vor allem auf die Tätigkeit des Erzeugens selbst. Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis. Es gilt beim Denken nicht sowohl den Gedanken zu schaffen, sofern derselbe als ein fertiges, aus dem Denken herausgesetztes Ding betrachtet wird, sondern das Denken selbst ist das Ziel und der Gegenstand seiner Tätigkeit. Diese Tätigkeit geht nicht in ein Ding über; sie kommt nicht außerhalb ihrer selbst. Sofern sie zu Ende kommt, ist sie fertig, und hört auf, Problem zu sein. Sie selbst ist der Gedanke und der Gedanke ist nichts außer dem Denken" 112 . Dieses schaffende, erzeugende Denken, das nichts Gegebenes außer sich hat, das alles Gegebene nur als Aufgabe letztmöglicher Bestimmung betrachtet, ist das Denken des Ursprungs. „Und wenn das Denken das Denken der Erkenntnis ist, so hat es seinen Ausgang und Grund in dem Denken des Ursprungs. Solange das Erzeugen nicht in dieser Prägnanz als das Erzeugen des Ursprungs gefaßt wurde, solange konnte das Denken durch das Erzeugen nicht zu klarer methodischer Bestimmung gelangen. Der Schein des Gleichnisses blieb auf ihm sitzen. Man kann jetzt den bildlichen Ausdruck fallen lassen. Denken ist Denken des Ursprungs. Dem Ursprung darf nichts gegeben werden. Das Prinzip ist Grundlegung in buchstäblicher Genauigkeit. Der Grund muß Ursprung sein. Wenn anders das Denken im Ursprung das Sein zu entdecken hat, so darf dieses Sein keinen anderen Grund haben, als den das Denken ihn zu legen vermag. Als Denken des Ursprungs erst wird das reine Denken wahrhaft 113 ." In der „Logik der reinen Erkenntnis" stellt sich das Problem aller letztbegründenden Philosophie: Aufschluß zu gewinnen über die Bedingungen, die 111 112

113

LrE 1 , S. 24 f. LrE 1 , S. 26. LrE 1 , S. 32 f.

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

die Gewißheit der Erkenntnis ausmachen. Solche Erkentnnisgewißheit dokumentiert sich in den Wissenschaften, vor allem in der mathematischen Naturwissenschaft. Die Analyse des wissenschaftlichen Denkens müßte deshalb, so lautet die fundamentale Hypothese der transzendentalen Methode, die Untersuchung über die Leistungen des erkennenden Bewußtseins am erfolgreichsten auf den Weg bringen. In der Infinitesimalrechnung konnte die „schöpferische Kraft des Denkens" entdeckt werden. Ihre Verfahrensweise bedeutete, daß mathematisch-naturwissenschaftliche Gegenständlichkeit die Setzung des Unendlichen zu ihrer notwendigen Voraussetzung hat. Das Unendliche aber entzieht sich aller Gegebenheit oder Anschaulichkeit, es ist Manifestation reinen Denkens. Das reine Denken ist „nicht das menschliche Denken" 114 ; es ist das Herstellen, Erzeugen von Geltungsprinzipien und -zusammenhängen, es ist das Medium, in dem der Grund für die Gewißheit der wissenschaftlichen Erkenntnis gelegt wird. In seinem erzeugenden Charakter ist das Denken ursprünglich. In der voraussetzungslosen Selbständigkeit seiner Erzeugungstätigkeit ist das Denken rein mit sich selbst beschäftigt, die Relationen, die es hervorbringt, sind reine Denkrelationen, Relationen reinen Denkens. Diese aus der Analyse der Infinitesimalmethode gewonnenen Entdeckungen werden im Aufbau der Logik der reinen Erkenntnis in der systematischen Entfaltung des Anfangs und Fortgangs des seine Formen ursprünglich erzeugenden Denkens gerechtfertigt.

4.2. Probleme und Konsequenzen: Idealismus ohne Subjekt?

Da die Logik der reinen Erkenntnis nicht nur eine Philosophie der Naturwissenschaften, sondern zugleich als „Grundlage des Systems" eine Allgemeine Logik oder Metaphysik begründet, die „genau bestimmt und deutlich formuliert, was Gewißheit der Erkenntnis zu bedeuten habe; worauf sie beruhe, worin sie bestehe; woran sie ursprünglich sich bezeuge; und ob und wie sie sich übertragen lasse" 115 , so müssen die allgemeine methodischen Bestimmungen der Logik samt ihren Konsequenzen auch für die Ethik Bedeutung haben. In den folgenden Ausführungen sollen deshalb zusammenfassend die Konsequenzen vergegenwärtigt werden, welche aus den Umstellungen der Kantischen Konzeption der Transzendental-Philosophie in der Cohenschen bzw. Marburger Konzeption der Transzendental-Philosophie resultieren. Thema der Logik der reinen Erkenntnis ist das Problem der Entdeckung und Begründung derjenigen Bedingungen, die die objektive Gültigkeit der Erfahrung verbürgen. Daß es solche objektiv gültige Erkenntnis gibt, steht für Cohen außer Frage. Im Faktum der Wissenschaften, vor allem in der mathematisch114 115

LrE 1 , S. 39. LrE 1 , S. 513.

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naturwissenschaftlichen Erfahrung, besitzen wir gültige Erkenntnis. Insofern die Philosophie Prinzipien erforscht, auf denen die Gültigkeit der wissenschaftlichen Erfahrung, „wie sie in gedruckten Büchern vorliegt", beruht, erweist sie zugleich die letzten Geltungsvoraussetzungen auch ihrer eigenen Urteile. Damit vermag die Philosophie auch die Gründe anzugeben, auf denen ihr eigener Anspruch auf Gültigkeit beruht. Die transzendentale Inquisition lehrt in der kopernikanischen Wende die „Drehung der Gegenstände um die Begriffe" 116 , die Abhängigkeit alles Seins vom Denken. All unsere Gegenstandserkenntnis hängt ab von den Prinzipien, auf denen die Gültigkeit unserer Erkenntnis vom Seienden beruht. Würde die Gegebenheit von Dingen unabhängig vom Denken und seinen Prinzipien vorausgesetzt, wäre die Aufklärung über die Gültigkeit unserer Erfahrungserkenntnis im Prinzip vereitelt. Die Cohensche Geltungslogik 1 1 7 behauptet also, daß die im reinen Denken, d. h. dem Denken der Wissenschaft erzeugten Prinzipien als „Grundlegungen" der letzte Grund aller gegenständlichen Erkenntnis seien. Das reine Denken, d. h. die die Wissenschaften fundierenden Gesetzlichkeiten, ihre logische Grammatik, stellt selbst kein Seiendes dar, wiewohl es im Cohenschen Sinne Realität hat; es ist weder ein Seiendes ontologisch-metaphysischer Qualität, worauf der Kategorialcharakter des reinen Denkens hinweisen könnte, noch ein realistisches Seiendes psychologisch-mentalistischer Provenienz, welche Ausdeutung durch die Formulierungen vom „reinen Denken" und seinen Erzeugnissen nahegelegt wird. Es fragt sich dann aber, welcher Status nun dem reinen Denken, dem wissenschaftlichen Bewußtsein, als Geltungsgrund gegenständlicher Erkenntnis zukommt. Damit zusammen hängt das Problem, welchen Status der Gegenstand der Erkenntnis, wenn ihm nur als rein denkerzeugtem Realität zukommt, hat. Die Fragen, die hier an die Logik der reinen Erkenntnis gestellt werden, betreffen die Grundprobleme der kritischen Erkenntnistheorie: es handelt sich um nichts anderes als die „Restprobleme" 118 der kantischen TranszendentalPhilosophie, nämlich den Status des transzendentalen Ich und des Ding-ansich. In der „Logik der reinen Erkenntnis" finden Subjekt überhaupt und Ding-ansich keine Erwähnung mehr. Wie aber sind die Probleme, die die kantische Erkenntnislehre an ihnen hatte, bewältigt? In der Cohenschen Konzeption der Transzendental-Philosophie hat der Gegenstand der Erkenntnis nur als Setzung des wissenschaftlichen Denkens Gültigkeit. Das wissenschaftliche Denken ist der Inbegriff der reinen Gegenstandsprinzipien, es bezeichnet jene logische Struktur, die die Gegenständlichkeit erst ermöglicht. Damit ist das Erkenntnisproblem in einer Sphäre angesiedelt, 116 KTE 3 , S. 676. 117 Vgl. dazu Brelage, Transzendentalphilosophie, S. 94 ff. 118 Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1. Aufl. 1921, hier zitiert nach der 4. Aufl. 1949, S. 160.

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

die dem Subjekt-Objekt-Dualismus noch voraufliegt 119 . In dieser logisch-idealen Sphäre reinen Geltens können Ding-an-sich und Subjekt keine rechte Stelle finden, beide werden, wie Hartmann formuliert, „zum Idealen depotenziert" 120 . Das im Kantischen Ding-an-sich bezeichnete Problem einer dem Erkennen prinzipiell transzendenten Gegenständlichkeit im Erkenntnisobjekt wird folgerichtig im Marburger Neukantianismus zur Idee des Gegenstandes. Da der Gegenstand in seinem An-sich-Sein nichts außerhalb dieser logisch idealen Sphäre ist, geht er völlig darin auf. Da er nichts Reales mehr anzeigt, das sich der begrifflich-kategorialen Erfassung sperrt, trotzdem aber in der Richtung des Objekts als Idee der vollständigen Gegenstandsbestimmung erhalten bleibt, wird er zur „unendlichen Aufgabe" der Erkenntnis des Gegenstandes. Da die logische Konstitutionsstruktur kein Subjekt hinter sich hat, löst sich das transzendentale Ich bei Cohen in das wissenschaftliche Denken auf. Der Gegenstand ist hier also nicht, wie in anderen idealistischen Theorien, subjektkonstituiert, sondern logos-konstituiert. Wie das Objekt in der resistenten Form des Ding-an-sich entmaterialisiert wird zur Aufgabe der Bestimmung des x, so wird in der idealen Sphäre das Subjekt aufgelöst in Gesetzlichkeit. Hartmann 121 sieht diesen „im Grunde subjektund objektlosen Standpunkt... der Sache nach in Hegels Logik enthalten und in reinster Form, wenn auch in dialektisch-aprioristischer Weise, durchgeführt. Vom Neukantianismus ist er in bewußtem und vielfach übertriebenem Gegensatz zu Hegel (mit direkter Verkennung Hegels) erneuert und in transzendental-methodologischer Weise auf die wissenschaftliche Erkenntnis umorientiert worden 122 ." 119

Vgl. dazu Hartmann, Grundzüge, S. 160; Brelage, Transzendentalphilosophie, S. 96. Hartmann, Grundzüge, S. 160. 121 Hartmann, Grundzüge, S. 161. 122 Auf die Übereinstimmungen zwischen Hegel und Cohen ist schon früh hingewiesen worden und beide philosophischen Konzeptionen sind häufig Gegenstand von Vergleichen gewesen, obwohl eine umfassende genaue und kritische Würdigung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Werk beider Philosophen immer noch fehlt. In Cohens eigener Beurteilung wird Hegel abschätzig unter Pantheismus und „romantischer Dekadenz" (LrE 1 , S. 270) subsumiert. So resümiert er in der „Ästhetik des reinen Gefühls", Bd. 1, S. 13: „Im Grunde ist das Prinzip der Romantik das Mißtrauen und die Feindschaft gegen die wissenschaftliche Erkenntnis, das ist und bleibt der geheime Sinn derjenigen Losung, die man Metaphysik nennt." Und an anderer Stelle: „Hegel glaubte gewiß, über die Ontologie hinaus zu sein; denn er konnte ja so munter über Sätze der Identität und des Widerspruchs spotten; aber er spottete nur seiner eigenen Ketten. Er hat die Ontologie nur wieder in Fluß gebracht; nach seinem Stil würde man sagen können, er habe sie auf die Beine gebracht. Der Begriff trat jetzt seine dialektische Bewegung an, in welcher alles Sein als Selbstentfaltung des Begriffs sich aufrollte. Es blieb also bei der Ontologie; der Begriff, der logos war das Sein; und die Selbstverwandlung des Begriffs, das ist die Möglichkeit. Wie er mit dieser Möglichkeit gegen Newton argumentierte, das hat der Philosophie den schwersten Schaden zugefügt; es hat sie von dem platonischen Wege abgelenkt, den Kant zu den Triumphen des Systems emporgeführt hatte. Empfindlicher aber waren noch die unmittelbaren Folgen davon für die allgemeine Kultur; für die Religion; für das Recht; für den Staat; für die Geschichte überhaupt. Die scheinbare on120

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tologische Souveränität hatte den realistischen Schalk im Nacken; der diktierte ihr, was sie bedeuten sollte, bedeuten dürfte" (LrE 1 , S. 359). Natorp nimmt den Hinweis auf die Übereinstimmungen zwischen Fichte, Hegel und dem Marburger Neukantianismus auf und relativiert ihn, indem er betont, daß die Marburger Kantkritik, also die Kritik am Kantischen Dualismus von Anschauung und Denken, am Ding-an-sich „ganz auf die Bahnen Fichtes und Hegels wieder" (Kant und die Marburger Schule, S. 210) einzumünden scheint. „Sonst gehen wir mit Hegel in recht vielem zusammen, man könnte fast sagen: er teilt mit dem in unserem Sinne gedeuteten und weiter entwickelten „kritischen Idealismus" alles Wesentliche, bis auf das eine: seinen Absolutismus. Der Absolutismus Hegels bedeutet, trotzdem er auf dem „Prozeß", auf der Bewegung der Begriffe fußen soll, dennoch in Wahrheit eine Stillstellung des Gedankens. Sein Weltgang ist in den bekannten vier Perioden vollendet, fertig. Das ist es, was wir niemals mitmachen werden" (ebd., S. 213). Troeltsch streicht in seiner plastischen und aufs Wesentliche gehenden Sprache vor allem die Unterschiede beider Konzeptionen hervor. Seine Zusammenfassung soll hier deshalb stellvertretend für andere kurz wiedergegeben werden. „Für Cohen ist der Prozeß lediglich ein vom menschlichen Denken mit apriorischer Notwendigkeit geschaffenes Gedankenbild, für Hegel eine lebendige Bewegung der Gottheit selbst, die der endliche Geist an jedem Punkte seiner Stellung innerhalb der Entwicklung aus seiner eigenen, im absoluten wurzelnden Lebenstiefe und Lebensbewegung als absolute Realität rekonstruieren kann. Für Cohen ist der Prozeß ein unendlicher, unabschließbarer Progreß der Annäherung an ein Vernunftideal, für Hegel ein an jedem Punkte seine ganze Fülle in sich tragendes und auf der höchsten Stufe nur sich voll explizierendes Leben. Für Cohen ist die Rationalisierung der Bewegung in Natur und Geschichte ein mathematischer Rechnungsbegriff, für Hegel ist sie die lebendige Entzweiung und Versöhnung des Lebens, die nur durch die völlig antimathematische Dialektik zur Einheit des göttlichen Lebens oder Vernunftprozesses versöhnt werden kann. Für Hegel ist sein „Begriff' die Aufnahme der großen romantisch-historischen Schule in die Notwendigkeit eines Entwicklungsbegriffes, für Cohen ist die Erzeugung des wissenschaftlichen Gegenstandes und die moralische Zweckbeziehung der radikale Ausschluß aller Romantik und ihrer Historie; die Romantik ist ihm der Sündenfall. Mit Hegel gemeinsam ist Cohen nur die Theorie der Gegenstandserzeugung durch Denken und die Rationalisierung der Bewegung der völlig zu Funktionen aufgelösten Gegenstände, wozu er nur eine sehr viel rationalistischere Theorie verwendet als Hegel. Aber völlig abgelehnt ist der von Hegel damit verbundene und von den Erlebnistheoretikern so verselbständigte Drang zur Unmittelbarkeit des Realen und des Lebens, zur Anschauung und individuellen Konkretheit. Cohen will mit Hegel das rationalistisch-systematische, alles Sein umfassende Wesen der Dialektik, aber nicht deren anschauliche, lebendige, in sich selbst vibrierende, spezifisch historische Dynamik. Hegel arbeitet aus der Historie, Cohen aus der abstrakten Vernunft heraus" (Der Historismus und seine Probleme, S. 545). Aus der Literatur zum Thema Hegel und Cohen sind hervorzuheben: von Aster, E.: Neukantianismus und Hegelianismus. Eine philosophiegeschichtliche Parallele, in: Münchener Abhandlungen, Theodor Lipps zu seinem 60. Geburtstag, Leipzig 1911; Hartmann, Nicolai: Systematische Methode, in: Logos I I I (1912), Heft 2; Natorp, Paul: Kant und die Marburger Schule, in: Kantstudien XVII (1912), S. 210 ff.; Hartmann, Nicolai: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1. Auflage 1921, S. 160 ff. (nach der 4. Auflage (1949) zitiert); Troeltsch, Ernst: Der Historismus und seine Probleme, 1. Band: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen 1922, S. 544 ff.; Gordon, Jakob: Der Ichbegriff bei Hegel, bei Cohen und in der Südwestdeutschen Schule hinsichtlich der Kategorienlehre untersucht, 1. Teil: Der Begriff des Denkens bei Hegel und Cohen, Hamburg 1926, S. 46 ff.; Levy, Heinrich: Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus, Berlin 1927, S. 3 ff.; Heinemann, Fritz: Neue Wege der Philosophie, Leipzig 1929, 78 ff.; Gadamer, Hans-Georg: Die philosophische Bedeutung Paul Natorps, in: Kantstudien 66 (1954-55), S. 129 ff. (133), auch als Vorwort abgedruckt in: Natorp, Paul: Philosophische Systematik, Hamburg 1958, S. XVI; Marx, Wolfgang: Hegels Theorie logischer Vermittlung, Stuttgart 1972, S. 22 ff.; ders.: Idealität als dialektisch konstruierbare Totalität und als Hypothese der Fundierung wissenschaftlicher Geltung. Überlegungen zur Theorie des Begriffs bei Hegel und Cohen, in: Hegeltage 1970, S. 515 ff.; Heintel, Erich:

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Die Rede vom „im Grunde Subjekt- und objektlosen Standpunkt" verunklart allerdings, in welcher Weise die Subjekt-Objekt-Relation als erkenntnistheoretisches Problem in der Logik der reinen Erkenntnis, wenn auch in verdeckter Weise, seine Behandlung gefunden hat. Wenn das wissenschaftliche Denken den Gegenstand erzeugen soll, so hat die mit dem Denken gemeinte logische Struktur determinierende Kraft über über den Gegenstand. In Cohens fortwährender Berufung auf den parmenidischen Grundsatz der Identität von Denken und Sein, kommt dem Denken gegenüber dem Sein Präponderanz zu, d. h. Cohen wendet Parmenides rationalistisch 123 . Aus dieser Präponderanz des Denkens folgt die Abhängigkeit des Gegenstandes der Erkenntnis vom Denken. „Das Sein ruht nicht in sich selbst; sondern das Denken erst läßt es entstehen 1 2 4 ." Der Gegenstand ist nicht gegeben, sondern „aufgegeben". Er stellt das Problem dar, das das wissenschaftliche Denken zu lösen hat. Das wissenschaftliche Denken legt mit seinen Kategorial-Hypothesen den Grund für die Konstitution des problematischen Gegenstandes. Damit wird deutlich, daß das wissenschaftliche Denken als Inbegriff der Gegenstandsprinzipien den Charakter einer „ins Logische projizierten Subjektsfunktion" 125 trägt. Die hypothetischen Setzungen, nämlich jene Gegenstände der Erkenntnis, gibt es nur für und durch die Leistung der erkennenden Subjektivität. Diese erkennende Subjektivität wird aber nicht zurückbezogen auf ein Ich, sondern stellt ein System von reinen Gegenstandsprinzipien (Kategorien) dar. Nur durch dieses haben wir überhaupt Gegenstände. Schon oben war festgestellt worden, daß bei der Präponderanz des subjekt-substituierenden Erzeugungsdenkens die Gegenständlichkeit zur Aufgegebenheit, zum Problem 126 oder Vorwurf wird. Konsequent bleibt auch für die Empfindung, das Erfahrungsdatum kein Raum. Die empirische Tatsache ist nicht der Anfang der Wissenschaft, sondern bleibt ihr Desiderat. „Unsere Losung lautet: gegen die Selbständigkeit der Empfindung; aber für den Anspruch der Empfindung 127 ." Es gibt also keine Rezeptivität, kein Mannigfaltiges der Anschauung, das empfangen wird mehr, sondern nur noch Spontaneität, die sich der problematischen „Tatsache" Paul Natorps philosophische Systematik. Ein Beitrag zum Problem des „Anfangs" in der Philosophie, in: Hegeltage 1970, S. 505 ff. Die Berührungspunkte und Gegensätze zwischen der Marburger Schute und Fichte versucht Josef Solowiejcyk in seiner Dissertation: Das reine Denken und die Seins-Konstituierung bei Hermann Cohen, Berlin 1930, S. 51 f., herauszuarbeiten. 123 Vgl. dazu: March, Die Lehre vom erkennenden Subjekt, S. 369. 124 LrE 1 , S. 28. 125 So Hartmann, Grundzüge, S. 163; Zum Marburger logischen Subjektivismus oder „Subjektivismus ohne Subjekt" (vgl. Hartmann, S. 163), „Idealismus ohne Subjekt" (Brelage, S. 97) vgl.: Marek, Siegfried: Die Lehre vom erkennenden Subjekt in der Marburger Schule, in: Logos IV (1913), S. 364 ff.; Brelage, Manfred: Transzendental-Philosophie und konkrete Subjektivität. Eine Studie zur Geschichte der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, in: Studien zur Transzendental-Philosophie, Berlin 1965, S. 94 ff. 126 Die fortwährende Betonung des Gegebenen als eines „Problems" im Marburger Neukantianismus trug ihm auch die Bezeichnung „Problematismus" ein. 127 LrE 1 , S. 406.

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asymptotisch, in immer neuen Hypothesenversuchen, nähert. „Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis 128 ." Unter dieser Voraussetzung, daß von einem Gegebenen, im Sinne eines Fertigen, Abgeschlosssenen, nicht gesprochen werden darf, sondern der Erzeugungsprozeß von Gegenständlichkeiten, die methodischen Leistungen kategorialer Stiftungen einzig Sicherheit verbürgen, hat Natorp die Erkenntnis als Fieri zu charakterisieren versucht. Die Erkenntnis ist nicht in dem Faktum der mathematischen Naturwissenschaft bewahrt, sondern, da diese Erkenntnis unabgeschlossen, in Verwandlung begriffen ist, nur im Fieri der Wissenschaften. „Der Fortgang, die Methode ist alles; im lateinischen Wort: der Prozeß. Also darf das „Faktum" der Wissenschaft nur als „Fieri" verstanden werden. Auf das, was getan wird, nicht was getan ist, kommt es an. Das Fieri allein ist das Faktum: alles Sein, das die Wissenschaft „festzustellen" sucht, muß sich in den Strom des Werdens wieder lösen. Vor diesem Werden aber, zuletzt nur von ihm, darf gesagt werden; es ist 129." Indem aber dem Denken kein Mannigfaltiges mehr gegeben wird, dem es seine Form aufprägt, sondern das Substrat in Denkrelationen aufgelöst wird, entpuppt sich der logische Apriorismus als „reiner Relationismus" 130 . In Cohens Formulierung, daß es als „eine unauflösliche, abenteuerliche Paradoxie (erscheint), daß das Denken seinen Stoff sich selbst erzeugen soll" 1 3 1 , ist diese Schwierigkeit ausgedrückt, daß das Denken keinen Widerstand an der Sperrigkeit eines Ding-an-sich des Gegenstandes findet, trotzdem aber den Gegenstand zur Bestimmung bringen will. Damit ist das Problem der Gültigkeit der Kategorien, welches Kant in der transzendentalen Deduktion der Kategorien behandelt, angestoßen. Die Kategorien erweisen ihre Legitimität bei Kant dadurch, daß sie Erfahrung ermöglichen. Die Erfahrung als Inbegriff gesetzlich verknüpfter Erscheinungen hat Geltung, weil sie kategorial bestimmt ist. Dieser Zirkel erweist sich als notwendig, weil die Erkenntnis auf Transzendentes, außerhalb ihr Liegendes nicht angewiesen sein darf. Unser gesamtes Erfahrungswissen erscheint als zufällig, weil es nur unter der Voraussetzung der Kategorien gilt. Diese Konsequenz wird von Cohen in seiner frühen Phase scharf hervorgehoben, und er bezeichnet sie im Anschluß an Kant als intelligible Zufälligkeit. Die Zufälligkeit der Erfahrung zu überwinden, ist das Ding-an-sich berufen. Es stellt als Grenze der Erfahrung die Aufgabe dar, die Zufälligkeit der Erfahrung zu überwinden. Es ist noumenon im negativen Verstände, d. h. es konstruiert nicht eine uns un128 LrE 1 , S. 26. Daß dieser wichtige Grundsatz der Cohenschen Logik nur unbewiesenes „Postulat" bleibe, betont Kurt Lenk in „Kritik der logischen Konstanten", Berlin 1968, S. 476. 129

Natorp, Paul: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaft, Leipzig und Berlin 1910, S. 14. 130 Hartmann, Grundzüge, S. 164. 131 LrE 1 , S. 43.

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

bekannte Gegenwelt, sondern bleibt, bezogen auf die Erfahrung, die es begrenzt. In der Logik der reinen Erkenntnis ist von der Lehre der intelligiblen Zufälligkeit ebenso wie von der transzendentalen Deduktion der Kategorien dem Kernproblem der Kritik der reinen Vernunft, keine Rede mehr. Die transzendentale Deduktion der Kategorien ist überflüssig geworden, da das reine Denken die Gegenstandserzeugung allein übernimmt. „Es gilt nicht mehr danach zu fragen, ob das Denken überhaupt zu Recht besteht Es kann nur gefragt werden, wie das Denken seine Leistung vollziehe, und es wird gezeigt, indem der Zusammenhang der logischen Funktionen entwickelt wird 1 3 2 ." Es ist also kein dem reinen Denken gegenüber Gegenständiges mehr vorhanden, welches Widerstand leisten könnte; das Denken stellt sich seine Probleme, die nur für es selbst da sind, vielmehr selbst. Die Rechtfertigung einer Kategorie ist allerdings noch nicht dadurch gegeben, daß die Kategorie gegenstandserzeugende Funktion hat, denn das folgt aus ihrem Begriffe; sondern ihre Legitimation erhält sie erst dadurch, daß sie im System der Kategorien eine notwendige Stelle bei der Konstitution des Gegenstandes einnimmt. Durch das System der Kategorien wird noch nichts Bestimmtes am Gegenstand erkannt, sondern es ermöglicht allein, daß es überhaupt Gegenstände für die Erkenntnis gibt. Danach wird die Rede von der intelligiblen Zufälligkeit sinnlos. Denn von Gegenständen kann überhaupt nur gehandelt werden unter der Voraussetzung der Kategorien. Eine der Erkenntnis transzendente Gegenwelt des Denk-an-sich ist danach ausgeschlossen; im Denkkontinuum besteht seinem Begriffe nach nur kategoriale Stiftung; für intelligible Zufälligkeit bleibt kein Raum mehr. Doch woran läßt sich dann die Wahrheit der Erkenntnis prüfen, wenn das Denken nirgendwo Widerstand hat? Hartmann hat diese anscheinend offene Flanke 133 der Marburger Theorie scharf attakiert, ohne allerdings die untergründigen Bezüge seiner Ontologie mit der Cohenschen Konzeption aufzudekken. „Wenn das Denken allein in autonomer Unbeschränktheit bestehen bleibt und der Gegenstand nichts als Funktion des Denkens ist, wie unterscheidet sich dann noch Wahrheit und Unwahrheit des Denkgebildes? Etwa durch innere Übereinstimmung des Denkens? Aber die Übereinstimmung könnte ja in sich vollkommen sein, ohne doch die einzig mögliche zu sein. Die Wahrheit aber kann nur eine sein. Hat sie keinen Gegenhalt an einem denkfremden Moment, gibt es neben den relationalen Idealurteilen keine auf Tatsachen basierende Realurteile, wie kann sich dann in der „Funktion des Denkens" die wirkliche Welt von einem möglichen mundus fabulosus unterscheiden? Das immanente Kriterium kann die Wirklichkeit nicht von der Möglichkeit unterschei132

Gordon, Der Ich-Begriff, S. 53. Allerdings ist dem entgegenzuhalten, daß das reine Denken immer nur auf Erkenntnis, d. h. auf die in den Wissenschaften dokumentierte Erkenntnis bezogen bleibt. Die implizite Annahme ist, daß, wenn überhaupt von Erkenntnisgewißheit gesprochen werden kann, diese in den Wissenschaften aufgehoben ist. Cohen bekämpft deshalb alle Ontologie, die die Erkenntnis oder Wahrheit außerhalb der Wissenschaften glaubt bestimmen zu können. 133

2. Kap.: 4. Die „Logik der reinen Erkenntnis"

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den, selbst wenn es das Ganze eines unendlichen, ewig unabgeschlossenen Denkzusammenhanges zur Basis hat. Denn es ist evident, daß sich ein solcher auch auf einen mundus fabulosus beziehen könnte 134 ." Wenn eben von der heimlichen Verwandtschaft der Hartmannschen Ontologie zur Grundkonzeption des Marburger Neukantianismus gesprochen wurde, so war damit gemeint, daß es Cohen in seiner letzten Intention darum ging, die elementare Kategorial-Struktur zur Entdeckung und Rechtfertigung zu bringen, die, den Dingen nicht ablesbar, alles Sein der Dinge bestimmt. Mit dieser verborgenen, durch die Dinge hindurchgehenden Struktur, jener logischen Grammatik des Systems der Gesetzlichkeiten der Dinge, ist die Idee der Leibnizschen Charakteristika universalis von Cohen wieder aufgenommen worden. Es bedurfte bei Hartmann nur des Austauschs der idealistischen Voraussetzungen durch realistische, um diese „allgemeine Invariantentheorie der Erfahrung" 1 3 5 in den kategorialen Schichtenaufbau der Welt einzufügen. In Cohens Absicht, das Sein aus dem Denken zu erzeugen, die Gesetzlichkeiten zu begründen, die das Sein der Dinge bestimmen, steckt aber, wendet man es wissenssoziologisch oder ideologie-kritisch, mehr. Horkheimer hat scharfsichtig darauf hingewiesen, daß in der „Hypostasierung des logos" im Neukantianismus Marburger Prägung eine „verkleidete Utopie stecke, sofern nämlich „die Vernunft in einer zukünftigen Gesellschaft tatsächlich die Ereignisse bestimmen soll" 1 3 6 . Horkheimer knüpft bei dieser Deutung in seinen knappen Ausführungen an die Cohensche Ausdrucksweise vom „Erzeugungsdenken" an. Er kritisiert als „falsches Selbstbewußtsein des bürgerlichen Gelehrten unter der liberalistischen Ära" 1 3 7 , daß mit der ,Erzeugungs'theorie des Denkens „entscheidende Züge des gesellschaftlichen Lebens auf die theoretische Tätigkeit des Gelehrten reduziert" 138 werden. In der Tat fällt es ins Auge, wie stark Cohens grundlegende Begrifflichkeit, mit Begriffen aus der Produktionssphäre übereinstimmen. Erzeugung, Erzeugnis, Konstruktion, Aufgabe, schöpferische Kraft, all diese Begriffe verweisen auf den Prozeß der Produktion bzw. Herstellung von Gegenständlichkeiten. Im Cohenschen Entwurf wird zum Produzenten der Natur die Wissenschaft. Was noch nicht von der wissenschaftlichen Vernunft überwältigt und unterworfen, noch nicht völlig wissenschaftlich erfaßt, bestimmt und durchdrungen ist, hat nur problematische Existenz. Das utopische Moment, das Horkheimer hier - durch das falsche Selbstbewußtsein des bürgerlichen Gelehrten mystifiziert - enthalten sieht, betrifft die Idee der Unterjochung der Natur, der Naturüberwindung und Naturbeherrschung 134

Hartmann, Grundzüge, S. 166. Vgl. Cassirer, Substanzbegriff, S. 356. 136 Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VI, Paris 1937, Heft 2, S. 245 ff., hier zitiert nach der Neupublikation: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt 1970, S. 12 ff. 137 Ebd. 138 Ebd. 135

14 Winter

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1. Teil: Die historischen und systematischen Grundlagen

durch den Menschen. Wenn Horkheimer bemängelt, daß im Grunde in der Cohenschen Konzeption der wissenschaftliche Beruf, der ein unselbständiges Element in der gesellschaftlich-geschichtlichen Aktivität und Arbeit bilde, an deren Stelle gesetzt werde und diese isolierende Betrachtung eine Einseitigkeit zur Folge habe, „welche durch die Abhebung intellektueller Teilvorgänge von der gesamtgesellschaftlichen Praxis notwendig entstehe" 139 und Cohen deshalb mit seiner auf die Theorie der mathematischen Naturwissenschaften fixierten Perspektive der Blick auf „die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft" 140 verstellt gewesen sei, so verfehlt diese Kritik, soweit sie Cohen meint, jedenfalls teilweise ihr Ziel. Horkheimer bezieht sich für seine Argumentation nur auf die „Logik der reinen Erkenntnis", unterschlägt aber Cohens Theorie der Moral. Wie stark das messianisch141-ethische Motiv die Erkenntnis- und Naturtheorie Cohens mitbeeinflußt, war schon bei der Darstellung der frühen Konzeption gezeigt worden. Bereits „Kants Begründung der Ethik" war von dem Gedanken der „Umschaffung des Menschen", der Überwindung seiner Tiernatur durch die Vernunft durchdrungen gewesen. Der „messianische Mathematizismus" 1 4 2 der Logik der reinen Erkenntnis zielt mit der „unendlichen Aufgabe" der Naturerkenntnis und Naturerzeugung zugleich immer auf die völlige Naturbeherrschung. Mit der, kraft seiner Vernunft, möglichen Erkenntnis der Natur und damit der Befreiung von der Natur, also auch von seiner eigenen Natur als Naturwesen, kann der Mensch den Weg auf jenes Reich der Freiheit zugehen, wo nicht mehr der Naturzwang regiert, sondern „das Interesse an vernünftigen Zuständen" 143 die Verhältnisse bestimmen soll. Horkheimer trifft deshalb Cohen nicht, wenn er ihm als Exponenten „traditioneller" Theorie schlicht einen beschränkten Begriff von Philosophie unterstellt. Das „Interesse an vernünftigen Zuständen" gehört für Cohen schon immer und ganz selbstverständlich nicht nur zur Dimension philosophischer Fragen, sondern zum Ziel philosophischer Bemühungen überhaupt. Darüber konnte für Cohen nie Zweifel bestehen. Darin bestand für ihn die Grundlage und Rechtfertigung philosophischer Arbeit überhaupt. Probleme mußten erst dort entstehen, wo es um die Frage ging, was vernünftige Zustände seien und wie sie begründet werden könnten. Die Möglichkeit der Erkenntnis eines Reichs des Sollens, das war für Cohen das Problem, mit welchem das „Inter139

Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S. 21. Ebd. 141 Während Horkheimer bei seinem Deutungsversuch Cohens falsches Selbstbewußtsein als bürgerlicher Gelehrter in den Vordergrund stellt, betont Troeltsch unter religionssoziologischem Aspekt die Bedeutung des Messianismus für die jüdischen Gelehrten der Emanzipationsepoche, insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. Troeltsch, Der Historismus, S. 542. 140

142 143

Troeltsch, Der Historismus, S. 545. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S. 21.

2. Kap.: 4. Die „Logik der reinen Erkenntnis"

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esse an vernünftigen Zuständen" in die Bahnen philosophischer Fragestellungen gelenkt war. Mit der Eröffnung dieser Fragestellung war sogleich der Bezug auf die Erkenntnistheorie, auf die Logik der reinen Erkenntnis gewiesen, in der die methodische Disposition für die Frage nach den Bedingungen der möglichen Erkenntnis des Guten getroffen war. Wenn es im folgenden um die Begründung der Cohenschen Ethik geht, so muß deshalb zunächst dieser Bezug der Ethik auf die Logik der reinen Erkenntnis auseinandergelegt werden. Das Interesse an vernünftigen Zuständen bleibt solange frommer Wunsch, als nicht Aufklärung über den Zusammenhang von Natur, Erkenntnis und Sittlichkeit erzielt worden ist. Diesen Zusammenhang immer im Blick behalten zu haben, bleibt das große Verdienst Cohens in einer Zeit, in der die Morallehre größtenteils unter Psychologie und Biologie verrechnet wurde.

14'

Zweiter

Teil

Cohens B e g r ü n d u n g der E t h i k Erstes Kapitel Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

1. Historische Vergegenwärtigung: Cohens E t h i k i m Verhältnis zu den ethischen Konzeptionen a m Ausgang des 19. Jahrhunderts

Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf Deutschland übergreifende empiristische Wende mußte unter den Disziplinen der spekulativen Philosophie vor allem diejenige in die Krise stürzen, deren Bestimmung es war, nicht von dem zu handeln, was ist, sondern von dem, „was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht"1. Von der Krise der Moralphilosophie ließen sich nur jene Hegelianer nicht anfechten, denen an der Vernünftigkeit des Wirklichen kein Zweifel aufkam und denen deshalb auch das Scheitern der Revolution von 1848 als das wohlkalkulierte Geschäft des Weltgeistes erschien. Der De-factoPositivismus der Althegelianer aber harmonierte aufs beste mit dem aufblühenden Historismus, Positivismus und Sozialevolutionismus, denn alle richteten ihr Interesse vornehmlich auf die Erforschung und Auslegung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, nicht allerdings in praktischer als vielmehr theoretischer Absicht. Im übrigen unterfielen die apriorischen, rationalen Begründungsversuche der Ethik dem Verdikt der schieren Begriffsmetaphysik. Unter Hinweis auf die in unermüdlicher Kleinarbeit zusammengetragenen Massen empirischen Wissens über die Verschiedenartigkeit von Moralen, Konventionen und Gebräuchen triumphierte der Moralskeptizismus. Die Unsicherheit und Konfusion, die die Vielfalt der Pflichten- und Tugendlehren, welche von der Spekulation jeweils mit dem Anspruch der Erkenntnisgewißheit aus einem vorausgesetzten Moralprinzip, dem Wesen des Menschen oder Gott de1

Kant, G MS, BA 62.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

213

duziert w o r d e n waren, hinterlassen hatten, konnte den moralischen Agnostizismus n u r unterstützen. Den G r u n d für den Zweifel an den Erkenntnismöglichkeiten der Moralphilosophie meinte man klar diagnostiziert zu haben: Die Moralphilosophie hatte jenes Feld mißachtet, das einzig sicheres Wissen gewährleisten konnte: die Erfahrung. Moralphilosophie mußte also Erfahrungswissenschaft werden, wollte sie w e i t e r h i n beanspruchen, Erkenntnis von wissenschaftlicher Dignität zu produzieren. Konsequent w u r d e deshalb das Reich des Sollens i n die Natur zurückverlegt, w u r d e n die Gesetze der Naturgeschichte zu Prinzipien der Sittlichkeit. Unter solchen Voraussetzungen begann sich die Ethik allmählich aufzulösen u n d ihre Kompetenzen an die Wissenschaften v o m Menschen, der Geschichte, v o m Staat, an Psychologie, Biologie u n d vergleichende Sittengeschichte abzugeben. U n d was für die Moralphilosophie, das galt für die Rechtsphilosophie gleichermaßen 2 . 1875 stellte Dilthey fest: „Die Moralphilosophie schleppt gegenwärtig i h r Dasein n u r noch auf den Kathedern h i n u n d beginnt selbst auf diesen auszusterben 3 ." 2 Aus der Sicht des Historismus symptomatisch Dilthey : „Dies Problem, welches sich das Naturrecht stellte, ist nur lösbar im Zusammenhang der positiven Wissenschaften Rechts Hieraus folgt, daß es eine besondere Philosophie des Rechts nicht gibt, daß vielmehr ihre Aufgabe dem philosophisch begründeten Zusammenhang der positiven Wissenschaften des Geistes wird anheimfallen müssen". (Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883, GS I, S. 79.) Nach 1850 gibt es außer dem „Naturrecht auf dem Grunde der Ethik" (1860, 18682) von F. A. Trendelenburg, dessen literarischer Erfolg als anti-hegelianischer Aristoteliker genau dem „Zeitgeist" entsprach, keine neue bedeutsame selbständige Rechtsphilosophie. Allerdings wuchs unter dem Einfluß sowohl des Aristotelismus, wie er von Trendelenburg einflußreich verkörpert wurde, und des westeuropäischen Empirismus (Comte, Mill) und Evolutionismus (Darwin, Spencer) eine sich unphilosophisch gebende juristische „Metaphysik" heran, die für die Renaissance der Ethik in den achtziger Jahren wichtig werden sollte: Rudolf von Jhering „Der Zweck im Recht", 1. Bd., 1. fyifl. 1877, 2. Bd., 1. Aufl. 1883; Georg Jellinek „Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe", Wien 1878. Vgl. zum Einfluß Benthams auf den späten Jhering: Coing, Helmut: Benthams Bedeutung für die Entwicklung der Interessenjurisprudenz und der allgemeinen Rechtslehre, in: ARSP1968, S. 69 ff. Daneben vermochten sich Hegelianer wie Adolf Lasson (System der Rechtsphilosophie, 1882) mit der Zeitströmung sehr gut zu vereinbaren, da für sie im gegebenen Recht das richtige Recht immanent war. Die „Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie" (1881) des Immanenzphilosophen Wilhelm Schuppe sind bereits ganz auf eudämonistisch-empirischer Grundlage aufgebaut. Ferner: Bierling: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, 2 Bde., (1877); Baumann: Handbuch der Moral nebst Abriß der Rechtsphilosophie (1879); Byk: Rechtsphilosophie (1882); Harms, Begriff, Themen und Grundlegung der Rechtsphilosophie (1885). Im übrigen dominieren Reprisen und Neuauflagen: Die christlich-konservative „Philosophie des Rechts" von Stahl, 2 Bde., 1830-1837, erscheint 1878 in der 5. Auflage. Das 1846 aus dem Französischen übersetzte Werk des Krausisten Ahrens „Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates" erscheint in der 6. deutschen Auflage 1870; Roeders Naturrecht (1846) in 2. Auflage 1860. Zu erwähnen ist noch die an Ludwig Feuerbach orientierte Rechtsphilosophie Ludwig Knapps: „System der Rechtsphilosophie", 1857, die schon ganz von der positivistischen Resignation vor dem Rechtsinhalt bestimmt ist. 3 Wilhelm Dilthey : Über das Studium der Geschichte, der Wissenschaften vom Menschen der Gesellschaft und dem Staat, 1875, in: GS V, S. 33. Allerdings muß - im Zusammenhang mit der Fußnote oben - hinzugefügt werden, daß Dilthey das Heil der Moralphilosophie ebenfalls in der Empirie suchte: „Demgemäß ist die erste Bedingung für die Wiederherstellung der Moralphilpsophie aus ihrem Verfall die Einführung der geschieht-

des

214

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Als gegen Anfang der achtziger Jahre, u n t e r d e m drohenden Vorzeichen der „sozialen Frage" 4 , die philosophische Beschäftigung m i t Problemen der M o r a l breit einsetzte 5 u n d die Ethik i m K a n o n der philosophischen Disziplinen wieder an Bedeutung gewann, hatte m a n zwar die normative Dimension ethischen Fragens wiedergewonnen, doch blieb die B e g r ü n d u n g u n d Rechtfertigung der M o r a l p r i n z i p i e n den Aporien des Naturalismus verhaftet. Das hing m i t d e m i n der Folge der empiristischen Wende überhaupt veränderten Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften zusammen. Als Erkenntnis konnte Geltung n u r beanspruchen, was auf Tatsachen, Beobachtungen beruhte, was an „Tiegel u n d Retorte" nachprüfbar war. Diesem a m Ideal der Naturwissenschaften orientierten Erfahrungsbegriff mußte sich die Philosophie u n d also die Moralphilosophie unterwerfen, wollte sie wissenschaftliches, d. h. d u r c h Erfahrung systematisch gewonnenes Wissen hervorbringen. Die Ethik, definiert Paulsen, „deduziert u n d demonstriert nicht Lehrsätze aus Begriffen, sond e r n sie zeigt bestehende u n d d u r c h Erfahrung feststellbare Zusammenhänge zwischen Tatsachen auf: Dies Verhalten hat diese W i r k u n g auf die Lebensgestaltung des Handelnden u n d seine Umgebung, das ist die allgemeine Beweisführung" 6.

liehen Tatbestände und ihrer Benutzung nach vergleichender Methode, von denen der hier zu erörternde Zweig der Geschichte ein wichtiger Teil ist" (ebd. S. 33 f.). 4 Über den Zusammenhang des Aufschwungs der phil. Ethik seit den achtziger Jahren und der „sozialen Frage" gibt es immer noch keine zusammenfassende monographische Arbeit, obwohl die Bezüge von den meisten Autoren jener Zeit explizit angesprochen wurden und auf der Hand liegen (vgl. dazu Rappoport: Die soziale Frage und die Ethik (1895); Theobald Ziegler: Die soziale Frage eine sittliche Frage (1895); Staudinger, Franz: Die sittliche Frage eine soziale Frage, in: Phil. Monatshefte 29,30 ff.; Ludwig Stein: Die soziale Frage im Lichte der Philosophie (1897). Aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind die Anmerkungen von Friedrich Jodl: Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft, 2. Bd. Von Kant bis zur Gegenwart, 1889, S. 481 ff.; weiterhin die Bemerkungen von Ferdinand Tönnies in seinem Literaturbericht „Ethik und Sozialismus", in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 25, 1907, S. 573-612, Bd. 26, S. 56-95, Bd. 29, 1909, S. 895-930; ferner ist hinzuweisen auf den Literaturbericht von Demetrius Gusti: Die soziologischen Bestrebungen der neueren Ethik, in: Vierteljahresheft für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 1908, 32. Jahrgang, Neue Folge VI, S. 134-168. 5

Aus den sechziger Jahren sind hier zu nennen: Lange, F. Α.: Geschichte des Materialismus (1865); Die Arbeiterfrage, ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft (1865); John Stuart Mills Ansichten über die soziale Frage und die angebliche Umwälzung der Sozialwissenschaft durch Carey ( 1866) ; Dühring, Eugen : Der Wert des Lebens, 1865 ; Bischof Ketteier: Die Arbeiterfrage und das Christentum (1864); von Oeningen, Α.: Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Sozialethik auf empirischer Grundlage, 1. Teil: Die Moralstatistik. Induktiver Nachweis der Gesetzmäßigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit (1868). Aus den siebziger Jahren: Schmoller, Gustav: Offenes Sendschreiben an Heinrich von Treitschke: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft (1875); von Jhenng, Rudolf : Der Zweck im Recht, 1. Bd. (1877), 2. Bd. (1883); Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik (1877); Jellinek, Georg: Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien (1878); Hartmann, Eduard von: Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins (1879); Zeller, Eduard: Über das kantische Moralprinzip im Gegensatz formaler und materialer Moralprinzipien (1879).

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

215

Indem sich nun die Moralphilosophie aber von der Erfahrungswissenschaft abhängig machte, wurde ihr Gegenstandsbereich von dem der anderen Erfahrungswissenschaften nicht unterscheidbar. Hinsichtlich der analytisch-deskriptiven und explikativen 7 Teile hängten sich die verschiedenen Ethiken an die jeweils von ihnen bevorzugten erfahrungswissenschaftlichen Lehren an, um aus den dort getroffenen Feststellungen über bestimmte Anlagen des Menschen oder bestimmte Verhaltensweisen des Menschen untereinander Folgerungen für den normativ-deduktiven Teil, die Aufstellung und Rechtfertigung des Moralprinzips zu ziehen. Erst im Hinblick auf die normativ-deduktive Aus den achtziger Jahren: Schuppe, Wilhelm: Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie, Berlin 1881 ; Laos, Ernst: Idealismus und Positivismus, 2 Bde. (1882); Zeller, Eduard: Uber Bedeutung und Begründung der sittlichen Gesetze (1882); Steinthal, H.: Allgemeine Ethik (1885); Siegwart, Christof von: Vorfragen der Ethik (1886); Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse (1886); Zur Genealogie der Moral (1887); Wundt, Wilhelm: Ethik, Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens (1887); Gizycki, Georg von: Moralphilosophie, gemeinverständlich dargestellt (1888); Paulsen, Friedrich: System der Ethik, mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre (1889); Höffding, Harald: Ethik (1888); Brentano, Franz: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889); Jodl, Friedrich: Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie, 1. Bd. 1882, 2. Bd. 1889; Ziegler, Theobald: Ethik der Griechen und Römer (1886); Köstlin, Karl: Geschichte der Ethik, Darstellung der philosophischen Rechts- und Staatstheorie des Altertums und der Neuzeit (1887); Döring, August: Philosophische Güterlehre (1888). Aus den neunziger Jahren: Simmel, Georg: Einleitung in die Moralwissenschaft (1892/93); Meinong, Alexius von: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie (1894); Stern, Wilhelm: Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft (1897); ders.: Allgemeine Prinzipien der Ethik (1901); Natorp, Paul: Sozialpädagogik (1898); Lipps, Theodor: Ethische Grundfragen (1899); Schwarz, Hermann: Grundzüge der Ethik (1896); Ehrenfels, Christian von: System der Werttheorie (1897/98); Hunold, Johannes: Grundlegung für eine moderne praktisch-ethische Lebensanschauung (1896); Ratzinger: Die Volkswirtschaftslehre in ihren sittlichen Grundlagen (1884); Dorner, August: Das menschliche Handeln (1895); Cathrein, Viktor: Moralphilosophie, 2 Bde. (1890); Staudinger, Franz: Ethik und Politik (1899); Vorländer, Karl: Kant und der Sozialismus, unter besonderer Berücksichtigung der neueren theoretischen Bewegung innerhalb des Marxismus (1900). 6 Paulsen, Friedrich: System der Ethik, mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, 7./8. Aufl., 1906, S. 6. 7 Die im folgenden zur besseren Unterscheidung eingeführten Begriffe: deskriptiv-explikative Ethik, normative Ethik, Meta-Ethik werden in folgender Bedeutung verwendet: Die deskriptiv-explikative Ethik hat zum Gegenstand die Beschreibung der historischen und aktuellen Moralsysteme und der tatsächlich gelebten Sitten, die Erklärung der verschiedenen Moralsysteme und der tatsächlich geübten Sitten aus ihren kulturspezifischen Entstehungsbedingungen. Die normative Ethik versucht, die Frage zu beantworten, wie wir handeln sollen, d. h. sie versucht, die allgemeinen Prinzipien zu formulieren, nach denen wir unsere eigenen Zwecksetzungen und Handlungen einrichten sollen, mit denen wir letztere also rechtfertigen können. In ihr wird ein Moralprinzip inhaltlich begründet. Die Meta-Ethik beschäftigt sich mit dem Problem der Möglichkeit der Rechtfertigung und dem Beweis moralischer Urteile und Werturteile. Der Begriff der Meta-Ethik, der sich nach dem strengen Verständnis der analytischen Moralphilosophie, wo er gebildet wurde, nur auf die Analyse der moralischen Sprache, die Verwendungsweise der dort gebrauchten Worte bezieht, ist hier allgemeiner gemeint als Inbegriff der Fragestellungen, die sich mit der Möglichkeit einer normativen Wissenschaft als Ethik auseinandersetzen.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Komponente, der immer bestimmte erfahrungswissenschaftliche Annahmen zugrunde lagen, besaß die Ethik einen eigenen Gegenstandsbereich, hinsichtlich dessen sich wiederum mit anderen verwandten Geisteswissenschaften, wie der Rechts- und Staatswissenschaft, Überschneidungs- und Abgrenzungsprobleme ergaben. Paradigma der meisten damaligen Moralbegründungen war das der empiristischen Moralphilosophie englischer Prägung, nach dessen Grundannahme alles Streben der Menschen auf Lust-Maximierung gerichtet ist. Für die Moralbegründung wurde daraus die Konsequenz gezogen, daß alle Normen sich nach dem Zweck höchster Lust-Maximierung zu richten haben8. Ernst Laos rekapituliert nur das Moralprinzip des Benthamschen Utilitarismus, wenn er sagt: „Da die Normen letzten Grundes nichts weiter sind, als Ausflüsse der gesellschaftlichen Ökonomie des Glücks, so sind sie für die ganze Gesellschaft um so wertvoller, je mehr sie dem Collektivum - wiederum bei einem Wahrscheinlichkeitsansatz für die absehbaren Regeln der Fälle - im Totalüberschlag wirklich mehr Glückseligkeit, d. h. einen größeren Überschuß von Lust über Unlust in Aussicht stellen9." Klassifiziert man diesen Typus von Moralphilosophie, der in mannigfachen Variationen den Hauptstamm der neuen ethischen Bewegung ausmachte, so ist er hinsichtlich seiner normativen Seite als teleologisch, nämlich am Zweck des Lustgewinns orientiert, hinsichtlich seiner Moralbegründungs-, der metaethischen 10 Komponente, als kognitivistisch zu bezeichnen. Die Moralphilosophen dieser Richtungen halten ihr Moralprinzip einer Begründung fähig, die erfahrungswissenschaftlichen Maßstäben genügt. 8 Vgl. dazu die Textsammlung von Otfried Höffe (Hrsg.): Einführung in die utilitaristische Ethik, München 1975. 9 Ernst Laas: Idealistische und positivistische Ethik, Berlin 1882, S. 217. 10 Die metaethischen Theorien unterteilt Frankena, S. 114 ff., in: a) Definitionstheorien, b) intuitionistische bzw. non-naturalistische sowie c) nonkognitivistische Theorien. Nach den Definitionstheorien sollen sich ethische Begriffe durch nichtethische Begriffe definieren und ethische Aussagen in nichtethische empirische Aussagen übersetzen lassen. Diese Theorie geht davon aus, daß man aus einem Sein ein Sollen ableiten kann. Intuitionistische Theorien behaupten, daß die moralischen Werte evident bzw. intuitiv gegeben seien. Was gut sei, könne jeder so erkennen, wie er wisse, ob etwas gelb sei oder nicht. Nonkognitivistische Theorien gehen davon aus, daß moralische Urteile keiner Erkenntnis fähig sind, weil die Wertprämissen, auf denen sie beruhen, ihrerseits irrational sind und auf dem Glauben und Hoffen des Einzelnen beruhen. Eine gute Einführung in den gesamten Problemkreis von Ethik und Meta-Ethik gibt Frankena, William K.: Analytische Ethik, München 1972; dort weitere Literaturhinweise; ferner Albert, Hans: Ethik und Meta-Ethik, Das Dilemma der analytischen Moralphilosophie, in : Archiv f. Phil. 11 ( 1961 ), S. 28-63 ; wiederabgedruckt in : Konstruktion und Kritik, 1972, S. 127-167; zur analytischen Moralphilosophie vgl. den Literaturbericht von Pieper, Annemarie : Analytische Ethik. Ein Überblick über die seit 1900 in England und Amerika erschienene Ethik-Literatur, in: Phil. Jahrbuch 78 (1971), S. 144-176; Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Meta-Ethik, hrsg. v. Günther Grebendorf und Georg Meggle, Frankfurt 1974; kritisch zur Reichweite der Meta-Ethik: Craemer-Ruegenberg, Ingrid: Moralsprache und Moralität, München 1975.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

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Sofern methodologisch durch Hume und Kant schärfer geschulte Köpfe den naturalistischen Fehlschluß der hedonistischen und eudämonistischen Moralphilosophie vom Sein auf Sollen nicht mitvollzogen und zugleich auf der empiristischen Voraussetzung von Wissenschaft beharrten, mußte für sie die Aufstellung und Rechtfertigung eines Moralprinzips zu einer Sache des persönlichen Glaubens und Meinens werden, nicht aber konnte es beanspruchen, auf Erkenntnis Anspruch zu machen. Vertreter einer solchen non-kognitivistischen Auffassung war der frühe 11 Georg Simmel, der in seiner 1892 herausgegebenen „Einleitung in die Moralwissenschaft" schreibt: Die Moralphilosophie „hat einerseits, als Teil der Psychologie und nach deren sonst festgestellten Methoden, die individuellen Willensakte, Gefühle und Urteile zu analysieren, deren Inhalte als sittliche oder unsittliche gelten. Sie ist andererseits ein Teil der Sozialwissenschaft, indem sie die Formen und die Inhalte des Gemeinschaftslebens darstellt, die mit dem sittlichen Sollen des einzelnen im Verhältnis von Ursache oder Wirkung stehen. Endlich ist sie ein Teil der Geschichte, indem sie auf beiden genannten Wegen jede gegebene moralische Vorstellung auf ihre primitivste Form, jede Weiterentwicklung derselben auf die historischen Einflüsse, die sie treffen, zurückzuführen hat und so auch auf diesem Gebiete die historische Analyse als die Hauptsache gegenüber der begrifflichen anerkennen läßt. Für diese Auffassung ist es fraglich, ob die Ethik überhaupt als eine besondere Wissenschaft bestehen bleiben wird. Es wird vielleicht eines Tages nicht mehr zweckmäßig erscheinen, unter dem von ihr gestellten Gesichtspunkt Teile so mannigfaltiger Wissenschaften zusammenzubringen. Dies ist indes eine bloß praktische Frage der wissenschaftlichen Arbeitsteilung. Dagegen dürfte es heute schon feststehen, daß wenn die Moralwissenschaft sich über die Eingrenzung zwischen abstrakten Imperativen und unmethodischen oder spekulativen Betrachtungen erheben will - daß dann ihre Aufgaben nicht mehr von einem einzelnen Arbeiter, sondern nur von der Gesamtentwicklung der Wissenschaft zu lösen sind. Ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, wo ein einzelnes Buch so wenig den Titel,Ethik' schlechthin führen wird, wie etwa den Titel,Physik' schlechthin 12 /' 11 Vgl. zur Charakterisierung des frühen Simmel als Positivisten und Sympathisanten des Spencerschen Sozialevolutionismus: Max Frischeisen-Köhler: Georg Simmel, in: Kantstudien 1920, S. 72-96. 12 Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 1892/93, S. IV f. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam wurde diese Position erst in dem von Max Weber durch seinen Aufsatz „Die »Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" (1904) eingeleitete Werturteilsdiskussion. Der durch Weber inaugurierten Logik der Alternative „von objektiver Wissenschaft und subjektiver Wertentscheidung" (Apel) folgt später sowohl der politische Dezisionismus eines Carl Schmitt wie die existentialistische Situationsethik des frühen Sartre. Neben dem Weberschen Non-Kognitivismus entwikkelte sich eine andere non-kognitivistische Variante im Wiener Kreis des logischen Empirismus, der über Wittgenstein die ethischen Auffassungen der analytischen Sprachphilosophie der dreißiger und vierziger Jahre beeinflußte. Während Weber jedoch seine Auffassungen unter dem Einfluß des Wertrelativismus des südwestdeutschen Neukantianismus und dessen lebensphilosophischen Voraussetzungen gebildet hatte, begründete der

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Schon f r ü h i n der Renaissance der E t h i k 1 3 t r i t t neben die empirisch begründete kognitivistische u n d non-kognitivistische Meta-Ethik eine nicht-empirische kognitivistische Meta-Ethik. Es handelt sich vor allem u m Hermann Cohens Versuch der Neubegründung der Kantischen E t h i k zunächst i n der Interpretation der Kantischen Schriften, sodann i n d e m eigenen Systemversuch einer „ E t h i k des reinen Willens". Neben den neukantianischen Rekonstruktionsversuchen der Moralphilosophie ist als weitere nichtempirische kognitivistische Meta-Ethik die auf Franz Brentano 14 zurückgehende Phänomenologie zu erwähnen. Die von Brentano entwickelte intuitionistische Wertaxiomatik vermochte erst d u r c h Max Scheler 15 u n d den früheren Neu-Kantianer Nicolai Hartmann 16 i m Gegenzug gegen den durchaus praxisorientierten M a r b u r g e r Neukantianismus u n d die m e h r theoretisch orientierte Wertphilosophie des südwestdeutschen N e u k a n t i a n i s m u s 1 7 m i t breitester W i r k u n g 1 8 bis Ende der fünfziger Jahre 1 9 an Bedeutung zu gewinnen.

logische Empirismus seinen Non-Kognitivismus damit, daß für ihn die Ethik weder als falsifizierbare Realwissenschaft noch als Formalwissenschaft befriedigend zu lokalisieren war. Das trotzdem bestehende Problem des Vorhandenseins sogenannter moralischer Urteile führte dann dazu, diese als Ausdruck von Einstellungen, Bedürfnissen und Wünschen zusammenzufassen (emotiv-empirische Linie) oder an ihnen eine eigene (deontische) Logik zur Entdeckung zu bringen (dezisionistische Linie). Vgl. zum Ganzen: Apel, Karl-Otto: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik; in: Transformation der Philosophie, Band 2, S. 358 ff.; Albert, Hans: Ethik und Meta-Ethik; Pieper, Annemarie: Analytische Ethik. 13 Auf die gegenwärtige Renaissance der Ethik, von der die in den letzten Jahren schnell wachsende Zahl der Titel deutlich Auskunft gibt, mag kurz hingewiesen sein. Vgl. zur Breite der Fragestellungen die Sammelbände: Rehabilitation der praktischen Philosophie, hrsg. von Manfred Riedel, Bd. 1, Freiburg 1972, Bd. 2,1974; Hinweise auf die Gründe dieser Renaissance gibt Rüdiger Bubner in seinem Literaturbericht in der Phil. Rundschau 22 (1975): Die Renaissance der Praktischen Philosophie, S. 1-34 (1 ff.). 14 Franz Brentano: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 1889. 15 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch einer Grundlegung des ethischen Personalismus, 1. Teil in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung I (1913), 2. Teil: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, I I (1916). 16 Hartmann, Nicolai: Ethik, Marburg 1925. 17 Vgl. z. B. Rickert, Heinrich: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 1. Aufl. 1902 (nach der 5. Aufl. 1929), S. 697 ff. 18 Vermittelt vor allem über Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts (1949), Grundzüge der Rechtsphilosophie (19501), wurde die Wertethik nach dem Kriege vor allem in der Rechtsphilosophie rezipiert und fand von da den Weg in die Rechtsprechung. Vgl. grundlegend BVerfGE 7, 198 ff. (205). 19 Vgl. resümierend Hans Reiner: Wertethik nicht mehr aktuell?, in: ZfphF 1976, S. 93 ff.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

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2. D i e E n t w i c k l u n g der Auffassungen Cohens z u m Zusammenhang von L o g i k und E t h i k

Was gab Cohen die Sicherheit, nachdem man in jenem so empiristisch gestimmten Zeitalter alle apriorischen Begründungsversuche der Ethik für gründlich diskreditiert hielt, mit dem Anspruch des Reformators eine normative Ethik, die auf einem nichtempirischen kognitivistischen meta-ethischen Fundament ruhte, zu formulieren? Wie konnte er es wagen, mit dem Anspruch von Erkenntnis, Bestimmungen über das zu geben, was nicht ist, was nur sein soll, ohne dem Vorwurf spekulativer leerer Begriffsmelkerei, die sich in der Wahrheit bloß analytischer Sätze erschöpft, anheim zu fallen? Ebenso wie für Kant war die Sittlichkeit für Cohen nie „eine chimärische Idee ohne Wahrheit" 2 0 , er besaß eine providentielle Gewißheit in die Erkennbarkeit des Guten. Wer die Erkennbarkeit des Guten allerdings von der Empirie abhängig machte, wer „Lust und Unlust zum Bewegungsgrund des Sittlichen machte", der machte nach Cohen „die Vernunft zum Instinkt und das Noumenon des Sittlichen zum Mitglied des Tierreichs" 21 . Wie aber sollte eine nichtempirische Begründung des Sittlichen, die trotzdem beanspruchte Erkenntnis zu sein, möglich sein? Wenn die sittliche Einsicht Erkenntnis sein wollte, so mußte sie sich unter die Bedingungen fügen, die die Möglichkeit der Erkenntnis festlegte. Erlaubte aber die Erkenntnistheorie die Möglichkeit der Erkennbarkeit dessen, was nicht ist, was vielmehr nur sein soll? Welchen Bezug hat also die Ethik auf die Logik? Muß die Ethik nicht unter dem Gesichtspunkt der Logik zu einem Spiel des analytischen Witzes werden, zu welchem Ergebnis der logische Positivismus gekommen war, oder fordert die Logik geradezu ein normatives Fundament, wie es Fichte 12, Rikkerts 23 und neuerdings des Konstruktivismus 24 Ansicht ist, oder vermag - und 20

Kant, G MS, BA 95. KBE 1 , S. 153. 22 „Der Satz: sich finden, ist sonach absolut identisch mit dem sich wollend finden; nur inwiefern ich mich wollend finde, finde ich mich, und inwiefern ich mich finde, finde ich mich notwendig wollend." Johann Gottlieb Fichte, System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), GW Bd. IV, hrsg. von I. H. Fichte, 1845/46, S. 22. 23 „Jedem beliebigem Erkenntnisakt geht... ein Wille voran, der will, was er wollen soll, ein autonomer Wille, der des Sollens wegen selbst das Gesetz gibt"; siehe: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 5. Aufl., Tübingen 1929, S. 690. 24 Vgl. zum Einsatzpunkt des Erlanger Konstruktivismus Paul Lorenzen: „Daher haben wir zu versuchen, selbständig die Kantische Kritik zu wiederholen. Wir haben mit Kant nachzuweisen, daß unser theoretisches Wissen praktische Vernunft nicht ausschließt. Dies geschieht zunächst durch den Nachweis, daß die theoretische Vernunft selber ein normatives Fundament hat. Nur aus einem immer schon, wenn auch noch so unzulänglich begriffenen Sinnzusammenhang der Lebenspraxis heraus lassen sich erste Normen für ein wissenschaftliches Reden setzen." Szientismus versus Dialektik, zuerst erschienen in: Hermeneutik und Dialektik, Festschrift für H. G. Gadamer, hrsg. von Rüdiger Bubner, K. Cramer und R. Wiehl, Bd. 1, Tübingen 1970, S. 57-72; wiederabgedruckt in: Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, hrsg. von Friedrich Kambartel, 21

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

das zu begründen, galt zeitlebens Cohens Anstrengung - die Logik den Erkenntniswert der Ethik zu sichern? Damit ist der Plan für die weitere Erörterung abgesteckt: im folgenden gilt es darzustellen, in welcher Weise sich Cohens Auffassung vom Zusammenhang von Ethik und Logik entwickelt hat. Stellt man dabei die Deutung in der ersten Auflage von „Kants Begründung der Ethik" neben die „Ethik des reinen Willens", so zeigen sich charakteristische Wandlungen.

2.1. Erste Phase: Ethik als Konsequenz der Erfahrungslehre

In „Kants Begründung der Ethik", das sei hier kurz rekapituliert, interpretiert Cohen die kantischen Probleme der Ethikbegründung in folgender Weise: Die transzendentale Logik hat unsere Erkenntnis eingeschränkt auf das „fruchtbare Bathos der Erfahrung". Die Ethik, die die Aufgabe hat zu lehren, was sein soll, also dessen, was nicht ist, überschreitet aber die Grenzen der Erfahrung. Wenn danach also der moralische Gebrauch der Vernunft nur Prinzipien einer analytischen (rein gedanklich möglichen), nicht einer synthetischen (wirklichen) Erfahrung aufzuweisen hat, wie sie in der mathematischen Naturwissenschaft vorhanden ist, so würde es ihm am Fundament der Realität und damit der Erkennbarkeit mangeln. Cohen versucht nun nachzuweisen, daß Kants „neuer Begriff der Erfahrung" mehr umfaßt als bloß das Feld der Erscheinungen, vielmehr sich auch erstreckt auf die Ideen, deren Realität auch die Erkennbarkeit eines Reichs des Sollens ermöglichen. Er ist der Ansicht, daß „die Erfahrungslehre zeigt, daß die Konsequenzen ihrer selbst auf eine Ethik hinführen, daß die Realität innerhalb ihrer Schranken, ihrer Voraussetzungen den Begriff einer Realität nötig mache, der auf den gleichen Voraussetzungen beruht, in den gleichen Bedingungen wurzelt" 25 . Er hat die Absicht zu zeigen, daß „die Erfahrungslehre die Möglichkeit einer Ethik nicht bloß nicht aufhebt, und nicht bloß offenläßt, sondern fordert. Indem wir die anthropologische Art von Begründung ablehnen, verstehen wir die Aufgabe der Begründung in dem strengen Sinne, welcher die transzendentale Methode auszeichnet und in der doppelten Forderung: erstlich das Fundament durch die Erfahrungslehre zu legitimieren, sodann aber auch die Begriffsmaterialien nach jener Methode zu untersuchen, die systematische Ableitung also der ethischen Sätze in Form erkenntnistheoretischer Begründung zu vollziehen 26 ." Frankfurt 1974, S. 34-53 (38 f.); siehe auch die übrigen dort abgedruckten Beiträge; ferner: Lorenzen, Paul: Normative Logic and Ethics, Mannheim 1969; Lorenzen, Paul, Schwemmer, O.: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim 1973; Schwemmer, O.: Philosophie der Praxis - Versuch einer Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren, Frankfurt 1971. 25 KBE 1 , S. 15. 26 KBE 1 , S. 15.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

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Dem Empiristen muß dieses Programm widersprüchlich erscheinen. Einerseits gibt Cohen vor, sich ganz im Einklang mit den Forderungen erfahrungslegitimierter Wissenschaft zu befinden, ja sie sogar zu überbieten, indem bei ihm die Erfahrungslehre die Ethik nicht nur ermöglichen, sondern sogar fordern soll, andererseits lehnt er die empirische, d. h. die „anthropologische Art von Begründung ab" 27 . Der Widerspruch löst sich auf durch Kants „neuen Begriff der Erfahrung", den die transzendentale Methode legitimiert. Jene Bedingungen sind die konstituierenden Merkmale des Begriffs der Erfahrung, die die in der mathematischen Naturwissenschaft gegebene Erfahrung in der Weise ermöglicht, daß diese als apriori gültig, nämlich notwendig und unbeschränkt allgemein bezeichnet werden muß. Die kritische Erfahrungslehre 28 tastet also das Wissen der positiven Wissenschaften nicht an, sondern begründet die Geltung der in ihr gespeicherten Erfahrung, jedoch anders als der Empirismus. Doch inwieweit fordert die transzendental begründete Erfahrungslehre die Sittlichkeit? Ist dieser Zusammenhang nur Programm, das Cohen zur Legitimierung der Kantischen Sittenlehre vor einem jeglicher Spekulation gegenüber tief mißtrauischen Publikum mehr behauptet als durchzuführen in der Lage ist? Müßte nicht vielmehr getreu der transzendentalen Methode die Anthropologie als die Wissenschaft vom Menschen auf ihre Grundbegriffe, die ihre Geltung erst ermöglichen, hin untersucht werden, um mit Hilfe dieser Kategorien die Sittenlehre zu entwickeln? Oder liegen die Erkenntnisse der Erfahrungslehre als Logik der Erkenntnis noch über jenen der Anthropologie als einzelner Erfahrungswissenschaft, bedingen diese also erst und vermögen deshalb allein etwas über die Möglichkeit der Erkennbarkeit eines „Übersinnlichen" zu sagen? Cohen scheint in seiner frühen Phase, sicherlich auch mitbeeinflußt von den Legitimationszwängen des empiristischen Wissenschaftsideals, tatsächlich der Meinung gewesen zu sein, bereits in den in der Erkenntnislehre erzeugten Begriffen die Bausteine einer Moralphilosophie gewonnen zu haben, aus dem Sein der Natur das Sein des Sollens entwickeln zu können. Nur so läßt sich seine Äußerung verstehen: „Nicht bloß auf dem Grunde der Erfahrungslehre das eigene Gebäude zu errichten; sondern den eigenen Bau nach den Gesetzen jener fundamentalen Disziplin zu vollführen, der Richtschnur der transzendentalen Methode zu folgen; auch in der Ermittlung derjenigen Begriffe, welche der Ethik eigen sind, das Eigentumsrecht aus der Erfahrungslehre abzuleiten 29 ." 27

Ebd. Das Verständnis der Cohenschen Überlegungen kann vielleicht dadurch erleichtert werden, daß man sich klar macht, daß der Terminus „Erfahrungslehre" bei Cohen so viel bedeutet wie „Erkenntnislehre". In der Erfahrungslehre werden also die Bedingungen bestimmt, unter denen überhaupt Erkenntnisse möglich sind. 29 KBEi, s. 15. 28

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Gelingt Cohen dieser Nachweis in Kants Begründung der Ethik? Da hinsichtlich des näheren Aufbaus von „Kants Begründung der Ethik" auf die Ausführungen vorn 3 0 verwiesen werden kann, braucht hier nur Cohens Hauptlinie der Argumentation herausgestellt zu werden. Die Gewißheit der Realität der in der mathematischen Naturwissenschaft vorhandenen Erfahrung beruht auf der Geltung der sie konstituierenden Kategorien. Falls diese Kategorien nicht restringiert bleiben auf Erfahrung, sondern mit ihnen das Unbedingte gedacht werden soll, werden sie zu Ideen. Eine positive Funktion als regulative Ideen haben die erweiterten Kategorien dann, wenn man sie als methodologische Gesichtspunkte betrachtet, nach denen die Natur betrachtet wird, „als ob" sie von systematischer Einheit wäre. Da der unbedingte Gegenstand das Ding an sich ist, der unbedingte Gegenstand aber von uns nicht erkannt werden kann, stellt er als Grenzbegriff die unendliche Aufgabe der Erkenntnis dar. Die Ideen, die versuchen, einen Begriff vom Unbedingten zu erlangen, stellen also Auslegungen, Deutungen der Aufgabe des Ding an sich dar. Eine solche Auslegung des Ding an sich ist die Freiheitsidee. Steht in der Erscheinungswelt alles Geschehen unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung, so führt uns der erweiterte Gebrauch der Kategorie der Kausalität auf die Idee der Freiheit, unter der wir die Natur betrachten, als ob sie einen ursachlosen Anfang habe. Das Beispiel der Freiheitsidee macht zugleich klar, daß unser kategorienbestimmtes Erfahrungswissen selbst, „etwas ganz Zufälliges" darstellt, von dem wir nicht wissen, ob es von einem anderen Standpunkt nicht ganz anders erfahren werden kann. Diesen Abgrund der intelligiblen Zufälligkeit, der bei der Analyse des Erfahrungsgebrauchs aufgedeckt wird, abzudecken, diese Aufgabe des Ding an sich, wenn nicht zu lösen, doch mit Sinn zu versehen, obliegt den regulativen Ideen. Die Freiheitsidee ist also Vernunftaufgabe, der Versuch, ein Vernunftsbedürfnis zu befriedigen. Cohen meint nun, in folgender Weise die behauptete Abhängigkeit der Ethik von der Erfahrungslehre an der regulativen Freiheitsidee darlegen zu können: „Wenn neben aller Naturbedingtheit, welche dem menschlichen Sinnenwesen unweigerlich und unverkürzbar verbleibt, für die Wirkungen in der Menschenwelt ein Noumenon sich behauptet, und dieses als eine Spontaneität, die weder in sich, noch außer sich handelt, die mithin weder den Kausalnexus der Menschengeschichte beeinträchtigt, noch auch den verbotenen Apfel in einer mystischen Welt zu genießen hat, wenn eine noumenale Freiheit sich behauptet, mit den von uns sittlich genannten phänomenalen Wirkungen einen ganz anderen, bisher unaufgehellten Zusammenhang hat, dann ist durch diese Idee in eminenter Weise ein Gebiet gefordert, in welchem sie ihre regulative Bedeutung entfalten könne: das ist die Ethik in jenem Sinne, in welchem die Freiheitsidee den behaupteten Zusammenhang mit jenen sogenannten sittlichen Begebenheiten darlegt. Bliebe die regulative Bedeutung der Idee entzogen, so wäre sie auch als Nou30

Vgl. S. 163 ff.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

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menon, als problematischer Begriff vereitelt. Der problematische Begriff selbst also fordert die Anwendbarkeit als Maxime; der problematische Begriff ist Grenzbegriff. Und somit fordert, zumindest in der noumenalen Freiheitsidee, die Erfahrungslehre die Möglichkeit einer Ethik. Welche andere Art der Forderung einer Ethik durch die Erfahrungslehre könnte man aber erwarten? Soll etwa das Mikroskop, soll die Infinitesimalrechnung auf ein Reich der Sitten hinweisen! Anders hinweisen als in ihren eigenen transzendentalen Bedingungen! 31 " Cohen deutet in dieser Zitatstelle zwar an, daß mit der noumenalen Freiheit, welche „als eine neue Spontaneität, die weder in sich, noch außer sich handelt", der positive Begriff von Freiheit im Sinne von Selbstgesetzgebung, Autonomie gemeint ist, doch verschweigt er dem Leser, was er später sagt, daß nämlich dieser Freiheitsbegriff gänzlich „disparat" 32 ist von dem negativen, der in der Erfahrungslehre zur Anwendung kommt. Erst später legt er dar, wie er den kantischen Freiheitsbegriff in der Ethik auslegen will: „Wenn nun die Freiheit erklärt wird als die Fähigkeit, eine Handlung, von seihst anzufangen so kann sich dieses spontane Anfangen nicht beziehen auf den kausalen Nexus, wie auf keine Zeitbestimmung das Noumenon Beziehung hat; sondern lediglich auf die Verbindung, auf die Anordnung nach Mittel und Zweck... Diesen Inhalt der Freiheitsidee sprechen die sämtlichen Darlegungen Kants mit Klarheit aus. Nur der Eine Satz fehlt: Ich meine unter Freiheit nicht die Unabhängigkeit von dem Kausalgesetz, sondern die Unabhängigkeit vom Mittelmechanismus, von der Zweckanordnung 33 ." Von diesem Freiheitsbegriff im Sinne einer selbständigen Zwecksetzung, d. h. Selbstgesetzgebung war nun allerdings bei der Darlegung der Ergebnisse der Erfahrungslehre nicht die Rede. Die in der Erfahrungslehre behandelte Freiheitsidee als Unabhängigkeit vom Kausalzusammenhang implizierte nicht den Gedanken an eine vom Kausalnexus disparate naturunabhängige Gesetzgebung aus reiner Vernunft. Während bei Kant selbst die Idee der Sittlichkeit ihren Platz neben der Naturlehre „behauptet" 34 , weil „das Gesetz der letzteren die erstere nicht affiziere, mithin beide voneinander unabhängig und durcheinander ungestört stattfinden können" 35 , was er die „glücklichste Verlegenheit" nennt, soll bei Cohen, um den vollen wissenschaftlichen Wert der Ethik zu beglaubigen, dieselbe von der Erfahrungslehre sogar gefordert werden. Die genauere Untersuchung zeigt, daß es Cohen nicht gelungen ist nachzuweisen, daß die regulative Freiheitsidee der Erfahrungslehre, welche die Abhängigkeit der Sittenlehre von der Erfahrungslehre deutlich machen soll, solche Wirkungen auf die Begründung der Ethik hat. Weder ist also das Gebäude der Ethik „auf dem Grunde der Erfahrungslehre" errichtet, noch ist 31 32 33 34 35

KBE 1 , S. 115 f. Vgl. KBE 1 , S. 232; KBÄ, S. 134. KBE 1 , S. 233. Kant, KrV, Β XXIX. Kant, KrV, Β 585/A 557.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

der Bau der Ethik „nach den Gesetzen jener fundamentalen Disziplin" vollführt. Der kategoriale Rahmen der um die Ideenlehre erweiterten Erfahrungslehre hat jedenfalls, trotz der Beteuerungen Cohens, den Bau der Ethik nicht erforderlich gemacht. Damit ist aber auch der Erkenntniswert der weiteren Begründung des Sittengesetzes in Frage gestellt. Wenn der Geltungswert der Ideen in ihrem regulativen Wert für die Begrenzung der Erfahrung liegt, der positive Begriff der Freiheitsidee aber vollkommen disparat zum negativen der Erfahrungslehre steht, so kann auch die regulative Freiheitsidee als Selbstgesetzgebung allein noch keinen selbständigen Geltungswert haben. Es tritt also genau jenes Dilemma ein, welches bei der apriorischen Begründung des Sittengesetzes vermieden werden sollte: sein Inhalt gehört in die fruchtreichen Felder der Ontologie. Der moralische Gebrauch der Vernunft hat, da eine Deduktion des Moralprinzips nicht geleistet ist, nur Prinzipien einer analytisch möglichen, nur denkbaren, aber nicht wirklichen synthetischen Erfahrung aufzuweisen. Damit mangelt es der Begründung des Sittengesetzes an objektiv-praktischer Realität.

2.2. Zweite Phase: Ethik nach der Richtschnur der transzendentalen Methode

Cohen hat im Laufe der weiteren Auseinandersetzung mit Kant und der Herausbildung seiner eigenen moralphilosophischen Auffassungen an der Erkennbarkeit und Gewißheit des Sittlichen festgehalten, denn ihm war ebenso wie Kant die Sittlichkeit nie eine „chimärische Idee ohne Wahrheit" 36 , doch hat er den Mangel der in der ersten Auflage von „Kants Begründung der Ethik" gegebenen Begründung erkannt und hat methodisch andere Wege eingeschlagen. In der zweiten Auflage von „Kants Begründung der Ethik" aus dem Jahre 1910 sind diese Änderungen der Auffassung, die Cohen zur Ausarbeitung seiner eigenen „Ethik des reinen Willens" führten, an markanten Stellen eingearbeitet. Sie verdeutlichen präzise, in welcher Weise Cohen das Problem der Erkennbarkeit des Sittlichen und damit das Problem des Verhältnisses der Logik zur Ethik der Veränderung für nötig hielt. Zur Veranschaulichung soll die folgende Stelle aus der 2. Auflage der entsprechenden aus der 1. Auflage gegenübergestellt werden: „Und die Begründung würde in diesem Falle den gediegeneren Sinn haben: nicht bloß auf dem Grunde der Erfahrungslehre das eigene Gebäude zu errichten; sondern den eigenen Bau nach den Gesetzen jener fundamentalen Disziplin zu vollführen, der Richtschnur der transzendentalen Metho36

Kant, G MS, BA 95.

„Und die Begründung würde in diesem Falle den gediegenen transzendentalen Sinn haben: nicht etwa auf dem Grunde der Erfahrungslehre selbst das eigene Gebäude zu errichten, sondern auf eigenem Grunde den neuen Bau, aber nach den Gesetzen und Methoden jener fundamentalen Dis-

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption de zu folgen; auch in der Ermittlung derjenigen Begriffe, welche der Ethik eigen sind, das Eigentumsrecht aus der Erfahrungslehre abzuleiten 37 ."

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ziplin zu vollführen, also schlechthin der Richtschnur der transzendentalen Methode folgen; auch in der Errichtung derjenigen Begriffe, welche der Ethik eigen sind, das Eigentumsrecht, wenn auch nicht aus der Erfahrungslehre abzuleiten, so doch mit ihr zu vereinbaren 38 ."

Mit der durch die Umstellung einiger Worte erzielten Veränderung des Sinnes der Aussage wird zugleich sichtbar, in welcher Richtung Cohen die Begründung der Ethik für revisionsbedürftig hielt, wenn ihr Wert als Erkenntnis gesichert bleiben sollte. Die Erfahrungslehre, d. h. die Erkenntnistheorie, die bei Cohen mit der Logik der mathematischen Naturwissenschaft zusammenfällt, vermag nicht mit ihren Begriffen allein, den Bau der Ethik zu vollführen. Die Analyse der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hat aber zutage gebracht, daß die sie konstituierenden Begriffe vermittels einer bestimmten Methode gewonnen wurden. Diese Methode ist die transzendentale Methode. Sie klärt uns darüber auf, was die Geltungsbedingungen sicheren Wissens sind. Mit ihrer Hilfe sind die Grundbegriffe der Ethik zu finden und zu beglaubigen. Im Unterschied zur ersten Auflage von Kants Begründung der Ethik, wo Cohen die Sittenlehre als Gegenstand menschlichen Erkennens aus dem Problem der Erfahrungslehre heraus entwickeln will, die Ethik gleichsam als logisches Resultat aus der Erkenntnistheorie herausspringen läßt, geht er in der zweiten Auflage davon aus, daß die Ethik als Gegenstandsbereich spezifisch philosophischer Probleme bereits definiert ist („auf eigenem Grunde") und es darum geht, diese Probleme mit jener Methode einer Lösung zuzuführen, die nach den Ergebnissen der Erkenntnistheorie allein sicheres Wissen verbürgen kann, d. h. „schlechthin der Richtschnur der transzendentalen Methode (zu) folgen". Nicht also wird der Erkenntniswert der Ethik jetzt mehr gesichert über die Inhalte der Erfahrungslehre, sondern über die Methode, die die Erfahrungslehre zur Entdeckung gebracht hat und deren Wert sie beglaubigt. Cohen meint, mit diesem Resultat das prekäre Problem der Legitimation des Erkenntniswertes der Ethik gelöst zu haben. Seiner näheren Durchführung, die er in der „Ethik des reinen Willens" vollzogen hat, werden wir uns deshalb jetzt zuwenden. Die Kantische Frage: „Was soll ich tun?" 3 9 führt auf die Frage nach den Gesetzen und der Prinzipien, an denen ich mein Handeln orientieren kann. Mit der Frage, ob es solche Gesetze und Prinzipien gibt und wie sie lauten, bin ich bei dem Problem ihrer Erkennbarkeit. Die Grundfrage der praktischen Ver37 38 39

15

KBE», S. 15. KBE 2 , S. 17. Kant, KrV, Β 833/A 809.

Winter

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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nunft weist also zurück auf die Grundfrage der spekulativen Vernunft: „Was kann ich wissen?" Prima vista scheint im Cohenschen System analog der Kantischen Architektonik der Ort der Behandlung dieser Frage die „Logik der reinen Erkenntnis" zu sein, denn wenn ihr Thema reine Erkenntnis ist, so müßte sie Aufschluß gegen können über jene Bedingungen, unter denen überhaupt die Möglichkeit sicheren Wissens gegeben ist. Wenn die Logik also Bestimmungen darüber trifft, was überhaupt Anspruch auf Gewißheit und Geltung machen darf, so müßte sie auch über die Bedingungen eines möglichen Wissens vom Guten Auskunft geben. Wie oben bereits erörtert, entfaltet die „Logik der reinen Erkenntnis" sich in dieser Weise nicht. Die „Logik der reinen Erkenntnis" stellt sich auf den Boden der mathematischen Naturwissenschaft. Ihre Prinzipien sollen „als die reinen Erkenntnisse nachgewiesen, im Zusammenhange der Vernunft wieder entdeckt werden" 40 . Während Kant am Beispiel der mathematischen Naturwissenschaften prüft, was wir überhaupt wissen können, und als Ergebnis Erkenntnisgewißheit restringiert auf den Bereich des Erfahrungswissens, für die Sittlichkeit hingegen nur einen defizienten Modus von Gewißheit, nämlich eine auf das „Faktum der Vernunft" gegründete objektiv-praktische Realität annimmt, stellen für Cohen die mathematischen Naturwissenschaften nicht lediglich einen Prototyp sicheren Wissens dar, sondern sind selbst schon als der Inbegriff von Erkenntnis der vorzügliche Gegenstand philosophischer Bemühungen: Sie zu begründen wird die erste Aufgabe der Philosophie in der Logik der reinen Erkenntnis; in der gelungenen Begründung wird die Philosophie ihrer eigenen Methode und ihrer eigenen Begriffe erst sicher. So stellen die mathematischen Naturwissenschaften die ratio cognoscendi der logischen Formen und Begriffe dar, welche wiederum die ratio essendi der mathematischen Naturwissenschaften sind. Den Umfang des Wissens, auf das die Logik orientiert ist, „bildet die Natur, und zwar die Natur der mathematischen Naturwissenschaft. ... Es ist immer nur das theoretische Interesse an der Natur, das die Logik verwaltet; und diese Verwaltung bleibt angewiesen auf die methodischen Mittel der Naturwissenschaft. So ist auch der Erkenntniswert der Logik durch die Natur der Naturwissenschaften bedingt 41 ." Diese logischen Formen und Begriffe, die die Philosophie durch die „transzendentale Inquisition" der mathematischen Naturwissenschaft gewonnen hat, konstituieren also die Natur, d. h. die Natur der mathematischen Naturwissenschaften, und begründen deren Erkenntniswert. Doch was vermögen sie über den Umfang unseres Wissens überhaupt zu sagen? Die Unklarheit, die sich hier ergibt, resultiert daraus, daß Cohen in der als Logik der mathematischen Naturwissenschaften konzipierten Logik der reinen Er40 41

LrE 1 , S. 11. ErW, S. 80 f.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

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kenntnis zugleich die Methoden und Fundamentalkategorien einer wissenschaftsübergreifenden Allgemeinen Logik begründet und gesichert sah. Zu den Erkenntnissen der mathematischen Naturwissenschaft bestand immer „die grundlegende Beziehung der Logik" 42 , denn jene ist die Wissenschaft, die „die Methoden des Denkens mit Bestimmtheit zur Darstellung gebracht" 43 hat. Vermag nun diese mit der Logik der mathematischen Naturwissenschaft identische Logik der reinen Erkenntnis noch, Aufschluß über die Gewißheit des sittlichen Wissens zu geben? Es stellt sich zunächst heraus, daß die Absicht der „Logik der reinen Erkenntnis" sich nicht mehr mit den Vernunftinteressen der Kantischen Metaphysik deckt. Während deren Zurüstungen auf die Auflösung der Aufgaben der reinen Vernunft: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, gerichtet waren, bleibt die Aufgabe der „Logik der reinen Erkenntnis" in der Richtung neuzeitlichen Fragens auf die Begründung des Geltungsanspruches zuvörderst der mathematischen Naturwissenschaft beschränkt. Da die „Logik der reinen Erkenntnis" ihre Kategorien aus der mathematischen Naturwissenschaft gewinnt, also auf die Erkenntnis der Natur gerichtet ist, vermag sie über den Gewißheitswert des sittlichen Wissens nichts auszusagen. Wenn aber die Logik der reinen Erkenntnis als Logik der mathematischen Naturwissenschaft im Blick auf das Problem des Erkenntniswertes des Sittlichen inkompetent ist, so muß die Konsequenz lauten, daß der Ethik ein vom theoretischen unterschiedenes Wissen von spezifischer Struktur nicht verschlossen ist, das sie mit einer eigenen Logik, die aus einem bestimmten Gegenstandsbereich gewonnen ist, rechtfertigen kann. Für diese Konsequenz, bei der die sittliche von der theoretischen Erkenntnis sich durch ihr eigene Bestimmungen unterscheidet, muß aber die Cohensche Philosophiekonzeption, will sie ihren Anspruch, systematische Philosophie zu sein, aufrechterhalten, Grund und Möglichkeit der Logik der Natur und Logik des Sollens zusammenhaltenden Einheit angeben. Sonst würde die Philosophie mit zwei Arten von Erkenntnis operieren, und der Verdacht zwänge sich auf, daß sie auch zwei Arten von Wahrheit kenne. Bei Kant, das mag hier kurz angemerkt werden, verhält es sich ja in der Tat so. Streng theoretisches Wissen gibt es nur vom Erfahrbaren; „über die Naturbestimmungen hinaus gibt es keine Theorie" 44 . Die objektiv-praktische Realität des Sittengesetzes ist dagegen nur ein „Faktum der Vernunft", das, „durch keine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen" 45 werden kann. In der Kantischen Philosophie läßt sich - entgegen Cohens früherer Deutung - die Ethik nicht aus dem theoretischen Vernunftgebrauch ableiten, ebensowe42

Vgl. LrE 1 , S. 14. -n Vgl. LrE 1 , S. 17. 44 Kant, MS, AB 12. 45 Kant, KpV, A 81. 15'

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

nig wie sich das theoretische Wissen aus dem praktischen Wissen ableiten läßt. Trotzdem geht Kant von der Einheit der Vernunft aus, die sich als praktische und theoretische differenziert. „Weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß", resümiert er in der Vorrede zur „Grundlegung der Metaphysik der Sitten", müsse auch die Einheit der praktischen Vernunft „mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich ... dargestellt werden können" 46 . Doch bleibt die Einheit von praktischer und theoretischer Vernunft in der Einen Vernunft nur postuliert; Kant vermag das gemeinschaftliche Prinzip nicht aufzuweisen: in der Einen Vernunft stehen der praktische und der theoretische Vernunftgebrauch nur koordiniert. Cohen distanziert sich „von der mehr oder weniger psychologischen Ansicht ..., welche eine Einheit der Vernunft voraussetzt, bei der absichtlich oder unvermeidlich der Unterschied der Probleme nivelliert wird" 4 7 . In welcher Weise glaubt er nun aber, die unterschiedlichen Probleme der theoretischen und sittlichen Erkenntnis trotzdem noch unter ein gemeinsames Prinzip zu fassen? Der Zusammenhang von Logik und Ethik, das einheitsstiftende Moment, bildet die transzendentale Methode, die Methode der Reinheit. „Die Wahrheit besteht in der einheitlichen Methode der Logik und der Ethik. Sie kann nicht als ein Datum offenbart werden, sie kann nicht als eine Tatsache der Natur, oder der Geschichte vorliegend oder enthüllbar angenommen werden. Sie ist kein Schatz, sondern ein Schatzgräber. Sie ist Methode; aber keine isolierte, noch isolierbare Methode; sondern eine solche, welche die grundsätzliche Verschiedenheit von Vernunftinteressen harmonisiert 48 ." Die mit der Revision der Kantischen Grundbegriffe von Cohen ins Zentrum der kritischen Philosophie gerückte transzendentale Methode, die Methode der Reinheit, beglaubigt und begründet den Erkenntniswert jener Logik des Sollens, der Ethik des reinen Willens. Doch woher ist die transzendentale Methode ihrerseits legitimiert? Die transzendentale Methode, nämlich jenes oben ausführlich beschriebene Verfahren der Hypothesis, des versuchenden Rückschlusses vom Prinzip auf den prpblematischen Gegenstand, ist in der Analyse des Geltungswertes der mathematischen Naturwissenschaften entdeckt worden; der Ort ihrer Beglaubigung ist die Logik der reinen Erkenntnis. „Die Logik der reinen Erkenntnis hat hauptsächlich den Platonischen Grundgedanken wieder zur Entdeckung gebracht, daß aller Grund des Seins nicht sowohl in an sich gegebenen Grundlagen angenommen und gesucht werden dürfe, sondern in Grundlegungen. Die Idee ist Hypothesis. ... Die Hypothesis, sofern sie ihren Begriff erfüllt, hat Sicherheit und Gewißheit. Eine andere Gewißheit gibt es nicht... So bewährt 46 47 48

Kant, G MS, BA XV. ErW, S. 86. ErW, S. 87.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

229

sich die Hypothesis als Werkzeug der Wahrheit. Es gibt keine zwiefache Wahrheit; die Hypothesis bildet auch für das Naturgesetz den Grund der Gewißheit. Daher ermangelt es auch der Ethik der Gewißheit nicht, wenn sie auf einer Grundlegung sich aufbaut 49 ." Die Logik der reinen Erkenntnis ist also doch nicht ohne Zusammenhang mit der Ethik. In der Entdeckung und Rechtfertigung der transzendentalen Methode, der Idee der Hypothesis, bildet sie das „methodische Zentrum" und die „Grundlage des Systems der Philosophie" 50 . Damit kommt Licht in das Dunkel des Verhältnisses von Logik und Ethik. In der „Logik der reinen Erkenntnis" versucht Cohen zu begründen, daß der Ort von Erkenntnis nur noch das methodisch gewonnene Wissen der Wissenschaften sein kann. Darüber hinaus gibt es keine Erkenntnis. Die transzendentale Inquisition erweist, daß diese Erkenntnis intelligible Konstruktion ist, daß sie auf Hypothesen des begrifflichen Denkens beruht, die prinzipiell dem Scheitern ausgesetzt sind. Ob der Ethik Erkenntnisgewißheit zukommen kann, vermag die Logik der reinen Erkenntnis nicht zu entscheiden. Als allgemeine Logik behauptet die Logik der reinen Erkenntnis aber, das Verfahren angeben zu können, auf welche Weise überhaupt Grundbegriffe gewonnen werden können und Geltungsansprüche zu überprüfen sind. „Die Logik ist nur in dem Sinne die Grundlage des Systems und also der Ethik, daß sie allein es lehren kann, in welcher methodischen Weise die Ethik Gesetze zu suchen und zu errichten habe. Diese Gesetze aber nach ihrem Inhalte hat die Ethik selbst zu finden 51 ." Die „methodische Disposition 52 " oder „methodologische Analogie" 53 , die Cohen für die Logik in Beziehung auf die Ethik annimmt, besteht in der Möglichkeit der Anwendung des Verfahrens der transzendentalen Methode auf die Probleme der Ethik. Faßt man die bislang erörterten Aufstellungen Cohens über den Zusammenhang von Logik und Ethik zusammen, so hat sich herausgestellt, daß die Logik nicht wie in „Kants Begründung der Ethik" die Ethik fordert, daß sie auch nicht Bestimmungen über die Gewißheit des sittlichen Wissens macht, daß aber die durch sie beglaubigte transzendentale Methode das Mittel darstellen soll, mit dessen Hilfe das Problem eines Wissens vom Sittlichen zu lösen ist.

49

ErW, S. 92, 93, 95. LRE 1 , S. 513. 51 LrE 1 , S. 518. 52 LrE', S. 37. 53 LrE 1 , S. 516. 50

230

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik 3. D i e methodische Disposition der „ D e d u k t i o n der E t h i k " 3.1. Ethik als „Logik der Geistes Wissenschaften"

Das „methodische Zentrum" des Systems der Philosophie bildet die in der Logik entdeckte und dort gerechtfertigte transzendentale Methode. Diese „Urmethode der Hypothesis" soll nach Cohens Konzeption das einheitliche Verfahren sein, mit dessen Hilfe die Systemglieder Logik, Ethik und Ästhetik die ihren Gegenstandsbereichen spezifischen Gesetzlichkeiten erzeugen. Der solcherart revidierte Kantianismus versucht, Kants Vorgehen einer Kritik der reinen spekulativen Vernunft zu übertragen auf die Begründung von Ethik und Ästhetik. In strenger Weise soll die Deduktion der Ethik parallelisiert werden zur Deduktion der Logik. Damit scheinen die Weichen für den weiteren Gang der Cohenschen Begründung der Ethik gestellt. Doch in welcher Weise läßt sich die „methodische Analogie" 54 durchführen? Die transzendentale Methode kann nicht aus sich heraus die Begriffe erzeugen. Sie ist auf ein Material angewiesen, das jedoch nicht als Gegebenheit im Sinne völliger gegenständlicher Bestimmtheit vorausgesetzt werden darf, denn diese stellt sich erst als Leistung der Prinzipiierung her. Das problematische, erst zu bestimmende Material ist auch nicht der Wahrnehmungsgegenstand, „jenes halbreife Objekt, das wir nach Art der Anschauung uns gegenüberstellen" 55, oder das Wahrnehmungserlebnis, sondern ein spezifisch ausgewiesenes Wissen vom Gegenstand, die wissenschaftliche Erkenntnis. Die transzendentale Methode setzt die Wissenschaft als Faktum voraus und fragt nach den Bedingungen, die ihren Geltungswert sichern; „denn wo die Wissenschaft Faktum geworden ist, da kann überall die transzendentale Methode einsetzen"56. Daraus folgt, daß philosophische Arbeit erst da ihr Werk beginnen kann, wo Wissenschaft sich eingerichtet hat. „Alle Philosophie ist auf das Faktum von Wissenschaften angewiesen. Diese Anweisung auf das Faktum der Wissenschaften gilt uns als das Ewige in Kants System 57." Da also die transzendentale Methode als Konstitutionsverfahren auf das Faktum von Wissenschaft angewiesen ist, aus dem es die Grundbegriffe und Gesetzlichkeiten des Gegenstandsbereichs entdeckt und beglaubigt, geht Cohen daran, auch für die Begründung des Lehrgehalts der Ethik zunächst das Wissenschaftsfaktum festzustellen, an dessen Material die erzeugenden Kategorien der Ethik gewonnen werden können.

54

LrE 1 , S. 516. KBE 1 , S. 21. 56 KBE 2 , S. 382. " ErW, S. 62 f. 55

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

231

Doch welche Wissenschaft sollte hier in Frage kommen? Zur Verdeutlichung der systematischen Stelle dieses Problems ist kurz zu vergegenwärtigen, in welcher Weise Cohen über die Aufgabe der Philosophie disponiert hat. Aufgabe der Philosophie ist die einheitliche Grundlegung der Kultur, d. h. die Begründung jener Gesetzlichkeiten, die die den Begriff der Kultur erfüllenden Glieder Natur, Sittlichkeit und Kunst konstituieren. Die Grundlegung dieser Gesetzlichkeiten leistet für die Natur die Logik, für die Sittlichkeit die Ethik, für die Kunst die Ästhetik. Das Objekt der Logik ist „zwar nicht schlechthin die Natur, aber es ist die Natur der Wissenschaft. Daher wird die Natur zunächst wieder in einer Erkenntnis zum Objekte, nämlich in der Mathematik. Aber auch diese, so rein sie ist, und je reiner sie ist, ist selbst als Grund der Natur gelegt. Und obzwar die Grundlagen der Logik noch über die der Mathematik hinausragen, so wissen wir doch, daß diese allgemeinen logischen Begriffe mit denen der Mathematik verwachsen sein müssen, um Fleisch und Blut anzunehmen. Überall also in den letzten Grundlagen der Logik bleibt die innere Beziehung auf das Sein, auf die mathematische Natur der Naturwissenschaft erhalten" 58 . In konsequenter Übertragung dieses Gedankens müßte „analog" formuliert werden, daß es das praktische Interesse an der Sittlichkeit ist, welches die Ethik verwaltet. Doch welche Wissenschaften befassen sich, ähnlich wie es die mathematische Naturwissenschaft in Beziehung auf die Natur tut, mit der Sittlichkeit? Die Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, in welcher Weise der Begriff der Sittlichkeit bestimmt wird. Faßt man ihn im Kantischen Sinne, gemäß welchem er so viel bedeutet wie Sittengesetz, das „abstrakte Gute" 59 , Prinzip der Moral, so werden wir für unsere Frage keine Antwort bekommen, denn wir drehen uns im Zirkel; den Inhalt des Sittlichen zu bestimmen sollte ja gerade den Bezug auf das Faktum einer Wissenschaft methodisch absichern. Versteht man den Begriff der Sittlichkeit im Hegeischen Sinne als den „zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordenen Begriff der Freiheit" 60 , als die im Staate verwirklichte praktische Vernunft, als die in der Familie gelebte und in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft verankerte Sitte, so lassen sich jene Wissenschaften anführen, deren Gegenstand die unterschiedlichen Aspekte der Praxis des historischen Menschen bilden. Wenn Cohen in Analogie zur naturwissenschaftlichen Erfahrung nach dem „Kompaß" einer „sittlichen Erfahrung" 61 als Ermöglichungsgrund der Kon58

ErW, S. 81. Vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 144. 60 Ebd. § 142. 6 1 KBE 2 , S. 142. 374. 59

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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struktion eines sittlichen Apriori fragt, so scheint er eine dem Hegeischen Begriffe der Sittlichkeit verwandten Vorstellung vor Augen zu haben. In der Tat verhält es sich so. Diese, sich bereits im 1881 geschriebenen „Biographischen Vorwort" zu F. A. Langes „Geschichte des Materialismus" andeutende Wende des Problems, die aus der kompromißlosen Anwendung der transzendentalen Methode auf das gesamte Interessengebiet der Philosophie resultierte, bestimmt die Deduktion der Ethik in der „Ethik des reinen Willens" mit ihren Komplikationen und Verwicklungen. In der „Logik der reinen Erkenntnis" heißt es: „Wie in der Natur Kräfte und Gesetze walten, so herrschen in der sittlichen Kultur Gewalten und Normen, die man nicht auf den zufälligen Einfluß wechselnder Personen in ihrem letzten Grunde wird zurückführen wollen. Auch da erhebt sich der Gedanke und die Forderung eines Gesetzes, also das Problem eines Prinzips und einer Grundlegung für die Möglichkeit solcher Gesetze62." Bemerkenswert ist hier, daß Cohen nicht von der Sittlichkeit im Sinne des „abstrakten Guten" redet, sondern von der „sittlichen Kultur", also der konkreten moralischen Verfassung einer Gesellschaft. In der „Ethik des reinen Willens" wird diese Auffassung ganz deutlich: „Aber es ist falscher Realismus und Nominalismus, einerseits die Dinge hinzustellen, als Gebilde der wirtschaftlichen Triebe, andererseits aber die sittlichen Aufgaben als Schreckgespenster und gleichsam als posthistorische Mächte aus dem bisherigen Dunkel der Geschichte bisweilen wetterleuchten zu lassen. Die Ethik hat sich vielmehr mit der Geschichte in das logische Einvernehmen zu versetzen: daß sie ihre eigenen Ideen, wie unreif und verkrüppelt immer, dennoch wiederzuerkennen hat in den Gebilden der wirtschaftlichen Welt. Denn das ist die Alternative, der man nicht ausweichen kann: entweder ist alle Kultur in ihren Institutionen das Werk des Teufels und der Wille selbst damit nur die Kraft des Bösen; dann fällt aber auch die Möglichkeit hinweg, daß der Intellekt eine so heterogene seelische Macht sein könnte, daß er, und nur er die Kraft zum Guten vollzöge. Oder aber der Intellekt ist nicht auf das Böse gerichtet; und der ihm verwandte Wille geht auf das Gute; und seine Schöpfungen sind daher, teilweise und mangelhaft zwar, dennoch aber Darstellungen der sittlichen Ideen, und nicht allein der theoretischen Ideen 63 ." Unsere Frage richtete sich auf eine vorläufige Umgrenzung des Begriffs der Sittlichkeit bei Cohen, um danach jene Wissenschaften feststellen zu können, die mit dem Problem der Sittlichkeit befaßt sind. Sittlichkeit, so hat sich herausgestellt, umfaßt bei Cohen den Bereich des in den konkreten historisch gewachsenen gesellschaftlichen Institutionen realisierten menschlichen Handelns, den er auch „sittliche Kultur" 6 4 , manchmal nur „Kultur" 6 5 nennt. 62 63 64

LrE 1 , S. 35. ErW, S. 36. LrE, S. 35.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

233

Die Wissenschaften, die sich auf diesen Typus von Erfahrung, die „sittliche Erfahrung" richten, nennt Cohen Geisteswissenschaften. Zu ihnen zählt er vor allem Geschichtswissenschaften, Religionswissenschaft, Rechts- und Staatswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Soziologie66. Die Geisteswissenschaften sollen bei Cohen also jenen Typus von Erkenntnis darstellen, dessen spezifische Geltungsansprüche durch die Ethik begründet und gesichert werden. So wie die Logik die Geltungsbedingungen der Erkenntnis der mathematischen Naturwissenschaft konzipiert, so hat entsprechend die Ethik die Geltungsbedingungen der Geisteswissenschaft zu erzeugen und zu rechtfertigen. Cohen bezeichnet deshalb die Ethik auch als die „Logik der Geisteswissenschaften" 67. „Und da die von der Ethik zu findenden Gesetze für die Geisteswissenschaften aufgestellt werden, in deren Material die Ethik sie zu suchen hat, so dürfen wir daher im engeren Sinne des Gesetzes die Ethik als die Logik der Geisteswissenschaften bezeichnen68." Da gemäß den Grundannahmen der transzendentalen Methode der durch die Wissenschaften strukturierte Gegenstandsbereich die ratio cognoscendi der Gegenstandslogik ist, diese aber die ratio essendi des Gegenstandsbereichs, stellen entsprechend in der Cohenschen Architektonik die Geisteswissenschaften die ratio cognoscendi der Ethik genannten Gegenstandslogik dar, welche letztere wiederum die ratio essendi der Geisteswissenschaften bilden soll. Die Erwartung, daß die transzendentale Inquisition aus dem begrifflichen Material der verschiedenen Geisteswissenschaften deren gemeinsame Fundamentalkategorien erzeugt, deren Ermöglichungsbegriffe herausschält und als Licht bringt, wird allerdings enttäuscht. Nicht nämlich die Geisteswissenschaften in ihrer Gesamtheit betrachtet Cohen als das Erzeugungsgebiet der Kategorien als vielmehr nur eine besondere, dazu prädisponierte Wissenschaft: die Rechtswissenschaft. „Hier gilt es, dies ins Auge zu fassen, daß durch die Hinweisung der Ethik auf die Rechtswissenschaft das gesuchte Analogon eines theoretischen Faktums gefunden wird. So wird die Ethik von ihrer exklusiven Bezogenheit auf Religion, Psychologie und auf inexakte SammelWissenschaften freigemacht; und die Möglichkeit einer erkenntnismäßigen Gewißheit wächst ihr damit zu. Die moralische Gewißheit erlangt theoretischen Wert 69 ." Diese Wendung überrascht, denn die „Gesetze" der Ethik sollten doch am Material der Geisteswissenschaften gefunden werden. „Und es entsteht die Frage nach dem Verhältnis, welches in Bezug auf die Geisteswissenschaft zwischen der Rechtswissenschaft und der Ethik anzusetzen

65

ErW, S. 61. Vgl. KBE 2 , S. 142; LrE 1 , S. 35. 67 LrE 1 , S. 17, 37 ff., 218, 257, 426, 518; KBE 2 , S. 390; BRSP, S. 8; ErW, S. III, 62. 68 LrE 1 , S. 518. 69 ErW, S. 66. 66

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

sei. Diese Frage wird von grundlegender Wichtigkeit für die Methodik der Ethik selbst 70 ." Cohen versucht, jenes Verhältnis durch die Parallelisierung zur Begründungskonstellation im Bereich der Logik zu bestimmen. In der Cohenschen Konzeption kommt im Bereich der Logik der Mathematik für die kategoriale Konstituierung der mathematischen Naturwissenschaft („Theoretik" im Sinne Natorps) und der allgemeinen Logik eine bevorzugte Rolle zu. „Wir wissen von der Logik her, wie diese im Zusammenhange steht mit der Mathematik. Zwar gibt es auch für die Mathematik allgemeine Voraussetzungen, welche selbständig in der Logik gelegen sind. Aber für den Aufbau und Ausbau selbst dieser Grundlagen ist die Logik auf die Mathematik angewiesen. Das haben wir sogleich in dem Urteile des Ursprungs erkannt. Es besteht also ein deutliches Wechselverhältnis zwischen der Logik und der Mathematik. Die logischen Motive, welche der Mathematik eingeboren sind, wachsen in ihr so inhaltsvoll sich aus, daß die Logik von diesem Inhalte in ihren eigenen Inhaltsbestimmungen abhängig wird. Bleibt es doch Geist von ihrem Geist, der dort Fleisch geworden ist, und den sie als neuen Geistesinhalt in ihr Gebein einzufügen hat 71 ." Die Rolle der Mathematik soll für die Logik der Geisteswissenschaften die Rechtswissenschaft einnehmen; wie zwischen Logik und Mathematik, so soll ein „deutliches Wechselverhältnis" zwischen Ethik und Rechtswissenschaft bestehen. Cohen geht nämlich davon aus, daß „in der Rechtswissenschaft ein Gerüst von Begriffen", das in seiner logischen Struktur „einer ethischen Funktionierung fähig sei" 72 , ausgezeichnet werden könne. Deshalb folgert er: „Das Analogon zur Mathematik bildet die Rechtswissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geisteswissenschaften und vornehmlich für die Ethik als ihre Mathematik bezeichnet werden 73." Die methodische Disposition der Cohenschen „Deduktion der Ethik" 7 4 ist somit umrissen: Das „vielverzweigte Gebiet der geschichtlichen Wissenschaften" wird durch die Ethik in die „Einheit der Geisteswissenschaften" 75 zusammengefaßt. Sie ist die Logik der Geisteswissenschaften. Wie die Logik vermittels der Mathematik in den letzten Grundlagen eine „innere Beziehung auf das Sein", auf die mathematische Natur der Naturwissenschaften erhält, so hat die Ethik in der „positiven Rechtswissenschaft" 76 das der Mathematik entsprechende Analogon eines Faktums für die Entdeckung der „erzeugenden Grundbegriffe" 77 des Seins d e r - w i e man entsprechend formulieren müßte-sittlichen Kultur der Kulturwissenschaften. 70 71 72 73 74 75 76 77

ErW, S. 62. Ebd. BRSP, S. 9. ErW, S. 63; vgl. auch ErW, S. 217; KBE 2 , S. 376, 390, ÄrG, S. 69. ErW, S. 215. KBE 2 , S. 390. ErW, S. 66. ErW, S. 217.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

235

Im folgenden soll es noch nicht darum gehen, die Ausführung dieses Programms einer Begründung der Ethik darzustellen, zu untersuchen und zu problematisieren, sondern es soll ins Auge gefaßt werden, in welcher Weise die methodische Kritik, die Cohen mit diesem Programm an Kant übt, Konsequenzen für sein eigenes methodisches Vorgehen hat. 3.2. Exkurs I : Cohens Kritik an Kants Deduktion

Bei Kant hat das Apriori des praktischen Vernunftgebrauchs, das Sittengesetz, nicht die Gewißheit, den Objektivitätsgrad, den das Apriori des theoretischen Vernunftgebrauchs, das System der synthetischen Grundsätze, hat. Dem Moralprinzip fehlt nämlich der Leitfaden der möglichen Erfahrung als Beweisgrund seiner Geltung. Trotzdem versucht Kant dem Moralprinzip Gewißheit und Geltung zu sichern, indem er es „gleichsam als Faktum der reinen Vernunft" für gegeben hält. „Mit der Deduktion, d. i. der Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Gültigkeit und der Ansicht der Möglichkeit eines solchen synthetischen Satzes a priori, darf man nicht so gut fortzukommen hoffen, als es mit den Grundsätzen des reinen theoretischen Verstandes anging. Denn diese bezogen sich auf Gegenstände möglicher Erfahrung, nämlich auf Erscheinungen, und man konnte beweisen, daß nur dadurch, daß diese Erscheinungen nach Maßgabe jener Gesetze unter die Kategorien gebracht werden, diese Erscheinungen als Gegenstände der Erfahrung erkannt werden können, folglich alle mögliche Erfahrung diesen Gesetzen angemessen sein müsse. Einen solchen Gang aber kann ich mit der Deduktion des moralischen Gesetzes nicht nehmen. Denn es betrifft nicht das Erkenntnis von der Beschaffenheit der Gegenstände, die der Vernunft irgendwo durch anderwärts gegeben werden mögen, sondern ein Erkenntnis, sofern es der Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden kann und die Vernunft durch dieselbe Kausalität in einem vernünftigen Wesen hat, d. i. reine Vernunft, die als ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögen angesehen werden kann Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt, daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben konnte. Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft bewiesen, und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so aposteriori bewiesen werden und steht dennoch für sich selbst fest 78 ." Cohen mußte eine solche Evidenzbegründung den Rückfall Kants in die Annahme eines moralischen Sinnes bedeuten, nicht aber die konsequente Anwendung der transzendentalen Methode. Die Realität des Sittlichen und damit die Mög78

Kant, KpV, A 80 f.

236

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

lichkeit einer kritisch zu begründenden Ethik war in Frage gestellt. „Allgemein wird darin die Schwäche der Ethik gesehen, daß sie sich nicht auf den Rückhalt einer Wissenschaft berufen kann. Daher hat der Ausdruck der moralischen Gewißheit einen geringschätzigen Sinn. Man nimmt deshalb, wenn man nicht grundsätzlich auf die Religion sich zurückzieht, zur Psychologie eines moralischen Sinnes oder zur Ästhetik eines moralischen Gefühls seine Zuflucht; auf die Wissenschaft resigniert man. Allenfalls ist man froh, sich hinterher zu einiger Bestätigung ethischer Annahmen ihrer Zustimmung versichern zu können. Selbst Kant, der das der Mathematik entsprechende Analogon eines Faktums suchte und forderte, hat es nicht in einer Wissenschaft gefunden 79 ." Cohen hält es für einen „fundamentalen Mangel in der Disposition Kants" 80 , daß er die „Anwendung der transzendentalen Methode hier fallengealssen hat; daß er die Deduktion der Ethik nicht an der Rechtswissenschaft vollzogen hat, wie die der Logik an der Naturwissenschaft" 81 . Dadurch sei ein „unheilvoller Fehler" 82 in den Begriff der transzendentalen Methode gekommen. Es entstehe nämlich bei Kant durch die Beschränkung der transzendentalen Methode auf die Grundlegung der mathematischen Naturwissenschaft der Eindruck, als handele es sich bei der Ethik, im Gegensatz zur Logik, nicht um eine Erkenntnis, sondern um eine Frage des richtigen Gefühls oder Glaubens. „Die transzendentale Methode kann nicht für die Logik aufgenommen, für die Ethik aber verworfen werden. Wie die Logik in der Physik enthalten ist, so muß sie aus der Physik ermittelt werden. Und wie die Physik sonach in der Logik wurzelt, so muß auch das Recht in der Ethik seine Wurzeln haben; so muß daher auch aus der Rechtswissenschaft die Ethik ermittelt und in ihr begründet werden. Das ist die neue Position, die wir hier der Ethik geben. Während Kant zwar auch metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft geschrieben hat, dennoch aber in der Kritik der reinen Vernunft die eigentlichen metaphysischen Grundlagen der Naturwissenschaft ermittelt und aufgerichtet hat, so ist er anders in der Ethik verfahren. In der Kritik der praktischen Vernunft hat er keineswegs in einer nur irgend vergleichbaren Weise auf die Rechtswissenschaft Bezug genommen und an ihr sich orientiert, wie dort an der Naturwissenschaft. Er hat vielmehr das analoge Faktum einer Wissenschaft als ein Desiderat bezeichnet und dagegen nur das Analogon eines Faktums in Anspruch genommen 83 ." Cohen behauptet nun, daß die im Verhältnis zur Rechtfertigung des Erkenntniswertes des theoretischen Vernunftgebrauchs auf das schwache Mittel der Evidenz gestützte Ermittlung der Gewißheit der Ethik, seinen Grund darin gehabt habe, daß „die Anlage für das Problem der Geisteswissenschaften" 84 bei 79

ErW, S. 63. KBE 2 , S. 382. 81 ErW, S. 215. 82 ErW, S. 215. 83 ErW, S. 215. 84 KBE 2 , S. 376. 80

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

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Kant gefehlt habe. Hätte er nämlich erkannt, daß sittliche Kultur und Geschichte in den Geisteswissenschaften begrifflich erfaßt worden seien, hätte er an ihnen auch die Deduktion der Ethik vornehmen können. „Es fehlt in diesem ganzen System an einem genauen Begriffe der Geisteswissenschaften, als dem methodischen Analogon zu den Naturwissenschaften. Wie sehrauch der methodische Unterschied zwischen beiden genau und scharf eingehalten werden muß, so muß andererseits doch auch die Analogie behauptet und durchgeführt werden. Weil Kant das Problem der Geisteswissenschaften nicht gesehen hat, darum hat er die Rechtswissenschaft nicht als das analoge Faktum erkannt, auf welches, als auf das Faktum einer Wissenschaft, die transzendentale Methode sich zu richten und zu orientieren habe, um als Ethik sich zu konstituieren und sich zu begründen. Man sieht, Kant hätte alsdann auch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft in Angriff nehmen müssen; denn es wäre ihm dann das Problem entstanden, an der Rechtswissenschaft Kritik zu üben, daraufhin, ob in ihr reine praktische Vernunft, reiner Wille in der Rechtshandlung in Vollzug träte und sich beglaubigen lasse. Unsere Ethik stellt daher das Problem einer Kritik der reinen praktischen Vernunft auf* 5." Wenn Cohen es Kant auch als Inkonsequenz des methodischen Vorgehens vorhält, daß er die transzendentale Methode in der Ethik verlassen habe, - obwohl ihm, wohl weniger in der Geschichtswissenschaft 86, so doch aber in der Rechtswissenschaft und ihrer Geschichte das Faktum einer Wissenschaft vorgelegen habe 87 , das auf das Problem der Einheit der Geisteswissenschaften hingewiesen habe - , so gesteht er Kant doch zu, daß der „Geist der transzendentalen Methode" 88 zumindest bei der Anwendung des Sittengesetzes virulent gewesen sei: „Denn in dem Naturrechte ist einerseits und zwar vornehmlich eine Art von Metaphysik des Rechts immer gesucht und behauptet worden. Was kann, so könnte man daher denken, Kant mit seiner Metaphysik der Rechtslehre anderes angestrebt haben als ein neues Naturrecht? Nun scheint hiergegen aber Kants Terminologie Einspruch zu erheben. Denn die Rechtslehre liegt ja in der Rechtswissenschaft vor. Mithin haben wir in ihr das Faktum einer Wissenschaft und wahrlich mit dem sicheren Gang einer solchen zu erkennen. Jetzt hätte es nun für Kant nahe gelegen, das Grundgebiet der sittlichen Anwendungen mit sicherem Blicke zu erfassen. Denn wo die Wissenschaft Faktum geworden ist, da kann überall die transzendentale Methode einsetzen. So hätte Kant zunächst methodisch an die Rechtswissenschaft sich anschließen können, um zugleich auch inhaltlich in dem Grundbegriffe des Rechtssubjekts den sachlichen, vielmehr persönlichen Grundbegriff der Ethik zu finden. . . . Das Faktum des Naturrechts beeinträchtigte das Faktum der Rechtswissenschaft in seinem grundlegenden Wert 89 ." S5 ErW. S. 216. 86 Vgl. KBE 2 , S. 375. 87 Vgl. KBE 2 , S. 382, 375, 390. 88 KBE 2 , S. 389. 89 KBE 2 , S. 382.

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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Ganz abgesehen davon, daß es sich jetzt nicht um eine Auseinandersetzung über die Berechtigung der Cohenschen Kant-Interpretation handelt, muß Cohen allerdings entgegengehalten werden, daß die methodische Selbstsicherheit, mit der er Kant die „mangelnde Anlage für das Problem der Geisteswissenschaften" an der Begründung der Ethik vorrechnet, durchaus nicht die Frucht langerprobter Überzeugung war. Die Orientierung am Faktum der Rechtswissenschaft war eine Wendung des Problems, die in der zwei Jahre vor der „Ethik des reinen Willens" erschienenen „Logik der reinen Erkenntnis" noch nicht absehbar war. Die allmähliche Herauskristallisierung der Cohenschen Auffassung ist deshalb im folgenden herauszustellen.

3.3. Exkurs I I : Cohens eigene Unsicherheit in der Deduktion der Ethik

In der ersten Auflage von „Kants Begründung der Ethik" des Jahres 1877 folgt Cohen in der Frage des Erkenntniswertes des Sittengesetzes dem Kantischen Begründungsmuster. Zwar fragt er in der Intention der transzendentalen Methode: „Auf welches Faktum synthetischer Apriorität kann sich die transzendentale Begründung des Sittengesetzes berufen? In welchen Fakten von Wissenschaft, von Erkenntnisinhalten kann sie dasjenige apriori annehmen, dessen Möglichkeit sie erklären, sie begründen will? Welches Gesetz für das Gebiet des Ethischen könnte man herbeiziehen, welches in angemessenerapriorischer Geltung mit dem Gesetz von der Konstanz der Materie, von der Kausalität mit den mathematischen Gesetzen sich vergleichen ließe? 90 " Doch forscht Cohen den in der Frage selbst gegebenen Hinweis auf „das Faktum einer Wissenschaft" ernsthaft gar nicht aus und meldet auch keine Bedenken an. Ein der theoretischen Erkenntnis vergleichbares Faktum synthetischer Apriorität für die Begründung des Sittengesetzes ist nicht gegeben. „Hier ist das Gesetz selbst erst zu finden; und die Begründung besteht in der Entdeckung." also eine transzendentale Deduktion des moralischen Apriori versagt ist, kann der Erkenntniswert des Sittengesetzes nicht von der Qualität sein, wie ihn die in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gegebenen Objekte haben. Wenn es aufgrund dieser Bestimmungen kein Wissen im strengen Sinne vom Moralischen gibt, wie soll dann die Realität des Sittlichen gesichert sein? Cohen sucht die Gewißheit des Moralprinzips - unter deutlicher Verdrängung der Kantischen Ausführungen über den Evidenzbeweis des „Faktums der Vernunft" vom Geltungswert der regulativen Freiheitsidee als Zweckaufgabe zu legitimieren. „Das Unternehmen, eine ethische Gewißheit zu bestimmen, ein moralisches a priori zu entdecken, ist daher nicht bloß ein wohlgemeintes Problema: 90 91

KBE 1 , S. 146. Ebd.

Da

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es ist eine Forderung, die der Kausalitätsgrundsatz selbst in der noumenalen Freiheitsidee erhebt. Denn vor dem Abgrund der intelligiblen Zufälligkeit kehrt sich der Spieß um; und das Schemen der letzten Ursache wird zum Noumenon der Freiheit 92 ." Die Freiheitsidee im positiven Verstände, als praktische Idee bedeutet Autonomie. Cohen interpretiert Autonomie als Autotelie, nicht nur als Selbstgesetzgebung, sondern Selbstzwecksetzung, nämlich als die Erzeugung einer Verfassung, in deren Ordnung die Schöpfer und Urheber sich als Glieder derselben selbst als Zweck setzen. Diese Verfassung ist das Sittengesetz, welches nichts anderes bedeutet als „die Gemeinschaft moralischer Wesen" 93 . Die regulative Freiheitsidee wird von Cohen auf diese Weise als das Zweckprinzip der Menschheit enthüllt, unter dem wir so handeln, als ob die Gemeinschaft moralischer Wesen uns die Maxime gäbe. Wenn aber den Angelpunkt für die Geltungsbestimmung des Moralprinzips die in der Erfahrungslehre an der Grenze der Kausalität entdeckte Freiheitsidee bildet, so ist Cohen vorzuhalten, daß die theoretische Freiheitsidee nimmer den Gedanken an eine Gemeinschaft moralischer Wesen involviert. In „Kants Begründung der Ethik" hätte es Cohen denn eigentlich als offenen Widerspruch gegen die von ihm herausgestellte transzendentale Methode auffallen müssen, daß das Sittengesetz nicht am Faktum einer moralischen Wissenschaft beglaubigt wurde. Bei seiner Vorsicht vor einer Relativierung des Moralprinzips als bloßem Spiel „des analytischen Witzes" hätte ihm jener solchermaßen gefährdete Gewißheitswert zu Bedenken Anlaß geben sollen. Das 1881 geschriebene „Biographische Vorwort" zu F. A Langes „Geschichte des Materialismus" macht deutlich, wie Cohen um die konsequente Anwendung der transzendentalen Methode auf die Ethikbegründung bemüht ist. Er hält Ausschau nach einer Wissenschaft, deren Problem die Theorie der Moral ist. Da es das Faktum einer solchen Wissenschaft nicht gibt, erscheint es ihm als Ausweg, sich am „Faktum analoger Kulturerscheinungen und Wissenschaften" zu orientieren. Wissenschaften, in denen moralische Überlegungen und Bewertungen eine Rolle spielen, erkennt er in jenen „theoretischen Richtungen der Kultur", die er als Geisteswissenschaften zusammenfaßt. Zur Erläuterung des Terminus „Geisteswissenschaften", den Cohen hier zum ersten Mal in seinen Schriften gebraucht, und gleichsam als unterstützendes Argument, fügt er ihm die französische Bezeichnung „sciences morales" hinzu. Damit klärt sich auf, daß Cohen den Begriff „Geisteswissenschaften" 94 nicht in dem weiten Sinne versteht, wie er durch D i l t h e y wenig später klassisch geworden ist, sondern im traditionellen Sinn als Inbegriff der „moralisch-politischen" Wissenschaften. 92

KBEi, s. 153. KBE 1 , S. 229. 94 Vgl. zur Begriffsgeschichte: Rothacker, Erich: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München und Berlin 1927; Diemer, Α.: Stichwort Geisteswissenschaften, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 3, 1974, S. 211 ff. 93

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Den moralisch-politischen Wissenschaften und, als den „praktischen Richtungen der Kultur", dem Gebiet der „religiös-sittlichen und zivil-sittlichen Einrichtungen" glaubt Cohen sittliche Begriffe und Ideen inhäriert, die die Ethik im Verfahren der transzendentalen Inquisition ans Licht zu bringen hat. „Es liegt in dem Begriffe der transzendentalen Methode, sofern sie auf den Geltungsgrund der Wissenschaften gerichtet ist, daß ihre Anwendung auf die ethische Frage nur in übertragener Weise erfolgen kann. Denn Wissenschaften, nach deren ihre Gewißheit bedingenden Grundlagen geforscht werden könnte, sind bekanntlich für die ethischen Probleme nicht als Fakta gegeben. Nach den Wurzeln und Triebkräften im menschlichen Geiste aber sollen wir, sofern wir transzendental verfahren, nicht fragen dürfen. Da bleibt denn kein anderer Ausweg als das Faktum analoger Kulturerscheinungen und Wissenschaften anzusprechen, wo es am Faktum einer Wissenschaft fehlt, welcher eine mathematische Gewißheit beiwohnt. Ein solches Analogon bieten diejenigen theoretischen und praktischen Einrichtungen der Kultur dar, welche als Geisteswissenschaften, als sciences morales, und als das Gebiet der religiös-sittlichen, wie der zivil-sittlichen Einrichtungen sich bestimmen. Denn auch das Recht, mit der einen seiner Wurzeln, der Freiheit des moralischen Wesens, nährt sich aus dieser Quelle. Da nun die Metaphysik für die theoretischen Fragen sich als Erkenntniskritik definiert hat, so wird für den übrigen Teil der Metaphysik, welcher die praktische Frage betrifft, die Metapher der transzendentalen Frage also lauten können: Wie ist all jenes Sittliche nach Art der Wissenschaft möglich?*" Wenn Ethik von dem handelt, „was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht", so drängt sich die Frage auf, ob Cohen mit der oben angedeuteten Lösung nicht wiederum aus dem Sein der Erfahrungswelt, nämlich den gesellschaftlichen Zuständen, ein Sollen ableitet. In den Ausführungen Cohens läßt sich schlüssig die Anlage für eine Logik der Geistes- bzw. Sozialwissenschaften finden, insoweit die Ethik als die transzendentale Kategorienlehre dieser Wissenschaften verstanden wird. Doch wie vermag die Ethik das Sittengesetz, das Gute, in den „Kulturerscheinungen" zu identifizieren, wenn sie es nicht schon vorausgesetzt hat? Die Entdeckung und die Rechtfertigung des Sittengesetzes sollte aber gerade am Faktum der Kulturerscheinungen erfolgen. Offenbar ist das Moralprinzip schon festgestellt, bevor es in der Vielfalt der gesellschaftlichen Einrichtungen wiedererkannt wird.

95 Grundlegend: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883). Einen Begriff vom Umfang der Geisteswissenschaften gibt Dilthey (in: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910)): „Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und Dichtung, von Kunst und Musik, philosophische Weltanschauung, als Theorie und Erkenntnis des historischen Verlaufs sind solche Wissenschaften." In: GSchr., Bd. VII, 1926, S. 70. 96 GM 8 (1908), Biographisches Vorwort des Herausgebers, S. X I f.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

241

„Also der praktische Teil der Metaphysik die Ethik, deren erkenntniskritische Bedeutung in dem Nachweis besteht, daß dasselbe Erkennen, welches uns Mathematik und Naturwissenschaft ersinnen läßt, nicht zwar in dem gleichen Grade des Wissens, aber in derselben Richtung des Wissenwollens uns zu den Ideen treibt, welche die Gesetze der Natur in der Freiheit des Sittenreiches krönen. So behauptet sich die Ethik als eine philosophische Disziplin, und verwahrt sich zugleich vor dem Untergang in die Religion oder in das Recht. Was Religion und Recht von ihr zu fordern und beständig einzuholen haben, das ist nichts Geringeres als ihre Legitimation. Und andererseits hat die Ethik von Religion und Recht Gedanken und Sätze, Tatsachen und Formen zu entlehnen, um sie auf Grund der eigenen Prinzipien als Lehrsätze zu formulieren. Aber diese Prinzipien verwandeln selbst die entlehnten Gedanken in neue Begriffe. Die Ethik verdirbt sich selbst, wenn sie darauf ausgeht, sich mit der Religion zu identifizieren; ganz ebenso wie sie oftmals sich aufgegeben hat, wo sie das Recht in sich verschlingen zu können glaubte, anstatt lediglich die Prüfung des Rechtes vor dem Forum des Sittengesetzes anzustellen97." Wenn die Ethik von Religion und Recht „Gedanken und Sätze, Tatsachen und Formen" entlehnt, um sie auf Grund „der eigenen Prinzipien als Lehrsätze zu formulieren", so wird, wie oben schon behauptet war, das Moralprinzip als Beurteilungsmaßstab der Rechtsinstitutionen vorausgesetzt. Problem der Begründung der Ethik war es jedoch, das Sittengesetz erst einmal am Faktum der Kulturerscheinungen zu entdecken. Offensichtlich stellen Recht und Religion nach dieser Konstruktion doch nicht die ratio cognoscendi der Moralprinzipien dar; die letzteren sind auch nicht die ratio essendi der ersteren, vielmehr lassen sich die Moralprinzipien als die ratio regulandi der Kultureinrichtungen betrachten. Cohen geht hier im Grunde von einer platonistischen ZweiweltenKonstruktion aus: Die sittlichen Ideen haben ein apartes Sein und werden auf eine bestimmte Weise am Leitfaden der regulativen Ideen der Erfahrungslehre entdeckt und beglaubigt. Sie finden Anwendung im Recht, wo sie die Legitimation der rechtlichen Institutionen überprüfen. Obwohl Cohen im Bemühen um die folgerechte Einsetzung der transzendentalen Methode auch für die Ethikbegründung ein analoges Faktum in den Kultureinrichtungen und Geisteswissenschaften aufzuweisen sucht, vermag er nicht klarzumachen, in welcher Weise theoretische und praktische Kultur Geisteswissenschaften und Rechtseinrichtungen - die sittlichen Prinzipien beglaubigen können. Recht hat sich zwar vor dem Forum des Sittengesetzes zu legitimieren, doch ist das Problem der Deduktion des Sittengesetzes anders gestellt: Danach hat das am Faktum der Kulturerscheinungen entdeckte Sittengesetz seine regulativ-wirkliche, praktisch-objektive Gewißheit als Geltungsbedingung der Kulturerscheinungen des Rechts zu erweisen. Cohen ist schließlich also über das Begründungsmuster in „Kants Begründung der Ethik" trotz 97

1

GM (1908), S. XII.

Winter

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

der Einführung eines den mathematischen Naturwissenschaften „analogen Faktums" nicht hinausgekommen, obwohl die ersten Äußerungen diesen Schluß nahelegten. Eine kurze Bemerkung in der zweiten Auflage von „Kants Theorie der Erfahrung" aus dem Jahre 1885 scheint die oben geäußerte Vermutung einer platonistischen Zweiwelten-Konstruktion zu widerlegen, doch sind die Ausführungen zu kurz, um weitere Bestätigung zu erlauben. „Zwar gibt es keine Wissenschaft der moralischen Probleme, gleichwertig mit dem Faktum der mathematischen Naturwissenschaft; aber die methodische Analogie besteht doch: daß der Ethiker nicht glauben dürfe, das Sittengesetz erzeugen zu müssen, während er nur die Form desselben zu bestimmen habe. Seine Aufgabe ist zumindest für die Inangriffnahme des Problems schwieriger hier als dort: aber auch auf Kritik im negativen und im positiven Sinne hat auch der Ethiker sich zu bescheiden. An den Kulturtatsachen, welche das Sittengesetz erraten oder offenbaren, hat er die Formel und den Wert desselben zu entdecken 98 ." Das vier Jahre nach der 2. Auflage von „Kants Theorie der Erfahrung" erschienene Werk „Kants Begründung der Ästhetik" zeigt, daß Cohen an seiner Interpretation der Kantischen Ethik in der schon bekannten Fassung festhält. „Die Heterogeneität der Gebiete, weil der methodischen Mittel und Probleme zwischen Natur und Sittlichkeit, müssen erkannt werden, wenn die Ethik als eine von der Naturwissenschaft unabhängige, obzwar von ihr geforderte erkannt werden soll. Denn diese Forderung vertritt die Idee als die Aufgabe von Problemen, die der Mechanik unzugänglich bleiben müssen. Und die »Antinomie' zwischen Freiheit und Kausalität ließ sich dahin lösen: daß die Kausalität bei den Naturwesen uneingeschränkt in Geltung bleibe, die Freiheit dagegen als Idee, als das Ding an sich einer Aufgabe etwas ganz Anderes zu bedeuten habe, als was den Gegenstand der mathematischen Erfahrung angeht. Die Freiheit vertritt als Zweckidee das Prinzip des Individuums 99 ." Das Individuum ist das „Subjekt der Sittlichkeit" und gibt sich kraft seiner Autonomie das Sittengesetz als „die Verfassung autonomer, die Sittlichkeit erzeugender Wesen" 100 . Auch hier bleibt es dabei, daß Cohen den behaupteten Geltungswert des Sittengesetzes allein über die regulative Zweckidee der Freiheit sichert. Ebenfalls bestätigt sich, daß er an der bereits im „Biographischen Vorwort" festgestellten Zweiwelten-Theorie festhält: Die sittlichen Prinzipien finden „Anwendung" und „gewinnen Gestalt in den Geisteswissenschaften", doch zeigt Cohen nicht - worin eigentlich das Problem besteht - , wie die sittlichen Prinzipien an dem Faktum der Geisteswissenschaften entdeckt werden. Er erwägt nicht, am Leitfaden der transzendentalen Methode auf dieses Wissenschaftsfaktum die Begründung der Ethik zu stützen. „In Natur und Sittlich98

KTE 2 , S. 579. KBÄ, S. 132. 100 KBÄ, S. 137.

99

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

243

keit lassen sich alle Arten der wissenschaftlichen Erkenntnis einordnen. Die Geisteswissenschaften sind moralische Wissenschaften, soweit sie nicht in ihren Methoden und Hilfsmitteln von Mathematik und Naturwissenschaft geleitet und inhaltlich erfüllt werden. In ihrer Chronologie nimmt auch die Geschichte die Mathematik in Anspruch. Insofern die sittlichen Ideen auf die Naturwesen der Menschen zur Anwendung kommen, haben alle Wissenschaften, auch die moralischen, in ihren Grundlagen und ihrem Material an den Naturwissenschaften Anteil. Wenn dies tatsächlich von der Psychologie seit Aristoteles anerkannt ist, so muß es auch für die Sprachwissenschaft seinen Teil haben. Und auch die Rechtswissenschaft, welche die jeweiligen Wirklichkeiten auferbaut, in denen die sittlichen Ideen Gestalt gewinnen, ist in der Rücksicht auf die Naturbedingungen jener Tatsachen und Wirklichkeiten an die Empirie der Naturbeschreibung gewiesen, wenngleich sie andererseits und in Hauptrichtung das Ewige, die ewige Vertiefung der sittlichen Aufgabe als ihren Inhalt zu erzeugen hat 1 0 1 /' Gegenüber dem „Biographischen Vorwort" zeigt sich in „Kants Begründung der Ästhetik" insoweit ein neuer Gedanke Cohens, als er den Geisteswissenschaften, deren Status im Verhältnis zur Ethik im „Biographischen Vorwort" unklar geblieben war, ihre methodischen Prinzipien zuweist. Die Geisteswissenschaften haben zum Gegenstande „die Geschichte des Geistes, der Sitten, der Menschheit". Sie betrachten ihre Gegenstände unter der Annahme praktischer Freiheit; sie beurteilen das Handeln der Menschen am Modell des Sittengesetzes. Ihr Erkenntnisprinzip ist das Moralprinzip als die „Idee der Menschheit". „Denn die Weisung, welches für alles a priori im Begriffe des Transzendentalen liegt, fehlt wahrlich auch hier nicht: Neben der Natur- gibt es eine Menschengeschichte, in Staat und Recht, in Sitte und Religion; nächst der Naturwissenschaft muß es daher eine Geschichte des Geistes, der Sitten, der Menschheit geben. Die Freiheit, als Prinzip der Individualität, ist die Idee der Menschheit, die Idee der Sittlichkeit; das Erkenntnisprinzip daher auch der Geisteswissenschaften. Und wie die Idee, als Zweckprinzip, niemals den Grundsatz der Kausalität stören darf, sondern denselben vielmehr nur über seinen heimischen Gebrauch homogen zu erweitern hat, so wird unsere Kenntnis von den kausalen Verhängnissen der natürlich und sozial bedingten Menschen nicht gehemmt, sondern gelichtet, indem wir die Annahme machen, daß diese Verhängnisse unter der Idee der Freiheit gelockert und geläutert werden 1 0 2 /' Wenn aber das Moralprinzip das Erkenntnisprinzip der Geisteswissenschaften bildet, so hätte es für die Ethikbegründung bei der Anweisung der transzendentalen Methode auf das Faktum einer Wissenschaft nun nahegelegen, 101 102

1

KBÄ, S. 98 f. KBÄ, S. 133.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

nicht aus der Freiheitsidee der Erfahrungslehre, sondern aus den Geisteswissenschaften das Sittengesetz zu beglaubigen. Überlegt man, mit welcher Entschlossenheit Cohen zu dieser Zeit die transzendentale Methode in den Vordergrund seiner Kant-Interpretation gerückt hat, so muß es verwundern, daß er die methodische Konsequenz, die in der Überlegung, daß die Freiheit das Erkenntnisprinzip der Geisteswissenschaften sei, enthalten ist, nicht gezogen hat, obwohl sie doch nach allen Seiten hin vorbereitet war. Diese Architektur gewinnen seine Auffassungen auch noch nicht im 1896 erschienenen „Kritischen Nachtrag" zu F. A. Langes „Geschichte des Materialismus". Dort stellte er die Frage, an welchem Material sich die Ethik als Kritik bezeugen kann. Der Logik, „im weitesten Sinne" 103 liegt das Faktum der mathematischen Naturwissenschaft vor. „Auf welche Wissenschaft kann sich die Ethik berufen? Man könnte die Jurisprudenz nennen 104 ." Cohen begegnet dieser Lösung, entgegen ihrer zentralen Bedeutung, die sie später für die Begründung der Ethik bekommen sollte, reserviert. Die Gründe für diese Zurückhaltung müssen deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit finden. Cohens Hauptbedenken ist, daß die Jurisprudenz - nicht wie die Naturwissenschaften, die ihren Gegenstand: die Natur als etwas an sich Seiendes, unabhängig vom Menschen Existierendes nimmt - es immer gleichsam mit „Objekten zweiter Hand" 1 0 5 zu tun hat. Damit in der gleichen Schwierigkeit wie alle mit den geistigen Produktionen der Menschen befaßten Wissenschaften bezieht sich die Rechtswissenschaft auf ein vom Menschen Erzeugtes, dessen Sinn und begriffliche Struktur schon mehr oder weniger vorgeprägt ist, aber auch vermittelt ist mit den Bedürfnissen und Nöten, die der anthropologischen Natur des Menschen entstammen. Die „Komplikation von Begriffen" besteht also darin, daß bei der Untersuchung der ethischen Erkenntnis in der Jurisprudenz sich unvermeidlich Probleme mit dem Element ergeben, dessen Anteil an diesen „Hervorbringungen" naturgesetzlich bestimmt ist 1 0 6 . „Indessen, hier scheidet sich der Begriff der Wissenschaft der Natur als Erkenntnis des Seienden, von aller sonstigen Wissenschaft, welche zum Objekt den Menschen hat, und zwar nicht den Menschen im Sinne der Anatomie und ihres Zubehörs. Im Menschen übernehmen jene Wissenschaften zugleich eine Komplikation von Begriffen, welche durch den Menschen erst geschaffen und zubereitet werden. So unterscheidet sich diese Wissenschaft von der Naturwissenschaft auch im Begriffe des Objekts. Das Objekt der Naturwissenschaft ist eindeutig bestimmt, auch wo und soweit es lediglich Problem ist; es ist nicht ein Objekt zweiter 103 GM 5 (1896), S. LI. i° 4 Ebd. 105 GM 5 (1896), S. LI. 106 Vgl. auch Franz P. Lindheimer: Beiträge zur Geschichte und Kritik der Neukantischen Philosophie. Erste Reihe: Hermann Cohen, Diss. Bern 1900, S. 46.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

245

Hand. Jene anderen Wissenschaften haben zu ihren Problemen nicht schlechthin den Menschen, sondern eo ipso dessen Hervorbringungen, zum mindesten partielle, und es ist Unklarheit und Verdunkelung, wenn die Gegenstände des Rechts als Naturbegriffe 107 bezeichnet werden. Ohne Mitwirkung des Menschen entsteht nicht nur kein Rechtsverhältnis, sondern auch keine Wirtschaft und kein Verkehr. Also ist das Rechtselement kein reines Naturprodukt; und daraus folgt, daß es sich in der Rechtswissenschaft nicht lediglich um die Erkenntnis des Seienden handelt, sondern zumindest um die Erkenntnis dessen, was nicht früher ist, als es von Menschen gemacht wird. Die Ethik kann demnach einen reinen Faktor des Denkens in dieser Wissenschaft an dem Objekt derselben nicht so einfach rekognoszieren, wie in der Naturwissenschaft 108 ." Cohen bricht an dieser Stelle seine Überlegungen, wie weit die Ethik sich auf ein Faktum der Rechtswissenschaft in ihrer Begründung stützen könnte, ab, um dann - nach einem kurzen Exkurs gegen die Annahme der Ethik als „einer Art von Naturwissenschaft" 109 - unvermittelt das Gewirre und Getriebe der Geschichte als das Material zu betrachten, an dem die Ethik ihr Prinzip zu entdekken habe. „Vielleicht kann man jene Anmaßung, die Fragen der Ethik als Fragen der Anthropologie zu behandeln, entscheidend nur aus dem Gesichtspunkt widerlegen, den schon Plato aufgestellt hat: daß der Mensch als Objekt der Ethik nicht nur nicht Naturwesen, sondern überhaupt nicht Einzelwesen, also von vornherein ein Abstraktum ist, dessen Konkretion die Gesamtheit, die Gemeinschaft der Menschen bildet. Plato nennt diese Gemeinschaft, aus welcher der ethische Mensch abgeleitet werden muß, Staat. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als daß die Ethik ihren Blick auf das Getriebe und Gewirre der Geschichte richtet: ob sich in ihm ein Faktor des Denkens, ein Prinzip der Weltgeschichte entdecken lasse 110 ." Schon die Andeutung einer solchen Richtung der Lösung produziert eine Reihe von Fragen und Problemen: Wenn die Ethik ihr Prinzip in dem Getriebe und Gewirre der Geschichte suchen müßte, so würde sie auf das Faktum einer Wissenschaft resignieren. Das „Prinzip der Weltgeschichte", soll es weder als Naturgesetz, noch als Gesetz der Geschichte, „wenn dieselbe zweideutigerweise als Natur gedacht wird" 1 1 ^ konstruiert sein, muß von ganz anderer Struktur sein. Doch wie wäre es am Erfahrungsmaterial der Geschichte zu beglaubigen? Diese Fragen lassen sich durch folgende Erwägungen auflösen. Der Begriff der Geschichte wird von Cohen doppeldeutig verwendet. Die Geschichte als 107 Cohen wendet sich hier wohl gegen Jherings „naturhistorische Methode". Vgl. Rudolf von Jhering: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1. Bd. (1852), zit. nach der 5. Aufl. Leipzig 1891, S. 26: „Wir legen damit dem Recht die Eigenschaften eines Naturprodukts bei, also Einheit in der Vielheit, Individualität, Wachstum von innen heraus etc." 108 GM, S. 51 f. 109 GM, S. 52. 110 GM, S. 52. 111 GM 5 (1896), S. LIV.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Geschichte der Menschen ist als solche „Hervorbringung" 112 des Menschen. Wir bemächtigen uns der Geschichte, indem wir die überlieferten Realisierungen menschlicher Zwecksetzungen untersuchen und deuten. Geschichte ist also immer Konstruktion; Ort der wissenschaftlichen Konstruktion der Geschichte sind die Geisteswissenschaften. Im Unterschiede zur Natur, der Zwekke von der Naturwissenschaft aus forschungsmethodischen Gründen nur unterlegt werden, handelt der Mensch nach Zwecken. Die Betrachtung der Geschichte, wie sie in den Geisteswissenschaften vollzogen wird, lehrt, daß die Menschen der Geschichte ihre Zwecke am Maßstabe bestimmter Prinzipien ausgerichtet haben. Das Muster dieser Prinzipien ist das Moralprinzip, welches deshalb nach Cohens Ansicht das „Prinzip der Weltgeschichte" bildet. Diese Erkenntnis, die der Ethiker als Historiker in der Geschichte entdeckt, beruht also nicht auf einer nach Kategorien der Natur konstituierten Erfahrung, sondern auf der nach Prinzipien der Sittlichkeit organisierten Erfahrung. Diese Erfahrung betrifft nicht das Sein der Natur, sondern das Sein des Sollens. Sie ist Sollenserfahrung. Als solche muß sie nicht verwirklicht, vergegenständlicht worden sein, obwohl sie als „reiner Faktor im Realen" 113 wirkt. Doch wie verhalten sich diese Ausführungen zu Cohens Bemerkung in „Kants Begründung der Ästhetik", daß das Moralprinzip das „Erkenntnisprinzip der Geisteswissenschaften" sei? Im „Kritischen Nachtrag" wird als „Prinzip der Weltgeschichte" das Moralprinzip als das das Handeln der Menschen der Geschichte seit je bestimmende Modell entdeckt. Bedeutet dies aber, daß das Moralprinzip damit zugleich zum „Erkenntnisprinzip der Geisteswissenschaften" wird? Die Bestimmung des Erkenntnisprinzips der Geisteswissenschaften betrifft ein methodologisches Problem, die Frage nämlich, nach welchen Gesetzlichkeiten die Gegenstände der Geisteswissenschaften konstituiert werden. Die Hermeneutik hatte hier das Modell des Verstehens gefunden. Cohen erklärt demgegenüber in „Kants Begründung der Ästhetik" das Sittengesetz als das die Geschichtsbetrachtung organisierende Prinzip. Der „Kritische Nachtrag" scheint nun aber wiederum nicht auf den methodologischen Aspekt abzustellen, sondern auf den gegenstandsbezogenen, inhaltlichen; nicht also die das Faktum einer Wissenschaft konstituierenden apriorischen Formen, die allen besonderen Gesetzen zugrunde liegen, sondern eine solche besondere empirische Gesetzlichkeit bildet offenbar das „Prinzip der Weltgeschichte" im „Kritischen Nachtrag". Von dieser Unklarheit über den Status von Methode und Gegenstand der Geschichte und Geisteswissenschaften bei der Begründung der Ethik sind Cohens Aufstellungen - wenigstens programmatisch - in der „Logik der reinen Erkenntnis" befreit. 112 113

GM 5 (1896), S. LI. GM 5 (1896), S. U l i .

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

247

Die Methode hat jetzt eindeutig den Primat erhalten. Der Gegensatz von Methode und Gegenstand wird von Cohen als falsche Problemstellung verworfen. Die Methode bestimmt den Gegenstand. Folglich begründen die in den Geisteswissenschaften vorausgesetzten Prinzipien ihre Gegenstandsbereiche. Die Grundbegriffe der Geisteswissenschaften hat die Ethik zu entdecken und zu beglaubigen. Sie ist die Logik der Geisteswissenschaften. Doch wie soll die Ethik ihre Aufgabe als Methodologie der Geisteswissenschaften bei der Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Geisteswissenschaften beginnen? Cohen zeichnet - entsprechend der hervorragenden Stellung, die der Mathematik für die Logik der mathematischen Naturwissenschaft zukommt, - die Geschichte, d. h. jetzt die Geschichtswissenschaft, als das „Hauptgebiet der Forschung für die sciences morales" 114 aus. „Für die Geisteswissenschaften bildet die Ethik das Analogon der Logik, als Analogon der Mathematik dürfte für sie die Geschichte zu bezeichnen sein 115 ." Nur zwei Jahre später, in der „Ethik des reinen Willens" nimmt jedoch nicht mehr die Geschichte den Platz eines Analogons der Mathematik ein, sondern die Rechtswissenschaft. Und in der 2. Auflage der „Logik der reinen Erkenntnis" aus dem Jahre 1914 finden sich dann auch die nach den Umstellungen in der „Ethik des reinen Willens" erforderlichen entsprechenden Veränderungen. Allerdings wird der Parallelismus zur Logik der mathematischen Naturwissenschaft hier insofern weitergetrieben, als jetzt „als Analogon der Physik etwa die Geschichte" 116 bezeichnet wird.

3.4. Zusammenfassung

Die Ausführungen über den Gang der Auslegungspositionen Cohens, die zugleich die Entwicklung seiner eigenen ethischen Auffassungen dokumentieren, zeigen deutlich, daß um die Jahrhundertwende ein „Wendepunkt der systematischen Methode Kants" 1 1 7 erreicht war, der dann eine methodische Umorientierung einleitete, die mit Cohens Entdeckung der Geisteswissenschaften als dem gesuchten Wissenschaftsfaktum auch die Begründung der Ethik nun ganz der transzendentalen Methode unterstellte. Cohen wirft in der „Ethik des reinen Willens" das Problem einer Kritik der reinen praktischen Vernunft 1 1 8 auf. Damit folgt er dem Programm der Kritik der reinen spekulativen Vernunft. Wie am Material der Naturwissenschaften Kritik daraufhin geübt wurde, ob sich in ihnen die apriorischen reinen Formen der Vernunft entdecken und rechtfertigen ließen, so soll jetzt, wie zunächst an der Geschichte, an der Rechtswissenschaft Kritik geübt werden daraufhin, ob 114

LrE, S. 333. LrE, S. 426. 116 LrE 2 , S. 495. 117 KBE 2 , S. 376. " 8 Vgl. ErW, S. 216. 115

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

248

in ihr reine praktische Vernunft, reiner Wille im geschichtlichen, respektive Rechtshandeln in Vollzug trete und sich beglaubigen lasse 119 . Mit dieser methodischen Umorientierung, mit dem Versuch einer Heilung des „fundamentalen Mangels der Disposition Kants" scheinen aber jene Mauern zwischen Sein und Sollen eingerissen, die doch gerade den ganzen Wert der kantischen Lehre ausmachen sollten. „Sofern jedoch die Ethik die Aufgabe hat, zu lehren, was sein soll, so hat sie zu lehren, was nicht ist. Ihre Aufgabe ist somit: das Seiende der Erfahrung - denn jenseits derselben liegt kein Sein, auf das unsere Erfahrungslehre sich beziehen könnte -, mithin die Erfahrung zu überschreiten 120 ." Auch jetzt will die Ethik des reinen Willens lehren, was sein soll, aber es soll bestimmt werden aus dem, was ist. Das verlangt die transzendentale Methode. „Unausweichlich ist es daher, daß eine Erfahrung gegeben sein und aufgesucht werden müsse, an welcher diese Untersuchung auf Reinheit zu vollziehen sei 121 ." Doch wie soll es möglich sein, daß die Ethik lehrt, nicht was ist, sondern was - ob es gleich nicht ist - sein soll, und es trotzdem entdeckt und rechtfertigt aus dem, was ist, nämlich aus den in den Geisteswissenschaften systematisierten und begrifflich verfaßten, im Handeln der Menschen hervorgebrachten Objektivationen. Es muß also, wenn die Vereinbarkeit beider Ansprüche dargetan werden soll, das Verhältnis von Sein und Sollen in einem anderen Sinne bestimmt werden. Cohen hält es für einen „verhängnisvollen Mangel in der Formel von Sein und Sollen" 122 , daß bei dieser Unterscheidung der Eindruck entstehen könnte, als habe es nur das Sein mit Erkenntnis, nämlich durch Erfahrung erkennbarer und überprüfbarer Gewißheit zu tun, während das Sollen nur ein „Phantasiegebiet frommer Hoffnungen" 123 zu bezeichnen hätte. „Das Wissen soll nur vom natürlichen Menschen, wie von der Natur überhaupt handeln können; das Sittliche dagegen sei ihm versagt und fremd. So wird das Vernunft-Interesse am Sittlichen verkürzt, die Theorie der Ethik bestritten. Wenn aber die Philosophie der Ethik verworfen wird, womit soll man dann alsdann salzen?" 124 . Wenn nämlich für die Ethik ein Sein nicht behauptet würde, so fragt sich, welche Kontrolle, welche Möglichkeit der Bestätigung dann der Deduktion, der Begründung bleibt? Die Zweideutigkeit, die sich hier im Begriff des Sollens ergibt, beruht auf einer solchen im Ausdruck des Seins. „Nur das Sein der Natur als der Natur der Naturwissenschaft, soll hier das Sein bedeuten, und von diesem Sein soll das Sollen unterschieden werden 125 ." 119

ErW, S. 216. 120 KBE 1 , S. 12 f. 121 122 123 124 125

ErW, ErW, ErW, ErW, ErW.

S. S. S. S. S.

228. 23. 25. 46. 23.

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

249

Der Dualismus von Sein und Sollen besagt also, daß das Problem der Ethik, die Frage nach dem Sein des Sollens, selbständig gemacht, von dem der theoretischen Vernunft, dem Sein der Natur, unterschieden wird und trotzdem als Problem, als Interesse der Vernunft anerkannt bleibt. „In diesem Sollen liegt der Seinswert der Ethik 126", es beschreibt den Umfang der Vorschriften des praktischen Vernunftgebrauchs, der Gesetze der Ethik: „Ein solches wahrhaftes Sein dem Inhalt des sittlichen Wollens sicherzustellen, wird ein Hauptaugenmerk der vorliegenden Ethik sein. Darauf wird sie ihr dringlichstes Interesse richten und darin wird sie die Selbständigkeit und die Eigenart der Ethik zu begründen suchen. Es darf kein Zweifel bleiben, daß die Ethik es nimmermehr mit einer transzendenten Schäferwelt zu tun habe, dieweil Realität doch nur die der sinnlichen Natur sei. Es muß durchdringende Klarheit und genaue Sicherheit über den Seinswert geschaffen werden, welcher den Schöpfungen des Sittlichen beiwohnt 127 ." Die Aufgabe der klaren und sicheren Bestimmung des Seinswerts der Sittlichkeit hat, so lautet das Programm, die Ethik an den Geisteswissenschaften zu vollziehen. In den Geisteswissenschaften werden die Kulturobjektivationen nicht nach dem Muster der naturwissenschaftlichen Erfahrung als raum-zeitlich bestimmte Kausalverläufe bewegter Körper konstruiert, sondern unter dem Aspekt der in ihnen realisierten Sittlichkeit beurteilt. Die Geisteswissenschaften, so heißt also Cohens zentrale Prämisse für die Begründung der Ethik, sind moralische Wissenschaften, ihre Gegenstände werden konstituiert am Leitfaden sittlichen Handelns. Die transzendentale Frage: Wie sind Geisteswissenschaften möglich? beantwortet sich demgemäß dahin, daß als gemeinsames Prinzip der Erfassung ihrer Gegenstände ein sittliches Modell zugrundegelegt wird, an dem diese geordnet werden. Die Ethik als Logik der Geisteswissenschaften hebt diese sittlichen Prinzipien, nach denen die Geisteswissenschaften verfahren - über deren immanente Anwendungsweise die Geisteswissenschaften nur teilweise sich bewußt sind -, ans Licht und beglaubigt sie als methodische Voraussetzungen der Geisteswissenschaften. In diese Lösung des Begründungsproblems geht also einmal mit Blick auf die Ethik ein, daß es das Gute gibt und als solches im Verfahren der Geisteswissenschaften erkennbar wird, zum anderen - mit Blick auf die Geisteswissenschaften -, daß ihr methodisches Ordnungsprinzip das sittlich Gute ist, Geschichte also an der Elle der jeweiligen Realisierung des Guten gemessen128 wird. An dieser Stelle soll nicht eingetreten werden in die Erörterung der zahlreichen sich aufdrängenden Fragen zur Schlüssigkeit dieser Konzeption, in den Vergleich mit jenen folgenreicheren Auffassungen der Geisteswissenschaften, 126

ErW, S. 26. ErW, S. 26. 128 Von einem Schüler Cohens ist dann auch eine Ethik in ähnlicher Intention geschrieben worden. Görland, Albert: Ethik als Kritik der Weltgeschichte, Leipzig 1914. 127

250

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

die - wie der südwestdeutsche Neukantianismus - den Gegenstand der Geisteswissenschaften am Leitfaden der Werte 1 2 9 oder wie Dilthey im Medium nachvollziehbaren Sinnes organisierte. Die oben gestellte Frage, ob die - auf ein Wissenschaftsfaktum gestützte konsequente Anwendung der transzendentalen Methode bei der Begründung der Ethik nicht zugleich mit der Aufgabe einer Ethik, die lehrt, was nicht ist, sondern was - obgleich es nicht ist - sein soll, in eine unheilvolle Kollision gerät, müßte von Cohen in folgender Weise beantwortet werden: Die Geisteswissenschaften untersuchen das durch Erfahrung feststellbare Handeln der Menschen in Gegenwart und Geschichte. Sie sind dabei zunächst in hohem Maße auf naturwissenschaftliche Kenntnisse angewiesen, wenn es darum geht, überhaupt festzustellen, was als Ereignis der Erscheinungswelt der Fall ist. Doch stellt diese hypothetische Konstruktion einer mit den natuwissenschaftlichen Kategorien konstituierten Wirklichkeit nur die Vorstufe 130 für die Verarbeitungsstufe der geisteswissenschaftlichen Forschung dar. Diese systematisiert und organisiert den Stoff unter ethischen Kategorien. Ob der in den ethischen Kategorien immanente Kompaß sittlicher Prinzipien je seine Realisierung im Handeln der Menschen gefunden hat oder finden wird, mag unentschieden bleiben. Daß aber alle Geisteswissenschaften mit dem Kompaß ethischer Begriffe, die aus keiner naturwissenschaftlich-kategorial erzeugten Erfahrung abgelesen oder abstrahiert werden können, operieren müssen, ist Cohens feste Ansicht. Die ethischen Begriffe sind die Grundlegungen für eine andere Art von Erfahrung, die nicht unter Kategorien der Natur konstituiert wird: dies ist die sittliche Erfahrung. Sie betrifft den Komplex der Regeln, unter die die Menschen ihr Handeln stellen und nach denen sie ihr Handeln beurteilen. Nun sind diese Regeln von einer unübersehbaren empirisch-historischen Vielfalt - gleich der Vielzahl der empirischen Naturgesetze - , doch beruhen sie auf den reinen Formen der ethischen Kategorien, also gleichsam auf ihrer ethischen Tiefenstruktur, wie die empirischen Naturgesetze ihrerseits auf den reinen Naturgesetzen, den synthetischen Grundsätzen beruhen. Diese ethische Tiefenstruktur, d. h. die reinen kategorialen Formen, beinhalten die Grundmuster moralisch guten Handelns, einer vernünftigen Ordnung menschlichen Zusammenlebens. Sie sind das platonische Ideal, mit dessen Hilfe nach Cohens Theorie alle Geisteswissenschaften operieren, das den Kompaß darstellt, mit dem Geschichte geschrieben 131 und an dem Rechtswissenschaft sich in der Beurteilung der Rechtspraxis orientiert. 129 Auf die auffällige Ähnlichkeit der platonischen Konzeption des Guten bei Cohen und des Wertes bei Richert ist hier hinzuweisen. 130 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen Cohens in KBÄ, S. 98 f. 131 Die Kategorien des hermeneutischen Sinn-Verstehens als Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution des historischen Gegenstandes auszuweisen, wie es Cohens Zeitgenosse Dilthey in seinem Programm der „Kritik der historischen Vernunft" versuch-

1. Kap.: Entwicklungsphasen der Ethik-Konzeption

251

Die Darlegung des Inhalts dieser ethischen Tiefenstruktur, also der reinen kategorialen Formen der Ethik, die a m Material der Rechtswissenschaft, der M a t h e m a t i k der Geisteswissenschaften entdeckt u n d begründet werden soll, ist jetzt i n Angriff zu nehmen.

te, lag außerhalb Cohens Horizont. Cohens naturwissenschaftlich-wissenschaftstheoretische Orientierung verstellte ihm den Zugang zu den Problemen der phänomenologischhermeneutischen Gegenstandskonstitution in den historischen Wissenschaften und damit zu einer anwendungsergiebigen Logik der Geisteswissenschaften. Vgl. dazu auch Wolandt, Gerd: Überlegungen zu Kants Erfahrungsbegriff, in: Kantstudien 69 (1978), S. 46 ff. (S. 52 ff.).

Zweites Kapitel E t h i k als Lehre v o m Menschen: Die Leitgedanken der „ E t h i k des reinen Willens"

1. Cohens Vorbegriff von der Richtung der zu lösenden ethischen Probleme

1.1. Der Leitgedanke des Aufbaus der Ethik: Ethik als Lehre vom Menschen

Die Frage, ob es Cohen gemäß seinem Programm der transzendentalen Methode gelingt, die Grundbegriffe der Ethik aus dem Material der Rechtswissenschaften zu konstruieren, läßt sich erst nach der Darstellung der Durchführung und der Ergebnisse beantworten. Doch soll jetzt, da es um die Frage geht, wie Cohen es anfängt, mit Hilfe der transzendentalen Methode, der Methode der Reinheit, die Grundbegriffe der Ethik zu entdecken, der Blick gelenkt werden auf die Voraussetzungen, die Cohen schon gemacht hat, bevor er das Werk der Begründung beginnt. Wenn Cohen den Vorsatz faßt, eine kritische Ethik in wahrhaft transzendental-methodischer Reinheit zu begründen, so setzt das voraus, daß er bereits nicht nur ein Verständnis von dem hat, was die Probleme der Ethik sind, sondern auch, in welcher Richtung die Lösung der Probleme der Ethik gesucht werden muß. Umstandslos nämlich kann die transzendentale Methode nicht auf das Faktum einer Wissenschaft bezogen werden. Wie sollte mit der transzendentalen Methode allein entschieden werden können, ob die Fragen, die an das Wissenschaftsfaktum gerichtet werden, solche zur Begründung der Logik der Naturwissenschaften oder solche zur Begründung der Logik der Geisteswissenschaften sind. Woher weiß die Philosophie des Ursprungs überhaupt, daß es neben der Logik auch eine Ethik gibt? Es wird an diesen Fragen deutlich, daß eine Reflexion auf den unterschiedlichen Sinn der Probleme, auf die Logik und Ethik bezogen sind, schon vorausgegangen sein muß. Der Cohenschen Philosophie fehlt also im Ganzen die hermeneutisch-phänomenologische Dimension der Vergewisserung des Sinnes, den die philosophisch-wissenschaftlichen Probleme als Probleme der alltäglichen Lebenspraxis der Menschen haben. Vielmehr setzt Cohen den auf die Grundlegung der Ethik bezo-

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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genen Sinn und Problemhorizont moralischen Fragens immer schon voraus. Erst dieses, vor aller Methode in der alltäglichen Lebenspraxis erworbene Verstehen des Sinnes der moralischen Problematik ermöglicht, bestimmte Wissenschaften daraufhin zu untersuchen, in welcher Weise dem Ethischen ähnliche Sinngehalte auch dort verarbeitet werden. Cohen unterstellt aber nicht nur einen bereits konstruierten Sinn ethischer Fragestellungen, sondern auch eine bestimmte Richtung des zu lösenden Problems der Begründung der Ethik. Auf der Grundlage eines - solchermaßen einen möglichen Lösungsweg schon vor der systematischen Auseinandersetzung erfaßt habenden - Vorverständnisses tritt Cohen in die Auseinanderlegung der Begründung ein. In welcher Weise läßt sich nun dieser Vorbegriff der Ethik, wie Cohen ihn hat, bevor er an das Werk der systematischen Begründung geht, kennzeichnen? Ethik ist die „Lehre vom Menschen"1 und bildet als solche das „Zentrum der Philosophie" 2 . Nicht das „methodische Zentrum" 3 , welches der Logik bereits zugewiesen worden war, aber, ob ihrer praktischen, auf den Menschen bezogenen Zwecke, das inhaltliche. Mit dieser Bestimmung könnte es scheinen, als „ob der Ethik ein sicherer, scharf begrenzter Bezirk im gesamten Gebiete der Philosophie zuteil geworden, und daß sie demzufolge auch als ein klar begründetes und genau bestimmtes Problem anerkannt wäre. Welcher Inhalt 4 scheint deutlicher und genauer zu sein, als der Mensch?" Aufschluß über die Ethik als Lehre vom Menschen läßt sich gewinnen, wenn man nach dem Begriff vom Menschen fragt, der zugrunde gelegt wird. Das komplizierte Bild, das der Begriff des Menschen darstellt, läßt sich aufgliedern in das Individuum, in das Kollektivum der Mehrheit, und in die unendliche Zusammenfassung der Menschen, die Allheit. In diesen drei Richtungen vermag deren Einheit nur die Ethik herzustellen, „vollzieht sich der Begriff des Menschen"5. „Ein Individuum wäre der Mensch? Keineswegs ist .er dies allein: sondern in einer Mehrheit, vielmehr in mancherlei Mehrheiten steht er in Reih und Glied. Und doch ist er nicht dies allein; sondern in der Allheit erst vollendet er die Kreise seines Daseins. Und auch diese Allheit hat mancherlei Gerade und Stufen, bis sie in einer wahrhaften Einheit, in der Menschheit nämlich, ihren Abschluß findet, der aber auch vielmehr ein ewig neuer Anfang ist. Diese Ansicht soll der Leitgedanke unseres Aufbaus der Ethik werden. Sie ist nicht allen Lehrgebäuden der Ethik in gleicher Bedeutung eigen; sie ist am wenigsten allen Vorstellungen vom Sinne des Menschen gemeinsam. Daher lassen sich die Unterschiede und Differenzen in der Entwicklung der Ethik, und in dem Verhältnis der Wissenschaften zur Ethik von hier aus verstehen. Es läßt sich so auch verstehen, wie die Dar1 2 3 4 5

ErW, S. 1. Ebd. Vgl. LrE 1 , S. 513. ErW, S. 3. ErW, S. 7.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Stellungen der Ethik zu den einzelnen Wissenschaften eine nähere Wahlverwandtschaft zu erkennen glauben6." Mit der Einführung des Begriffs der Allheit ist von Cohen die entscheidende Weiche seiner Lösung der Probleme der Ethik gestellt. Die Allheit, die die Logik der reinen Erkenntnis als Kategorie der allgemeinen Logik ausgezeichnet hatte, ist in der Ethik als die „unendliche Zusammenfassung der Menschen" das logische Mittel zur Konstruktion eines ideellen Kollektivsubjekts. Dieses ideelle Kollektivsubjekt stellt in letzter Instanz für Cohen die Menschheit dar. Doch bleibt der Begriff der Menschheit in dieser Fassung unterbestimmt. Es wird nicht deutlich, daß nicht ein naturalistischer Begriff der Menschheit im Sinne der anthropologisch bestimmten Gattung gemeint ist. Dieser Schein könnte noch dadurch verstärkt werden, daß auch das Individuum als der natürliche, leibliche Mensch genommen wird, der zu seiner Gattung der biologisch bestimmten Menschheit ins rechte Verhältnis gesetzt werden soll. Um einen reinen Begriff der ethischen Allheit, das ist der Begriff der Menschheit, vor naturalistischen Vorstellungen zu bewahren, orientiert Cohen ihn auf den Begriff der juristischen Person. Die juristische Person in ihrer Abstraktheit und Unanschaubarkeit ist ihm das Muster für das aller Sinnlichkeit, allen Nimbus des Leiblichen entkleidete reine ethische Kollektivsubjekt. Dieses Beispiel illustriert für ihn den genau bestimmten Begriff der Menschheit als moralischer Person, die transzendent zu aller Anthropologie und Biologie steht. Was aber besagt dieser Begriff der Allheit, wenn „das Problem der Ethik ist : mit der Allheit das Individuum in Korrelation zu setzen, und in dieser die Einheit des Menschen zu vollziehen" ?7 Zunächst wird durch den Begriff der Allheit als der moralischen Person der Menschheit auch das Individuum der Ethik neu bestimmt: nämlich als die Idee des Menschen in jeder Person. Das Medium, die Korrelation von Individuum und Allheit herzustellen, ist für Cohen der Staat; in ihm soll es gelingen, „den Einzelmenschen und die universelle Menschheit zu einer wahrhaften Aufhebung zu bringen" 8 . Der Staat ist Cohen jene Einheit der Allheit, in dem der allgemeine Wille als die Übereinstimmung des Handelns des Einzelnen mit dem Handeln aller anderen sich realisiert. Mit dem Staat, den Cohen hier meint, ist allerdings nicht irgendeine empirische staatliche Verfassung, sondern die am spätaufklärerischen Vorbild orientierte Vertragskonstruktion von Freien und Gleichen gemeint. „Und diese Einheit, das erkennen wir jetzt, kann erst in der Allheit, wie der Staat sie darstellt, ihnen gesichert werden; auch methodisch ist sie in dieser Allheit vorzugsweise zu begründen. Das war schon der Platonische Gedanke. Nicht in der sinnlichen Einzelheit und Besonderheit liegt die Einheit des Menschen, sondern in einer abstrakten Einheit, die dennoch die gediegenste Wirk6

ErW, S. 8. 7 ErW, S. 60. 8 ErW, S. 77.

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lichkeit zur Erzeugung bringt : in der Einheit der staatlichen Allheit, in der Einheit der staatlichen Sittlichkeit 9." Das Thema und die Aufgabe der Ethik muß, das stand für Cohen als philosophische Erkenntnis und als persönliche Erfahrung als Angehöriger einer wenig geschützten Minderheit fest, unzweifelhaft und unverrückbar die Begründung der Idee der staatlich verfaßten Menschheit sein. Cohen hat mit den hier vorläufig resümierten Bestimmungen des Begriffes des Menschen die sichere Basis für die Ausscheidung der von ihm für falsch gehaltenen Begründungsansätze und für die Zuspitzung der von ihm ins Auge gefaßten Lösungsmöglichkeiten gewonnen.

1.2. Abweisung konkurrierender Wissenschaften vom Menschen

Anthropologie, Psychologie, Physiologie, sie gehen zurück auf den biologischen Begriff des Menschen. Im biologischen Begriff des Menschen wird der Mensch als Einheit erfaßt, und „das Individuum bleibt der Kernbegriff des Menschen in der Psychologie" 10. Cohen lehnt die Psychologie als methodischen Ausgangspunkt der Ethik schärfstens ab, weil sie keinen Begriff von der Allheit haben kann, Ethik aber den Begriff der Einheit von Individuum und Besonderheit und Allheit zur Voraussetzung hat. „Wenn die Psychologie in der Individualität der Völker allenfalls noch eine Besonderheit darzustellen vermöchte, so liegt doch die Allheit gänzlich außerhalb ihrer Grenzen. Mit dem Staate ζ. B. weiß sie nichts anzufangen; und der Einheit der Menschheit steht sie ratlos gegenüber, wenn sie von den Schädelmessungen im Stich gelassen wird. Der Begriff des Individuums, den sie mit ihren Mitteln zu geben vermag, ist daher ebenso unvollständig, wie er für die Ethik unzulänglich und irreführend ist 11 ." Mit dieser entschiedenen, grundsätzlichen Ablehnung der Psychologie als Begründungsmöglichkeit der Ethik steht Cohen in der Kant-Nachfolge gegen die Übermacht der empiristischen oder sich empiristisch nennenden Ethiken jener Zeit, die auf die eine oder andere Art aus Annahmen über die psychologische Natur des Menschen Sollenssätze ableiten. Dagegen setzt Cohen mit Entschiedenheit die Ergebnisse der Kantischen Erfahrungskritik. Und er stellt fest: „Die Psychologie darf in keiner Weise den Ausgang bilden. Nicht nur, weil sie nicht die Methode der Ethik leiten kann, da sie ja vielmehr, wie wir sahen, in ihrem Material von der Ethik abhängig ist; sondern auch deshalb darf nicht von ihr ausgegangen werden, weil sie für den Begriff des Menschen die richtige Perspektive nicht eröffnet; weil sie den moralischen Horizont verengt. Hier ist 9

ErW, S. 76. w ErW, S. 11. 11 Ebd.

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der Mensch der sinnliche, der physiologische, also der tierische Mensch; das ist er ihr im Anfang, und im Grunde bleibt er ihr das immer. Die Devise: Sein und Sollen heben über diesen Anfang hinweg und nicht nur über den Anfang. Der Begriff des Menschen soll nicht haften bleiben an diesem Menschenbegriff der Psychologie, wenn anders Ethik möglich werden soll 12 ." Mit der Psychologie verwandt ist der Naturalismus, der „Todfeind der Ethik" 1 3 , der die Moralität als Naturgesetz deutet. Wenn, wie bei Spinoza, die Handlungen der Menschen zu betrachten sind, als wären sie Linien, Flächen und Körper, so wären nicht nur die Handlungen der Menschen, sondern auch die Menschen selbst mathematische Figuren. Gegen einen spinozischen Naturalismus wendet Cohen mit Kant ein: „Bei dem Zirkel darf ich nicht fragen, was er sein soll; sondern allein, was er ist. In seinem Sein liegt sein Gesetz. Dagegen liegt das Gesetz des Menschen nicht in seinem Sein, sondern in seinem Sollen 14." Der Konsequenz des Naturalismus verhaftet, sieht Cohen auch Spinozas Nachfolger, die deutsche philosophische Romantik, die „Pantheisten" Schelling, Hegel und auch Schleiermacher. Cohen hält es für nicht von ungefähr, daß weder Schelling noch Hegel eine „Ethik in eigener Verfassung und unter besonderem Titel geschrieben haben" 15 . Das hätten sie unter ihren identitätsphilosophischen Voraussetzungen auch gar nicht vermocht. Die Fehlerquelle liegt für Cohen im pantheistischen Zentrum der Identitätsphilosophie, „in der Zentrierung des Systems der Philosophie und alles Seins in der Natur. Dabei darf und kann es kein Sollen geben, welches vom Sein verschieden wäre" 16 . Die Ethik wird hier zu einem Entwicklungsprodukt der Logik als Logik der in der Idee begriffenen Natur. In der Identitätsphilosophie tritt die Idee „wie eine Naturmacht" 17 auf, die den gesamten Weltengang als Gesetz schon enthält. „Der Fehler des pantheistischen Fundaments und Prinzips bezieht sich auf den Begriff des Menschen und daher auf das Problem der Ethik. Wenn Gott und Natur Dasselbe sind, so sind zumindest Mensch und Natur Dasselbe. Und so geht der Unterschied zwischen Sein und Sollen zunichte 18 ." Den Begriff des Menschen als Einheit von Individuum und Allheit vermag Cohen zufolge auch die Wissenschaft der Geschichte nicht zur Darstellung zu bringen. Cohen versucht deutlich zu machen, daß die Geschichtsschreibung noch immer wesentlich durch den stoisch-christlichen Gedanken von der idealen Macht des Indivuums in der Geschichte bestimmt ist. Dieser Ansicht zufol12

ErW, S. 21. ErW, S. 11. H ErW, S. 15. !5 Ebd. 16 ErW, S. 43. 17 ErW, S. 43. 18 ErW, S. 15. 13

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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ge ist das Ideal, die Sittlichkeit, im Individuum darstellbar. Dieses ideale Individuum als die richtige Natur zeige sich aber nur in wenigen Exemplaren, den Heroen, auf die die Veränderungen der Geschichte getauft werden. Das aber sei genau die Frage, ob das Individuum als eine alleinige und überhaupt bewegende Kraft der Geschichte zu denken sei. Auch sofern die Geschichtsschreibung als Darstellung des Lebens und des Kampfes von Völkerindividualitäten geschrieben würde, käme nur die Besonderheit des Menschen als anthropologische Partikularität ins Spiel. Auch diese Art der Geschichtsschreibung habe keinen Begriff von der ethischen Allheit. „Denn das Volk bildet allenfalls für die Anthropologie auf physischer Grundlage einen einheitlichen Begriff, mithin eine Allheit. Im politischen Sinne der Geschichte dagegen tritt erst der Staat in die sittliche Mission ein, welche in einer verhängnisvollen Zweideutigkeit gemeinhin dem Volke zugeteilt wird. Das Volk zerfällt in Stände, für welche der Geburtsadel das noch immer nicht abschreckende Beispiel bildet. In seinen sozialen Ständen bildet das Volk ein Aggregat von Besonderheiten, und bleibt somit selbst eine Besonderheit. Der Begriff des Staates erst stellt den Begriff der Allheit dagegen auf, als einer bezwingenden Einheit, welcher alle jene Partikularitäten unterworfen werden müssen 19 ." Doch woher kommt und worin liegt die Einheitskraft der Allheit, die Cohen dem Staate als Überwinder aller Partikularität zuerkennt und zutraut? Konstituiert sie sich allein nach Gesetzen der Natur, ist also der Staat nichts als das Produkt der Naturgeschichte der Menschen, oder wird sie ebensosehr auch durch Gesetze der Sittlichkeit, die sittlichen Ideen gestiftet? Mit dieser Frage ist das Grundproblem der Geschichtsschreibung angeschnitten, in welchem Verhältnis die Ideen zu den „realen Machtverhältnissen" stehen. Von der Beantwortung dieser Frage hängt für Cohen ab, ob die Wissenschaft der Geschichte den Begriff des Menschen als Einheit von Individuum, Besonderheit und Allheit zur Darstellung bringen und damit eine Ethik begründen kann. Cohen hängt diese Frage auf an der fälligen Auseinandersetzung mit der „materialistischen Geschichtsauffassung". Das Problem des Bedingungsverhältnisses von Idee und Realität war von marxistischen Positionen in einer Fassung ins Spiel gebracht worden, die nicht nur das idealistisch-historische Geschichtsverständnis des bürgerlichen Wissenschaftlers in den Grundlagen angriff, sondern auch die bürgerliche Ordnung und das gesellschaftliche Wertsystem, in denen er lebte und die er akzeptierte. Die Folge war auf Seiten des in die Defensive gedrängten bürgerlichen Wissenschaftslagers ein steter, kaum ein Mittel der Verunglimpfung und Verspottung scheuender polemisch-literarischer Kampf gegen die Auffassungen marxistischer Theoretiker. Cohen beteiligt sich an dieser Hätz nicht, sondern versucht mit seinen Mitteln eine Analyse und Kritik der „materialistischen Geschichtsansicht". „Wir 19 ErW, S. 32. 1

Winter

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dürfen also, ohne Mißverständnis, Verdächtigung und Verunglimpfung der sozialistischen Geschichtsauffassung begehen zu müssen, dennoch den Unterschied, den sie klaffend macht zwischen den realen Machtverhältnissen und den sittlichen Ideen methodisch aufheben; wenngleich damit keineswegs gesagt werden darf, daß der sachliche Unterschied aufhörte, weil die Ideen in den Dingen zur Deckung kämen und aufgingen. Dies würde dem Begriffe des Sollens widersprechen, den der Devise gemäß die sittlichen Ideen bedeuten. Aber es ist falscher Realismus und Nominalismus, einerseits die Dinge hinzustellen als Gebilde der wirtschaftlichen Triebe, andererseits aber die sittlichen Aufgaben als Schreckgespenster und gleichsam als posthistorische Mächte aus dem bisherigen Dunkel der Geschichte bisweilen wetterleuchten zu lassen20." Cohen bemängelt den Widerspruch, der darin besteht, daß die materialistische Geschichtsauffassung einerseits eine naturalistische Position vertritt, nämlich die Ideen nur als „verdampfte Einrichtungen" 21 betrachtet, andererseits aber in ihrer Kritik der gesellschaftlichen Ordnung fortwährend mit dem Modell einer sittlichen Ordnung operiert, auf das sie sich nach den eigenen Prämissen gar nicht beziehen dürfte. Cohen ist deshalb der Ansicht, daß ein „verhaltener Idealismus" 22 diese Geschichtsansicht leitet. „Das ist der Grundfehler in jener materialistischen Parole: daß mit der Aufhebung alles Verhältnisses und aller Korrelation zwischen dem Sittlichen und dem Geistigen der Grund des reinen erzeugenden Bewußtseins nivelliert und vernichtet wird. In der Tat sind die sittlichen Ideen nicht ausschließlich sittliche, sondern auch theoretische; trotz allem Unterschiede, der zwischen beiden Arten gemacht werden muß. Denn Beide sind Arten des reinen Bewußtseins; die einen des Denkens, die anderen des Willens. Wenn dagegen die sittlichen Ideen nicht als Ursachen der Kultur und Geschichte gelten sollen, dann wird das Bewußtsein und der Geist überhaupt verleugnet. Damit erst kommt der Materialismus unausweichbar in diese Denkrichtung. Dann sagt man unkritischer Weise, die Natur selbst habe aus ihrem Boden und ihrem Klima heraus mitsamt den Menschen diese Gebilde zur Entwicklung gebracht, welche das Spielzeug der Menschenwelt sind. Damit erst enthüllt sich diese materialistische und naturalistische Geschichtsansicht als die Aufhebung der Geschichte. Denn Geschichte, als Geschichte der Menschen und ihrer Werke und Taten, ist Geschichte des Geistes und der Ideen; oder aber: es gäbe keine Weltgeschichte, sondern nur Naturgeschichte23." Die von Cohen zuletzt gestellte Alternative ist für ihn selbst also entschieden: Der Mensch hat Vernunft und qua Vernunft hat der Mensch den Verlauf der bisherigen Geschichte mitbeeinflußt. Doch muß sich Cohen fragen lassen, ob 20

ErW, 21 ErW, 22 ErW, 23 ErW,

S. 36. S. 41. S. 35. S. 37.

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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mit dem Dualismus von Weltgeschichte und Naturgeschichte nicht eine Antithetik aufgebaut wird, die nicht zwingend ist. Warum darf nicht auch die Vernunft ihre Naturgeschichte haben? Wo sollen die sittlichen Ideen, wenn nicht aus einem apriorischen Werthimmel, anders ihre Genesis haben als in der Geschichte des Menschen, warum sollen sie nicht auch vergeschichtlicht werden dürfen? Cohen hält demgegenüber mit providentieller Gewißheit an seinem Modell des allmählichen Entbergens der sittlichen Ideen in der Geschichte der Menschen fest. „Es (sind) in der Tat die ethischen Ideen, welche, wie immer verschleiert und mangelhaft entwickelt, nichtsdestoweniger in jenen realen Verhältnissen und Einrichtungen sich selbst zur Erscheinung bringen. Es ist eben doch nicht richtig, daß der Zwang der Natur und insbesondere der tierischen Natur im Menschen jene Einrichtungen der Kultur hervorgebracht hätte, die man nur heuchlerischer Weise die sittliche Kultur nennen dürfte, die vielmehr lediglich die wirtschaftliche heißen müßte. Es ist nicht richtig, die Natur des Menschen als solche lediglich unter dem Gesichtspunkt des Raubtiers zu fassen, um allenfalls für das Geistige und das Sittliche anderweit einen Raum zu schraffieren. Woher aber diesen Raum beziehen, und wohin ihn verlegen?" 24 Da die Geschichte aber die Grundbegriffe und die Prinzipien der Moralität, die sittlichen Ideen, das Gute nur in verhüllter, mangelhafter, noch unausgebildeter oder verkümmerter Form darstellt, den Begriff des Menschen also nicht zur vollständigen Einheit bringt, kann sie selbst eine Ethik nicht begründen, bedarf vielmehr selbst der Ethik als ihrer Voraussetzung 25. Cohen hält auch die Soziologie für ungeeignet, die Fundamente einer Ethik zu liefern. Dem widerspreche der methodische Grundbegriff der Soziologie, den Cohen als den der Entwicklung bezeichnet. Die Soziologie suche nämlich analog dem „Entwicklungsgesetze des biologischen Organs" auf einfachste soziale Elemente zurückzugehen, um aus diesen die Entwicklung des entfalteten sozialen Organismus zu erklären. Cohen wendet sich gegen den Vergleich des biologischen Organismus mit dem sozialen Organismus. „Besteht ein Analogon dieses exakten Organismus nun aber in dem sozialen Organismus und seinen sozialen Organen? Ist die Anwendung nicht vielmehr eine Metapher, die ein hinkendes Gleichnis bleiben muß?" 26 Cohen zweifelt zunächst die Vergleichbarkeit an. Der biologische Organismus ist die Einheit der Organe. Wo aber trifft man nun diese Einheit in den sozialen Einrichtungen an? Was stellt diese Einheit dar? Sind alle sozialen Erscheinungen, die man antrifft, in die Funktionsfähigkeit der Einheit des Organismus eingepaßt, als notwendige Faktoren des Organismus konstruiert? Damit ist der entscheidende Einwand vorbereitet: Der biologische Entwicklungsbegriff setzt die normale Ausstattung des Or24 25 26

1*

ErW, S. 35. Vgl. ErW, S. 35. ErW, S. 39.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

ganismus im Verlaufe und am Ende seines Wachstums voraus. Cohen bezweifelt und bestreitet eine solche Normalität für den sozialen Organismus und „zwar im doppelten Sinne der Norm: sowohl als funktionale Richtigkeit, wie als Musterbild und Vorbild. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie die scheinbar vollendeten sozialen Gebilde unserer hochmütigen Kultur noch in den Kinderschuhen stecken. Wenn das nun aber der wohltätige Sinn dieser Forschungsrichtung ist, also muß sie einsehen, daß ihr die Norm fehlt, welche von der wissenschaftlichen Entwicklungsmethodik genau und klar vorausgesetzt wird." 2 7 . Dieser methodischen Voreingenommenheit ist sich die soziologische Forschung nicht bewußt. Da die Soziologie mit einer Norm arbeiten muß, diese aber den Institutionen nicht abgelesen werden kann, schafft sie sich ihre Normen selbst, indem sie „eine Art von Normalgebild voraussetzt und zum Vorwurf der Entwicklung" 28 macht. Darin sieht Cohen den versteckten Normativismus der Soziologie, daß sie, um die soziale Institution als notwendigen Funktionsträger für das soziale System auszuzeichnen, dieser vorher unter der Idee der Normalität des Ganzen, d. h. der Einheit des Systems, bereits eine Systemfunktion, d. h. einen Zweck subintelligieren muß. „Es ist nicht richtig, daß die Ideen verdampfte Einrichtungen sind; vielmehr sind die Einrichtungen geronnene Ideen 29 ." Diese Ideen, die Cohen hier meint, - das sei jetzt allerdings betont - müssen noch nicht sittliche, d. h. auf die gute Ordnung bezogene Ideen sein. Denn die Soziologie vermag die sittliche Qualität dessen, was sie stillschweigend normativ als die gesellschaftliche Normalität voraussetzt, nicht zu bestimmen. Dazu bedarf sie der Ethik. Der Ethik allein obliegt es, die „wohlgemeinten Fiktionen" 3 0 der Soziologie, deren heimliche Ethik, in den Kontext sittlicher Beurteilung einzuordnen, an dem Begriff des Menschen als Einheit von Individuum und Allheit zu messen. Die Soziologie zumindest hat keinen Begriff von der Allheit. 1.3. Ethik als Prinzipienlehre der Philosophie von Recht und Staat

Ausgangspunkt dieser Erörterung war, daß den Cohenschen Erörterungen zur Ethik die hermeneutisch-phänomenologische Dimension fehlt, von der her erst verstanden werden kann, in welcher Weise Moralität ein Problem des vorfindlichen Daseins eigentlich ist. Von Cohen wird schon als gewußt vorausgesetzt, was die Ethik zu leisten hat, wie sie zu fragen hat und in welcher Richtung 27

ErW, S. 40. Die Scharfsinnigkeit, mit der Cohen hier in knappen Worten die Soziologie seiner Zeit kritisiert, liest sich wie ein modernes Traktat über die moralischen Implikationen der funktionalistischen Systemtheorie. 29 ErW, S. 41. 30 ErW, S. 41. 28

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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ihre Probleme zu lösen sind: Ethik hat den Begriff des Menschen zur Bestimmung zu bringen. Der Begriff des Menschen ist die Einheit von Individuum, Besonderheit und Allheit. Und „das Problem der Ethik ist, mit der Allheit das Individuum in Korrelation zu setzen und in dieser die Einheit des Menschen zu vollziehen 31 ." Weder Psychologie oder Anthropologie noch Geschichtswissenschaft oder Soziologie, so hat sich gezeigt, vermögen dieses Problem der Korrelation von Individuum und Allheit auszudrücken, entweder weil sie gar keinen Begriff von der Allheit haben, oder weil sie den Begriff zwar voraussetzen müssen, ihn aber nicht selbst in der Sprache präziser Termini auszeichnen können. In der Rechtswissenschaft endlich sieht Cohen jene Wissenschaft, die dem Begriff der auf die Einheit des Menschen bezogenen Allheit überhaupt erst logische Genauigkeit in der Konstruktion der juristischen Person verschafft hat. „Die Fiktion, wie sie genannt wird, ist vielmehr logische Fixierung. Die juristische Person entfernt sich von dem sinnlichen Vorurteil der Einzelheit und ihrem Charakter der Mehrheit; sie konstituiert sich aufgrund der Allheit als Einheit des Rechtssubjektes. Dieses Beispiel, welches die Rechtswissenschaft der Ethik darreicht, ist mehr als ein Beispiel. Es ist ein Vorbild, wie solches anderwärts in keiner Form des Altruismus gefunden werden kann 32 ." Doch nicht nur dies: auch das prekäre Problem der Korrelation von Individuum und Allheit findet in einer juristischen Konstruktion, nämlich der des Staates, sein Vorbild: „Hier wollen wir nur darauf achten, daß wir die Einheit des Menschen nicht ableiten wollen aus der etwaigen Einheit des Volks, sondern aus der notwendigen Einheit des Staates, dem der sittliche Mensch angehören muß. Das Volk ist von dem logischen Blute der Familie; es stellt die Menschen in ihrer sinnlichen Natürlichkeit dar. Der Staat dagegen ist ein juristischer Begriff; der Begriff einer juristischen Person; das Musterbeispiel dieses Begriffes für den Begriff des sittlichen Menschen. In dieser Ausbildung des Rechts zum Staatsrechte liegt daher die eminente methodische Bedeutung der Rechtswissenschaft für die Ethik, mit welcher weder die Psychologie, noch die Geschichte und die Soziologie, noch auch die Religion in der Präzision und Prägnanz der Begriffe auch nur entfernt sich vergleichen lassen könnten 33 ." „Indem wir die Einheit des Menschen in der Einheit des Staates zu begründen versuchen, reißen wir nicht etwa den Menschen von der Menschheit los; vielmehr bemächtigen wir dadurch uns des rechten Mittels, den Gegensatz zwischen den Einzelmenschen und der universellen Menschheit zu einer wahrhaften Aufhebung zu bringen. Und die Menschheit wird erst auf diesem methodischen Wege eine ethische Idee 34 ." 31 32 33 34

ErW, ErW, ErW, ErW,

S. S. S. S.

60. 74. 75. 77.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Die Rechtswissenschaft also zeigt der Ethik „den methodischen Weg"; sie verfügt Cohen zufolge über die Begriffe der der Realität des Seins der Natur transzendenten Realität des Seinsollenden, welcher die Ethik zu ihrer Grundlegung bedarf. Also vermag die Ethik, die „begrifflichen Konstruktionen zu verwerten, in welchen die Rechtswissenschaft die Einheit der juristischen Person zu konstituieren und zu begründen vermag" 35 . Doch muß im Anschluß an diese Feststellungen gefragt werden, ob damit nicht das Problem der Ethik schlechterdings in dem der Rechtswissenschaft aufgeht. Wenn der Begriff der juristischen Person die Korrelation von Individuum und Allheit in so prägnanter Form ausdrückt, in welcher Weise vermag die Ethik dann noch, gegenüber der Jurisprudenz die Leitung zu übernehmen und den Begriff des Menschen zu vollziehen? Oder anders: wie gelingt es der Ethik, der juristisch-technischen Konstruktion der juristischen Person eine ethisch-inhaltliche Bestimmung zu geben? Muß nicht, wie Hommes 36 auch angenommen hat, die Ethik zur Theorie der Rechtswissenschaft degenerieren, weil die juristischen Konzeptionen und Begriffe keine unmittelbare Beziehung auf das moralisch Gute implizieren. Cohen fordert selbst: „Die Rechtswissenschaft bedarf der Ethik zu ihrer eigenen Grundlegung. Es darf in keiner Weise zugestanden werden, was Stammler in seinem Buche vom Richtigen Rechte unternimmt, das Recht richtig zu machen, ohne den Grund der Richtigkeit der Ethik festzulegen und festzuhalten. Das ist Aufgeben, Preisgeben der Ethik und der Philosophie. ... Die philosophische, die systematische Ethik kommt nicht hinterher, nachdem die Rechtswissenschaft sich eingerichtet und sich richtig gemacht hätte. Das ist so wenig der Fall, als dieses nachhinkende Verhältnis zwischen der Logik und der mathematischen Naturwissenschaft statthaft ist und dem methodischen Sachverhalt entspricht 37 ." Wenn die Ethik aber das Kriterium der Richtigkeit selbst zu bestimmen hat und die Rechtswissenschaft nur das begriffliche Material dazu liefern soll, so setzt dieses wiederum, und darauf sollte aufmerksam gemacht werden, das Vermögen voraus, das Material, nämlich die Begriffe der Jurisprudenz, unter einem bestimmten Aspekt, einer schon vorher gewußten Idee zu untersuchen. Das ethische Problem muß also schon im vorhinein als Frage formulierbar sein, um den juristischen Begriffen mehr als das abzugewinnen, was sie für juristische Probleme zu leisten haben. Doch sollen diese hermeneutischen Einwände hier nicht weiter verfolgt werden. Cohen hält an der transzendentalen Programmatik fest: „Die transzendentale Methode kann nicht für die Logik aufgenommen, für die Ethik aber verworfen werden. Wie die Logik in der Physik enthalten ist, so muß sie aus der Physik ermittelt werden. Und wie die Physik sonach in der Logik wurzelt, so muß auch das Recht in der Ethik seine Wurzeln haben; so muß daher auch aus 35

ErW, S. 78. Hommes, Ulrich: Das Problem des Rechts und die Philosophie der Subjektivität, in: Philosophisches Jahrbuch 70, S. 311 ff., 328 ff. 37 ErW, S. 214. 36

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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der Rechtswissenschaft die Ethik ermittelt und in ihr begründet werden 38 ." In der Cohenschen Konzeption bietet die Rechtswissenschaft im Begriff der juristischen Person der Ethik gegen allen psychologistischen Naturalismus den Musterbegriff für ein ethisches Willenssubjekt. Deshalb hat die transzendentale Deduktion der Grundbegriffe der Ethik am Leitfaden der Rechtswissenschaft zu erfolgen. Die Aufgabe der Aufhebung des Gegensatzes von Individuum und Allheit kommt der fundamentalsten juristischen Person, dem Staate zu. Er bildet die „Einheit der Allheit, die Verfassung der sittlichen Subjekte" 39 . Insofern die Ethik in solcher Weise auf die Konstruktionen der Rechts- und Staatslehre zurückgeht, nennt Cohen sie auch die „Ethik der Rechts- und Staatslehre" 40 ; da die Ethik aber ihre Grundbegriffe nicht nur in der Rechtsund Staatslehre ermittelt, sondern deren Prinzipien legitimiert, wird sie zur „Prinzipienlehre der Philosophie von Recht und Staat" 41 oder „Rechtsphilosophie" 42 . In welcher Weise Cohen die Ethik als „Prinzipienlehre der Philosophie von Recht und Staat" durchführt, das soll nun betrachtet werden.

2. Bemerkungen zum Problem des Verständnisses der Cohenschen „Ethik des reinen Willens" Cohens Ausführung des Programms der Begründung seiner Ethik aus den „erzeugenden Begriffen der Rechtswissenschaft" bereitet außerordentliche Verständnisprobleme. Der auf die spezifischen Schwierigkeiten dieser Ethik unvorbereitete Leser bleibt über weite Strecken ratlos. Er sucht nach Haltepunkten, nach vertrauten Zusammenhängen und Begriffen, die Orientierung durch die zunächst undurchsichtige Konstruktion erlauben. Doch auch dabei wird er oft ohne Hilfe gelassen, wenn er feststellt, daß der ihm bekannte Begriff nur den Namen mit dem Cohenschen gemein hat. Er vermißt die konsequent entwickelnde Beweisführung, Präzision der Begrifflichkeit und des Stils. Manchmal bleiben auch wiederholte Auslegungsversuche ohne Ergebnis. Deshalb haben die sperrigen Texte nicht wenige veranlaßt, früh die Interpretationsmühsal enttäuscht zu beenden, wenn nicht gar den Autor schlicht der Unklarheit des Gedankens insgesamt zu bezichtigen. Auf dieses spezifische Cohensche Problem soll hier kurz eingegangen werden. Die teilweise hochgradige Dunkelheit und Undeutlichkeit der Cohenschen Darstellung - weniger in den der Kant-Auslegung gewidmeten Schriften, mehr in seinem eigenen Systemversuch - ist seit jeher moniert worden. Tönnies kri38 39 40 41 42

ErW, ErW, ErW, ErW, ErW,

S. S. S. S. S.

215. 232. 230. III. 213.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

tisiert an der „ E t h i k des reinen Willens" die Sprache, die einen „orakelhaften u n d prophetischen T o n " 4 3 habe; Kantorowicz rügt Cohens Überlegungen dort als „dialektisch spielenden ,Tiefsinn'" 4 4 u n d Scheler schließlich kennzeichnet Cohens Darstellungsweise überhaupt als V e r b i n d u n g von „ t a l m u d i s c h e m Scharfsinn . . . m i t einer seltsamen Dunkelheit, ja häufiger Abstrusität der Darstellung" 4 5 . Da Einzelheiten in der „ E t h i k des reinen Willens" demjenigen, den der Ärger zu schnell bezwungen hatte, zur Beckmesserei weidliche Gelegenheit boten, war der Verriß ein leichtes Spiel. A u f der Strecke mußte dabei die W ü r d i g u n g von Cohens tiefem u n d scharfsichtigem D u r c h b l i c k bleiben, m i t d e m er die moralischen Prinzipien seiner Ethik zu begründen u n d zu verteidigen suchte oder in knappen Sätzen weit ausgreifende philosophie- u n d geistesgeschichtliche Zusammenhänge herzustellen vermochte; verlorengehen mußte der - w e n n auch als korrekte juristische F o r m u l i e r u n g verfehlte oder verklausulierte - berechtigte Sinn einer Beweisführung oder eines Arguments. Cohens Dunkelheit war, abgesehen von d e m d u r c h Schweigen publizierten Antisemitismus u n d politischen Konservativismus des überwiegenden Teils der Fachgenossen 4 6 , jedoch auch ein Faktor, der es verhinderte, daß man sich eingehend u n d genau m i t der „ E t h i k des reinen Willens" auseinandersetzte. 43

Tönnies, Ferdinand: Ethik und Sozialismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1909 (Bd. 29), S. 909. 44 Kantorowicz, Hermann: Besprechung von „Ethik des reinen Willens", in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1910 (Bd. 31), S. 604. 45 Scheler, Max: Die deutsche Philosophie der Gegenwart, in: Deutsches Leben der Gegenwart, hrsg. von Philip Witkop, Berlin 1922, S. 157; ähnlich Windelband, Wilhelm: Die philosophischen Richtungen der Gegenwart, Leipzig 1911, S. 370 f. 46 Im Vorwort zur zweiten Auflage der „Ethik des reinen Willens" (1907) beklagte sich Cohen über die schweigende Ablehnung der Fachwelt: „Die Kollegialität hat sich diesem Buche gegenüber genau ebenso verhalten, wie gegenüber der Logik . . . Sie hat sich allen meinen Arbeiten gegenüber, wie dem, was von ihnen ausging, mit Konsequenz benommen." Soweit mir ersichtlich, hat es bis 1907 von der „Ethik des reinen Willens" sieben Kurzrezensionen bzw. Anzeigen gegeben, von denen keine in philosophischen Fachzeitschriften veröffentlicht wurde. Unter ihnen sind nur die Besprechungen des Theologen Herrmann und des Ethikers Jodl mit eigenem selbständigem Standpunkt geschrieben. Folgende Rezensionen sind erschienen: kellermann, Benzion: Allgemeine Zeitung des Judentums, 1905, S. 3-33; 54-56; 80-83; 103-105; 127-129; 163-166; 200-202; 211-213; 248-250. A. Ki.: Literarisches Zentralblatt für Deutschland, 1905, S. 556-567 (Berlin); Jodl, Friedrich: (Wiener) Neue Freie Presse, Literaturblatt, vom 10. Sept. 1905; Lilienfeld, H.: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft: 26 (1906), S. 41-49; Sternberg, Theodor: Juristische Wochenschrift (1906), S. 671-672; Deissmann, Α.: Die Hilfe (Herausgegeben von Friedrich Naumann), 1906, Nr. 37, S. 16; Herrmann, Wilhelm: Die christliche Welt, Marburg 1907, S. 51 und S. 222; ο. V.: Im Deutschen Reich, Zeitung des Zentralvereins für deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1907, S. 724-726. Nach der zweiten Auflage (1907) hat sich die Situation kaum verbessert. Neben einer wohlwollend-skeptischen Besprechung des Soziologen und Sozialphilosophen Ferdinand Tönnies steht die vernichtende des Juristen Hermann Kantorowicz. Paul Natorp, der „Weggefährte " Cohens, versucht schließlich 1913 in den „Kant-Studien", Cohens Einwände gegen Rudolf Stammlers „Lehre von dem richtigen Recht" als bloße Mißverständnisse

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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Die Probleme, die sich aus den Cohenschen Texten ergeben, sind von dreierlei Art: Einmal geht es u m Unverständlichkeiten, die aus stilistischen Unklarheiten, schwankendem oder uneinheitlichem Begriffsgebrauch u n d unschlüssigen Satz- u n d Gedankenverbindungen resultieren. W e i t e r h i n hat der Leser Mühe, dem Duktus u n d der systematischen Auseinanderlegung der Gedanken zu folgen, die - vielfach d u r c h Zwischenüberlegungen unterbrochen - m a n c h m a l erst am Ende eines Abschnitts oder Teils Gestalt bekommen. Rosenzweig beschreibt diese Darstellungsweise treffend, w e n n er feststellt: „Cohen ist, obwohl durch und durch Systematiker, gar kein architektonischer Denker. Sein System ist kein Gebäude, durch das der Baumeister, der es erstellt hat, nun den Beschauer hindurchführt. Sondern sein Denken spinnt erst die systematischen Beziehungen an, die vorher nicht sichtbar sind. Ganz wenige Voraussetzungen sind ihm gegeben, eigentlich nur zwei: die Sonderung der logischen und der ethischen Aufgabe. Dazwischen werden nun die Fäden gezogen, und zwar kommt es dabei offenbar nicht auf das Gespinnst an, sondern auf das Spinnen; die Aufhängepunkte des Netzes sind fest, fest bis zur Starrheit, dazwischen bleibt alles locker, gewissermaßen im geistigen Aggregatzustand des Experiments: Die Grundvoraussetzungen, eben jene „Aufhängepunkte", werden nachträglich gerechtfertigt durch die Möglichkeit, aus dem Stoffe der Kulturfaktoren Verbindungsfäden zwischen ihnen zu spannen. Ist das Experiment gelungen, so kann die Versuchsanordnung ruhig wieder abgebaut werden; sie diente nur dem Experiment. Wer den Stoff, an dem jeweils der Versuch geschieht, nicht schon aus dem Kulturbereich, dem er entnommen ist, kennt, wird ihm beim Verfolgen der raschen Tätigkeit des geschickten Experimentators auch kaum kennenlernen, vielleicht nicht einmal recht zu Gesicht bekommen. Hier steckt der Grund der Schwierigkeit seiner großen Werke und zugleich der Grund, warum er selbst an diese Schwierigkeit nicht glaubte: Sie sind nicht schwer überall da, wo der Leser alles weiß, was Cohen gewußt hat (und am besten auch alles nicht weiß, was Cohen nicht gewußt hat); also waren sie für Cohen selber wirklich nicht schwer. Dieser experimentierende Grundzug seines Denkens, das nie eigentlich beweist, auch kaum je aufweist, sondern immer nur denkt, äußert sich nun darin, daß er immer erst dann denkt, wenn er - denkt. Er nimmt sich sein eigenes Denken allenfalls als Aufgabe, nie im Resultat vorweg. Die biographische Reihenfolge seiner Werke ist eigentlich das einzige Architektonische an ihnen 4 7 ." Schließlich ist es das „schwierige begriffliche Gefüge" 4 8 , das einen unvermittelten Zugang zur Ethik verhindert. Cassirer bemerkt in seiner W ü r d i g u n g Cohens zu dessen 100. Geburtstag, daß bei Erscheinen des Systems der Philosophie die Leser mit einer „ernsten Schwierigkeit konfrontiert" wurden, denn was sie hier fanden, war „ n i c h t n u r eine neue Denkrichtung, sondern auch eine beiseite zu räumen und mit seiner um Zudeckung sachlicher Gegensätze bemühten Tendenz beiden Ansichten - mit vorsichtiger Kritik an Cohen - in einer Art höherer Synthese trotzdem ihr Recht zukommen zu lassen. Es handelt sich um die Besprechungen: Tönnies, Ferdinand: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1909 (Band 25) S. 901-930; Verf. unbek.: Historische Zeitschrift 1908; Kantorowicz, Hermann: Archiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik 1910 (Bd. 31), S. 602-606; Natorp, Paul: Recht und Sittlichkeit, in: Kant-Studien 18 (1913), S. 1-79. 47 Rosenzweig, Franz: Einleitung in Hermann Cohens jüdische Schriften, S. 328 f. 48 Cassirer, Ernst: Hermann Cohen, in: Hermann Cohens Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte Bd. 1, S. IX.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

neue Sprache. Cohen machte von einer philosophischen Terminologie Gebrauch, die in mancher Hinsicht nicht n u r von der allgemeinen Tradition abwich, sondern auch von den Kantischen Begriffen 4 9 ." Soweit Rechtsphilosophen u n d Juristen sich u m die „ E t h i k des reinen Willens" bemüht haben, fällt auf, daß sie diese Untersuchung entweder als juristischen Dilettantismus oder „Phantasterei" 5 0 schärfstens kritisieren u n d sich nicht weiter inhaltlich auf sie einlassen oder daß sie lediglich die methodische Programmmatik referieren 5 1 , die D u r c h f ü h r u n g aber auf sich beruhen lassen oder ablehnen 5 2 . Das stärkt den Verdacht, daß auch hier die Verständnisschwierigkeiten beträchtlich waren. Die V e r w e n d u n g jener anstößig „ u n m o d e r n e n " , schon zu Cohens Zeiten ungebräuchlichen Begrifflichkeit, nötigt dazu, u m Äquivokationen 49

Cassirer , Ernst: Hermann Cohen, in: Social Research Vol. 10, Nr. 2 (1943), S. 225. Ross, Alf: Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis, Leipzig 1933; Kap. 10, Der reine Wille in der Marburger Schule, S. 337-346: „Der Formalismus ist hier strenger durchgeführt als bei Kant. Dafür wird es auch noch rätselhafter, wie es überhaupt gelingt, einer Ethik auf dieser Grundlage einen Inhalt zu geben. Wie Cohen die verschiedenen Tugenden aus diesem Prinzip entwickelt, erinnert denn auch wegen der Behändigkeit, mit der dies geschieht, ohne daß es möglich ist, darüber klar zu werden, was in allen Einzelheiten eigentlich vor sich geht, an das bei Schwarzkünstlern und Illusionisten beliebte Kunststück, aus einem leeren Zylinder lebende Tauben und andere Merkwürdigkeiten hervorzuzaubern. Ohne uns in eine Kritik der Ausführungen Cohens vertiefen zu wollen, können wir uns darauf verlassen, daß das Geheimnis hier wie dort dasselbe ist: keine Hexerei, nur Behändigkeit" (S. 344). Kantorowicz, Hermann, a. a. O., S. 606, ist in der Schärfe der Verurteilung beispiellos geblieben: „Fassen wir daher unser Urteil über die juristische und rechtsphilosophische Seite des Werkes zusammen. Wir vermissen an ihm die Kenntnis auch nur der Elemente des positiven Stoffes, jede Gründlichkeit der Behandlung, Klarheit der Begriffe, alles Eingehen auf die ernsthaften und erfolgreichen Bemühungen der Spezialforschung. Das ist die Art Rechtsphilosophie, die diesen Zweig des Wissens trotz seiner eminenten idealen und praktischen Bedeutung in Mißkredit gebracht hat. Das ist die „via regia", die schon einmal die Philosophie an den Rand des Abgrunds geführt hat. Seit der Naturphilosophie der Schellingianer ist etwas ähnliches nicht dagewesen. Wer unser Urteil allzu hart findet, erwäge, daß ein Mann von Cohens Ansehen und Verdienst beanspruchen darf, daß seine Werke mit dem höchsten Maßstab gemessen werden. Dieses Werk kann freilich auch die mildeste Beurteilung nicht vertragen. Es wird an der Rechtsphilosophie, deren Freunde es mit Schmerz und Zorn erfüllen muß, spurlos vorübergehen." 51 Das gilt für die neu-hegelianische Richtung (Binder, Larenz) ebenso wie für die Kelsensche Wiener Schule (Kelsen, Sander). Vgl. z. B. Binder, Julius: Philosophie des Rechts, 1925, S. 208 ff.; Larenz, Karl: Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl. 1935, S. 35 ff.: andererseits: Sander, Fritz: Die transzendentale Methode der Rechtsphilosophie und der Begriff des Rechtsverfahrens, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. I (1919/20), S. 468 ff.; ders. : Das Faktum der Revolution und die Kontinuität der Rechtsordnung, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 1 (1919), S. 192 ff.; Kelsen, Hans: Rechtswissenschaft und Recht, Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der „Rechtsdogmatik", in: Zeitschr. f. öffentliches Recht, 1922, S. 103 ff. (S. 128). Ferner Gottfried Hohenauer: Der Neukantianismus und seine Grenzen als Gesellschafts- und Rechtsphilosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie 2 (1927), S. 302 ff., S. 311 ff.; Lisser, Kurt: Der Begriff des Rechts bei Kant. Mit einem Anhang über Cohen und Görland, Berlin 1922, Kant-Studien - Ergänzungsheft Nr. 58, S. 49 ff. 52 Auszunehmen ist hier der sich positiv an Cohen anhängende Jurist und Rechtsphilosoph Max Salomon: Grundlegung zur Rechtsphilosophie, Leipzig 1919. 50

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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zu vermeiden und ein angemessenes Problemverständnis herzustellen, zu den schon vorn angekündigten Übersetzungsversuchen, bei denen der Verfasser allerdings nicht immer sicher ist, ob sie die Begrifflichkeit und die Gedanken Cohens jeweils richtig erfaßt haben. Kompliziert wird dieser Versuch des Sich-Verständlich-Machens noch durch folgenden Umstand: Cohen begibt sich in der „Ethik des reinen Willens" - worauf Natorp zuerst die Aufmerksamkeit gelenkt hat - an die Aufgabe einer kategorialen Begründung der praktischen Philosophie überhaupt 53 , d. h. Cohen versucht, nicht nur das Sittengesetz, sondern die konstitutiven Grundbegriffe von Moralphilosophie überhaupt zu begründen. Die dabei eingeführte Terminologie der Kategorien: Wille, Handlung, Allheit, Selbstbewußtsein wird von ihm nun aber in einem durchaus eigenen Sinn bestimmt. Die Erschließung der genauen Bedeutung dieser Grundbegriffe wird dadurch erschwert, daß Cohen sich dabei auf die „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" bezieht, in denen die ethischen Kategorien „nachweisbar" werden sollen. Mit der Bezugnahme auf die „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" könnte es nun scheinen, als ob sich das Verstehensproblem, zumal für den juristisch geschulten Leser, vereinfachte, doch lehrt ein Blick in die rechtswissenschaftliche Literatur jener Zeit, daß von einer Abklärung der erzeugenden Begriffe „der" Rechtswissenschaft nicht die Rede sein konnte. Bergbohms in „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie" 1892 getroffene Feststellung, daß der Eindruck, den man „von dem Zustande der juristischen Grundbegriffe empfange,... ein wenig erfreulicher" sei 54 und daß eben „die Sammelstelle für die umherirrenden allgemeinen Rechtsbegriffe und Rechtslehren, ein allgemeiner oder allgemeinster Teil der ganzen Rechtswissenschaft" 55 fehle, galt auch zur Zeit der Abfassung der „Ethik des reinen Willens" noch. Sollte Cohen die „tiefe Not unserer Wissenschaft um die juristischen Grundbegriffe" 56 nicht bemerkt haben? Zwar beschäftigte man sich seit den siebziger Jahren 57 intensiv mit dem Problem der juristischen Grundbegriffe und dem Aufbau einer Allgemeinen Rechtslehre, doch zu einer Klärung sowohl der Methode als auch des Inhalts dieser Aussagen war es, das bestätigt Bergbohms Lamento, noch nicht gekommen. 53

Natorp, Paul: Recht und Sittlichkeit, S. 16. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 83. 55 Ebd., S. 96. 56 Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 102. Binding, Karl: Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, Leipzig Bd. 1 (1872), Bd. 2 (1877); von Jhering, Rudolf: Der Zweck im Recht, 2 Bde., 1877, 1883; Merkel, Α.: Uber das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur positiven Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Teil derselben, 1874, in : Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht, Bd. I, S. 1 ff., 402 ff. ; Bierling: Das Wesen des positiven Rechts, 1876, in: Zeitschrift für Kirchenrecht, Bd. 13, S. 256 ff.; Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Bd. 1,1877, Bd. 2,1883 ; Thon: Rechtsnorm und subjektives Recht. Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre, 1878 ; Zitelmann: Irrtum und Rechtsgeschäft, Leipzig, 1879; vgl. im übrigen die Literaturzusammenstellung bei Bergbohm, S. 28-30. 54

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Trotzdem behauptet Cohen die Rechtswissenschaft „als ein methodisches System von ihr eigenen Begriffen" 58 . Auf welche Werke und Autoren er sich für diese Behauptung bezieht, bleibt zunächst einmal dunkel, denn Cohen verweist den Leser nicht auf die Quellen, aus denen er seine Auffassungen gewonnen hat. Das macht eine weitere Schwierigkeit der Auslegung aus. Doch lassen seine Äußerungen über „die juristische Technik" und Methode und seine Hochschätzung „der" Rechtswissenschaft Rückschlüsse darüber zu, daß die konstruktiven Lösungen der Pandektenwissenschaft und ihrer Nachfolger (Savigny, Windscheid, Jhering) samt ihrer Rezeption in der positivistischen Staatsrechtswissenschaft von Gerbers, Labands und Jellineks ebenso wie Otto von Gierkes monumentale Untersuchungen zum Genossenschaftsrecht Cohens Bild der Rechtswissenschaft prägen. Darauf ist später einzugehen. Das Problem der Interpretation besteht nun darin, daß Cohen jene „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" in einem Sinne auslegt und gebraucht, der mit ihrem damaligen methodischen Verständnis nur noch entfernt konvergiert. Sie werden nämlich von Cohen - in Antizipation einer Reinen Rechtslehre - gegen das methodische Verständnis 59 der Pandektenwissenschaft entnaturalisiert und entsubstantialisiert als reine Relationsbegriffe aufgefaßt, um dann - in Erfüllung einer reinen Ethik - „ethisiert", d. h. mit ethischen Bedeutungen aufgeladen zu werden. Cohen löst die juristischen Begriffe aus ihrem dogmatischen Zusammenhang und versucht, sie in einem seinen ethischen Absichten brauchbaren Sinn zu verwerten. Auf den ersten Blick ist der juristisch geschulte Leser durch solche Umdeutungen von ihm als in erster Linie technischer Instrumente begriffener Institute, wie ζ. B. dem der juristischen Person oder dem des Vertrages, verwirrt, an welchem Cohen „die Verwandlung des anderen in den Dualis des Ichs" 6 0 entwickelt. Betrachtet man das Problem der gesellschaftlichen Konstitution als ethisches Problem, als das Problem der Konstituierung einer „Gemeinschaft moralischer Wesen", wird der ethische Sinn des Vertrages als der Urform des verbindlichen Sich-Aufeinanderbeziehens deutlich. Das Faktum des ungerechten, knebelnden, die Ausbeutung des anderen ermöglichenden Vertrages sieht Cohen selbstverständlich, doch hinert ihn dies nicht, darauf zu insistieren, daß auf die Idee des Vertrages als der Bedingung der Möglichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs von Freien und Gleichen trotzdem nicht verzichtet werden kann. Mit diesem Beispiel sollen die Bemerkungen zum Problem der Cohenschen Dunkelheit abgeschlossen werden. Allerdings sind diese oben angesprochenen Schwierigkeiten nicht unüberwindbar. Aufschlußreiche Hinweise für die adäquate Deutung finden sich in Cohens Werken an vielen Stellen. Wie schon frü58

ErW, S. 567. Das zu betonen, ist deshalb wichtig, weil zwar die Begriffsjurisprudenz die normlogische Betrachtung des Rechts entscheidend vorbereitet, dabei aber nicht das angemessene Verständnis ihres eigenen methodischen Vorgehens gehabt hat. 60 Vgl. ErW, S. 235. 59

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

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her angemerkt, denkt und argumentiert Cohen vom Problem aus und stellt die historischen Bezüge immer im Blick auf das zu behandelnde Problem her. Dieses ganz und gar problemorientierte Philosophieren hat seine Spuren auch im Cohenschen Werk selbst hinterlassen; die Entwicklung seiner Auffassungen ist die Fortentwicklung von Problemfassungen. Darin äußert sich die Kontinuität seines Denkens. Damit ist aber auch die Möglichkeit eröffnet, das zunächst schwer verständliche Neue und anders Formulierte als Darstellung eines schon vorher und früher behandelten Problems wiederzuerkennen. Diese Erfahrung läßt sich für die inhaltlichen Aufstellungen der Ethik des reinen Willens im Verhältnis zu Cohens davorliegenden Auffassungen in der Interpretation der Kantischen Ethik voll bestätigen. Dieses Faktum werden wir uns jetzt zunutze machen und deshalb Cohens bisher nur beiläufig erwähnte Deutung des Kantischen Moralprinzips - denn in seiner Deutung liegt der Schlüssel für das Verständnis der „Ethik des reinen Willens" - in der ersten Auflage von „Kants Begründung der Ethik" herausstellen.

3. D i e „Gemeinschaft moralischer Wesen 4 4 aus „Kants Begründung der Ethik 4 4 als Leitidee der „ E t h i k des reinen Willens 4 4

Schon weiter vorn wurde darauf hingewiesen, daß Cohen die Kantische Theorie der Erfahrung, also dessen theoretische Philosophie, mehr unter dem Aspekt der „Prolegomena" als unter dem der „Kritik der reinen Vernunft" interpretierte. Ebenso läßt sich von seiner Deutung der Kantischen praktischen Philosophie sagen, daß sie mehr an der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten" als an der „Kritik der praktischen Vernunft" ausgerichtet ist. Doch hat diese Orientierung an den beiden knapperen und populären Fassungen der theoretischen und praktischen Philosophie ganz verschiedene Beweggründe. Während bei den „Prolegomena" die entschiedene Hinwendung Kants auf das Faktum der mathematischen Naturwissenschaft Cohens Aufmerksamkeit findet, ist es in der „Grundlegung" die Herausstellung des kategorischen Imperativs in seiner zweiten 61 und dritten Formel 62 , nämlich die Betonung des teleologischen Moments, des „Prinzips der Menschheit als Zweck an sich selbst" 63 . Während in der „Kritik der praktischen Vernunft" die 2. und 3. Formel des kategorischen Imperativs von Kant nicht mehr verwendet werden, was zu der Deutung geführt hat, daß Kant sich in der „scharfen einseitigen Betonung" der 61 „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (GMS, BA 66/67). 62 „Die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens, als allgemeingesetzgebenden Willens" (GMS, BA 70 und BA 71). 63 Vgl. GMS, BA 69.

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Form und der „feindseligen" 64 Verwerfung aller materialen Prinzipien der Sittlichkeit in der „Kritik der praktischen Vernunft" nicht mehr getraute, den „Zweckvorzug der Menschheit" „mit logisch gleichwertiger Evidenz feststellen zu können" 65 wie das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung, versucht Cohen, gerade den authentischen „Inhalt des formalen Sittengesetzes"66 in den obengenannten Fassungen des kategorischen Imperativs der „Grundlegung" als „Gemeinschaft autonomer Wesen" aufzuweisen. Cohens Absicht ist es also, die von Kant betonte Form einer allgemeinen Gesetzgebung in ihrer kryptisch oder offen immerfort bestehenden Bezogenheit auf eine im „Rechte der Menschheit" 67 basierende Gesetzbegung herauszustellen. In Kants Ethik lassen sich, wie Metzger hervorhebt, „zwei logische Schichtungen" 68 unterscheiden: Einmal, primär, das rein logische, ganz und gar formale Prinzip der Allgemeinheit, wonach jede Maxime einer Handlung sich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung muß bewähren können; zum anderen das teleologische Prinzip der Menschheit, wonach alle sittliche Gesetzgebung natürlich selbst einem letzten Zweck dient und auf diesen letzten Zweck orientiert sein muß; und dieser letzte Zweck ist die „vernünftige Natur" 69 , das „vernünftige Wesen", die Menschheit in der Person jedes Menschen. Bei Kant werden das logische und das teleologische Prinzip nun aber nicht offen als Voraussetzungs- oder Ergänzungsverhältnis aufeinander bezogen, vielmehr enthalten beide Prinzipien erschöpfend den Inhalt des Sittengesetzes und unterscheiden sich nur in der Richtung, wobei das logische den objektiven Grund und das teleologische den subjektiven Grund aller praktischen Gesetzgebung abgeben70. Diese Unterscheidung gilt jedenfalls in der „Grundlegung", während in der „Kritik der praktischen Vernunft" völlig dem logischen Prinzip der Form der allgemeinen Gesetzgebung die Priorität gegeben wird und das Prinzip der Menschheit nur noch in einer Nebenbemerkung 71 beiläufig erwähnt wird. Cohen nun sucht das logische Prinzip völlig auf das teleologische Prinzip in der Weise zu beziehen, daß das erstere das letztere impliziert, daß der „zutreffende Ausdruck jener allgemeinen Gesetzgebung" nichts anderes bedeutet als 64 Metzger, Wilhelm: Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, Heidelberg 1917, S. 47. 65 Metzger, Wilhelm: Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, Heidelberg 1917, S. 52. 66 KBE 1 , S. 199. 67 GMS, BA 69. 68 Metzger, S. 50. 69 GMS, BA 66. 70 Vgl. GMS, BA 70: „Es liegt nämlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung objektiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz, allenfalls Naturgesetz, zu sein fähig macht (nach dem ersten Prinzip); subjektiv aber im Zwecke; das Subjekt aller Zwecke aber ist das vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst." 71 KpV, A. 156.

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„Gemeinschaft autonomer Zwecke" 72 . Es geht Cohen in seiner Interpretation vor allem also darum, den seit je gerügten „Formalismus" der Kantischen Ethik zu entkräften durch die Aufweisung des Inhalts der „formalen" Sittengesetzes als der Gemeinschaft moralischer Wesen. Welchen Gang nimmt diese Begründung? Cohen hält sich zunächst an die Kantischen Bestimmungen und entwikkelt aus dem analytischen Begriff des Sittengesetzes die Form der allgemeinen Gesetzgebung: „Die bloße Form der allgemeinen Gesetzgebung bedeutet: daß das praktische A priori muß gedacht werden als eine allgemeine Gesetzgebung, welche, als solche, den gesetzmäßigen Willen erzeugt. Das ist die erste Vorstellung, die von der Erhabenheit dieses formalen Sittengesetzes fassen. Es ist allgemein; d. h. es ist himmelweit verschieden von der Durchgängigkeit einer Maxime. Alle Maximen werden eitel Torheit gegenüber der Allgemeinheit, welche hieri von allen Bedingungen der Zeitlichkeit abgelöst, sich erhebt, zu welcher hier alle Individualwillen zusammengefaßt werden. Es ist ferner Form; d. h.: die Gesetzgebung selbst ist das Gesetz der Erzeugung des Willens. Es gibt einen Bestimmungsgrund solcher Art; der reine Wille enthält in seinem analytischen Begriffe das Merkmal solchen Wollens, welches lediglich kraft des Gesetzes von Statten geht. Die Vorstellung jener allgemeinen Gesetzgebung hat die Gewalt, daß sie, und zwar sie allein, ein Wollen zu bestimmen vermag 73 ." Die Erörterungen, die zur ersten Formel des kategorischen Imperativs führten, betrachteten den Willen im Hinblick auf die Strukturprinzipien, nach denen er handelt. Die Ausführungen Kants in der „Grundlegung", denen Cohen folgt, untersuchen anschließend das Wollen in bezug auf den Zweck, der ihm begriffsnotwendig zugehörig ist. Die Frage heißt dabei, ob es auch einen Zweck geben kann, der kategorisch unser Handeln zu bestimmen vermag. Ein solcher Zweck muß ein absoluter, letzter Zweck sein, andernfalls nämlich würde er nur hypothetische, nicht aber kategorische Geltung beanspruchen können und hätte damit nicht die Würde eines für alle verbindlichen praktischen Gesetzes. Als einen solchen Zweck an sich zeichnet Kant den Menschen und „überhaupt jedes vernünftige Wesen" 74 aus. „Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip, und, in Ansehung des menschlichen Willens, einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, daß aus der Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Prinzips ist: Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zu72 KBE 1 , S. 198. 73 KBE 1 , S. 188. 74 G MS, BA 64.

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folge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle, so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest 75." Bei Cohen verändern sich die Kantischen Aufstellungen in der Weise, daß er nicht direkt wie Kant fragt: Gibt es einen absoluten Zweck für mein Handeln? und dann in einer grundsätzlichen Setzung das vernünftige Wesen und damit den Menschen als Person dazu erklärt, sondern er räsoniert: Fordert und beinhaltet das den Willen allein bestimmende Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung einen absoluten Zweck? Cohen beantwortet diese Frage undeutlich: „Wenn ich dagegen von einer allgemeinen Gesetzgebung rede, deren Vorstellung schon zureichend sei, einen Willen zu bestimmen, so kann der Beweggrund dieses Wollens nicht als Mittel gedacht werden, nicht als relativer Zweck. Somit fordert das formale Stittengesetz die Realität eines Etwas, dessen Dasein als Zweck an sich selbst gedacht werden kann: das ist im Unterschiede von der Natur der Erfahrung, die »vernünftige Natur. Jene umfaßt Sachen; diese macht die Person. Denn die vernünftige Natur, das ist doch zum mindesten der Mensch! ... Es entsteht somit aus dem ,formalen Sittengesetz die Idee der Menschheit als gegeben durch und vertretend die vernünftige Natur, dasjenige Dasein, welches von dem allgemeinen Gesetze als Zweck an sich selbst gewollt wird 7 6 ." Es wird aus diesen Ausführungen zwar nicht klar, in welcher Weise aus dem „formalen Sittengesetz" die „Idee der Menschheit" entsteht, doch klärt sich das angezielte Ergebnis der Auslegung auf: „Der Bestimmungsgrund des Gesetzes ist nunmehr die Idee der Menschheit als eines Zweckes an sich selbst" 77 , d. h. das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung basiert auf der Idee der Menschheit, nämlich auf der Idee der Selbstzweckhaftigkeit aller vernünftigen Wesen. Die Selbstzweckhaftigkeit wird also von Cohen, genau wie Kant es auch tut, schließlich doch nur als fundamentale Wertentscheidung gesetzt, nicht aber wie es den Anschein hat - mit der Dignität tieferer Begründung aus dem Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung „abgeleitet". Bei dieser Gelegenheit präzisiert Cohen den Begriff der Menschheit, was für die späteren Ausführungen noch wichtig werden wird, als „nicht etwa nur eine nominalistische Verallgemeinerung der Menschenindividuen und der respektiven Zwecke, die sich diese einzelnen samt und sonders vorzusetzen belieben oder genötigt werden mögen. Nicht in solchem kollektiven oder additiven Sinn der Menschen wie der Zwecke wird die Menschheit Zweck an sich selbst genannt. Es wird vielmehr 75 76 77

GMS, BA 66 f. KBE 1 , S. 195. Ebd.

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diese Menschheit gedacht, als „oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke" 78 . Wenn nun die Menschheit den letzten Zweck des Prinzips der allgemeinen Gesetzgebung bildet, so folgert Cohen mit Kant weiter, ist es ihr Wille, „welcher in sich den einzig möglichen Zweck an sich vollzieht, bei welchem Maxime und Gesetz zusammenfallen; welche in Form einer allgemeinen Gesetzgebung von Statten geht" 79 . Damit ist der Wille der Menschheit nicht mehr lediglich dem Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung unterworfen, sondern er ist zugleich „selbst gesetzgebend"80; „des Gesetzes, dem er unterworfen ist, ewiger Urheber 81 ." Mit diesen Ausführungen ist die dritte Formel des Prinzips, die Kant als die der Autonomie 82 bezeichnet, bereits vorbereitet. Es ist die „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemeingesetzgebenden Willens 83 . Cohen beendet seine Deutung der Fassungen des Moralprinzips im Anschluß an Kants Ausführungen zur „systematischen Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze" in einem „Reich der Zwecke" 84 in der „Grundlegung". Cohen interpretiert dieses „Reich der Zwecke", die „systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen" 85 als die „Gemeinschaft autonomer Wesen" 86 . Nichts anderes - so Cohen - besage auch die Form der allgemeinen Gesetzgebung. „So führt das „formale" A priori auf eine so gediegene Realität, daß die sittliche Natur des Individuums abgeleitet erscheint aus der Gemeinschaft moralischer Wesen; denn in der Vorstellung einer solchen besteht in letzter Instanz das Sittengesetz. Und es bewährt sich jene in der Abweisung der materialen Prinzipien ausgesprochene Verwerfung des Individualismus und des Egoismus. Das sittliche Selbstbewußtsein geht erst hervor aus dem Gedanken einer Gemeinschaft von Gesetzen. Wie das Sittliche nicht in dem Gefühl des Subjekts wurzelt, sondern in einem objektiven Gesetze gegründet sein muß, so zeigt sich nunmehr, daß dieses Gesetz in der Tat auf dem Gedanken der Gemeinschaft beruht, in demselben allein Sinn hat. Die Gemeinschaft autonomer Wesen also ist, kurz gefaßt, der Inhalt des formalen Sittengesetzes87."

78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

KBE 1 , S. 195 f. Β KBE 1 , S. 136. GMS, BA 71. KBE 1 , S. 196. GMS, BA 73. GMS, BA 70. GMS, BA 75. GMS, BA 74. KBE 1 , S. 198. KBE 1 , S. 198 f.

18 Winter

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Cohen glaubte mit dieser Formulierung nicht nur „den letzten Schein des Formalismus" 88 , sondern auch den Schein des „Individualismus und Egoismus" vom Sittengesetz genommen zu haben. Die Gemeinschaft autonomer Wesen bedeutet danach nichts anderes als die Aufeinanderbezogenheit sich in ihren Handlungsmaximen, also in ihren Gesetzgebungen, als Endzwecke anerkennender vernünftiger Wesen: Damit wird die Selbstgesetzgebung jedes Einzelnen der Idee nach identisch mit der allgemeinen Gesetzgebung, denn das Handlungsgesetz des Einzelnen, da es sich auf alle anderen als Selbstzwecke zu beziehen hat, kann gar nichts anderes wollen, als was die anderen, d. i. letzten Endes die Menschheit, als Träger einer Selbstgesetzgebung ebenfalls wollen können. Gegen Cohens Interpretation der Kantischen Formeln des kategorischen Imperativs ist prinzipiell vorzubringen, daß das logische Prinzip, die Form der allgemeinen Gesetzgebung, das teleologische Prinzip, die Gemeinschaft autonomer Zwecke nicht impliziert. Jede Maxime läßt sich universalisieren, d. h. in der Form der allgemeinen Gesetzgebung ausdrücken, wenn nur ihre Konsequenzen akzeptiert werden. Erst wenn die fundamentale Entscheidung getroffen wird, die Persönlichkeit des Menschen als letzten Wert zu achten, die Persönlichkeit als Selbstzweck zu betrachten, was als Entscheidung Kants und Cohens ethischen Überlegungen immer zugrunde lag, wenn sie auch bei Kant manchmal verdeckt erscheint - läßt sich der metaphysische Grund der Herausstellung der Form der allgemeinen Gesetzgebung erkennen: Der Sinn der Allgemeinheit der Gesetzgebung wird nur dann erfüllt, wenn die Menschheit in der Person eines jeden Berücksichtigung und Anerkennung in ihr findet. Deshalb kann Cohen schließlich auch formulieren, daß das formale Sittengesetz nichts anderes als die Gemeinschaft moralischer Wesen bedeute; sofern nämlich eine Maxime so gefaßt ist, daß sie auch der Gemeinschaft moralischer Wesen als Prinzip für eine Gesetzgebung dienen kann, erfüllt sie die Bedingungen der Sittlichkeit. Die oben angeführten Bestimmungen des Sittengesetzes sind lediglich als „Inhalts-Entfaltungen des analytischen Begriffes des reinen Willens" 89 vorgenommen worden. Da eine Deduktion der moralischen Erkenntnis wegen des Fehlens einer moralischen Erfahrungsgesetzlichkeit versagt bleibt, sah Cohen nur die Möglichkeit, die systematische Zusammenfassung der moralischen Erkenntnisse als die zu findende Gesetzlichkeit zum „Problem" zu machen. Der Begriff, an dem dieser systematische Zusammenhang seiner Form nach, seiner Gesetzmäßigkeit nach entfaltet werden soll, war der reine Wille. Die Reinheit, also die Gesetzmäßigkeit des Wollens, stellte sich als die Form der allgemeinen Gesetzgebung heraus. Der aus der bloßen Form der allgemeinen Gesetzgebung gewonnene analytische Begriff eines systematischen Zusammenhangs der moss KBE 1 , S. 198. 89 Vgl. KBE 1 , S. 168.

2. Kap.: Die Leitgedanken der „Ethik"

275

raiischen Erkenntnisse wird von Cohen im eigentlichen Sinn als „die Gemeinschaft autonomer Wesen als selbständiger Zweck" 90 gedeutet. Die Sicherung der „Regulativ-Realität" 91 des analytischen Sittengesetzes, seiner regulativen Geltung als Idee aber obliegt dem Zweckprinzip der Freiheit. Die Freiheit ist nicht ein „gleichsam synthetischer Boden" 92 für die Gemeinschaft moralischer Wesen, sondern sie bewährt sich als praktische Idee, als Zweckprinzip, nach der das vernünftige Wesen als freies, d. h. sich selbst als Urheber, Schöpfer und Endzweck des Sittengesetzes setzendes Wesen erkannt wird. „Man ahnt nunmehr den ergreifenden Nutzen, den die Idee der Freiheit, die Maxime des Endzwecks in der praktischen Vernunft allem Erkennen darreicht. Jeglicher Mensch, als welcher autonomer Urheber des Sittengesetzes, als welcher Glied im Reiche der Zwecke ist, muß als Endzweck gelten, so wenig auch dieser einzelne Sterbliche, „mit der Idee der Menschheit, die er sogar selbst als Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt", kongruieren mag. Kein Mensch darf „bloß als Mittel" verbraucht werden. Jeder Mensch muß in der Verwaltung einer moralischen Welt „immer zugleich als Zweck" in Ansehung kommen. Denn der Mensch als moralisches Wesen ist Endzweck, d. h. er ist frei 93 ." Das sittliche Subjekt, der autonome Urheber des Sittengesetzes als „Glied im Reiche der Zwecke" ist also nicht der sinnliche Mensch, sondern die Zweckidee des Menschen, die sittliche Persönlichkeit, die Menschheit. Dieses sittliche Subjekt ist nicht frei von Naturbedingungen, das ergäbe nur den negativen Begriff von Freiheit, also Unabhängigkeit von den Naturgesetzen, sondern ist frei als Urheber des Sittengesetzes, als Schöpfer einer Ordnung, „in welcher er nicht geboren ist und in welcher er auch nicht sterben kann" 94 . Der von Cohen gegen alle Deutungen jener Zeit herausgestellte materialethische Gehalt der Kantischen Moralphilosophie, den er in dem Versuch Kants erblickte, dem alten naturrechtlichen Problem der richtigen gesellschaftlichen Ordnung auf einem neuen Niveau, nämlich unter dem Aspekt der regulativen Idee, in der „Regulativ-Realität" 95 des von Cohen als „Gemeinschaft moralischer Wesen" aufgefaßten Moralprinzips, den so lange gesuchten Begriff zu geben, bleibt für Cohens eigene Bemühungen um die Begründung der Ethik bestimmend. In der Idee der staatlich verfaßten Menschheit, die das Begründungsziel der „Ethik des reinen Willens" bildet, glaubte Cohen das, was für ihn das Kernproblem jeder Ethik darstellte: die Korrelation von Individuum und Gemeinschaft, gelöst. Darin wird, wie unschwer zu erkennen ist, die in der Interpreta90 91 92 93 94 95

18*

KBE 1 , S. 201. KBE 1 , S. 254. KBE 1 , S. 202. KBE 1 , S. 246. KBÄ, S. 137. KBE 1 , S. 246.

276

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

tion der Schriften Kants herausgestellte „Gemeinschaft moralischer Wesen" reflektiert. Doch unterscheiden sich die Begründungen beider Fassungen dieses Gedankens in Methode und Inhalt ganz erheblich. Zwischen ihnen liegt nämlich die „Revision der Kantischen Grundbegriffe" durch Cohen und die Aufstellung einer eigenen Grundphilosophie in der „Logik der reinen Erkenntnis".

Drittes Kapitel

Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

1. V o r b e m e r k u n g

Wenn auch die Ausgangsfrage gleich bleibt: „Die Ethik will wissen, was er (der Mensch) soll; was er sein und wie er handeln soll; was unter Menschen, was für Menschen, was durch Menschen sein soll" 1 , so zeigt sich in der methodischen Veränderung der einzuschlagenden Fragerichtung die Differenz. Nicht auf die Form eines, mangels eines gesetzlich verfaßten Erfahrungsbestandes, zunächst analytisch zu denkenden Systems moralischer Erkenntnis zielt die Frage, sondern auf eine Wissenschaft, in der die logische Struktur des Begriffs vom Menschen ausgezeichnet ist, den die Ethik meint. Der Begriff vom Menschen, den Biologie, Psychologie und Anthropologie haben, ist bestimmt durch Kategorien der mathematischen und beschreibenden Naturwissenschaften. Mit ihren methodischen Mitteln vermögen die Wissenschaften, nur Hypothese zu ermitteln und Prognosen aufzustellen, warum das empirische Individuum sich in einer bestimmten Weise verhält und was es in gegebenen Situationen tun wird, nicht aber vermögen sie festzustellen, weshalb es eine bestimmte Handlung tun soll Was der Mensch soll, unterliegt nicht den Bestimmungen der Natur. Dort ist er Naturobjekt; das hypothetisch gesetzte Naturgesetz schreibt ihm vor, was er tun muß; wenn gefragt wird, was der Mensch soll, wird er in eine andere Ordnung gestellt: er wird nicht als Naturobjekt gesetzt, sondern als Subjekt eines Willens in eine Ordnung des Sollens. Der in diese Sollensordnung gestellte Mensch kann nun aber offenbar nicht mehr mit jenem Naturwesen Mensch kongruieren. Dieser Mensch muß nach ganz anderen Begriffen bestimmt sein. Die Frage heißt deshalb: Durch welche Begriffe ist das Objekt der ethischen Erkenntnis, nämlich das Subjekt der Sittlichkeit, das sittliche Individuum bestimmt? Diese Begriffe müßten nach Cohens programmatischen Aufstellungen zur transzendentalen Methode aus dem Faktum einer Wissenschaft, nämlich in der „positiven Rechtswissenschaft", bestimmbar werden. 1

KBE 1 , S. 163.

278

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik 2. Klärung der „Zweideutigkeiten" i m Begriffe des I n d i v i d u u m s nach den Ergebnissen der „Logik der reinen Erkenntnis"

Doch bevor auf die erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft das Augenmerk zu richten ist, können schon nach den Ergebnissen der „Logik der reinen Erkenntnis" die „Zweideutigkeiten im Begriffe des Individuums" 2 ausgeräumt werden. Bei der Bestimmung des einheitlichen Begriffs des Menschen als Individuums der Ethik könnte es scheinen, als sei der sichere und feste Ausgang dafür jener schwer bezweifelbare einzelne Mensch, das Einzel-Ich, von dem wir im Bewußtsein unserer selbst sichere Kunde zu haben glauben. Diesen „Schein des populären Bewußtseins" zu zerstören, gilt Cohens entschiedene Bemühung. Es meldet sich hier nämlich sogleich das Bedenken an, ob, da der Einzelmensch in vielerlei Bezügen zu anderen Menschen steht, nicht möglicherweise der Begriff des Menschen in seinem Plural verstanden werden müsse. Und indem man eine unbestimmte Vielzahl von Menschen denkt, fragt sich, ob nicht über die Summe dieser vielen Menschen hinaus, gleichsam ein Summand vorhanden ist, der die unendliche Zusammenfassung dieser Menschen, ihre Allheit, ausdrückt. In der „Logik der reinen Erkenntnis" hatte Cohen gegenüber Kants Tafel der Kategorien die wichtige Änderung vorgenommen, daß er die Kategorie der Einheit gestrichen hatte. Einheit ist nach Cohens Auffassung nicht eine besondere Kategorie, sondern charakterisiert das Denken als Synthesis, „die logische Art des reinen Denkens überhaupt" 3 und trifft deshalb für alle Urteilsarten zu4. Was Kant mit der Kategorie der Einheit gemeint habe - so Cohen -, sei die Einzelheit gewesen. Die Einzelheit sei jedoch keine besondere Kategorie, sondern unterfalle dem Urteil der Mehrheit. Die Einzelheit sei also aus der Ordnung der gegenstandskonstitutiven Grundbegriffe auszuscheiden und sei vielmehr als Ausdruck des Problems der Empfindung und der Wirklichkeit in die Reihe der modalen Forschungsbegriffe zu verweisen 5. Diese Feststellungen der Logik müssen sich Cohen zufolge analog auch für die Bestimmung des Begriffs des ethischen Individuums auswirken. Die „Einzelheit ist das Problem" 6 ; wenn jedoch das „Vorurteil der Einzelheit" (nämlich der sinnliche Mensch) sich zu dem „Vorurteil der Einzelperson" 7 auswächst, von dem her der Begriff des Menschen, d. h. die Einheit des Menschen im ethi2 3 4 5 6 7

ErW, S. 180; vgl. auch S. 4. ErW, S. 175. Vgl. LrE 1 , S. 21 ff. Vgl. ErW, S. 174, 221 ; LrE 1 , S. 404. Erw, S. 222. Ebd.

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

279

sehen Sinne bestimmt werden soll, so ist gegen diese „falsche Hypostasierung" des Individuums, gegen diesen „psychologischen Naturalismus" 8 vorzubringen, daß der Einzelne nur als Einzelner der Mehrheit in Frage kommt. Der Einzelne „bildet keineswegs eine selbständige Einheit; so sehr auch der gemeine Schein dafür spricht" 9 . Die erste Zweideutigkeit in dem Begriffe des Menschen liegt also in den scheinbaren Gegensätzen von Einheit und Mehrheit und von Einzelheit und Mehrheit. Der Schein klärt sich auf, wenn erkannt wird, daß der Einzelne lediglich Glied einer Mehrheit ist und die Mehrheit als selbständige Kategorie über eine eigene Einheit, die Einheit der Besonderheit verfügt. Die zweite Zweideutigkeit hat einen logischen Grund: der Unterschied zwischen der Mehrheit der Menschen und der Allheit der Menschen ist kategorial. In der Allheit der Menschen wird die Einheit nicht, wie bei der Einheit der Mehrheit, gleichsam durch die Summe ausgedrückt, sondern durch die Integration, die unendliche Zusammenfassung. Für die Bestimmung des Begriffs des sittlichen Individuums wird also zu klären sein, in welchem Verhältnis die partikuläre Besonderheit oder die Mehrheit der Einzelnen zur Allheit steht. „Wir sind ja von vornherein darauf bedacht gewesen, die Korrelation von Individuum und Allheit als das eigentliche Problem der Ethik zu erkennen. Das ethische Subjekt muß also zugleich Allheit und Individuum sein. Der Mensch der Ethik darf nicht nur als Individuum gelten. So mag ihn die Religion nehmen, die ihn mit einem auswärtigen Begriffe verbindet. Wenn anders die Ethik dagegen jeden ihrer Methodik fremden Begriff zu vermeiden hat, um den Begriff des Menschen zu finden, so ist sie von vornherein auf die Mehrheit hingewiesen, in welcher allerwärts der Mensch sich darstellt. Es ist nur Schein, daß er lediglich Individuum wäre; wenn er es ist, und so weit er es ist, kann er es nur darin und dadurch sein, daß das Individuum vielmehr die Individuen sind. Die Mehrheit kann nicht von ihm hinweggedacht werden. Es kommt nur darauf an, daß die Mehrheit nicht Mehrheit, nämlich nicht Besonderheit bleibe, sondern daß sie Allheit werde 10 ." 3. D i e „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" als M a t e r i a l für die Konstitution des sittlichen Subjekts 3.1. Vorbemerkungen zum Aufbau

Wenn diese anhand der Kategorien der „Logik der reinen Erkenntnis" am Begriffe des Menschen als sittlichem Individuum vorgenommen, gleichsam a priorischen Unterscheidungen zutreffen, so müßten sie sich auch in „den er8 9 10

ErW, S. 221. ErW, S. 4. ErW, S. 71.

280

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

zeugenden Begriffen der Rechtswissenschaft" als geltend erweisen, mit deren Hilfe die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit realisiert werden soll. Überblickt man die vielschichtigen und weitverzweigten, unübersichtlich gewundenen Gedankenentwicklungen Cohens in den zentralen Kapiteln der „Ethik des reinen Willens" (,Die Grundlegung des reinen Willens, ,Der reine Wille in der Handlung, ,Das Selbstbewußtsein des reinen Willens', ,Das Gesetz des Selbstbewußtseins'), so schält sich allmählich heraus, daß Cohen an die vertraglich konstituierten genossenschaftlichen Rechtspersonen anknüpft und anhand der transzendentalen Analyse von Vertrag und Juristischer Person das sittliche Subjekt zu begründen versucht. Dabei vollzieht sich die Begründung in drei Stufen, die bei Cohen allerdings kaum unterscheidbar ineinander verschlungen 11 sind. Zunächst ist in Analogie zum „Urteil des Ursprungs" in der „Logik" das ethische Subjekt zu erzeugen. Diese „Erzeugung" des ethischen Subjekts erfolgt über die Transzendentalanalyse des Vertrages, der Urform einer das Rechtssubjekt erzeugenden Rechtsordnung. Das nunmehr „erzeugte" ethische Subjekt hat seiner inneren Struktur nach sein juristisches Vorbild in der Rechtsperson der Genossenschaft. Die Genossenschaft löst nach Cohens Auffassung in methodischer Klarheit das Problem der „Korrelation von Individuum und Allheit". In der Konstruktion eines genossenschaftlich verfaßten Staates schließlich trifft und identifiziert sich für Cohen die ethische Intention mit der rechtsphilosophischen. Der Staat als „ethischer Leitbegriff' drückt nichts anderes aus als das sittliche Selbstbewußtsein, verkörpert die Idee des sittlichen Subjekts als die Idee einer „Gemeinschaft moralischer Wesen". Obwohl Cohens Ausführungen über die „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" immer auf die Begründung des Subjekts der Sittlichkeit orientiert sind, beinhalten diese Überlegungen mannigfache rechtstheoretische Aussagen und Hinweise, die weniger „der" Rechtswissenschaft, die Cohen zu rezi11 Cohens eigene Darstellung in der „Ethik des reinen Willens" nimmt nicht den Gang, dem seine methodischen Überlegungen - wie hier behauptet wird - folgen. Er beginnt mit einer „Grundlegung des reinen Willens" und gibt dort, entgegen seinen Vorankündigungen, eine - in Begriffen der Erlebnispsychologie gesprochen - Phänomenologie des Wollens, nicht aber das Fundament des, als praktisch gesetzgebende Vernunft verstandenen, reinen Willens. Auch das folgende Kapitel „Der reine Wille in der Handlung" bleibt trotz aller Verwerfung der Psychologie größtenteils eine phänomenologische Untersuchung der Struktur der Handlung, die zwar für die damalige Zeit überraschend modern erscheint, aber kaum den methodischen Prämissen der Cohenschen Philosophie entsprach. Vor allem bleibt in beiden Kapiteln verborgen, wohin eigentlich die Pointe der dort gemachten Ausführungen zielt. Erst im dann folgenden Kapitel „Das Selbstbewußtsein des reinen Willens" kommt Licht in Cohens methodische Absichten und Überlegungen. Von daher erklärt sich manche unverständliche Wendung in den vorangegangenen Kapiteln, von daher wird aber auch deutlich, daß die vorher gegebene Phänomenologie der Willenshandlung für die Zwecke der Begründung der Ethik in weiten Teilen ein Umweg oder Abweg war. Vgl. auch Weise, Johannes: Die Begründung der Ethik bei Hermann Cohen, Erlangen 1911 (Diss.), S. 18.

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

281

pieren glaubte, entstammen, als Frucht seiner eigenen rechtsmethodologischen Reflexionen sind. Diese rechtstheoretisch bedeutsamen Aussagen, die merkwürdig genug - gleichsam als Nebenprodukt einer normativ-ethischen Untersuchung später das Hauptinteresse der Kelsenschen Schule beanspruchten und wirkungsgeschichtlich allein bedeutsam wurden, werden in den folgenden Erörterungen jeweils neben der Hauptlinie der Argumentation mitgeteilt. 3.2. Erläuterung: Das sittliche Subjekt als .Selbstbewußtsein

Das Problem ist gestellt: Das Handlungssubjekt der Ethik soll begrifflich bestimmt werden. Gemäß den methodologischen Voraussetzungen der ,Logik der reinen Erkenntnis' ist dieses Handlungssubjekt nicht schon so vorhanden, daß es nur noch der Stigmatisierung durch den Fingerzeig bedürfte. Das Handlungssubjekt ist nicht Darstellung und Abbildung des leiblichen Menschen, es muß erst erzeugt werden. Cohen nennt dieses Willens- und Handlungssubjekt „Selbstbewußtsein". Der Grund, der ihn zu dieser von Kant abweichenden und an Fichte anknüpfenden Begrifflichkeit veranlaßt, ist folgender: Während das theoretische Bewußtsein, also das Denken nach Kategorien der mathematischen Naturwissenschaft immer auf ein Objekt geht, und das Objekt in dem Begriff gleichsam repräsentiert wird, das theoretische Bewußtsein also das Objekt - ungenau ausgedrückt - vertritt, handelt es sich bei dem praktischen Bewußtsein nicht um die begriffliche Fixierung eines problematischen Objekts, sondern um die eigene Struktur als handelnd hervorbringendes Subjekt. Das theoretische Bewußtsein entwirft eine Ordnung, nach der sich die Objekte verhalten, konstruiert also in ein ihm Äußerliches eine Ordnung hinein. Das praktische Bewußtsein entwirft auch eine Ordnung, allerdings eine solche, nach der es selbst handeln will. Es zielt also nicht auf den Gegenstand, sondern auf sich als Erzeuger seines Handlungsgesetzes, es ist Selbstbewußtsein. „Das Bewußtsein muß es sein, das in der Handlung sich entfaltet; als welches sich die Handlung vollzieht. Was ist aber nun der Inhalt des Bewußtseins, welches nicht von Inhalten angefüllt ist; welches lediglich in Handlungen sich vollzieht und besteht? Der Inhalt des Bewußtseins, welches in dem Willen und in der Handlung sich verwirklicht, ist deshalb nicht als Objekt zu bezeichnen, weil er vielmehr das Subjekt bildet. Und wenngleich auch das Subjekt der Objektivierung als Inhalt des Bewußtseins bedarf, so bildet es doch dasjenige Problem, welches im Unterschiede von jenem Bewußtsein des Objekts bezeichnet wird als das Selbstbewußtsein12."

12 ErW, S. 193.

282

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik 3.3. Transzendentalanalyse des Vertrages

Cohen hatte in der Logik der reinen Erkenntnis an die Spitze seiner Urteilsarten das „Urteil des Ursprungs" gesetzt, das nichts mehr als die Aufgabe hatte, über „den abenteuerlichen Umweg" des Nichts die leere unendliche Unbestimmtheit als Denkpostulat des Anfangs überhaupt zu setzen. Er überträgt „in analoger Weise" das Problem der ursprünglichen Erzeugung des Selbstbewußtseins, indem er an Fichtes zur Begründung der Wissenschaftslehre vorgenommene Setzung des Nicht-Ich durch das Ich anknüpft. „Denn das ist ja die Grundfrage der Ethik: Was ist das Selbstbewußtsein? oder Was ist das Ich? Wie ist der Ursprung des Ich zu bestimmen?, so daß aus diesem Ursprung der volle, ganze Inhalt des Ich zur reinen Erzeugung gelangen kann? Soviel sehen wir bereits, daß es weder aus dem Ding, noch aus der Korrelation zum Ding erzeugt werden kann. Das Nicht-Ich kann daher nur auf den Begriff des Menschen sich beziehen, als in welchem allein das Ich seinen Ursprung haben kann 13 ." Den methodischen Fingerzeig für die Lösung des Problems der „Erzeugung" des ethischen Subjekts des Selbstbewußtseins gibt die Analyse der Rechtsfigur des Vertrages: Der Vertrag bildet für Cohen den Rechtsgrund von Vergesellschaftung überhaupt. Und alles Recht als Form der Vergesellschaftung muß sich deshalb für ihn auf den Vertrag zurückführen lassen14. Aus dem Vertrage entwickelt Cohen schließlich auch seine ethische Handlungstheorie. Cohen liefert diese Überlegungen nicht als geschlossene Darstellung, indem er die Auffassungen der damaligen Rechtswissenschaft zur Vertragskonstruktion dem Leser vorstellt, um daraus systematisch seine auf die Begründung des ethischen Subjekts bezogenen Folgerungen zu ziehen, vielmehr werden die juristischen Bezüge nur beispielhaft in die Erörterung eingeflochten oder am Ende eines Gedankens gleichsam als Beleg dafür angefügt, daß die Rechtswissenschaft als Faktum einer Wissenschaft die vorher gewonnenen Ergebnisse zu bestätigen vermag. Im folgenden wird es darum gehen, zunächst Cohens Auffassung von der rechtstheoretischen Natur des Vertrages zusammenzufassen und in einem weiteren Schritte die Konsequenzen für die Konstitution des ethischen Subjekts zu erläutern.

13

ErW, S. 198. Vgl. ErW, S. 234: „Wird dagegen der Vertrag als die allgemeine Form des Rechts eingesehen, so darfauch der Staat in ihm seinen tiefsten methodischen Grund anerkennen." S. 235: „Dieses Selbstbewußtsein ist die Vereinigung von Ich und Du, welche die Rechtshandlung des Vertrages vollzieht. Dieser Vertrag ist nicht ein Versuch der Willkür und des Experiments; sondern er ist die Bedingung, die notwendige und zureichende Bedingung für den Vollzug des Selbstbewußtseins." 14

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

283

3.3.1. Die willenstheoretische Vertragskonstruktion in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts: Savigny und Windscheid Cohen hat seine Überlegungen zur Natur des Vertrages in Kenntnis 15 der Ausführungen zweier der hervorragendsten Vertreter der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts gemacht: Savigny und Windscheid. Vor dem Hintergrund ihrer Auffassungen soll die transzendentale Inquisition des Vertrages durch Cohen interpretiert werden. Savigny bestimmt den Vertrag als „die Vereinigung Mehrerer zu einer übereinstimmenden Willenserklärung, wodurch ihre Rechtsverhältnisse bestimmt werden" 16 . Nach Windscheid „ist der Vertrag die Willenseinigung mehrerer: näher, der von dem einen erklärte Wille" - ,des Inhalts, daß ein Recht entstehen, untergehen oder die Veränderung erleiden solle' 17 - „muß durch die Willenserklärung des anderen ergriffen und festgehalten werden" 18 . Savigny zufolge ist der Begriff des Vertrages durch vier Merkmale charakterisiert: - „Das erste, was wir dabey wahrnehmen, (ist) eine Mehrheit gegenüberstehender Personen." - „Diese mehreren müssen irgendetwas, und zwar beide dasselbe, bestimmt gewollt haben." - „Sie müssen sich dieser Übereinstimmung bewußt geworden seyn, das heißt, der Wille muß gegenseitig erklärt worden seyn." - Ferner muß in Anbetracht des Gegenstandes des Willens im Vertrag „der Wille auf ein Rechtsverhältnis als Zweck gerichtet seyn" 19 . Übereinstimmend beruht nach Savigny und Windscheid die Verbindlichkeit des Vertrages, die rechtsgeschäftliche Bindung darauf, daß die Vereinbarung aufgrund „individueller Willkür" 2 0 gewollt ist und die Rechtsordnung den Vertrag „mit der Kraft begabt hat, ein Recht dieser Art zu erzeugen" 21. Zur Vertragsgeltung gehören danach zwei Bestandteile: Willensübereinstimmung hinsichtlich der Erzielung eines bestimmten Erfolges und die positive gesetzliche Anordnung hinsichtlich der Voraussetzungen und Folgen der Verbindlichkeit von Willenserklärungen; „sowohl das Daseyn einer Rechtsregel als eine dieser 15 Savigny und Windscheid werden im Zusammenhang mit Vertragserörterungen von Cohen im Text kurz erwähnt. Savigny: ErW, S. 233, 237, 572; Windscheid: S. 233. 16 von Savigny, Friedrich Carl: System des heutigen Römischen Rechts, 1840, § 140 (Bd. 3), S. 309. 17 Windscheid, Bernhard: Lehrbuch des Pandektenrechts, 3. Aufl., Düsseldorf 1873, § 69 (Bd. 1), S. 158. 18 Ebd., S. 159. 19 Savigny, System, Bd. 3, S. 308. 20 Savigny, System, Bd. 3, S. 311 (§ 140). 21 Windscheid, Bd. 1, S. 150 (§ 63).

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Regel entsprechende Thatsache; also ζ. B. ein Gesetz, welches die Verträge anerkennt, und ein geschlossener Vertrag selbst" 22 . Wenn Savigny den Vertrag als eine „der Rechtsregel entsprechende Tatsache" oder Windscheid den Vertrag als „rechtserzeugenden Tatbestand" bezeichnet, so stellen sie dabei ersichtlich auf den Vertragsabschluß ab, also auf die realen Vollzüge, die den Vertrag begründen. Damit ist der Begriff des Vertrages nur nach seiner formalen Seite hin gekennzeichnet; der Vertrag nach seiner Inhaltlichkeit, als Ausdruck des in ihm Vereinbarten wird zwar mitgedacht, aber nicht deutlich von seinem Charakter als Rechtserzeugungstatbestand geschieden. Im „rechtserzeugenden Tatbestand" wird Recht erzeugt. Dieses Recht ist der Vertrag seinem Inhalte nach, der Vertrag als Norm. Zu unterscheiden ist also der Vertrag als rechtserzeugender Tatbestand von seiner Bestimmung als Rechtsnorm. Daß diese Unterscheidung im Begriffe des Vertrages nicht deutlich vorgenommen wird, obwohl sie doch nach allen Seiten hin vorbereitet ist, hat weniger rechtstheoretische als rechtshistorische und rechtsideologische Ursachen. Für Savigny stehen Verträge und Gesetze nicht auf einer rechtslogischen Stufe 23 . Privatautonomie, dieser „vieldeutige Ausdruck" 24 , gilt nur im Rahmen des „allgemeinen Rechts" 25 . Das allgemeine Recht, also das objektive Recht oder die Rechtsordnung, legt Voraussetzungen und Grenzen der Privatautonomie fest 26 . Die Privatautonomie ist auch für Savigny nicht vorstaatliches Recht, das die Grenzen des positiven Rechts bestimmt, - wobei natürlich gleich einschränkend hinzugefügt werden muß, daß Savignys von der Kantischen Moralphilosophie bestimmte Auffassung von der sittlichen Natur des Rechts, „also die Anerkennung der überall gleichen sittlichen Würde und Freiheit des Menschen, die Umgebung dieser Freiheit durch Rechtsinstitute, mit allem, was aus der Natur und Bestimmung dieser Institute durch praktische Konsequenz hervorgeht" 27 , die Privatautonomie trotzdem zugleich wieder in den Mittelpunkt des „Systems des positiven Rechts" 28 stellt. Die Betrachtung des Vertrages vorzüglich unter dem Aspekt der Rechtstatsache oder des Rechtstatbestandes nicht aber als lex contractus, als Rechtsnorm, hängt auch mit der von Savigny begründeten und von Windscheid noch 22

Savigny, System, Bd. 1, S. 12 (§ 6). Vgl. Savigny, System, Bd. 1, S. 12. 24 Ebd., S. 12, Anm. B. Ebd., S. 9. 26 Vgl.: Außerdem aber hat der Staat auch den entschiedensten Einfluß auf die Rechtserzeugung im Privatrecht: nicht nur auf dessen Inhalt..., sondern auch auf die Gränzen der Rechtserzeugung" (System, S. 24 (§ 9)). 27 Savigny, System, Bd. 1, S. 55 (§ 15). 28 Ebd., S. 10 (§ 5). 23

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

285

vertretenen, das mittlere und späte 19. Jahrhundert beherrschenden, Willenstheorie zusammen. Die Willenserklärung wird hier vornehmlich von ihrer empirischen Seite, nicht von ihrer normativen Seite erfaßt. Savigny formuliert: „Denn eigentlich muß der Wille an sich als das einzig wichtige und wirksame gedacht werden, und nur weil er ein inneres, unsichtbares Ereignis ist, bedürfen wir eines Zeichens, worin er von den anderen erkannt werden könne und dies Zeichen, wodurch sich der Wille offenbart, ist eben die Erklärung 29 . Wenn das „innere Ereignis des Wollens" 30 durch die Erklärung verlautbart worden ist, also „in die sichtbare Welt der Erscheinung eintritt" und mit der Willenserklärung des anderen, die auf eine Rechtsfolge gerichtete Willenseinigung oder Willensübereinstimmung erzielt worden ist, so liegt der Tatbestand eines Vertrages vor. Sofern diese „Tatsache" mit dem Rechtsgesetz in Übereinstimmung gebracht werden kann, ist das zunächst nur empirische Faktum des Vertrages als von der Rechtsordnung anerkanntes normatives Faktum, als Rechtsgeschäft, gültig. Nach der Willenstheorie und ihrer Modifizierung der Erklärungstheorie 31 erscheint die vertragliche Willensübereinstimmung und Willenseinigung als empirische überprüfbare Entsprechung von Aussagen, die sich auf Rechtserfolge beziehen. Damit aber bleibt die spezifische Struktur dessen, was den Aussageninhalt bestimmt, außer Betracht. Wird aber der Vertrag unter dem Gesichtspunkt des Aussageninhalts (Willensinhalt), der lex contractus, bestimmt, so werden die konstitutiven Begriffe des Vertrages in eine Ordnung gestellt, die unter normlogischem Aspekt mit der des Rechts identisch ist. Bei Savigny bricht diese Einsicht an vielen Stellen durch, doch verhindert die romantische Volksgeistlehre ihre konsequente Durchführung. „So unermeßlich nun der Abstand zwischen einem beschränkten einzelnen Rechtsverhältnis und dem System des positiven Rechts einer Nation sein mag, so liegt doch die Verschiedenheit nur in der Dimension, dem Wesen nach sind sie nicht verschieden, und auch das Verfahren des Geistes, welches zur Erkenntnis des einen oder des anderen führt, ist wesentlich dasselbe"32. Und mehr noch als bei Savigny wird bei Windscheid deutlich, daß gegen sein eigenes methodisches Verständnis Begriffe wie der des Willens von ihm nicht psychologisch-empirisch, sondern rein normativ-rechtlich bestimmt werden 33 .

29

Savigny, System, Bd. 3, S. 258 (§ 134).

30

Ebd., Bd. 3, S. 237 (§ 130). 31 Daß die Willens- und Erklärungstheorie von gleichen Grundvoraussetzungen ausgehen, hat zuerst nachgewiesen Larenz, Karl, in: Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, Leipzig 1930, S. 39 ff. Vgl. zu der von ihm begründeten Theorie der Geltungserklärung, ebd., S. 34 ff., S. 54 ff. Ferner: Pawlowski, Hans-Martin: Rechtsgeschäftliche Folgen nichtiger Willenserklärungen, Göttingen 1966, S. 212 ff., S. 250 ff. 32

33

Savigny, System, Bd. 1, S. 10 f. (§ 5).

Dies hervorgehoben zu haben, ist das große Verdienst Hans Kelsens, in: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, 2. Aufl. 1923, S. 123 ff.

286

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

3.3.2. Cohens geltungstheoretische

Konstruktion

des Vertrages

Es fragt sich nun, was die transzendentale Analyse des Vertrages gegenüber der Lehre der Pandektenwissenschaft an neuen Erkenntnissen zutage fördert. Wenn der „reine" Vertrag beschrieben werden kann als die Vereinbarung, sich gegenseitig in einer bestimmten Weise verhalten zu sollen, so ist zunächst festzustellen, daß wenigstens zwei - Subjekt genannte - Zurechnungsträger vorausgesetzt werden müssen, die sich aufeinander in einer bestimmten Weise beziehen. Diese Subjekte müssen - indem sie sich vertragen - als Freie gesetzt werden. Damit sie sich in ihren Handlungen aufeinander beziehen können, müssen sie in der Bestimmbarkeit ihrer Handlungen frei sein. Negativ ausgedrückt: Die Forderung, sich zu vertragen, ergibt sich aus der Möglichkeit, daß sich die Subjekte in ihren Handlungen beeinträchtigen und stören können. Weiter muß die Annahme gemacht werden, daß die Subjekte gleich sind. Die Gleichheit ist nicht als erfahrungswissenschaftliche Relation gemeint, sondern als normative, als Gleichheit im Rechte. Sie resultiert aus der Anerkennung des Anderen als Möglichkeitsbedingung der Realisierung der eigenen Zwecke. Schließlich schaffen sich diese Subjekte im Vertrage eine gesetzliche Ordnung, deren Geltung nicht wie die naturgesetzliche Ordnung auf einem Oktroi der Natur, sondern auf dem gegenseitigen Versprechen, auf der gegenseitig ausgesprochenen Verpflichtung, daß die miteinander vereinbarte Gesetzgebung gelten soll, beruht. Die im Vertrag statuierte Gesetzgebung bildet gegenüber den Willenserklärungen der Subjekte das Allgemeine. Doch steht die Allgemeinheit dieser Vertragsrechtsordnung nicht außer Beziehung zu den Willenserklärungen der Subjekte; die besonderen Willenserklärungen der Subjekte sind nichts anderes als unter dem Gesichtspunkte des Anderen - also unter dem Gesichtspunkte ihrer Verallgemeinerbarkeit, d. h. ihrer Eignung zu einer allgemeinen Gesetzgebung - formulierte Rechtsordnungsvorschläge. Im Subjekt, d. h. in der im Subjekt konzentrierten Gesetzgebung, ist der Andere also schon immer mitenthalten. Das Subjekt enthüllt sich mithin nicht als Einzelnes, sondern als „Doppel-Subjekt", als Relation auf den Anderen, den alten Ego oder „Dualis des Ich".

3.4. Weitere Folgerungen: Die Bestimmung von Willen und Handlung

Das Sollen der im reinen Vertrage erzeugten Gesetzgebung ist das Recht. Die Subjekte, die ihre gegenseitigen Beziehungen mit der durch die übereinstimmenden Geltungserklärungen erzeugten Rechtsordung des Vertrages regeln, sind als Träger der Zurechnung Rechtssubjekte. Als Rechtssubjekte heißen sie Personen und haben Rechtspersönlichkeit. Da das Rechtssubjekt nicht mit dem nach den Kategorien der Natur bestimmten sinnlichen Menschen iden-

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

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tisch ist, sind seine Äußerungs- und Betätigungsweisen auch nicht als in Raumund Zeitstellen fixierbare Verhaltenstatbestände beschreibbar, sondern als Willenshandlungen. „Die Natur vollzieht Bewegungen. Der Mensch wird zum Menschen durch die Handlung, sofern er derselben fähig wird 3 4 ." Wille und Handlung sind nicht getrennte Aggregate, d. h. ein Inneres der Willen und ein Äußeres die Handlung, sondern Wille und Handlung bilden eine Einheit und die „Einheit des Rechtssubjekts" hat „in ihr ihren tiefsten Grund" 35 . Betrachtet man das aller Leiblichkeit entkleidete Rechtssubjekt, so besteht, das hat die obige Analyse des Vertrages gezeigt, sein ganzer Inhalt in seiner Gesetzgebungs-, Rechtserzeugungsfähigkeit. Diese Fähigkeit stellt nach Cohen nichts anderes dar, als das, was man in der Rechtswissenschaft gewöhnlich Willen nennt. Das Rechtssubjekt ist „konzentriert" 36 im Willen. Es ist nichts anderes als Rechtswille. Der Wille des Rechtssubjekts aber, das hat die Analyse des Vertrages weiterhin ergeben, existiert nicht allein, sondern enthält immer schon die Beziehung auf den Anderen. Das aktive Sich-auf-den-Anderen-Beziehen nennt Cohen das Handeln des Rechtssubjekts. „Die Handlung (ist) nichts anderes als die Selbstentfaltung des Willens 37 ." Cohens Handlungsbegriff zufolge gibt es also Handlung nur im Verhältnis auf den Anderen. In der Rechtshandlung ist der Andere immer schon mitgesetzt, d. h. bezogen auf die durch die gegenseitige Verpflichtung in Geltung gesetzte Rechtsordnung kann das Rechtssubjekt gar nicht anders handeln als im Hinblick auf den Anderen. „In der Tat zeigt es sich schon im Rechtsgeschäfte, wo es sich doch für jeden Kontrahenten um seinen Vorteil handelt, daß nichtsdestoweniger auch der Andere berücksichtigt werden muß; andernfalls könnte es nicht zu derjenigen Genauigkeit, Klarheit und Sicherheit kommen, welche in der Rechtshandlung gefordert werden. Andernfalls würden Irrungen und Täuschungen unvermeidlich, welche die Aufhebung der Handlung herbeiführen oder dieselbe vor ihrer Ausführung illusorisch und nichtig machen. So ist es auch hier das reine wissenschaftliche Denken, und keineswegs der bloße Affekt, welcher den Anderen zur Ergänzung, zur Beigesellung bringt. Das Selbstbewußtsein des rechtlichen Wollens und der Rechtshandlung darf nicht auf einen Einzigen beschränkt bleiben. Das Selbstbewußtsein bedeutet die korrelative Vereinigung des Einen und des Anderen 38 ." Dieser Handlungsbegriff bedarf der Erläuterung: Die Beschädigung einer Sache kommt als Rechtshandlung nur in den Blick unter der Voraussetzung, daß dieser Erfolg zum Gegenstand der rechtlichen Regelung gemacht worden 34

ErW, S. 160. ErW, S. 69. 36 ErW, S. 67. 37 ErW, S. 212. 38 ErW, S. 203. 35

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

ist. Indem eine Sache beschädigt wird, handelt das Rechtssubjekt, dem die Rechtsordnung diesen Erfolg zurechnet, weil es gegen die vereinbarte Norm verstößt, mit Bezug auf den, mit dem diese Norm vereinbart wurde, den Anderen. Die Handlung besteht also nicht in der Kausierung des Erfolges, sondern im dem Verstoß gegen die Norm, zu deren Einhaltung sich das Rechtssubjekt verpflichtet hat. Cohen kann deshalb, Kelsen antizipierend, sagen: „Die Handlung dagegen ist von diesem äußeren Erfolge unabhängig. Die Folge, welche sich aus dem Willen für die Außenwelt ergibt, gehört nicht mehr zum Willen . . . Die Handlung gehört zum Willen; der Erfolg dagegen in der Außenwelt gehört nicht mehr zur Handlung, darum also auch nicht zum Willen 39 ." Will man sich den Cohenschen Handlungsbegriff in seinem Gegensatz zur naturalistischen Deutung der Handlung verständlich machen, so empfiehlt es sich, beim Begriff der Handlung immer zugleich den Begriff des Handlungsgesetzes mitzudenken. Wer eine Sache beschädigt, deren Beschädigung verboten ist, setzt sich selbst als Gesetzgeber einer Norm, nach der dieser Erfolg nicht zurechenbar sein soll. Sein „Handlungsgesetz" verstößt gegen die vorher vereinbarte Rechtsordnung; sein Verhalten ist rechtswidrig, weil das Gesetz, unter welches er es gestellt hat, der vereinbarten Norm widerspricht. Dadurch, daß der Rechtswille sich in der Rechtshandlung entfaltet, die Rechtshandlung in seiner wahren Natur durch das sie tragende Handlungsgesetz charakterisiert ist, eröffnet sich die Möglichkeit, die eigentliche Schwierigkeit in dem Problem der Handlung, nämlich „ihre Zusammenfassung aus den einzelnen Momenten, aus denen sie sich zusammensetzt" zu lösen. „Es gibt danach keine Handlung, schon im gewöhnlichen Sinne, geschweige in dem der Rechtsgeschäfte, welche nicht aus einer schier unübersehbaren Menge von Ansätzen und Fortsätzen bestände40." Wenn die Handlung nicht „in Velleität und Impetuosität verfliegen und verflattern soll" 41 , so muß das einheitsstiftende Moment an ihr zur Entdeckung gebracht werden. Diese Einheit der Handlung eröffnet sich erst, indem die Maxime, das Gesetz erkannt wird, unter dem die Handlung steht. Die Regel gibt Halt und Festigkeit, ermöglicht ihre Einheit. Diese Einsicht wird für Cohen wiederum exemplarisch durch die Rechtshandlung vermittelt. Für das Recht gibt es keine Handlung an sich, sondern das Recht definiert das, was als Handlung jeweils gelten soll. Cohen zieht zur Verdeutlichung dieses Gedankens den römisch-rechtlichen Begriff der actio heran. Die actio ist die Verfahrensvorschrift, die genau festlegt, welche Anstalten getroffen werden müssen, damit es zur Einsetzung eines Spruchgerichts und damit zur Begründung eines Prozeßverhältnisses kommt 4 2 . Wird nicht genau nach der Vorschrift verfahren, so kommt die actio, die Klage, nicht zustande; 39 40 41 42

ErW, S. 183. ErW, S. 68. ErW, S. 166. Vgl. Käser, Max: Das römische Privatrecht, 1955, S. 196.

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das kausale Geschehen erfüllt nicht den Sinn der Vorschrift und hat deshalb als Handlung auch keine Bedeutung. Da nur klagbar ist, was in der actio formuliert werden kann, fallen Recht, d. h. der gegen den Anderen gerichtete Klaganspruch, und Handlung zusammen. „ Actio ist die Handlung und Klage. Ein Recht, welches nicht klagbar ist, ist kein Recht. Daher ist auch der Begriff der Handlung rechtlich an den Begriff der Klagbarkeit geknüpft. Die Durchführung des Rechts vollzieht sich im Prozeß. Daher ist andererseits auch der Beginn des Rechts an den der Handlung geknüpft. Die Handlung bedeutet, als „actio" nicht zwar den Rechtsanspruch, aber den Gerichtsanspruch. So wird das Recht in die Handlung gelegt, als in seinen Ursprung und seinen eigentlichen Inhalt. Denn die Form des Rechts ist nicht etwa nur die äußere Form und auch nicht das bedeutsame Symbol; sondern sie ist das methodische Mittel, das Recht zu finden, zu entdecken, zu erzeugen. Diese Doppelbedeutung hat die Handlung als actio: Sie ist zugleich Handlung und Behandlung* 3." Ein bestimmtes menschliches Verhalten erhält seine Bedeutung als Handlung dadurch, daß eine Norm vorschreibt, welche Teile des Verhaltens den Sinn einer Handlung erfüllen. Mit Kelsen zu sprechen: „Die Norm fungiert als Deutungsschema"44, d. h. die Norm definiert, was als Handlung gilt. Nach Cohen macht die Urform einer Rechtsordnung, der Vertrag, jene Struktur der Handlung deutlich. Der Mensch bezieht und verhält sich in vielerlei Weise gegenüber den ihn umgebenden Objekten. Er begehrt sie, er bearbeitet oder zerstört sie. Indem er sich auf den anderen Menschen, nicht als Naturobjekt, sondern als Rechtssubjekt, als Person bezieht, stellt er sich und den Anderen in eine andere Ordnung, die nur intelligibel erfahrbare Ordnung des Sollens. Die sich miteinander vertragenden Personen verhalten sich nicht zueinander, sondern, sofern ihre Betätigungen den Sinn einer Vertragsnorm erfüllen, handeln sie. Handlung ist daher kein Naturbegriff, sondern ein Kultur-, ein Wertbegriff. Im Vertrage „tritt gar nicht in Frage, ob und wie der Kontrahent in Bezug auf sein Ich mit dem anderen Kontrahenten in Bezug auf dessen Ich vereinigt werden könne, oder solle. Denn an diesen Ichs werden nur Merkmale und Kennzeichen in das Interesse bezogen, welche für dasselbe durch das Denken objektivierbar sind. Die Handlung selbst, wie sehr auch in ihr der Affekt mitwirken muß, tritt als Rechtshandlung nur in diesen objektiven Kriterien in Erscheinung. So zieht sich für den juristischen Begriff des Selbstbewußtseins alles auf das eine Objekt zurück; und es ergeht keine Forderung von diesem einen an das andere Subjekt, welches mitgedacht wird, um sich etwa als Subjekt mit dem ersten zu vereinigen. Die Forderung der Vereinigung erstreckt und beschränkt sich auf die Vereinigung zur Rechtshandlung; also zur Erzeugung 43

ErW, S. 61 f.; vgl. dazu Kantorowicz, S. 604, der Cohen vorwirft, von der Naturalobligation als nicht einklagbarer Verbindlichkeit noch nichts gehört zu haben und der u. a. wegen solcher „Fehler" Cohen juristischen Dilettantismus, „glatten Irrtum", „dialektisch spielenden,Tiefsinn " vorhält, dem aber der normlogische Sinn dieser Ausführungen verborgen bleibt. 44 Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 3. 19 Winter

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eines Rechtsinhalts, eines Rechtsverhältnisses; aber nicht etwa zur seelischen oder geistigen Verschmelzung von Subjekten. Auf die Entäußerung des Subjekts nach seinem sonstigen geistigen oder seelischen Inhalt und seine Isolierung auf die Handlung allein kommt es an. Daher bleibt der Umfang hier subjektiv; auf das eine Subjekt bezogen. Denn was von dem einen gilt, das gilt sinngemäß auch von dem anderen. Das andere Subjekt ist hier nicht ein neues Problem. Es bezeichnet nicht das Problem des andern. Und es gilt hier nicht die Forderung und die Aufgabe der Vereinigung des anderen mit dem Selbst 45 ."

3.5. Folgerungen für die Konstitution des Selbstbewußseins

Mit den letzten Ausführungen ist der Übergang zum Ausgangsproblem, der Konstitution des ethischen Subjekts, des Selbstbewußseins, vollzogen. Die Frage zielt auf den Ursprung des Ich. Die Analyse der Vertragsstruktur hat ergeben, daß die Vertragsnorm eine Relation ist, die wenigstens zwei Zurechnungsträger voraussetzt. Der Gegenüber, auf den ich mich beziehe, ist aber nicht der Nebenmensch als das unbestimmte Massenindividuum, sondern er ist der Andere, dessen Wollen ich in meinem Gesetzgebungsvorschlag, dem Antrag, antizipiert habe. „Gehen wir dagegen von dem richtig verstandenen Begriffe des Nicht-Ich aus, so tritt an die Stelle des Nebenmenschen der genauere Begriff des Andern. Der Andere ist nicht ein Anderer; er steht in der genauen Korrelation, vielmehr in der Kontinuitätsbeziehung zum Ich. Der Andere der alter ego ist der Ursprung des Ich 46." In der Reziprozität der vertraglichen Zurechnungen enthüllt sich, daß das ethische Subjekt in Wahrheit nicht als Einzelnes gedacht werden kann. Eine Handlungsordnung kann sich das ethische Subjekt nur als „Doppel-Ich", als sich auf den Anderen beziehendes, dessen Willen antizipierendes geben. „Denn das ethische Problem des Selbstbewußtseins ist das Problem des reinen Willens. Der reine Wille aber vollzieht sich in der Handlung. Und zur Handlung gehören zwei Subjekte, wie wir dies an der Rechtshandlung erkannt haben. Das Selbstbewußtsein kann für den Willen und für die Handlung nicht das Bewußtsein des Selbst, als eines einzigen bedeuten, es muß vielmehr dieses Selbst den Anderen nicht sowohl einschließen, als vielmehr auf ihn bezogen werden. Durch den Einschluß könnte der Andere involviert erscheinen und so als ein Anderer in dem einen Selbst aufgehoben scheinen. Das darf bei dem Einen so wenig als bei dem Anderen der Fall sein. Weder darf der Eine den Andern, noch der Andere den Einen in sich verschlungen haben. Keiner darf durch den Anderen auch etwa als erweitert betrachtet werden. Beide müssen isoliert bestehen bleiben. Aber gerade dann bleiben sie nicht isoliert; sondern sie sind aufeinander bezogen und bilden in dieser Korrelation das Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein ist in erster Linie bedingt durch das Bewußtsein 45 46

ErW, S. 213. ErW, S. 201.

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des Andern. Diese Vereinigung des Anderen mit dem Einen erzeugt erst das Selbstbewußtsein, als das des reinen Willens 47 ." Cohen hat mit der Konstruktion des Ich „aus dem Ursprungsbegriff des Nicht-Ich, als des Anderen" 48 , des alter ego, einen fundamentalen Gedanken aller Sozialtheorie berührt. Im Unterschiede zu den späteren phänomenologischen Untersuchungen Schelers und Schütz oder den sozial-anthropologischen Überlegungen Meads zur Konstitution des Ich interessiert Cohen der alter ego nicht als empirischer Charakter, sondern als intelligibler Charakter. Damit fällt bei ihm, ganz wie bei Kant, das Problem der Vermitteltheit von empirischem und intelligiblem Charakter des Selbstbewußtseins - als der Frage nach dem materiellen Ursprung des Selbstbewußtseins in den Grundstrukturen des gesellschaftlichen Seins - aus. Da jedoch Cohen rechtliche Handlungscharaktere als Analysematerial dienen, verfügt er über ein Substrat von Sozialitätsbeziehungen, in denen bereits die geschichtlichen Erfahrungen der Menschen konzentriert anwesend sind. Insofern Cohens Untersuchung impliziert, daß rechtlich-moralische Handlungscharaktere für die Konstitution von Sozialbeziehung überhaupt vorausgesetzt werden müssen, behauptet sie, apriorische Formen gefunden zu haben, die also notwendig gedacht werden müssen, um den Menschen als moralisches Wesen überhaupt begreifen zu können. Das Selbstbewußtsein, das ist als Ergebnis der bisherigen Erörterungen festzuhalten, ist „nicht von dem leiblichen Material der Person abgezogen"49 und auch nicht als „der noch so seelisch gedachte Zusammenhang der Gliedmaßen mit ihren Funktionen" 50 zu denken, es betrifft auch nicht „die seelische oder geistige Verschmelzung von Subjekten" 51 , sondern die „korrelative Vereinigung des Einen und des Anderen" 52 . 3.6. Die innere Struktur des „ethischen Willenssubjekts41 : Transzendentalanalyse der juristischen Person

3.6.1. Vorbemerkung Das Selbestbewußtsein wird mit seiner Erschaffung aus dem Ursprung des Nicht-Ich als des Andern zunächst aber lediglich als solches gesetzt und entbehrt noch jeder Bestimmtheit. Im ethischen Subjekt soll jedoch der Begriff des Menschen und mit ihm die fundamentalen Gesetzlichkeiten der Sittlichkeit zur Entdeckung gebracht werden. Deshalb ist die innere Struktur des 47 48 49 50 51 52

ErW, ErW, ErW, ErW, ErW, ErW,

S. S. S. S. S. S.

202. 201. 211. 211. 213. 203.

292

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„ethischen Willenssubjekts" 53 näher ins Auge zu fassen. Wenn man die Ergebnisse der oben vorgenommenen transzendentalen Analyse des Vertrages betrachtet, wonach die lex contractus nichts anderes als die Urform einer Rechtsordnung ist und das Subjekt dieser Gesetzgebung erst durch die lex contractus erzeugt wird, indem diese in ihren Normen Deutungsschemata entwirft dafür, was als Handlung gelten und wem Handlung zugerechnet werden soll, so liegt es nicht fern, eine solchermaßen ansetzende Konstitution des Rechtssubjekts als das methodische Mittel für die Konstitution des ethischen Willenssubjekts zu verwenden. Diesen Weg geht auch Cohen, jedoch betritt er ihn vor Kelsen. Deshalb hat er den Weg erst zu bahnen, und da er sich mit einem der Hauptprobleme der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts auseinanderzusetzen hat, bewegt er sich in unübersichtlichen Gelände: Irrwege werden unvermeidlich und der Pfad ist gewunden. Zunächst soll deshalb in wenigen Worten auseinandergelegt werden, wie bei Cohen die innere Struktur des ethischen Willenssubjekts entwickelt wird, wenn man vom tatsächlichen Gang der Ausführungen absieht und nur die zugrundeliegende Grundidee beleuchtet. In der lex contractus vertragen sich Ich und Nicht-Ich, der Andere. Der Andere ist aber nicht nur einer, sondern einer unter vielen anderen. Wie wird es möglich, sich mit vielen anderen zu vertragen; wie wird es möglich, daß sich alle miteinander vertragen? Als Vertragende müßten sie einander notwendig als Gleiche und Freie voraussetzen, d. h. als Personen anerkennen. Sie müssen aber, da sie sich alle miteinander vertragen sollen, sich auf jeden einzelnen in der Weise beziehen, als sei dieser der verallgemeinerte Andere. Der verallgemeinerte Andere ist nicht die durch Addition errechnete Summe aller Anderen, d. h. ihrer unterstellten Handlungsintentionen, nicht die volonté de tous, sondern die unendliche Zusammenfassung aller anderen, die Allheit, der allgemeine Wille, die volonté générale. Jeder hat danach sein Verhalten so einzurichten, als ob in die Regel, unter der er steht, von allen - nicht als der Summe der selbstischen Ichs, sondern als Allheit-Ichs - eingestimmt werden könnte. Das Handlungsgesetz jeder Person müßte als allgemeines Gesetz gelten können. Jede Person müßte also als allgemeiner Gesetzgeber fungieren können. Jeder Mensch wäre mithin als ethisches Subjekt nichts anderes als die personifizierte allgemeine Gesetzgebung, wäre Allheit, vollzöge an sich die Einheit der Allheit oder in der Sprache von „Kants Begründung der Ethik": setzte sich als die „Gemeinschaft moralischer Wesen", als Menschheit. Der ethische Begriff des Menschen wird nicht durch den „zweideutigen Begriff des Individuums" 54 charakterisiert, sondern durch die in der logischen Form der Allheit gedachte Menschheit. 53

ErW. S. 217. 54 ErW, S. 180.

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Der Idee der Menschheit, die den Zweck einer jedes Individuum als Person, d. h. als Selbstzweck, anerkennenden allgemeinen Gesetzgebung bildet, kann aber, das ist Cohens konsequenter weiterer Gedanke, nur im Staate gesichert werden. Da sittliche Ordnung nur unter der Voraussetzung von Gesetzen gedacht werden kann, diese Gesetze aber die Bedingungen des Sich-Vertragens ausdrücken, heißen diese Gesetze Rechtsgesetze und stellen in ihrer Gesamtheit die Verfassung moralischer Wesen dar. Die Verfassung wird auch Staat genannt. Die sittliche Ordnung kann nur als rechtlich verfaßte Ordnung gedacht werden, als solche ist sie identisch mit dem Begriffe des Staates. Daraus ergibt sich, daß es sich hier nicht um eine tatsächlich vorfindliche Rechtsordnung und also auch nicht um einen empirisch gemeinten Staat handelt, sondern um einen „ethischen Leitbegriff' 55 , um eine Idee. Die „Verfassung sittlicher Subjekte", der Staat, ist als Idee Aufgabe, d. h. Beurteilungsgesichtspunkt, an dem die Realität zu messen und nach dem sie zu verändern ist. Als ethischer Leitbegriff dient die Idee der staatlich verfaßten Menschheit als Beurteilungs- und Bestimmungsnorm gleichermaßen. Mit ihr wird die Frage aufgeworfen, ob in das bestehende oder zu schaffende Gesetz oder in die vollzogene oder die zu vollziehende Handlung die Menschheit in der Person eines jeden einstimmen, ob das ethische Subjekt das Gesetz oder die Handlung sich zu eigen d. h. zur Basis eines Vertrages machen könnte. Cohens Überlegungen sind, das war oben schon angedeutet, in ihrer tatsächlichen Durchführung verwickelter. Sein Problem bleibt es zunächst, das völlige Auseinanderfallen des ethischen Subjekts und des sinnlichen Menschen in immer neuen Anläufen zu demonstrieren und dabei die logische Struktur des ethischen Subjekts weiter herauszuarbeiten. Dabei bedient er sich nun, da er ja auf die „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" für die Transzendental-Analyse zurückgreifen will, eines weiteren juristischen Grundbegriffes, der in den vorhergehenden Erörterungen noch nicht verwendet worden ist, nämlich des Begriffs der juristischen Person. Den Begriff des ethischen Willenssubjekts will er „an dem Begriffe der juristischen Person prüfen und beglaubigen" 56 . In dem Begriff der korporativen Rechtsperson, „wie er sich von dem Privatrecht in das Staatsrecht hinein entwickelt, und daher zum methodischen Grundbegriff der sozialen Politik und der mit derselben verbundenen reinen Ethik wird" 5 7 , bietet die Rechtswissenschaft dehik ein „im höchsten Maße und Sinne instruktives und methodisches Problem" 58 . Wenn sich die Bedeutung der „juristischen Technik" 59 für den Begriff des Selbstbewußtseins an der juristischen Person „zur genauen Prägnanz" 60 bringen ließe, wäre „die Rechtswis55

ErW, ErW, 57 ErW, 58 ErW, 59 ErW, 60 Ebd. 56

S. S. S. S. S.

230. 217. 213. 213. 212.

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senschaft als eine unzweideutigere und fruchtbare Quelle kenntlich gemacht und legitimiert, als welche man bisher Religion und Poesie anzusprechen gewohnt war" 6 1 . Damit „dürfte der Zusammenhang zwischen Ethik und Recht unverbrüchlich gesichert, andererseits aber auch von einer neuen Seite das Problem der Rechtsphilosophie behauptet werden" 62 . Sofern nämlich die „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" sich als verwertbar für die Begründung der Ethik erweisen, bleibt für eine von der Ethik gesonderte Rechtsphilosophie kein Platz mehr, vielmehr gehen beide Disziplinen ineinander auf. Mit dieser Auffassung, darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden, bleibt Cohen mit der naturrechtlichen Tradition der Rechts- und Staatsphilosophie seit Plato verbunden, in deren Horizont die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entschieden vorgenommene Auseinanderreißung der praktischen Philosophie in Ethik und Rechtsphilosophie oder Individual· und Sozialethik und die daraus resultierende Isolierung zusammenhängender Probleme keinen vernünftigen Sinn machen konnte. „Die Ethik muß selbst als Rechtsphilosophie sich durchführen. Denn alle die logischen Probleme, die dabei als Bedingungen und Voraussetzungen mitzuwirken haben, sie müssen in den Problemen der Ethik selbst zur Ausführung kommen, so daß auch von dieser Seite zwischen der Ethik und der Rechtsphilosophie kein Unterschied bestehen bleibt. Von dem methodischen Unterschiede, der für die Ausführung einzelner begrifflicher Fragen anerkannt und festgehalten werden kann, darf für die allgemeine Fassung des Problems füglich abgesehen werden. Die Rechtswissenschaft einschließlich der Staatswissenschaft bedarf der Ethik. Das ist die alte Forderung, in welche die Rechtsphilosophie zu allen Zeiten im tiefsten, eigentlichen Sinne sich behauptet und ihr Recht geltend gemacht hat 63 ." 3.6.2. Zum Begriff der juristischen Person in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Das „eigentliche Problem der Ethik" 6 4 , die Korrelation von Individuum und Allheit, soll im ethischen Willenssubjekt, dem Selbstbewußtsein, zur Auflösung gebracht werden. Bisher hat sich herausgestellt, daß das Subjekt der Ethik kein sinnliches, sondern ein normativ-ideales Sein hat und daß es ursprünglich als Relation zu begreifen ist, als Beziehung auf den Anderen. Doch die Ethik als die Lehre vom Begriff des Menschen hat es mit der Ordnung der menschlichen Gemeinschaft überhaupt zu tun. Sie fragt, wie das einzelne Individuum ins Ver61 62 63 64

Ebd. Ebd. ErW, S. 213. ErW, S. 71.

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hältnis gesetzt werden soll zur Gesamtheit der Individuen, zu ihrer Allheit. Erst mit der Klärung dieser Korrelation wäre Cohen zufolge die innere Struktur des ethischen Willenssubjekts bestimmt. Als methodisches Vorbild zieht er hier die Rechtsfigur der korporativen Rechtsperson heran; an ihr soll das ethische Willenssubjekt „geprüft und beglaubigt" 65 werden. Was machte die Faszination des Rechtsbegriffs der korporativen juristischen Person für Cohen aus? Das Problem der juristischen Person war eines der Themen, die die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung im Bereich des Privat- und Staatsrechts das ganze 19. Jahrhundert seit Savigny nicht in Ruhe gelassen hatte. Der Grund lag darin, daß für die methodisch noch naturalistischsubstantialistisch denkende Rechtswissenschaft die als persona ficta konstruierte juristische Person eine Systemwidrigkeit war, die zu immer neuen konstruktiven Lösungen herausforderte. Erst im letzten Drittel des Jahrhunderts mit dem Durchbruch der „juristischen Methode" und des rechtswissenschaftlichen Positivismus bahnte sich die Einsicht an, daß die juristische Person der einzig mögliche juristische Personenbegriff sei und folglich die natürliche Person eine contradictio in adjecto. Diese Entsubstantialisierung, Entsinnlichung der juristischen Person, der Rechtsperson, des Rechtssubjekts, die auf einem neuen Ansetzen der rechtswissenschaftlichen Methode beruhte, fand Cohens besondere Aufmerksamkeit, sah er doch hier eine Wissenschaft, die nach ihrem eigenen weitverbreiteten Selbstverständnis „ihr Gegenstück unter den theoretischen Wissenschaften an der Mathematik" 66 hatte, an einer Lösung arbeiten, die eine Antwort auf seine methodischen Probleme zu geben versprach. Dem ethischen Willenssubjekt war aber auch eine inhaltliche Aufgabe aufgebürdet: Die Korrelation von Individuum und Allheit zu Begriff zu bringen. Auch hier hatte für Cohen die Rechtswissenschaft und Staatslehre „mit wissenschaftlicher Genauigkeit und Unzweideutigkeit" 67 vorgearbeitet. Im Rechtsinstitut der Genossenschaft schienen die Interessen von Ethik und Jurisprudenz schlechterdings zur Deckung zu kommen. Der Genossenschaftsgedanke 68 war seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht nur zu einer der einflußreichsten sozialpolitischen Parolen geworden, 65

Vgl. ErW, S. 217. Jellinek, Georg: System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg 1892, S. 16, Fußnote 2. 67 ErW, S. 213. 68 Die moderne genossenschaftliche Idee wurde vorbereitet und begründet durch die sogn. utopischen Sozialisten: Claude Henri de Saint-Simon (De la réorganisation de la société européenne (1814); L'industrie, 2 Teile, Paris 1817/1818; Du system industriel, 2 Teile, 1820/21), Charles Fourier (Théorie des quatre mouvements (1808); Théorie de l'unité universelle (1822); Le nouveau monde industriel et sociétaire (1829), deren Schüler Philippe Bûchez und Louis Blanc (Organisation du travail (1839), und Robert Owen (A new 66

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sondern auch in vielfältigen genossenschaftlichen Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft und der existenzbedrohten Handwerker und Bauern bald breit in die Tat umgesetzt worden 69 . In der „Macht der Assoziation" glaubten view of society or, Essays on the Principle of the Foundation of the Human Character, London 1812; Observations on the Effects of the Manufacturing System, 1817; The Book of the New Moral World, 1835). In Deutschland wurde in Anknüpfung an Louis Blanc die Gründung von Produktivassoziationen der Arbeiter mit staatlicher Unterstützung propagiert von Ferdinand Lassalle (Offenes Antwortschreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiter-Kongresses in Leipzig (1863), in: Ferdinand Lassalles Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. und eingeleitet von Eduard Bernstein, Berlin 1920/21, Bd. III, S. 109 ff.; Herr Bastiat-Schulze von Delitzschs, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit, 1863 (Werke, Bd. V). Während die sozialpolitischen Forderungen der utopischen Sozialisten und Lassalles auf eine grundsätzliche Neuorganisation der gesellschaftlichen Verhältnisse zielen, Sozialreform und Genossenschaftsidee hier unmittelbar aufeinander bezogen sind, bleiben die Genossenschaftsvorstellungen der gemäßigten Sozialreformer im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihre Vertreter kommen vor allem aus den Kreisen des freisinnigen Liberalismus und der christlichen Sozialethik. Die erste in Deutschland erschienene Genossenschaftsschrift dieser Richtung (Die Selbsthilfe der arbeitenden Klassen und innere Ansiedlung (1848)) stammt von dem religiös inspirierten, streng konservativen Professor Victor Aimeé Huber. Maßgeblichster Initiator des modernen deutschen Genossenschaftswesens wurde der Delitzscher Richter Hermann Schulze. Er entwickelte die für den gewerblichen Mittelstand wichtigste genossenschaftliche Unternehmensform, die Kreditgenossenschaft. Seine wichtigsten Schriften: Assoziationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter, Leipzig 1853; Die arbeitenden Klassen und das Associationswesen in Deutschland als Programme zu einem deutschen Kongress, Leipzig 1858. Gegen Schulze-Delitzschs ständisch-genossenschaftliche Vorstellungen Lassalle in seinem ökonomischen Hauptwerk „Herr Bastiat-Schulze". Neben Schulze-Delitzsch ist vor allem Friedrich-Wilhelm Raiffeisen zu nennen, dessen Bemühungen dem Ziel, im ländlich-bäuerlichen Bereich Einrichtungen der genossenschaftlichen Solidarhilfe in Form der Spar- und Darlehenskassen zu schaffen, galten (Die Darlehenskassenvereine als Mittel zur Abhilfe der Not der ländlichen Bevölkerung, 1866). 1867 wurde den Genossenschaften in Preußen eine Rechtsgrundlage gegeben durch das auf Schulze-Delitzschs Entwürfen beruhende Preußische Genossenschaftsgesetz vom 27.3.1867. Dieses Gesetz wurde 1868 vom Norddeutschen Bund und 1871 vom Deutschen Reich übernommen. Modifiziert und den neuen Bedingungen angepaßt wurde dieses Gesetz durch das Reichsgesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vom 1. 5.1889, das im Zusammenhang mit der Reform des HGB 1898 neu gefaßt wurde. Vgl. zum Ganzen: Abramowski, Eduard: Die sozialen Ideen der Genossenschaftsbewegung, Basel 1924; Back, Josef: Genossenschaftsgeschichte, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 3. Aufl., 1958, Bd. III, S. 2192-2210; David, Gertrud: Sozialismus und Genossenschaftsbewegung, Berlin 1910; Deumer, Robert: Das deutsche Genossenschaftswesen, 2 Bde., Berlin 1919; Faust, Helmut: Geschichte der Genossenschaftsbewegung, Ursprung und Weg der Genossenschaften im deutschen Sprachraum, Frankfurt 1965; Haselmann, Erwin: Geschichte der deutschen Konsum-Genossenschaften, Frankfurt 1971, dort weitere ausführliche Literaturnachweise, S. 713 ff. 69 Die zwanziger und dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren eine Phase des Experimentierens. Hier sind die kooperativen Großversuche Robert Owens und seiner Anhänger in England und die Vertreter der Installierung von Arbeiterproduktivassoziationen wie Louis Blanc und Philippe Bûchez in Frankreich zu nennen. Diese Versuche kamen über Anfangsschwierigkeiten oft nicht hinweg oder scheiterten wenig später. Die erste moderne funktionierende (Konsum-)Genossenschaft gründeten 1844 die sog. Pioniere von Rochdale, 28 Weber aus dem mittelenglischen Industriestädtchen Rochdale. Um 1850 bestanden in England schon 130 dieser Konsumgenossenschaften.

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viele das M i t t e l zur Lösung der sozialen Probleme gefunden zu haben. Parallel dazu fand die Genossenschaft auch immenses rechtshistorisches u n d rechtswissenschaftliches Interesse 7 0 . „Das deutsche Genossenschaftsrecht" 7 1 w u r d e von Otto von Gierke schließlich z u m Gegenstand einer voluminösen vierbändigen Untersuchung gemacht, die „ d u r c h imponierende Gelehrsamkeit u n d Gründlichkeit, sowie d u r c h eine Fülle geistreicher Erörterungen, eindringender historischer Untersuchungen u n d dogmengeschichtlicher E n t w i c k l u n g e n " 7 2 nicht n u r einen hervorragenden Platz i n der juristischen Literatur eingenommen hat, sondern auch die Genossenschaftstheorie deutlich beeinflußte. Cohen, von Gierke i n der moralischen I n t e n t i o n verwandt, knüpfte an diese E n t w i c k l u n g e n der Genossenschaftsbewegung u n d des Genossenschaftsbegriffs an u n d suchte sie für sein Problem der K o r r e l a t i o n von I n d i v i d u u m u n d Allheit verwertbar zu machen. Dabei k ü m m e r t e i h n die überaus verzweigte, dogmatisch höchst anspruchsvolle u n d teilweise sehr kontroverse Diskussion der Juristen nicht sonderlich. W e n n sich für i h n der „reine W i l l e " i n der Rechtswissenschaft u n d Staatslehre „ m i t wissenschaftlicher Genauigkeit u n d Unzweideutigkeit" als Idealwille der korporativen Rechtsperson „ k u n d t a t " 7 3 , so unterstellt er der damaligen Juris1849-50 gründete in Deutschland Schulze-Delitzsch die „Delitzscher-Rohstoffassoziation". Seit den fünfziger Jahren breiteten sich in Deutschland, maßgeblich initiiert von SchulzeDelitzsch und Raiffeisen, in großem Umfange und von unterschiedlichster Art Genossenschaften aus. Während den Produktivassoziationen insgesamt wenig Erfolg beschieden war, fanden die Waren- und Kreditgenossenschaften der Bauern, Handwerker und Händler und die Konsumgenossenschaften der Arbeiter (seit den achtziger und neunziger Jahren) erhebliche Verbreitung. Versucht man die Genossenschaftsbewegung auf einen knappen Begriff zu bringen, so läßt sie sich als sozio-ökonomische Protestbewegung charakterisieren. In ihr versuchten gesellschaftlich schwache oder schwach gewordene Gruppen, sich gegen übermächtige Veränderungstendenzen in Produktion und Distribution (Industrialisierung, Automatisierung, Monopolisierung) durch solidarischen Zusammenschluß zu behaupten. (Vgl. zum Ganzen die unter Fußnote 68 genannte Literatur). 70 Die „folgenreiche Entdeckung" (Wieacker: Privatrechtsgeschichte, S. 242) der Genossenschaft als Rechtsinstitut ist Georg Beselers Tat in „Volksrecht und Juristenrecht", Leipzig 1843, S. 158-194; in Umrissen bereits angedeutet in: „Über die Lehre von den Erbverträgen, Bd. 1 (1835), S. 76 ff., ausgearbeitet in dem „System des Deutschen Privatrechts, Bd. 1 (1847), §§ 66 ff. An Beseler knüpft dessen Schüler Otto von Gierke an, der 1868 die „Rechtsgeschichte der deutschen Génossenschaft", den 1. Band des „Deutschen Genossenschaftsrechts", veröffentlicht und damit den Grundstein nicht nur für eine die Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte befruchtende Genossenschaftstheorie, sondern auch für eine romantisch-sozialreformerische Sozialtheorie legt. Noch vor Otto von Gierke hatte der Albrecht-Schüler Otto Bähr in seiner Schrift „Der Rechtsstaat" (1864) den Gedanken entwickelt, daß „der Staat der juristisch entwickelte Begriff für die Genossenschaft der Nation" und „Staatsrecht nichts anderes als eine Art des Genossenschaftsrechts sei" (S. 45). 71 von Gierke, Otto: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1 (1868); Bd. 2 (1873), Bd. 3 (1881), Bd. 4 (1913). 72 Laband, Paul: Beiträge zur Dogmatik der Handelsgesellschaften, in: Zeitschrift für das Handelsrecht, Bd. XXX, S. 484. 73 ErW, S. 213.

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prudenz einen anerkannten Verbandswillensbegriff, den es nicht gab. Es darf andererseits aber nicht übersehen werden, daß es Cohen nicht darum ging, Einzelfragen der Dogmatik des positiven Handelsrechts zu entscheiden, sondern daß ihn zunächst die methodische Arbeit der Jurisprudenz interessierte und dies nur insoweit, als sie ihm für die materialethische Problematik verwertbar schien. In seinen Kommentierungen der juristischen Auffassungen wird schließlich deutlich, daß er sie im Horizont seines eigenen methodischen Standpunktes liest. Von daher erhebt sich die Frage, wie weit der Philosoph dem Juristen aufschlußreiche und fruchtbare Aufklärung über die methodischen Grundlagen des eigenen Fachgebiets bieten konnte. Zunächst sollen die Grundpositionen in der Lehre von der juristischen Person, die zu Cohens Zeiten vertreten wurden, kurz skizziert werden 74 . Erst von daher wird Cohens Entscheidung für die juristische Person als der „Hypothesis des ethischen Selbstbewußtseins" begreiflich und wird beurteilbar, ob er, obzwar nicht Jurist, dieser Erörterung neue methodische Impulse gegeben hat.

3.6.21. Die ältere Fiktionstheorie: Friedrich Carl von Savigny Auf Otto von Gierkes monumentalen Untersuchungen in seinem Hauptwerke „Das deutsche Genossenschaftsrecht", welchem - wie wohl angenommen werden kann 7 5 - Cohen wichtige Anregungen für seine Hinwendung auf die 74 Die wichtigsten Schriften zur rechtsphilosophischen Diskussion der Juristischen Person seit Beginn dieses Jahrhunderts, in der die methodischen Probleme der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ausgehandelt werden, sind: Binder, Julius: Das Problem der juristischen Persönlichkeit, Leipzig 1907; Kelsen, Hans: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, 1911; Marek, Siegfried: Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925; Husserl, Gerhard: Rechtssubjekt und Rechtsperson, in: Archiv für civilistische Praxis 127 (1927), S. 129 ff.; Larenz, Karl: Hegels Dialektik des Willens und das Problem der juristischen Persönlichkeit, in: Logos 20 (1931), S. 196-242; Wolff, H. J.: Organschaft und Juristische Person, 1. Bd. Juristische Person und Staatsperson (Kritik, Theorie und Konstruktion), Berlin 1933. Diese in ihrer Vollständigkeit immer noch unübertroffene Untersuchung ist auch heute noch viel zu wenig bekannt. 75 Positive, von Cohen selbst gegebene Belege dafür fehlen. Doch bestätigt dieses Werk insgesamt das, was Cohens Auffassung vom Verhältnis von Geschichte und Idee prägte: Die Gesetzlichkeiten, die das sittliche Sein bestimmen, sind in der Geschichte schon immer vorhanden, sie entbergen sich in begrifflicher Klarheit als Problem jedoch nur allmählich in der Arbeit der Wissenschaften. Wissenschafts- und Staatengeschichte ist Geschichte von Problemlösungsversuchen. Unklar bleibt dabei - worauf mehrfach hier hingewiesen wurde - das Verhältnis und der Zusammenhang von Wissenschaft (Idee) und Realität bei Cohen. Gierke s Werk erfüllt genau die Merkmale einer rechtshistorischen Problemgeschichte. Die entwickelten juristischen Begriffe des Willens, der Handlung, des Rechtssubjekts etc. werden vorausgesetzt und mit ihrer Hilfe werden die historischen

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Rechtswissenschaft als einem gesicherten Faktum für die Begründung der Ethik verdankt, beruht die Einsicht, daß die romanistisch-kanonistische Korporationstheorie des Mittelalters zuerst eine Theorie der juristischen Person entwickelt hat. „Und da war es Innocenz schreibt Gierke, „der mit genialem Griff den im römischen Recht tatsächlich waltenden, doch nur halb ausgesprochenen Gedanken des rein begrifflichen und fiktiven Daseins der juristischen Person gewissermaßen neu entdeckte, ihn in schärfster Formulierung vor Aller Augen stellte und so zum Vater des heute noch herrschenden Dogmas wurde 76 ." Das Dogma der Fiktionstheorie aber, die von Gierke zur Zeit der Abfassung des dritten Bandes des „Deutschen Genossenschaftsrechts" am Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts „als noch herrschend" bezeichnet hatte, wurde im modernen Sinne von Savigny begründet. Während, wie Binder im Anschluß an Gierke hervorhebt, die kanonistische Rechtswissenschaft „ausschließlich aus praktischen Gesichtspunkten" 77 die Verbandseinheit der universitas zur persona ficta erhob, um die Selbständigkeit von Kirchenvermögen zu begründen, im übrigen aber zu keiner theoretisch konsequenten Konstruktion der juristischen Person vorstieß, und während die am Ende des 16. Jahrhunderts aufkommenden und bis Anfang des 19. Jahrhunderts herrschenden naturrechtlichen Lehren den Namen der persona ficta übernehmen, aber dieser Form einen wesentlich neuen Inhalt geben, indem sie in Ausführung ihrer naturrechtlich-vertragstheoretischen Annahme, die Verbandseinheit als persona moralis, als Kollektivpersönlichkeit, deuten, beginnt mit Savigny der Versuch, unter „siegreicher Restauration des älteren romanistisch-kanonistischen Dogmas" 78 das Verhältnis von Recht und Person aus einem einheitlichen Gesichtspunkt umfassend zu bewältigen. Im Anfangskapitel des 2. Bandes des „Systems des heutigen römischen Rechts" deduziert Saigny in knappen Sätzen seine Auffassung vom Wesen der Rechtsperson. „Jedes Rechtsverhältnis besteht in der Beziehung einer Person zu einer anderen Person. Der erste Bestandteil desselben, der einer genaueren Betrachtung bedarf, ist die Natur der Personen, deren gegenseitige Beziehung jenes Verhältnis zu bilden fähig ist. Hier ist also die Frage zu beantworten: Wer kann Gestalten untersucht und überprüft. Es sind dies genau die Begriffe, die auch Cohen als die „erzeugenden Begriffe der Rechtswissenschaft" bezeichnet. Entscheidend aber für die Annahme, daß Cohen von Gierke wichtige Anregungen erhielt, erscheint, daß im „Genossenschaftsrecht" in staunenswerter und bewunderungswürdiger Kleinarbeit jenes ethische Grundproblem Cohens, die Korrelation von Individuum und Allheit, in der rechtshistorischen Perspektive an den geschichtlichen Genossenschaftsbildungen untersucht wird. 76 von Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 3 (1881), S. 279 f. 77 Binder, Julius: Das Problem der juristischen Persönlichkeit, Leipzig 1907, S. 5. 78 von Gierke, Otto: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 3. Aufl. 1913, S. 262, Fußnote 96.

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Träger oder Subject eines Rechtsverhältnisses seyn 79 ?" Die Beantwortung dieser Frage zeigt, wie entschieden Savignys System Grundbegriffe der Kant folgenden klassischen deutschen Philosophie zugrunde liegen: „Alles Recht ist vorhanden um der sittlichen, jedem einzelnen Menschen inwohnenden Freyheit willen. Darum muß der ursprüngliche Begriff der Person oder des Rechtssubjects zusammen fallen mit dem Begriff des Menschen, und diese ursprüngliche Identität beider Begriffe läßt sich in folgender Formel ausdrücken: Jeder einzelne Mensch und nur der einzelne Mensch, ist rechtsfähig 80." Wenn es aber so ist, daß nur dem leiblichen Menschen in seiner ethischen Qualität als Persönlichkeit wirkliche Rechtssubjektivität zukommt, so erscheint es konsequent, allen anderen rechtlichen Gebilden, die rechtsfähig sein sollen, eine nur fiktive Rechtssubjektivität zu verleihen. „Indessen kann dieser ursprüngliche Begriff der Person durch das positive Recht zweyerley, in der aufgestellten Formel bereits angedeutete Modifikationen empfangen, einschränkende und ausdehnende. Es kann nämlich erstens manchen einzelnen Menschen die Rechtsfähigkeit ganz oder theilweise versagt werden, es kann zweytens die Rechtsfähigkeit auf irgend Etwas ausser dem einzelnen Menschen übertragen, also eine juristische Person künstlich gebildet werden 81 ." Dieses „künstliche, durch bloße Fiktion angenommene Subject" 82 , welchem „die natürliche Person, d. h. der einzelne Mensch, entgegengesetzt ist" 83 , hat nur „durch diesen juristischen Zweck ein Daseyn als Person" 84 .

3.6.22. Bernhard Windscheid Bei Windscheid ist der philosophische Ausgangspunkt Savignys einer mehr naturalistischen Position in Ansehung der Persönlichkeit des Menschen gewichen. Windscheid zufolge ist „das natürliche und nächstliegende Rechtssubject . . . der Mensch: denn die nächste Aufgabe der Rechtsordnung ist, die Herrschaftsgebiete der einzelnen sich gegenüberstehenden menschlichen Individuen gegeneinander abzugrenzen" 85. Es gäbe ein „natürliches, auf dem tiefen Zuge zur Persönlichkeit, welcher durch die Menschennatur hindurchgeht, beruhendes Gefühl", welches sich „auch hier für die Rechte und Verbindlichkeiten ein tragendes Subject" suche. Dieses finde es „in einer künstlich, durch Gedankenoperationen, geschaffenen, vorgestellten Person". „Eine solche künstlich geschaffene Person wird mit einem hergebrachten, nicht glücklich 79 80 81 82 83 84 85

Savigny, System, Bd. 3, S. 1 (§ 60). Ebd., S. 2 (§ 60). Savigny, System, S. 2 (§ 60). Ders., System, Bd. 2, S. 236 (§ 85). Ebd. S. 240 (§ 85). Ebd. Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, S. 113 (§ 49).

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gewählten Ausdruck jurìstische Person genannt, im Gegensatz des Menschen, welcher von der Natur mit Persönlichkeit begabt ist 86 ." Auch bei Windscheid bleibt es im Prinzip dabei, daß das Recht bei der Frage, was Rechtssubjekt sei, an den natürlichen Menschen anknüpft und deshalb alle weiteren Zurechnungsträger als nichtwirkliche, nur vorgestellte fingierte Personifikationen von Rechtssubjekten ansieht 87 .

3.6.23. Die Theorie der realen Verbandspersönlichkeit: Otto von Gierke Auch des schärfsten Gegners der romanistischen Fiktionstheorie, des Hauptes der germanistischen Schule, Otto von Gierkes »Theorie der realen Verbandspersönlichkeit' geht trotz aller Differenz zur Fiktionstheorie von ähnlichen Prämissen aus. Die Grundvoraussetzung sowohl der Fiktionstheorie als auch der Theorie der realen Verbandspersönlichkeit besteht darin, daß beide als rechtlich geeigneten Zurechnungsträger eine willensbegabte Einheit fordern. Während jedoch die Fiktionstheorie nur dem Menschen in seiner physischen Natur die ethisch rechtliche Qualifikation als freiwollende Persönlichkeit zuerkennt und alle anen Einheiten nur als vom Recht fingierte Subjekte betrachtet, steht für die Theorie der realen Verbandspersönlichkeit fest, daß auch Körperschaften willens- und handlungsfähig sind, daß sie „reale Gesamtpersonen" 88 sind. Gierkes Deduktion nimmt folgenden Gang: „Was Subjekt von Rechten und Pflichten sein soll, muß vom objektiven Recht als hierzu befähigt anerkannt sein. Die Fähigkeit, Rechtssubjekt zu sein, heißt Persönlichkeit. Ein Wesen, dem das Recht der Persönlichkeit zusteht, ist im Rechtssinne Person." „Das objektive Recht kann kraft seiner formellen Allmacht an sich beliebige Dinge, jedoch seiner Idee gemäß und mit Aussicht auf wirklichen Erfolg nur 86

Windscheid: Uhrbuch, S. 114 ff. E. Zitelmann: Begriff und Wesen der sog. juristischen Person, Leipzig 1873, faßt den Gedankengang der Fiktionstheorie so zusammen (S. 14 f.): „1) Kein Recht ohne Subjekt. 2) Subjekt der Rechte ist nur der Mensch. 3) Nun ist aber die Existenz von verkehrsfähigen Rechtskomplexen eine Tatsache und auch eine unbedingte Forderung des Verkehrs. 4) Es gibt und es muß also geben Vermögen, die tatsächlich herrenlos sind. 5) Mithin liegt hier ein Konflikt zwischen der Rechtslogik und den Tatsachen resp. dem realen Bedürfnis vor. 6) Über diesen Konflikt kann nur das ultimum remedium, welches das römische Recht in solchen Fällen gibt, die Fiktion helfen. 7) Das fehlende Subjekt wird also durch Fiktion ersetzt." 87

88 Vgl. von Gierke, Otto: Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung, Berlin 1887, S. 5.

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Träger von freiem Willen zu Personen stempeln. Unserem heutigen Bewußtsein erscheinen ausschließlich Menschen als zu Rechtssubjekten geeignete Willensträger." „Mertschen also sind die einzigen Rechtssubjekte. Die Menschen aber können entweder-als Einzelne oder als Verbände das Recht der Persönlichkeit haben 89 ." Wie die obigen Deduktionen verdeutlichen, nimmt Gierke für den Menschen und den menschlichen Verstand gleichermaßen Willensfähigkeit als Zurechnungs- und Rechtfertigungsgrund der Anerkennung der Rechtspersönlichkeit an. Der Anthropomorphismus 90 des Verbandes hat seine Ursache in Gierke s „organischer Theorie" 91 , die erkenntnistheoretisch von sehr uneinheitlichem Charakter ist. Zwar ist bei Gierke an vielen Stellen angedeutet und teilweise deutlich ausgesprochen 92, daß, da erst die Rechtsordnung dem Verbände Persönlichkeit zuspricht, auch der Wille des Verbandes vom Rechte erzeugt wird, doch fordert die organische Theorie dagegen ihren Tribut, wenn Gierke die Verbände „als Gemeinwesen zusammen mit dem Einzelwesen dem Gattungsbegriff des Lebewesens unterordnet" 93 . Es macht die Brüchigkeit 94 der Gierkeschen „organischen Theorie" aus, daß in seinen methodologischen Auffassungen durchaus ein anderes Verständnis des rechtlichen Charakters der Verbandspersonen zum Vorschein kommt, als es die fortwährenden Analogien von Naturorganismus und sozialen Organismen suggerieren. „Richtig verstanden sagt der Vergleich nichts weiter aus, als daß wir in dem gesellschaftlichen Körper eine Lebenseinheit eines aus Teilen bestehenden Ganzen erkennen, wie wir sie außer dem nur bei den natürlichen Lebewesen wahrnehmen. Wir vergessen nicht, daß die innere Struktur eines Ganzen, dessen Teile Menschen sind, von einer Beschaffenheit sein muß, für die das Naturganze kein Vorbild bietet; daß hier ein geistiger Zusammenhang stattfindet, der durch psychisch motiviertes Handeln hergestellt und gestaltet, betätigt und gelöst wird; daß hier das Reich der Naturwissenschaft endet und das Reich der Geisteswissenschaft beginnt. Allein wir betrachten das soziale Ganze gleich dem Einzelorganismus als ein Lebendiges und ordnen die Gemeinwesen zusammen mit den Einzelwesen dem Gattungsbegriff des Lebewesens unter. Was darüber hinaus an 89

von Gierke, Otto: Deutsches Privatrecht, 1. Bd., Leipzig 1895, S. 265-267. Vgl. Binder: Das Problem der juristischen Persönlichkeit, S. 20. 9 1 Vgl. dazu von Gierke, Otto: Das Wesen menschlicher Verbände, Rektoratsrede 1902. 92 So formuliert von Gierke : „Die Persönlichkeit ist ein Rechtsbegriff, der kraft einer vom Rechtsbewußtsein vollzogenen Abstraktion durch Heraushebung eines Teilinhaltes der Wirklichkeit zustandekommt. Sie deckt sich nicht mit irgendeiner sinnlich wahrnehmbaren Totalität in der Erscheinungswelt; sie ist weder greifbar noch sichtbar. Man sieht dem einzelnen Menschen nicht an, ob er Person ist oder nicht (ζ. B. Sklave), und was man ansieht, ist nicht seine Persönlichkeit. Nicht minder unsinnlich, aber auch nicht minder wirklich, ist die Verbandspersönlichkeit." Das deutsche Privatrecht, Bd. 1, S. 268. 93 von Gierke: Das Wesen menschlicher Verbände, S. 18. 94 Vgl. dazu Wolf, Erik: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 694 ff., der die damalige lebhafte Kritik (S. 695) an Gierke s „organischer Theorie" größtenteils als „Mißverständnis" ansieht. Dagegen wäre aber zu argumentieren, daß der Grund für diese „Mißverständnisse" von v. Gierke selbst gelegt wurde. 90

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Bildlichem mitunterläuft, entspringt teils dem Bedürfnis der Anschaulichkeit, teils dem sprachlichen Notstande. Alle gedanklichen Fortschritte haben sich mit Hilfe von Bildlichkeit vollzogen. Auch unsere abstraktesten Begriffe sind aus Bildern geboren. Wir dürfen auch in der Wissenschaft uns des Bildes bedienen, wenn wir uns nur dessen bewußt bleiben und nicht das Bild für die Sache nehmen. Soweit aber zur Bezeichnung der Sache selbst uns nur Ausdrücke zu Gebote stehen, deren bildliche Prägung noch nicht abgeschliffen ist, müssen wir uns bemühen, den begrifflichen Gehalt von der bildlichen Beimischung zu sondern 95 ."

Wenn dem aber so ist, daß die dem Verbände zugeschriebene, „leiblich-geistige Lebenseinheit, die Willen und das Gewollte in Tat umsetzen kann" 96 , nur ein „Bild" ist, so müßte doch eigentlich konsequent auch mit der „Willensbegabtheit" des Verbandes nicht das Wollen der Psychologie gemeint sein, sondern ein rein normatives Wollen. Doch zieht Gierke diesen Schluß nicht, denn damit würde er sich in Widerspruch zu den Grundlagen seiner „organischen Theorie" setzen.

3.6.24. Die „Zwecktheorie": Rudolf von Jhering Rudolf von Jhering, im dritten Bandes seines „Geist des römischen Rechts" 97 die Destruierung der einst von ihm selbst virtuos gehandhabten Konstruktionsjurisprudenz vorantreibend, scheint mit seiner dort entwickelten Auffassung des Rechts und der Rechtsperson von derjenigen Savignys und Windscheids wie auch der Gierkes, welche alle noch vom ethischen Begriff des Rechts und der Persönlichkeit ausgehen, weit entfernt; doch zeigt eine genauere Betrachtung seiner rechtsmethodischen Überlegungen erhebliche Übereinstimmung mit den Grundvoraussetzungen der ersteren. Jhering kritisiert die Fundamentalannahme der Rechtslehre seiner Zeit, die darin besteht, daß das Recht als System von Willensmöglichkeiten und demzufolge das subjektive Recht als Willensmacht zu denken sei. Dieser Auffassung fehle es „an einem Prinzip für den Inhalt des Willens. Wenn sie den Willen selber zu seinem eigenen Prinzip erheben will, um den realen Inhalt des Rechts zu gewinnen, so ist dies eitel Blendwerk - wenn hinter dem Willen nichts anderes steht, das ihm Maß und Ziel setzt, so ist er physiologisch nichts als eine Naturkraft, ethisch nichts als die reine Willkür; zur ethischen Größe wird der Wille nur durch die ethischen Zwecke, denen er dient 98 ." Das Prinzip für den Inhalt des Willens sind bei Jhering die Interessen, Bedürfnisse und Zwecke der

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von Gierke: Das Wesen menschlicher Verbände, S. 18 f. von Gierke: Das Wesen menschlicher Verbände, S. 15. 97 von Jhering, Rudolf: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1865. 98 Ders.: Geist, Bd. 3, S. 329 (zitiert nach der 4. Aufl., Leipzig 1888). 96

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Menschen, nach denen das Recht und seine Formen ausgebildet werden". „Die Rechte sind nicht dazu da, um die Idee des abstrakten „Rechtswillens zu verwirklichen, sondern um den Interessen, Bedürfnissen und Zwecken des Verkehrs zu dienen. In diesem Zweck finden sie, findet der Wille sein Maß und Ziel. ... die Rechte gewähren nichts Unnützes, der Nutzen, nicht der Wille ist die Substanz des Rechts 100 ." Für den Rechtsbegriff bedeutet dies: „Der Begriff des Rechts beruht auf der rechtlichen Sicherheit des Genusses, Rechte sind rechtlich geschützte Interessent." Mit dieser Lösung glaubt Jhering die Widersprüche der Willenstheorie, die trotz mangelnden Willens auch dem Willenlosen die Fähigkeit, Träger von Rechten zu sein, nicht absprechen will, behoben zu haben. „Nicht eines Künftigen, sondern eines Gegenwärtigen wegen haben jene Personen ihr Recht, nicht wegen willkürlicher Laune des Gesetzgebers, sondern in Anerkennung des Anspruchs, den jedes menschliche Wesen auf seiner Stirn trägt. Das Bedürfnis, das mit der tierischen Natur des Menschen unabweisbar gesetzt ist, und dessen Befriedigung in der gesicherten Form des Rechts einer der ersten Zwecke aller subjektiven Rechte ist, dies Bedürfnis ist bei jenen Personen in nicht minderem Grade vorhanden als bei allen anderen, und je weniger ihnen selber die Fähigkeit innewohnt, für die Befriedigung desselben Sorge zu tragen, um so mehr ist dies Aufgabe des Staats ... Subjekt des Rechts ist derjenige, dem der Nutzen desselben vom Gesetz zugedacht ist (der Destinatär); der Schutz des Rechts hat keinen anderen Zweck, als die Zuwendung dieses Nutzens an ihn zu sichern 102 ." Jherings Begriff der Rechtsperson wird also nicht wie bei den vorher besprochenen Autoren, aus dem Begriff der Persönlichkeit des moralischen Individuums genommen, sondern aus dem der utilitaristischen Ethik. Die „tierische Natur des Menschen" verlangt nach Sicherung und Erhaltung, damit sie ihre Bedürfnisse befriedigen und ihre Interessen verfolgen kann. Das Recht, das diesem Zweck zu dienen hat, ist utilitaristisch-ökonomische Kategorie. Es sichert dem Einzelmenschen seine Genuß- und Nutzungsmöglichkeit als Destinatär derselben durch das Institut des Rechtssubjekts. Diese Bestimmungen haben direkte Konsequenzen für den Begriff der juristischen Person. Wenn Rechtssubjekte nur die einzelnen Menschen sein können, - denn nur ihnen eignet eine auf Bedürfnisbefriedigung zielende Natur, dessentwegen das Recht da ist, - so ist die „juristische Person" nichts als

99 Kelsens Interpretation des rechtlichen Willensbegriffs als „zum Zwecke der Zurechnung vollzogene Konstruktion" (Hauptprobleme, a. a. O., S. 184) wird von Jhering erahnt, wenn er sagt: „In Wirklichkeit ist aber das Verhältnis des Willens zum Recht ein gänzlich anderes. Ich will es einmal paradox so ausdrücken: das Recht ist nicht des Willens, sondern der Wille des Rechts wegen da." (Geist, S. 331) 100 von Jhering, Rudolf: Geist, Bd. 3, S. 338. 101 Ebd., S. 339. 102 von Jhering, Rudolf: Geist, Bd. 3, S. 333, 334, 336.

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„Kunstprodukt, Mechanismus zum Zwecke der Erleichterung der Rechtsverfolgung" 103 . „Niemand wird darüber im Zweifel sein, daß die einzelnen Mitglieder es sind (die gegenwärtigen und zukünftigen), denen die Rechte, mit denen die juristische Person ausgestattet ist, zu Gute kommen, und daß diese Wirkung nicht eine zufällige (Reflexwirkung) ist, sondern daß sie den Zweck des ganzen Verhältnisses bildet, daß also die einzelnen Mitglieder die wahren Destinatäre der juristischen Person sind ... Die juristische Person als solche ist völlig genußunfähig, sie hat keine Interessen und Zwecke, kann also auch keine Rechte haben, denn Rechte sind nur da möglich, wo sie ihre Bestimmung erreichen, d. h. einem berechtigten Subjekt dienen können - ein Recht, das in der Person des Berechtigten nie diesen seinen Zweck zu erfüllen vermag, ist ein Unding, ein Widerspruch gegen die Grundidee des Rechtsbegriffs. Wo der Schein einer solchen Abnormität vorliegt, ist dies eben bloßer Schein, hinter dem Aftersubjekt steckt das wahre. Entfernt man sich einmal von dieser Grundidee des Rechts, die in dem Satz, daß lediglich der Mensch der Destinatär, das Bestimmungssubjekt der Rechte ist, ihren Ausdruck findet, so findet der Unfug mit dem Personifizieren gar keine Grenze mehr Nein! nicht die juristische Person als solche, sondern die einzelnen Mitglieder sind die wahren Rechtssubjekte, jene ist nicht als die nach außen gekehrte eigentümliche Erscheinungs- und Vermittlungsform jeder rechtlichen Beziehung zur Außenwelt, für den Verkehr im Innern hat diese Form nicht die geringste Bedeutung, hier gelangt der Gesichtspunkt des Rechts der Einzelnen praktisch zur vollen Geltung 1 0 4 ."

Wenn auch Jhering sich gegen das durch die Fiktionstheorie ermöglichte Personifizieren aller Arten von Gegenständen schärfstens wendet, so ändert sich in der dogmatischen Konsequenz nichts: Das „Aftersubjekt" der juristischen Person bleibt Rechtssubjekt, auch wenn es nur den einzelnen menschlichen Mitgliedern, den Destinatären, als den „wahren" Rechtssubjekten dient.

3.6.25. Die gemeinsame Grundannahme in Savignys, Windscheids, Gierkes und Jherings Auffassungen Worin besteht nun die oben behauptete Gemeinsamkeit in den Grundauffassungen Jherings, Savignys, Windscheids und Gierkes? Bei Jhering ist Destinatär des Rechts der sinnliche Mensch. Nur er kann deshalb das wahre Rechtssubjekt sein. Die juristische Person erfüllt die Bedingung, genußfähig sein zu können, nicht. Es ist ein reines Zweckmäßigkeitsprodukt, „Aftersubjekt". Im Prinzip besagt die Fiktionstheorie Savignys und Windscheids nichts anderes. Otto von Gierkes Übereinstimmung mit der Fiktionstheorie besteht darin, daß auch er den Begriff des Rechtssubjekts nicht problematisiert, sondern fraglos von der Annahme ausgeht, daß Rechtssubjektivität nur sinnlich willensbegabten Substraten durch die Rechtsordnung zugesprochen werden kann. Bei ihm gibt es aber im Unterschied zur Fiktionstheorie als sinnliche willensbegabte Substrate zwei Arten von Lebewesen: die Menschen und, als soziale Organismen, die Verbände. 103 104

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Vgl. ebd. S. 225. von Jhering, Rudolf: Geist, Bd. 3, S. 356 f.

Winter

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Grundannahme bleibt bei allen, daß auf der einen Seite der willens- oder bedürfnisbegabte physische Mensch steht, dem - auf der anderen Seite - das Recht, das an die Willens- oder Bedürfnisfähigkeit des Menschen anknüpft, Form gibt. Unter dieser Voraussetzung muß die Konstruktion einer juristischen Person, der eben diese Naturhaftigkeit fehlt, immer eine Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit bilden; und Jhering drückt sich mit seiner Bezeichnung des „Aftersubjekts" in dieser Hinsicht deutlich genug aus. Nur wenn man, wie Gierke, den Verband selbst als organisches Lebewesen qualifiziert, hat man weniger Probleme mit der Annahme der Rechtssubjektivität. Doch was bei Gierke die Schwierigkeit bedeutet, den Willen im Organismus des Verbandes ausfindig und bestimmbar zu machen, an den Rechtswirkungen geknüpft werden sollen, das ist für die Fiktionstheorie das Problem, der juristischen Person so etwas wie einen einheitlichen Willen zu subintelligieren. Auch Jhering kann sich aus diesem Dilemma nicht lösen, wenn er zwischen den Mitgliedern als Destinatären und wahren Subjekten und dem ,Aftersubjekt' unterscheidet. Trotz dieser abschätzigen Bezeichnung behält das Aftersubjekt auch bei Jhering wahrhafte Rechtssubjektivität. Die juristische Person, die mehr schlecht als recht als juristische Notlösung, als Systemwidrigkeit von der Fiktionstheorie hingenommen und ertragen wird, hat in der Theorie der realen Verbandspersönlichkeit zwar eine unvergleichlich selbständigere Stellung, doch bleibt sie der Frage ausgesetzt, wo denn ihre reale substanzhafte Fülle sichtbar werde, wer sie denn je hätte wollen und handeln sehen. Hier scheint für die Konstruktion der juristischen Person ein grundsätzliches Problem zu liegen, das in der mangelnden Bestimmung dessen liegt, was der der juristischen Person logisch vorgeordnete Begriff der Rechtsperson oder des Rechtssubjektes sei. Savigny, Windscheid, Gierke und Jhenng fragen nur: Wer ist Rechtssubjekt? und knüpfen dafür an die Willensbegabtheit oder Genußfähigkeit der sinnlichen Einheit des Individuums oder des Verbandes an. Sie stellen aber nicht die logisch vorrangige Frage: Was denn das Subjekt seiner rechtlichen Struktur nach sei?

3.6.26. Die jüngere Fiktionstheorie: Paul Laband Der Antwort auf diese Frage wurde der Weg vor allem gebahnt durch die in der Privatrechtswissenschaft der historischen Schule angelegte, von der Konstruktionsjurisprudenz entwickelte, von Gerber 105 in die Staatsrechtswissen105 i n „Über öffentliche Rechte", Tübingen 1852, stellt C. F. von Gerber fest, daß „bei jedem Versuche einer genaueren Bestimmung staatsrechtlicher Prinzipien von der privatrechtlichen Anschauung ausgegangen werden (muß)" (S. 29), daß das Privatrechtliche als „Sparren- und Holzwerk zur Konstruktion des gesamten staatsrechtlichen Gebäudes" dienen müsse (S. 47).

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schaft übertragene und von Laband weitergeführte „juristische Methode" 106 . Für die juristische Methode der Behandlung des Staatsrechts handelt es sich ausschließlich um die Beantwortung der Frage: „Wie habe ich mir den Staat rechtlich zu denken? 107 " In dieser Bestimmung der Aufgabe der Jurisprudenz steckt der methodische Anspruch einer „reinen" Rechtswissenschaft, die ihren Gegenstand, das positive Recht, rein rechtlich, unter Ausschluß allen „methodischen Synkretismus" 108 , „in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeine Begriffe" 109 behandeln will. „Die Jurisprudenz will und kann nicht ein Naturdasein erkennen, nicht Naturgesetze, die mit unwiderstehlicher Macht wirken, konstatieren, sondern ihre Aufgabe ist es, Normen erfassen, die hypothetischen, kein Müssen, sondern ein Sollen zum Inhalt habenden Regeln, welche das praktische Leben des handelnden Menschen beherrschen 110 ." Nach der „juristischen Methode" Labands ist die Begründung des Rechtssubjekts im außerrechtlichen Substrat des willensbegabten Menschen nicht zulässig, sie hat im Medium des Rechts selbst stattzufinden. Rechtssubjekt sein heißt demzufolge, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, also von der Rechtsordnung mit Rechtsfähigkeit ausgestattet zu sein. Weiterer Rechtfertigung bedarf der Begriff der Rechtssubjektivität nicht. „Der Rechtsbegriff der Person besteht einzig und allein in der Rechtsfähigkeit; die Person im Rechtssinn hat keine andere Eigenschaft als die eine, die ihr ganzes Wesen ausmacht, nämlich Rechtssubjekt zu sein 111 ." Die Konstruktion der juristischen Person, die Gegenstand so heißer und ausführlicher Kontroversen zwischen Anhängern der Fiktions- und organischen Theorie war, bereitet Laband mit dieser Bestimmung des Rechtssubjekts keine Probleme mehr. Die juristische Person ist die von der Rechtsordnung mit Rechtsfähigkeit begabte Einheit. Nach dieser Auffassung ist die natürliche PerVgl. zu Gerber außer den in Fußnote 2 genannten Claus-Ekkehard Bärsch: Der Gerber-Labandsche Positivismus, in: Recht und Staat. Die deutsche Staatslehre im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Martin J. Sattler, München 1972, S. 43 ff. 106 Vgl. dazu Paul Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Vorwort zur 2. Auflage, 1887; vgl. weiter zum Ganzen Wilhelm, Walter: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, Frankfurt 1958; von Oertzen, Peter: Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft (Diss. 1953), wieder abgedruckt Frankfurt 1974; auch schon Otto von Gierke: Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Neue Folge, 7. Jahrg., Heft 4, S. 1097-1195. 107 108 109 110 111

20*

Jellinek, System, S. 13. Ebd. S. 17. Laband: Das Staatsrecht, a. a. O., 2. Aufl., Vorwort. Jellinek: System, S. 15. Laband: Das Staatsrecht, Bd. 1, S. 79.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

son eine contradictio in adjecto. Es gibt nur juristische Personen. Der Mensch, wenn ihm die Rechtsordnung Rechtsfähigkeit zuerkennt, fungiert als Rechtssubjekt, Rechtsperson. „Es ist ein vergebliches Bemühen, einen Rechtsbegriff zu einem (im physischen Sinne) wirklich existierenden Wesen zu machen. Dies gilt auch von der Persönlichkeit des Menschen; sie ist ebenfalls nur eine Rechtsvorstellung; die Natur schafft Menschen, aber keine Rechtssubjekte; es gibt keine natürlichen Personen, sondern nur juristische 112 ." Gegenüber der Fiktions-, der organischen und der Genußtheorie haben sich damit die Grundlagen der Konstruktion der juristischen Person verkehrt. War es dort der natürliche Mensch bzw. der Verband, dem nur aufgrund seiner Würde bzw. seiner Willens- oder Genußfähigkeit Rechtsfähigkeit zukommen konnte, so wird hier mit der auch schon früher gesehenen, aber verworfenen Konsequenz ernst gemacht, daß die Rechtsordnung einem im Prinzip beliebigen Gegenstand die Rechtsqualität der Rechtssubjektivität zuschreiben kann. Während nach der Fiktions- und organischen bzw. Genußtheorie Person nur sein kann, was Substanzcharakter hat, kann nach der anorganischen Theorie Labands die Substanz zur Person gemacht werden, sie fordert dies aber nicht. Allerdings bleibt Labands Bestimmung der Rechtsperson als Träger von Rechten und Pflichten bloß formell und methodisch unterbestimmt. Das wird deutlich, wenn er die juristische Person gegen die substantielle Auffassung Gierkes und seiner Anhänger zu charakterisieren versucht: „Sie (Gierke und seine Anhänger - E. W.) verwerfen daher die auf logischer Abstraktion beruhende Vorstellung eines durch die Gesamtheit gebildeten Rechtssubjekts, welches von den einzelnen Individuen begrifflich verschieden ist und ihnen als selbständiger Träger von Rechten und Pflichten gegenübersteht, als individualistisch, zivilistisch, humanistisch und dergl. Aber die Gesamtperson lebt und webt nur im Reiche der Gedanken und ist lediglich eine Vorstellung, mag dieselbe auch an natürliche Substrate anknüpfen; es ist ein vergebliches Bemühen, einen Rechtsbegriff zu einem (im physischen Sinne) wirklich existierenden Wesen zu machen. Dies gilt auch von der Persönlichkeit des Menschen; sie ist ebenfalls nur eine Rechts Vorstellung 113. Für Laband ist also die juristische Person eine durch „logische Abstraktion gewonnene Vorstellung". Damit wird sie nun zwar in Begriffen der Denkpsychologie beschrieben, aber doch nicht in dem charakterisiert, was ihren spezifisch rechtlichen Gehalt ausmacht. Laband kommt damit nur unwesentlich über die Auffassung der älteren Fiktionstheorie hinaus.

112 113

Laband: Das Staatsrecht, 4. Aufl., Bd. 1, S. 89, Fußnote 1. Laband: Das Staatsrecht, Bd. 1, S. 89, Fußnote 1.

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

309

3.6.27. Georg Jellinek Jellinek bleibt bei seiner Bestimmung der juristischen Person erkenntnistheoretisch im Psychologismus Labands befangen, obzwar er - beeinflußt durch den Heidelberger Neukantianismus Windelbands - den Methodensynkretismus in der Rechtswissenschaft als einer der ersten energisch zu bekämpfen suchte, doch prägt sich bei ihm eine andere Betrachtungsweise, die rein rechtliche, normlogische deutlicher aus. Jellinek formuliert zuerst ausdrücklich, daß das Rechtssubjekt kein Ding, sondern eine Relation sei, die durch eine Norm hergestellt werde. Die Rechtspersönlichkeit, sagt er, „gehört nicht der Welt der Dinge an sich an, ist überhaupt kein Sein, sondern eine Relation von einem Subjekt zum anderen und zur Rechtsordnung. Sie ist stets vom Rechte verliehen, nicht von Natur aus gegeben 114 ." In Anküpfung an Labands Diktum fährt er fort: „Es gibt daher keine natürliche, sondern nur juristische Persönlichkeit. Die Bezeichnung: physische Person enthält eine contradictio in adjecto; physisch kann nur eine Substanz oder deren Funktion gegeben sein, Person ist aber wie erwähnt, eine - nur psychologisch zu begreifende, abstrakte - Relation. Persönlichkeit setzt daher eine Vielheit von Menschen voraus, die in konstanten Relationen stehen, und zwar muß diese Konstanz durch eine fest, wiederum von Menschen getragene Rechtsordnung verbürgt sein. Diese Ordnung bewirkt aber eine Vereinigung der Rechtsgenossen in der oben entwikkelten Weise. Die Einzelpersönlichkeit ist daher nicht die Grundlage, sondern das Resultat der Rechtsgemeinschaft. Was Aristoteles vom Verhältnis des Menschen zum Staate gelehrt hat, daß dieser früher da sei als jener, gilt unwiderleglich vom Verhältnis des Rechtssubjektes zum Gemeinwesen. Das Gemeinwesen als einen Schein erklären und nur die Individuen als ursprüngliche Rechtssubjekte anerkennen, heißt die Teile in die Hand nehmen, nachdem man das geistige Band zwischen ihnen zerrissen hat 1 1 5 ." Wie löst Jellinek aber das Willensproblem, das bisher für alle Konstruktionen der juristischen Person das exemplum crucis darstellte? Auch hier vermag Jellinek nicht, sich aus dem von ihm bekämpften Methodensynkretismus zu lösen. Er subintelligiert der Kollektivperson den auf die „geeinte Vielheit" bezogenen psychologischen Willen der Individuen als neuen Gesamteinheitswillen. „Der Wille des Staates, der in dieser Hinsicht nur ein Spezialfall der Kollektivperson ist, ist keine Fiktion, sondern kraft derselben Denknotwendigkeit vorhanden, mit welcher uns die stetige, einheitliche, untereinander zusammenhängende Zwecke durch gemeinsame Kräfte verfolgende Mehrheit von Menschen als eine Vereinigung, d. h. wie schon die Sprache ausdrückt, als eine Einheit erscheint. Ist überhaupt die Existenz der Personeneinheit für das praktische Denken zugegeben, so hat sie, sofern ihre Zwecke stetig, in sich einheitlich, 114 115

Jellinek: System, S. 26 f. Jellinek: System, S. 27.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

untereinander kohärent sind, in den konstant auf die Versorgung dieser Zwekke gerichteten Willensakten unmittelbar ihren eigenen Willen. Mit derselben Denknotwendigkeit, mit der wir die Vielheit zur Einheit zusammenfassen, erscheint uns der in ihr auf Erreichung ihrer Zwecke gerichtete konstante aktive Wille als ihr Wille, nicht nur als Wille dès physischen Wollenden 116 ." Auch Jellinek vermag nicht verständlich zu machen, wie der Kollektivwille rechtlich zu denken ist, wie er es selbst als die „Weise wissenschaftlicher juristischer Fragestellung" 117 verlangt. Er bleibt mit der „Projizierung des Individualwillens auf eine geeinte Vielheit" 1 1 8 schließlich doch bei der Fiktion eines letztlich psychologisch gedachten Staatswillens stehen, den er gerade ablehnt. Man sieht auch bei Jellinek, daß die Lehre von der juristischen Person, die zur Annahme eines überindividuellen Willens zwingt, den Unterschied zwischen dem, was die juristische Terminologie als Willen zu bezeichnen gedrängt ist, und dem, was in der Psychologie unter diesem Begriffe verstanden wird, klaffend macht. Die methodischen Probleme in den konstruktiven Grundlagen der juristischen Grundbegriffe sind damit auch trotz des durch Jellinek bewirkten Fortschritts nicht behoben.

3.7. Entfaltung der Cohenschen Auffassung der juristischen Person

Dies war der Stand der fortgeschrittensten juristischen Theorie, als Cohen seine „Ethik des reinen Willens" konzipierte und abfaßte. Was hat nun Cohen von dieser Rechtswissenschaft und Staatslehre gelernt und worin konnte er sie belehren, bevor Kelsen feststellte, daß die juristische Peson nichts anderes als die „Personifikation einer Teilrechtsordnung" 119 und der Wille der juristischen Person nichts anderes als Rechtsordnung, die sie personifiziert, sei? Cohen analysiert die Konstitution der juristischen Person am Beispiel der Genossenschaft. Dabei faßt er wiederum nicht die spezifischen Ausgestaltungen einer positiven Rechtsordnung ins Auge, sondern sucht das Prinzip der Konstitution eines genossenschaftlichen Willens, also dessen „reine Form" zu ergründen 120 . 116

Jellinek: System, S. 28. Ebd. S. 16. 118 Ebd. S. 29. 119 Kelsen, Hans: Allgemeine Staatslehre, 1925, S.66. 120 in der der „Ethik des reinen Willens" voraufgehenden „Logik der reinen Erkenntnis", in der Cohen die Anwendung und Anwendbarkeit der theoretischen Kategorien jeweils auch für die Geisteswissenschaften untersucht hatte, taucht erstmals der Begriff der juristischen Person bei Cohen auf. Bei der Frage nach der Bedeutung der logischen Kategorie der Allheit in der Rechtswissenschaft sieht er in der „idealen Einheit" der korporativen juristischen Person die „logische Kraft" (S. 174) der Allheit wirken. Wissenschaftlicher Zeuge von Seiten der Rechtswissenschaft ist Cohen dabei Savigny, auf dessen 117

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

311

Indem mehrere Individuen zur Erreichung bestimmter gemeinsamer Zwekke zusammentreten, tritt das Problem der Organisation ihrer Willensbildung und der Exekution ihrer Willensentscheidungen auf. An Rechtsformen zur Lösung dieser Probleme hatte das römische Recht zwei Grundinstitute ausgebildet: Die universitas und die societas. Die universitas tritt den sie bildenden singuli als selbständiges personifiziertes Rechtssubjekt gegenüber, während die societas nicht Rechtssubjekt ist, sondern lediglich eine schuldrechtliche Beziehung zwischen selbständigen Rechtssubjekten darstellt. In der deutschen Rechtsentwicklung lassen sich ebenfalls zwei Grundformen aufweisen: die deutsch-rechtliche Körperschaft und die Gemeinschaft zur gesamten Hand. Die deutsch-rechtliche Körperschaft oder Genossenschaft war ebenfalls juristische Person, aber es gab keine völlige Trennung der Rechtssphären von Mitgliedern und Körperschaft. „Zwischen der Gesamtperson und den Einzelpersonen, die einander nehmend und gebend beeinflussen, schließt sich hier ein personenrechtliches Band, wie es in gleicher Weise außerhalb einer Körperschaft nicht vorkommen kann 1 2 1 ." Die Gemeinschaft zur gesamten Hand hat keine eigene Rechtspersönlichkeit, aber Rechte und Verbindlichkeit stehen der Gemeinderschaft in dieser Eigenschaft in vollem Umfang zu. Das Gemeindervermögen ist ein Sondervermögen, das allen Gemeinschaftern gemeinsam gehört und über das sie nur gemeinsam verfügen können. Das Interesse Cohens, dem es um das Problem der Bestimmung der Korrelation von Individuum und Allheit geht, gilt dem körperschaftlich organisierten Rechtsinstitut, weil dort das körperschaftliche Rechtssubjekt die Rechte und Pflichten der Mitglieder bestimmt 1 2 2 . Ausführungen zum Begriff der juristischen Person er sich stützt (vgl. S. 174 f.). Aus dem

Studium des „Systems des heutigen römischen Rechts", so kann deshalb mit Sicherheit ge-

sagt werden, hat Cohen die entscheidende Anregung für die ethische und logische Auszeichnung der juristischen Person als „Hypothesis des ethischen Subjekts" gewonnen. Allerdings, das muß hinzugefügt werden, ist in der „Logik der reinen Erkenntnis" die Hinwendung auf das „Faktum der Rechtswissenschaft" für die Begründung der Ethik noch nicht vollzogen. Deshalb wird hier die juristische Person auch nicht als „Musterbeispiel" des ethischen Subjekts erkannt. Vielmehr wird die juristische Person nur ihrem logischen Begriffe nach untersucht. Für die Aufstellungen zum Begriff der juristischen Person in der „Ethik des reinen Willens" stützt sich Cohen, wie seine Durchsicht der in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende publizierten rechtswissenschaftlichen Literatur

ergeben hat, auf Andreas Heuslers „Institutionen des deutschen Privatrechts"

(1. Bd., Leipzig

1885; dort vor allem § 54 (S. 252 ff.): Der Begriff der juristischen Person). Auf dieses Werk bezieht er sich in teilweise wörtlichen Textübernahmen ohne Autoren- und Quellenangabe. Im folgenden wird in der Fußnote jeweils die Heuslersche Fassung des Untersuchungsaspekts zitiert, mit dem Cohen sich an Heusler anknüpfend gerade befaßt. Doch bedeutet diese Übernahme nicht die Rezipierung des methodischen Standpunkts. Cohen liest Heusler mit seiner methodischen Brille. Der Willensbegriff Heuslers ist nicht mehr derjenige Cohens. Während in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts noch keine methodische Klarheit und Sicherheit in der Unterscheidung des psychologischen Willens vom ethischen Willen bestand (vgl. dazu Kelsen, Hans: Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 162 ff.), bricht bei Cohen die scharfe Trennung beider Willensbegriffe durch. 121 von Gierke Otto: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, S. 479. 122 Cohens Hinwendung auf das Faktum der Rechtswissenschaft und hier auf das Rechtsinstitut der Genossenschaft wird unterstützt durch die folgenden sehr abgeklärt

312

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

„Wer ist in diesen Verbindungen (den Assoziationen - E. W.), welche in vielartige rechtliche Bedeutungen auseinandergehen, wer ist in den Mehrheiten, in denen jede dieser Verbindungen besteht, die Einheit des Subjekts? Scheint es nicht, als ob die Einheit dabei in die Brüche gehen müßte; als ob das Ich nicht nur zu einem pathologischen Doppel-Ich, sondern anscheinend normalerweise in ein Quoten-Ich verwandelt würde? Kann denn aber ein Sammel-Ich der Einheit des Subjekts gerecht werden und entsprechen? 123 " Zur Charakterisierung der Einheit des Rechtssubjekts hatte schon die Analyse des Vertrages folgendes ergeben: Die Willenserklärung, die die einzelnen sich aufeinander beziehenden Individuen abgeben, enthalten ihrem normativen Gehalt nach Regelungsvorschläge für ihr gegenseitiges Verhalten. Mit dem Zustandekommen der übereinstimmenden Regelung und dem Versprechen, daß diese Regelung unter ihnen verbindlich sein soll (Geltungserklärung), schaffen sich die Individuen eine Rechtsordnung. Soweit das Verhalten der Individuen Inhalt von Rechtsnormen ist, und den Individuen durch die Rechtsordnung zugerechnet wird, fungieren die Individuen als Rechtssubjekte oder Personen. Als Rechtspersonen aber lassen sie sich auch beschreiben als Komplexe von Rechtsnormen, und zwar als der Inbegriff der Rechtsnormen, die das Verhalten der Individuen zum Gegenstand haben. Das Individuum ist so verstanden nur die Personifikation einer Teilrechtsordnung, der das Verhalten dieses Individuums regelnden Normen. Cohen kann deshalb formulieren: „Es wäre nun aber grundfalsch, Person und Mensch gleichzusetzen. Die Person ist von Anfang an nur eine Abstraktion, wie sie denn auch in der Maske des Schauspielers als solche in Erscheinung tritt. Der Mensch mag als ein Einzelwesen gegeben scheinen; die Person ist dagegen eine Abstraktion des Rechts; wie das Rechtssubjekt eine solche ist 1 2 4 ." Das Tun und Lassen der Individuen kann aber nicht und präzise klingenden Formulierungen Heusler* (die Cohens Auffassung vom sicheren Gang der Rechtswissenschaft weiter auf den Weg gebracht haben mögen): „Zwei begriffliche Gegensätze stehen sich allerdings gegenüber: Gemeinschaft und juristische Person. Unter diese beiden Begriffe fallen die römischen der communio und der universitas, ohne sie doch zu erschöpfen. Es gibt Gemeinschaften, welche nicht römische communiones sind, und juristische Personen, auf welche alles Besondere der universitates nicht zutrifft. Der rechtliche Gegensatz zwischen Gemeinschaft und juristischer Person liegt aber darin, daß bei der ersteren die einzelnen Mitglieder direkt am Gemeinschaftsgute anteilberechtigt, persönlich also die Rechtssubjekte desselben und demgemäß auch persönlich nach außen verantwortlich sind, während bei der juristischen Person ein ideeller Wille als personifiziert und als das Rechtssubjekt gedacht ist, welches nach außen an die Stelle der Rechtspersönlichkeiten der Einzelnen tritt und Rechte und Pflichten der Mitglieder beherrscht. Alle Rechtsformen, die aus der Vereinigung von Menschen entstehen, müssen sich unter diese zwei Gruppen verteilen, und eine Mittelform, eine dritte Art zwischen diesen beiden gibt es allerdings nicht" (Institutionen, Bd. 1, S. 249). Der Germanist Otto von Gierke (Die deutsche Genossenschaftstheorie, Nachtrag, S. 906 f.) wirft dem Germanisten Heusler vor, mit der „Einfachheit" der obigen begrifflichen Gegenüberstellungen sowohl die Geschichte wie die Dogmatik unseres Rechts zu vergewaltigen", d. h. Genossenschaft und römische universitas kaum unterscheidbar zu machen. 123 ErW, S. 71. 124 ErW, S. 218; vgl. dazu die entsprechende Stelle bei Heusler: „Das, daß der veränderliche Wille des Eigentümers jetzt durch einen unumstößlichen, immerwährend dauern-

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

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nur den Individuen als Rechtspersonen zugerechnet werden, sondern als Zurechnungsträger, als Rechtssubjekt kann auch eine normative Einheit fungieren: die juristische Person. Die juristische Person ist die Personifikation einer Satzung oder eines Statuts, also einer Rechtsordnung, die die Genossen zur Regelung ihrer gemeinsamen Zwecke vereinbart haben. Der Wille dieser juristischen Person ist der Gesamtwille der Genossen. Dieser Wille ist aber nicht ein psychologisches Faktum, sondern eiri normatives: es ist die Gesamtheit der Vorschriften, die festlegen, was als Handlung der Genossenschaft als Einheit, nicht der einzelnen Genossen gelten soll. „Der Wille beruht und besteht in seiner Einheit; daß er nicht in ein Ungefähr von Velleitäten zerflattert. Die Einheit des Rechtssubjekts vollzieht und bewährt sich demgemäß in der Einheit des Willens. Das ist nun eben das Auffällige, das Interessante und das entscheidend Lehrreiche in dem Begriffe der Genossenschaft, daß es sich in ihr noch nicht um einen einzelnen Willen, nicht um den Willen eines Einzelnen handelt; und daß gerade dieser Wille mehrerer Personen nicht als ein gespaltener Wille gilt; sondern daß sich in ihm und nur in ihm die echte Einheit des Willens und demgemäß der Begriff des Rechtssubjekts zu seiner exakten Geltung gelangt 125." Wie aber vollzieht sich die genossenschaftliche Konstituierung des Rechtssubjekts, wie erzeugt sich aus dem Willen der einzelnen Genossen der einheitliche Wille der Genossenschaft und wie ist er seinem logischen Begriff nach auszuzeichnen? „Diese mehreren Willen vereinigen sich in einem Gesamtwillen auf Grund dessen, daß die mehreren Personen in eine Gesamtheit sich vereinigen. Welcher Begriff stellt diese Gesamtheit dar ? Durch welchen Begriff wird sie gerechtfertigt? Durch den der Mehrheit, oder aber den der Allheit? Die Frage betrifft das vorliegende Problem; sie ist nur ein anderer Ausdruck desselben. Denn der Unterschied der Allheit von der Mehrheit liegt in der logischen Befugnis der unendlichen Zusammenfassung der einzelnen Glieder, welche demzufolge als einzelne nicht ferner in Frage kommen 126 ." Schon oben w u r d e darauf hingewiesen, daß Cohen i n der „ L o g i k der reinen Erkenntnis" die logische Kategorie der Allheit als die „unendliche Summat i o n 1 2 7 , das „ I n t e g r a l " 1 2 8 , den „ u n e n d l i c h e n I n b e g r i f f ' 1 2 9 von der Rechts wissenden ersetzt ist: der Wille des Stifters ist perpetuiert, und sagen wir nun: als Person gedacht, personifiziert, oder zur Person gemacht, es kommt m. E. auf das gleiche heraus, weil... Person und Mensch nicht identische Begriffe sind, sondern Personen selbst schon eine Abstraktion, das Rechtssubjekt ist. Der Wille des Stifters ist personifiziert, weil er zum Träger des Stiftungsgutes gemacht ist, dieses letztere fortan nur im Sinne jenes Willens darf verwendet werden und daher auf Jahrzehnte und Jahrhunderte hinaus von ihm 125 ErW,und S. 218. beherrscht gelenkt wird" (Institutionen, S. 255). 126 ErW, S. 218. 127 LrE, S. 158. 128 Ebd., S. 156. 129 Ebd., S. 172.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

schaft im Begriff der juristischen Person erkannt und ausgezeichnet sah. „Savigny sagt: ,Wenn selbst Alle, alle Einzelnen konsentierten, wo wäre es doch nicht die Korporation selbst, als ideale Einheit (universi)'. Bei einer Stadt von mäßigem Umfang könnte man ,alle einzelnen Bürger zu einer solchen Handlung zusammenbringen ; jedoch die universi sind von ,allen Einzelnen verschieden. So wird vom römischen Recht die Allheit als eine ideale Einheit, als eine Kategorie anerkannt. Und aller Fortschritt, den das Recht im Problem der juristischen Person vollzogen hat, beruht auf der logischen Kraft der Allheit 1 3 0 ." Wenn also zwar die korporative juristische Person nicht durch die Mehrheit der einzelnen Genossen logisch charakterisiert sein soll, sondern durch ihre Allheit, so ist diese Kennzeichnung doch noch ungenau, denn es könnte scheinen, als ob gleichsam auf die fingierte physische Präsenz der Genossen abgestellt würde. Es muß deshalb gefragt werden, worauf die Begriffe „Mehrheit" und „Allheit" hier abheben. Die Genossen kommen für das Problem der rechtslogischen Bestimmung der juristischen Person nur als Rechtsgenossen in Betracht. Als Rechtsgenossen werden sie definiert durch ihre Willensfähigkeit, d. h. durch ihre Kompetenz, Rechtswillen zu haben. Rechtswille ist nun, wie schon oben gezeigt wurde, nichts anderes als ein Ausdruck für Rechtsnormhaftigkeit, Gesetzgebung. Die Rechtsgenossen sind also rechtlich zu qualifizieren als Personifikationen von Rechtsnormkompetenzen, als Gesetzgeber. Als Mehrheit verkörpern die Rechtsgenossen einzelne, nicht notwendig übereinstimmende Gesetzgebungen; als Allheit stellen sie die übereinstimmende Gesetzgebung aller dar. Der logische Begriff der Allheit ist also bezogen auf den einigen gesetzgebenden Willen, auf die Übereinstimmung, die Einheit der Gesetzgebung. Die Allheit meint hier den Allheitswillen. Der unendliche Inbegriff der mehrheitlichen Willen, der Allheitswille, ist die Übereinstimmung hinsichtlich des Inhalts des 130 LrE, S. 174; Cohen bezieht sich hier auf folgende Stellen im 2. Band des „Systems des heutigen römischen Rechts", S. 283 (§ 90): „Manche haben sich die Sache so gedacht, als wäre die gemeinschaftliche Handlung aller einzelnen Mitglieder einer Corporation in der That die Handlung der Corporation selbst, und ein Surrogat würde blos nöthig durch die große Schwierigkeit, alle Mitglieder zum gemeinsamen Handeln und Wollen zu vereinigen. So ist es aber in der Tat nicht; vielmehr ist die Totalität der Mitglieder von der Corporation selbst ganz verschieden, und selbst wenn alle Einzelne, ohne Ausnahme, gemeinschaftlich handeln, so ist dieses nicht so anzusehen, als ob das ideale Wesen, welches wir die juristische Person nennen, gehandelt hätte." S. 291 (§91, Anm. t): Zur Frage, ob die juristische Person besitzen könne: „Sondern selbst wenn alle Einzelne consentierten, so wäre es doch nicht die Corporation selbst als ideale Einheit (universi), welche wollte, also fände sich nicht der ganz unentbehrliche animus possidendi in der Person des wahren Besitzers." S. 301 (§ 93, Anm. b): Zur Stichhaltigkeit der Gründe, die die römischen Autoren für die Unmöglichkeit der Erbschaft durch Stadtgemeinden angeführt haben: „Drittens ist auch die Unmöglichkeit, alle einzelnen Bürger zu einer solchen Handlung zusammenzubringen, bey einer Stadt von mäßigem Umfang gar nicht vorhanden, und bey einer bedeutenden Erbschaft würden sie leicht Alle erscheinen, ohne daß auch nur Einer fehlte."

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

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gemeinsam Gewollten, hinsichtlich des Inhalts ihrer Gesetzgebungen. Die gemeinsame Gesetzgebung, das Statut, verkörpert die juristische Person als »neuer, als allheitlicher Wille. „Wenn die Genossenschaft als Gesamtheit den logischen Charakter der Allheit anzunehmen fähig wird, so kann diese Befähigung sich nur auf die Willenshandlung beziehen, in welcher ihre rechtliche Tätigkeit und ihr rechtliches Dasein besteht. Diese Rechtshandlung wird durch den Beschluß gebildet, den die einzelnen Mitglieder dieser Korporation zu fassen haben. Der Beschluß ist gleichsam der Zusammenschluß der einzelnen Willen in einen einheitlichen Willen. Dieser einheitliche Wille gehört keinem dieser einzelnen Willen an; er ist ein Gesamtwille 131. Das ist aber wiederum der problematische Ausdruck, auf den von Neuem die Frage zu richten ist: ob er ein Allheits- oder nur ein Mehrheitswille sei. Es wird von juristischer Seite 132 ausgesprochen, daß dieser Gesamtwille nicht die Summe der immerhin fortbestehenden Willen repräsentiere; sondern daß er diese vertilgt und sich an ihre Stelle gesetzt habe. Und nichtsdestoweniger ist dieser repräsentative, dieser ideale Wille der eigentlich reale; denn von seinem Beschlüsse, von dem Beschlüsse, der sich nur auf ihn bezieht, hängt der Wille, und somit das Rechtssubjekt der Genossenschaft ab. Dieser geeinte repräsentative ideale Wille bildet die Einheit des Willens und die Einheit der Person; den Begriff der juristischen Person 133."

4. Konsequenzen für den Begriff des ethischen Subjekts Was vermag nun der auf den Einzelwillen beruhende, durch den Beschluß „novierte" Allheitswille der genossenschaftlichen Rechtsperson für das Problem des ethischen Willenssubjektes zu ergeben? Das Problem der Korrelation von Individuum und Allheit wird, wenn man der Analyse des Konstitutionsprozesses der genossenschaftlichen Rechtsperson folgt, konsensual gelöst. Cohen faßt den Vereinigungsakt, die Errichtung einer körperschaftlichen Verfassung d. h. Rechtsperson als vertraglichen Konstitutivakt. Damit hebt er wiederum nicht auf die Entstehungsweise der Genossenschaft nach spezifischen positiv131 Die entsprechende Stelle bei Heusler lautet(S. 255): „Aber da die Wirksamkeit der Korporation auf einen von den privaten Vermögensrechtszwecken der Mitglieder abgelösten Vereinszweck gerichtet ist, so bestimmt auch nicht der Privatwille jedes Einzelnen direkt die Tätigkeit der Gesamtheit und die Verwendung ihres Vermögens, sondern der Beschluss sämtlicher Mitglieder gibt den Entscheid. In dem Beschluss vereinigen sich die Einzelwillen zu einem einheitlichen, und dieser geeinte Wille der Gesamtheit ist personifiziert und zum Rechtssubjekt in der Corporation erhoben." 132 Vgl dazu Heusler, S. 255: „Die Einzelwillen der Mitglieder sind durch den Beschluss der Gesamtheit, ich möchte sagen noviert, der Gesamtwille repräsentiert nicht die Summe der immerhin fortbestehenden Einzelwillen, sondern hat diese vertilgt und sich an ihre Stelle gesetzt." 1 3 3 ErW, S. 218 f.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

rechtlichen Ausgestaltungen ab, wonach i n der Regel die „freie Körperschaftsb i l d u n g " kraft Rechtsgeschäfts auf Grund von Rechtsnormen gemeint ist, sondern versucht, entsprechend seiner rechtsphilosophischen Intention, die konsensual-normative Grundlage, das reine Prinzip von Genossenschaftsbildung z u m Begriff zu b r i n g e n 1 3 4 . Wie die genossenschaftliche Rechtsperson die Personifikation jener Rechtsordnung ist, die die Genossen sich d u r c h den Beschluß gegeben haben u n d die deshalb den ihnen gemeinsamen Rechtswillen darstellt, so ist das ethische Subjekt, das Selbstbewußtsein, die Personifikation jener Willensordnung, in die alle I n d i v i d u e n einstimmen k ö n n t e n 1 3 5 . Insofern das I n d i v i d u u m als sittliches Subjekt betrachtet w i r d , bedeutet dies, daß es so handeln soll, wie es die N o r m e n des Allheitswillens, die allgemeine sittliche Gesetzgebung, gebietet. W e n n dieses sittliche Subjekt gleich der juristischen Person als F i k t i o n bezeichnet w i r d , so beruht diese Charakterisierung Cohen zufolge auf d e m me· 134

Gierke , der den Vertrag als Gründungshandlung ablehnt, und dieselbe als einen einseitigen Gesamtakt begreift, der „im Individualrecht keine Parallele hat" (Genossenschaftstheorie, S. 139), akzeptiert diese rechtsphilosophische Sicht nicht: „Die ... dem Vertrage zugemutete Leistung, ein neues und selbständiges „Rechtssubjekt" hervorzubringen, wird so lange undenkbar bleiben, als unter „Vertrag" eine Willenseinigung über die Gestaltung subjektiver Rechtsverhältnisse verstanden wird. Soll nicht überhaupt der ganze Vertragsbegriff unklar verfließen, so muß er streng auf das Gebiet der von der Rechtsordnung anerkannten Freiheitssphäre für sich stehender Subjekte eingeschränkt werden." (Die Genossenschaftstheorie, S. 134) Vgl. weiterhin zum Problem der werdenden juristischen Person auch: Rittner, Fritz, Die werdende juristische Person, Tübingen 1973, S. 43 ff. 135 In der „Logik der reinen Erkenntnis" steht für Cohen die genossenschaftlich organisierte juristische Person noch nicht im Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Begründung der Ethik. Dort geht es ihm vor allem darum, die Bedeutung des logischen Begriffs der Allheit für das Gebiet der Geisteswissenschaften, näherhin für die Rechtswissenschaft im Begriff der juristischen Person zur Geltung zu bringen. Der römisch-rechtliche Begriff der universitas, wie er ihn durch Savigny gekennzeichnet findet, bietet ihm hier eine fruchtbare Grundlage. Allerdings versperrt der römisch-rechtliche Begriff der juristischen Person als universitas Cohen den Blick für die ethischen Anwendungen, der der Begriff der Genossenschaft ihm später eröffnet. Der Grund liegt darin, daß der Wille der universitas außer Beziehung steht zum Willen der unter ihr befaßten Mitglieder, daß „der Wille der Einzelnen vernichtet wird" (LrE, S. 175). Erst vermittelst der deutsch-rechtlichen Genossenschaft, die Cohen erst nach der Abfassung der „Logik" bekannt geworden sein muß (wahrscheinlich durch das Studium der Werke Gierke s und Heuslers), eröffnet sich ihm der volle Durchblick für jene ethische Instrumentierung der juristischen Person, in der Genossen und Allheit in Korrelation verbleiben. Kennzeichnend für die Unklarheit in dieser Frage ist folgende Passage in der „Logik der reinen Erkenntnis": „ A n z u e r k e n n e n bleibt dabei der Zusammenhang, der zwischen der Allheit und der Realität besteht; das will sagen, der Zusammenhang zwischen der juristischen und der sittlichen Person. Der Fortschritt, den die Zeiten der Selbständigkeit des sittlichen Individuums gebracht haben, ist der juristischen Person zu Gute gekommen sowohl in der Staatsidee und ... den mit ihr zusammenhängenden Institutionen, wie auch in solchen Verbänden, die sonst nur als Mehrheiten zu betrachten wären. Die sittliche Person, welche die Voraussetzung der echten juristischen bildet, wird, dies fordert die Kategorie der Realität, durch den Ursprung der Freiheit bestimmt; die assoziative juristische Person dagegen, in welcher der Wille der Einzelnen vernichtet wird, besteht in dem Determinismus des Milieu (?? - E. W.). So unterscheidet sich ethisch die Allheit von der Mehrheit" (LrE, S. 175).

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

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thodisch undurchschauten Verhältnis des Objekts der Naturwissenschaften zum Subjekt der rechtswissenschaftlichen bzw. moralwissenschaftlichen Betrachtung. Die juristische Person bzw. das ethische Subjekt sind juristischethisch nicht Fiktion, sondern normative Konstruktion, Hypothesis. „Es wird nun aber die große idealistische Aufklärung, welche in diesem Begriffe der juristischen Person die Rechtswissenschaft der Ethik zuführt, dadurch abgeschwächt, daß man diesen grundlegenden Begriff als eine Fiktion zu bezeichnen pflegt. Man verkennt damit die Bedeutung der Hypothesis, welche und sofern sie der Fiktion zuzuerkennen ist. Doch das gilt nur allgemein für diesen Begriff. Hier aber besteht der größere Schaden darin, daß dadurch die Annahme wieder bekräftigt wird, als ob nur die Person, die physische Person Rechtssubjekt sein könnte; so daß die Genossenschaft nur als Fiktion einer Person gedacht werden dürfe. Dahingegen schafft der Begriff der juristischen Person in der Genossenschaft eine neue Art von Willen, eine neue Art von Selbstbewußtsein, demgemäß eine neue Art von Rechtssubjekt. Daher ist dieser Begriff nicht als Fiktion zu bezeichnen; sondern es ist ihm der Grundwert der Hypothesis zuzusprechen. Es ist die Hypothesis des ethischen Selbstbewußtseins, des ethischen Subjektes, welche sich vollzieht in der juristischen Person der Genossenschaft 136." Die Hypothesis der juristischen Person, die das Rechtssubjekt in seiner normativen Natur als Personifikation einer Rechtsordnung erst zu einem methodisch klaren Begriff gebracht hat, wird Cohen zufolge zum „Musterbegriffe des ethischen Selbstbewußtseins" 137 , d. h. des ethischen Subjekts. Dieser Zusam136 ErW, S. 219; lies dazu Heusler, 256 f.: „Ersichtlich ist dieser Schritt zur Anerkennung einer juristischen Person ein größerer als der zu einer bloßen Fiktion. Denn die letztere erscheint, wenn auch als praktisch zweckmäßige Aushilfe für momentan im Rechte liegende Verlegenheit an, doch immerhin als ein verhältnismäßig rohes Mittel, um in einem bestimmten Falle den Mangel eines vom Rechte verlangten Tatbestandes zu decken. Es ist größere Abstraktion und ein höherer Grad von Rechtsbildung erforderlich, um zu dem Satz zu gelangen: die Personenvereinigung, die Anstalt, die Stiftung ist Rechtssubjekt; als sich damit zu begnügen: sie ist kein Rechtssubjekt, aber wir bilden uns ein, vorkommendenfalls handele eine physische Person. Denn im letzteren Falle bleibt das Recht bei der Tatsache stehen, daß nur physische Personen Rechtssubjekte sein können, im ersteren dagegen dehnt es den Begriff der Person aus und schafft eine neue Art von Rechtssubjekten." Kantorowicz Voreingenommenheit gegenüber Cohen zeigt sich auch hier, wenn er schreibt (Rezension, S. 605) : „Freilich ist das juristische Material, mit dem er arbeitet, arg verstaubt, daher er sich einbilden kann, daß man immer noch die juristische Person „als eine Fiktion zu bezeichnen pflegt". Abgesehen davon, daß Cohen sich hier auf Heuslers 1885 geschriebenen Ausführungen bezieht, zu welcher Zeit tatsächlich die ältere Fiktionstheorie noch herrschend war, ist darauf hinzuweisen, daß die Theorie der Fiktion nach der Jahrhundertwende durchaus nicht abgetan war und ist. Es kommt nur auf die Fassung des Fiktionsbegriffs an. Labands und Jellineks Abstraktionstheorien waren nur der Versuch einer anderen methodischen Durchdringung, meinten aber sachlich dasselbe. Vgl. dazu und zu den Begriffen der Fiktion, Abstraktion und Konstruktion Kelsens, ein Jahr nach Kantorowicz Rezension erschienenen „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", S. 177 ff. 13 ErW, S. 2 .

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menhang zwischen juristischer Person und ethischem Subjekt, die Übereinstimmung in der methodischen Konstruktion als rein normativer Gebilde, so vermutet Cohen, sei schon in den Persönlichkeitskonstruktionen des aufklärerischen Naturrechts zum Ausdruck gekommen. Er bezieht sich damit auf die Bezeichnung der juristischen Person als moralischer Person. Auch Cohen weiß 1 3 8 , daß der Name „juristische Person" erst Anfang des 19. Jahrhunderts aufkam 139 und vorher die Bezeichnungen persona moralis genau wie persona ficta, persona repraesentata, persona intellectualis, persona imaginaria, persona artificialis, persona mystica, persona composita im Gegensatz zur persona physica die unsinnliche Natur der korporativen Rechtsperson ausdrücken sollte 1 4 0 , doch sieht er andererseits richtig, daß in dem Namen „persona moralis" als einer Schöpfung des aufklärerischen Naturrechts sich über die bloß technische Bezeichnung von Verbandseinheiten ursprünglich eine moralphilosophische Auffassung ausdrückte, die das Auseinanderfallen des natürlichen physischen Menschen und der moralischen Persönlichkeit auch erkenntnistheoretisch zu bewältigen suchte. Pufendorf nämlich unterscheidet die personae physicae und die personae moralia, welche letztere wiederum unterteilt werden in personae moralia simplices und personae moralia compositae. Der alten Unterscheidung von natürlicher und fingierter Person substituiert er die von einfacher und zusammengesetzter moralischer Person. Diese Ersetzung wurde erst dadurch möglich, daß er die natürliche Existenz des Menschen von seinem Sein als moralischer Persönlichkeit scharf trennte 1 4 1 L Später wurde diese Differenzierung Pufendorf. s nicht mehr verstanden und die persona moralis nur als technische Bezeichnung im Gegensatz zur persona physica zurückgebildet 142 .

138 Vgl. ErW, S. 73: die Formulierung, die er dort gebraucht, stammt von Heusler; vgl. Institutionen, Bd. 1, S. 257. 139 Streitig ist, ob Gustav Hugo, Lehrbuch des Naturrechts, 1798 (S. 45), oder Arnold Heise, Grundriß des Systems des gemeinen Zivilrechts, 1807 (S. 8 f.), als Urheber des terminus technicus gilt. Vgl. dazu Rittner, die werdende juristische Person, S. 180; Gierke, Deutsches Privatrecht, 1. Bd., S. 469, Anm. 2. Durchgesetzt hat diesen Begriff Savigny, System, Bd. 2, Seite 240. 140 Vgl. die breite Darstellung der Entwicklung bei Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3, S. 279 ff., 363, 426, 674, 726; Bd. 4, (1913), S. 116 ff., 182 ff., 237 ff., 489 ff.; weiterhin: Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatsrechtstheorien, 3. Ausgabe, 1913, S. 189 ff. 141 Vgl. zum Ganzen: von Gierke, Althusius, S. 912 ff.; ferner Häfelin, Ullrich: Die Rechtspersönlichkeit des Staates, 1. Bd., 1. Teil, Dogmengeschichtliche Darstellung, Tübingen 1959, S. 38 ff.; dort weitere Literaturnachweise. 142 Savigny z. B. sieht die Zusammenhänge nicht mehr: „Früher war sehr gewöhnlich der Name moralische Person, den ich aus zwey Gründen verwerfe: Erstens weil er überhaupt nicht das Wesen des Begriffs berührt, der mit sittlichen Verhältnissen keinen Zusammenhang hat: zweytens weil sein Ausdruck eher dazu geeignet ist, unter den einzelnen Menschen den Gegensatz gegen die unmoralischen zu bezeichnen, so daß durch jenen Namen der Gedanke auf ein ganz fremdartiges Gebiet hinüber geleitet wird" (System, Bd. 2, S. 240 f.).

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Es wäre unrichtig, Cohen zu unterstellen, er habe mit der Bezeichnung der juristischen Person als moralischer Person derselben eine Art höherer sittlicher Dignität angedeihen lassen wollen. Vielmehr sind es zunächst allein methodische Absichten, darin Pufendorf ganz ähnlich, die ihn den alten Namen persona moralis aufgreifen lassen 143 . Ethik und Rechtswissenschaft als normative Wissenschaften konstruieren ihr Subjekt nach den gleichen methodischen Prinzipien. „Die Fiktion, wie sie genannt wird, ist vielmehr logische Fixierung. Die juristische Person entfernt sich von dem sinnlichen Vorurteil der Einzelheit und ihrem Charakter der Mehrheit; sie konstituiert sich auf Grund der Allheit als Einheit des Rechtssubjektes. Dieses Beispiel, welches die Rechtswissenschaft der Ethik darreicht, ist mehr als ein Beispiel: es ist ein Vorbild, wie solches anderwärts in keiner Form des Altruismus gefunden werden kann 1 4 4 ." Rechtssubjekt und Moralsubjekt sind keine Naturgegenstände, sondern Personifikationen von Sollensnormen; sie verfügen nicht über eine Psyche, haben weder Affekte noch Willen; was ihr Wille genannt werden kann, ist das Sollensgesetz, mit dem sie identisch sind. Die Analyse des Rechtsinstituts der juristischen Personen hat diese Aufklärung über den Begriff des Rechtssubjekts und des ethischen Subjekts zu Tage gefördert. „So erklärt es sich, daß für die juristische Person der Ausdruck der moralischen Person gebraucht wird. Es ist der Zugang zur Ethik, der mit ihr und durch sie gebahnt und vollzogen wird. Das subjektive Selbstbewußtsein der juristischen Person wird zum Musterbegriffe des ethischen Selbstbewußtseins. Dabei spielt keinerlei Mystik mit, und es bedarf keiner poetischen Symbolik. Keine affektive Erweiterung wird dabei gefordert, und keine demütige Verkleinerung. Es handelt sich nicht um Ironie dabei, sondern um schlechthin präzise wissenschaftliche Technik. Es ist ein irreführender Ausspruch, daß das Individuum durch den Rechtszwang es lernen solle und lernen könne, zu dem Bewußtsein der Gemeinschaft sein Selbstbewußtsein zu erweitern. Es soll nicht das Selbstbewußtsein erweitert werden zu dem der Gemeinschaft, sondern es soll dem Begriffe der Genossenschaft nach und gemäß diesem Musterbegriffe des Rechts der Begriff des Selbstbewußtseins definiert werden. Daß das Selbstbewußtsein demzufolge gebildet und erzogen werden könne und solle; oder, da das Selbstbewußtsein als ein stehendes Gebilde nicht einmal psychologisch gegeben ist, es wäre denn in Gemeingefühlen, daß es danach zu erzeugen sei, von dem Allen handelt es sich bei diesem Musterbegriffe nicht; wenigstens nicht in seiner hauptsächlichsten Bedeutung. Diese besteht darin, den Gedanken lebendig und eindringlich zu machen: daß das ethische Selbstbewußtsein als das Selbstbewußtsein des reinen Willens ge143 Das ist Kantorowicz, S. 605, vorzuhalten, der glaubt, Cohen schulmeistern zu können, dessen methodische Intentionen aber nicht begreift, wenn er schreibt: „Der Ethiker sollte sich erinnern, daß „moralisch" im 18. Jahrhundert soviel wie „nicht-physisch", „unsichtbar", wie noch Puchta sagte, bedeutete, infolge des Bedeutungswandels aber der Ausdruck „moralische Person" im 19. Jahrhundert abkam, heute (in Deutschland) verschwunden ist." 144 ErW, S. 74.

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dacht werden müsse gemäß und auf Grund der logischen Bedeutung der juristischen Person, welche in der Genossenschaft zu ethischer Bedeutung und Wirksamkeit gelangt. Das Rechtsinstitut und der rechtswissenschaftliche Begriff bringt den ethischen Begriff des Selbstbewußtseins des reinen Willens zur Realisierung und zur Rechtfertigung. Das ist der methodische Gewinn, den wir aus dem Problem der juristischen Person der Genossenschaft zu ziehen haben 145 ."

5. Abweisung des Begriffs der Gemeinschaft für die Bestimmung des ethischen Subjekts In dem zuletzt angeführten Zitat wird ein Begriff verwendet, der bei Cohen als „antinomischer" 146 Begriff zur genossenschaftlichen Rechtsperson fungiert. Es ist der Begriff der Gemeinschaft 147 . Die Gemeinschaft spielte im sittlichen und religiösen Denken seit frühesten Zeiten eine wichtige Rolle. Aus der Geschichte der Religionen sind die Glaubensgemeinschaften bekannt, und in der Geschichte der christlichen Religion bildete schon vor der Errichtung der Kirche die Versammlung der Gläubigen die Gemeinde. Gemeinschaften werden auch genannt die Familie, der Stand, der Stamm, das Volk, die Rasse, das Vaterland. Cohen bestimmt als das diesen Gemeinschaften Charakteristische den engen emotional-affektiven, bzw. biologisch-organisch oder geschichtlich-traditionell gewachsenen Zusammenschluß der Mitglieder 148 . Es könnte sich daher der Einwand erheben, räsoniert Cohen, daß „die Ethik für die Allheit in dieser Gemeinschaft der Glaubensgemeinde" 149 oder des Vol145

ErW, S. 224. Vgl. ErW, S. 223. 147 Die Kategorie der „Gemeinschaft" wurde in dem für die Entwicklung der Soziologie grundlegenden Werk von Ferdinand Tönnies „Gemeinschaft und Gesellschaft", das 1887 in der 1. Auflage erschien, ausführlich untersucht. Cohen kannte diese Arbeit jedoch nicht. Vgl. dazu Tönnies' Äußerung in seiner Besprechung von Cohens „Ethik des reinen Willens", a. a. O., S. 904 f.: „Ich bemerke, mit Genugtuung, daß das ethische Problem Cohens ein tiefes inneres Verhältnis zu dem, was mir als rein theoretisches und soziologisches Problem vorgelegen hat, in sich birgt. Ich habe niemals verhehlt, daß es starke ethische Bezüge involviert, wenn gleich ich sie methodisch habe geflissentlich zurücktreten lassen. Auch für mich handelte es sich, als ich die Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft" verfaßte, um das Verhältnis des Individuums zur Menschheit einerseits (Cohens Allheit) zu menschlichen Verbänden, Gemeinschaft oder Gesellschaft andererseits (Cohens Besonderheit) und ich habe immer dem ersten den Vorrang in begrifflicher Hinsicht eingeräumt. Cohen kennt - soviel ich weiß und wie mich nicht wundern wird - meine Begriffe nicht." 146

Zum Begriff der Vergemeinschaftung vgl. auch Max Weber „Wirtschaft und Gesellschaft", nach der von Johannes Winckelmann herausgegebenen Studienausgabe, Tübingen 1956, S. 55. 148 Vgl. zum Begriff der Gemeinschaft die höchst aufschlußreichen begriffsgeschichtlichen Erläuterungen von Manfred Riedel in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 801-862.

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kes ein geeignetes Beispiel besäße. „Dieser Anstoß ist um so gefährlicher, als er einen natürlichen oder rationellen Anspruch geltend zu machen scheint, nämlich den des natürlichen Ursprungs und der natürlichen Entwicklung des Selbstbewußtseins. Wenn es aber selbst der natürliche Weg wäre, den das Selbstbewußtsein in der Erweiterung des Affektgefühls nähme, so brauchte er darum noch nicht der methodische zu sein, für die Bildung des Selbstbewußtseins des reinen Willens. Hier bewährt sich die Zweckmäßigkeit der Orientierung der Ethik auf die Rechtswissenschaft 15°." Cohen wendet nämlich ein, daß diese Gemeinschaften als „Analogon zur Natur gedacht" 151 alle nur eine affektiv-naturhafte Basis hätten. Zwar suchten auch diese auf Affekt oder Tradition gegründeten Verbindungen „das Individuum von den Schranken des Eigensinns und der Selbstsucht zu befreien und zu erlösen" 152 , den Egoismus des Einzelnen „abzustumpfen", „den Gedanken der Gesamtheit zu entzünden" 153 , doch wirkten sie „zweideutig" und vermöchten den Begriff des Selbstbewußtseins des ethischen Subjekts nicht „rein darzustellen" 154 . „Es genügt auch nicht, daß die Einzelnen ihrer Einzelheit sich entäußern; damit würden sie doch noch nicht ein wahrhaftes einheitliches Selbstbewußtsein zustandebringen. Den Affekterweiterungen, welche das selbstische Ich verengen, treten nur allzuleicht wieder Affektverengungen zur Seite, welche die Machtausdehnung der selbstischen Sphäre bewirken. Auch bei den religiösen Affekten ist dies eine sich stets erneuernde Tatsache. Die Liebe zu Gott ist keineswegs immer nur als eine Sicherung der Menschenliebe gedacht, geschweige angewendet worden 155 ." Cohens eindeutige Reserve gegenüber dem Begriff der Gemeinschaft besteht darin, daß er das Hauptproblem der Ethik, den ethischen Begriff des Menschen, die Korrelation von Individuum und Allheit, nicht angemessen auszudrücken vermag, daß er vielmehr wesentlich „irrationale" Besonderheiten, nämlich affektiv-traditionale Verbindungen beschreibt. Der „eigentliche Fehler" in der Bestimmung des ethischen Werts der Gemeinschaft liegt Cohen zufolge sowohl in der Annahme, aus dem religiös-affektiven Begriff der Glaubensoder Liebesgemeinschaft 156 oder „in dem naturalistischen, soziologischen Begriffe, welche die Gemeinschaft als eine geschichtliche Relativität der Entwick149

ErW, S. 72. 0 ErW, S. 226. 151 Ebd., S. 225. 152 Ebd., S. 222. 153 Ebd. vgl. S. 223. 154 Ebd., S. 226. 155 Ebd., S. 223. 156 Genau in dieser Richtung suchte aber Max Scheler die durch „Blut, Tradition und Geschichtlichkeit des Lebens geeinte" Liebesgemeinschaft als ethischen Grundbegriff auszuzeichnen; vgl. Vom Umsturz der Werte, Ges. Werke, Bd. 3., 4. Aufl. (Bern 1955), S. 140. 15

2

Winter

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

lung darstellt" 157 , den ethischen Begriff des Menschen zureichend bestimmen zu können. „In der Tat ist der Schein illusorisch, als ob die Gemeinschaft absolut, die Genossenschaft dagegen relativ wäre. Vielmehr ist die Gemeinschaft ihrem Begriffe nach eine Relativität; nach den Kategorien der Qualität ausgedrückt, würde sie nicht sowohl der Allheit als vielmehr der Mehrheit entsprechen. Nur als Mehrheit ist sie Einheit. Die Genossenschaft dagegen ist Allheit; ist Einheit der juristischen Person. So ist es nur eine Illusion, die vielleicht auch mit dem kirchlichen Begriffe der Gemeinde zusammenhängt, daß man die Gemeinschaft für etwas Absolutes zu halten pflegt; daß man die Relativität und Partikularität, die in ihrem Begriffe liegt, vermöge der sie in ein gleichsam konzentrisches Netz von Relativitäten sich zergliedert, gänzlich übersieht. Das Vaterland beruht auf dem Volke. Das Volk auf dem Stamm. Der Stamm auf der Familie. Die Familie auf der Ehe. Daraufhin hält man es für den Weg der natürlichen Entwicklung, daß das Selbstbewußtsein seines egoistischen Charakters sich entledige, indem es von der Ehe aus an dem Bewußtsein der Familie, des Stammes, des Volkes und des Vaterlandes sich entwickle und erziehe 158 ."

6. Das ethische Subjekt seinem Inhalte nach: der Staat als Subjekt der Sittlichkeit Diesen Versuchen der naturalistisch-organischen Morallehre gegenüber, die aus den historisch vorfindlichen gesellschaftlichen Schichtungen einen Stufenbau relativer Gemeinschaften konstruiert, genauso wie gegenüber einer christlich-ecclesiastischen Gemeinschaftsethik 159 oder einer affektiven Liebesethik, die dem Fremden gegenüber allzu schnell in Unduldsamkeit verfallen kann, will Cohen „eine Art von Genossenschaft aufstellen, welche dem Begriff der juristischen Person entsprechen, und demgemäß den Wert des ethischen Selbstbewußtseins genau und unzweideutig" 160 darstellen kann. 157

ErW, S. 228. ErW, S. 227. 159 Vgl. ErW, S. 72: „Der kirchlichen Gemeinschaft steckt der Sonderbund im Blute. Das gerade ist das böse Beispiel, vor dem die Ethik sich zu hüten hat. Und neuerdings hat ein juristisches Buch es zu erschreckend dargestellt, was dabei herauskommt, wenn man die Gemeinschaft, von biblischen Zitaten geleitet, in ein Gefüge von immer nur relativen Gemeinschaften auflöst. Solche relativen Sonder-Gemeinschaften sind eben nichts anderes als Besonderheiten. Aus ihnen kann nimmermehr eine Allheit werden." Das juristische Buch, gegen das Cohen hier polemisiert, ist Rudolf Stammlers „Die Lehre von dem richtigen Rechte", Berlin 1902. Dort hatte Stammler zur interessegerechten Abwägung von Rechtsstreitigkeiten die Figur der „Sonder-Gemeinschaft" (vgl. S. 81 ff.) eingeführt, in die die streitenden Parteien gedanklich zu setzen seien. In der Sonder-Gemeinschaft sollte dann nach dem Vortrag der Parteien gem. den Grundsätzen des ,richtigen Rechts' geurteilt werden. 160 ErW, S. 228. 158

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Nachdem Cohen also das ethische Subjekt „erzeugt" und in der genossenschaftlichen Rechtsperson zur „Realisierung und Rechtfertigung" 161 gebracht hat, sucht er jetzt eine spezifische genossenschaftliche Verfassung, die im umfassendsten Sinn die Korrelation von Individuum und Allheit zu vollziehen vermag. „Der gesuchte, der geforderte Begriff ist der Begriff des Staates 162." Cohen sieht sich mit dieser Bestimmung des Staates als des „unmittelbaren Vorbildes der ethischen Persönlichkeit" 163 ganz in der Tradition der europäischen Moral- und Staatsphilosophie. Plato, auf den er sich immer wieder beruft, habe „die Seele des Menschen gleichsam in der Seele des Staates" 164 entdeckt, am Begriffe des Staates habe jener den Begriff des Menschen als sittlichem Wesen aufgesucht 165 . „Diesen großen Gedanken haben die Zeiten und Weltalter in sich aufgenommen und sie haben ihm je nach den verschiedenen Weltlagen neue Bedeutungen abgewonnen. Das Grundmotiv, das überall den Gärungsstoff bildete, das war der paradoxe Gedanke: der Mensch ist nicht das, was er in seinem sinnlichen Selbstgefühl zu sein glaubt: in seinem Staate vielmehr atmet erst seine individuelle Seele auf... Das war schon der platonische Gedanke. Nicht in der sinnlichen Einzelheit und Besonderheit liegt die Einheit des Menschen, sondern in einer abstrakten Einheit, die dennoch die gediegenste Wirklichkeit zur Erzeugung bringt: in der Einheit der staatlichen Allheit, in der Einheit der staatlichen Sittlichkeit 166."

6.1. Entwicklung des Begriffs des Staates als „ethischer Leitbegriff'

Welchen Staat aber meint Cohen ? Und welche Verfassung soll dieser Staat haben, wenn er als das Musterbild des Menschen als sittlicher Persönlichkeit gelten soll. Cohen entwickelt die Grundprinzipien jenes Staates in der Diskussion der Einwände und Bedenken, die gegen seine These von dem Staate als der Einheit des Willens, welche die Allheit erst in wahrhafter Weise zu vollziehen vermag 167 , geltend gemacht werden können. Folgendes Bedenken ist zunächst gegen die Bestimmung des Staates als dem „höchsten und exaktesten Muster des ethischen Selbstbewußtseins" 168 vorzubringen. Der Staat wird gewöhnlich gedacht unter dem Begriff der Herrschaft und der institutionalisierten, legitim geltenden Zwangsgewalt. Nimmt man diesen auf historischer Erfahrung beruhenden Einwand ernst, dann liegt es nahe, die Bestimmung des 161 162 163 164 165 166 167 168

21*

ErW, S. 224. ErW, S. 228. ErW, S. 74. Ebd. Vgl. dazu die Stellen in Piatons Politela: I 368: IV 435 ff. ErW, S. 74, 76. Vgl. ErW, S. 229. ErW, S. 229.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Staates als Muster des ethischen Selbstbewußtseins entweder als Zynismus oder als Utopie zu verwerfen. Man würde jene Auffassung in den Bereich des Glaubens und Hoffens verweisen, nicht aber würde man ihr den Wert wissenschaftlicher Erkenntnis beimessen. Solchen Einwänden gegenüber sucht Cohen herauszustellen, daß sein Staatsbegriff nicht ein soziologischer ist, nicht von der vorfindlichen Wirklichkeit abgezogen ist, sondern als „ethischer Leitbegriff' 1 6 9 , im Kantischen Sinne Idee, im Cohenschen Aufgabe ist. Die nähere Ausgestaltung des Staates als ethischem Leitbegriff soll sich aus der hier wieder aufzunehmenden und weiterzuführenden Analyse der genossenschaftlichen Rechtsperson ergeben. „Wenn man ganz absieht von den schweren Bedenken gegen den fortgesetzten Mißbrauch der Staatsgewalt, den die Geschichte und der sie bloßstellt, so kann man sich des Bedenkens schwer erwehren, daß hier ein Symbol und eine ideale Fiktion für eine wissenschaftlich reale Sache eingesetzt würde. Nun haben wir aber schon erwogen, daß eine juristische Fiktion ein ernsthafter Begriff ist, den man nicht seines Wertes als einer Hypothesis berauben, den man auch nicht mit einem ästhetischen Symbol verwechseln darf. Daher muß der Begriff des Staatswillens von jedem Verdacht einer symbolischen Abstraktion befreit werden, um dem Begriffe der juristischen Person gerecht zu werden i 7 0 ." Wenn der Staat als ethischer Leitbegriff die Einheit der Allheit in seiner höchsten Form verkörpern soll, so entsteht die Frage, wie diese Allheit, genauer der Allheitswille, nämlich der Staatswille, bestimmt wird. Mit dieser Problemstellung knüpft Cohen an die mit dem Namen Rousseaus verbundene Revolutionierung des Staatsbegriffs an. Rousseau streicht den in der aufklärerischen Naturrechtslehre durch Grotius und Hobbes eingeführten Unterwerfungs- und Herrschaftsvertrag, der die Rechtsgrundlage des allmächtigen, einer Zustimmung der ihm Unterworfenen nicht mehr bedürftigen Willens des Souveräns bildete 171 und setzt den aus dem Vereinigungsvertrage der freien und gleichen Individuen hervorgehenden allgemeinen Willen mit dem Staate identisch 172 . Da im allgemeinen Willen der Willen der einzelnen mitenthalten ist, so bleibt jeder im Staate nur sich selbst unterworfen. Doch wenn der allgemeine Wille als unvertretbar, unteilbar und unveräußerlich für seine Konkretisierung im Gesetz stets notwendig einen Gesamtbeschluß der einzelnen Gesellschaftsgenossen voraussetzt, so verlangt dies die Teilnahme jedes Genossen an der Bildung des allgemeinen Willens. Gebricht es aber mit der Nichtmitwirkung nur eines Genossen dem allgemeinen Willen an seiner Geltung? „Schon Rousseau hat die volonté générale, und richtiger universelle von der volonté de tous unterschieden. Dadurch ist der Allheitscharakter anerkannt. Heißt 169

ErW, S. 240. 0 ErW, S. 229. 171 Vgl. von Gierke : Althusius, S. 81. 172 Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social, I 6. 17

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das nun aber etwa, daß es auf die Einzelnen selbst gar nicht ankomme, wenn nur ein allgemeiner Wille zu Stande kommt? Wie könnte aber dieser allgemeine Wille als ein universeller, als ein Wille der Allheit zu Stande kommen, wenn von dem Willen der Einzelnen abgesehen werden dürfte? Auf dieser Schwierigkeit beruht der Anstoß, den man allezeit an dem Begriffe des Vertrages als der Grundlage des Staates, genommen hat. Wenn der Staatswille den Vertrag zur Voraussetzung hat, so ist er durch die Ausübung jedes einzelnen Willens bedingt. Wie aber, wenn ein einzelner Wille nicht teilnimmt, oder sich versagt, wird davon der Einheitswille des Staates betroffen und aufgehoben? Hier bricht der Anarchismus ein, der von dieser Bresche aus den ethischen Begriff des Staates angreift. Und wie könnte in der Tat der Staatswille das Selbstbewußtsein des Willens bedeuten, wenn auch nur ein Mitglied seine Mitwirkung zur Einheit dieses Willens nicht geleistet hat? 1 7 3 " Rousseaus Lösung des Problems besteht darin, daß allein der staatliche Konstitutivakt, der Gesellschaftsvertrag einstimmig beschlossen werden muß. Hinsichtlich aller weiteren Beschlüsse gilt die Stimmenrîiehrheit als verbindliche Konkretisierung des allgemeinen Willens 174 . Cohens Auffassung greift über diejenige Rousseaus nicht wesentlich hinaus oder scheidet sich nur insofern von ihr, als er vermittels der Begrifflichkeit der modernen rechtswissenschaftlichen Rechtssubjekts- und Genossenschaftslehre das Verhältnis von Konstitutivakt und postkonstitutiver Willensbildung schärfer auszeichnet. Im Gründungsakt, der den Beschluß aller Genossen verlangt, konstituiert sich ein einheitlicher allheitlicher Wille, der nichts anderes darstellt als das Genossenschaftsstatut, personifiziert durch die genossenschaftliche Rechtsperson. Das Genossenschaftsstatut ist der allgemeine Wille der Genossenschaft, ihr Grundgesetz. Diese Verfassung gibt der Genossenschaft Realität und verschafft ihr Kontinuität. Die gewählten Organe der Genossenschaft handeln nach dem Genossenschaftsstatut; die aktuelle Mitwirkung aller Genossen ist nur in den vom Statut festgelegten Fällen notwendig. Auf diese Weise wird der einzelne Genösse von der dauernden Mitwirkung und Mitentscheidung entlastet; die gewählten Organe garantieren die Kontinuität in der Konkretisierung des allgemeinen Willens. „Das ist es ja eben, was die Genossenschaft auszeichnet, was sie von der Gemeinerschaft unterscheidet: daß es nicht auf die aktuelle Mitwirkung der einzelnen Genossen ankommt, daß dadurch nicht über den Charakter der Genossenschaft und über die Einheit des durch sie auszuübenden Willens entschieden wird. Gerade in dieser Unabhängigkeit von der aktuellen Einzelheit liegt ihr Unterschied von der Mehrheit; beruht ihr Wert als Allheit und als juristische Person 175 ."

173 174 175

ErW, S. 229 f. Rousseau: Du contrat social, IV 2. ErW, S. 230.

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Nach der rechtlichen Struktur des genossenschaftlichen Vereins läßt sich nun aber auch ein staatliches Gemeinwesen konstruieren. In ihr wäre der durch Beschluß aller Staatsbürger zustandegekommene allgemeine Wille als Staatswille in der Verfassung auf Dauer gestellt. Doch ist damit das Problem der Mitwirkung des Einzelwillens gelöst? „Heißt das nun aber etwa, daß es auf die einzelnen und auf den Vollzug ihres Einzelwillens gar nicht abgesehen sei, weil es in letzter Instanz auf ihn nicht ankommt? Das wäre ein plattes Mißverständnis dieses Grundbegriffs, dessen sich die Rechtswissenschaft alsdann nur bedient hätte, um die Technik des Diebstahls zur feinsten und berückendsten Ausbildung zu bringen. Wenn anders dagegen in der Genossenschaft der Begriff der juristischen Person in der Richtung zur Ausbildung gelangt, daß dadurch der Begriff des Eigentums von seiner Härte und egoistischen Einseitigkeit methodisch abgelöst wird, so daß in dieser Ethisierung des Eigentums auch die Person des Eigentümers auf die Bahn des ethischen Selbstbewußtseins gelenkt wird, dann kann der Begriff der juristischen Person nur in diesem Sinne einer ethischen Hypothesis als die Fiktion der juristischen Technik dienlich sein. Wenn dies aber bei der Genossenschaft sich nachweisen lassen wird, so wird es nur sich auch bei der Allheit des Staatswillens zu bewähren haben. Seine Bedeutung liegt nicht in seiner aktuellen Wirklichkeit, sondern in seinem Werte als ethischer Leitbegriff des Selbstbewußtseins I7 6." Der solchermaßen als „ethischer Leitbegriff' konzipierte Staat entspricht keinem empirisch vorfindbaren Gemeinwesen, er ist Idee. Die Idee hatte schon Kant als Aufgabe aufgefaßt, der die beharrliche Bemühung um Erfüllung und Auflösung gelte. Cohen zufolge gilt die Aufgabe des Staates „nach beiden Seiten" 1 7 7 : für den Einzelnen wie für die Allheit. Welche Konsequenz ergibt sich nun aber für das Probleme der Mitwirkung des Einzelnen an der Staatswillensbildung aus dem Begriff der Aufgabe? „Wir hatten der logischen Bedeutung der Allheit gemäß das Selbstbewußtsein des Staates unabhängig gemacht von der Verwirklichung aller Einzelwillen. Aber wenn daraus der Verdacht aufsteigt, als ob der Staatswille der Mitwirkung aller Einzelwillen entbehren und sich entheben könnte, so vernichtet der strenge Begriff der Aufgabe diesen Verdacht. Die Staatseinheit ist verstümmelt; ihre Einheit gebrochen, wenn es sie auch nur an Einem Mitgliede gebricht. Jedes Wesen, das als sittliches, als rechtliches Subjekt, des reinen Willens fähig ist, muß zum Vollzug des Selbstbewußtseins im Staate berufen sein. Von seiner Anteilnahme ist der Vollzug des Selbstbewußtseins abhängig; ohne sie kann sich die Einheit des Staatswillens nicht durchführen. Sie enthält eine Lücke, welche den Zusammenhang der sittlichen Welt, den der Staat darzustellen hat, durchbricht und vereitelt. Der Staat, als Selbstbewußtsein, ist die Einheit von Subjekt und Objekt im Willen. Diese Einheit darf nicht als eine bloße Ab176 177

ErW, S. 230. Ebd., S. 231.

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straktion verdächtigt werden; sie ist das realste, das lebendigste, das höchste Menschengut. Das Selbstbewußtsein hat darin seine Erfüllung und seine Beschränkung. Denn wie die Allheit des Staates, als Einheit, und zwar als Aufgabe der Einheit, durch den Einzelwillen bedingt ist, so hat der Einzelne diese Aufgabe der Allheit auf sich zu nehmen; dieser Einheit sich einzuordnen und einzugliedern. Diese Einheit ist der Inhalt, auf den er in allen seinen Handlungen seinen Willen zu beziehen hat. Und nur in diesem Inhalt, in diesem Objekte, kann er sein Subjekt, sein Selbstbewußtsein, als die Aufgabe seines reinen Willens, erlangen und behaupten™." Warum aber ist die Idee des Staates dem Einzelnen aufgegeben? Der Mensch als sittliches Individuum, das sich in der Person des Anderen als Selbstzweck setzt, ihn anerkennt, indem es sich mit ihm verträgt, vollzieht damit eine nicht mehr naturbestimmte Ordnung der Beziehungen zum Anderen. Er handelt im Verhältnis zum Andern nach Normen, die selbst gesetzt sind. Dadurch werden beide unter eine gemeinsame Gesetzgebung gestellt. Diese Gesetzgebung ist Rechtsordnung. Für den Begriff des sittlichen Individuums ist der Begriff der Rechtsordnung konstitutiv. Es gibt „kein Individuum im ethischen Sinne ohne Rechtsgemeinschaft" 179. Die höchste Rechtsordnung aber bildet der Staat, er ist nichts anderes als der Inbegriff der die Verhältnisse der Individuen in ihrer Allheit regelnden Normen. Die Idee des Staates ist dem Einzelnen aufgegeben, weil er als sittliches Individuum rechtlich handelt, d. h. sich in seiner Gesetzgebung am Leitbegriff einer „allheitlichen" genossenschaftlichen Staatsverfassung orientiert.

6.2. Der Vertrag als sittliche Rechtfertigung des Staates Überblickt man die Cohenschen Aufstellungen, deren Ziel es war, den ethischen Begriff des Menschen in der genauen Korrelation von Individuum und Allheit methodisch aus den „erzeugenden Begriffen der Rechtswissenschaft" zur Bestimmung zu bringen, so hat sich herausgestellt, daß für Cohen „die Verfassung der sittlichen Subjekte", nur als Rechtsverfassung denkbar ist, daß die „Gemeinschaft moralischer Wesen" in der Idee einer staatlich verfaßten Genossenschaft ihren rationellen Ausdruck gefunden hat. Die rechtswissenschaftlichen Grundbegriffe waren also mehr als nur ein methodisch brauchbares Analysematerial der Ethik, sondern es enthüllte sich zugleich ihr immanent sittlicher Wert. Unter diesen rechtswissenschaftlichen Grundbegriffen ist dem Vertrag eine präeminente Bedeutung zugekommen. In ihm findet Cohen zufolge das Recht seine sittliche Rechtfertigung und aus ihm lassen sich die ethischjuristischen Grundbegriffe in ihrer „reinen" Struktur erzeugen. 178 179

ErW, S. 231 f. ErW, S. 214.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Der Vertrag seinem Begriffe nach setzt die Parteien als Selbstzwecke. Es ist n u r möglich u n t e r der Bedingung, daß B i n d u n g an die lex contractus sein soll. Diese gegenseitige Verpflichtung setzt die Anerkennung des Anderen als Freien u n d Gleichen voraus. Darin besteht der sittliche Charakter des Vertrages. Cohen d r ü c k t das, pathetisch überzogen, so aus: „Der Vertrag macht n u n aus d e m Anspruch die Ansprache. U n d daher verwandelt sich der Andere v o m I c h i n Du. D u ist nicht Er. Er wäre der Andere. Er k o m m t i n Gefahr, auch als Es behandelt zu werden. D u u n d I c h gehören schlechterdings zusammen. I c h k a n n nicht D u sagen, ohne d i c h auf m i c h zu beziehen; ohne d i c h i n dieser Beziehung m i t d e m I c h zu vereinigen. Aber es liegt darin zugleich die gesteigerte Forderung: daß ich auch nicht I c h denken kann, ohne Dich zu denken. So hat der andere i m Selbstbewußtsein sich gleichsam i n den Dualis des I c h verwandelt. W e n n das Selbstbewußtsein die Einheit des Willens zu bedeuten hat, so m u ß sie die Vereinigung von I c h u n d D u bilden. Der Wille vereinigt mich und dich; dich und mich. Diese Einheit bedeutet die Aufgabe des Selbstbewußtseins 1 8 0 181/' 180

ErW, S. 235. Das oben wiedergegebene Zitat erfordert eine zusätzliche Bemerkung. Wie weiter unten noch näher gezeigt werden wird, hat sich Cohen auch mit der Anerkennungstheorie Ernst Rudolf Biedings beschäftigt, die dieser in der „Kritik der juristischen Grundbegriffe" (2 Bde., Gotha 1877/1883) entwickelt hatte. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, daß Cohen Anregungen für die methodische Durchführung der vertragstheoretischen Unterlage seiner Ethik durch Bierlings Aufstellungen erhalten hat, wiewohl Bierling selbst die Vertragstheorie für seine Anerkennungstheorie als Begründung deutlich abgelehnt hat (Bd. 1, S. 69 ff.). Der Status der Bierlingschen Aussagen hinsichtlich der Anerkennung als Geltungsgrund des Rechts ist zwar einerseits deutlich empirisch-psychologisch, andererseits aber lassen sich viele Feststellungen Bierlings durchaus im Kantisch-Cohenschen Sinne als apriorisch, bezogen auf die transzendentale Begründung des Rechts, deuten. Der Begriff der Anerkennung wäre in diesem Kontext nicht als aus der Erfahrung gewonnene Hypothese, sondern als Rechtsgemeinschaft ermöglichender, apriorischer Begriff zu lesen. In diesem Sinne können die folgenden Aussagen Bierlings interpretiert werden: „Nicht die Gemeinschaft ist also Grund des Rechts, sondern das Recht, d. h. gewisse als Regeln für ein Zusammenleben anerkannte Normen oder doch mindestens Eine solche Norm bildet den Grund jeder wirklichen Lebensgemeinschaft für die Anerkennenden, in der Fortdauer der Anerkennung beruht auch die Fortdauer der Gemeinschaft. Nicht die Lebensgemeinschaft ist das ursprünglich Gegebene, aus deren Anschauung und nach deren Charakter sich dann die Normen des gemeinschaftlichen Lebens entwickeln, sondern die Normen sind es, die jeder Lebensgemeinschaft, gleich wie sie deren Existenz bedingen, so ihr auch den speziellen Charakter geben, durch welchen sie sich von allen anderen Arten von Gemeinschaften oder Lebenskreisen unterscheidet" (S. 83 f., Bd. 1). Anerkennung von Rechtsregeln als Ermöglichungsgrundlage von Gemeinschaft bedeutet aber ein Sich-vertragen mit dem Anderen über den Inhalt der Regel. Die in der lex contractus festgeschriebene Vereinbarung verpflichtet den Anderen, sich in Beziehung auf mich in bestimmter Weise zu verhalten, und berechtigt ihn zugleich, von mir ein bestimmtes Verhalten zu beanspruchen, mich in Bezug auf dieses Verhalten anzusprechen. Bierling hat versucht, diesen im technisch-juristischen Terminus des Anspruchs kaum noch verstandenen Sinn hervorzuheben. Die Formulierungen, die er im folgenden Zitat gebraucht, legen den Gedanken nahe, daß Cohen, wie oben angedeutet, hier seine Anregung für die eigene Formulierung erhielt. „Es genüge eine kurze Rechtfertigung meines eigenen Sprachgebrauchs. „Ansprechen" ist ursprünglich so viel wie „anreden" und demgemäß „Anspruch" zunächst „Anrede", al181

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

329

Das moralische Subjekt ist der Andere, auf den ich mich beziehe. Der Andere ist aber nicht ein natürliches Wesen, sondern die Gesetzgebung in der Person des Anderen. Die Analyse der juristischen Person hat gezeigt, daß ihr Sein nichts anderes als die Personifikation einer Sollensordnung ist. Die Ethik hat es aber nicht nur mit dem Anderen, sondern mit der Gesamtheit, der Allheit zu tun. Der verallgemeinerte Andere ist jene Sollensordnung, die man Staat nennt. Der Staat in diesem normativ-idealen Sinne ist mit dem Recht identisch. „Und diesen Fortschritt betätigt die juristische Fiktion. So bewährt sich die juristische Person als die moralische Person. Und diese Realität der moralischen Person stellt der Staat dar, als Aufgabe des Selbstbewußtseins. Dieses Selbstbewußtsein ist die Vereinigung von Ich und Du, welche die Rechtshandlung des Vertrages vollzieht. Dieser Vertrag ist nicht ein Versuch der Willkür und des Experiments; sondern er ist die Bedingung, die notwendige und zureichende Bedingung für den Vollzug des Selbstbewußtseins. Im Staate wird das Ich zur reinsten Entfaltung gebracht, indem der andere zum Du verwandelt wird 1 8 2 ." Bei Cohen fungiert, das haben die obigen Erörterungen klargemacht, der Vertrag als die „Grundnorm" im Kelsenschen Sinne. Bei Kelsen ist die durch den Vertrag hergestellte Verbindung zwischen Moral und Recht zerschnitten. Diese Auseinanderreißung ist vom Kelsenschen Standpunkt nur konsequent, geht es ihm doch um eine Theorie des positiven Rechts. Unter diesem Aspekt muß die Grundnorm als methodisch geforderte Ermöglichungsnorm einer Rechtsordnung überhaupt jeden inhaltlichen Charakters entbehren. Cohen dagegen schreibt eine Ethik, ihn treibt das „Vernunft-Interesse am Sittlichen" 183 , er fragt nicht vornehmlich nach der logischen Verfassung der Rechtsordnung, sondern nach einer vernünftigen Ordnung der Menschheit. Diese vernünftige Ordnung kann für ihn, keine heteronome, sondern nur eine autonome, in Selbstgesetzgebung erzeugte sein. Diese Selbstgesetzgebung ist nicht die des Robinson, sondern die des verallgemeinerten Anderen. Sie muß, da sie so konstituiert ist, als ob die Zustimmung eines anderen vorläge, konsensual erfolgen. Ihr Urbild ist der Vertrag. „So läßt sich alles Recht auf den Vertrag zurückführen 184 . Wie sollte es da noch einem begründeten Anstoß begegnen müslocutio, (vgl. Grimms Wörterbuch I, S. 467 und 471). Als eine engere Bedeutung ergibt sich hiernach von selbst die Imperativische Anrede mit einem „Du sollst", mit einer Norm. Wird diese Norm nun von dem Angesprochenen anerkannt als Norm eines (auch nur vorübergehenden) Zusammenlebens mit dem Ansprechenden, oder ist dieselbe einer schon vorher von beiden Theilen anerkannten Gemeinschaftsnorm subordiniert oder doch subsumierbar, so haben wir bereits den Anspruch im rechtlichen Sinne. In diesem Sinne habe ich bisher von Anspruch (Rechtsanspruch) geredet" (Bd. 2, S. 39). Vgl. auch die breiten Ausführungen Bierlings in der „Juristischen Prinzipienlehre, Bd. 1, 1894, S. 160 ff. (§ 10), zum Begriff des Anspruchs in seiner technischen und allgemeinen Bedeutung. 182 Ebd., S. 235 f. 183 ErW, S. 46. 184 Cohen bezieht sich hier auf eine Stelle im 3. Band von Savignys „System des heutigen römischen Rechts", bei der es um das Problem der Möglichkeit eines allgemeinen

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

sen, wenn auch der Staat, der doch auf dem Rechte beruht, auf den Vertrag gegründet wird? Es kann nur eine äußerliche, unwissenschaftliche Ansicht vom Vertrage sein, welche das Mißtrauen gegen die Vertragstheorie hervorgerufen hat. Das sophistische Vorurteil einer willkürlichen Übereinkunft, welche der Schwächere mit dem Stärkeren trifft und welche sonach auf dem Rechte des Stärkeren beruht; welche daher aber auch die Macht mit dem Rechte verwechselt; nur diese alte sophistische Fabel, welche die bisherige Weltgeschichte allerdings ebenso energisch, als kläglich, zur Wahrheit macht, konnte den Begriff des Vertrages als den sittlichen Grund des Staates verdächtigen und entrechten. Wird dagegen der Vertrag als die allgemeine Form des Rechts eingesehen, so darf auch der Staat in ihm seinen tiefsten methodischen Grund anerkennen 1 8 5 ." Cohens vertragstheoretische Substruktion des Staates beinhaltet den Versuch, den rechtstheoretischen Begriff des Staates und die rechtsphilosophische Idee des Staates, seinen Rechtsform- und seinen Rechtsinhaltsbegriff 186 in der Weise aufeinander zu beziehen, daß in dem Rechtsformbegriff der Rechtsinhaltsbegriff bereits gesetzt ist. Darin sieht er den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit, Ethik und Rechtswissenschaft. In diesem Bemühen akzentuiert er die aus dem aufklärerischen Naturrecht stammende, in der deutschen Staatsrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl nur latent und sehr vereinzelt vorhandene Tendenz, die korporative Rechtsperson nicht so sehr ihrem Rechtsformbegriff als ihrem Rechtsinhaltsbegriff, ihrem moralisch-politischen Wert nach auszuzeichnen. Während die Staatsrechtslehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorbereitet durch Albrechts „bahnbrechende" 187 Rezension 188 von Maurenbrechers Buch „Grundsätze des heutigen Deutschen Staatsrechts" und maßgeblich beeinflußt durch Albrechts Schüler Carl Friedrich von Gerber, den Staat unter Verwendung der Konstruktion der zivilrechtlichen Pandektistik rechtsmethodisch in der Staatspersönlichkeit zentriert, ihn in seiner allgemeinen rechtsformalen Qualität als juristische Person bestimmen 189 , geht es Cohen um die rechtsinhaltliche QuaBegriffs des Vertrages geht. Die Stelle (S. 316) lautet: „Man kann in dieser Hinsicht die Verträge beynahe als gleichbedeutend ansehen mit den Rechtsgeschäften unter Lebenden überhaupt, und in diesem Sinn ist auch von ihnen bisher schon häufig geredet worden." 185 ErW, S. 233 f. 186 Vgl. zu diesen Begriffen Kelsen: Reine Rechtslehre, a. a. O., S. 54; Allgemeine Staatslehre, S. 18. 187 Rittner, Fritz: Die werdende juristische Person, S. 171, Fußnote 111. 188 In: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1837, Bd. 3, S. 1489 ff., 1508 ff. 189 Vgl. dazu Wilhelm: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 129 ff.; v. Oertzen: Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, S. 163 ff.; auch schon Bernatzik: Kritische Studien über den Begriff der juristischen Person und über die juristische Persönlichkeit der Behörden, insbesondere, in: Archiv für öffentliches Recht V (1890), S. 185 ff.; ferner mit reichlichen Literaturhinweisen Häfelin: Die Rechtsperson des Staates, S. 124 ff.

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

331

lifikation der juristischen Person des Staates als genossenschaftlicher Rechtsperson; während Kelsen, der den staatsrechtlichen Formalismus Gerber-Labandscher Provenienz zu seinem reinen Begriff bringt, feststellt, daß der Begriff der Rechtsperson keinerlei rechtsinhaltliche Qualifikation impliziere, sondern reiner Rechtsformbegriff sei, sind im Cohenschen Begriff der Rechtsperson die rechts-formale und die rechts-inhaltliche Seite miteinander gesetzt. Mit dem Begriff des Rechtssubjekts, der bei Cohen im verbindlichen Sich-Aufeinander-Beziehen, also im Vertrage rein erzeugt wird, ist zugleich die Rechtsgemeinschaft, die Genossenschaft der Paciszenten in der vereinbarten Rechtsordnung konstituiert. Die staatliche Person als die Rechtseinheit der unter ihr befaßten Genossen soll diese Korrelation zum umfassendsten Ausdruck bringen. Während für Cohen der Vertrag die juristische Person also realisiert und rechtfertigt, bedeutet Kelsen der Vertrag normlogisch nur eine Rechtserzeugungsform unter anderen. Für eine „Theorie des positiven Rechts" 190 bleibt die immanent sittliche Bedeutung des Vertrages transzendent. Der Staatsrechtstheorie von Gerber bis Kelsen, so kann man formulieren, ging es vornehmlich um die Bestimmung des allgemeinen Begriffs des Staates. In der Struktur der juristischen Person als Normenpersonifikation fand diese Theorie den rationellsten Ausdruck für den allgemeinen Rechtsbegriff des Staates. Von Cohen dagegen wurde das Problem des Staates immer als Rechtsinhaltsproblem gedacht. Deshalb suchte er nicht so sehr den allgemein rechtlichen Begriff des Staates, wiewohl seine Ausführungen manche fruchtbare Anregung dafür enthalten, sondern in der konsensualkorporativen Staatsperson den ethischen Begriff des Menschen, die Korrelation von Individuum und Allheit zu kennzeichnen. Gegenüber der normlogisch-formalen Bestimmung des Staates durch die damalige Staatsrechtslehre, der ein unpolitischer oder politisch angepaßter Standpunkt korrespondierte, bedeutet Cohens Auszeichnung der Idee des Staates als genossenschaftlichem Gemeinwesen eine entschieden kritische Politisierung 191 des Staatsbegriffs. Mit dieser Herausstellung der vertraglich konstituierten Staatsperson waren deutlich politische Motive verbunden: Die genossenschaftliche Staatsidee ist die ursprünglich demokratische Idee. Merkwürdigerweise wird in der „Ethik des reinen Willens" der Begriff der Demokratie nicht ein einziges Mal gebraucht, obwohl doch jene in der genossenschaftlichen Staatsidee geradezu ihr Zentrum hat. Ein Grund mag darin liegen, daß die Volksherrschaft aus zwei Begrif190

Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, S. 1. Diese Politisierung des Staatsbegriffs ist schon feststellbar bei Otto Bähr (Der Rechtsstaat, 1864), der aus dem genossenschaftlich begründeten Staat das Postulat der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Forderung des liberalen Rechtsstaats zu entwickeln suchte. Über den Zusammenhang von korporativem Staatsbegriff und liberaler Rechtsstaatsidee vgl. Häfelin, S. 60 f., S. 112 f., S. 129 f. 191

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

fen sich zusammensetzt, denen Cohen beide keine Sympathie entgegenbrachte. Während der Begriff des Volkes ihm zu sehr naturalistischer „Blutsbegriff' 1 9 2 war, wird die Herrschaft gemeinhin mit dem Zwange identifiziert. Beide Ausdeutungen hielt er für die Begründung der Ethik für verfehlt, ja verhängnisvoll. Das Nähere dazu wird unten ausgeführt. Auch wenn diese Erwägung über Cohens Berührungsangst vor dem Begriff Demokratie richtig ist, so ändert dies nichts daran, daß Cohens Idee des genossenschaftlichen Staates radikal demokratisch orientiert ist, demokratisch im Sinne jenes modernen „kritischen" Volksbegriffs, der das Volk als Gesamtheit der Rechtsbürger meint. Den Beleg mag jene Stelle der „Ethik" erbringen, in der Cohen die wohl nur dem Philosophen mögliche und zugestandene Forderung aufstellt: „Ohne das allgemeine Wahlrecht gibt es keine Wahrhaftigkeit für das Selbstbewußtsein des Staates. Mit dem allgemeinen Wahlrechte erst beginnt die Bildung des Willens, und somit des Selbstbewußtseins für den Staat. Und sofern der Staat auf dem Willen und dem Selbstbewußtsein beruht, so darf man unbedingt sagen, daß der Staat seiner begrifflichen Bedeutung nach nicht vorhanden ist, bevor das Wahlrecht in Kraft getreten. Es muß daher auch die Fiktion gelten, daß der Staat als suspendiert anzusehen sei, bevor das Wahlrecht zur erneuten Ausübung gekommen ist. Das Wahlrecht beruht auf der Voraussetzung der geistigen und demzufolge sittlichen Gleichwertigkeit aller Mitglieder des Staates für den Willen, für das Selbstbewußtsein, für die einheitliche Persönlichkeit des Staates 193 ."

6.3. Abweisung des Volks- und Volksgeistbegriffs und des soziologischen Gesellschaftsbegriffs für die Begründung des Staates

Es wurde schon oben darauf aufmerksam gemacht, daß Cohen den juristischen Begriff der Genossenschaft als rationaler Konstruktion fähiges methodisches Beispiel für den Begriff des ethischen Allheitssubjekts gegenüber dem in ethischen Zusammenhängen geläufigen Begriff der Gemeinschaft, der traditional-affektive Sozialgebilde bezeichnet, vorzieht 194 . „Genossenschaft und Gern Vgl. ErW, S. 32. 193 ErW, S. 490. 194 In der „Logik der reinen Erkenntnis" hatte Cohen diese Unterscheidung von Genossenschaft und Gemeinschaft noch nicht vollzogen. Dort wird noch, wahrscheinlich in Anknüpfung an den Begriff „Gemeinschaft moralischer Wesen" aus „Kants Begründung der Ethik", der Staat als Darstellung des ethischen Begriffs der Gemeinschaft bezeichnet: „Aber wenn derselbe („der Begriff der Gesellschaft als reformierender und organisierender Leitbegriff der Geschichte" - E. W.) eine wahrhafte Leitung ausüben soll, bei der die Einheit des Individuums unversehrt bleibt, so muß er in einem andern sittlichen Grundbegriffe seine Ergänzung finden. Als solchen lehrt die Ethik den Begriff der Gemeinschaft, der dem Zahlbegriff der Allheit gemäß in Stufen und Ordnungen sich vollzieht. Eine eminente Darstellung dieser Universalität bildet der Staat, der die Menschen, wess Stammes und wess Glaubens zu einer idealen Einheit der Allheit vereinigt. Auch hier ist es die Unendlichkeit der Allheit, auf welcher diese Leistung beruht" (LrE, S. 172 f.).

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

333

meinschaft sind unvergleichbare Begriffe. Genossenschaft ist ein methodischer Grundbegriff der Rechtswissenschaft; Gemeinschaft dagegen ein vieldeutiger Umfangsbegriff. Die Genossenschaft dient der Methodik der juristischen Person, mithin der des Selbstbewußtseins. Die Gemeinschaft dagegen führt nicht auf geradem, sicherem Wege zum Selbstbewußtsein; sie wird von dem Affekte beflügelt und geleitet. Der Affekt aber kann nicht nur die Gemeinschaft nicht als Einheit sichern, sondern sogar das Individuum läßt er in ihr im Stiche; während es doch für das Selbstbewußtsein erhalten werden muß 1 9 5 /' 6.3.1. Motive für die Abweisung des Volksbegriffes Nachdem der Staat als „Leitbegriff und Zielbegriff des ethischen Selbstbewußtseins" 196 ausgezeichnet und in der Idee, der Aufgabe des Staates die Einheit des sittlichen Menschen begründet worden ist 1 9 7 , nimmt Cohen die Diskussion des Unterschiedes von Gemeinschaft und Genossenschaft in der von Staat und Volk und von Staat und Gesellschaft noch einmal auf. Was ihn hinsichtlich des Volksbegriffes dazu bewog, braucht nicht vermutet zu werden. Der „Blutsbegriff des Volkes" 1 9 8 war ihm für alle ethischen Begründungsversuche zutiefst suspekt: In der scharfen Verwerfung aller historisch-naturalistischen Begründungsversuche der Ethik, in der rein abstrakt-normativen Konstruktion des ethischen Individuums und des Staates werden die Erfahrungen der jahrhundertelang unterdrückten jüdischen Minderheit, die nur in einem völlig säkularisierten, auf Unterscheidungen aufgrund religiöser und ethnischer Zugehörigkeit Verzicht leistenden Staat ihre Emanzipation gesichert sah, abgearbeitet. „Das Selbstbewußtsein des Juden, diesen furchtbaren, unaufhörlichen, beinahe jeden Schritt seines bürgerlichen und geistigen Lebens begleitenden Angriffen gegenüber, hat die wahrhafte Ehre als Affekt zu suchen und zu behaupten. Der Staat allein kann sich als die Erziehungsanstalt bewähren, um die sittliche Differenz auszugleichen, welche allerdings in dem religiösen Bewußtsein zwischen Christentum und Judentum besteht, insofern das eine den Erfolg der Sittlichkeit von der Leitung und der Spendung Christi abhängig macht, das andere dagegen von dem einigen Gotte, der nicht zugleich Mensch ist. Der Staat allein kann für die sittliche gegenseitige Würdigung der Bekenner dieser beiden Religionen die Kenntnis, die Einsicht, die Unparteilichkeit, die Sympathie heranbilden, welche die Glieder des Staates verbinden muß. Auf den Staat setzt der Jude daher auch seine Hoffnung, wo und wie immer er in seiner Ehre getroffen wird. In dem Staate erkennt er keinen Widerspruch gegen seine Reli195 196 197 198

ErW, S. 236. ErW, S. 246. Vgl. ErW, S. 75. ErW, S. 32.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

gion, sondern vielmehr das Einvernehmen mit ihr. Denn seine Religion hat nicht bloß den Staat verloren, sondern ihn aufgegeben 199." Um so mehr hielt Cohen diese Auseinandersetzung für unabdingbar, als im wilhelminischen Deutschland seit den achtziger Jahren Chauvinismus, Rassismus, romantisierende oder gewalttätige Deutschtümelei und Antisemitismus in erschreckendem Ausmaße Ausbreitung gefunden hatten 200 . Die Auseinandersetzung mit dem Volksbegriff, der von dem „logischen Blute der Familie" 201 ist und „die Menschen in ihrer sinnlichen Natürlichkeit" 202 darstellt, muß vor diesem Hintergrund als politische Auseinandersetzung Cohens mit einflußreichen antisemitischen Strömungen in Wissenschaft und Öffentlichkeit betrachtet werden 203 . Cohens Erörterungen zum Verhältnis von Staats- und Gesellschaftsbegriff verleugnen nicht ihre politische Motivation. Hier geht es um die Auseinandersetzung mit jener politischen Bewegung, die den Begriff der Gesellschaft in ihrem Namen führt: dem Sozialismus. Cohen hält den korrigierten, von seinem materialistischen Fundament „befreiten", den ethischen Sozialismus für den Garanten von sozialer Reform, welcher der Gefahr „der Revolution als Eruption vorzubeugen" 204 vermag. Im „Rechts-Idealismus" 205 dieses Sozialismus sieht er die Realisierung eines genossenschaftlich organisierten Staates gewährleistet. Nur ihn hält Cohen auch für legitimiert und fähig, dem Anarchismus gegenüber „die Rolle des Verteidigers von Recht und Staat" 206 zu übernehmen. In Wahrheit - so Cohen - ziele der sozialistische Begriff der Gesellschaft auf nichts anderes als den Staat. Deshalb müsse der ethische Begriff der Gesellschaft unterschieden und geschieden werden von seinem ökonomischen Begriff. Das Nähere ist unten auszuführen. 199 ErW, S. 469. 200 Vgl. zum Wiederaufleben des Antisemitismus Anfang der achtziger Jahre: Der Berliner Antisemitismusstreit, hrsg. von Walter Boehlich, Frankfurt 1965. 2 01 ErW, S. 75. 202 Ebd. 203 Vgl. dazu die anklagenden Worte im Vorwort zu „Religion und Sittlichkeit, Eine Betrachtung zur Grundlegung der Religionsphilosophie, Berlin 1907, S. 4: „In solchen Zeiten bleibt dem Einzelnen keine Wahl, als verzweifelt sich zurückzuziehen, oder aber auf die Gefahr seiner ungehemmten beruflichen Wirksamkeit das öffentliche Wort zu ergreifen, ohne Rücksichten auf die Parteien hüben und drüben, lediglich im Gefühl seiner Ehre und seiner individuellen Verantwortlichkeit. Es brennt mir auf der Seele, die Mahnung an Volk und Staat zu richten, mit der diese theoretische Erörterung abschließt. Der Judenhaß ist mehr als ein Sympton in der Krankheit dieser Zeit. Und man täusche sich nicht: die Zeit ist krank, auch wenn ihre äußeren Erfolge größer wären, als sie sind. Es gibt keine Gesundheit in einer Zeit, welche den Menschenhaß duldet; in welcher Abweisung und Zurückstoßung als berechtigte Mittel für einen höheren Zweck gelten. Es gibt keine wahrhafte Sittlichkeit für ein Volk, in welchem Staat und Gesellschaft Entfremdung und Ausschließung einer religiösen Gemeinschaft innerhalb desselben Staates politisch und sozial organisieren." 2 4 0 GdM, S. LXIX. 2 05 GdM, S. LXVIII. 2 06 GdM, S. LXXI.

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

6.3.2. Kritik

335

des Volksgeistbegriffs

6.3.21. Savigny Cohen setzt seine Kritik am Volksbegriff nicht ohne Grund bei der historischen Rechtsschule und deren Volksgeistbegriff an. Er rechnet Savigny vor, daß dessen Volksgeistbegriff die Folge der unklaren und methodisch widersprüchlichen Fassung des Verhältnisses von Staats- und Volksbegriff sei. Bei Savigny muß „jedes Volk, sobald es als solches erscheint, zugleich als Staat erscheinen" 207 ; der Staat ist „nur die Erscheinung des Volkes in bestimmter Rechtsform" 208 . Deshalb betrachtet Savigny die „Ableitung" desselben aus Vertrag, also individueller Willkür als unzulässig 209 . Andererseits erkennt Savigny für das gesamte Recht den Vertrag als Grundlage an 2 1 0 . Wenn aber der an die Rechtsform gebundene Staat Savigny zufolge nicht auf dem Vertrag beruht, so dürfte konsequenterweise auch das Recht nicht darauf beruhen, „obwohl es doch mit dem Vertrage, als seinem methodischen Grundmittel, o p e r i e r t " 2 1 E s stellt sich deshalb die Frage nach dem Grunde von Recht und Staat. „Obwohl sonach der Staat an die Rechtsform gebunden ist, das Recht sich aber auf den Vertrag reduziert, soll dennoch der Staat nicht auf dem Vertrag beruhen, sondern worauf denn? Auf dem Volke. So jedoch wird freilich der Gegensatz nicht ausgedrückt 212 ." Cohen ist der Ansicht, daß Savigny die „zu sehr offenliegende" 213 Diskrepanz zwischen dem naturhaften Volksbegriff und dem ideal-normativen Rechts- und Staatsbegriff durchaus gesehen habe 214 . Sonst hätte Savigny nicht schreiben können, daß durch das Band des Volkes und des Staates „der Einzelne an das Ganze der Menschheit angeknüpft (werde), lange ehe er ein Bewußtsein davon haben kann" 2 1 5 . Savigny habe deshalb den Begriff des Volksgeistes eingeführt. Mit dem Volksgeistbegriff habe er den - untauglichen - Versuch unternommen, die naturalistische Ansicht von Recht und Staat mit der ethisch-juristischen zu versöhnen 216 . 207

Savigny, System, Bd. 1, S. 23 (§ 9). Ebd., Bd. 3, S. 311 (§ 140). 209 Ebd., vgl. auch Bd. 1, S. 28 ff. (§10); vgl. auch Bd. 2, S. 245 (§ 86): „Wollte man auch ihn (den Staat - E. W.) als eine Corporation auffassen, als die Corporation aller Staatsgenossen, so würde diese gezwungene Ansicht leicht zu einer verwirrenden Gleichstellung der ungleichartigen Rechtsverhältnisse führen." 210 Das ist jedenfalls Cohens Meinung, der sich dafür auf die bereits oben zitierte Äußerung Savignys bezieht. 211 ErW, S. 237. 212 ErW, S. 237. 213 ErW, S. 237. 214 Vgl. auch Cohens positive Auszeichnung in LrE, S. 174. 215 Savigny, System, Bd. 3, S. 311 (§ 140). 208

336

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Der Begriff des Geistes versage sich aber jeder naturalistischen Bestimmung; er sei vor allem ein ethischer Begriff, der die ganz und gar unsinnliche Gestalt des sittlichen Subjekts, des Selbstbewußtseins, ausdrücke. Der Begriff des Volksgeistes sei dagegen ein „desorientierendes Symbol" 217 . „So ist aus dem Volke der,Volksgeist' geworden. Also das Naturgewächs des Volkes sollte doch nicht ausschließlich als Urheber und Schöpfer von Recht und Staat anerkannt werden. Das Volk mußte in den Volksgeist sublimiert werden. Indessen ist dadurch das Problem nur schwieriger und flagranter geworden. Ist das Volk an und für sich Geist; und hat es Geist? Worin unterscheidet sich dieser Volksgeist dann von den mythischen Begriffen des Genius und der Penaten? Der ethische Begriff des Geistes, und einen andern darf es nicht geben - der theoretische selbst erschöpft ihn nicht - der ethische Begriff des Geistes ist auf die Aufgabe des Selbstbewußtseins als Staat verwiesen; der Naturbegriff des Volkes kann dagegen auch in der Hypostasierung zum Volksgeiste nicht als der Schöpfer, nicht als der Träger dieser Aufgabe gelten. Die historische Rechtsschule wurzelt in einem Naturalismus, der sich nach der üblichen Art des Spiritualismus als solchen ausstattet und darstellt 21*" Eine Würdigung der Kritik Cohens an der Savignyschen Volksgeistlehre hat zweierlei zu berücksichtigen: Einerseits treffen die Einwürfe Cohens Savigny so lange nicht, als dieser empirisch argumentiert. Seine Volksgeistlehre ist als Rechtsquellenlehre größtenteils eine von empirischen Annahmen ausgehende Lehre über die „Entstehungsgründe des allgemeinen", d. h. des positiven Rechts 219 . Insofern Savignys Problem nicht die quaestio iuris ist, sondern die quaestio facti, vermag Cohen ihm nichts vorzuwerfen. Cohen hätte sich dann auf der erfahrungswissenschaftlichen Ebene mit der Berechtigung der Savignyschen Auffassung von der „unsichtbaren Entstehung des positiven Rechts" 220 auseinandersetzen müssen. Andererseits ist diese Rechtsquellenlehre auch normativen Charakters. Sie trifft Bestimmungen über die Geltungskraft der verschiedenen möglichen Rechtsquellen und setzt sich mit der Frage auseinander, wie das Recht beschaffen sein soll, damit es beanspruchen kann, das legitime Volksrecht zu sein. An 216

Diese Beurteilung Cohens ist scharfsichtig; vgl. dazu folgende Ausführungen Savignys in Bd. 1, S. 20: „Diese Ansicht, welche das individuelle Volk als Erzeuger und Träger des positiven oder wirklichen Rechts anerkennt, dürfte Manchen zu beschränkt erscheinen, welche geneigt sein möchten, vielmehr dem gemeinsamen Menschengeist, als dem individuellen Volksgeist, jene Erzeugung zuzuschreiben. In genauerer Betrachtung aber erscheinen beide Ansichten gar nicht als widerstrebend. Was in dem einzelnen Volk wirkt, ist nur der allgemeine Menschengeist, der sich in ihm auf individuelle Weise offenbart. Allein die Erzeugung des Rechts ist eine Tat - und eine gemeinschaftliche Tat." 217 ErW, S. 238. 21 ® ErW, S. 238. 219 Savigny, System, Bd. 1, S. 11 (§6); vgl. auch S. 14 (§ 7): „Vielmehr ist es der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt." 220 Ebd. S. 14 (§ 7).

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

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dieser Stelle setzt Cohen an und hält Savigny vor, daß der „unsichtbar arbeitende Volksgeist" 221 als affektiv-traditionales Gebilde nur einen fragwürdigen Maßstab für diese legitime Geltung des positiven Rechts abgeben kann, der im Ergebnis auf die Identifizierung von Rechtsidee und historisch gewachsenen positiven (Volks-)recht hinauslaufe 222 .

6.3.22. Lassalle Den Vorwurf, den Cohen der historischen Rechtsschule macht, erhebt er in anderer Fassung auch gegenüber Lassalle 22*. Dieser habe es zwar auf die Reform und Umwandlung des tatsächlichen Rechts und der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse abgesehen, doch habe er, im Hegeischen Denken befangen, keinen Blick mehr für die ethische Fragestellung gehabt. Auch für Lassalle sei der objektive Geist logische, nicht ethische Kategorie. Bei dieser Beurteilung Lassalles bezieht sich Cohen auf dessen „System der erworbenen Rechte" 224 , das schon im Untertitel bezeichnenderweise die Zielrichtung des Buches als „Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie" angibt. Lassalle bestimmt die Aufgabe der Rechtsphilosophie dahin, „in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials einzudringen und ihn begreifend zu gestalten", „die Rechtswissenschaft selbst vom philosophischen Gedanken aus zu entwickeln und zu erzeugen" 225 . Allerdings hat diese Auffassung von der Erzeugung der Rechtswissenschaft vom philosophischen Gedanken her nur entfernt etwas zu tun mit der Cohenschen. Lassalle zufolge gehört die Rechtsphilosöphie in das „Reich des historischen Geistes". Sie hat es nicht mit „logisch-ewigen Kategorien zu tun", sondern sie muß erkennen, daß „die Rechtsinstitute nur die Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind". 221

Savigny, System, Bd. 1, S. 56 (§ 16). Savignys Stellungnahme zum Verhältnis von Rechtsidee und positivem Recht ist entsprechend der Gesamttendenz der historischen Rechtsschule objektiv-idealistisch. In der Geschichte der Völker wird die sittliche Bestimmung des Rechts im Volksgeist in organischer Weise entwickelt. Die allgemeine Aufgabe des Rechts, die zugleich den Zweck des Geschichtsprozesses darstellt, ist Ausbildung der „Anerkennung der überall gleichen und sittlichen Würde und Freiheit des Menschen, die Umgebung dieser Freiheit durch Rechtsinstitute, mit allem was aus der Natur und Bestimmung dieser Institute durch praktische Konsequenz hervorgeht und was die neueren Natur der Sache nennen'(System, Bd. 1, S. 55, § 15). 223 Vgl. zur Einordnung Lassalle s mit umfassender Literaturverarbeitung Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle als Rechts- und Sozialphilosoph, 2. Aufl., Meisenheim 1956. 224 Lassalle, Ferdinand: Das System der erworbenen Rechte, Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie, Leipzig 1861. 225 Lassalle, Das System, S. XI, (Vorrede). 222

22

Winter

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Cohen zieht daraus die Konsequenz: „Danach aber würde sich die Rechtsphilosophie in eine vergleichende Rechtsgeschichte auflösen. Lassalle hat nur deshalb diese Konsequenz nicht gezogen, und dadurch seine Ansicht nicht selbst berichtigt, weil er in seinem System der erworbenen Rechte den Gedanken demonstriert zu haben glaubte, daß eine logische Beleuchtung, geschweige eine allgemeine vergleichende Würdigung der Rechtsgeschichte ohne die Leitung der Philosophie, ohne die Kategorien der Logik sich nicht durchführen lasse. Immer aber bleibt es auch für ihn bei der Logik. Daß es sich um Ethik dabei handele, und nicht allein um Logik, dieser Wendepunkt des Problems geht auch ihm nicht auf. Obwohl er doch Recht und Staat reformieren und umwälzen will. Daß dieses Beginnen ein Problem der Ethik sein müsse, das sieht er nicht ein. In Hegel befangen, sieht er in der Welt des Geistes nur die Welt des Begriffs; und die dialektische Bewegung des Begriffs ist auch für ihn die Weltgeschichte, die Geschichte des sittlichen Geistes 226 ." Obwohl die naturalistische Volksgeistlehre der historischen Rechtsschule und die Theorie des objektiven oder allgemeinen Geistes Hegels und Lassalles in ihrem Objektivismus und darin übereinstimmen, daß ihre Moralphilosophien das geschichtlich Wirkliche zum Vernünftigen erklären, haberi'ich entsprechend der Ambivalenz 227 des Hegeischen Diktums politisch gegensätzlich entwickelt. Das sieht Cohen klar: „Aus dem allgemeinen Geiste ist die Reform hervorgegangen, welche machtvoll und trotzig an die Revolution anpocht. Aus dem Volksgeiste aber ist die Romantik, ist die Reaktion hervorgegangen, gegen 226

ErW, S. 238 f. 227 Die revolutionäre Ausdeutung dieses Diktums hat Engels unnachahmlich formuliert: „Und so dreht sich der Hegeische Satz durch die Hegeische Dialektik selbst um in sein Gegenteil: Alles, was im Bereich der Menschengeschichte wirklich ist, wird mit der Zeit unvernünftig, ist von vornherein mit Unvernünftigkeit behaftet; und alles, was in den Köpfen der Menschen vernünftig ist, ist bestimmt, wirklich zu Werden, mag es auch noch so sehr der bestehenden scheinbaren Wirklichkeit widersprechen. Der Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen löst sich nach allen Regeln der Hegeischen Denkmethode auf in den andern: Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht" (In: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1888 (MEW, Band 21, S. 266 f.). Während Engels den Geschichtsprozeß naturgesetzmäßig faßt, beruht er für Cohen auf moralischem Gesetz. Cohens Stellungnahme repräsentiert die kantische, vordialektischidealistische Auffassung: „Der Fehler in dem Worte, mit dem Hegel seine Rechtsphilosophie einführt, liegt nicht in erster Linie in dem Nachsatze: „Was wirklich ist, das ist vernünftig." Dieser Teil des Gedankens läßt sich geschichtsphilosophisch verstehen und begründen. Lassalle hat nur gefunden, daß es Hegel nicht gelungen sei, aus der Wirklichkeit des Rechts die Vernünftigkeit herauszuarbeiten. Der Vordersatz aber lautet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich. Hier springt der Fehler der Heteronomie in die Augen. Keineswegs ist die Wirklichkeit der Maßstab und das Prinzip der sittlichen Vernunft. Keineswegs deckt sich die sittliche Vernunft mit der Wirklichkeit; das Sittengesetz mit den positiven Gesetzen der geschichtlichen Wirklichkeit in Recht und Staat. Hier zeigt sich der himmelweite Unterschied zwischen Hegel und Kant; denn Kant würde sagen: „Was vernünftig ist, das ist nicht wirklich; sondern es soll wirklich werden." Der Unterschied von Sein und Sollen unterscheidet nicht nur allgemein zwei Welten, sondern hiernach auch die Weltanschauung der pantheistischen Metaphysik, von der des ethischen, weil des theoretischen Idealismus; von der Ethik der Selbstgesetzgebung" (ErW, S. 314).

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

339

welche der Sozialismus in die Schranken trat. Die Romantik hat sich hinter den Affekt geflüchtet; denn im Unterschiede von dem Staatsrechte, als der Aufgabe des einheihen Selbstbewußtseins des Staatswillens, ist auch das Vaterland nichts anderes als der Naturtrieb, der mit allen Zweideutigkeiten eines solchen behaftet ist. Im Volksbegriffe selbst, als dem Begriffe des Vaterlandes, liegt nicht die unabweichliche Mahnung, alle Glieder des Volkes ohne Ausnahme und ohne Unterschied zu Teilhabern und zu Urhebern des Rechts und des Staates zu machen und auszubilden. Angesichts des Volksbegriffs drückt man die Augen zu über die ständischen Unterschiede, die er geschichtlich erfahre, und also auch wohl natürlich zulasse. DeOvStaatsbegriff hingegen entla viese Romantik als eine der Aufgabe der Ethik Hohn sprechende Heuchelei. Unter der Leitung des Vertrages wird der cht nur zum andern Ich, sondern zur anderen Hälfte des Ich; während er unter dem Schutze der Vaterlandsliebe der Andere bleibt, von dem der Dichter sagt: den ich lieb nicht knne; man versteht darunter: nicht kennen will 2 2 8 ."

6.3.3. Positive Würdigung

des Volksbegriffs

Cohen verwirft zwar den anthropologischen Volksbegriff für die Begründung des Staates, aber er anerkennt seine geschichtliche Bedeutung für den Prozeß der Herausbildung der Nationalstaaten. Er verurteilt den „nationalen Absolutismus" 229 , aber er respektiert die nationale Idee als Mittel zum Ziele der Staatenbildung, das auch nicht aus „einem falschen Verdacht des Naturalismus verschmäht zu werden" 2 3 0 brauche. „In diesem geschichtlichen Sinne hat sich die nationale Idee als ein Wegweiser der Staatenbildung erwiesen; aber nur in dieser methodischen Einschränkung besteht ihr Heilverfahren. Außerhalb derselben artet sie zum Gifte des Nationalismus und des Rassendünkels aus. Die nationale Idee bedeutet und bezeichnet den Wegweiser zur Einheit des Staates. Die Völker bleiben Stämme, und wenn sie noch so volkreich wären, wenn sie sich nicht in einem Staat zu vereinigen bestreben. Der Staatsbegriff ist der ethische Kulturbegriff\ Er bildet das Ziel der geschichtlichen Entwicklung 231 ." Wird der Nationalismus zum Selbstzweck, wird er Cohen zufolge nicht nur anarchisch, sich nämlich der Aufgabe des Staates widersetzend, sondern menschenverachtend. „Sobald jedoch der Volksbegriff selbständig und absolut wird, so wird er barbarisch 232 ." 228

ErW, S. 239 f. ErW, S. 241. 230 Ebd. 231 ErW, S. 241. 232 ErW, S. 241, vgl. auch ErW, S. 32 ; die schreckliche Bewahrheitung dieser These im deutschen Faschismus erlebte Cohen nicht mehr; seiner Frau kostete sie das Leben. Sie starb im Konzentrationslager Theresienstadt. 229

22*

340

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

6.3.4. Exkurs: Der Volksbegriff

im „Kritischen

Nachtrag"

Bemerkenswert ist, daß Cohen in dem „Kritischen Nachtrag" zur „Geschichte des Materialismus" von 1896 ebenso wie in der, nach der ,Ethik des reinen Willens' erschienenen, zweiten, erweiterten Bearbeitung von 1908 dem Volksbegriff eine viel stärkere, positive und selbständige Akzentuierung gibt: An der Überwindung des Naturalismus in der nationalen Idee und der „Idealisierung des Volksbegriffs'' 233 arbeite, so führt er dort aus, die moderne Geschichte. So habe der Kosmopolitismus ursprünglich nicht im Gegensatz zum Nationalismus gestanden. Mit dem Kosmopolitismus sei aber die Idee der Menschheit zur klaren Auszeichnung gelangt. Diese Menschheit war nicht als „anthropologischer Begriff' 2 3 4 gedacht worden, sondern als „sittliche Idee". Erst die Kennzeichnung der Menschheit als sittliche Idee habe es ermöglicht, ethnische Verschiedenheiten in ihrer Gleichwertigkeit zur Anerkennung und Geltung zu bringen. „Die Menschheit hat keine natürliche Realität. Sie kann ich nicht lieben, sondern nur als Idee ehren. Der Menschheit gehöre ich nicht physisch, sondern nur moralisch an. Sie ist ein sittlicher Leitbegriff der Völkergeschichte. Sie ist ein Wechselbegriff der Autonomie, der Persönlichkeit, des Sittengesetzes. Als solcher Ausdruck jeglicher Person. Im kategorischen Imperativ steht die Idee der Menschheit für das Individuum. Aber schon das Individuum darf als Person nicht atomistisch gedacht sein. Und so wird die Idee der Menschheit zum Leitbegriffe für die höhere Gemeinschaft des Volkes 235 ." Aber dieser entnaturalisierte, entromantisierte, „kritische" Volksbegriff hat seine Bedeutung nicht allein nur für die Begründung des Internationalismus und Kosmopolitismus, „als Korrelat zu dem Völkerbegriff der Menschheit 1236 , sondern entfaltet sich als Kritik der „jeweiligen politischen Wirklichkeit des eigenen Volkes" 237 . „Den bevorrechteten Ständen gegenüber vertritt sie die Idee der Menschheit im eigenen Volke. Diese Bedeutung der Nationalitätsidee entwickelt zu haben, ist das unsterbliche Verdienst Fichtes. Und es kennzeichnet die Herabgekommenheit unserer Zeit, wenn die Erneuerung dieser kräftigsten Idee unserer politischen Wiedergeburt als ein Angriff auf Staat und Gesellschaft verleumdet werden kann 2 3 8 ." Die Herausstellung, die Cohen dem kritischen Volksbegriff im „Kritischen Nachtrag" angedeihen läßt, auch noch, nachdem in der „Ethik des reinen Wil233 234 235 236 237 238

GdM, GdM, GdM, GdM, GdM, Ebd.

S. S. S. S. S.

LXXV. LXIII. LXXIII. LXXIV. LXXV.

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

341

lens" der Staatsbegriff als der „höchste, ethische KulturbegrifF' 239 als „Ziel- und Leitbegriff des ethischen Selbstbewußtseins" 240 bestimmt worden ist, verlangt nach Erklärung. Sie könnte darin liegen, daß Cohen den „Kritischen Nachtrag" schrieb, als die Konzeption der „Ethik" und die methodische Hinwendung auf die Rechtswissenschaft und das nach dem Bilde der Genossenschaft konstituierte ethische Staatswesen noch nicht bestand; und daß er auch die einschlägigen Stellen der zweiten Auflage des kritischen Nachtrags nicht mehr änderte, weil dies eine zu gründliche Umarbeitung benötigt hätte. Andererseits hat er die zweite Bearbeitung an anderen Stellen durchaus erweitert, was den Umkehrschluß erlaubt, daß er das unveränderte Kapitel über das Verhältnis der Ethik zur Politik nicht der Überarbeitung für bedürftig hielt. Die zweite, hier angeführte Erklärungsmöglichkeit wird erhärtet, wenn man Cohens Ausführungen über den „modernen Volksbegriff" als „Kulturbegriff' 2 4 1 in dem „Kritischen Nachtrag" und über den Staatsbegriff als „ethischen KulturbegrifF' 242 der ,Ethik des reinen Willens1 vergleicht. Cohens Staatsbegriff ist als genossenschaftlicher Staatsbegriff radikal demokratisch. Das haben alle Äußerungen über das Problem der Mitwirkung des Einzelnen an der Staatswillensbildung deutlich gemacht, obwohl Cohen das Wort „Demokratie" in der „Ethik des reinen Willens" und auch im „Kritischen Nachtrag" nicht ein einziges Mal erwähnt. Mit Cohens demokratisch-republikanischer Staatsidee ist aber der Begriff der Volkssouveränität gesetzt. Das Volk konstituiert die volonté générale. Ihrer staatsrechtlichen Bedeutung nach fungieren die das Volk bildenden Individuen einerseits als citoyens, als freie und im Rechte gleiche Personen, die den Gemeinwillen bilden, und als sujets, als gegenüber dem Rechte gleiche dem Gemeinwohl unterworfene Personen. Der demokratische Volksbegriff ist jener „moderne" Volksbegriff 243 , den Cohen im „Kritischen Nachtrag" zu charakterisieren versucht. Dieser Volksbegriff hat keinen naturalistischen Beigeschmack mehr. Unter der Voraussetzung der Selbstzweckhaftigkeit des Einzelnen kann das Problem der Korrelation von Individuen und Allheit nur in der staatlich verfaßten Genossenschaft, der demokratischen Republik zur Realisierung und Rechtfertigung kommen. Die „wahre Einheit des Volkes" 2 4 4 wird erst in dieser Staatsform gesichert. „Dieses höchste Ziel, die Realisierung der Volksidee, ist der Inbegriff der Aufgabe des Idealismus 245 ." Es stellt sich also das Ergebnis des Vergleichs der „Ethik des reinen Willens" und des „Kritischen Nachtrags" im Hinblick auf den Volksbegriff heraus, daß 239

ErW, S. 241. Vgl. ErW, S. 246. 241 GdM, S. LXXVI. 242 ErW, S. 241. 243 GdM, S. LXXVI. 244 GdM, S. LXXVI. 245 Ebd. 240

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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Cohen mit der positiven Auszeichnung des Volksbegriffs im „Kritischen Nachtrag" nicht den naturalistischen meint, den er in der Ethik schärfstens attakkiert und verwirft, sondern den „modernen" kritischen Volksbegriff, der das demokratisch verfaßte Volk freier und gleicher, von allen Fesseln des Naturalismus emanzipierter Rechtsbürger meint. Die „mangelhafte Ausführung der inneren, sachlichen Korrelation des Volksbegriffs zum Staatsbegriff' ist dahin zu verbessern, daß die Einheit des Volkes als ein „Grundgedanke der politischen Sittlichkeit", die „Einheit des Staates" bedeutet. „Der Staat ist der ethische Faktor im Blutsbegriff des Volkes 246 ."

6.3.5. Das Verhältnis des Gesellschaftsbegriffs

zum Staatsbegriff

6.3.51. Die „doppelte Gebrauchsgeschichte" des Gesellschaftsbegriffs Das Problem des Verhältnisses von Staatsbegriff und Volksbegriff, das die Romantik in der Weise bestimmt hatte, daß der Staatsbegriff „auf der geschichtlich absoluten Gemeinschaft des Volkes" 2 4 7 beruhte, wird in der sich an Rousseau anschließenden Sozialphilosophie seit Ende des 18. Jahrhunderts verdrängt durch das Problem des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Der Begriff der Gesellschaft ist Cohen zufolge auf einen Namen getauft, der eine „doppelte Gebrauchsgeschichte" 248 hat: es gibt einen ethischen und einen realistischen Begriff der Gesellschaft 249 . Mit der mangelenden Unterscheidung beider Begriffe hängen die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zusammen. Begriffsgeschichtlich läßt sich der ethische Begriff der Gesellschaft bis in die römische Zeit zurückverfolgen. „Schon die societas, die in der römischen Rechtssprache das Companiegeschäft bedeutet, ist in der Stoa die societas generis humani, aus welcher in dem späteren Gelehrtenlatein die socialitas sich abzweigte. Während die Verbindung von Menschen zu einer Corporation als universitas sich bestimmte und gliederte, gießt in der societas der moralische, der revolutionäre Blutstropfen, obwohl sie nur ein Rechtsverhältnis bedeutet: societas jus quodammodo fraternitatis in se habet. Und die Assoziation bildet auch rein juristisch ein Moment des Fortschritts im Recht. Dieser Rechtsfortschritt ist auch ökonomisch mit dem Begriff des Eigentums geltend gemacht worden. Vornehmlich aber liegt seine reformatorische Bedeutung in der idealen Vereinigung zur societas gentium, societas humana, wie sie im 17. Jahrhundert zur erneuten Diskussion gelangt. Dieser ethische Begriff der Gesellschaft ist zuförderst für die Theorie des Naturrechts der treibende Fak246

ErW, S. 32. ErW, S. 240. 248 GdM, S. LXVI. 249 Diese Unterscheidung bestätigt Manfred Riedel in seiner differenzierten begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu den Begriffen „Bürgerliche Gesellschaft" und „Gesellschaft", „Gemeinschaft", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 719-800; S. 801-862. 247

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

343

tor, während das Altertum die Zweideutigkeit der Rechte und des Rechts an dem Begriffe des Gesetzes zum Ausdruck brachte. Das bloße Recht ist das Gesetz. Dem geschriebenen Gesetz aber tritt das ungeschriebene als erste Form der mahnenden Idee entgegen. Diese Idee ist seit der Stoa, die in so vielen Fragen der Renaissance die historische Schatzkammer ist, die Idee der Gesellschaft. Es darf wohl als unverzeihlichster Übermut bezeichnet werden, wenn diese Kraft und Würde der Gesellschaftsidee in den Fragen des Rechts verleugnet wird. Die Rechtsordnung ist die Ordnung der Wirtschaft. Die Wirtschaft aber ist bei günstiger Auffassung ein Naturzustand der Menschen. Der Naturzustand aber gilt dem selbständig gewordenen Ethiker nicht mehr als der ideale, den er in der Schule des Naturrechts bedeutete. Die Natur ist uns nicht mehr, wie im Zeitalter Rousseaus, die Bürgin des Ideals. Und wie wie unter Natur jetzt eine zweideutige Quelle verstehen, die positive sittliche Kraft dagegen allein bei der Idee suchen, so mußte auch der Begriff der Gesellschaft ein anderer werden. Für Rousseau bedeutet Gesellschaft noch die Summe der Individuen; für uns den Ordnungs- und Leitbegriff der Individuen 2 5 0 ."

Nach dem realistischen bzw. empirischen Begriff der Gesellschaft, wie er seit der „Begründung der sogenannten Gesellschaftswissenschaft" 251 verstanden wird, „ist die Gesellschaft die eigentliche Realität, der gegenüber der Staat und seine logische Voraussetzung, das Recht, zu bloßen Abstractis sich abschatten. Jetzt gilt der Begriff der Gesellschaft nicht als die ethische Reformidee für Recht und Staat; sondern sie bezeichnet die konkrete Wirklichkeit für die Begriffe Recht und Staat. Sie wird also zum Begriffe für diejenige materiale Bedingung von Recht und Staat, welche von jeher die Ökonomie, die Wirtschaft bezeichnet. Die Wirtschaft ist das Operationsfeld des Verkehrs, den die Gesellschaft vollzieht. Sie ist die fluktuierende Assoziation von Menschen, welche jenen Verkehr der Wirtschaft vollbringen. So ist die Gesellschaft gleichsam die lebendige materiale Bedingung von Recht und Staat, der gegenüber sogar die Wirtschaft zu einer Art von Abstractum wird, zu einer Art von Ordnung, wenngleich ohne diese Voraussetzung der Norm und Kontrolle, die erst das Recht erschafft 252 ."

6.3.52. Der Gesellschaftsbegriff des Sozialismus als versteckter Staatsbegriff Der Sozialismus, in dessen Namen Cohen zufolge sich das politische Programm der neueren Zeit ausdrückt, meine nun in der materialistischen Auffassung der Geschichte, nämlich im realistischen Begriffe der Gesellschaft, eine sichere Unterscheidung für die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft gefunden zu haben. Sie sei der Ansicht, „Recht und Staat für bloße 250

GdM, S. LXVI f. GdM, S. LXIX; vgl. zur Einführung des Terminus „Gesellschaftswissenschaft" in Deutschland seit ca. Mitte des 19. Jahrhunderts Manfred Riedel, Stichwort „Gesellschaft, Gemeinschaft", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 839 ff.; dort weitere Literaturhinweise. Begründet wurde er durch Lorenz von Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, Leipzig 1842. 252 Ebd. 251

344

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

fiktive Realitäten halten zu dürfen", daß der Gesellschaft die „eigentliche Konkretheit" zukomme, der gegenüber Recht und Staat zu „Schemen und Schattenbildern werden" 253 . In dieser Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft sei zugleich aber ein politisches Programm enthalten. Wenn Staat und Recht nur „fiktive Realitäten" seien, dann sei die Determination durch ökonomische Gesetzlichkeiten die allein bestimmende. Die Ethik würde dieser Auffassung zufolge zu „sozialer Physik" 254 . Cohen kritisiert die theoretischen Grundlagen des Sozialismus, die „materialistische Geschichtsansicht" 255 . Er hält es für „falschen Realismus und Nominalismus, einerseits die Dinge hinzustellen, als Gebilde der wirtschaftlichen Triebe, andererseits aber die sittlichen Aufgaben als Schreckgespenster und gleichsam als posthistorische Mächte aus dem bisherigen Dunkel der Geschichte bisweilen wetterleuchten zu lassen" 256 . Denn wenn sich die These durchführen ließe, „daß die besseren ökonomischen Verhältnisse an sich und ausschließlich die Sittlichkeit des Menschen verbessern könnten, so würde diese These zugleich besagen, daß es kein Problem der Sittlichkeit gäbe. Der Schein des Wohlverhaltens wäre alsdann nur der Reflex des Wohlbefindens" 257 . In dieser Konsequenz liege der „logische Fehler" 258 der materialistischen Geschichtsauffasung 259 . Cohen schlägt vor, um aus dem „sittlichen Geist, der in dieser ganzen Theorie pulsiert" 260 , die Theorie zur Korrektur zu bringen, „über die Unklarheit der Stichworte hinweg die innere Verständigung zu suchen und anzustreben" 261 . Grundlage dafür müsse die Einsicht sein, daß der Materialismus „den unversöhnlichsten Widerspruch gegen den Sozialismus" 262 bilde. Wenn die sozialistische Bewegung dies nicht erkenne, so drohe ihr „darin die schwerste Schädigung, die einer Partei der Zukunft drohen kann ...: ihres eigenen Prinzips verlustig zu gehen und unrettbar zu verschwinden" 263 . Das dem Sozialismus ei253

Ebd. ErW, S. 297. 255 Diese Kritik findet sich in ErW auf den Seiten 34-36, 296-297 und in GdM auf S. LXIX-LXXI. 256 ErW, S. 36. 257 ErW, S. 296. 258 Ebd. 259 Dieser „Widerspruch" (ErW, S. 297) sei bis in Marxens Persönlichkeit zu verfolgen : „Wenn der Sozialismus eines Marx von seiner hohen geschichtlichen Warte aus die zwingende Macht der materiellen Verhältnisse eindringlich machen will, so wird er unversehens zum Satyriker. Der sittliche Feuergeist spornt seine ganze große Arbeit; die theoretische, wie die praktische. Pedantisch ist es, einem solchen Gesandten des Gottes der Geschichte die Sprüchlein der spirituellen Moral vorzuhalten; und ihm zu bedeuten, daß er die Urkraft des Ich verkannt und verleumdet habe" (ErW, S. 296). 260 ErW, S. 297. 261 ErW, S. 296. 262 GdM, S. LXIV. 263 GdM, S. LXV. 254

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

345

gene Prinzip laute: „Der Sozialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus der Ethik gegründet ist. Und der Idealismus der Ethik hat ihn gegründet 264 /' Richtig verstanden - so führt Cohen weiter aus, - sei der Begriff der Gesellschaft auch in der Theorie des Sozialismus in seiner ethischen Bedeutung eminent wirksam. Das werde deutlich, wenn im historischen Materialismus die zukünftige, die sozialistische Gesellschaftsverfassung beschrieben werde. Die sozialistische Gesellschaftsverfassung enthülle sich nämlich als genossenschaftliche Verfassung. Als genossenschaftliche Verfassung sei sie aber nicht der Rechtsform entbunden, sondern in ihr würde der sittliche Begriff des Rechts erst wahrhaftig zur Geltung kommen. Als genossenschaftliche Verfassung sei auch sie dem Problem der Korrelation von Individuum und Allheit konfrontiert; seine Lösung liege in der höchsten Form genossenschaftlicher Verfassung, dem Staat. Genau besehen sei es so, daß der Sozialismus mit seinem Ziel einer solidarisch-genossenschaftlichen Assoziation geradezu auf den Staat hinsteuere 2 6 5 . „In Wahrheit aber bedeutet die Gesellschaft nichts Anderes als den methodischen Begriff der Genossenschaft, der daher durch sie erneuert, verjüngt, zu erweiterter Wirksamkeit lebendig gemacht wird. Es steht also gar nicht so, daß durch die Gesellschaft der Staat berichtigt werden sollte, sondern es ist der echte Staatsbegriff, der in dem Begriffe der Gesellschaft enthüllt und beseelt werden so// 266 ." Dieser ethische Gesellschaftsbegriff, der die Gesellschaft als Idee einer rechtlichen Verfassung freier und gleicher Genossen faßt, ist Cohen zufolge durch Kant vorbereitet worden: „Kant hat sich als Idealpolitiker ausdrücklich auf Piaton berufen, und er ist für die Republik, die doch das Ideal aller Utopien geblieben ist, für ihre Wahrhaftigkeit und Realisierbarkeit mit wuchtigen Worten eingetreten. Er ist der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus 2 6 7 ." Das Bewußtsein dieser historischen Beziehung sei allerdings verlorengegangen, weswegen der „Rechts-Idealismus des Sozialismus" zwar „als eine Wahrheit des öffentlichen Bewußtseins" bezeichnet werden dürfe, „freilich eine solche, die ein öffentliches Geheimnis" 268 sei.

264

Ebd. 265 Nur diese Konsequenz konnte für Cohen in dem bekannten Satz des Manifests der Kommunistischen Partei liegen, den er nicht zitiert, aber wohl gekannt haben wird: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Manifest der Kommunistischen Partei, Karl Marx, Friedrich Engels, 1848, (MEW 4, S.482). 266 ErW, S. 241 f. 267 GdM, S. LXV. 268 GdM, S. LXIII.

346

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

7. Zusammenfassung: Das Problem der Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit Was Cohen als das Hauptproblem und die Hauptaufgabe der Ethik betrachtete, jenes Subjekt, von dem die Moralphilosophie handelt, nach seiner formalen Seite, als ethisches Relations-Subjekt und nach seiner inhaltlichen, als genossenschaftliches Moralsubjekt zu begründen und zu rechtfertigen, das ist in der voraufgegangenen Darstellung auseinandergelegt und erörtert worden. Unter Verwertung der „begrifflichen Konstruktionen, in welcher die Rechtswissenschaft" - als das „Faktum" einer Wissenschaft, deren Gegenstand, wie der der Ethik, Sollenssätze sind - „die Einheit der juristischen Person zu konstituieren und zu begründen vermag" 269 , versucht Cohen zu zeigen, daß das Sollenssubjekt seiner formalen Qualität nach nicht mit dem natürlichen Menschen kongruiert, sondern vielmehr eine sollensgesetzliche Relation, nämlich die Personifikation einer Normenordnung, darstellt. Diese Sollensordnung, die das ethische Subjekt darstellt, bekommt inhaltliche Bestimmtheit dadurch, daß es von der Selbstzweckhaftigkeit der durch ihre Normen verbundenen, miteinander in Beziehung gesetzten Zurechnungsträger, der Menschen, ausgeht. Cohens das ethische Subjekt konstituierende „Grundnorm" ist nicht inhaltlich leere, normlogisch geforderte, transzendentale Generierungs- und Ermöglichungsnorm, sondern ist Vertragsnorm. Grundannahme seiner Ethik ist, daß in die Regeln, die die Verhältnisse der Individuen ordnen sollen, die beteiligten Individuen müssen einstimmen können. Alle anderen Begründungsversuche des Sittengesetzes bedeuten Heteronomie und verfügen über kein sicheres Prinzip, den Grundwert des Menschen als sittlicher Person zu gewährleisten. Indem Menschen sich miteinander vertragen, anerkennen sie sich als Gleiche und Freie, sie setzen sich als den Anderen in der eigenen Person. Darin besteht der sittliche Kern des Vertrages, und in ihm liegt das inhaltliche Moment des ethischen Subjekts. Die sittliche Regelung der Verhältnisse der Menschen in ihrer Gesamtheit, das Problem der Korrelation von Individuum und Allheit, sieht Cohen ermöglicht nur durch die höchste Form einer juristischen Person, den Staat. Der Staat ist das wahrhafte Subjekt der Sittlichkeit, also nach Seiten seiner inhaltlichen Bestimmtheit, nur, wenn er konsensual konstituiert ist; wenn er so verfaßt ist, als ob er auf der Zustimmung aller Individuen beruhte; wenn er die Rechtsordnung darstellt, in die jeder einstimmen könnte, der seine Beziehungen zu allen anderen regeln sollte. „Nur der Staat stellt das Selbstbewußtsein des Menschen dar. Unter der Leitung des Staatsbegriffs der juristischen Person lerne ich es verstehen und ausüben, daß ich nicht in meiner natürlichen Individualität das Selbstbewußtsein des Willens produzieren kann; und auch nicht darin, daß ich mich in Liebe und Enthusiasmus zu den Stufen relativer Gemeinschaft zu er26GdM, S.

.

3. Kap.: Die Konstitution des Subjekts der Sittlichkeit

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weitern trachte; sondern dadurch allein, daß ich in derjenigen Bestimmtheit und Exaktheit, welche das Recht allein ermöglicht und gemäß derjenigen Allheit, welche der Staat allein als Allheit vollzieht, alles Selbstischen mich begebe und mein Ich nur in der Korrelation von Ich und Du denken und wollen lerne 2 7 0 ." Dieser Staat ist einerseits das „Musterbeispiel für das Selbstbewußtsein der moralischen Person" 271 , insoweit die einzelne Person ihre Handlungen so einrichten soll, als handele sie als staatlicher Gesetzgeber. Er ist andererseits „Leitund Zielbegriff' 272 , „Vernunftprinzip der Beurteilung aller öffentlich-rechtlichen Verfassung überhaupt" 273 . Dieser Staat existiert nicht, ist nicht der empirische Staat, sondern die Idee, bedeutet die ständige Aufgabe, ihn wirklich zu machen. In der Konsequenz dieser Auffassung liegt es, daß Cohen den Begriff der Menschheit aufgehen läßt in dem des Staates, nämlich in der staatlich-rechtlich verfaßten Menschheit. „Indem wir die Einheit des Menschen in der Einheit des Staates zu begründen suchen, reißen wir nicht etwa den Menschen von der Menschheit los; vielmehr bemächtigen wir dadurch uns des rechten Mittels, den Gegensatz zwischen dem Einzelmenschen und der universalen Menschheit zu einer wahrhaften Aufhebung zu bringen 274 ." Der Begriff der Menschheit ist Cohen zufolge nicht zu verwechseln mit dem biologischen Zweckbegriff der Menschengattung, welchem Mißverständnis Kant noch aufgesessen gewesen sei 2 7 5 und welches in unmittelbarem Zusammenhang steht mit dem zweideutigen Volksbegriff; vielmehr begreift Cohen den Begriff der Menschheit als einen ethischen Zweckbegriff: es ist die Idee der „Vereinigung der Staaten", des Menschheitsstaates. „Der Staat freilich bildet 270

ErW, S. 242. ErW, S. 246. 272 Ebd. 273 Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 261-262. 274 ErW, S. 77. 275 Cohen zufolge hat Kant bereits dieses Verhältnis von Staat und Menschheit gesehen, doch sei er in der Ausführung dieses Gedankens den Zweideutigkeiten des „Prinzips der Teleologie" aufgesessen. In der zweiten Auflage von „Kants Begründung der Ethik" führt er bei der Erörterung von Kants „Idee einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" aus: „Hier aber sehen wir Kant bei allem nicht genug zu bewundernden prinzipiellethischen Aufschwung, doch noch in dem Bannkreis der bürgerlichen Aufklärung befangen. ,Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwikkeln kann. Man sieht die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben.' Hier verrät der Begriff der Menschengattung seine Gefährlichkeit. Der biologische Begriff der Gattung ist kein logischer, kein ethischer Ersatz für den rechtlich-ethischen Begriff der Allheit, den wir nach der „Ethik des reinen Willens" zu fordern haben ... Hier aber kommt selbst die Idee der Menschheit in Gefahr, mit dem Begriffe der Menschengattung identifiziert zu werden" (KBE 2 , S. 512 f.). 271

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

für die Geschichte in allen ihren Irrfahrten doch immer den Leuchtturm; wie sehr er selbst in seiner Geschichte einen großen Abstand von seiner Aufgabe darstellen mag. Immer bildet der Staat den Rettungsanker für die Sintflut der Geschichte. Er enthält das letzte Zauberwort für die Verbindung der Menschen. Er bildet in sich diejenige Verkörperung, welche für jeden Menschen, der die Einheit der Person gewinnen will, das Vorbild bleiben muß. Wenn anders der ethische Mensch nur in der Idee der Menschheit begründet werden könnte, so muß der Staat das Urbild der sittlichen Persönlichkeit sein; denn die Menschheit ist nicht sowohl die Einheit der Völker als vielmehr die Vereinigung der Staaten 276."

276 KBE 2 , S. 503.

Viertes Kapitel

Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

1. Einleitung Das Naturobjekt verhält sich, das Moralsubjekt handelt. Das Verhalten des Naturobjekts steht unter Naturgesetzen, das Handeln des Moralsubjekts unter sittlichen Gesetzen. Das moralische Subjekt ist die Personifikation jener Sollensordnung, die im genossenschaftlich verfaßten Staat nicht nur ihr „Musterbeispiel" 1 hat, sondern auch ihren „Leit- und Zielbegriff', insofern als in ihm die Korrelation von Individuum und Allheit zum umfassendsten Ausdruck gelangt. Wie vollzieht der so verfaßte Staat, der als „Mensch im Großen" (Piaton) den „Leitbegriff des persönlichen Selbstbewußtseins"2 bildet, seine Aufgaben? Wie und wodurch handelt der Staat? Unter dieser Fragestellung versucht Cohen, nachdem das moralische Subjekt des Selbstbewußtseins konstituiert und seiner inneren Struktur nach begründet worden ist, die „Betätigungsweise", den „Stoffwechsel" 3 des sittlichen Subjekts näher zu charakterisieren und mißverständliche oder für falsch gehaltene Deutungen abzuweisen. Die Antwort auf diese Frage ist in den vorhergegangenen Erörterungen schon vorbereitet oder angesprochen worden. Wenn das staatliche Rechtssubjekt nichts als die Personifikation einer Rechtsordnung ist, dann bestehen die Handlungen dieser Person in Gesetzen. Der Staatswille vollzieht seine Aufgaben und entfaltet sich in Gesetzen als seinen Handlungen. „Die Handlungen des Staates bestehen in Gesetzen. Die Aufgabe muß als Gesetz gedacht und bestimmt werden. Der Wille des Staates bekundet sich in Gesetzen. Das Selbstbewußtsein des Staates muß daher in den Gesetzen, als seinen Handlungen, sich vollziehen und entfalten. Die Gesetze sind seine Aufgaben. In ihnen besteht die Aufgabe des Selbstbewußtseins. Der Begriff der Aufgabe wurde nicht erschöpft innerhalb der Konstruktion des reinen Willens; und so ist 1 2 3

ErW, S. 246. Ebd., S. 248. Ebd., S. 246.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

auch durch diese Konstruktion die Methode nicht erschöpft worden, das Selbstbewußtsein zu erzeugen. Der methodische Begriff des Gesetzes muß hinzukommen; die Aufgabe muß zum Gesetze werden, wenn das Selbstbewußtsein zum Leitbegriff werden soll für alle Rechtsfragen 4." Und wie der Staat „ein Mensch im Großen ist", in dem das ethische Problem der Korrelation von Individuum und Allheit zum deutlichsten Ausdruck und zur klarsten Lösung kommt, so ist das Individuum als moralisches Subjekt ein Staat in nuce. Seine Handlungen unterstehen jener sittlichen Gesetzgebung, die auch für den Staat gelten. Nicht der Charakter 5 gibt dem Individuum das sittliche Selbstbewußtsein, sondern das Gesetz. „Es gibt kein Selbstbewußtsein, welches ohne Rücksicht auf den Staat und ohne Leitung durch den Staatsgedanken des Gesetzes zu gewinnen wäre 6 ." Doch wie ist der Begriff des Gesetzes, durch das der Staat handelt, näher zu bestimmen? Dreht es sich bei den Gesetzen, in denen der Staat seinem Idealbegriffe nach sich realisiert, um Zwangsgesetze, sind es Imperative, hypothetische Urteile und was unterscheidet sie von Naturgesetzen? Cohen berührt mit dieser Frage einen Themenkreis, der zu den am meisten erörterten der jungen Allgemeinen Rechtslehre und der Staatslehre jener Zeit gehörte. Ein, oder besser: der Fundamentalbegriff des Rechts stand zur Diskussion: der Begriff Jes Gesetzes. Es machte und macht die Schwierigkeit der Behandlung dieses Themas aus, die vielfältigen inhaltlichen und formalen Aspekte, die den Begriff des Rechtsgesetzes betreffen, einerseits voneinander zu scheiden und unterscheidbar zu halten und trotzdem dabei immer deutlich werden zu lassen, wie eng die Aspekte miteinander verbunden sind und abhängen von dem Rechts- und Staatsbegriff, der ihnen zugrundeliegt. Gerade für den Gesetzesbegriff gilt das Wort Georg Jellineks, daß „oft bis in die kleinsten Einzelheiten herab die richtige Lösung staatsrechtlicher Fragen abhängt von der Erkenntnis, die man vom Wesen des Staates besitzt" 7 . Von diesem engen Zusammenhang zwischen 4 ErW, S. 247. 5 Cohen wendet sich gegen die ethische Auszeichnung des Charakters, soweit dieser Begriff, methodisch unklar, ein des Naturalismus verdächtiger Begriff ist. Deshalb verwirft er auch Kants „intelligiblen Charakter". Trotzdem anerkennt Cohen, daß unter dem Begriff des Charakters das Sachproblem in der richtigen Richtung verhandelt werde: „Auch wenn man von den Gesetzen des Staates und des Rechts abstrahiert, muß man eine feste Richtschnur für das Wollen und das Handeln fordern, wenn ein Selbstbewußtsein auch nur in dem gewöhnlichen Sinne der Einheit des Bewußtseins entstehen soll. Das ist es ja, was unter dem Begriffe des Charakters in der besten Bedeutung des Wortes gemeint und gesucht wird. Er soll die Einheit bedeuten, welche das Wollen von seiner Zwiespältigkeit und Unberechenbarkeit befreit; welche dem Handeln Sicherheit und Übereinstimmung gibt. Indessen ist aus dem Begriffe des Charakters dem des Gesetzes doch wieder Gefahr erwachsen; denn mehr noch als das Gesetz ist der Charakter von methodischen Schwierigkeiten durchflochten" (ErW, S. 251). Die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Charakters nimmt Cohen bei der Frage der Selbstbestimmung des sittl. Einzelindividuums wieder auf. 6 ErW, S. 250. 7 Jellinek, Georg: Gesetz und Verordnung, 1887, Vorrede S. X.

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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Staatsbegriff und Gesetzesbegriff ist Cohens Erörterung durchdrungen. Dabei zeichnet sie sich nicht durch Klarheit der Unterscheidungen aus, vielmehr werden die vielfachen Aspekte ineinander verschlungen, oft kaum verständlich und schwer rekonstruierbar entwickelt. Insgesamt aber belegen seine Ausführungen das, worauf in der vorangegangenen Darstellung immer wieder hingewiesen wurde: Cohen huldigt dem aus der Tradition der griechischen Philosophie übernommenen aufklärerisch-rationalen Ideal, wonach das Gesetz nicht der Wille eines oder vieler Menschen, nicht Befehl und damit heteronomer Zwang, sondern etwas Vernünftig-Allgemeines ist; nicht voluntas, nicht auctoritas, sondern ratio. Bei der Bestimmung dessen, was die Allgemeinheit des Gesetzes inhaltlich ausmacht, folgt Cohen der Rousseauschen vertragstheoretischen Staatskonstruktion: Aus dem Prinzip der Volkssouveränität folgt die Allgemeinheit des Gesetzes: wenn alle über alle beschließen, muß jeder auch der Möglichkeit nach unter die Regel, die beschlossen wird, fallen können. Die in der volonté générale gemachte Annahme, die die Allgemeinheit vom Verfahren der Beteiligung her faßt, ist, daß das Verfahren zugleich die Vernünftigkeit der allgemeinen Regel garantiert. In das Prinzip der Herrschaft des allgemeinen Gesetzes geht die weitere Annahme ein, daß die Allgemeinheit garantiert, daß alle Handlungsmöglichkeiten durch das Gesetz bestimmt und aus ihm erschließbar werden. Dem Grundsatz der Herrschaft des allgemeinen Gesetzes liegt damit die Vorstellung von der „logischen Geschlossenheit des Rechts" zugrunde. Cohen hängt als Konsequenz der Idee des Rechtsstaats auch dieser Vorstellung an und setzt sie, ohne auf die damals gerade einsetzende hitzige Diskussion zur juristischen Methode näher einzugehen, in bestimmte rationalistische Positionen der Auslegungslehre um. Cohens Ausführungen zum Gesetzesbegriff zeigen, daß er mit der entschiedenen Vertretung der Idee des Rechtsstaats als Gesetzesstaat ganz in den Spuren des vernunftrechtlichen Denkens bleibt, das glaubte, in Analogie zur deduktiv-axiomatisch verfahrenden mathematischen Naturwissenschaft die moralisch-rechtliche Verfassung der Menschen durch allgemeine Regeln normierbar machen zu können, Sicherheit und Gerechtigkeit durch Berechenbarkeit und Voraussehbarkeit herstellen zu können 8 . 8 Vgl. zur Geschichte des rechtlich-moralischen Gesetzesbegriffs: Stichwort Gesetz (Bearb. Rolf Grawert), in Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2, 1975, S. 863-922. Vgl. zur staatsrechtlichen Diskussion des Gesetzesbegriffs: Jellinek, Georg: Gesetz und Verordnung, Staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, Tübingen 1887; AnschiXtz, Gerhard: Studien zur Lehre vom Rechtssatz und formellen Gesetz, Berlin 1891 ; Haenel, Albert: Studien zum Deutschen Staatsrecht II, 2, Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne, Leipzig 1888; Wenzel, Max: Der Begriff des Gesetzes, zugleich eine Untersuchung zum Begriff des Staates und Problem des Völkerrechts, Berlin 1920; Heller, Hermann: Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: VVdDStRl 4 (1928), S. 98-135;

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

„Recht und Staat werden so aus der Sphäre der Natur herausgehoben und als die Natur der Sittlichkeit dargestellt; als das Analogon der Natur 9 ."

2. Gesetz und Zwang Aus der Problemanlage der Cohenschen „Ethik" ergibt sich zwingend, daß die Sittlichkeit ganz im Recht gegründet ist, und - wie Natorp formuliert „schon beinahe restlos auf es restringiert wird" 1 0 . Diese „monistische" Sicht der Einheit von Sittlichkeit und Recht bedingt, daß das einzelne sittliche Gesetz zugleich Rechtsgesetz ist. Cohen hat sich deshalb vor allem mit derjenigen Ansicht auseinanderzusetzen, die das sittliche Gesetz vom Rechtsgesetz unterscheidet. Bei Kant ist das Gesetz zum Schwerpunkt der Ethik gemacht. Das Sittengesetz begründet die Moralität. Die Moralität wurzelt im Gesetz, aber sie ist nicht Legalität. Der Begriff der Legalität enthält ebenfalls den Begriff des Gesetzes. „Es entsteht daraus nicht nur eine schwere Zweideutigkeit für den Begriff des Rechtes und des Staates, sondern zugleich eine nicht minder verhängnisvolle für das ganze Problem der Ethik, gerade weil und insofern sie auf dem Begriffe des Gesetzes beruht. Denn der Begriff des Gesetzes wird durch jene Legalität, der die Moralität entgegengestellt wird, unwillkürlich und unvermeidlich in Verdacht gebracht. Der Grundbegriff der Moralität ist zugleich das Wort für das Widerspiel derselben. Eine solche Zweideutigkeit darf dem Begriffe des Gesetzes nicht anhaften; sie muß von ihm entfernt werden 11 ." Die Erklärung für die „Zwitterstellung" 12 des Begriffs des Gesetzes sieht Cohen in Kants Unterscheidung von Rechtslehre und Ethik, Recht und Sittlichkeit. Im Gegensatz zur Romantik, die nach Schleiermachers Diktum, Kants MoWenzel, Max: Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: WdDStRl 4 (1928), S. 136-167; Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Berlin 1958; Kopp, Hans W.: Inhalt und Form der Gesetze als ein Problem der Rechtstheorie, 2 Bände, Zürich 1958; Zeidler, Karl: Maßnahmegesetz und „klassisches" Gesetz, Karlsruhe 1961; Huber, Konrad: Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, Eine Studie zum rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff, Berlin 1963; Roellecke, Gerd: Der Begriff des positiven Gesetzes und des Grundgesetzes, München 1969; Starck, Christian: Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, Ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, Baden-Baden 1970; Neumann, Franz: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung VI (1937), Heft 3. 9 ErW, S. 268. 10 Natorp: Recht und Sittlichkeit, S. 22. 11 ErW, S. 253. 12 Ebd., S. 254.

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rallehre für „durchaus mehr juridisch als ethisch" 13 ansah, ist Cohen der Auffassung, daß Kant die Ethik nicht entschieden genug auf die Rechtslehre bezogen, die Sittlichkeit in ihrer Rechtlichkeit bezeichnet habe. Allerdings sei dabei Kants Rechtsbegriff einem „durchgreifenden Mißverständnis" 14 unterlegen. Kant habe die Unterscheidung der metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre von der Ethik in der „Metaphysik der Sitten" nicht nur in Bezug auf die „technische Ausführung" 15 getroffen: „Das Prinzip wird ein anderes. An die Stelle des Sittengesetzes tritt der Zwang. Der Unterschied wird um so härter, als eine Vereinbarung behauptet wird: Recht und Befugnis zu zwingen, bedeuten einerlei 16 ." Cohen geht es nun darum nachzuweisen, daß der Zwang als Element des Rechtsbegriffs und des Rechtsgesetzes „gänzlich überflüssig" 17 sei und daher, weil er schwere Mißverständnisse provoziere, zu eliminieren sei. Der Grund der Einführung des Zwangs bei Kant war Cohen zufolge nicht systematische Konsequenz, sondern beruhte auf mangelnder Klarheit über die methodische Grundlegung der Ethik. So habe es Kant widerstrebt, den Lehrgehalt der ihm vorliegenden Jurisprudenz inhaltlich in Frage zu stellen. Deshalb sei er in den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre so vorgegangen, daß er aus der ihm bekannten Jurisprudenz eine eigene Metaphysik des Rechts unter Übernahme des seit Thomasius fest zum Rechtsbegriffe gehörenden Zwangsmoments rekonstruierte 18 , anstatt die Metaphysik des Rechts in der Ethik zu basieren. „So mußte er darauf beharren, den Unterschied zwischen Recht und Ethik so zu formulieren, daß bei allem Zusammenhange mit der Ethik das Recht dennoch ein eigenes Fundament empfangen sollte. Und wenn es unverkennbar war, daß der Zwang, der diesen unterscheidenden Grund ausmachen sollte, dem Grundgesetze der Freiheit zuwider lief, so sollte dies nur um so deutlicher die Unterscheidung machen. Darüber aber konnte eine große Unklarheit nicht vermieden werden, welche von Seiten der freiheitlichen Politik den Kritizismus in ein zweideutiges Licht rückte; und welche an ihrem Teile mit dazu beigetragen haben mag, daß, wie die Ziele dieses Idealismus bei dieser Kollision mit dem positiven Rechte unklar und mehrdeutig wurden, so auch die Richtungslinien nicht zum sicheren Verständnis kommen mochten. Kant hat nicht diejenige freie, unbefangene, souveräne Kritik an dem positiven Rechte geübt, ohne welche die transzendentale Kritik ihr wahrhaftes Leben und ihre machtvolle Fruchtbarkeit nicht zu entfalten vermag. Es war im Grunde nur die Scheu vor dem falschen Apriorismus, der auch das Naturrecht 13 14 15 16 17 18

23

Schleiermacher, F. E.: Kritik der bisherigen Sittenlehre, WW III, 1, S. 63. ErW, S. 255. ErW, S. 254. ErW, S. 254. ErW, S. 255. Vgl. die Ausführungen Cohens dazu in KBE 2 , S. 394.

Winter

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

ihm mißliebig gemacht hatte, aber es lag in dem Begriffe des Zwangs, an den er sich anklammerte, um eine feste Unterscheidung gewinnen zu können, ein verhängnisvoller Zauber der Verführung 19 ." Kant bestimmt Zwang als „Hindernis oder Widerstand" 20 , mithin als physikalischen Begriff. Er ist in dieser Bedeutung synonym für Gewalt. Recht als die Befugnis zu zwingen heißt so viel wie Recht als Befugnis zur Gewaltanwendung. Cohen meint, daß dieser von Kant aus „fremder Lehre angenommene" 21 Zwangsbegriff für Kants wahren Rechtsbegriff nicht systematisch zwingend und ohne ausreichende Rechtfertigung geblieben sei 22 . „Es wurde ihm der Anschein einer Naturkraft, einer Rechtskraft, weil einer Gesetzeskraft verliehen; während das Gewalttätige, das Unverantwortliche in ihm den abschreckenden Hauptsinn hat, auch behalten sollte. Welche Selbständigkeit kann das Recht gewinnen, sofern es mit der Sittlichkeit verbunden bleiben soll, wenn es auf den Zwang begründet wird? Bedarf der Zwang etwa keines Rechtsgrundes? Oder wohnt ihm etwa eine Art von axiomatischer Urkraft bei? Schon das logische Gefühl muß den Zwang widerwärtig machen. Allem natürlichen Gefühle, dem aller Glaube an das Ursprüngliche und Ewige im Menschengeiste blutsverwandt ist, widerstrebt die ultima ratio des Zwanges. Der Zwang bildet sowohl logisch wie ethisch das Ende der Vernunft 23 ." Bei Kant, so argumentiert Cohen, sei die Einführung des Zwangsbegriffs in den Rechtsbegriff nur notdürftig logisch, nicht aber ethisch begründet. So sagt Kant: „Wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, dem, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft 24 ." 19

KBE 2 , S. 398 f. Kant, GMS A 35/Β 35. 21 KBE 2 , S. 396. 22 Im Gegensatz zu Kant, so findet Cohen in der 2. Auflage von „Kants Begründung der Ethik", sei bei seinen „tiefsten juristischen Anhängern", die „von seinen Kritiken her seine Anhänger wurden" (KBE 2 , S. 394), das Moment des Zwangs als dem Rechtsbegriff nicht wesentlich erkannt worden. So habe Feuerbach schon vor Erscheinen der „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" in Anwendung des kategorischen Imperativs den Zwang nicht als physische Gewalt, sondern als Selbstnötigung, Vernunftzwang gedeutet: „Recht ist eine, durch die Vernunft bestimmte Möglichkeit des Zwangs" (Paul Johann Anselm Feuerbach: Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte, 1796, S. 259). „Diese großen Juristen, wie vor allem Feuerbach, Thibaut, selbst Hugo, haben die Anwendung, welche Kant selbst später darbot, nicht abzuwarten brauchen; und daß sie es nicht taten, das hat einen Fortschritt der Rechtswissenschaft bewirkt, welcher aus den echten Tiefen der Kantischen Methodik und des Kantischen Systems erflossen war. Sie denken in seiner Logik und in seiner Ethik; und sie reden unbefangen und ungekünstelt seine Sprache; aber sie erzeugen sich selbst die Konsequenzen dieser Logik und dieser Ethik für ihr Handwerk; für ihr Faktum von Wissenschaft. Der Zwang ist nicht auf dem Boden der transzendentalen Freiheit gewachsen" (KBE 2 , S. 395). 23 KBE 2 , S. 399. 24 Kant, MS, A 35/B 35. 20

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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Wenn aber das Rechtsgesetz, das die Handlungssphären der Einzelnen koordiniert, ein Zwangsgesetz ist, so erhebt sich die Frage, welche Bedeutung noch dem Sittengesetze verbleibt? Diese durch das rechtliche Zwangsgesetz vorgenommene Trennung von Recht und Sittlichkeit läßt den „schweren Zweifel" entstehen, daß die reine Sittlichkeit „vielmehr leer sei". „Man weiß, daß die Kantische Ethik in ihrem Sittengesetz diesem Verdikte dauernd verfallen ist; zumal der Verdacht bestärkt wurde durch das Mißverständnis der Form des Gesetzes, auf welche das Sittengesetz zurückgeführt wurde. Anstatt zu erkennen, daß aus der Form des Gesetzes der echte Inhalt des Gesetzes lauter und fruchtbar hergeleitet werden sollte, hat man die Form dem Inhalt entgegengesetzt 25 ." Aufschluß über den richtigen Sinn des Zwangs im Rechtsbegriff läßt sich gewinnen, wenn man nach der Aufgabe fragt, die das Merkmal des Zwangs dort lösen soll. Der Zwang hat die Vereinigung der Willkür des einen mit der Willkür des anderen zu vollziehen, ist das „Schlichtungsmittel" 26 der Gegensätze des einen und des anderen. Darin aber, so argumentiert Cohen, besteht auch das Problem der Ethik. „Müßte nicht daher also auch für die gesamte Ethik der Zwang zum Prinzip gemacht werden, sofern er nichts anderes bedeutet als die Vereinigung des Einen und des Andern? Es ist dies dieselbe Frage, welche wir von Anfang an gestellt hatten: Was ist die Ethik ohne das Recht 27?" Das Schlichtungsmittel aber, das in der Ethik ausgezeichnet worden ist, ist das Gesetz. Der Zwang bedeutet im Sinne der Ethik nichts anderes als das allgemeine Gesetz, das die Handlung des einen wie des anderen leitet. Das Gesetz, das sich der eine wie der andere gibt, dem sie sich unterwerfen, ist der Zwang. Indem beide ihre Handlungssphären gemäß dem Gesetz koordinieren, wird jeglicher Zwang als gewaltsame Durchsetzung des Rechts überflüssig, denn das Gesetz verpflichtet den einen wie den anderen. „Daher lassen wir füglich den Zwang fallen; denn er kann und soll und darf nichts Anderes bedeuten als das Gesetz. Wenn die Befugnis des Zwangs ein inneres Merkmal des Rechts ist, welches die Vernunft anzuerkennen hat, so geht der Zwang ebenso sehr auf den Einen wie auf den Andern. Damit aber ist man auf das sittliche Gesetz zurückgekommen, welches, ohne allen besonderen Inhalt, in seiner Form die Allgemeinheit vollzieht und darstellt, also den Widerstreit vom Einen und Andern aufhebt. Der Zwang richtet sich eigentlich doch nur gegen den Andern; denn den Einen zwingt doch schon das Sittengesetz. Wenn dieses nun aber zugleich auf den Andern bezogen ist, wie es denn gar nicht ohne den Andern gedacht werden kann, so wird der Zwang gänzlich überflüssig 28 ." Der Zwang, der im Rechtsbegriff gemeint ist, ist also nicht physische Gewalt, sondern beruht auf der Verbindlichkeit, die darin besteht, nach dem Gesetz, dessen Urheber, Ge25 26 27 28

23*

ErW, ErW, ErW, ErW,

S. S. S. S.

254. 255. 255. 255.

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setzgeber man selbst ist, zu handeln. Dieser innere Zwang ist Selbstzwang, Selbstnötigung 29 . In die Idee des Rechts gehört deshalb der physische Zwang ebensowenig wie in die Idee der Sittlichkeit. Mit der Bestimmung des Zwangs als Selbstzwang, als Zwang nach der Idee einer allgemeinen Gesetzgebung zu handeln, ist nach Cohens Ansicht „jeder Schein des Widerspruchs zwischen Zwang und Freiheit aufgehoben" 30 . Betrachtet man das Verhältnis von Ethik und Rechtslehre, Recht und Sittlichkeit unter dem Gesichtspunkt, daß der Zwang als Unterscheidungskriterium fortfällt, so wird deutlich, daß, wie Cohen es selbst ausdrückt, man sich „an einem Wendepunkt der Ethik in der Richtung zur Rechtsphilosophie" 31 befindet, ja vielmehr noch, daß Ethik und Rechtsphilosophie in ihren Grundproblemen zur teilweisen Deckung kommen müssen. Indem die Ethik als Rechtsphilosophie durchgeführt wird, wird es möglich, die von Thomasius begonnene und von Kant verfestigte Trennung von Ethik und Rechtslehre zu überwinden. Voraussetzung aber ist die Eliminierung des Zwangs aus dem Rechtsbegriff. Der Zwang „könnte nur zum Ausdruck der doppelten Tendenz, das Recht von der Ethik und die Ethik vom Rechte abzutrennen, dienen. Die Ethik würde damit gegen das historische Material des Rechts unabhängig gestellt, das Recht aber auch der Ethik gegenüber souverän. Jedenfalls wird dadurch wiederum dem Verdachte der Leerheit des allgemeinen Sittengesetzes Vorschub geleistet. Die Ethik hat ihre Unabhängigkeit von der historischen Materie des Rechts dadurch zu beweisen, daß sie an den großen Rechtsinstituten ihre methodische Kritik übt und daß sie diese Kritik fruchtbar zu machen sucht in der Forderung solcher Rechtsinstitute, welche dem unnachläßlichen Sittengesetze schlechterdings gerecht werden 32 ." In den letzten Sätzen hat Cohen auch seine Stellungnahme zum Verhältnis von Sittlichkeit und Recht, von Legalität und Moralität formuliert: Die Legalität bezieht sich auf das positive Recht. Das positive Recht stellt ohne Zweifel eine Zwangsordnung dar. Wem sollte es nämlich entgangen sein, daß „im Recht sehr viel Unrecht aufgespeichert ist? Wie konnte sich ihm die drückende Einsicht verschleiern: daß die Unzulänglichkeit der Erfahrung gegenüber der Idee ihre unzweifelhafte geschichtliche Dokumentierung findet in der Ungerechtigkeit so vieler Rechte? Es kann kein Zweifel bestehen über die richtige Fassung des Verhältnisses der Idee der Gerechtigkeit zur Erfahrung des Rechts. Das positive Recht deckt sich keineswegs mit dem idealen Recht; sondern das wirtschaftliche Unrecht, zu dessen Sanktionierung es mißbraucht wird, bringt mit diesem Nährstoff auch das Gift der Krankheit in das positive Recht. Darüber ist kein Wort weiter zu sagen"33.

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Vgl. KBE 2 , S. 395. KBE 2 , S. 395. 3 1 ErW, S. 254. 32 ErW, S. 255 f. 33 KBE 2 , S. 397. 30

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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Doch steht die Legalität nicht außer Beziehung zur Moralität. Die Rechtsform selbst stellt für sich einen sittlichen Wert dar; die Rechtsform aber wird im allgemeinen Gesetz ausgedrückt. Es kommt nun aber darauf an - und hier wird das Subordinationsverhältnis des Rechts zur Sittlichkeit bei Cohen k l a r - dem allgemeinen Gesetz seinen sittlichen Inhalt zu geben, d. h. es im Sinne der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als moralischer Person zu konkretisieren. „Nichtsdestoweniger aber gähnt darum doch nicht etwa ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen dem positiven Rechte und der Idee des Rechts: sondern in allem positiven Rechte arbeitet, gärt und treibt nichtsdestominder auch die sittliche Kraft, welche in den wirtschaftlichen Bewegungen und Einrichtungen selbst auch ein lebendiger Faktor ist. ... Der Sittlichkeit untersteht auch das Recht, und es bleibt immerdar von ihr abhängig: es kann nur auf schlimme Abwege führen, wenn man sich irgendwie darauf einläßt, der Sittlichkeit es ebenbürtig hinzustellen und scheinbar selbständig zu machen. Das Recht ist nicht der Sittlichkeit gleichwertig; aber es ist ihr immer gleichartig. Es gibt Auswüchse des Rechtes, vielleicht sogar in seinen wichtigsten Begriffen, die dem Sittengesetze durchaus widerstreiten. Dennoch aber bleibt auch in diesen Abweichungen und Abirrungen des Rechts immer auch eine Ausgeburt des sittlichen Geistes; und keineswegs ist es lediglich eine Mißgeburt der Unsittlichkeit. Es bleibt immer nicht nur im Rahmen, sondern auch im Boden der sittlichen Erfahrung 34 ." Die Legalität ist nach dieser Interpretation Cohens ein defizienter Modus von Moralität, es fällt auf sie der „Schatten einer gebrochenen Sittlichkeit" 35 . Deshalb erhebt Cohen die Forderung, daß „die Tendenz des Rechts theoretisch wie praktisch darauf gerichtet sei und auf dieses Ziel unverrückbar geheftet werde: daß auch in Recht und Staat die Legalität in Moralität allmählich sich verwandele 3." Wenn aber die Legalität sich in Moralität verwandelt hat, wenn also der Zustand eintritt, daß die Legalität und Moralität übereinstimmen, wird deutlich, daß auch das Zwangsmoment im Recht überflüssig wird, der Rechtsform nicht wesentlich ist, weil das allgemeine Gesetz von allen Individuen als das ihnen eigene Gesetz angenommen ist und alle in freier Einstimmung und Übereinstimmung „aus freiem Selbstzwang"37 handeln. Kelsen hat die Konsequenzen dieses Gedankens vortrefflich formuliert: „Wenn die Naturrechtsordnung ihrer Idee nach keine Zwangsordnung ist wie das positive Recht, so ist sie dies nur unter der Voraussetzung, daß sie, d. h. vor allem, daß die in ihrer Norm an eine bestimmte Bedingung geknüpfte Folge, nämlich das „richtige" „gerechte" Verhalten, allen Menschen, deren Verhalten diese Ordnung regelt, in gleicher 34 35 36 37

KBE 2 , S. 397 f. KBE 2 , S. 400. KBE 2 , S. 400. Kant, MS, Tugendlehre, A 9.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Weise unmittelbar evident ist, und daß diese Menschen alle den gleichen guten Willen haben, ihrer Einsicht gemäß zu leben. Fällt diese im wahrsten Sinne des Wortes utopische Voraussetzung, dann ist eine Zwangsordnung unvermeidlich^." Überschaut man Cohens Aufstellungen zum Verhältnis von Ethik und Rechtsphilosophie, Legalität und Moralität, seine Deutung des Zwangs im Gesetzesbegriff als „Vernunftszwang" oder - in seinen Worten - als „Selbstnötigung zum Staate" 39 , so erscheint es konsequent, wenn Cohen Kants Unterscheidung von Rechts- und Tugendlehre, sofern sie auf den Zwang im Begriffe des Gesetzes gegründet ist, aufgibt. Kants Festhalten am Zwangsmoment, das hat Cohen klar herausgearbeitet, beruht darauf, daß Kant den Begriff des ethischen Subjekts nicht systematisch eindeutig und klar herausgestellt hat. Bei Kant ist das ethische Subjekt, wie sehr auch der methodisch richtige Begriff durchscheint, doch immer noch das Einzelindividuum, das auch als Person der Ethik als ein „mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affiziertes Wesen" 40 ist. Deshalb wird auch, nachdem bei Kant zunächst das Prinzip der Sittlichkeit bestimmt worden ist, dieses auf den Menschen als Pflichtsubjekt des Rechts und der Tugend angewendet. Die „Metaphysik der Sitten" stellt die Anwendung des Moralprinzips dar; die Pflicht ist der Transformator des reinen Prinzips der Sittlichkeit auf den Menschen. Sobald das ethische Subjekt nicht mehr mit dem Menschen als Naturwesen kongruiert, entfällt auch die Pflichtenlehre, entfällt auch das Zwangsmoment im Rechte, denn dieses ethische Subjekt ist nichts anderes als die sittliche Gesetzgebung selbst, verkörpert den Inbegriff aller Konkretisierungen des Sittengesetzes und braucht nicht durch äußeren Zwang zum legalen Handeln und nicht durch Selbstzwang gegen die „widerspenstigen Neigungen" 41 zum tugendhaft-moralischen Handeln genötigt zu werden. Kant hat diese Konsequenz durchaus gesehen und bezeichnet. Ein solches ethisches Subjekt, wie Cohen es in seiner Ethik konzipiert hat, nennt er ein „endliches, heiliges Wesen". „Für endliche, heilige Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht einmal versucht werden können), gibt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen daß die erstere zugleich eine Autokratie derselben, d. i. ein, wenn gleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden: so daß die menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als Tugend sein kann; selbst wenn sie ganz rein (vom Einflüsse aller fremdartigen Triebfeder als der der Pflicht völlig frei) wäre, da sie dann gemei38 Kelsen, Hans: Die Idee des Naturrechts (1927/28), wiederabgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 272. 39 KBE 2 , S. 395. 40 Kant, KprV, A 58. 41 Kant, MS, Tugendlehre A 9.

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niglich als ein Ideal (dem man stets sich annähern müsse) unter dem Namen des Weisen dichterisch personifiziert wird 4 2 /' Cohen hat in seinen ethischen Schriften diese Übereinstimmung mit den kantischen „endlichen, heiligen Wesen" nie thematisiert, obgleich alle entsprechenden Folgerungen in seiner „Ethik" entwickelt sind. Von einem kategorischen Imperativ ist in der „Ethik des reinen Willens" keine Rede mehr. Das hat seinen Grund darin, daß bei Cohen das sittliche Subjekt - in der Kantischen Terminologie - einen „heiligen Willen" hat, also „einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre" 43 , im Unterschiede zum Willen des natürlichen endlichen „vernünftigen Wesens" als eines „reinen, aber als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affizierten Wesens" 44 . „Ein vollkommen guter Wille würde also eben sowohl unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genötigt vorgestellt werden können, weil er von selbst, nach seiner subjektiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperative; das Sollen ist hier am Unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist. Daher sind Imperative nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, ζ. B. des menschlichen Willens, auszudrücken 45 ." Cohens Deutung des Sittengesetzes als „Gemeinschaft moralischer Wesen" in „Kants Begründung der Ethik" und seine weitergetriebene Idealisierung und Abstrahierung in der „Ethik des reinen Willens" zum sittlichen Selbstbewußtsein als dem Inbegriff der staatlich-rechtlich verfaßten Menschheit, die den Leit- und Zielbegriff, die Aufgabe und Idee der Ethik bildet, hat in Kants „endlichem, heiligen Wesen" ihre wahre Entsprechung. Kant hat auch diese Entsprechungen ganz im Cohenschen Sinne ausformuliert: „Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl eine praktische Idee, welche notwendig zum Orbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendliche gehenden Progressus seiner Maximen und Unwandelbarkeit derselben, zum beständigen Fortschreiten sicher zu sein, daß d. i. Tugend, das Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann, die selbst 42 Kant, MS: Tugendlehre, A 9. Vgl. auch folgende Stelle: "Das moralische Gesetz ist nämlich für den Willen eines allervollkommensten Wesens ein Gesetz der Heiligkeit, für den Willen jedes endlichen vernünftigen Wesens aber ein Gesetz der Pflicht, der moralischen Nötigung und der Bestimmung der Handlungen desselben durch Achtung für dies Gesetz und aus Ehrfurcht für seine Pflicht" (KprV, A 146). 43 KprV, A 58. 44 Vgl. KprV, A 58. 45 GMS, BA 39.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

wiederum wenigstens als natürlich erworbenes Vermögen nie vollendet sein kann, weil die Sicherheit in solchem Falle niemals apodiktische Gewißheit wird und als Überredung sehr gefährlich ist 4 6 - 4 7 ." 46 Kant, KprV, A 58. 47 Cohens Interpretation des Verhältnisses von Legalität und Moralität bei Kant ist anfechtbar. Cohen geht davon aus, daß bei Kant das Recht „bei allem Zusammenhang mit der Ethik... durchaus ein eigenes Fundament empfangen sollte" (KBE 2 , S. 398). Dadurch sei der Rechtsbegriff bei Kant zwiespältig geworden und habe ihn im Anschluß an die naturrechtliche Tradition den Zwang in den Rechtsbegriff aufnehmen lassen. Gegen diese Interpretation kann vorgebracht werden, daß Cohen Kant mißversteht, wenn er ihm unterstellt, daß er die Rechtslehre habe außerhalb der Ethik begründen wollen und demzufolge die Legalität ohne Bezug auf die Moralität bestimme. Kant hat nämlich zwei Begriffe von Ethik. Die Ethik im weiteren Sinne umfaßt Recht und Sittenlehre, sie ist die „Metaphysik der Sitten". Unterhalb der Gesetzeslehre der reinen praktischen Vernunft unterscheidet Kant Rechtslehre und Tugendlehre, juristische und ethische Gesetzgebung. Die ethische Gesetzgebung, die Tugendlehre, (die Kant auch Ethik nennt, vgl. MS: Tugendlehre, Vorrede A III) ist die Ethik im engeren Sinne. Rechtslehre und Tugendlehre (also Ethik im engeren Sinne) haben zwar unterschiedliche Gesetzgebungen, sind aber zugleich besondere Formen einer allgemeinen Gesetzlichkeit, deren Prinzipien die Ethik im weiteren Sinne enthält. (Ebenso Lisser: Der Begriff des Rechts, S. 5; Natorp: Recht und Sittlichkeit, S. 4 ff.; Oncken: Smith und Kant, S. 15; Bargmann: Der Formalismus in Kants Rechtsphilosophie, S. 8; Metzger: Gesellschaft, S. 70). Während bei Kant Rechtslehre und Tugendlehre (Ethik im engeren Sinne) der Metaphysik der Sitten (Ethik im weiteren Sinne) unterstellt ist, erscheint es in der Cohenschen Interpretation so, als sei die Rechtslehre unabhängig von der Ethik im weiteren Sinne begründet. Bei Kant liegt das Schwergewicht auf der Unterscheidung des Inhalts von Rechts- und Tugendlehre. „Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedenen Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet. Die ethische Gesetzgebung (die Pflichten mögen allenfalls auch äußere sein) ist diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann Die Ethik hat freilich auch ihre besonderen Pflichten (ζ. B. die gegen sich selbst), aber hat doch auch mit dem Rechte Pflichten, aber nur nicht die Art der Verpflichtung gemein So gibt es also zwar viele direkt-ethische Pflichten, aber die innere Gesetzgebung macht auch die übrigen, alle und insgesamt, zu indirekt-ethischen" (MS BA 17/18). Bei Kant ist also die Legalität, die juridische Gesetzgebung, nicht zu verwechseln mit der Legalität des positiven 'Rechts, vielmehr betrifft die Frage nach der Legalität die „Art der Verpflichtung", nicht den Inhalt, zu dem verpflichtet wird. Dieser wird durch die Ethik im weiteren Sinne bestimmt. Mit Cohen allerdings ist zu argumentieren, daß bei dieser Bestimmung des Verhältnisses von Rechts- und Tugendlehre, Legalität und Moralität der Zwang für den Rechtsbegriff nicht notwendig gefordert ist. Die juridische Gesetzgebung ist dadurch von der ethischen Gesetzgebung unterschieden, daß sie als äußere objektiv bestimmt, was zu wollen, wie zu wollen sei, während die ethische Gesetzgebung als „innere" auf den Gesinnungsgrund, auf die Triebfeder geht, die eine Handlung bestimmt, mag die Handlung eine „äußere" (nach außen wirkende) oder eine „innere" (in der Gesinnung des Handelnden verbleibende) sein. (Vgl. dazu Natorp: Recht und Sittlichkeit, S. 6). Im Sinne dieser Unterscheidung ließe sich sagen, daß Legalität das sittliche Gesetz als objektive Verpflichtung, also den Geltungsaspekt von der Allheit her begründet, während die Moralität das sittliche Gesetz als subjektive Verpflichtung, also den Geltungsaspekt des objektiv sittlichen Gesetzes aus der Perspektive des verpflichteten Individuums bestimmt. Diesen Gedanken verfolgt auch Natorp in „Recht und Sittlichkeit", S. 16 ff. Gegen solche Interpretation ist allerdings Kants deutliches Wort ins Feld zu führen, wonach „die Tugendpflicht ... von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden (ist), daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht." (MS: Tugendlehre A 9).

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

361

3. Gesetz und Imperativ

Nach der Abweisung des Zwangs aus dem Rechtsbegriff und damit aus dem Gesetzesbegriff 48 prüft Cohen, ob das Gesetz als die Handlungsform des Staates begrifflich als Imperativ charakterisiert werden kann. Als Ausgangspunkt dieser Betrachtungen dient ihm der Terminus der Rechtsnorm 49 , der seit den siebziger Jahren 50 des vorigen Jahrhunderts als Grundbegriff der verschiedenen Versuche der Aufstellung einer allgemeinen Rechtslehre Anerkennung gefunden hatte und dort dem Gesetzesbegriff gegenüber als Oberbegriff fungierte. Die Norm, die ursprünglich das Winkelmaß bedeutete, wurde schon in der römischen Rechtssprache als Vorschrift, Richtschnur und Handlungsanweisung aufgefaßt. Binding 51 hat diesen Sinn des Normbegriffs in seiner Normentheorie für die Strafrechtswissenschaft und Rechtstheorie fruchtbar gemacht. Sein Ausgangspunkt war das Erstaunen darüber, daß alle Welt davon ausging, daß ein Strafgesetz „übertreten", „verletzt" oder „gebrochen" werde, obwohl doch nach dem klaren Wortlaut der Gesetzesbestimmungen dieses durch eine strafbare Handlung nicht verletzt, sondern vielmehr erfüllt wird. Seine Konsequenz aus dieser Entdeckung lautete: Wenn der einzelne Rechtssatz dem Rechtsunterworfenen nichts vorschreibt, sondern nur feststellt, daß auf die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen eine bestimmte Rechtsfolge eintreten solle, so muß die Richtschnur oder Handlungsanweisung, nämlich die Norm, durch die das Recht seine Adressaten leiten will, erst durch eine Umwandlung des Rechtssatzes in Erfahrung gebracht werden. „Die verbindliche Richtschnur des HanCohens Kritik des Zwanges bei Kant muß in seinem tiefen Grunde in Zusammenhang mit seiner Kritik an Kants unzureichender Bestimmung des sittlichen Subjekts gesehen werden. Sofern das sittliche Subjekt nicht mehr, wie bei Kant, als ein vernünftiges Wesen, das auch mit sinnlichen Begierden affiziert ist, begründet wird, sondern als heiliges Wesen, d. h. als die praktische Vernunftgesetzgebung überhaupt, muß auch der Zwang als der der Pflicht, die auf den empirischen Menschen bezogen ist, korrespondierender Begriff fallen. Die Entscheidung, ob Cohens Kritik des Kantischen Verhältnisses von Legalität und Moralität gerechtfertigt ist, läßt sich nur vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Fragen fällen. 48 Vgl. zu diesem Zusammenhang Kelsen, Hans: Allgemeine Rechtslehre, § 10 a (S. 47): „Denn jede Rechtsnorm muß die Natur des ganzen Rechts zum Ausdruck bringen, um Rechtsnorm zu sein: ... Ist aber das Recht eine Zwangsordnung, dann ist jede Rechtsnorm eine zwanganordnende Norm." 49 Vgl. zum Verhältnis von Rechtsnormbegriff und Gesetzesbegriff Ulrich Meyer-Cording: Die Rechtsnormen, 1971, besonders S. 1 ff., S. 17 ff., S. 23 ff., S. 30 ff. 50 Der Erfolg des Normbegriffs ist wohl auf Bindings Untersuchung „Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts", Bd. 1, Leipzig 1872, zurückzuführen. 51 Binding, Karl: Die Normen und ihre Übertretung, Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts, 1. Bd.: Normen und Strafgesetze, 1. Aufl. Leipzig 1872, 2. Aufl. 1890, 3. Aufl. 1916. Vgl. zu Binding auch Armin Kaufmann: Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, Normlogik und moderne Strafrechtsdogmatik, Göttingen 1954.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

delns, welche der Verbrecher überschreitet, ist das rechtliche Verbot oder Gebot als solches, ohne irgendwelche Hinweisung des Handelnden auf die Rechtsfolgen, welche an die Handlung als an deren Bedingung geknüpft sind. Dieses Gebot finden wir durch eine Umwandlung des ersten Teils unserer Strafrechtssätze in einen Befehl: nicht zu handeln, wie es daselbst bezeichnet ist. Diesen Befehl werde ich die Norm nennen 52 ." Die Auffassung, die Rechtssätze insgesamt als Normen, nämlich Imperative in der Form von Geboten oder Verboten zu betrachten, ist in Fortführung Bindingscher Überlegungen von Thon begründet worden. „Mögen auch oftmals die Gebote und Verbote des Rechts äußerlich nicht als solche erscheinen und sich erst mittelbar aus den Folgen bestimmen lassen, die ihrer Übertretung gedroht sind; begrifflich liegt doch in jedem Rechtssatz ein Imperativ, ein praeceptum legis, oder, wie wir heute zu sagen pflegen, eine Norm Das gesamte Recht einer Gemeinschaft ist nichts als ein Complex von Imperativen 53 ." Cohen wendet sich entschieden gegen diese Ausdeutung der Rechtsnorm als Befehl. Wiewohl Cohen mit den Anhängern der Imperativentheorie 54 Thon und Bierling darin übereinstimmt, daß der Zwang kein Merkmal des ethischjuristischen Gesetzesbegriffes 55 ist, lehnt er die Auffassung von der Imperativischen Natur der Norm ab. Zwar konzediert er, daß sich die Norm „am bequemsten und natürlichsten in der Form des Imperativs" 56 ausdrücke, doch hält er es für einen Fehler, allein auf „die sprachliche, grammatische, stilistische Form" 5 7 abzuheben. Man dürfe nicht so sehr auf die Satzform der Norm ach52

Binding: Die Normen, Bd. 1, S. 30 f. Thon, August: Rechtsnorm und subjektives Recht. Untersuchungen zur Allgemeinen Rechtslehre, Weimar 1878, S. 3, 8. 54 Vgl. schon Jhering, Rudolf von: Der Zweck im Recht, Band 1,1. Aufl. 1877, S. 339 ff. (337); Bierling, Ernst Rudolf: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, 1. Band 1877, 2. Band 1883; ders.: Juristische Prinzipienlehre, Band 1 (1894), Band 2 (1898); weitere prominente Anhänger der Imperativentheorie sind: Binder, Julius: Philosophie des Rechts, 1925, S. 698 ff.; Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, S. 73 ff.; Engisch, Karl: Die imperative Theorie, (Diss.) 1923, Gießen; ders.: Einführung in das juristische Denken, 6. Aufl. 1975, S. 22 ff.; dort weitere Literatur, S. 195 f.; zur Diskussion und Kritik der Imperativentheorie vgl. Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 201 ff.; Engisch: Einführung in das juristische Denken, S. 24 ff.; ders.: Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 33 ff.; Ldrenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 235 ff.; kritisch ebenfalls: Hart, H. L.: Der Begriff des Rechts, (englische Ausgabe 1961), deutsch: Frankfurt 1973, S. 34 ff. 55 Es wird nicht immer deutlich gesehen, daß die imperative Auffassung des Gesetzes, deren Gegenstand vornehmlich die formal-logische Analyse der Rechtsnorm ist, von der inhaltlichen Auffassung der Rechtsnorm als Zwangsnorm bzw. sanktionsbewährter Norm zu unterscheiden ist. Bierling und Thon beharren darauf, daß der Zwang kein „konstituierendes, ursprüngliches Merkmal des Rechts" ist (Bierling: Zur Kritik der juridischen Grundbegriffe, Bd. 1, S. 143, § 105). Bierling führt weiter aus: „Aus dem Bedürfnis der Geltungsbewährung folgt jedoch durchaus nicht unmittelbar das Bedürfnis der Zwangsanwendung. Die beste Bewährung einer Norm als geltende Norm ist stets die freie Erfüllung derselben. Wo also letztere seitens aller Verpflichtungen mit Sicherheit / u erwarten ist, da kann ein Bedürfnis der Zwangsanwendung gar nicht aufkommen" (S. 145, § 106). 53

56 57

ErW, S. 256. Ebd.

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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ten, als vielmehr auf den „Rechtsgrund" 58 der Norm. Der Rechtsgrund der Norm enthülle erst den wahren Begriff der Norm. Der Rechtsgrund der Norm aber wird von Cohen bestimmt als die Selbstnötigung, als der Vernunftzwang zum Staate, wonach jeder sein Handeln so einzurichten habe, als handele die Menschheit (der Staat) in seiner Person, als sei er der allgemeine Gesetzgeber. Cohens Kritik der Imperativentheorie, das belegt die Frage nach dem „Rechtsgrund der Norm", ist nicht normlogisch-formal motiviert - er anerkennt ja, daß die Norm sich „am bequemsten und natürlichsten" als Imperativ ausdrücke - , sondern materiell-ethisch. Für ihn impliziert die Imperativentheorie eine Auffassung des Rechts, die dieses allein als Inbegriff von Befehlen denkt. Die Befehlsform verfehlt für Cohen jedoch den ethischen Begriff des Gesetzes, weil es danach so scheinen könnte, als sei das Gesetz heteronom, als beruhe es auf einem auswärtigen Oktroi 59 , nicht aber auf der Selbstgesetzgebung des sittlichen Individuums. „Wenn sie aber als Imperativ sich ausdrücken darf, so ist der Grund der Norm ebensowenig in dem Befehle zu erkennen, wie der Grund des Gesetzes in dem Zwange. Diese Spitze des Befehls wird schon dadurch abgestumpft, daß Niemand übrigbleibt, dem nicht befohlen würde. Es ist Niemand von dem Gesetze, von der Norm ausgenommen. Das Recht befiehlt ebensosehr dem Einen wie dem Andern, wie es auch den Einen ebensosehr zwingt wie den Andern. Man darf daher auch nicht zu viel Wert auf die sprachliche Form des Gesetzes legen, sofern sie sich in „Wir verordnen" darlegt. Dieses Wir schließt eben den Gesetzgeber, der das Winkelmaß anlegt, ebenso ein wie alle die Anderen, auf die der Eine ebenso bezogen ist wie sie auf ihn. Daher ist es auch unnötig und unzweckmäßig, wenn Bierling „Du sollst" auflöst in „Ich will, Du sollst". Bierling verlangt ja selbst richtigerweise Anerkennung, wenigstens indirekte für das Recht. Dann kann aber auch jedermann an sich selbst den Ruf ergehen lassen: Du sollst; und er braucht dazu nicht erst das Ich des Gesetzgebers hinzuzunehmen. In seiner Anerkennung, die erfordert wird, gibt

58

Ebd., S. 257. Bierling wendet sich im Anhang des 2. Bandes zur „Kritik der juristischen Grundbegriffe", S. 348, gegen das Mißverständnis, daß Imperativ und Befehl bei ihm gleichsinnig verwendet würden. Als Konsequenz seiner Anerkennungstheorie hat bei Bierling der Imperativ seinen Geltungsgrund in der allseitigen Anerkennung des Gesetzes durch die Rechtsgenossen." Bei näherer Erörterung über den Gesetzesbefehl ist im Anschluß an Binding der Ausdruck „Befehl" so häufig als identisch mit „Imperativ" gebraucht worden, daß hieraus leicht der Schein entstehen könnte, als betrachtete ich diese beiden Ausdrükke als ganz allgemeinhin identische. Dies ist natürlich nicht meine Meinung. Der Ausdruck „Imperativ", obgleich von imperare abgeleitet und als Bezeichnung einer bestimmten Sprachform am besten mit „Befehlsform" zu übersetzen, reicht doch zweifellos viel weiter als der Ausdruck „Befehl". Alle Befehle sind Imperative, aber nicht jeder Imperativ, d. h. nicht jeder Satz, der Imperativische Form hat, oder m. a. W. der ein an andere sich richtendes Wollen ausdrückt, ist darum schon Befehl. Vielmehr ist „Befehl" nur der Imperativ, der aufgrund einer anerkannten oder angemaßten Autorität, d. h. eines anerkannten oder angemaßten Anspruchs auf Gehorsam einseitig an andere gerichtet wird". Bierling wiederholt seine Verwerfung der Identifizierung von Imperativ und Befehl in „Juristische Prinzipienlehre", Bd. 1, S. 27, Fußnote 3. 59

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

sich eine Befugnis zur Verordnung kund. In der Aufgabe seines Selbstbewußtseins, werden wir sagen dürfen, liegt der Rechtsgrund der Norm 60 ." Es könnte jetzt den Anschein haben, als treffe Cohens Kritik die Imperativentheorie nicht, weil er ihre methodischen Absichten mißversteht und verfehlt. Soweit nämlich die Imperativentheorie verstanden wird als Theorie der formalen, logischen Struktur der Rechtsnorm, kümmert sie die Frage nach dem materiellen Geltungsgrund, welche Cohen im Auge hat, nicht. Wenn Cohen es ablehnt, den „Rechtsgrund der Norm" im heteronomen Befehl auszuzeichnen, so bleibt die Imperativentheorie von dieser Kritik unberührt, sofern sie die Norm lediglich unter dem Aspekt ihrer Form betrachtet. Wenn man aber berücksichtigt, daß die Imperativentheorie eine Frucht des rechtswissenschaftlichen, naturrechtsfeindlichen Positivismus war, der mit seiner Aushöhlung des materiellen Gesetzesbegriffs und der Propagierung des jeder Inhaltlichkeit entledigten formalen Rechtsnormbegriffs die Verbindung zum klassischen materiellen Gesetzesbegriff der Rechtsphilosophie und Ethik, die in der Allgemeinheit des Gesetzes ein inhaltliches Kriterium für das sittliche Handeln des Staates sah, abgeschnitten hatte, wird Cohens Kritik an der von ihm vornehmlich als Befehlstheorie aufgefaßten Imperativentheorie plausibel. Während für die Imperativentheorie das Gesetz als ein Typus von Rechtsnorm, als logisches Problem der Einordnung in die Klasse der universellen Im-

60

ErW, S. 256 f. Cohen hat sich - so ist anzunehmen - bei seinen Ausführungen zur Imperativentheorie an E. R. Bierlings „Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe" orientiert. Daß die sprachliche „Form unserer modernen Gesetzestexte" (Bierling, S. 14, Bd. 2), nicht den wahren Charakter der Rechtsnorm enthülle, wird bei Bierling an mehreren Stellen ausgesprochen (vgl. ζ. B. Bd. 2, § 129, (S. 14); § 256 (S. 286 ff.). Hinsichtlich des „Ich will, Du sollst" bezieht Cohen sich vermutlich auf folgende Stelle im 2. Band der „Kritik der juristischen Grundbegriffe" (§ 256, S. 288 f.), in der Bierling seine Kritik an der Zitelmannschen Auffassung von der Aussageform der Norm zusammenfaßt : „Hiermit ist aber auch zugleich der eigentliche Kern des Unterschiedes von Urteil und Imperativ angedeutet. Das Urteil ist immer Ausdruck einer Überzeugung, eines Wissens von etwas, der Imperativ ist dagegen Ausdruck eines Wollens, einer Zwecksetzung und zwar mit der Maßgabe, daß der Wollende (oder als wollend Gedachte) sich nicht selbst, sondern einem Andern den Zweck setzt, d. h. diesen Andern zur Aneigung desselben zu bestimmen sucht. Freilich kann auch ein Wollen seinen sprachlichen Ausdruck nur in der Gestalt finden, in welcher es dem Wollenden selbst zu Bewußtsein kommt und darum zugleich auch nur als Ausdruck dieses Bewußtseins. Und sofern der Wollende nicht nur den Willensinhalt, sondern zugleich sich selbst als wollend denkt, ist der Ausdruck dieses Bewußtseins, oder m. a. W. der Satz: „Ich will" stets ein Urteil. Allein der Imperativ bildet in jedem Satze „ich will, du sollst" (oder „ich will, daß du ...") nur das Objekt zu dem Prädikate „will" und wo er selbständig auftritt, ist das „ich will" (oder „der und der will" usw.) stillschweigend hinzuzudenken." Vergleicht man diese Zitatstellen mit Cohens Darstellung, wird klar, daß Cohen auf Bierlings normlogische Auseinandersetzung mit Zitelmann gar nicht eingeht, sondern das Beispiel verwendet, um zu verdeutlichen, daß das allgemeine Gesetz das Ich wie das Du verpflichtet und die Trennung von Befehlsgeber (Ich) und Befehlempfänger (Du) für den ethischen Begriff des Gesetzes Heteronomie bedeutet.

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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perative 61 in den Blick kommt, geht es Cohen um die Auszeichnung des Sinnes der Allgemeinheit, welche dem klassischen materiellen Begriff des Gesetzes wesentlich ist 62 . Allerdings ist die Imperativentheorie in der Fassung, wie sie Cohen bei Bierling vorfand, nicht allein Theorie der logischen Form der Norm, sondern hängt eng mit einer materiellen Theorie der Geltung der Normen, nämlich der Anerkennungstheorie, zusammen. Da die Bierlingsche Imperativentheorie die Sanktionsanordung nicht für ein Essentiale der Rechtsnorm ansieht, hat sie das Problem zu lösen, wie der sanktionslose staatliche Rechtsnormengeber die Verpflichtung auf Seiten des Individuums herbeiführt, wie „der im Imperativ enthaltene" Wille des Gesetzes zum Willen des Subjekts wird 6 3 . Den Grund der verpflichtenden Kraft des Gesetzes sieht Bierling darin, daß das Subjekt sich dem Gesetze unterwirft, indem es dasselbe anerkennt. Aus der Anerkennung der Norm folgt die „Pflicht des Anerkennenden zur Befolgung" 64 . Nur wenn also das Subjekt den Normimperativ anerkennt und übernimmt, d. h. für sich zur Richtschnur des eigenen Handelns macht, wird für die Rechtsnorm die Sanktionsanordnung überflüssig. Während aber bei Bierling die Anerkennung als materieller, d. h. faktischer und zugleich ethischer Geltungsgrund des Gesetzes sozialwissenschaftlich-empirisch begründet 65 wird, indem die Anerkennung als „dauerndes, habituelles Verhalten in Beziehung auf die betreffenden (d. i. die anerkannten) Rechtsgrundsätze" 66 bestimmt wird, rechtfertigt Cohen die Norm durch einen nur ethischen Begriff der Anerkennung, als Anerkennung der Gesetzgebung in der Person des Andern, als „Aufgabe des Selbstbewußtseins". Während es bei Bierling so scheint, als sei es der heteronome Normbefehl, der anerkannt wird, insistiert Cohen darauf, daß Anerkennung im Sinne der Ethik nur Anerkennung der auf die Gesamtheit bezogenen autonomen Normen bedeuten darf 67 . Was Cohen als methodisch zwar nicht sicher bestimmten, aber im Grundgedanken durchaus erkannten, positiven ethischen Gehalt der Imperativischen 61 Vgl. dazu Kelsen, Hans: Zum Begriff der Norm, Festschrift für Hans K. Nipperdey, München 1965, S. 57-70; Kelsen unterscheidet die universelle Norm von der individuellen; die erste nennt er Sollregel, die letzte Befehl. 62 Vgl. mit ähnlicher Intention heute Krüger, Herbert: Allgemeine Staatslehre, 2. A u l l 1966, S. 286 ff., der das Gesetz als „die beste Gestalt der Norm" auszuzeichnen versucht. 63 Vgl. Kelsen: Hauptprobleme, S. 350. 64 Bierling: Zur Kritik, Bd. 1, S. 144. 65 Zu Recht betont Kelsen: Hauptprobleme, S. 353 ff., daß bei den Vertretern der Anerkennungstheorie wie Bierling und Jellinek u. a. keine scharfe Trennung des „psychologischen und ethischen Moments" (S. 354) stattfinde. 66 Bierling: Zur Kritik, S. 7. 67 Eine sehr aufschlußreiche Verbindungslinie zwischen den juristischen Anerkennungstheorien des 19. Jahrhunderts und der modernen Kommunikationsethik zieht Klaus Lüderssen in seiner Einleitung zu: Seminar: Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität. Bd. 1 : Strafgesetzgebung und Strafrechtsdogmatik, hrsg. von Klaus Lüderssen und Fritz Sack, Frankfurt 1975, S. 15 ff.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Anerkennungstheorie begrüßt, die Aufweisung des materiellen Geltungsgrundes der Rechtsnormen i n einem ethisch orientierten Begriff der Anerkennung, die Voraussetzung der N o r m a n e r k e n n u n g als Voraussetzung von Gemeinschaftsbildung überhaupt, das w i r d von Kelsen i n viel präziserer Zusammenb i n d u n g der Voraussetzungen als „juristisch überflüssig, methodisch unzul ä n g l i c h " 6 8 verworfen. W i e schon i n einigen anderen Fällen gezeigt, läßt sich an Kelsens kritisch-destruktiv gemeinten Ausführungen, w e n n man sie positiv liest u n d sie ihres psychologischen Fundaments entkleidet, die Cohensche Intention bis i n ihre Konsequenzen recht genau herauslesen. „Wer das innere Wesen der Anerkennungstheorie, den Anlaß, dem ihre Entstehung zuzuschreiben ist, das theoretische Bedürfnis, dessen Befriedigung sie dient, durchschaut, dem muß sich die unabweisliche Erkenntnis aufdrängen, daß die Theorie, welche die Verbindlichkeit der Staatsgesetze auf die Anerkennung durch die Rechtsgenossen gründet, nur eine Spielart der alten naturrechtlichen Vertragstheorie ist. Unter dem Namen der Anerkennungstheorie hat der längst totgeglaubte, von den Vertretern der modernen Rechtswissenschaft mit Recht so bekämpfte Gedanke des contrat social fortgelebt. Es ist die gleiche Problemstellung, die zur Fiktion des Gesellschaftsvertrages und zu der der Anerkennung geführt hat. Die Frage nach dem Grunde der Staatsautorität, der verpflichtenden Kraft der staatlichen Normen, das mißverständlich an die Rechtswissenschaft gestellte Postulat einer materialen Rechtfertigung statt einer bloß formalen Konstruktion der staatlichen Rechtsordnung hat bei der naturrechtlichen Schule und bei den modernen Theoretikern des positiven Rechts die gleichen Theorien veranlaßt; und der gleiche Grundgedanke ist es, der in beiden nur dem Namen nach verschiedenen Theorien das gestellte Problem löst. Von der ethischen Voraussetzung ausgehend, daß das Individuum nur durch das eigene Willensgebot verbunden werden kann, glaubte die naturrechtliche Schule auf eine Mitwirkung des Individuums bei der Begründung der Staatsautorität, die sich in den verpflichtenden Rechtssätzen äußert, nicht verzichten zu können Dies ist der eigentliche Sinn des naturrechtlichen Axioms, daß nur Verträge rechts- und pflichtbegründend seien. Das sittliche Prinzip der Selbstverpflichtung ist das der Vertragstheorie ebenso wie der Anerkennungslehre innewohnende rechtfertigende Moment 6 9 ."

4. Rechtsgesetz u n d Naturgesetz Nachdem Cohen für den Begriff des ethisch-juristischen Gesetzes den Zwang u n d den Befehl als konstituierende M e r k m a l e abgelehnt hat, treibt er die Auseinandersetzung m i t der Rechtstheorie seiner Zeit weiter u n d untersucht das von Zitelmann aufgeworfene Problem, wie weit die formale S t r u k t u r der Gesetze als Urteil, d. h. als Aussagesatz bestimmt werden kann. Zitelmann 70 hatte die These aufgestellt, daß der Rechtssatz von derselben logischen S t r u k t u r wie das Naturgesetz sei; er habe n ä m l i c h die F o r m eines hypothetischen Urteils: „Das objektive Recht selbst aber ist n u r eine Reihe von Urteilen (Wenn - so), also Ist - Sätzen 7 1 ." „Jeder einzelne Rechtssatz behauptet eine Kausalverbindung zwih8 69 70 71

Kelsen: Hauptprobleme, Kelsen: Hauptprobleme, Zitelmann, Ernst: Irrtum Zitelmann, Ernst: Irrtum

S. 315. S. 375 f. und Rechtsgeschäft, 1879, S. 201 ff. und Rechtsgeschäft, S. 208.

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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sehen gewissen Tatsachen und einem Sollen im Sinne des Verpflichtetseins einer Person . . . Jeder Rechtssatz lautet: Wenn ..., so sollst Du 72 ." Cohen hält Zitelmanns Auffassung für akzeptabel insoweit sie behauptet, daß der Rechtssatz seiner formal logischen Form nach Urteil 7 3 ist. Doch er verwirft diese Ansicht, soweit sie den Rechtssatz als hypothetisches Urteil mit der logischen Form des Naturgesetzes auf eine Stufe stellt 74 . Weder sei die Rechtsnorm eine Beschreibung von Rechtsverhältnissen, wie Mill die Rechtsnorm charakterisiert hatte, noch sei die Norm eine Bedingungsgleichung, aus welchen die hypothetischen Urteile der Naturwissenschaften beständen. „Das Recht beschreibt jedoch keineswegs lediglich Verhältnisse und Einrichtungen; sonst könnten die Normen nicht Rechtswirkungen zur Folge haben, abgesehen von den Strafen. Das Recht erhebt Forderungen, von deren Erfüllung Rechtswirkungen abhängig gemacht werden; deren Erfüllung Rechtswirkungen zur Folge haben. Dieses konsekutive Verhältnis greift über die Beschreibung hinaus, welche dem bloßen Indikativ zusteht. Aber die Rücksicht auf die Folge, welche der Norm eigentümlich ist, unterscheidet sie auch von den Urteilen über die Natur. Mit dieser Rücksicht auf die Folge hängt jedoch noch eine andere Schwierigkeit zusammen, welche den ßegriff der Norm zu dem des Naturgesetzes zu nivellieren droht. Die Norm wird demzufolge als Bedingung gedacht, wie sie denn auch ausdrücklich oder latenterweise in der logischen Struktur der Bedingung errichtet wird. Wenn sie aber Bedingung ist, so wird sie zum Naturgesetz, welche als Bedingung formulierbar wird. Man meint, der Rechtsnorm dadurch zu dem höchsten logischen Werte zu verhelfen, wenn man sie mit dem Naturgesetze auf eine logische Stufe bringt. Man übersieht jedoch, daß darüber die Unterscheidung von Ethik und Logik verlorengeht; und was kann alle Logik der Rechtswissenschaft helfen, wenn sie darüber der Ethik verlustig gehen muß? Hier muß also ein Fehler vorliegen; die Normen dürfen nicht schlechthin als Urteile gelten 75." Wenn Rechtsgesetz und Naturgesetz gleichermaßen ihrer logischen Form nach als Bedingungsgesetze charakterisiert werden, so liegt Cohen zufolge der Fehler für diese Gleichsetzung darin, daß der Begriff der Bedingung äquivok gebraucht werde. 72

Ebd., S. 222 f. Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Zitelmannschen Urteilstheorie Bierling: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Bd. 2, S. 259-304; Kelsen, Hans: Hauptprobleme, S. 255-263 ; Max Wenzel: Der Begriff des Gesetzes, Berlin 1920, S. 103-106; Binder, Julius: Philosophie des Rechts, S. 714 ff. 74 Der Gedanke der Vergleichbarkeit der logischen Struktur von Norm und empirischer Hypothese wird neuerdings wieder vertreten von Philipps, Lothar: Der Handlungsspielraum, 1974. Philipps nimmt die Metapher Poppers beim Wort, daß Naturgesetze als universelle Verbote begriffen werden können und versucht, diesen Gedanken für die Auszeichnung der logischen Struktur der Rechtsnorm fruchtbar zu machen (vgl. S. 15-57). 7 5 ErW, S. 257. 73

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In der „Logik der reinen Erkenntnis" hatte Cohen den Begriff der Bedingung als der Kategorie der Relation zugehörige, konstitutive Urteilsart ausgezeichnet. Der Begriff der Bedingung war Voraussetzung für die Konstituierung des „sachlichen Begriffs der Natur" 76 : Während nämlich die naive Anschauung meint, daß die Natur durch die Sinne offenbart werde, zeigt die transzendentale Inquisition der Naturwissenschaft, daß die Natur intelligible Konstruktion ist, die mit Hilfe von Bedingungsgleichungen entworfen wird. Die Naturgesetze in Form von hypothetisch bedingten Urteilen sind Aussagen darüber, wie sich Naturverläufe verhalten. In ihnen werden beobachtbare Sachverhalte miteinander verknüpft und deren funktioneller Zusammenhang beschrieben. Naturgesetze sind Hypothesen, die einem tatsächlichen Geschehen unterstellt werden, um es erklärbar zu machen. Naturgesetze zielen auf den sachlichen Begriff der Natur, d. h. auf die Explikation beobachtbarer Sachverhalte. Erfüllt die als hypothetisches Urteil formulierte Rechtsnorm diesen Sinn für den sachlichen Begriff des Rechts? Ist diese Rechtsnorm die intelligible Konstruktion, die in den Rechtsstoff hineingelegt wird, um ihn zu erklären? „Was wäre denn damit gewonnen, wenn die Norm als Bedingung gelten dürfte, wenn man dies aus dem Gesichtspunkt der Überspannung des Naturgesetzes so ansieht? Nichts als eine bloße Tautologie wäre damit ausgesprochen. Das Recht besteht in den Normen. Diese werden, wir wollen es einmal so annehmen, in Bedingungssätzen formuliert. Also sind die Normen Bedingungen. Und was bringen diese Bedingungen zustande? Welchen Inbegriff von Verhältnissen konstituieren sie? Die Antwort ist: das Recht. Ist dieses Recht aber, welches nun so als der Inbegriff der Bedingungen, die die Normen bilden, herauskömmt, etwas Anderes als das Abstractum des Rechtes, welches von Anfang an als in den Normen bestehend definiert wurde? Welcher neue Begriff kann sich so ergeben 77 ?" Offensichtlich liegt hier eine andere Beziehung vor, hat der Begriff der Bedingung eine andere Bedeutung als diejenige, die ihm für den Naturbegriff zukommt, verlangt der Begriff der Norm eine andere Deutung als jene des Naturgesetzes. Die ethisch-juristische Norm behauptet nicht ein wirkliches Geschehen, sie beschreibt und erklärt es nicht, vielmehr schreibt sie ein Geschehen vor, indem sie ein bestimmtes zukünftiges Verhalten fordert; sie expliziert nicht, sondern sie prädiziert; sie statuiert, wenn die Randbedingungen vorliegen, was geschehen soll. Doch die Folge ist nicht die raumzeitlich beschreibbare notwendige Wirkung der Randbedingungen, sie ist nur eine geforderte. Die Rechtsfolge wird nicht notwendig bedingt 78 .

76

Ebd. ErW, S. 258. 78 Vgl. zum Verhältnis von Norm und Naturgesetz, Kelsen, Hans: Hauptprobleme, S. 3-33; Winkelband, Wilhelm: Normen und Naturgesetze, in: Präludien, 1. Auflage, Freiburg 1884, S. 211 ff.; Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie, München 1960, S. 60; Rupert Schreiber: Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin 1966, S. 14 ff.; Georg Henrik von Wright: Norm and Action. A logical inquiry, London 1963, S. 2 f. 77

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In der „Rücksicht auf die Folge" 79 , die in der Norm geltend gemacht wird, sieht Cohen das entscheidende Unterscheidungsmerkmal des Normbegriffs im ethisch-juristischen Sinne zum Begriff des Naturgesetzes. Während im Naturgesetz einem beobachtbaren Ereignis das Merkmal der Wirkung als Folge einer bestimmten Ursache zugeschrieben wird, handelt es sich bei der Rechtsfolge nicht um die durch den Tatbestand kausierte Wirkung, sondern um eine Handlung, die wirklich gemacht werden soll. Das Naturgesetz hat Geltung, wenn sich die in ihm behaupteten Zusammenhänge regelhaft verknüpfter Ursachen und bestimmter Wirkungen bewähren, wenn das Naturgeschehen sich diesem Zusammenhang entsprechend verhält; das Rechtsgesetz gilt unabhängig von den beobachtbaren Wirkungen, die es haben mag. Für die Rechtsgeltung, für die normative, die Soll-Geltung bleibt die tatsächliche Wirkung bedeutungslos80. Die Rechtsfolge, jene mit der kausierten Wirkung des Bedingungsgesetzes verglichene ganz andere Art von „Wirkung" 8 1 , auf die es bei der Norm ankommt, soll nicht einen Erfolg konstatieren, sondern soll einen Erfolg, ein Geschehen, eine Handlung hervorbringen; soll etwas Neues verwirklichen, ohne daß es darauf ankommt, ob es jemals verwirklicht werden wird. Diese in der Rechtsnorm enthaltene Forderung impliziert ein Zeitverhältnis, wie es schon in dem Worte Vor-schrift sich ausdrückt. Die Rechtsnorm hat menschliches Handeln zum Gegenstand; durch die Rechtsnorm wird ein bestimmtes Handeln gefordert; die Forderung kann sich immer nur auf ein zukünftiges Handeln beziehen, weil nur die Zukunft für die Handlungsrealisationen des Individuums offen ist. Cohen meint nun, im Begriff der Zukunft den adäquaten Ausdruck für die Charakteristik der Norm und ihre prinzipielle Differenz zum Naturgesetz gefunden zu haben. „Es ist der Begriff der Zukunft, dem wir schon von Anfang an auf der Spur waren; der im ganzen Gebiete des Willens von maßgebender Wichtigkeit ist und der nun auch bei der Norm die Entscheidung mit sich führt. Die Rechtsnormen sind darum nicht Indikative; nicht Urteile; nicht Aussagen über ein wahrhaftes Sein, welches, als solches auf alle Zeit sich beziehen muß, weil sie vorzugsweise sich auf die Zukunft beziehen. Sie können, sie müssen auf die Zukunft sich beziehen, weil sie auf Handlungen sich beziehen und nicht auf Bewegungen, Vorgänge und Geschehnisse. Eine solche Rücksicht auf die Zukunft, geschweige ein Vorwiegen derselben liegt dem Naturgesetze fern. Schon die Unterscheidung der Gegenwart von der Vergangenheit fällt außerhalb seines Bereiches. Gänzlich außerhalb seiner Tendenz aber 79

ErW, S. 257. Zur Unterscheidung der Begriffe von Geltung, Wirkung und Anwendung vgl. Kelsen: Hauptprobleme, S. 13 ff.; zur Unterscheidung von Seins-Geltung und Soll-Geltung der Rechtsnorm vgl. Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 444 ff. 81 Gegen die Zitelmannsche Darstellung der Rechtsfolge als einer kausal gedachten Rechtswirkung vgl. Binder: Philosophie des Rechts, S. 903 ff.; dazu auch Engisch: Einführung in das juristische Denken, S. 35 ff. 80

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liegt die Rücksichtnahme auf die Zukunft, wie sie der Begriff der Handlung fordert. Die Norm hat es überall mit Wirkungen zu tun, die durch Handlungen herbeizuführen sind; sie somit durchaus der Zukunft angehört. Daher bildet das Problem der rückwirkenden Kraft des Gesetzes ein so wichtiges Kriterium. Der Begriff der Norm wird dadurch in Frage gestellt, und es erfordert allen Aufwand der juristischen Theorie und Technik, um diesen Schein zu zerstreuen. Durch diese Beziehung auf die Zukunft, welche für den Begriff der Norm Bedingung ist, wird der Unterschied vom Naturgesetze und vom naturwissenschaftlichen Urteile klargestellt. Die Zukunft darf hier nicht als ein nebensächliches Moment der Zeit gedacht werden. Die Zukunft tritt in Gegensatz zur Vergangenheit und zur Gegenwart. Auf diesen Gegensatz kommt es an bei dem Gesetze 82 ." Der Zukunftsaspekt bleibt für das Naturgesetz ohne spezifischen Belang; es beansprucht, für alle Zeit zu gelten. „Gehorcht" die Natur dem Gesetze nur ein einziges Mal nicht, ist das Gesetz aufgehoben. Diese Aufhebung des Naturgesetzes, seine Nichtbewährung aber ergreift Vergangenheit wie Zukunft; es hat in Wahrheit zu keiner Zeit Geltung gehabt. Das Rechtsgesetz wird nicht dadurch aufgehoben, daß ihm nicht gehorcht wird. Es beansprucht Geltung, selbst wenn gegen es dauernd und vielfach verstoßen wird. Der Geltungsanspruch des Rechtsgesetzes zielt grundsätzlich auf die Zukunft, aber die Zukunft steht nicht außer Verhältnis zur Gegenwart. Das, was das Rechtsgesetz vorschreibt, das künftig Gesollte hat einen gegenwärtigen Sollenssinn 83 . Die in der Gegenwart geltende Norm legt die Verhaltensanforderungen an den Einzelnen fest, es zeichnet ihm eine normativ strukturierte Zukunft vor. Der Auszeichnung der Zukunft als dem prinzipiellen Unterscheidungsmerkmal der ethisch-juristischen Norm gegenüber dem Naturgesetz könnte der Einwand gemacht werden, daß das Problem des spezifischen Geltungsmodus der Norm, des Sollens, der Soll-Geltung der Rechtsnorm vermengt wird mit dem Problem des zeitlichen Geltungsbereichs von Normen, der Seins-Geltung der Rechtsnorm 84 . Dieser Einwand ist berechtigt, sofern er aufgrund der Untersuchung der einzelnen Merkmale der Vielzahl unterschiedlicher positiver Normtypen das reine Sollensmoment vom Aspekt der Zeitgeltung der Norm unterscheidet; er greift aber zu kurz, wenn er jegliche Beziehung zwischen dem Geltungsmodus des Sollens und dem Zeitmodus der Zukunft leugnet. 82

ErW, S. 264 f. Vgl. Husserl, Gerhard: Der Rechtsgegenstand, Berlin 1933, S. 156. 84 Diese Unterscheidung zwischen dem Sollen als dem spezifischen Geltungsmodus der Norm (Soll-Geltung) und dem zeitlichen Geltungsbereich (Seins-Geltung) ist heute wohl kaum bestritten; wichtig für die Herausarbeitung des Sollensmodus: Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, 1892/93, S. 1 ff. (S. 9); Kitz: Seyn und Sollen, 1869, S. 74; Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 7 ff.; Reinach: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, S. 117 ff.; zum heutigen Stande vergleiche Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 444 ff. 83

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Daß etwas sein soll, beinhaltet, daß ein nicht vorhandener Sachverhalt wirklich werden soll. Das Sollen zielt mithin auf die Produktion eines Zukünftigen, auf die Erzeugung eines zukünftigen Ereignisses oder einer zukünftigen Handlungsreihe. Das Sollen verbraucht sich jedoch nicht in der Verwirklichung des Geforderten, in der Zukunft, sondern greift über es hinaus und bleibt auf die Zukunft bezogen. Selbst im rückwirkenden Gesetze ist dieser Zukunftsbezug des Sollens nicht völlig ausgelöscht: Ein rechtlich zunächst irrelevantes vergangenes Ereignis erhält Rechtsqualität; ein rechtsneutrales geschehenes Verhalten wird zur Rechtshandlung, es werden bestimmte Rechtsfolgen an einen vollzogenen Sachverhalt geknüpft. Diese der Vergangenheit angehörigen Tatsachen werden durch die Normierung so behandelt, als ob in ihnen die Realisierung eines Gesollten antizipiert worden sei. In der Umdeutung, Neudefinition durch das rückwirkende Gesetz steckt derivativ der Zukunftsbezug des Sollens. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war dieser Begriff des Rechtsgesetzes als einer „Regel für die Zukunft" durchaus noch im allgemeinen Bewußtsein. So schreibt der Staatsrechtler H. A. Zachariä in seinem „Deutschen Staats- und Bundesrecht" : „Zum Gesetz gehört wesentlich Allgemeinheit der Vorschrift und daß es eine Regel für die Zukunft aufstelle... Der Gesetzgeber kann, was sich schon nach dem Begriff des Gesetzes ganz von selbst versteht, nur für die Zukunft, nicht für die Vergangenheit verpflichtende Normen aufstellen 85 ." Mit der Entleerung und Formalisierung des Gesetzesbegriffs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gerät diese Einsicht in den Zusammenhang zwischen . Sollen und Zukunft zunehmend in Vergessenheit. Wie der Gesetzgeber in den Anwendungsmöglichkeiten des Gesetzes durch einen bestimmten Begriff des Gesetzes nicht gehindert werden konnte, so reagierte die Rechtswissenschaft auf diese Instrumentalisierung des Gesetzes. Der Begriff des Gesetzes wurde allmählich aller rechtsinhaltlichen Elemente entkleidet; der Akzeptierung des Unterschiedes von formellem und materiellem Gesetz ging im juristischen Positivismus einher die Konzentration der Allgemeinen Rechtslehre auf die Untersuchung der logischen Struktur des neuen rechtlichen Grundbegriffs der Norm. Bei Simmel und bei Kelsen wird das Sollen der Norm zu einer „ursprünglichen Kategorie" 86 , zu einer nicht mehr analysierbaren unmittelbaren Bewußtseinsgegebenheit87. In der auf Reinach zurückgehenden Charakterisierung der Rechtsnorm als Bestimmungsnorm 88 ist dieser Zukunftsbezug des 85 H. A. Zachariä: Deutsches Staats- und Bundesrecht, 2. Bd., Göttingen 1842, S. 83, S. 87; vgl. auch Rotteck, in: Staatslexikon, hrsg. von Carl von Rotteck und Carl Weicker: „Gesetze sind Bestimmungen in abstracto, nach Begriffen und für zukünftige Fälle" zit. nach Weicker: Stichwort Gesetz, Altona 1897, Bd. 5, S. 705. 86 Simmel: Einleitung, S. 8. 87 Vgl. Kelsen: Reine Rechtslehre, S. 5. 88 Vgl. Reinach, Adolf: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, 1913, S. 117 ff.

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Geltungsmodus des Sollens noch spürbar, auch wenn er von Reinach geleugnet wird. Die Bestimmungsnorm ist zwar „zeitlich beliebig datierbar" 89 , doch zugleich sagt er, daß „sie auf Grund eines objektiven Seinsollens etwas ganz Neues (setzt): ein bestimmungsgemäßes Seinsollen" 90 . Wie oben bei der Frage der Rückwirkung des Gesetzes schon angesprochen wurde, beinhaltet die Neubestimmung, die normative Definition, das Herstellen einer neuen Sachlage, auch wenn sie in die Vergangenheit reprojiziert wird. Darin steckt das unauflöslich futurische Element des Sollens als Sinn des Sollens 91 . 89

Ebd., S. 124. Ebd. 91 Der Zusammenhang von Sollen und Zukunft kann in der rechtsphilosophischen uild rechtstheoretischen Literatur über den ethisch-juristischen Geltungsbegriff, welche zwar die Unterscheidung des Problems der Soll-Geltung von dem der zeitlichen Sein-Geltung der Norm betont, doch nie ganz verleugnet werden. So wird betont, daß, da Normen Vorschriften für menschliches Verhalten seien, die Normadressaten regelmäßig wissen müssen, was von ihnen verlangt wird. Nur dann könnten sie ihr Verhalten danach einrichten. „Daraus folgt, daß die Rechtsnormen grundsätzlich für die Zukunft gelten, verbindlich sind." (Nawiasky: Allgemeine Rechtslehre, 1948, S. 88); Wundt, Wilhelm: Ethik, 3. Aufl. Stuttgart 1903, Bd. 1, S. 6, sagt: „Die Norm ist eine Regel, die sich nicht auf die Beurteilung bereits gegebener Tatsachen, sondern auf die Hervorbringung zukünftiger bezieht." Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 14: „Für die spezifische Soll-Geltung der Norm bleibt die Realisierung ihres Zwecks bedeutungslos. Damit hängt zusammen, daß sich die Norm ihrem Zwecke und ihrer Wirkung nach stets nur auf künftige, nicht auf vergangene oder gegenwärtige Handlungen bezieht." Binder, Julius: Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 712: „Rechtssätze, (sind) darauf berechnet, verstanden und befolgt zu werden; ... sie (sind), wenn auch vielleicht als ein Niederschlag von Erfahrungen und Erkenntnissen der Vergangenheit, doch nicht nach der Vergangenheit, sondern nach der Zukunft hingewendet;... sie (werden) stets nur in der Zukunft der Vergangenheit, d. h. in der immer neuen Gegenwart angewendet und in die ungemessene Zukunft hineingelten, bis sie beseitigt werden." 90

Wenn die Norm sich „grundsätzlich" auf zukünftiges Verhalten bezieht, auf seine Planung, Lenkung und Leitung, so hat die Soll-Geltung eine „spezifische Funktion" bzw. einen spezifischen Sinn für die Struktur der Norm, mit der diese Aufgabe bewältigt werden soll. Dem phänomenologischen Rechtsphilosophen Gerhard Husserl sind im deutschen Sprachraum die tiefblickendsten Untersuchungen zum Verhältnis von Recht und Zeit, Sollen und Zukunft zu verdanken. In der Untersuchung „Der Rechts-Gegenstand", Berlin 1933, heißt es: „Ein Zukünftiges ist „da", indem es auf die Gegenwart zurückbezogen ist. Jede Zukunft ist Zukunft einer - dieser - Gegenwart. Für das Recht kann ein Zukünftiges nicht anders denn als Sein-sollendes zur Gegebenheit gelangen. Im Recht gilt: Was sein wird, ist, was de jure sein soll. Wer an einem zukünftigen Zeitpunkt so sich verhalten soll, hat (als heute daseiender Rechtsgenosse) eine normativ vorgezeichnete Zukunft, die seinem rechtsgenossenschaftlichen Dasein zuzurechnen ist. Das künftig Gesollte hat einen gegenwärtigen Sollenssinn. Er entspricht der geltenden Norm, die das Sollen auferlegt" (S. 156). Und in „Recht und Zeit" führt Husserl aus: „Indem der Gesetzgeber Verhaltensnormen aufstellt, nimmt er eine Vorausverfügung über die Zukunft der Menschen vor, die diese Normen angehen. Er antizipiert ein Stück Zukunft. Alle Zukunft ist, was sie ist, gesehen vom Boden einer bestimmten Gegenwart. Ein Hinübergreifen in die Zukunft, (wie das der Gesetzgeber tut), heißt Wertungen und Stellungnahmen der Gegenwart zeitlich nach vorwärts projizieren" (S. 27). „Im Gesetz selber, als einem Akt schöpferischen Planens, lebt aber die Idee einer offenen Zukunft" (S. 55). Das Bewußtsein von der Bedeutung der Zukunft für den Begriff des ethisch-juristischen Gesetzes ist im französischen Rechtsraum wachgeblieben. In seinem „Essai sur la structure logique du code civil français", Paris 1926, stellt Jean Ray fest: „La logique générale sous sa forme classique considère, indépendamment du temps, des notions et des qua-

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Die Charakterisierung des Rechtsgesetzes d u r c h den Zukunftsbezug hat bei Cohen neben methodischen Erwägungen vor allem seinen G r u n d deutlich i n Rücksichten auf das Begründungsziel seiner Ethik. Ja, m a n k a n n sagen, daß der Gesetzesbegriff recht eigentlich von daher bei i h m bestimmt w i r d . Die E t h i k hat es m i t der B e s t i m m u n g des sittlichen Selbstbewußtseins, m i t der Idee einer staatlich verfaßten Menschheit zu tun. Die Idee ist Aufgabe, an deren Erfüllung, Einlösung ständig zu arbeiten ist. Das Gesetz als Handlungsform des empirischen Staates ist auch die Handlungsform des idealen Menschheitsstaates. I h m k o m m t bei Cohen die Rolle zu, die schlechte Gegenwart zu ü b e r w i n d e n u n d das staatliche Handeln a m Ideal u n d auf das Ideal h i n zu orientieren. Cohen spricht geradezu davon, daß es für die „ethische Bedeutung des Gesetzes, wie es i n der Aufgabe des Selbstbewußtseins sich präzisiert, alles a n k o m m t auf die Emanzipation von Vergangenheit und Gegenwart" 92. Der Zukunftsbezug des Gesetzes w i r d hier unverhohlen i n einem deutlich inhaltlichen Sinne ausgedeutet. Das Sollen des Gesetzes als Anweisung für künftiges Verhalten erhält eine positiv-ethische Auszeichnung als I n s t r u m e n t des Fortschritts u n d der Zukunftsplanung, als das Mittel, sich kritisch v o n Vergangenheit u n d Gegenwart zu dilités. Les dispositions du Code civil perdraient leur sens si nous les traitions de cette manière purement statique. L'etude même des aspects, divers que revêt la règle de droit nous a déjà montré qu elle implique consideration du temps: elle n'a de sens qu'orientée vers l'avenir" (S. 146). Georges Burdeau bezieht den Gedanken vom Zukunftsbezug des Gesetzes bzw. des Sollens auf die Rechtsidee überhaupt: „Issue d'une représentation d'un ordre social désirable, l'idée de droit est toute entière tournée vers le futur. Sa substance est la résultat d'une constante anticipation de l'avenir ... Non seulement elle part d'une représentation de l'avenir, mais encore elle contribue à le créer, et, de ce caractère, découle à la fois la place de l'homme dans l'ordre juridique positif et la valeur de cet ordre lui-même. La place occupée par l'avenir dans l'idée de droit m'apparait d'une importance capitale car c'est par elle que s'établit la liaison entre le droit et le Pouvoir, entre l'ordonnacement juridique et l'ordre politique. D'autre part, c'est par la representation de l'avenir qu'elle inclut que l'idée de droit constitue le principal ciment de la cohésion sociale." (Traité de Science Politique, Tome 1, 2. ed., Paris 1966, S. 268 ff. (S. 268). Burdeau trifft mit diesen Überlegungen genau den Kern der Cohenschen Absichten. Luhmann (Rechtssoziologie, 1972, Bd. 2, S. 346, Fußnote 9) hält Burdeau vor, daß man dem abstrakten Plädoyer für den Zukunftsbezug „einen ebenso abstrakten Hinweis auf die Unentbehrlichkeit eines Vergangenheitsbezugs entgegensetzen kann". Burdeau wie Cohen geht es um die schöpferischen Potenzen des Rechts, um die Möglichkeit der „Emanzipation von Vergangenheit und Gegenwart", um das Recht als sozialreformerischen Entwurf. Von rechtssoziologischer Seite ist auf diesen Zusammenhang zwischen Sollen und Zeit neuestens aufmerksam gemacht worden durch Luhmann (Rechtssoziologie, Bd. 2, S. 343 ff.) : „Ein enges Verhältnis von Recht und Zeit deutet sich in der zeitüberbrückenden Normativität, ja im Grunde bereits im Charakter des Rechts als Erwartungsstruktur an - deutet sich an, aber ist vorerst undurchsichtig geblieben. Erwartung heißt so viel wie Zukunftshorizont des Bewußtseinslebens, Vorgreifen auf die Zukunft und Übergreifen auf das, was faktisch unerwartet passieren könnte. Normativität verstärkt diese Indifferenz gegen unabsehbare Zukunftsereignisse, intendiert diese Indifferenz und versucht damit, die Zukunft festzustellen. Was in der Zukunft geschehen wird, wird zur zentralen Sorge des Rechts. Wieviel Zukunft man braucht, um gegenwärtig sinnvoll leben zu können, ist nunmehr eine wesentliche revolutionäre Variable, die Einbruchsstelle wechselnder gesellschaftlicher Anforderungen an das Recht" (S. 343). 2 E r W , S. 2 6 .

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stanzieren und die Möglichkeiten des offenen, unverstellten Zeithorizonts der Zukunft für Veränderungen, Reformen, auszunutzen. Cohen betrachtet das Gesetz jetzt aus der Perspektive des Gesetzgebers. Die Vergangenheit hat keine Möglichkeiten mehr, in ihr sind alle Alternativen ausgeschlossen. Allein der Horizont der Zukunft ist offen, in die offene Zukunft läßt sich das sittliche Handeln entwerfen. Der Gesetzgeber braucht hier keine Rücksicht auf Tradition oder die Wechselfälle der Geschichte zu nehmen. Er kann frei planen, was unter Menschen und was für Menschen sein soll 93 .

93 Die Zusammenhänge der Zeitdimension des Rechts mit bestimmten Aspekten der Gewaltenteilung deckt Gerhard Husserl in seiner erhellenden rechtsphänomenologischen Studie „Recht und Zeit", Frankfurt 1955, S. 10-65, auf. Er ordnet dort den Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmte idealtypische Weisen menschlichen Verhaltens zu, mit denen er „temporale Wesensverwandschaften" bei den drei Gewalten entdeckt. Der Exekutive läßt er den Gegenwartsmenschen, der Legislative den Zukunftsmenschen, der Judikative den Vergangenheitsmenschen entsprechen. Zu frappierenden Übereinstimmungen mit der Cohenschen Emanzipationsethik kommt Husserl in seinen Folgerungen, wenn er die Analyse der Zeitperspektive, in der das Recht von der Exekutive, der Legislative und Judikative erfahren wird, auf bestimmte Perioden der Geschichte transponiert. „Die Einstellung des Zukunftsmenschen zur Gegenwart ist eine kritische. Nicht in dem Sinne, daß er sich von dem „heute" in einer Haltung der Verneinung abwendet. Die Gegenwart ist für ihn aber auch nicht etwas, das hingenommen werden muß, wie es nun einmal ist. Er versteht die Gegenwart als ein Werdendes: Er sieht in ihr Entwicklungstendenzen und noch unverwirklichte Möglichkeiten, die einer Verwirklichung in der Zukunft fähig und bedürftig erscheinen. Das Handeln des Zukunftsmenschen ist von einem starken Glauben an den Fortschritt getragen. Er sieht sich von Dingen umgeben, die der „Verbesserung" bedürfen. Der Zukunftsmensch ist ein Mann des Planens, der Vorentwürfe, die in Reformen, (nicht nur vorübergehender Natur) ihre Verwirklichung finden sollten." (S. 47) „Der „Zukunftsmensch" wird durch den Gesetzgeber repräsentiert. Der moderne Gesetzgeber begnügt sich nicht damit, ungeschriebenen Verhaltensnormen die Form und Festigkeit geschriebenen Rechts zu geben. Er sieht seine Aufgabe nicht darin, bloße „Rechtsbücher" oder Restatements of the Law zu verfassen. Er will neues Recht schaffen. Der Gesetzgeber glaubt an die Kraft menschlicher Vernunft, die Zukunft innerhalb gewisser Grenzen zu meistern. Er glaubt an einen sozialen Fortschritt mit Mitteln des Rechts Gewiß, auch der Gesetzgeber steht auf dem Boden der Gegenwart, aber sein Werk betrifft die Zukunft, die er in gedanklichem Vorgriff antizipiert. Sein Handeln ist von der Idee einer voraussehbaren, ja berechenbaren Zukunft getragen. Der Gesetzgeber ist ein Planender. Seine Planungen finden ihren Ausdruck in generellen Regelungen eines menschlichen Verhaltens, das als ein wiederholbares konzipiert wird. Der Gesetzgeber sieht die Zukunft als eine offene vor sich. Sie ist „offen" insofern, als sie dem gestaltenden Zugriffe des planenden Menschen offensteht" (S. 54 f.). „In Zeiten, in denen der Mensch an den Fortschritt glaubt und sich die Kraft zutraut, eine „bessere Zukunft" herbeizuführen, fällt dem Gesetzgeber eine führende Rolle im öffentlichen Leben zu. Das „Goldene Zeitalter" liegt in der Zukunft. Es führt ein Weg dahin, lang und dornenvoll, wie er sein mag. Diesen Weg beschreiten, heißt eine soziale Wirklichkeit vorentwerfen, die den Forderungen eines vernunftgemäßen Gemeinschaftslebens entspricht. Eine Zukunft, in der die Vernunft regiert, ist eine Zukunft, in der sich die Idee der Gerechtigkeit durchsetzt. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, einer so verstandenen Zukunft in konkreten Plänen für das Verhalten der Menschen im sozialen Miteinander Gestalt zu geben. Ein charakteristisches Beispiel bietet die geschichtliche Situation Europas im ausgehenden 18. Jahrhundert. Den Ideen des Zeitalters der Aufklärung entsprangen die mächtigen Impulse einer umfassenden Gesetzgebung in der Gestalt von Gesetzbüchern und tiefgreifenden gesetzgeberischen Reformen auf dem europäischen Kontinent sowohl wie in England" (S. 63 f.).

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„Da heißt es sich emanzipieren von aller sentimentalen Romantik für die Vergangenheit und von aller Anhänglichkeit an das Trägheitsgesetz, kraft dessen die Gegenwart verharrt; allen diesen Zeitmächten die Zukunft entgegenzustellen, und ihr die Entscheidung einzuräumen. Das ist die Richtung, in welcher allein das Selbstbewußtsein gedeihen und zur Reife kommen kann, als das Gesetz des Selbst 94 ." Der Zukunftshorizont der sittlichen Gesetzgebung ist unabgeschlossen, die sittliche Gesetzgebung ist als Aufgabe, Idee, Leitbegriff auf diesen Zukunftshorizont bezogen und durch keine Gegenwart einholbar. Aber die sittliche Gesetzgebung bleibt als Aufgabe zugleich auf dem Boden der Gegenwart, von der aus die Zukunft handelnd antizipiert wird 9 5 . „Die Zukunft ist das Moment des Gesetzes. Und das Selbstbewußtsein ist der Inhalt dieses Gesetzes. Das Gesetz ist das sittliche Gesetz. Das Selbstbewußtsein bedeutet das sittliche Selbst, das nur Ich ist, sofern es Wir ist. Indem das Selbstbewußtsein auf die Zukunft gestellt wird, wird die gesamte Sittlichkeit auf die Zukunft gestellt. Wir werden sehen, wie die Ethik in der Ausdeutung dieses Begriffes gipfelt. So wird durch den Begriff der Zukunft nicht nur das Recht, die Norm, sondern die Sittlichkeit überhaupt von dem Naturgesetze und von der Natur methodisch und systematisch, nämlich aus dem Gesichtspunkte des Systems der Philosophie unterschieden 96 ." Die von Cohen im obigen Zitat versteckte Ankündigung, daß seine Ethik „in der Ausdeutung des Begriffs der Zukunft gipfele", soll hier nicht weiter verfolgt 94

ErW, S. 267. Dem anderen Aspekt der Zukunftsbezogenheit, daß nämlich die offene Zukunft durch die Gesetzgebung beschränkt wird, erwähnt Cohen nicht. Vgl. dazu Husserl: „Indem sich nun aber der Mensch der Zukunft durch die Aufstellung von Verhaltensnormen bemächtigt, werden Wege aus der Gegenwart in die Zukunft, die ihm vordem offenstanden, gesperrt. Er kann sie nun nicht mehr beschreiten, ohne sich eines WillenSwiderspruchs, der den Sinn eines Normbruchs hat, schuldig zu machen. Gesetzgeberischen Lösungen sozialer Probleme haftet ein Element der Endgültigkeit an, das den Maßnahmen der Verwaltung fremd ist. Dies, sagt der Gesetzgeber, ist die richtige Lösung für alle Fälle, die im Gesetz antizipiert sind, - wann immer sie Wirklichkeit werden mögen. Das Gesetz tritt mit dem Anspruch auf, das letzte Wort in der Sache zu sein. Gesetze blockieren die Zukunft, indem und insoweit sie diese sozusagen in einem Netze normativer Regelungen einfangen." (Recht und Zeit, S. 55). Das Problem, wie weit die Normativität ihrem Begriffe nach die Möglichkeit einer offenen Zukunft verhindert und welche Folgen der Verlust von Normativität um den Preis einer offenen Zukunft willen hätte, untersucht Luhmann: „Der Preis für eine offene, möglichkeitsreiche und kontingente Zukunft ist die Enttäuschbarkeit der Erwartungen, die Unzuverlässigkeit der Struktur. Je mehr Komplexität und Kontingenz in der Zeitdimension ausgedrückt, je mehr Ereignisse und künftige Möglichkeiten der Änderung ins Auge gefaßt werden, um so stärker werden die Erwartungsstrukturen belastet, in ihrer Funktion, Ungewißheiten und Enttäuschungen zu absorbieren." (S. 117, Bd. 1) Vgl. auch folgende Stelle: „Ist Normativität des Rechts nicht gerade Negation der Zukunft als Zeithorizont, der andere Möglichkeiten offenhält? Und ist Positivität des Rechts nicht gerade Negation der Vergangenheit als Zeithorizont, der andere Möglichkeiten ausgeschlossen hat?" (Bd. 2, S. 395). ErW, S. 2 6 . 95

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werden. Doch unterstreicht dieser Hinweis die Kennzeichnung der Cohenschen Emanzipationsethik als eine Art ethischen Futurismus, dem deutlich der Stempel seiner Herkunft aus dem jüdischen Messianismus, den Cohen mit einem platonisierenden Kantianismus verschmolzen hat, aufgedrückt ist. In der Idee des Rechts, in der Aufgabe des Staats ist das vernünftige und gerechte Zusammenleben der Menschen antizipiert. Die Gesetze sind ihrer Idee nach Handlungsentwürfe, durch welche diese Aufgabe zu bewältigen ist. Ihr Sinn ist es, die in ihnen antizipierte soziale Ordnung wirklich zu machen. Dieser Sinn wird ausgedrückt durch das Sollen. Das Sollen ist die Aufforderung des Gesetzes, die in ihm bestimmte Handlung immerfort wirklich zu machen, sie zu erzeugen, wann immer die im Gesetz festgelegten Voraussetzungen vorliegen. Diesen Sinn erfüllt das Naturgesetz nicht. „Deshalb sind die Analogien mit den Urteilen und Naturgesetzen nicht bloß unrichtig, unzweckmäßig und dilettantisch spielerisch, sondern irreführend und verhängnisvoll; nicht allein für die Jurisprudenz, sondern auch für die E t h i k 9 V 5. Gesetz und Allgemeinheit Neben dem Merkmal der Zukunft betrachtet Cohen - ganz im Sinne der vernunftrechtlich liberal-rechtsstaatlichen Tradition - das Merkmal der Allgemeinheit als konstitutiv für den Begriff des Gesetzes. Das Bemerkenswerte an Cohens Ausführungen zum Begriff der Allgemeinheit besteht darin, daß er in Anwendung der methodischen Unterscheidungen aus der „Logik der reinen Erkenntnis" die Bedeutung der Allgemeinheit des Gesetzes für die Auslegungslehre herauszuarbeiten sucht. Die Erörterungen insgesamt machen klar, daß Cohen noch völlig von dem rationalistisch-aufklärerischen Ideal überzeugt ist, wonach die Allgemeinheit des Gesetzes Bürge und Garant für die unumschränkte, durch die Willkür und Laune des Einzelnen nicht mehr aufhebbare Herrschaft des Gesetzes ist. Zum Verständnis der Cohenschen Ausführungen ist zunächst anzumerken, daß das Merkmal der Allgemeinheit des Gesetzes direkt aus den vertragstheoretischen Voraussetzungen des genossenschaftlich konstruierten Staates folgt. Wenn das Gesetz der Beschluß aller über alle ist, also jeder zugleich über die anderen und sich selbst beschließt, so muß jeder unter das Gesetz fallen können; das Gesetz muß jeden Staatsgenossen betreffen können, sofern die Tatbestandsvoraussetzungen durch ihn erfüllt werden. Ohne diese Voraussetzung würden einige über andere beschließen können, ohne selbst Gesetzesunterworfene sein zu müssen. Aus der Identität der Gesetzgeber und der Gesetzesunterworfenen folgt die Allgemeinheit des Gesetzes. Die Allgemeinheit heißt Abstraktheit, nämlich Loslösung von singulär bestimmten Individuen und vom singulär konkreten Fall. ErW, S. 2 6 .

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Nichts anderes verlangt auch Rousseau: „Wenn ich sage, daß der Gegenstand der Gesetze immer allgemein ist, so meine ich damit, daß das Gesetz die Untertanen insgesamt und die Handlungen an sich ins Auge faßt, dagegen nie einen Menschen als Einzelnen und ebensowenig eine besondere Handlung. Demnach kann das Gesetz wohl bestimmen, daß es Privilegien geben soll, kann sie aber niemandem namentlich verleihen. . . . Mit einem Worte: jedes mit einem Einzelwesen vorzunehmende Geschäft ist der gesetzgebenden Gewalt entzogen98." Sobald dieser Zusammenhang zwischen der genossenschaftlichen Staatsidee und dem mit ihr gegebenen Prinzip der Volkssouveränität und dem aus ihr folgenden Merkmal der Allgemeinheit des Gesetzes nicht mehr gesehen wird, der Zusammenhang von Staatsform und Gesetzesbegriff nicht mehr erkannt wird oder die genossenschaftlich-demokratische Staatsform nicht akzeptiert wird, muß sich auch der Gesetzesbegriff ändern. Diese Konsequenz zeigt sich mit aller Deutlichkeit im monarchistischen Deutschland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für Laband, den Anführer des staatsrechtlichen Positivismus und juristischen Stabilisator des monarchischen Prinzips im preußischen Budget-Konflikt, war das Moment der Allgemeinheit „allenfalls ein Naturale, aber kein Essentiale des Gesetzes im materiellen Sinne" 99 . Wie weit Cohen die Entleerung des Gesetzesbegriffs im staatsrechtlichen Positivismus seiner Zeit mitverfolgt hat, wie weit ihm die Zweiteilung des Gesetzesbegriffs in einen formellen und einen materiellen, die schon vor Laband bekannt war, aber durch ihn vor allem ausgestaltet und zur communis opinio der konstitutionellen Staatsrechtslehre geworden war, in ihrer verfassungs- und staatspolitischen Dimension deutlich war, läßt sich der Ethik nicht entnehmen 1 0 0 . Doch wendet Cohen sich gegen das mit der Zweiteilung des Gesetzesbegriffs hoffähig gewordene Einzelfall- bzw. Individualgesetz, das aus den Prämissen des demokratischen Rechtsstaates nur schwer begründbar ist 1 0 1 . Ein solches Gesetz „verunziert den rechtlichen Charakter eines Gesetzes; es entlarvt sich als ein Tendenzgesetz, wenn es nur auf einen einzelnen Fall und eine einzelne Person zugeschnitten ist 1 0 2 ." 98

Rousseau, Du contrat social, 2. Buch, 6. Kap. Laband, Paul: Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der preußischen Verfassungsurkunde, 1871, S. 3; vgl. ebenso Laband: Deutsches Staatsrecht, Bd. 2,4. Aufl., 1901, § 54, S. 2; vgl. dazu Heller, Hermann: Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, S. 126 ff. 100 Vgl. zur Entwicklung Heller, Hermann: Der Begriff des Gesetzes, S. 105 ff.; Kopp: Inhalt und Form der Gesetze, Bd. 1, S. 12 ff. 99

101 Vgl. dazu Zeidler, Kurt: Maßnahmegesetz und „klassisches" Gesetz, Karlsruhe 1961, S. 77 ff. 102 ErW, S. 263.

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Das Merkmal der Allgemeinheit des Gesetzes, so wurde oben festgestellt, hat unmittelbar Bezug zu einem bestimmten Begriffe des Staats und des Rechts, genauer zur Idee des vertraglich konstituierten genossenschaftlichen Staats und zur Idee des Rechts als zwangfreier Übereinkunft Gleicher und Freier. Cohen sucht nun die Bedeutung der Gesetzesallgemeinheit vor allem für die Rechtsanwendung herauszustellen. Dabei zeigt sich, daß er die Lösungen der Methoden- und Auslegungslehre des juristischen Positivismus in weiten Teilen übernimmt. Dieser geht - darin mit dem Aufklärungsnaturrecht übereinstimmend - einmal von der Annahme aus, daß die Anwendung des Gesetzes ein Vorgang logischer Subsumtion sei, der, korrekt angewendet, das richtige Ergebnis wie ein Automat produziert, fernerhin davon, daß die Rechtsordnung logisch geschlossen sei, Lücken im Recht also nicht vorhanden seien. Zu dieser rechtsstaatlichen Idee von der logischen Geschlossenheit des Rechts, von einer systematisch durchgebildeten Genormtheit aller Möglichkeiten des Handelns durch den Gesetzgeber gehört, daß den Rechtsanwendenden nur die Aufgabe zukommt, den Mechanismus eines logischen Schlußschemas, in welchem das Gesetz den Obersatz bildet, in Gang zu setzen, dessen Ergebnis aber in jedem Falle die vom Gesetzgeber gewollte Entscheidung ist. Darin liegt denn auch der sittliche und inhaltliche Sinn der Idee der Herrschaft des allgemeinen Gesetzes, daß seine formale Allgemeinheit der Hebel ist, um Willkür zu verhindern und Freiheit, Gleichheit und Sicherheit zu verbürgen. Die methodische Bedeutung des allgemeinen Gesetzes in Ethik und Jurisprudenz läßt sich für Cohen aufklären durch die Auszeichnung, welche der Begriff des Allgemeinen in der „Logik der reinen Erkenntnis" erhalten hatte. Der Begriff der Allgemeinheit war dort den Urteilen der Methodik zugewiesen; als Mittel der wissenschaftlichen Forschung hatte er dort die Aufgabe, im deduktiven Beweisverfahren aus dem einzelnen Naturgesetz den Einzelfall ableitbar zu machen oder auch als induktiver Zweckbegriff den Einzelfall dem Gattungsbegriffe subsumierbar zu machen. Die logische Bedeutung der Gesetzesallgemeinheit in der Normanwendung glaubt Cohen präzisieren zu können durch den Grundbegriff der beschreibenden Naturwissenschaft, den Zweck. Die beschreibende Naturwissenschaft, die über kausalgesetzliche Beziehungen in ihrem Gegenstandsbereich nur unzureichend verfügt, arbeitet mit Zweckbegriffen. Sie konstruiert einen Begriff so, daß verschiedene in ihrer Zusammensetzung unerklärte Merkmale durch den Begriff in einen einheitlichen Sinnzusammenhang gestellt werden können. Der Zweckbegriff ist lediglich heuristischer Natur, er wird unter der Voraussetzung gebildet, als ob eine bestimmte Beziehung zwischen den unterschiedlichen Merkmalen tatsächlich bestände. Er ist focus imaginarius, methodologischer Gesichtspunkt, nach dem die Dinge so betrachtet werden, als ständen sie in einem einheitlichen Zusammenhang. Cohen ist der Ansicht, daß auch die Norm in Bezug auf ihre Allgemeinheit vergleichbar sei „dem Zweckprinzip des induktiven Begriffs" 103 . Damit meint er, 1

E r W , S. 2 6 .

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daß die abstrakt-allgemeine Norm als Anweisung dient, die empirisch vorhandenen Fälle darauf zu untersuchen, ob sie dem Typus des allgemeinen Falles entsprechen, zu ihm passen oder die Einheit des Zweckbegriffs sprengen. Mit dem Hinweis, die Norm „in Bezug auf ihre Allgemeinheit als eine Art von Zweckprinzip" 104 zu begreifen, schneidet Cohen eine Problematik an, die vorher in den methodologischen Bemühungen der Konstruktions-Jurisprudenz, genau wie später in den Erörterungen der Neu-Hegelianer zum konkret allgemeinen Begriff oder zum Typus-Begriff, - wenn auch methodisch sehr verschieden aufgefaßt, so jedoch in der Intention verwandt - eine zentrale Rolle gespielt hat. Jherings „naturhistorische Methode" bedient sich nicht ohne Grund einer der beschreibenden Naturwissenschaft entnommenen Bildersprache; in ihr geht es darum, so „wie der Naturforscher die naturhistorischen Objekte klassifiziert, die sämtlichen juristischen Körper in und zu einem System zu ordnen" 1 0 5 . Wenn „der Gattungsbegriff erfaßt und gehörig ausgebildet ist, so ist damit nicht bloß für alle jetzt bereits vorhandenen, sondern auch für alle künftig auftretenden Spezies, ein stets bereites Rechtsmaterial gewonnen" 1 0 6 . Die aufklärerische Idee von der Herrschaft des Gesetzes und der logischen Geschlossenheit des Rechts findet in dem Konstruktionsrationalismus Jherings ihre ambivalente Apotheose: „Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechts weit entdeckt, und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im übrigen von der bisherigen divergieren möge; eine solche Jurisprudenz läßt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen 107 . Die methodologischen Überlegungen der Neu-Hegelianer zum konkret allgemeinen Begriff ebenso wie die Versuche zum Typusbegriff 108 kommen mit den Bemühungen der Begriffsjurisprudenz darin überein, daß auch sie von Zweckbegriffen ausgehen. Das Stichwort lautet deshalb: Teleologische Begriffsbildung; die regulative Idee ist: den Rechtsstoff, die Gesetze, bestimmbar zu machen, die unabsehbar vielen besonderen Fälle als Konkretisierungen des allgemeinen Falls des Gesetzes zu erschließen. Wie sehr diese Bestrebungen in den methodischen Ansätzen verschieden sind, sie alle haben darin ihre Gemeinsamkeit, daß „die logische Kraft des Begriffs" 109 es ist, welche die Idee der Ge104

ErW, S. 263. Jhering, Rudolf: Unsere Aufgabe, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, hrsg. von C. F. von Gerber und R. Jhering, Bd. 1, Jena 1857, S. 10. 106 Ebd., S. 16. 107 Ebd., S. 16. 108 Vgl. vor allem Engisch, Karl: Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg, 1952; Kap 8: ,Die Konkretisierung als Hinwendung zum „Typus" in Recht und Rechtswissenschaft', S. 237 ff.; dort weitere Literaturverweise; vgl. auch Larenz, Karl: Methodenlehre, S. 443 ff.; ferner Irenen, Detlef: Typus und Rechtsfindung, Berlin 1971, S. 80 ff.; Hassemer, Winfried: Tatbestand und Typus. Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, Köln 1968. 105

109

ErW, S. 262.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

setzesherrschaft allein einlösen kann. „Es genügt nicht zu sagen, daß der Begriff des Gesetzes die Allgemeinheit fordere; sondern es gilt ausdrücklich zu lehren, daß die Allgemeinheit den prägnanten methodischen Sinn hat: alle Einzelheit, die dem betreffenden Problema angehört, aus sich ableitbar zu machen. Das ist der modale Sinne der Allgemeinheit. Dieser modale Sinn setzt die Allgemeinheit gleich der Notwendigkeit. Allgemein und notwendig sind immer schon zusammengedacht worden. Die Logik der reinen Erkenntnis hat es klargestellt, daß und wie sie zusammengehören. Das Beweisverfahren, wie es für die Probleme der Induktion geboten ist, ist auf den allgemeinen Obersatz angewiesen. Derselbe enthält daher keineswegs eine Erschleichung oder Vorwegnahme dessen, was erst bewiesen werden soll, sondern einfach die Anweisung und den Leitfaden, dessen sich die apodiktische Notwendigkeit, die Notwendigkeit des Beweis Verfahrens zu bedienen hat. Wenn man Alle sagt, so hat man nicht etwa die Einzelnen vorweggenommen; sondern man sagt nur Alle, um die Einzelnen zu finden; man gibt sich damit nur die Direktion, sie zu suchen. Der allgemeine Satz hat seine prägnante Bedeutung nur als Obersatz des induktiven Syllogismus 110. Wo er als deduktiver Satz ausgesprochen wird für die Probleme der mathematisch-naturwissenschaftlichen Deduktion, da liegt seine logische Bedeutung in der Grundlegung des Prinzips; nicht aber in der Form des allgemeinen Urteils. Die Allgemeinheit ist das methodische Hilfsmittel, und daher die Kategorie des induktiven Syllogismus. Vor solchem Probleme steht aller Wege das Recht; und demgemäß die Ethik, insofern sie sich verwirklicht. Welches Mittel und welche Gewähr gibt es, daß das Gesetz zu seiner logischen Grundbedeutung, zur ausnahmslosen Allgemeinheit durchgeführt werde? Das ist nicht mehr nur das vornehmlichste, intimste Anliegen der Ethik; das ist ebenso dringlich die Frage im Probleme der Norm. Und auf diese Grundfrage erteilt der modale Charakter der Allgemeinheit die bündige Antwort. Das ist die Probe für die Norm; es gibt keine andere: daß ihr diese Befugnis zusteht, alle Einzelheiten in sich zu enthalten, und jede Ausnahme auszuschließen. Wie sie das kann? Das ist die logische Kraft ihres Begriffs. Könnte sie dies nicht, so würde der Begriff hinfällig 111 ." Zu der Vorstellung der logischen Geschlossenheit des Rechts, daß nämlich der Gesetzgeber im allgemeinen Gesetz alle Fälle vorherbedacht hat, wie es das

110 Wenn Cohen hier vom „induktiven Syllogismus" spricht, so ist zur Vermeidung von Mißverständnissen festzustellen, daß Cohen die Induktion nur als „eine Art der Deduktion" (LrE, S. 457) betrachtet. Das Problem der Induktion „wie aus dem Einzelfall der Allgemeine werden kann", (LrE, S. 441) wird durch den Zweckbegriff gelöst, der als hypothetische Konstruktion immer allgemeiner Begriff ist. Zur Aufarbeitung der modernen wissenschaftstheoretischen Induktionsproblematik für rechtstheoretische Fragestellungen vgl. Lüderssen, Klaus: Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion und Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozeß. Eine Fallstudie aus dem Kartellstrafrecht. Frankfurt 1972. 111 ErW, S. 261 f.

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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Aufklärungsnaturrecht u n d der juristische Positivismus noch annahmen, gehört es, daß es sog. Lücken i m R e c h t 1 1 2 nicht geben kann. Cohen folgt dieser rationalistischen Auffassung, wie sie in den spät-aufklärerischen Kodifikationen sogar p o s i t i v i e r t 1 1 3 w o r d e n war, vollständig. W e n n das Recht n u r i m Gesetz zur Erscheinung kommt, so gibt es außerhalb des Gesetzes kein Recht, denn w o das Gesetz einen Fall nicht regelt, w o es „schweigt", da handelt es sich nicht u m eine Lücke, sondern u m einen, wie die auf Bergbohm zurückgehende F o r m u l i e r u n g lautet, „rechtsleeren Raum". „Entweder die Sache ist i m positiven Recht entschieden, also muß der Suchende den kärgsten Rechtszeugnissen die erforderliche Bescheide sämtlich entnehmen können - oder sie liegt in d e m ,rechtsleeren R ä u m e ' 1 1 4 . " I n der Konsequenz dieser Annahme liegt es, daß das aus der Rechtsstaats- u n d Gewaltenteilungslehre folgende Rechtsschöpfungsverbot des Richters u n d das Rechtverweigerungsverbot des Richters nicht m e h r als a n t i n o m i s c h 1 1 5 , sondern als durchaus zusammengehörige Aspekte der Lehre von der Herrschaft des Gesetzes betrachtet werden.

112 Vgl. zu der überquellend umfangreichen Literatur zum Lückenbegriff: Canaris, Claus-Wilhelm: Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, dort weitere Nachweise; Engisch: Einführung in das juristische Denken, S. 134 ff. mit umfangreichen Literaturnachweisen; ders.: Der Begriff der Rechtslücke, in: Festschrift für Wilhelm Sauer 1949, S. 85 ff. Zitelmann, Ernst: Lücken im Recht, Bonner Rektoratsrede, Tübingen 1903. 113 Vgl. dazu Art. 4 des französischen Code Civil von 1804: „Le juge, qui réfusera de juger, sous prétexte du silence, du l'obscurité ou de l'insuffisance de la loi, pourra etre poursuivi comme coupable de déni de justice." 114 Bergbohm, Karl: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 386. 115 Diese Antinomie arbeitet scharf Gustav Radbruch heraus in seinem Aufsatz „Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung", in: Archiv für Sozialwissenschaft 22 (1906), S. 355 ff.: „Die Gewaltenteilungslehre, das Rechtsverweigerungsverbot und die Unvollkommenheit der Gesetze vertragen sich nicht miteinander, eines dieser drei Stücke muß weichen ... Und so stehen wir vor neuem vor dem Widerspruch zwischen Gewaltenteilungslehre und Rechtsverweigerungsverbot: Die Gewaltenteilungslehre will den Richter auf die philologische Interpretation beschränkt wissen, das Rechtsverweigerungsverbot drängt ihn bei der unumgänglichen Unvollkommenheit der Gesetze über ihre philologische Interpretation hinaus zu ihrer Klärung, Ergänzung und Berichtigung, zu eigener Rechtsschöpfung; die Gewaltenteilungslehre möchte den Richterstuhl zu einem Isolierschemel des Intellekts machen, das Rechtsverweigerungsverbot zieht mit seiner Nötigung zur Rechtsschöpfung den Richter mit seiner ganzen Persönlichkeit, seinem Charakter sowohl wie seinem Intellekte, zur Rechtsprechung heran Der Widerstreit zwischen der Gewaltenteilungslehre und dem ihr ausfließenden Rechtsschöpfungsverbot einerseits, dem Rechtsverweigerungsverbot andererseits ist also bei der Unvollkommenheit der Gesetze unschlichtbar, der Richter kann das eine nur auf Kosten des anderen befolgen und, da die Unvollkommenheit des Gesetzes unumgänglich, das Rechtsverweigerungsverbot unentbehrlich ist, setzt er sich in dieser Pflichtenkollision über die Gewaltenteilungslehre, das Rechtsschöpfungsverbot hinweg" (S. 359, 363 f.). Die Konsequenz aus dieser Antinomie zieht Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. 12. 1907, wonach der Richter „nach der Regel entscheiden (soll), die er als Gesetzgeber aufstellen würde", wenn weder dem Gesetz noch dem Gewohnheitsrecht eine Vorschrift entnommen werden kann.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

„Die tatsächliche Geltung dieser Allgemeinheit der Norm zeigt sich in dem Grundsatze des Rechts, daß der Richter nicht sagen darf, das Gesetz habe eine Lücke, und er könne das Recht nicht finden. Dieser Spruch ist dem Richter versagt; er widerspricht dem Begriffe der Rechtsnorm, die er zu befolgen, zu verwalten und auszulegen hat. Er ist Richter und nicht Gesetzgeber. Das Gesetz ist ihm gegeben; das Gesetz ist allgemein. Alle Fälle der Wirklichkeit sind in ihm enthalten; müssen aus ihm erschlossen werden; denn sie sind aus ihm herausleitbar, d. h. : die Norm hat Allgemeinheit. Man könnte meinen, der Begriff des ,rechtsleeren Raumes', den man zugesteht, spräche gegen diese Allgemeinheit. Indessen gilt dieser rechtsleere Raum doch auch in dem positiven Sinne, daß er durch das Recht ausfüllbar sei, wenngleich er noch nicht ausgefüllt ist. Und ohnehin hat eben die Allgemeinheit hier noch nicht Platz gegriffen. Sie ist immer nur da vorhanden, wo die Norm vorhanden, wo sie schon gefunden und positiv geworden ist 1 1 6 ." Die von Cohen hier geäußerte Auffassung, daß die Ergänzung des lückenhaften Gesetzes nicht durch von außerhalb der Gesetze entnommene Gedanken zu geschehen habe, sondern sich mit logischer Notwendigkeit aus den vorhandenen Rechtssätzen selbst ergeben müsse, daß also die Rechtsordnung als ein in sich geschlossenes und insofern lückenloses Ganzes anzusehen sei, daß für jede scheinbare Lücke „latente" 117 , nur ihrer Entdeckung und Aktivierung bedürftige Rechtssätze in der Rechtsordnung vorhanden seien, daß deshalb eine angebliche Lücke des Rechts nur eine „Lücke im Wissen vom Recht" 1 1 8 sei, diese Auffassung von der logischen Geschlossenheit des Rechts ist zu Cohens Zeit am nachdrücklichsten von Bergbohm vertreten worden. Auch wenn die vorausgegangenen Äußerungen Jherings 119, Bindings 120 oder Labands 121 nicht weniger eindeutig waren. „Die ganze Vorstellung von den Rechtslücken", formuliert Bergbohm, „sollte endgültig einmal aufgegeben werden. Ein Recht, und wenn es fast nichts an ge116

ErW, S. 262 f. Ob Cohen den Begriff des „rechtsleeren Raumes" von Bergbohm rezipiert hat, muß unentschieden bleiben, da positive Belege fehlen. 117 Der Begriff des „latenten Rechtssatzes" stammt von Jhering, Geist, Bd. 1, S. 29 ff.; ihn hat Binding aufgenommen, vgl. Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 10,11, 214; auch bei Bergbohm taucht er wieder auf (S. 385). 118 Zitelmann, Ernst: Lücken im Recht, Bonner Rektoratsrede, Tübingen 1903, S. 39. Diese Bemerkung, daß „die Lücke in dem nach dem Recht Forschenden, nicht im Rechte" stecke, stammt von Brintz: Kritik von Adickes Abhandlung über die Rechtsquellen, in: Kritische Vierteljahresschrift, Bd. 15, S. 164; Bergbohm hat sie aufgenommen in „Rechtsphilosophie und Jurisprudenz", S. 374, S. 382, S. 383. 119 Rudolf von Jhering, Unsere Aufgabe, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1857, Jena, S. 7 (S. 16); ders.: Geist des römischen Rechts, Bd. 1 § 3, Bd. 2, 2 § 39 ff. 120 Binding : Handbuch des Strafrechts I, S. 214. 121 Laband, Paul: Das Budget-Recht nach den Bestimmungen, S. 75, der dort sagt, daß Gesetze lückenhaft sein könnten, die Rechtsordnung selbst aber so wenig eine Lücke habe wie die Ordnung der Natur.

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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regelten Stoffen umfaßt, ist etwas allemal in lückenloser Ganzheit Dastehendes. Wer dürfte es auch komplettieren, ohne sich zur Rechtsquelle aufzuwerfen? Es bedarf niemals der Ausfüllung von außen her, denn es ist jeden Augenblick voll, weil seine innere Fruchtbarkeit, seine logische Expansionskraft im eigenen Bereich jeden Augenblick den ganzen Bedarf an Rechtsurteilen deckt 122 ." Bergbohms Rede von der „logischen Expansionskraft" des Rechts, die den Begriff der Rechtslücke überflüssig macht, ist unzweifelhaft auf derselben methodischen Anschauung erwachsen, die Cohen formulieren läßt, daß „die logische Kraft des Begriffs" es ist, die ermöglicht, die praktische Anwendbarkeit der Gesetzesallgemeinheit zu behaupten. Bergbohms Verwerfung des Begriffs der Lücke beruht darauf, daß er annimmt, daß aufgrund seiner „logischen Expansionskraft" das Recht für den Richter „im entscheidenden Moment immer allseitig vorbestimmt, vollkommen lückenlos und in sich harmonisch ist" 1 2 3 ; die Gesetzeslücke ist nur scheinbar, da im Recht die latenten Rechte bereitliegen, deren der Richter sich zur Schließung der scheinbaren Lücke zu bedienen hat. Die Rechtsgedanken, jene latenten Rechtssätze, die die Gesetzeslücke ausfüllen sollen, müssen aber ans Licht gehoben werden. Welches methodische Verfahren war hier vorgesehen? Als Mittel der Lückenschließung dient seit altersher die Analogie. „Sie ist es daher, wodurch wir jede wahrgenommene Lükke auszufüllen haben 124 ." Cohens Bemerkungen zur Charakterisierung der Analogie sind, wie alle anderen Ausführungen zum Gesetzesbegriff und zur Auslegung und zur Methodenlehre, sehr knapp. Sie lassen trotzdem, soweit interpretierbar, deutlich werden, in welcher Richtung er die methodischen Probleme der Analogie lösen will. Das Problem der Analogie ist für ihn kein Problem des Schlusses vom Besonderen aufs Besondere, wie es die klassische Logik noch sah, sondern für ihn liegen die Schwierigkeiten noch vor dem logischen Schlußverfahren im Gebiet der Teleologik. Auch die Analogie ist Zweckprinzip. Für das Gebiet der Normanwendung - das Verhältnis der Begriffe »Auslegung und ,Rechtsfortbildung' bzw. ,Rechtsergänzung' thematisiert Cohen nicht - bedeutet dies, daß mit der Normallgemeinheit zugleich ein Hinweis auf den Regelungszweck gesetzt ist. Die ratio legis erlaubt es zu prüfen, wie weit der bisher ungeregelte Fall Ähnlichkeitsmerkmale mit den vom Gesetz erfaßten Fällen aufweist 125 . Was Ähnlichkeitsmerkmal sein soll, wird im heuristisch gesetzten Allgemeinbegriff der Norm festgelegt; die Ähnlichkeitsmerkmale ergeben sich also nicht völlig aus der „Natur der Sache", haben also kein unbezweifelbares fundamentum in re, sondern sind Zwecksetzungen, wie der Begriff selbst Zwecksetzung ist, der Versuch ist, Merkmale unter einem einheit122 123 124 125

Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 386 ff. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 389. Savigny, System, B5 S. 291. Vgl. dazu Klug, Ulrich: Juristische Logik, 3. Aufl., 1964, S. 102.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

liehen Gesichtspunkt zu erfassen. Der Ähnlichkeitsgesichtspunkt ist nicht völlig willkürlich, aber auch nicht ohne weiteres der Sache ablesbar; er ist intelligible Konstruktion. Von dieser Einsicht war schon Savigny 126 mehr oder weniger deutlich bestimmt, und sie ist auch heute 1 2 7 in unterschiedlicher Deutlichkeit allgemein verbreitet: „Die deduktive, syllogistische Bedeutung der Allgemeinheit zeigt sich bei der Norm besonders deutlich in dieser ihrer Nebenbedeutung, daß die Analogien, die ähnlichen Fälle zu prüfen seien, inwiefern sie unter die Norm fallen, unter ihr subsumierbar werden. Diese Bedeutung wohnt der Norm inne; sie enthält die Forderung, die Ähnlichkeit der Momente zu prüfen. Daraufhin ist der Richter von der Befugnis, das Recht zu finden, nicht entbunden. Hier sieht man deutlich, daß die Allgemeinheit die apodiktische Notwendigkeit bedeutet; daß sie eine Anweisung für das Beweis verfahren bildet; daß sie die einzelnen Fälle und alle Einzelfälle herausfordert, wie weit sie unter die Norm gehören; d. h. vielmehr, wie weit sie die Norm spezialisieren und verwirklichen. So erweist sich die Norm in Bezug auf ihre Allgemeinheit als eine Art von Zweckprinzip, welches ja der induktive Begriff überhaupt ist, für die Behandlung des fraglichen induktiven Problems 128 ."

6. Zusammenfassung Cohens Erörterungen zum Gesetzesbegriff, so verwirrend unterschiedlich und zufällig im Aspekte sie auch auf den ersten Blick erscheinen mögen - es handelt sich hier mehr um ein Darstellungs-, weniger um ein Inhaltsproblem -, beziehen ihren systematischen Zusammenhang aus Cohens ethischem Staatsbegriff. Die Idee des Staates als einer genossenschaftlichen Rechtsperson besagt, daß die Verhältnisse der Menschen nicht mehr vom Zwang einer fremden Macht oder aber einem heterogenen Willen bestimmt werden, sondern daß allein Gesetze herrschen, die die Genossen zur Regelung ihrer Verhältnisse selbst gesetzt haben. Die Regel aber, die autonom gesetzt ist, zu deren Befolgung mich meine Vernunft zwingt, da ich sie selbst bestimmt und in sie eingestimmt habe, bedarf nicht notwendig der physischen Zwangsandrohung. Der Zwang ist Cohen zufolge kein Moment des Gesetzes- und Rechtsbegriffs. Und ebenso vermißt Cohen bei der Bestimmung der Norm als Imperativ, daß die Norm nur als Befehls- und Unterwerfungsnorm, nicht als Zustimmungsnorm zu begreifen sei. Die Versuche, Übereinstimmungen zwischen dem Naturgeset126

Vgl. Savigny: System, Bd. 1, S. 292. Vgl. Klug, Ulrich: Juristische Logik, S. 1 2 3 ; Engisch: Einführung, S. 115;Sojc, W . : Das strafrechtliche Analogieverbot, Göttingen 1953, S. 130 ff.; Esser: Methodenwahl, S. 107; Heller, Theodor: Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, Berlin 1962, S. 83, 110, 118; Larenz, Karl: Methodenlehre, S. 367; Kaufmann, Arthur: Analogie und „Natur der Sache", zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Karlsruhe 1965, S. 29 ff. 1 2 8 ErW, S. 263. 127

4. Kap.: Die Handlungsform des Staates - das Gesetz

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ze und der Norm festzustellen, hält er deshalb für prinzipiell verfehlt, weil der Fall, daß die Natur dem Gesetze nicht gehorcht, das Gesetz ungültig macht, der Fall aber, daß dem Rechtsgesetze nicht gehorcht wird, die Geltung desselben nicht tangiert. Die Beschreibung von Naturverhältnissen durch das Naturgesetz kann richtig oder falsch sein, die Vorschreibung durch ein Rechtsgesetz entzieht sich der Wahrheitsfrage. Der Grund für die Verschiedenheit von Naturgesetz und ethisch-juristischer Norm liegt für Cohen vor allem im Begriff der Zukunft. Für den Begriff des Naturgesetzes hat das Zukunftsmoment keine Bedeutung. Es beansprucht, unter gegebenen Bedingungen immer zu gelten. Für den Begriff des ethisch-juristischen Gesetzes hält Cohen den Begriff der Zukunft für wesentlich. Die Norm zielt immerfort auf Zukunft ab, nämlich auf die Verwirklichung eines Geforderten, ohne in der Verwirklichung sich aufzuheben. In dieser Herausstellung des Zukunftsmoments im Begriff der ethischjuristischen Norm tritt bei Cohen das emanzipativ-messianische Motiv seiner Ethik hervor. Wenn allein Gesetze herrschen sollen, die die ihnen Unterworfenen sich selbst gegeben haben, wenn also alle über alle beschließen, so folgt aus diesem genossenschaftlichen Prinzip, daß diese Gesetze allgemein sein müssen; sie müssen so beschaffen sein, daß jeder der Möglichkeit nach unter die Regel, die beschlossen wird, fallen kann. Das ist der Sinn der Rousseauschen Forderung nach der allgemein-abstrakten Norm. Mit der Idee des Gesetzesstaates, des government of law, not of men, ist zugleich als regulative Idee die Geschlossenheit der Rechtsordnung gefordert. Die Möglichkeit, diese Geschlossenheit der Rechtsordnung herbeizuführen, liegt für Cohen in der „logischen Kraft des Begriffs", in der Allgemeinheit des Gesetzes. Das Gesetz deutet er in Bezug auf seine Allgemeinheit als vergleichbar mit dem Zweckbegriff der beschreibenden Naturwissenschaft. In dieser Formulierung steckt die Einsicht, daß die Norm wie der Zweckbegriff der beschreibenden Naturwissenschaft Ordnungs- bzw. Funktionsbegriff ist, also als Zwecksetzung zu begreifen ist, nach der bestimmte Merkmale unter einem einheitlichen Gesichtspunkt betrachtet werden sollen. Die Analogie ist deshalb für Cohen nichts anderes als ein Synonym für die prinzipielle Struktur der Rechtskonkretisierung als eines nach Zweckprinzipien arbeitenden Verfahrens. Unter dieser Voraussetzung, daß aus dem Zweckbegriff als allgemeinem Gesetz die unabsehbare Zahl möglich vorkommender Fälle erschließbar und abgrenzbar ist, wird es verständlich, daß Cohen entsprechend der Auffassung der aufklärerischen Gewaltenteilungslehre und des Rechtspositivismus dem Richter Rechtsschöpfung glaubt methodisch sauberen Gewissens verweigern zu können, ebenso wie er ihm, als Konsequenz des Gedankens der Geschlossenheit der Rechtsordnung, das Recht zur Rechtsverweigerung absprechen kann. In der Idee der Herrschaft des Gesetzes und des Rechtsstaats, in der aus ihr folgenden Gewaltenteilungslehre, in der Idee der logischen Geschlossenheit und Lückenlosigkeit der Rechtsordnung, in dem Rechtsschöpfungs- und Rechtsverweige25

Winter

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

rungsverbot des Richters manifestiert sich die dem Aufklärungsnaturrecht und dem Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts gemeinsame leitende Idee eines Systems von Regeln, die die menschlichen Verhältnisse in rationaler, d. h. Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit hervorbringender Weise zu garantieren, beherrschbar zu machen in der Lage sind. Während aber der Gesetzespositivismus den Gesetzes- bzw. Rechtsstaat nur noch unter dem Aspekt der formalen Legitimation seiner Handlungen betrachtete und folgerichtig das formelle Gesetz als Handlungsform des Staates rechtfertigte, beharrt Cohen auf einem naturrechtlich-aufklärerischen, inhaltlichen Begriff des Gesetzes, für den die Gesetzesallgemeinheit wesentlich ist, um seine Aufgabe - Freiheit, Gleichheit und Sicherheit der Staatsgenossen zu gewährleisten - erfüllen können.

Fünftes Kapitel

Cohens Begriff der Autonomie

1. Autonomie und das „Problem der alten Metaphysik": die Freiheitsfrage Die Darstellung von Cohens Grundlegung der Ethik war bislang darauf konzentriert, den ethischen Begriff des Menschen gegenüber dem „Naturbegriff' des Menschen auszuzeichnen. Als „methodisches Vorbild" diente Cohen die juristische Person, als „ethischer Leitbegriff' der in der Form der korporativen Rechtsperson personifizierte Staat. Die rein normativ-relationale Struktur der juristischen Person vermochte es zu erhellen, daß der ethisch-juristische Begriff der Person ein Beziehungsbegriff ist, in welchem der Andere, die Allheit, schon immer mitgesetzt ist. Das sittliche Selbstbewußtsein ist für Cohen der diesen Gedanken ausdrückende ethische Fundamentalbegriff, der die Vereinigung des einen mit der Allheit des Staats ausdrückt. Das sittliche Selbstbewußtsein betrachtet er nicht fix und fertig als Potenz vorhanden, es gewinnt und hat nur Gestalt in der sittlichen Handlung, es konstituiert sich durch fortwährende Normsetzung. In der Gesetzgebung des sittlichen Selbstbewußtseins manifestiert sich sein Wille. Als normativer Wille, dem nichts Psychisches beigemischt ist, ist der Wille des sittlichen Selbstbewußtseins reiner Wille. Die Handlungen des reinen Willens sind Gesetze. In diesen Handlungen erzeugt sich das sittliche Selbstbewußtsein. Das sittliche Selbstbewußtsein hat ein rein normatives Sein: das Sollen. Doch die Ethik als Lehre vom Menschen, als „Logik der Menschenwelt" zielt auf Geltung für den konkreten Menschen, für den Menschen als Naturwesen. Sie hat eine praktische Aufgabe, sie will anwendbar sein für das leibhaftige Individuum, denn sie „will nicht für ein Wolkenkuckucksheim spekulieren, sondern mit dem Wirklichkeitssinn, der dem wahrhaften Idealismus eigen ist, die Wirklichkeit umklammern, um sie zu bändigen, zu meistern, zu verwandeln" 1 . Doch wie kann dieses Problem der Anwendbarkeit der reinen Ethik auf den Menschen als Naturwesen oder, wie Cohen formuliert, der „Realisierung des Selbstbewußtseins"2 gelöst werden? Welche Voraussetzungen müssen gege1 2

25*

ErW, S. 370. ErW, S. 369.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

ben sein, damit die intelligible Konstruktion des ethischen Willenssubjekts auf die Welt der geschichtlich-gesellschaftlichen Erfahrung Einfluß gewinnen kann? Offenbar muß, nachdem die Ethik prinzipiell von der Allheit, von der genossenschaftlich verfaßten Rechtsperson, von der staatlich verfaßten Menschheit her begründet worden ist, der Aspekt des sittlichen Einzelindividuums in der Lehre vom Begriff des Menschen stärker zur Geltung kommen. Das Ziel der Grundlegung der Ethik war es, den Gedanken zu begründen und festzuhalten, daß für das praktische Handeln, für die moralisch-rechtliche Regelung sozialer Beziehungen den Ausgangspunkt die Allheit zu bilden hat. Der Standpunkt des sittlichen Einzelindividuums war in der Allheit zwar schon immer mitgedacht; doch ging es, auch um Mißverständnisse mit dem natürlichen Begriff des Menschen abzuwehren, zunächst - kantisch gesprochen - um den Begriff der Menschheit in der Person des andern, nicht so sehr um das andere einzelne Individuum. Das sittliche Selbstbewußtsein wird von Cohen vornehmlich auf den Staat orientiert, wiewohl die Ethik zugleich darauf abzielt, von diesem Ausgang her die Handlungsweise des Individuums als eines „Staates im Kleinen" zu begründen. Nach der Anweisung Piatos soll „aus dem Makrokosmos des Staates der Begriff des Menschen abgeleitet" werden 3 . Bei der „Frage der Anwendung" 4 findet eine Perspektivverschiebung statt. Das Interesse gilt nicht mehr so sehr der Konstituierung des staatlichen Selbstbewußtseins als vielmehr dem ethischen Problembegriff des Individuums. Cohens Frage heißt jetzt: Wie ist die Aufgabe des Selbstbewußtseins aus der Perspektive des sittlichen Einzelindividuums zu bestimmen? Von der Geltung welcher Merkmale hängt die Realisierung des sittlichen Selbstbewußtseins durch das Individuum ab? Es handelt sich dabei um die Anwendbarkeit von Grundbegriffen der Ethik auf das sittliche Selbstbewußtsein des sittlichen Einzelindividuums. Der folgende Abschnitt gilt der Darstellung, die Cohen der Frage gewidmet hat, nach welchen Begriffen sich das sittliche Selbstbewußtsein im sittlichen Einzelsubjekt realisiert. Für eine Ethik, deren Ausgangspunkt der Mensch als Naturwesen ist, werden diese Fragen der Realisierung des Selbstbewußtseins im sittlichen Individuum anders formuliert. Für sie ist es die Frage nach der Freiheit des Willens. Das Problem der Möglichkeit sittlichen Handelns war bis Kant ein Problem der Möglichkeit freien - das bedeutete: vom Kausalgesetz befreiten - Handelns. War aber die unverbrüchliche Geltung des Kausalgesetzes festgestellt, so war auch der Mensch ihm unterworfen; als unfreier aber, so mußte die Konsequenz für die Möglichkeit sittlichen Handelns dann lauten, konnte der Mensch nicht mehr tun, was er sollte, sondern mußte tun, was das Naturgesetz ihm befahl. Daraus entstand die Frage: „Welcher Begriff des Menschen bleibt übrig; welches 3 4

Vgl. ErW, S. 281. ErW, S. 368.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

389

Bild des Menschen kann man sich machen, wenn er durchaus nur geschoben wird, und zu schieben glaubt; wenn seine Freiheit nichts ist als ein eitler Wahn und eine schädliche Illusion? 5 " Die Versuche, die Freiheit trotzdem zu retten und mit ihr den Begriff des Menschen als eines sittlichen Individuums, führten dazu, die Freiheit zu spiritualisieren. Die Freiheit wurde, wie Kant formulierte, als überfein gedachter Geist gedacht, der in den Kausalmechanismus einwirkt. Hinter dieser Vorstellung eines „Seelengeistes der Freiheit" 6 , die das Problem der Freiheit offen oder versteckt vor Kant beherrscht hat 7 , steckt mehr als ein nur theoretisches Interesse. „Man verlangt mehr von ihr, sie soll sich als eine reale Kraft für den lebendigen Menschen bewähren; denn dieser und nichts anderes steht in Frage. Man sieht, die Freiheit scheint an der Grenze der reinen und der angewandten Ethik zu stehen. Es genügt nicht, sie als Prinzip zu fassen; sie soll zugleich für die Verwirklichung des Prinzips die Befugnis und das Vermögen bedeuten. In dieser gesteigerten Bedeutung ist die schwierige Komplikation begründet, welche zu allen Zeiten das Problem der Freiheit umgibt; welche ihre Klärung erschwert hat. Die Freiheit wurde nicht als eine Idee gedacht; sondern, wie alle Ideen, als eine Tatsache; als eine Kraft und Macht 8." Erst mit Kant kommt es zu einer grundsätzlichen Neufassung des Problems und Begriffs der Freiheit. Dabei sei - wie Cohen meint - die Entwicklung, die die Kantischen Überlegungen genommen hätten, jedoch „nicht in der geraden Linie erfolgt, welche die theoretische Kritik vorgezeichnet hatte" 9 . So habe Kant, im Gegensatz zu seinen ethischen Schriften, in der „Kritik der reinen Vernunft" noch „im Banne der alten Metaphysik" 10 gestanden. Zwar habe Kant die Antinomie der alten Metaphysik, entweder Freiheit oder kausale Notwendigkeit, aufgelöst, doch seien wegen der mangelnden Bestimmung des Begriffes des Ding an sich große Unklarheiten geblieben. Cohen rekapituliert konzentriert seine Kritik und Berichtigung der Kantischen theoretischen Philosophie, wie er sie in seinen früheren, der Kant-Auslegung gewidmeten Schriften und der „Logik der reinen Erkenntnis" formuliert hatte: Kant „hat es nicht ins Klare gebracht, woraufhin doch seine ganze Terminologie abzielt: daß das Ding an sich gleich sei der Idee, welche gleich ist dem Prinzip des Zwecks. Wenn daher 5

ErW, S. 298. ErW, S. 299. 7 Auf Cohens tiefgreifende Orientierung über die historischen Lagen des Freiheitsproblems wird hier nicht eingegangen. Bei dieser Gelegenheit ist wiederum auf das von Erich Kaufmann in seiner „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie" popularisierte klare Fehlurteil hinzuweisen, wonach „der feinere philosophiegeschichtliche Sinn den Marburgern fast völlig mangelt" (vgl. S. 35). Gegen dieses falsche Urteil wendete sich schon Wilhelm Sauer, den die „Fülle des philosophiegeschichtlichen Materials" erstaunte, die einem sofort in die Augen falle, „wenn man nur einen Blick in die Werke Cohens werfe". (Wilhelm Sauer, Neukantianismus und Rechtswissenschaft in Herbstesstimmung, eine Antikritik, in: Logos, Bd. X (1921/22), S. 162 ff. (S. 166, Fußnote 3). 6

8 ErW, S. 298. ErW, S. 299. ErW, S. 9 .

9

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

nach Kants Auflösung der Antinomie die Notwendigkeit auf die Erscheinungen sich beziehe, so bezieht sie sich in diesen auf die verbürgten Gegenstände der Erfahrung und der Wissenschaft. Und wenn dagegen die Freiheit auf das Ding an sich zu beziehen sei, so bezieht sie sich nicht auf Dinge, noch an sich auf Personen, sondern lediglich als eine Idee, also ein Zweckprinzip auf ein Problem, zu dessen Behandlung sie als die zweckmäßige methodische Idee zu erkennen und zu behaupten sei. Einen anderen Sinn kann und darf diese Unterscheidung zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich, diese Auflösung der Antinomie nicht haben 11 ." Die für Cohen mangelhafte Klärung des Ding an sich hat direkte Konsequenzen für die Begründung der Ethik, soweit sie Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" ausgeführt hat. Um die Freiheit für den Menschen zu retten, unterscheidet Kant den Menschen als Ding an sich und Erscheinung, als homo noumenon und phaenomenon, als intelligiblen und empirischen Charakter. Als intelligibler Charakter handelt der Mensch frei, als empirischer Charakter ist er dem Kausalgesetz unterworfen. „Kant hat mit der denkbarsten Deutlichkeit und schärfsten Nachdrücklichkeit es ausgesprochen, daß der empirische Charakter unfrei sei; also eigentlich des Namens des Charakters verlustig gehe; daß er dem Kausalgesetz unterworfen sei. Er hat es rundweg ausgesprochen, daß der empirische Charakter, wenn er erkennbar würde im Regreß der Ursachen und Wirkungen, sich alsdann ebenso berechnen lassen müßte, wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis 12 ." Das Mißverständnis Kants in der „Kritik der reinen Vernunft" besteht Cohen zufolge nun aber darin, daß Kant den homo noumenon ähnlich dem homo phaenomenon begriffen, ihn nämlich in einer gewissen Dinglichkeit festgehalten" 1 3 habe, wie es schon die Bezeichnung intelligibler Charakter ausdrücke. Der Charakter, der seinem richtigen Verständnis nach eigentlich das Gesetz der sittlichen Handlungen für den Menschen als sittlichem Wesen bedeuten soll, bleibt bei Kant dem Seelengeist der Freiheit der alten Metaphysik verwandt. „Denn der Charakter, als éin angeborener, ererbter Grund des menschlichen Wesens, bildet wahrlich kein geringeres Hemmnis für die idealistische Ethik, wie das absolute Ich der rationalen Psychologie. Der Charakter bildet das unseligste Vorurteil, welches die Pädagogik hemmt, und die Strafrechtspflege scheinheilig macht; und auch die Poesie in das schlüpfrigste Fahrwasser bringt. Der Charakter ist das Widerspiel derjenigen Freiheit, welche die Ethik 11

ErW, S. 299 f. ErW, S. 301 ; Cohen bezieht sich hier auf folgende Stelle aus der „Kritik der praktischen Vernunft": „Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassung, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei" (A 178/179). 13 ErW, S. 301. 12

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

391

meint. Wie man im Mittelalter den Wahnsinnigen für besessen hielt, oder den Kröpf für den Sitz eines bösen Dämons ansah, einen solchen Aberglauben bildet auch der Charakter. Die Freiheit darf nicht mit dem Charakter in Verbindung gebracht werden. Hier zeigt sich die ungünstige Nachwirkung der mangelhaften Klärung des Ding an sich 14." Deshalb steht trotz der unmißverständlich klaren Feststellungen, die Kant zur Unfreiheit des empirischen Menschen trifft, der Mensch als intelligibler Charakter bei ihm immer noch gleichsam präsent für den Widerruf dieser Feststellungen im Hintergrunde. „Man erkannte es nicht, daß dieser nicht ein Ding an sich bedeuten dürfe; daß er nur, wie dieses selbst, wie das Noumenon überhaupt eine Idee zu bedeuten habe, die kein Dasein, sondern nur ein Sein hat, insofern sie einen Zweck verwaltet. Diese Unterscheidung, diese alleinige Bedeutung der Idee trat zurück gegen das Gespenst, als welches der intelligible Charakter wieder heraufzutauchen schien 15 ." Während in der „Kritik der reinen Vernunft" Kant noch mit dem Freiheitsbegriff der alten Metaphysik operiert, ist der Freiheitsbegriff der ethischen Schriften ein anderer geworden. Nach Cohens Auffassung hat Kant erst in den ethischen Schriften den Freiheitsbegriff, den schon seine theoretischen Schriften erfordert hätten, in aller Klarheit formuliert. „Der Beweis für diese Ablösung liegt in dem entscheidenden Umstände, daß er für die Freiheit nunmehr einen anderen Namen einsetzt, nämlich den der Autonomie. Aber auch damit kann die Schwierigkeit nicht ganz behoben sein; so müssen wir befürchten, denn er spricht es nicht aus: daß die Autonomie, als ein neuer Begriff, an die Stelle der Freiheit trete, als des Begriffs der alten Metaphysik 16." Gemäß der Cohenschen Deutung hat Kant erkannt, daß die frühere Behandlung des Problems der Freiheit in einer falschen Fragestellung befangen war. Das Problem der Freiheit ist in der Fragestellung der alten Metaphysik ein Problem des Ursprungs der Handlung. Es wird die Möglichkeit eines absoluten Anfangs der Handlung, der jede Art von Ursache und Urheber ausschließen soll, untersucht. Das Problem der sittlichen Freiheit als Autonomie ist das Problem des Ursprungs des Gesetzes. „Das Gesetz erst macht die Handlung zur Handlung; nicht die Person, nicht das Ich. Damit ist auch das Interesse am Problem geändert. Es hängt nicht mehr an dem undurchdringlichen Dunkel eines freien Anfangs der Handlung; sondern es wird gerichtet auf die Grundfrage aller echten Wissenschaft, auf die Frage des Gesetzes. Und wenn die Möglichkeit der Ethik, wie Kant dies vornehmlich feststellt, auf die Möglichkeit des Sittengesetzes beruht, so wird dies von jetzt ab zur Frage: welche Bedeutung die Freiheit annimmt aus dem nunmehr gewonnenen Zentrum des Gesetzes. So entsteht aus dem Begriffe der allgemeinen Gesetzgebung die Selbstgesetzgebung, die Autonomie 17." h ErW, S. 300 f. 15 ErW, S. 301. 16 ErW, S. 302. 17 ErW, S. 302.

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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Wenn Freiheit im praktischen Sinne nichts mehr mit dem theoretischen Problem von Ursache und Wirkung, mit dem Problem eines absoluten Anfangs der Handlung zu tun hat, wenn Freiheit vielmehr Autonomie, Selbstgesetzgebung heißen muß, so fragt sich, welche Kategorien diesen praktischen Begriff der Selbstgesetzgebung bestimmen. Cohen setzt die Umdeutung der Kantischen Philosophie, die er in der theoretischen Philosophie mit der Umbestimmung des Ding an sich als Idee und Zweckaufgabe eingesetzt hatte, in der praktischen Philosophie fort, indem er, wie eben schon ausgeführt wurde, für die praktische Gesetzgebung, die Selbstgesetzgebung, das Kategorienpaar Mittel und Zweck als Konstitutiv erkennt. Die Frage geht jetzt nicht mehr auf den absoluten Anfang der Handlung, sondern darauf, was als absoluter Zweck, als Selbstzweck, als Endzweck der Handlung bestimmt werden kann. Das „Subjekt des moralischen Gesetzes"18, das Selbst der Autonomie, ist der Mensch als vernünftiges Wesen. Für sein Handeln als vernünftiges Wesen gibt sich der Mensch das sittliche Gesetz, er „verfaßt" sich als sittliches Wesen. Also ist er Zweck an sich selbst, er stellt den letzten Zweck seiner Gesetzgebung dar. Da der Mensch als sittliches Wesen nur in Beziehung auf die Handlung anderer vernünftiger Wesen sich sein Gesetz gibt, muß er die anderen in seinem Gesetz in Betracht ziehen, d. h. das Gesetz so formulieren, daß die anderen als vernünftige Wesen nach demselben Gesetz handeln können wie er selbst. Daher begrenzt ihr vernünftiger Wille das Handlungsgesetz. Der Wille des einzelnen vernünftigen Wesens ist also „auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen" 19 . Diese Ausdeutung der Autonomie, wie sie im kategorischen Imperativ in seiner 2. und 3. Formulierung zum Ausdruck kommt, hat man Cohen zufolge „dem Bewußtsein der allgemeinen Bildung entzogen. Sie deklarieren die Idee der Menschheit und die politische Idee des Sozialismus. Das sind zwei Ideen, für welche nur noch Fichte Sinn und Herz hatte" 20 . Während in der Idee der Menschheit der allheitliche Bezug der Autonomie des Selbstbewußtseins sich ausdrückt, beinhaltet nach der Cohenschen Auslegung die Selbstgesetzgebung aus der Perspektive des sittlichen Einzelindividuums die Idee des Sozialismus. Der allheitliche Standpunkt, der vom „allgemeinen Zweckvorzug vernünftiger Wesen" 21 her, und jener, der vom sittlichen Einzelwesen her, die Selbstgesetzgebung bestimmt, stellen nur verschiedene Perspektiven desselben Prinzips dar, der Selbst- und Endzweckhaftigkeit des ver18 19 20 21

Kant, Kant, ErW, Kant,

KpV, A 156. KpV, A 156. S. 303. GMS, BA 71.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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nünftigen Wesens. „Der Idee der Menschheit gegenüber bezieht sich die Idee der Gesellschaft, die Idee des Sozialismus auf das Einzelwesen des Menschen; und an ihm erst wird der Begriff des Menschen vollendet. Der Begriff des Endzwecks wird jetzt klargestellt als der Begriff des Selbstzwecks. »Handle so, daß Du Deine Person, wie die Person eines jeden Andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.' In diesen Worten ist der tiefste und mächtigste Sinn des kategorischen Imperativs ausgesprochen: sie enthalten das sittliche Programm der neuen Zeit und aller Zukunft der Weltgeschichte... Das ist der neue Sinn der Freiheit. Nicht darum allein dreht sich das Interesse an dem Begriffe der Handlung, ob sie in dem Handelnden einen absolut anfangenden Urheber hat; das ist die metaphysische Frage, die Buridans Esel beantworten mag. Aber dafür schlägt dem modernen Menschen das Herz, ob die Handlung einen absoluten Zweck hat; einen Zweck, für welchen der Mensch nicht nur als Mittel und Werkzeug sich aufreibt; sondern in welchem er, als Mensch, Selbstzweck bleibt; denn der Begriff des Menschen besteht letztlich in dem Zweckvorzug des Menschen. Kein Zweck darf als sittlich gelten, für den der Mensch, der eine wie der andere, nur als Werkzeug zu arbeiten hätte; indem er nicht vielmehr den Zweck seines eigenen Daseins, seines eigenen Begriffes vollzöge; indem er nicht als Endzweck fungierte. Die Idee des Zweckvorzugs der Menschheit wird dadurch zur Idee des Sozialismus, daß jeder Mensch als Endzweck, als Selbstzweck definiert wird 12." Indem Cohen die Kantische Freiheitslehre radikal als eine sittliche Teleologie versteht, die Freiheit als Endzweck und Selbstzweck „umdeutet und umbildet" 23 , und also die mit der theoretischen Freiheitsantinomie gesetzten Probleme gänzlich aus der praktischen Fragestellung ausblendet, erscheint eine solche „Berechtigung" für sein Verständnis der Ethik zunächst nur konsequent. Da das sittliche Selbstbewußtsein mit keinem menschlichen Naturwesen kongruiert, keine Physis und keine Psyche hat, nicht Naturgesetzen, sondern nur Moralgesetzen unterworfen ist, ist die theoretische Frage nach der Freiheit streng genommen sinnlos. Doch soll die Ethik für den lebendigen, über Physis und Psyche verfügenden Menschen gelten. Die Frage entsteht, ob überhaupt eine Ethik sich Anwendung verschaffen kann, die den Menschen als Naturobjekt und Moralsubjekt in zwei Welten stellt, die durch kein Band miteinander verknüpft sind. Cohen, der Kants Interpretation des Menschen als Einheit von empirischem und intelligiblem Charakter verwirft, ist damit nicht der Probleme enthoben, die Kant durch sein natürlich-moralisches Doppelwesen zu lösen versuchte. Im folgenden wird darauf zu achten sein, wie Cohen trotz seiner Zweck-Weltentheorie das Freiheitsproblem, das er vorher als Fragestellung der alten Metaphysik abgetan hatte, als Problem der Ethik dennoch mitführt. 22

ErW, S. 303 f. 23 Vgl. ErW, S. 305.

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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Daß er dieses Freiheitsproblem der alten Metaphysik nicht abweisen kann, gibt er schon vor Behandlung des Begriffs der sittlichen Autonomie deutlich zu: „Wenn nun aber gesagt worden war, daß Kant nicht ausdrücklich an die Stelle der Freiheit die Autonomie gesetzt habe, so kann wohl die Frage entstehen, ob er nicht dies nur deshalb unterlassen hat, weil ihm die klare Überschau über die durchgreifende Veränderung gefehlt habe, die er vollführt hat. Indessen ist doch noch eine andere Ansicht dabei möglich; und ihre Erwähnung ist notwendig. In der Tat ist selbst durch diesen höchsten Wert der Autonomie, welcher dieselbe in Autotelie verwandelt, das Interesse an der Freiheit nicht gänzlich erledigt. Auch in der Autonomie hat Kant selbst andere Fragen mit berücksichtigt, welche in dem Problem der Freiheit enthalten sind. Wir werden daher nicht allein, wie bisher, den Unterschied von Autonomie und Freiheit, sondern auch den Zusammenhang beider festzuhalten und zu verfolgen haben 24 ." Die reine Ethik soll Anwendung finden in der Wirklichkeit des konkreten Menschen. Der konkrete Mensch verfügt, so hat es sich bisher herausgestellt, über eine zweite Natur als sittliches Individuum. Das sittliche Individuum ist kein Faktum, das beobachtbar wäre, es ist in Kantischer Redeweise Ding an sich, homo noumenon, intelligibler Charakter; es ist in der Cohenschen Deutung des Ding an sich Idee, Aufgabe. Für den konkreten Menschen stellt seine sittliche Natur eine Aufgabe dar, an deren fortwährender Lösung er zu arbeiten hat. Was ist dem konkreten Menschen aufgegeben, das er als sittliches Subjekt leisten soll? Cohen differenziert diese Aufgaben des sittlichen Individuums unter dem Titel der Autonomie des Selbstbewußtseins in vier aufeinander bezogenen Begriffen: der Selbstgesetzgebung, der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und der Selbsterhaltung. Diese Ausdeutungen des Begriffs der Autonomie sind nun darzustellen.

2. Selbstgesetzgebung Mit der Selbstgesetzgebung ist nichts anderes bezeichnet als die Aufgabe des iittlichen Einzelindividuums, den reinen Willen des sittlichen Selbstbewußtseins zu realisieren. Mit der Autonomie als Selbstgesetzgebung wird abgewiesen die psychologische Auffassung, die in den Beweggründen der Begehrung, in den pathologischen Motiven, die Ethik glaubt begründen zu können. Die pathologischen Motive sind Affekte. Der Begriff des Affekts aber gehört dem Menschen als Naturwesen an. Gegenüber der Heteronomie der Sinnlichkeit betrifft Autonomie die moralischen Bestimmungsgründe des reinen Willens. Die autonome Norm ist von keinerlei Natur abhängig und abgeleitet, sie ist selbst gesetzt. ErW, S.

f.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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Die Gefahr aber, die der Selbstgesetzgebung dadurch droht, daß sie offenbar über keinen letzten unbezweifelbaren Grund verfügt, wie es bei den beobachtbaren Regelmäßigkeiten des Naturverlaufs das Sinnesdatum zu bieten scheint, weist Cohen ab, indem er gemäß seiner methodischen Grundauffassung, wie er sie in der „Logik der reinen Erkenntnis" ausgeführt hat, betont, daß alle Gewißheit, Naturerkenntnis ebenso wie Moralerkenntnis, schließlich immer nur Stiftung menschlichen Geistes, Idee, sein könne. Eine andere Verbürgung als die sich bewährende, in die Dinge hineingelegte intelligible Konstruktion, die Hypothesis, gebe es nicht. Insoweit sei die Autonomie als Selbstgesetzgebung ein Prinzip nicht nur der Ethik, sondern auch der Logik. „Autonomie, Selbstgesetzgebung kann nur der Begriff der Vernunft vertreten und verbürgen; der daher so der Logik wie der Ethik entnommen werden m u ß . . . So ist es also das Vertrauen auf die Vernunft, auf das reine Denken, worauf die Selbstgesetzgebung beruht. Und es ist vor allem die Annahme des Grundgesetzes der Wahrheit, in dem sie ihre Wurzel hat. Wahrheit bedeutet, wie wir wissen, die Übereinstimmung von Logik und Ethik in den methodischen Grundlagen. So ist vor allem als Heteronomie zu erkennen das Mißtrauen gegen die theoretische Vernunft, als wäre sie Übermut und Aberwitz; als könnte sie mit ihren Grundlegungen, die als willkürliche Vermutungen verdächtigt werden, wahres Sein nicht feststellen; und deshalb um so viel weniger sittliche Wahrheit verbürgen Die Idee, die Hypothesis muß als das einzig Wahrhafte, als das zulängliche und sichere Mittel, Erkenntnis zu begründen, also auch als Erkenntnis der Sittlichkeit eingesehen und beherzigt werden. So ist die Selbstgesetzgebung das Prinzip des Rationalismus nicht nur, sondern genau des Idealismus 25." Der so gefaßte Begriff der Autonomie ist nach Cohens Ansicht bisher nicht deutlich bezeichnet worden. Auch bei Kant sei er „von großen und schweren Unklarheiten behaftet" 2 6 . Grund dafür sei wiederum der intelligible Charakter, den Kant zwar auch als Idee bezeichnet habe, der aber „immer unter dem Nimbus des Ding an sich" 27 stehe. Cohen kritisiert am intelligiblen Charakter, daß er von Kant als eine Art von Substanz begriffen worden sei, als ein Seiendes, dem sein Gesetz schon gegeben sei, das es in seinen Handlungen nur noch umzusetzen brauche. Dem entspricht jene erfahrungswissenschaftliche Auffassung der Ethik, nach welcher „das Ich als wirksame Potenz fix und fertig vorhanden ist" 2 8 und dieses Ich aus seinen Anlagen die sittliche Ordnung wie eine Naturordnung gebiert. Dieser Auffassung hält Cohen vor, sie verkenne, daß das sittliche Selbstbewußtsein, das Ich der Ethik, im strengen Sinne als Idee, als Aufgabe begriffen werden müsse. Der methodische Fehler liege darin, daß das sittliche Individuum immer schon substantiell gefaßt sei und mit der Substanz sein Gesetz er25

ErW, S. 310 f. ErW. S. 321. 27 ErW, S. 323. 28 ErW, S. 322. 26

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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halten habe. Deshalb formuliert er: „Das Selbst ist keineswegs und in keiner noch so idealen Gestalt vorher vorhanden, bevor es sich darlegt, und es hat sich keineswegs nur darzulegen; sondern es hat sich erst zu erzeugen. Und es kann sich nur erzeugen in der Gesetzgebung. In dieser und kraft dieser entspringt die Handlung. ... Die Handlung ist nicht mehr lediglich die Entfaltung des Selbst; sondern sie ist bedingt durch die Gesetzgebung, welche die Gesetzgebung des Selbst ist, so daß auch das Selbst bedingt ist durch die Gesetzgebung. Also die Gesetzgebung ist nicht etwa die Gesetzgebung aus dem Selbst, sondern zum Selbst. Auf die Gesetzgebung kommt es an: in ihr erst bezeugt sich das Selbst; in ihr erzeugt es sich. Der Gedanke der Autonomie geht also nicht dahin, daß das Gesetz vom Selbst ausgehen müsse. Aber auch darin ist sein Zielpunkt nicht ausgesprochen, daß das Gesetz zum Selbst hinführe und hinausführe Das Selbst muß in der Gesetzgebung sich vollziehen; nur so vollzieht es sich. Das ist der schärfere Sinn des Begriffs der Selbstgesetzgebung29." Was ist mit diesen Bestimmungen gemeint? Auszugehen ist vom Verständnis des sittlichen Selbstbewußtseins als Aufgabe. Das impliziert, daß der Mensch nicht schon als sittliches Individuum fix und fertig ist. Der Mensch schafft sich erst als sittliches Individuum, indem er sich der sittlichen Gesetzgebung unterstellt und danach handelt. Seine sittliche Physiognomie erzeugt sich erst in der Normgebung. Wie die Realität der juristischen Person als „Urbild einer moralischen Person" erst in der Schaffung ihrer Rechtsverfassung entsteht, so gewinnt das sittliche Selbst des Menschen erst in der Erzeugung der moralischen Gesetzgebung Gestalt. Das sittliche Selbst besteht also in nichts anderem als in Gesetzgebung, es hat ein rein normatives Sein, dessen Realität an die Realität einer Gesetzgebung geknüpft ist. Daraus folgt, daß der Mensch, sofern er an der Aufgabe seines sittlichen Selbstbewußtseins arbeiten will, sich nicht mehr auf den Befehl einer auswärtigen Macht, heiße diese Gott, Natur oder Geschichte, berufen kann, sondern auf die eigene sittliche Gesetzgebung verwiesen ist, in der er sein Handeln bestimmt.

3. Selbstbestimmung

Die Autonomie des sittlichen Individuums ist bisher als „Gesetzgebung zum Selbst", als Instanz charakterisiert worden, die sich in ihren Gesetzgebungsakten erst erzeugt und in ihnen erhält. Mit diesem Begriff der Autonomie als Aufgabe der Selbstgesetzgebung wird die ethische Aussage getroffen, daß der Mensch erst dann und nur dann als sittliches Individuum Realität gewinnen kann, wenn er die Aufgabe der Selbstgesetzgebung annimmt, wenn er bereit ist, für sich das Gesetz der Menschheit in seiner Person zu vollziehen. Es erhebt sich jetzt die Frage, wie der Vollzug der Selbstgesetzgebung möglich wird; welches begriffliche Merkmal die Umsetzung der Aufgabe der Selbstgesetzgebung ErW, S. 21.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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übernimmt. Die Gesetzgebung vollzieht sich in Gesetzen und die Vollziehung des Gesetzes erfolgt in Handlungen. Voraussetzung der gesetzmäßigen Handlung ist die Möglichkeit der Bestimmbarkeit des Handelns gemäß dem selbstgesetzten Gesetz. Der Begriff der Selbstbestimmung soll den „Zusammenhang der Aufgabe des Selbst mit der Aufgabe der Gesetzgebung in Bezug auf das einzelne Gesetz und in Bezug auf die Entfaltung des Selbst in den einzelnen Handlungen' 3 0 darstellen. Mit dieser Problemstellung wird jetzt vom Standpunkt des sittlichen Einzelindividuums jene Erörterung wieder aufgenommen, die bei der Konstitution des sittlichen Subjekts zu der Frage geführt hatte, wie das sittliche Subjekt in seiner allheitlichen Form, d. h. als Staat, sich entfalte. Die Antwort lautete, daß der Staat als Ziel- und Leitbegriff des sittlichen Selbstbewußtseins sich durch Gesetze konstituiere und bestimme. Das Gesetz ist die Handlungsform des Staates. Da das sittliche Individuum nur eine Verwandlungsform des sittlichen Allheitssubjekts darstellt, so müßte es nun nur konsequent erscheinen, wenn hinsichtlich seiner Autonomie nur die Feststellungen gälten, die schon für das sittliche Allheitssubjekt getroffen wurden. Die einzelnen Handlungen des sittlichen Individuums beständen folgerichtig in jenen einzelnen Gesetzen, nach denen das sittliche Individuum sich zur sittlichen Gemeinschaft bestimmt. Bemerkenswerterweise entwickelt Cohen den Begriff der Selbstbestimmung jedoch nicht in dieser Richtung und Konsequenz. Der Grund dafür liegt darin, daß er bei der Auseinanderlegung des Begriffs der Selbstbestimmung des sittlichen Individuums in Schwierigkeiten gerät, die mit der Auseinanderreißung von sittlicher Person und konkretem Menschen zusammenhängen. Während oben gesagt wurde, daß die folgerechte Anwendung der Begriffe der Grundlegung der Ethik verlange, daß die Handlungen des sittlichen Individuums als die einzelnen, nach dem allgemeinen Sittengesetze bestimmten Gesetze aufzufassen seien, so zeigt sich in Cohens Ausführungen zum Begriff der Selbstbestimmung, daß er die Handlung nicht als Gesetz beschreibt, sondern als realen Vorgang. Wenn durch die Selbstbestimmung die Bestimmtheit der Handlung ins Werk gesetzt werden soll, so wird diese Bestimmtheit Cohen zufolge charakterisiert durch den Vorsatz. „Der Vorsatz ist die Vorwahl, die Vorwegnahme, die Vornahme eines bestimmten Inhalts der Handlung. Der Vorsatz ist nicht Überlegung, sondern Entscheidung; Entscheidung in der Wirklichkeit, in der einzelnen Tatsache. Daher ohne Vorsatz kein Wille, keine Handlung. In dem Vorsatze aber scheinen sich Aufgabe und Wirklichkeit zu berühren. Dies darf nicht auffallen; das ist richtig und notwendig. So fordert es der Begriff der Aufgabe, daß sie in Lösung übergehe; und ebenso wiederum in Aufgabe zurückgehe. Diesen Weg führt und beschreitet der Vorsatz in der SelbstbestimErW, S. 3 3 .

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

mung. Die Bestimmtheit, die Einzelheit ist der Inhalt der wirklichen Handlung, der sich verwirklichenden Handlung 31 ." Diese Wendung des Problems der Selbstbestimmung überrascht. Daß Cohen sich dieser Wendung selbst nicht sicher war, belegen die Formulierungen, die er gesucht: Die Berührung von Aufgabe und Wirklichkeit im Vorsatze „dürfe nicht auffallen" ; sie sei „richtig und notwendig". Diese Berührung fällt aber auf. Denn die Frage, ob und wie der konkrete Mensch sich selbst bestimmen könne, war vorher als „Frage der alten Metaphysik" abgetan worden. Gerade der Begriff der Aufgabe sollte klarstellen, daß Autonomie, nämlich sittliche Selbstgesetzgebung und Selbstbestimmung, stets immer nur als Leitideen zu begreifen seien, nach denen der Mensch, sofern er als sittliches Wesen betrachtet und beurteilt werden solle, streben und seine Handlungen ausrichten müsse. Stattdessen beginnt Cohen, das „psychologische Faktum des Vorsatzes" auszuzeichnen, um „dem ethischen Begriffe der Selbstbestimmung die reale Anwendung zu sichern" 32 . Das Problem der Selbstbestimmung als ethisches Problem war zunächst als das Problem der Handlung des sittlichen Individuums verstanden worden. Die Frage nach der Bestimmtheit der Handlung aber ist im ethischen Sinne die Frage der Inhaltsbestimmung des einzelnen Gesetzes; ist die Frage, wie das sittliche Individuum für den einzelnen Fall sein Handlungsgesetz bestimmt. Cohen gerät bei der Umsetzung der ethischen Kategorien auf das sittliche Einzelindividuum in Schwierigkeiten, weil er Naturwesen und sittliches Individuum schließlich doch nicht zu trennen vermag. Aber diese Schwierigkeiten sind nicht ohne Grund herbeigeführt. Das Problem, wie die sittliche Person auf das Naturwesen Mensch soll Einfluß haben können, wenn zwei Welten sie trennen, hat diese Schwierigkeiten provoziert. Während Cohen vorher festgestellt hat, daß die „alte Freiheitsfrage" als Frage nach dem absoluten Ursprung der Handlung durch die Kantische Formulierung des Freiheitsproblems als Frage nach dem Ursprung des Gesetzes ersetzt worden sei, nimmt er jetzt die alte Freiheitsfrage doch wieder auf. Wenn durch die „Anerkennung des psychologischen Faktums des Vorsatzes" dem ethischen Begriffe der Selbstbestimmung die Anwendung gesichert 33 sein soll, so wird auf nichts anderes als auf den im Vorsatz befindlichen Ursprung der Handlung abgestellt. Der Rückgriff auf den Vorsatz bedeutet die Einführung eines Terminus in die Ethik, der nach Cohens eigenen methodischen Unterscheidungen von Logik und Ethik illegitim ist 34 . Mit der Frage, wie die Bestimmtheit der einzelnen Handlung „das Selbst zur Erscheinung, zur Wirklich31

ErW, S. 328. ErW, S. 338. 33 Vgl. ErW, S. 338. 34 Das hat auch mit großer Klarheit herausgearbeitet Joseph Klein, in: Die Grundlegung der Ethik ..., S. 125; ebenso Ollig, Hans-Ludwig: Aporetische Freiheitsphilosophie. Zu Hermann Cohens philosophischem Ansatz, in: Philosophisches Jahrbuch (85) 1978, S. 368. 32

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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keit" 3 5 zu bringen, wie „sie die Aufgabe des Selbst zu verwirklichen vermag" 36 , betritt Cohen unversehens die Ebene erfahrungswissenschaftlicher Bestimmungen. Jetzt nämlich handelt es sich nicht mehr um das Problem, wie das sittliche Individuum sein einzelnes Handlungsgesetz bestimmt, sondern darum, ob und wie der Mensch als Naturwesen seine Handlungen bestimmen kann. Geht man vom Aufgabenbegriff der Ethik aus, wonach die Merkmale der Autonomie „nach ihrem höchsten Sinn" 3 7 nur Aufgaben bedeuten, so hätte Cohen folgerichtig nicht mehr sagen können, als daß die Selbstbestimmung eine Idee sei, die dem Menschen, wolle er sittlich handeln, aufgegeben sei; daß, wenn der Mensch sittlichen Handelns fähig sein solle, die Selbstbestimmung als eine Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns gesetzt sein müsse. Cohen richtet sein Interesse nun aber auf die Frage, wie die „reale Anwendung" des ethischen Begriffs der Selbstbestimmung „begründet und gesichert" 38 werden könne. Er gesteht sogar die Verschiebung der Fragestellung ein, wenn er die Selbstbestimmung als „eine Art von Freiheit" 39 charakterisiert und fragt: „Was nützte es, daß die Gesetze frei entspringen, wenn sie nicht daraufhin eben frei vollzogen werden? 40 " Das aber ist genau die Formulierung des Freiheitsproblems der alten Metaphysik. Mit dem „Prinzip der Selbstbestimmung" glaubt Cohen aber, „die alte Bedeutung von dem absoluten Anfang der Freiheit hier zu einer ganz neuen Geltung" 41 bringen zu können. Diese Fassung des Prinzips der Selbstbestimmung, da sie an das alte Problem des absoluten Anfangs der Handlung anknüpfen will, zielt aber offenbar nicht mehr auf das sittliche Einzelindividuum, sondern auf den konkreten Menschen. Wie begründet und rechtfertigt Cohen jetzt die Möglichkeit der Selbstbestimmung des konkreten Menschen, nachdem er vorher so deutlich die unverbrüchliche Geltung des Kausalgesetzes herausgestellt hatte? Selbstbestimmung als „eine Art der Freiheit", das ist Cohens neuer Gedankengang, ist deshalb möglich, weil der Mensch über die Fähigkeit der Erkenntnis verfügt. Erkenntnis ist nicht Abspiegelung des Gegenstandes am Subjekt. Erkenntnis ist ein schöpferischer Akt des Subjekts, ein hypothetischer Entwurf, der dem Gegenstande erst seine Bestimmtheit gibt. Erkenntnis ist Bestimmung. Erkenntnis aber ist unzweifelhaft möglich, weil schon der Zweifel an der Erkenntnis Erkenntnis voraussetzt 42. 35

ErW, S. 329. Ebd. 37 ErW, S. 369. 38 Ebd. 39 ErW, S. 333. 40 ErW, S. 331. 41 Ebd. 42 Vgl. zum Freiheitsbeweis, der aus erkenntnistheoretischen Argumenten gewonnen wird, Gehlen, Arnold: Theorie der Willensfreiheit und frühe philosophische Schriften, Neuwied 1965, S. 157 ff. 36

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Zu den grundlegenden Ergebnissen der Erkenntnistheorie gehört, daß die Kategorie der Kausalität notwendig vorausgesetzt werden muß, um überhaupt Naturzusammenhänge konstruieren und darstellen zu können. Daß der Mensch über die Kenntnis des Kausalgesetzes verfügt, - damit beginnt Cohens zentrale Gedankenreihe für die Begründung der Selbstbestimmung als eine „Art der Freiheit" - ist die grundlegende Bedingung für die Bestimmbarkeit der eigenen Handlung. In der Kenntnis der Kausalverläufe liegt zugleich die Möglichkeit der Verfügbarkeit über Kausalverläufe und damit deren Bestimmbarkeit für die eigenen Zwecke, für das eigene Handeln. „Wenn sonach die Selbstbestimmung eine Art der Freiheit bedeutet, so beruht diese Freiheit auf der Erkenntnis der Kausalität; sie kann von derselben schlechterdings nicht abgelöst werden. Kausalität kann daher keinen Widerspruch zu ihrer Freiheit bilden 43 ." Doch wie setzt sich das rein kognitive Moment, die Erkenntnis des Kausalnexus um in den bestimmenden Eingriff in das Realgeschehen? Von der Erfüllung welcher Merkmale hängt das Sich-Verfügbarmachen des Kausalverlaufs ab? Und welchen Bezug können diese Untersuchungen für den Begriff der sittlichen Selbstbestimmung haben? Cohen versucht, diese Fragen anhand der „juristischen Charakteristik der Handlung" 44 zu beantworten. In der Handlung also soll sich die Selbstbestimmung, sofern sie als „eine Art der Freiheit" begriffen wird, vollziehen. Den Nachweis anzutreten, daß die Handlung die Selbstbestimmung leisten kann, setzt eine Analyse der Struktur der Handlung voraus. Ihr gelten jetzt Cohens Bemühungen. Das Vorhaben Cohens, die Struktur der Handlung „im juristischen Sinne" 45 für den Handlungsbegriff seiner Ethik verwertbar zu machen, legt den Verdacht nahe, daß Cohen unter dem Zwang zur Befolgung der methodischen Prämissen, aus seiner aus mangelnder Fachnähe resultierenden Hochschätzung für das „Faktum der Rechtswissenschaften" und seiner Überschätzung der Festigkeit der begrifflichen Ergebnisse der Rechtswissenschaft verkannte, daß die Jurisprudenz gerade zu jener Zeit der Abfassung der „Ethik des reinen Willens" in tiefgreifenden Auseinandersetzungen um ihren Handlungsbegriff 46 befangen war. Gerade im Bereich der Strafrechtswissenschaft hatte im Jahr des Erscheinens der „Ethik des reinen Willens" Radbruchs Schrift über den Handlungsbegriff 47 für den radikalen Umbau des Handlungsbegriffs ein bedeutsames Wegzeichen gesetzt. Übersieht man die Ausführungen Cohens zum Hand43

ErW, S. 333. Vgl. ErW, S. 334. 45 ErW, S. 333. 46 Vgl. dazu von Bubnoff, Eckhart: Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, Heidelberg 1966. 47 Radbruch, Gustav: Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Berlin 1904. 44

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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lungsbegriff insgesamt, so scheint es, daß Cohen die Diskussion um den Handlungsbegriff, die von einer anderen Marburger Schule, nämlich jener strafrechtswissenschaftlichen Schule von von Liszts, angestoßen worden war, durchaus verfolgt hatte. Auch wenn Cohen in der Behandlung der Ergebnisse dieser Diskussion nur fragmentarisch und manchmal nicht ganz durchsichtig vorgeht, so erstaunt doch, mit welcher Sicherheit er die Schwachpunkte des naturalistischen Handlungsbegriffs erkannt hat. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, führt Cohen 48 den traditionellen philosophischen Handlungsbegriff, wie er von Hegel 49 formuliert und in der Hegeischen Schule der Strafrechtswissenschaft 50 tradiert wurde, fort. Cohen legt seiner Analyse der Struktur der Handlung den Fall zugrunde, daß der von einem Menschen ausgelöste Druck auf einen Mechanismus eine Explosion auslöst, die andere Menschen tötet 51 . Zunächst untersucht er das kognitive Moment dieser Handlung. „Das Denken des Kausalnexus, der zwischen dem Druck auf den Apparat und der Explosion besteht", wird zur ersten „Bedingung der Handlung im juristischen Sinne" 52 gemacht. Dieses Wissenselement, die Erkenntnis und Antizipation des Kausalverlaufs, „ein klares, überschaubares, zielbewußtes Denken" 53 , die intellektuell vollzogene Vorwegnahme des Zieles und die Auswahl der Faktoren, die aufgrund der Kenntnis des Kausalverlaufs erforderlich sind, um dieses Ziel zu erreichen, hält Cohen für die Charakteristik der Handlung allerdings für nicht ausreichend. „In der juristischen Charakteristik der Handlung wird diese Bestimmtheit und Klarheit des kausalen Denkens als eine Freiheit zugestanden. Dieser juristischen Terminologie gegenüber aber haben wir nun zu erkennen, daß sie nur eine Freiheit des Denkens wäre. Der Jurist könnte sagen, mit dieser allein sei ihm gedient; eine andere sei von Übel. Wir werden sehen, ob diese Position den Voraussetzungen des Rechts gegenüber sich halten läßt; ob diese verzweifelte Position notwendig ist. Hier jedoch haben wir zunächst darauf zu sehen, daß mit dieser Einschränkung der Begriff des Willens und der Hand48 In der Handlungslehre Nicolai Hartmanns, dem einstigen Schüler Cohens, tauchen Elemente der Cohenschen Analyse des Handlungsbegriffs wieder auf. Daß in solchem Zusammenhange Übereinstimmungen der finalen Handlungslehre, die Welzel in den Dreißiger Jahren unter Berufung auf die Handlungslehre Hartmanns begründete, mit den Cohenschen Überlegungen nicht überraschen, liegt nahe; Vgl. Welzel, Hans: Kausalität und Handlung (1931), Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935), Studien zum System des Strafrechts (1939); Übereinstimmungen finden sich auch mit dem an Hegel anknüpfenden Handlungsbegriff Hellmut Mayers; vgl. ζ. B. Strafrecht, Allgemeiner Teil, Stuttgart 1953, § 8 II, III. 49 Vgl. Hegel: Rechtsphilosophie, §§ 113 ff.; dazu: Larenz, Karl: Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung, 1927. 50 Vgl. dazu Eckhart von Bubnoff: Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs. si Vgl. ErW, S. 333. 52 Vgl. ErW, S. 333. ErW, S. 3 4 .

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

lung verkürzt wird. Wir fordern für den Willen und die Handlung die Selbstbestimmung; nicht nur für das Denken 54 ." Mit der „verzweifelten Position", die Cohen den Juristen unterschiebt, will Cohen jene Auffassungen in der Rechtswissenschaft seiner Zeit bezeichnen, die in Verfolgung des Umbaus der sich an Hegel anschließenden Handlungslehre zu einer naturalistischen Handlungslehre die Einheit der Handlung zerrissen hatten und den Vorsatz aus der Handlung entfernt und als Schuldmoment auf „die die Willensbetätigung begleitende Vorstellung ihres Erfolges" 55 reduziert hatten. Cohen hat diese aus der kausalen Handlungslehre folgenden straftatsystematischen Umstellungen allerdings nicht durchschaut. Nach seinem Verständnis, das noch völlig von Begriffen der traditionellen philosophischen Handlungstheorie geprägt ist, bleibt der Vorsatz auch in der von ihm kritisierten ilandlungslehre Bestandteil der „Handlung im juristischen Sinne", während die kausale Handlungslehre tatsächlich den Vorsatz gänzlich aus der Handlung herausgenommen und den Anknüpfungspunkt der Handlung im Individuum auf das naturalistisch gedachte Moment des Willensimpulses, der „Muskelinnervation als Auslöser des blindmechanischen Geschehens"56 beschränkt hatte. Dieses Mißverständnis Cohens drückt sich in der folgenden Bemerkung aus: „Das aber ist der falsche Intellektualismus, der sich in der neueren juristischen Diskussion kundgibt, daß man in dem Erkennen des Kausalnexus das entscheidende Kriterium für die Willenshandlung zu erkennen glaubt. Damit löst man den Willen in das Denken auf. Der Vorsatz büßt dabei seine eigentümliche Kraft ein. Diesem grundsätzlichen Irrtum tritt die Selbstbestimmung entgegen. Die Bestimmung ist nicht nur Denken und Erkennen, sie setzt sich in Vorsatz um. Dieser ist der Ansatz der Handlung. Und die Handlung ist mehr als nur Denken. Das Denken, das Erkennen, das Wissen darf nicht fehlen; ohne es gibt es keine Handlung; aber mit ihm allein auch noch nicht. Wird dagegen der Vorsatz eingeschaltet, so wird eine ununterbrochene, eine auch durch eine psychologische Unterbrechung des Bewußtseins nicht zu durchbrechende Brücke zwischen dem Denken und der Handlung eingerichtet; und auf dieser Brücke bewegt sich der Wille 57 ." Will man zu einer angemessenen Würdigung der Cohenschen Kritik des naturalistischen Handlungsbegriffs, die er - für die juristische Betrachtung auf den ersten Blick irritierend - als Kritik des Vorsatzbegriffs der Vorstellungstheorie aufzäumt, kommen, so ist zu berücksichtigen, daß Cohen jenes Moment 54

ErW, S. 334. von Liszt, Franz: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 16./17. Auflage, Berlin Î908, S. 170. 56 Welzel, Hans: Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht - Untersuchungen über die ideologischen Grundlagen der Strafrechtswissenschaft, Berlin 1935; zitiert nach: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, Berlin 1975, S. 95. ErW, S. f. 55

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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vermißt, das die Vorstellung des Kausalgeschehens mit dem aus dem Kausalgeschehen resultierenden Erfolge verklammert. Dieses verklammernde Moment aber heißt Handlung und „das „Rückgrat der Handlung" 58 bildet der zielbewußte, das Kausalgeschehen lenkende Wille, nämlich der Vorsatz. „Zwischen Gesinnung und der Tat liegt also eine weite Strecke, die nicht öde ist, sondern die von dem Willen und zum Willen in mannigfachen Ansätzen und Absätzen abgestuft bearbeitet wird. Eine solche Furche bildet der Vorsatz 59 ." Dem Vorsatz eignet in Cohens Handlungsmodell zuvörderst ein kognitives Moment, das er das „kausale Denken" oder das „Denken der Erkenntnis" nennt, nämlich die Fähigkeit des Menschen, Naturprozesse unter Gesetze zu bringen und diese Gesetzmäßigkeiten sich verfügbar zu machen. Zum Vorsatz aber gehört weiterhin der Affekt. Unter Affekt versteht Cohen das volitive Element, das den Entschluß zur Verwirklichung, die Äußerung zustande bringt. Die Handlung, die den Affekt mit dem Denken „verbindet und vereinigt" 60 , ist schließlich „allerwege nur und nichts Geringeres als das Äußere des Innern" 61. Während das Denken, d. h. das Ergebnis des Denkens, das Gedachte, „immer nur ein Inneres" 62 bleibt, will die Handlung „ihren Inhalt, ihre Hervorbringung zu einem Gegenstande machen, der etwas Anderes sei als ein Gedanke. Dieses Andere liegt im Äußeren. Die Handlung ist Äußerung* 3" Allerdings ist die Äußerung nicht gleichzusetzen mit der Tat. Cohen unterscheidet Handlung und Tat 64 . Die Tat ist „eine Veränderung in der Außenwelt" 65 . Damit wäre jedoch das intentionale Moment der Handlung, die Äußerung eines Innern, die Realisierung eines Gedachten, die Objektivierung eines Willensinhalts, nicht erfaßt. „Die Tat bedarf der Tatsache, um in ihr kenntlich zu werden; um sich als solche zu vollziehen. Die Handlung dagegen ist von diesem äußeren Erfolge unabhängig. Die Folge, welche sich aus dem Willen für die Außenwelt ergibt, gehört nicht mehr zum Willen. Es wäre aber falsch, darum den Willen etwa auf die bloße Absicht und Gesinnung einzudämmen; denn damit würde auch die Handlung vom Willen abgeschnitten. Die Handlung gehört zum Willen; der Erfolg dagegen in der Außenwelt gehört nicht mehr zur Handlung, darum also auch nicht zum Willen 66" Gemäß dieser Cohenschen Bestimmung des Handlungsbegriffs würde es sich nun so verhalten, daß der naturalistische Handlungsbegriff nicht eigentlich eine Handlung bestimmte, sondern den Erfolg der Handlung, die Tat. Der kausale Handlungsbegriff wäre nach dem Cohenschen Verständnis 58

Vgl. Welzel, Hans: Das deutsche Strafrecht, 9. Aufl., Berlin 1967, S. 31. ErW, S. 117. 60 ErW, S. 169. 6 1 ErW, S. 168. 62 ErW, S. 165. 63 ErW, S. 165 f. 64 Ebenso, Hegel, vgl. Rechtsphilosophie, §§ 117, 118. 65 ErW, S. 183. 66 ErW, S. 183. 59

2*

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

ein Tatbegriff. In der Tat ist diese Folgerung nur konsequent. Wenn von Liszt gemäß seiner naturalistischen Annahme die Beleidigungshandlung zunächst „als eine Erregung von Luftschwingungen und von physiologischen Prozessen im Nervensystem des Angegriffenen" 67 auffaßt, so kann Cohen dem entgegenhalten, daß es auf den „Sinn der Worte" ankommt, die geäußert werden, denn „das präzise Mittel, durch welches der Wille in der Handlung sich betätigt und sich bezeugt, das ist der sprachliche Ausdruck 68 ." „Der Sprachlaut braucht nicht in der Luftbewegung zur Darstellung gekommen sein, dann hat die Sprache doch stattgefunden 69." Cohen führt an anderer Stelle den Begriff der Sprachhandlung ein um anzudeuten, daß es nicht der Erfolg in der Außenwelt ist, der die Handlung begründet, sondern der Sinn einer Äußerung, der sie als Handlung auszeichnet. „Wenn der Wille in der Handlung sich vollendet, so erkennen wir nunmehr, daß diese Vollendung in der Sprachhandlung sich vollführt 10." Da Cohen sich bei der Analyse des Handlungsvorsatzes auf das Gebiet psychologischer Bestimmungen begeben hat und er deshalb auch genötigt ist, das Problem des Ursprungs der Handlung-jenes Problem der „alten Metaphysik" - doch wieder aufzugreifen, hat er sich die Frage zu stellen, wie es um den „Anteil des Affekts im Vorsatz" 71 steht; ob nicht vielleicht das volitive Element des Affekts für die Handlungsrichtung ausschlaggebend ist. Damit wäre der Begriff der Selbstbestimmung gefährdet. Cohens Ausführungen an dieser Stelle sind bemerkenswert knapp gehalten und nicht sonderlich überzeugend. Er hält den Schluß für gerechtfertigt, „daß die Frage vom Anteil des Affekts im Vorsatze keine erhebliche Schwierigkeit 67

v. Liszt: Lehrbuch, 2. Aufl., Berlin 1884, S. 107. ErW, S. 183. 69 ErW, S. 184. ™ ErW, S. 185. Den Zusammenhang von Handlung und Sprache sieht Cohen gerade im Recht zu „lehrreicher Deutlichkeit" (S. 184) gebracht. Die Sprachhandlung muß den Sinn einer Norm erfüllen; dadurch erlangt sie erst rechtlich-normative Geltung. Das in der von der psychologischen Willenstheorie beherrschten Rechtslehre jener Zeit ungelöste Problem der Einordnung der Mentalreservation, - wenn der als Innerlichkeit verstandene Wille der ausschlaggebende Faktor bei der Auslegung einer Erklärung sein soll, so muß die Mentalreservation auch Anerkennung finden, obwohl das positive Recht genau dies nicht akzeptiert - findet in Cohens Theorie eine Lösung, da er in Antizipation der Kelsenschen Ausführungen darauf abstellt, daß das Recht bestimmt, was einer Sprachäußerung G,Sprachhandlung") rechtlichen Geltungssinn verleiht. „Unter allen Formen, auf welche das Recht dringt, ohne deren Wahrung und genaue Darstellung die Rechtsgeschäfte als solche nicht vollziehbar werden, steht das Wort obenan. Der Rechtswille muß daher in bestimmten, 68

vorgeschriebenen Worten ausgesprochen werden. Es ist, als ob durch die Formeln, an wel-

che das Rechtsgeschäft gebunden wird, die Willenshandlung, in der die Rechtshandlung beruht, an die Aussprache gebunden werden soll. Jede Art von Reservatio mentalis soll von vornherein ausgeschlossen werden. Es kommt nicht darauf an, was du dir gedacht hast; das Denken allein macht deinen Willen nicht aus. Wenn du willst, mußt du deinen Willen aussprechen. Die Sprache erst, und sie allein vollführt deinen Willen" (S. 185). 71

ErW, S. 339.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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für die Anwendung der Selbstbestimmung bildet. Der Schwäche des Affekts steht die Impulsivität desselben gegenüber; vielleicht sogar zur Seite. Normalerweise finden sich das kausale Denken und der Affekt in den entsprechenden Anteilen zusammen, um den Vorsatz zu Stande zu bringen 72 ." Für problematischer als die Frage nach der Determinationskraft des Affekts hält Cohen aber die Frage nach der Selbstbestimmbarkeit der steuernden Funktion des Intellekts, nach seiner Fähigkeit, Kausalprozesse zu antizipieren und sie sich zunutze zu machen. Cohen nennt es das Problem der „Normalität des kausalen Denkens", als „der ersten und grundlegenden Voraussetzung der sittlichen Handlung und der Selbstbestimmung" 73 . „Ist diese Voraussetzung in der Tat als ein psychologisches Faktum anzunehmen? Wenn nun aber an der Genauigkeit, an der Richtigkeit dieses kausalen Erkennens zu zweifeln wäre; wenn dasselbe vielmehr das Produkt eines mechanischen Zwanges wäre, der von Außen und von Innen ausgeübt wird, so daß nur der Anschein, die Illusion einer eigenen Bestimmung der Handlung erregt und erhalten wird? Das ist die schwere, die große Frage, welche die Möglichkeit der Ethik der Skepsis zu überliefern scheint 74 ." Cohens Antwort ist oben schon einmal gegeben worden. Sie setzt an bei jenem Beweis der Freiheit, der aus dem Faktum der Wissenschaft begründet wird. Daß die Wissenschaft sich nicht von der Natur am Leitband gängeln lasse, sondern diese nötige, auf ihre Fragen zu antworten, diese Einsicht der Wissenschaft beweist für Cohen die Freiheit des menschlichen Denkens. Wer diese Freiheit des theoretischen Denkens bezweifelt, der muß um so mehr die Freiheit des Handelns bezweifeln, denn Handeln setzt Denken voraus. „Wenn die Genauigkeit, die Gründlichkeit und die Klarheit des kausalen Denkens nur eine Illusion selbsteigener Tätigkeit, wenn sie vielmehr das Werk einer Spieluhr in uns wäre, dann wären die Grundlegungen, welche die Logik sich ausdenkt, um ihr Lehrgebäude zu sichern, in der Tat nur subjektive Nachversuche, das unerkennbare, objektive Fundament aus seinem Überbau heraus zu zeichnen und abzubilden. Aber es wäre kein Abbild, was so entstehen könnte, sondern lediglich und im besten Falle eine zweckmäßige Zeichnung. Auffällig und mehr als dies, das echteste Beispiel eines Wunders wäre es, solchen Entwürfen von Grundlagen, die dem theoretischen Lehrgebäude und nur diesem entstammen, für die es sonst keine Anweisung und Anleitung gäbe, dennoch die praktische, experimentelle Erfahrung in jedem Einzelfalle sich anpaßt, so daß zwischen dieser auf solchen Flugsand errichteten Theorie und der Erfahrung und der Wirklichkeit eine genaue Übereinstimmung sich herstellt. Wir haben hier nicht für das Recht und den Sinn der Logik einzutreten; wir konstatieren in dieser Konsequenz über den Umstand, daß, dem Grundgesetze der Wahrheit ge72 73 74

ErW, S. 340. Ebd. ErW, S. 340.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

mäß, da wo die echte Ethik in Frage gestellt wird, zugleich auch die Logik in die Skepsis mitgezogen wird. Und wir werden von hier aus auf die Konsequenz geführt, daß der theoretische Skeptizismus im letzten Grunde mit dem ethischen Skeptizismus zugleich erledigt werden dürfte 75." Bisher ist die Selbstbestimmung charakterisiert worden als Handlung, die durch ein äußerliches Stellungnehmen sich entfaltet. Das „Rückgrat der Handlung" ist der Wille und der Wille ist Vorsatz. Ihm eignet eine kognitiv-finale Komponente, ein „klares, ungehemmtes, überschauendes, zielbewußtes Denken" 7 6 , nämlich die Fähigkeit, Kausalverläufe zu erkennen und sich verfügbar zu machen, indem man sie für bestimmte Zwecke einsetzt. Würde dieses intellektuelle Moment allein die Handlung konstituieren, bliebe die Handlung Denkhandlung. Zur Willenshandlung wird sie dadurch, daß im Vorsatze das volitiv-affektive Moment hinzutritt. Durch diese Komponente erst wird begreiflich, daß die Innerlichkeit des Gedachten sich umsetzen kann in die Äußerlichkeit einer Stellungnahme oder Bewegung. Wäre nun mit diesen beiden Komponenten der Handlungsvorsatz erschöpfend begrifflich bestimmt, so bliebe der Begriff der Selbstbestimmung des Menschen als sittlichem Individuum in entscheidender Weise unterbestimmt. Die Struktur der Handlung wäre ethisch indifferent. Mit ihr wäre die Auslösung einer Explosion zum Zwecke der Gewinnung von Erz genauso beschreibbar wie jene, die die Tötung eines Menschen bezweckt. Soll die sittliche Selbstbestimmung, die Struktur des Handlungsbegriffs der Ethik auseinandergelegt werden, so muß der Unterschied zwischen beiden Arten von Handlungen herausgebracht werden. Von der Selbstgesetzgebung war ausgegangen worden: Die Aufgabe der Selbstgesetzgebung kann das sittliche Individuum nur lösen, indem es sein Tun und Lassen der Selbstgesetzgebung unterwirft, indem es sich nach dem selbst gesetzten Gesetz bestimmt. Die Entscheidung über die Erreichung eines bestimmten Zieles, die Antizipation der zur Zweckerreichung erforderlichen Kausalfaktoren erfolgt also, sofern es sich um das Selbst des sittlichen Individuums handelt, nicht nur unter Berücksichtigung der Naturgesetze, sondern maßgeblich unter der Berücksichtigung moralischer Gesetze. Deshalb gehört zum Vorsatze des ethischen Begriffs der Handlung, das Bewußtsein, sich normgemäß bzw. normwidrig verhalten zu wollen; das Wissen, die durch das Selbst gesetzten Gesetze zu befolgen, sich nach einer moralisch-rechtlichen Regel zu bestimmen. In der Eingehung des Vertrages setze und anerkenne ich die Regel, den Vertrag zu halten und die Vertragsverpflichtungen erfüllen zu sollen. In der Verletzung des anderen Menschen setze ich die Regel, andere Menschen verletzen zu dürfen bzw. verstoße ich gegen die Regel, andere nicht zu verletzen. Anknüpfend an den oben von Cohen gegebenen Fall bedeutet dies: „Hierin aber gerade 75 ErW, S. 340 f. ErW, S. 334.

76

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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erweist sich die Selbstbestimmung an diesem Beispiel in besonderer Evidenz. Die Explosion des Dynamits bedeutet die Tötung eines Menschen, die Vernichtung eines anderen Selbst; nicht nur eines anderen Bewußtseins. Diese Bedeutung hat die kausale Verknüpfung zwischen dem Druck auf den Apparat und der Explosion. Um diese Kenntnis des Kausalnexus, um diese Bedeutung desselben handelt es sich bei der Forderung des Wissens der kausalen Verknüpfung. Sie betrifft nicht die theoretische Kenntnis des physikalischen Experiments. Diesen kausalen Zusammenhang zwischen dem gesamten Komplex, den die Kenntnis und die Behandlung dieses Apparats einerseits bildet mit dem Sein oder Nichtsein deines menschlichen Wesens andererseits hat die Selbstbestimmung zur Voraussetzung. Auf diesen kausalen Zusammenhang hin, dessen Kenntnis einleuchtend ist, wird die Bestimmung, wird die Entscheidung getroffen. Mit ihr wird die Bestimmung getroffen über das Selbst. Über welches Selbst? Über das eigene? Freilich auch über dieses. Gibt es dieses aber für sich allein, von anderen sittlichen Wesen abgesondert und isoliert? Unser Fall bringt es zu populärer Klarheit, daß es in diesem isolierten Sinne kein Selbstbewußtsein gibt. Hier zeigt es sich am Leben eines anderen Menschen. Da wird der Zusammenhang erschütternd deutlich 77 ." Bei Cohen ist allerdings dieses Normbewußtsein nicht deutlich begrifflich ausgezeichnet. Obgleich die Handlung im ethisch-juristischen Sinne nichts anderes ist als die Verwirklichung der Selbstgesetzgebung, sie also nur im Hinblick auf die Selbstgesetzgebung erfolgt, hätte Cohen, der ja das „psychologische Faktum des Vorsatzes" analysiert hat, auch dieses normintentionale Moment, das Normbewußtsein, folgerichtig stärker betonen müssen. In Cohens Aufstellungen wird dagegen das Normbewußtsein deutlich im kognitiven Moment des Vorsatzes aufgesogen. Erklärlich wird diese Ungereimtheit durch Cohens inkonsequente Vermengung des sittlichen mit dem natürlichen Individuum. Während das sittliche Individuum nach allen vorangegangenen methodischen Schrankenziehungen keine Psyche und also auch keinen Vorsatz und keinen Affekt haben dürfte, hätte dem natürlichen Individuum auch deutlich als Vorsatzelement das Normbewußtsein mitgegeben werden müssen. Dieser Aspekt, das Bewußtsein, im Einklang mit dem Sittengesetz bzw. gegen das Sittengesetz zu handeln, stellt für den ethischen Handlungsbegriff ein entscheidendes Element dar, in ihm vollzieht sich die Selbstbestimmung des sittlichen Individuums. Erst indem das Individuum sein zielbewußtes Denken an sittlichen Maximen oder Rechtsgesetzen positiv oder negativ orientiert, erhält die Handlung moralisch-rechtliche Qualität, realisiert es Selbstbestimmung 78 . Wenn vorher die Selbstgesetzgebung als die Aufgabe, die Idee der Menschheit jederzeit zur Grundlage der eigenen Maximen zu machen, gekennzeichnet wur77

ErW, S. 336 f. Darauf hebt deutlicher ab Paul Natorp in seinem Beitrag in der Cohen-Festschrift: Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, S. 203 ff., 219. 78

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de, so stellt die Selbstbestimmung die Aufgabe dar, das sittliche Selbst in der tätigen Stellungnahme zur Welt zu realisieren. Wenn oben gesagt wurde, daß in der Selbstgesetzgebung - bildlich gesprochen - die sittliche Physiognomie des Individuums erzeugt wird, so wird in der Selbstbestimmung dieser sittlichen Physiognomie Leben eingehaucht. Mit Hegels Worten: „Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner Handlungen 79 ." „Das ist die Bedeutung der Selbstbestimmung überall. Wo es sich nicht um das Leben des andern Menschen handelt, da handelt es sich doch immer um seine Ehre und um sein Recht, das sich in seiner, Wohlfahrt für seine sittliche Bestimmung durchzusetzen hat. Das ist nicht der geringste Sinn, der sich schließlich so in der Selbstbestimmung enthüllt: daß das Selbst in ihr an seine sittliche Bestimmung überhaupt gemahnt wird. Jede einzelne Handlung muß im Zusammenhange dieser Bestimmung des sittlichen Wesens, also des Menschengeschlechts erwogen und erkannt werden. Es ist die einzelne bestimmte Handlung, in welcher die Bestimmung des Vorsatzes zu erfolgen hat. Es ist das Selbst, das in jedem einzelnen Falle auf dem Spiele steht; und zwar in dem Sinne, daß nicht nur sein Fortbestand zu sichern sei, sondern daß seine Neuerzeugung die beständige Sorge und Aufgabe bilden muß. Und es ist das Selbst der moralischen Person, wie sie in der juristischen Person des Rechts und des Staates zur evidenten Wirklichkeit kommt, mit der die Selbstbestimmung überall zu rechen hat. Da bleibt kein beschaulicher Solipsismus übrig; es gibt kein Ich wenigstens ohne Er; wenn ich das Er nicht in Du verwandeln wollte. Die Selbstbestimmung bringt es zur unbezweifelbaren, zur ergreifenden Deutlichkeit, daß das Selbst nicht ein isoliertes Individuum ist; das wäre ein abstraktes Individuum 80 ." 4. Selbstverantwortung

Cohens Freiheitsbeweis basiert auf der Annahme, daß das Gattungswesen Mensch vermöge seiner Fähigkeit zur Naturerkenntnis prinzipiell in der Lage ist, Kausalverläufe zu antizipieren und zu steuern. Wissenschaft und Technik legen ein deutliches, schwer in Frage zu stellendes Zeugnis davon ab. Sieht man auf das Tun und Lassen des einzelnen Menschen ab, so gerät man mit der Annahme der Freiheit, der Selbstbestimmung für den einzelnen Fall in „unauflösliche Schwierigkeiten" 81 . Welches ethische Prinzip, das ist Cohens Frage jetzt, erlaubt es, die Annahme aufrechtzuerhalten, daß die Selbstbestimmung im einzelnen Fall erfolgt ist; welches ethische Prinzip muß gesetzt und begründet werden, damit der einzelne Fall nicht als Resultante des zwanghaften Waltens der Natur, sondern als Willenswerk des Einzelindividuums bestimmt werden kann? 79

Hegel, Rechtsphilosophie, § 124.

80

ErW, S. 337. ErW, S. 341.

81

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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Es ist der Begriff der Selbstverantwortung, der - auf einer weiteren Stufe der Ausdeutung des Autonomieprinzips - diese Aufgabe übernehmen soll. Die in dem Probleme der Selbstverantwortung zentrierte Frage, ob der Mensch der Urheber seiner Handlungen sei, welchen Verdienst und welche Schuld er an seinen Handlungen habe, diese Frage, die Cohen „die Grundfrage des Rechts", „die allgemeine Frage des Menschen", die „Frage der menschlichen Kultur" 8 2 nennt, muß nach seiner Fassung des Autonomiebegriffs Bedenken erregen. War nicht die Frage nach dem „Ursprung der Handlung" vorher abgewiesen worden als Frage „der alten Metaphysik" und ersetzt worden durch die Frage nach dem „Ursprung des Gesetzes"? Schon bei der Erörterung des Begriffs der Selbstbestimmung war bemerkt worden, daß Cohen die Probleme der alten Freiheitsfrage nicht abweisen konnte. Im Begriffe des Vorsatzes als der Handlungsentscheidung meldeten sich die Ansprüche des konkreten Menschen an. Das Kriterium für die Fähigkeit zur freien, selbstbestimmten Entscheidung sah Cohen in der Fähigkeit des Menschen zum „kausalen Denken", in seiner Fähigkeit, sich nach seinem Plane Naturverläufe verfügbar machen zu können. Der Freiheitsbeweis wurde von ihm also doch nach dem Muster der Beweise der „alten Metaphysik" geführt. Bei der Auseinanderlegung des Prinzips der Selbstverantwortung setzt Cohen diese nach den Prinzipien seiner Gesetzlichkeits-Ethik methodisch nicht gerechtfertigten Begründung fort. Streng genommen nämlich, in der konsequenten Durchführung der normativen Deutung des sittlichen Individuums als rein normativer Konstruktion, beinhaltet der analytische Begriff der Selbstgesetzgebung bereits die Selbstverantwortung: Sich selbst Gesetze für das Handeln geben zu können, bedeutet, sich entscheiden zu können. In der Möglichkeit der Entscheidung steckt die Möglichkeit der Imputabilität. Mit dem Begriff der Selbstgesetzgebung und der Selbstbestimmung ist notwendig der der Selbstverantwortung gesetzt. Selbstgesetzgebung ohne Selbstverantwortung wäre ein Widerspruch in sich. „Indem ich durch die Selbstgesetzgebung als eigentliches Ziel das Selbst setze, so gebe ich dem Selbst die Befugnis, alle Fragen zu beantworten, die das Leben an den Menschen stellt, in denen es das Selbst in Frage stellt 83 ." Nach Cohens Begriff der Ethik als einer Aufgabenethik läßt sich vom Begriff der Selbstverantwortung nur sagen, daß er Aufgabe ist, daß er gefordert ist, damit sittliches Handeln möglich ist. Ohne die Möglichkeit der Zurechnung zum Selbst wäre der sittliche Grundbegriff der Autonomie unmöglich. Der Begriff der Selbstverantwortung muß also postuliert werden, damit der Mensch als sittliches Individuum gedacht werden kann. Indem aber die Selbstverantwortung als Idee, als Aufgabe des Menschen, sein Tun und Lassen vor dem Forum des Selbst zu rechtfertigen, gefaßt wird, tritt erneut der leibhaftige Mensch in den Problemkreis der Cohenschen Ethik. 82 83

ErW, S. 350. ErW, S. 350.

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Es könnte scheinen, als bürde die Ethik dem Einzelnen die Last der Selbstverantwortung auf, um ihn um so besser imputabel machen zu können für die Zwecke des Strafrechts. Ob dem Menschen die Aufgabe der Selbstverantwortung von der Ethik zugemutet werden kann, verlangt die Beantwortung der Frage, ob der leibhaftige Mensch auch als Urheber seiner Handlungen angesehen werden kann. Das von Cohen zunächst abgetane Problem der alten Metaphysik, die Freiheitsfrage, meldet auch hier bei der Frage der Selbstverantwortung erneut energisch seine Ansprüche an. Wie Cohens Ausführungen zum Begriff der Selbstbestimmung, so sind auch die Erörterungen zum Begriff der Selbstverantwortung geprägt von dieser methodischen Aporie, die sich in der kaum auflöslichen Verquickung normativer und empirisch-phänomenologischer Annahmen ausdrückt. Deutlich wird diese Verquickung in der im folgenden darzustellenden Cohenschen Ausdeutung des Begriffs der Selbstverantwortung, der einerseits ethisch-normativ - als Aufgabe und andererseits - phänomenologisch-psychologisch - als Selbsterkenntnis, i. e. als Gewissen, gefaßt wird. Das Problem der Selbstverantwortung ist gewöhnlich verknüpft mit der Frage nach dem Urheber der verletzenden Handlung. Das Interesse richtet sich zunächst also auf das Interesse am „Ursprung des Bösen"* 4. Seine systematische Bearbeitung findet das Problem traditionell im Begriff der Schuld. Cohen hält diesen Ausgangspunkt für verfehlt. „Die Frage, die wir, um es nun einmal kurz so zu nennen, auf die Freiheit des kausalen Denkens gerichtet haben, interessiert uns an diesem Punkte unserer Entwicklung des ethischen Problems vorzugsweise in positivem Sinne; was bedeutet diese Freiheit des kausalen Denkens für die Selbstbestimmung, das will sagen für die Bestimmung und jedesmalige Neuerzeugung des sittlichen Selbstbewußtseins? Die Frage muß freilich auch negativ gerichtet werden, auf die Nichterzeugung des sittlichen Selbst, und somit auf die Erzeugung des Bösen. Aber von der Entstehung des Guten muß die Frage ausgehen; erst von ihr aus wird die Behandlung der anderen Frage möglich; von ihr wird sie abgeleitet 85 ." Was heißt es, daß die Frage nach dem „Ursprung des Bösen" erst von der Erzeugung des sittlichen Selbst, der Erzeugung des Guten ermöglicht und von ihr geleitet wird? Die Ethik geht wie alle Wissenschaft auf das Gesetz aus. Erst von der Feststellung der Regel wird die Ausnahme bestimmbar, kann sie als solche begriffen werden. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen bedeutet für Cohen die Frage nach der Ausnahme. Dieser Frage vorauszugehen hat die Frage nach der Möglichkeit der Erzeugung des Guten, der Entstehung des Guten in der freiwilligen Befolgung des Sittengesetzes. Diese Frage bildet das „positive Problem" 86 . Es würde dem Begriffe der Ethik, als Wissenschaft vom sittlichen, d. h. 84 85 86

ErW, S. 42. ErW, S. 341 f. ErW, S. 342.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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guten Handeln, widersprechen, wenn der Frage nach der Erzeugung des Bösen ihr vorwaltendes Interesse gälte. „Dies ist ein falscher Ausgang für die Ethik, die vielmehr auf jeder neuen Stufe in der Entwicklung ihrer Grundbegriffe stets nur von dem positiven Problem auszugehen hat. Das ist ihre Logik: sie muß das Gesetz suchen; sie darf nicht von den Ausnahmen ausgehen. Die Wissenschaft geht allerwege und in allen Problemen auf das Gesetz aus; die Ausnahmen reizen sie nur um so dringlicher zur Durchführung des Gesetzes. Wo also das Interesse sich anheftet vornehmlich an den Ursprung des Bösen, da ist zu vermuten, daß nicht die Ethik den Leitgedanken bildet 87 ." Der emphatische Streit um die Freiheitsfrage, und also um die Frage der Möglichkeit der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung, entzündet sich dort, wo es um die Verletzung des Gesetzes geht, dort, wo es um Schuld Strafe geht, im Strafrecht. Wo es jedoch um die Befolgung und Erfüllung des Gesetzes geht, wo es um das Versprechen, um die Eingehung von Verpflichtungen, um das Schließen von Verträgen, wo es also um das positive Aufsichnehmen von Verantwortung geht, wo der Einzelne selbstverständlich weiß und beansprucht und fordert, für etwas einstehen zu müssen, wo jedermann verlangt, daß ihm die Handlung als eigene zugerechnet wird, im alltäglichen Verkehr der Menschen untereinander, sei es im privaten, sei es im öffentlichen, da steht die Freiheitsfrage nicht zur Diskussion, da wird stillschweigend und selbstverständlich dem Einzelnen Selbstverantwortung unterstellt 88 , da wird jeder so behandelt, als ob er die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung habe. Das bürgerliche Recht baut auf dem Prinzip der Privatautonomie auf; es macht die Voraussetzung, daß die Individuen über die Fähigkeit verfügen, sich aus freiem Entschluß Versprechen zu geben und diese einzuhalten, d. h. für sie als eigene Handlung einzutreten. Nach demselben Prinzip ist das Staats- und Verfassungsrecht organisiert. Fundamentales Prinzip der demokratischen Verfassung ist die selbstbestimmte, selbstverantwortliche Teilhabe des Bürgers am politischen Geschehen. Wer diesen Anspruch auf zurechenbares Verhalten dem Bürger abspricht mit der Begründung, zu dieser Entscheidung sei er prinzipiell nicht in der Lage, weil er unfrei sei, der muß konsequent der Idee der Demokratie abschwören. Diesen „Anspruch auf Zurechnung" 89 zum Selbst hat Cohen im Auge, wenn er vom positiven Problem der Freiheit als Selbstverantwortung spricht, wenn er es für notwendig hält, daß zuerst die Regel, das Gesetz, aufgesucht werden müsse. Cohens nicht offen ausgesprochene, aber die ganze Konstruktion tragende 87

ErW, S. 342. ErW, S. 342; ebenso ζ. B. Bockelmann, Paul: Schuld, Schicksal und Verantwortung des Menschen, in: Freiheit und Determination, hrsg. von Karl Förster, Würzburg 1966, S. 91 ff. (93). 89 Hartmann, Nicolai: Ethik, S. 732. 88

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Annahme ist, daß der empirische Mensch die Aufgabe der Selbstverantwortung, der Selbstzurechnung, prinzipiell zu erfüllen in der Lage ist. Die Fähigkeit der Erkenntnis,das, was er die „Freiheit des kausalen Denkens" 90 nennt, bedeutet für ihn die feste Gewähr für die Möglichkeit der Selbstzurechnung. „Die Selbstbestimmung vollzieht nicht nur ihren ersten Schritt, sondern die ganze Breite ihrer Bahn in der Tätigkeit des kausalen Denkens. Wenn nun die Zurechnung, als die Selbstverantwortung, auf der Selbstbestimmung beruht, so bildet das kausale Denken ihre wichtigste Voraussetzung; und also ihr sicherstes Kriterium 91 ." Wenn also der Mensch vermöge seiner Fähigkeit zu denken, seine Handlungsabläufe planen kann und vermittels des Vorsatzes, der Selbstentscheidung, umsetzt in die Handlung, dann ist die Aufgabe der Selbstzurechnung erfüllbar, nicht bloß Desiderat des idealistischen Ethikers. Auf der Basis dieser Lösung des „positiven Problems" der Selbstverantwortung nimmt Cohen das „negative Problem", die Frage der „freiwilligen Verletzung des Sittengesetzes"92 in Angriff. Dieser Frage nach dem „Ursprung des Bösen" gilt das vornehmliche Interesse; es ist die Frage, ob der Mensch schuld ist an seinen bösen Taten, ob er einstehen muß für jene Handlung, die das Sittengesetz verletzt. Für Cohen stellt sich das Problem der Selbstverantwortung jetzt als Problem der Schuld 93. Im mythischen Bewußtsein wird die sittliche Ordnung noch als Natur gedacht. Das Böse ist der Einbruch in die natürliche Ordnung. Das Bemerkenswerte ist, daß es „diese Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen" 94 . Im Begriffe des Verhängnisses und des Schicksals versucht sich das mythische Denken diesen Widerspruch klarzumachen. Das Schicksal, das Böse bricht nicht über das Individuum herein, sondern über das ganze Geschlecht. Dem Geschlecht wird die Last der Schuld aufgebürdet. Das Geschlecht trägt die Schuld. Der Mythos kennt das Individuum nicht, denn „der Mythos kennt keinen Urheber" 95 . Die Individualisierung der Schuld, die Ablösung des Individuums vom Geschlecht, zeigt sich im Zerfall des Mythos im religiösen Denken, im Begriff der Sünde als der Schwachheit des Einzelnen gegenüber dem Gesetz; im poetischen Bewußtsein dagegen, in der griechischen Tragödie wird 90

Vgl. S. 341. ErW, S. 347. 92 ErW, S. 342. 93 Nicolai Hartmann hat in seiner „Ethik" im dritten Teil unter dem Titel „Das Problem der Willensfreiheit" (S.62Iff.) das Verhältnis von Verantwortung, Zurechnung und Schuld ähnlich - allerdings unter anderen methodischen Voraussetzungen - aufgebaut (vgl. Kap. 76: Sittliches Urteil ist Bewußtsein der Selbstbestimmung; Kap. 77: Verantwortung ist Zurechnung; Kap. 78: Das Schuldbewußtsein). 94 ErW, S. 343. ErW, S. . 91

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das Individuum im Heroen, der sich gegen das Schicksal stemmt, erzeugt. Beide aber, Religion und Poesie, lösen Schuld und Schicksal von dem Geschlechte ab. „Die eigene Schuld des Individuums wird sein eigenes Schicksal 96 ." Was läßt sich diesen historischen Orientierungen und Entwicklungen des Schuldbegriffs 97 für die Fragestellung der Selbstverantwortung, der Zurechnung der bösen Tat zum Selbst entnehmen? Ist es eine Lösung für Ethik und für das Recht, mit dem Schuldbegriffe des Mythos und der Tragödie, dem Schicksal, oder dem Schuldbegriff der Religion der Sünde als menschlicher Schwachheit, zu operieren, oder haben Ethik und Strafrecht überhaupt auf ein Urteil zu verzichten, weil „im Verbrechen nur Monomanie und Psychose zu erkennen" 98 ist? Cohens Behandlung des Schuldproblems nimmt hier einen bemerkenswerten Fortgang. Er differenziert das mit der Frage nach der Selbstverantwortung gestellte Problem der Schuld in der Weise, daß er feststellt, daß das Recht das Schuldproblem nicht lösen kann und darf und daß die Ethik das Schuldproblem als Problem der Selbsterkenntnis des Individuums auf sich zu nehmen habe. „Der allein richtige Anfang muß bei dieser Frage damit gemacht werden: daß die Frage der Schuld grundsätzlich und in jedem Sinne ausgeschlossen und abgewehrt wird. Es ist ein falscher, ethisch falscher Gedanke, daß die Schuldfrage der Zukunft des Rechts vorzubehalten sei. Das Recht muß vielmehr für alle Zukunft, weil prinzipiell, außer Zusammenhang gesetzt werden mit der Schuldfrage Wir verfechten die These, daß die Zurechnung prinzipiell von der Schuldfrage abgetrennt werden müsse für den Richter; keineswegs aber für den Verbrecher selbst und in ihm für den sittlichen Menschen 99 ." Was ist der Grund für diese Auffächerung des Schuldproblems, für die These der Trennung von rechtlicher Zurechnung und sittlicher Selbstverantwortung, der Selbstzurechnung? Zunächst einmal erscheint es zweckmäßig, sich terminologische Klarheit zu verschaffen. Schuld ist für Cohen zunächst der Begriff, unter dem Mythos, Poesie und Region das Problem des Einstehens für die böse Tat behandelt haben. Die Bedeutung, die die Schuld im Mythos, in Poesie und Religion hat, besteht vor allem im Merkmal der Bürde und der Last. Durch die Tat ist die natürliche oder göttliche Ordnung gestört worden, das heroische oder schwache Individuum hat die Störung als vom Schicksal ausersehenes zu tragen. Mit der Störung wird die Last der Verantwortung ihm aufgebürdet. Die Schuld „lastet" auf ihm; es „trägt" die Schuld mit sich herum, weil es vom Fatum so bestimmt ist. Das 96

ErW, S. 345. Vgl. dazu auch Nass, Gustav: Wandlungen des Schuldbegriffs im Laufe des Rechtsdenkens, Neuwied 1963. 98 ErW, S. 346. 99 ErW, S. 346 f., 349. 97

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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Merkmal der Urheberschaft im Begriffe der Schuld ist hier noch durchaus nebensächlich. Mit der Entdeckung des Individuums wird auch die Schuld individualisiert. In dem Maße, in dem das Individuum nicht mehr als zufällig vom Schicksal getroffenes betrachtet wird, sondern als selbsteigener Urheber der Tat ausgezeichnet wird, in diesem Maß individualisiert sich die Schuld. Nicht das Schicksal macht schuldig, sondern der böse Charakter. Der Charakter ist die Bürde, er ist die Last der Schuld. Für eine Ethik, bei der die Idee der Autonomie, der Selbstgesetzgebung und Selbstzurechnung des sittlichen Individuums im Zentrum steht, sind diese Deutungen der Schuld vorkritisch. Cohen hält den rechtlichen Begriff der Zurechnung für besser geeignet, die Ansprüche, die eine idealistische Ethik an das Schuldproblem stellt, einzulösen. „Die Schuld geht allein den göttlichen Richter an. Sie ist ein Problem des Mythos, der Tragödie, der Religion. Das Recht kennt die Schuld nur als Dolus oder Culpa. Beide beruhen auf der Zurechnung, welche wiederum auf der Selbstbestimmung beruht, in ihr wurzelt 100 ." Cohens Bevorzugung des Begriffs der Zurechnung vor dem der Schuld, wendet sich ersichtlich gegen die Ontologisierung und Metaphysierung, welche der Schuldbegriff als Folge mythischer und religiöser Auffassungen erfahren hat 1 0 1 . Mit der Ersetzung des Schuldbegriffs durch den Zurechnungsbegriff findet auch eine Veränderung des Problemaspekts statt: Die mythische und religiöse Auffassung der Schuld als schicksalshafter oder gottgefügter Bürde und Last weicht einer rationelleren Auffassung der Schuld, nämlich als zurechenbarer Urheberschaft einer Gesetzesverletzung in dem Sinne, wie Kant sie definiert hat. „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird 1 0 2 ." Während im mythischen und religiösen Denken Schuld mehr unter dem Aspekt der Folge, als Last der Tat, gesehen wird, tritt in der Auffassung der Schuld als Zurechnung mehr die Urheberschaft in den Vordergrund. Es ist für das Verständnis der Cohenschen Absichten ferner festzuhalten, daß er rechtliche Zurechnung und sittliche Zurechnung, nämlich Selbstzurechnung, unterscheidet. 100 101

ErW, S. 347.

Vgl. dazu Hruschka, Joachim: Strukturen der Zurechnung, Berlin 1976, S. 36 ff. Kant, MdS, AB 30. Vgl. auch Natorps Bestimmung: „Was heißt schuld sein? Nicht bloß Ursache sein; Ursache ist auch der Unzurechnungsfähige; und absolute, letzte Ursache ist auch der Zurechnungsfähige nicht. Sondern schuld sein heißt gewollt haben und durch seinen Willen Ursache von etwas sein, das anders als durch diesen Willen nicht geschehen wäre." Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, in: Philosophische Abhandlungen, Festschrift für Hermann Cohen, S. 217. 102

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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Die rechtliche Zurechnung betrifft die Beurteilung des Zusammenhangs von Handlung und Täter von außen, durch den Richter, sittliche Zurechnung, die Selbstzurechnung, betrifft die Beurteilung dieses Zusammenhangs durch das handelnde Individuum selbst. Wie ist nun, im Lichte dieser terminologischen Unterscheidungen, Cohens Feststellung zu verstehen, daß das Recht „für alle Zukunft, weil prinzipiell, außer Zusammenhang gesetzt werden (muß) mit der Schuldfrage" 103 . Die Frage zu entscheiden, ob der Täter mit seiner Handlung vor einem Gott Schuld auf sich geladen hat oder ob er verdient gehandelt hat, ist der Richter nicht berufen. Er ist auch nicht Vollstrecker des über dem Individuum waltenden Schicksals. Der Richter hat lediglich die Aufgabe festzustellen, ob die bestimmte Handlung die Merkmale einer Straftat erfüllt. Das Strafgesetz legt die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Straftat fest. Es macht denjenigen verantwortlich, der in zurechenbarer Weise einem Strafgesetz zuwiderhandelt. Zu dieser Feststellung ist der Richter allein fähig und zu ihr ist er berufen, nicht aber zu der sein Erkenntnisvermögen übersteigenden Frage nach Schuld und Verdienst 104 . Auf diese Feststellung, daß die die Merkmale eines Strafgesetzes erfüllende Handlung diesem bestimmten Täter auch subjektiv zurechenbar ist, nämlich von ihm vorsätzlich oder fahrlässig ins Werk gesetzt worden ist, ist die das Internum des Täters betreffende Untersuchung des Richters beschränkt. Nicht aber kann und darf das ganze Internum des Täters, man nenne es Charakter, Persönlichkeit oder Gesinnung, Gegenstand eines selbständigen Vorwurfs für den Richter sein, weil es sich seiner Erkenntnis entzieht. Max Scheler hat aus dieser Einsicht, daß „die absolut intime Person ... aller möglichen Fremderkenntnis und Fremdwertung ewig transzendent" 105 sei, als Konsequenz ein ethisches Prinzip formuliert: „Dieses Prinzip besagt, daß alles endgültige Richten endlicher Personen über sittlichen Fremdwert und -unwert widersinnig in sich ist. Denn es fehlt ihnen je notwendig die Erkenntnis der absolut intimen Personsphäre des anderen, die zum Mitträger der sittlichen Werte wesenhaft gehört. Nur die Sozialperson und die relativ intime Person kann füglich einer (möglicherweise) evidenten Werterfassung unterliegen. Zurückhaltung endgültig sittlicher Beurteilung übereinander ist daher eine Pflicht endlicher Per103

ErW, S. 347. Diesen Gedanken hat Kant in einer Anmerkung in der transzendentalen Dialektik klassisch formuliert: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wieviel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wieviel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffung (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher nicht auch nach völliger Gerechtigkeit richten" (KrV, Β 580/A 552). 105 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl., Bern 1954, S. 571. 104

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

sonen - so sehr, daß ein Zuwiderhandeln gegen sie allein schon (gleichgültig, ob die Beurteilung positiv oder negativ ausfalle) eine Verletzung der Fremdperson und eine böse Handlung einschließt 106 ." Cohens These, daß das Recht prinzipiell außer Zusammenhang gesetzt werden müsse mit der Schuldfrage, erlaubt nun folgende Klarstellungen: Zunächst besagt sie nicht, wie es das moderne strafjuristische Verständnis des Schuldbegriffs nahelegen könnte, daß Cohen auf den rechtlichen Schuldbegriff verzichten will zugunsten eines Begriffs wie dem der Sozialgefährlichkeit oder dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Cohen hält den Rechtsbegriff der Zurechnung, der erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts 107 auch in der Rechtswissenschaft durch den Begriff der Schuld abgelöst wurde 1 0 8 , für die Fragen der rechtlichen Verantwortung für die das Gesetz verletzende Handlung für klarer. Der Schuldbegriff ist mit mythischen und religiösen Vorstellungen belastet, die eine auf der Idee der Autonomie basierte Ethik nicht mehr akzeptieren kann. Das Verhältnis von rechtlicher und sittlicher Zurechnung ist für Cohen nicht unter dem Aspekt problematisch, unter dem es traditionell verhandelt wird: nämlich als Problem unterschiedlicher Gesetzgebungen, die die Verantwortlichkeit begründen. So wird oft festgestellt, daß die strafrechtliche Verantwortung, weil sie sich auf die Gebote und Verbote des positiven Rechts bezieht, von der sittlichen Verantwortung verschieden sei, die sich allein auf sittliche Normen, seien es gelebte oder postulierte, beziehe 109 . Für eine an der Rechtsidee orientierte Ethik fällt dieser Aspekt systematisch aus. Rechtliche und sittliche Verantwortung beziehen sich auf dieselbe, auf der Idee der Sittlichkeit beruhende Gesetzgebung. Die rechtliche Zurechnung betrifft die Beurteilung des Zusammenhangs von Urheber und Tat von außen, durch den Richter. Die sittliche Zurechnung, die Selbstzurechnung, betrifft die Beurteilung dieses Zusammenhangs durch das handelnde Individuum. Wenn also auch die Gesetzgebung dieselbe ist, so sind doch die Instanzen der Beurteilung verschiedene. Deshalb kann, aber muß nicht zwingend, auch das Ergeb106

Scheler: Der Formalismus in der Ethik, S. 572. So heißt es in dem 1888 in der 15. Aufl. erschienenen Lehrbuch des Deutschen Strafrechts von Albert Friedrich Berner: „Zurechnen heißt nämlich: ein Geschehenes einem Willen auf die Rechnung schreiben, es als das Resultat einer Handlung auffassen, die Vermittlung des Geschehenen mit dem Willen nachweisen" (S. 112, §62). 108 Vgl. zur Karriere des juristischen Schuldbegriffs Mayer, Hellmuth: Strafrecht, Allgemeiner Teil, Stuttgart 1953, S. 210 ff. Mayer hält die Einführung des Begriffs der Schuld in das Strafrecht für die Folge eines Übersetzungsfehlers der Begriffe imputatio und reatus. Er selbst zieht den Begriff der „subjektiven Zurechenbarkeit" (Lehrbuch 1953, S. 210) oder „Verantwortlichkeit" (Das Strafrecht des Deutschen Volkes, Stuttgart 1936, S. 262) vor. 109 So ζ. B. Binding: Die Normen, Bd. 2, 2. Aufl., S. 287 f.; ebenso Baumann, Jürgen: Strafrecht, Allgemeiner Teil, § 23 IV; Maurach, Reinhard: Strafrecht, Allgemeiner Teil, § 37; Ψ oesner, Horst: Strafrechtlicher und sittlicher Schuldvorwurf, in: NJW 64, S. 2. 107

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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nis der Beurteilung unterschiedlich sein: Wie das Individuum angesichts der Forderung des sittlich-rechtlichen Gesetzes seine Urheberschaft an der das Gesetz verletzenden Handlung vor dem Forum des Selbst, dem Gewissen, beurteilt und welche Konsequenzen es daraus zieht, das hat es mit sich selbst auszumachen, das ist die Last der Schuld. Dem Richter muß dieser Aspekt notwendig transzendent bleiben, deshalb darf ihm hier keine Kompetenz zugestanden werden. Er hat die Verantwortung nur zu prüfen, wo und soweit es das Gesetz ihm vorschreibt.

4.1. Cohens Begriff der rechtlichen Zurechnung 110

Daß aber die Tat einem bestimmten Täter zugerechnet werden soll, das schreibt das Strafgesetz vor. Als dolus oder culpa müssen die sich auf das Internum des Täters beziehenden Merkmale der Straftat vorhanden sein. Die Frage ist nur, ob das Recht diese Voraussetzung der subjektiven Zurechenbarkeit machen darf, ob es nicht damit dem Täter eine Entscheidungsfähigkeit imputiert, die er nicht haben kann. Wie bereits oben bei der Frage der Selbstbestimmung erörtert, hält Cohen daran fest, daß die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis, zum kausalen Denken das „sicherste Kriterium" 1 1 1 für die Fähigkeit zur Selbstentscheidung, zur Selbstbestimmung bildet. „Was an der Schuldfrage das ernsteste Interesse bildet, das kann jetzt auf eine theoretische Frage bezogen werden, aber auf eine Vorfrage, nämlich auf die nach dem Vollzuge des kausalen Denkens 112 ." Doch auf das Wissen um die Realisierung der das Strafgesetz verletzenden Handlung allein darf es nicht ankommen. Entscheidend für die strafrechtliche Zurechnung ist, daß die gedankliche Vorwegnahme des Handlungserfolgs sich umsetzt in Entschluß. Die Zurechnung verlangt also weiterhin das Vorliegen des voluntativen Moments im Vorsatz. Diese Annahme drängt Cohen zu einer Auseinandersetzung mit dem Vorsatzbegriff von Liszts. „Eine Überspannung dieses Gedankens, die nicht unbedenklich scheint, ist es, wenn v. Liszt den Vorsatz schlechthin gleichsetzt mit der Vorstellung der Kausalität. Im Vorsatze liegt vielmehr, wie wir gesehen haben, zugleich der Ansatz, der in der Mitwirkung des Affektanteils besteht. Daher dürfen auch Vorsatz und Entschluß nicht unterschieden werden; auch nicht psychologisch in Bezug auf die Überlegung. Es kommt auf die Selbstbestimmung an bei der Selbstverantwortung; und diese 110 Vgl. zur Problematik des juristischen Schuldbegriffs Kaufmann, Arthur: Das Schuldprinzip, eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung, Heidelberg 1961 ; MüllerDietz, Heinz: Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, Karlsruhe 1967 mit vielen Nachweisen, ferner: Achenbach, Hans: Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, Berlin 1974. 111 ErW, S. 347. 1 1 2 ErW, S. 347 f.

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Winter

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beruht, und diese betätigt sich hauptsächlich in dem kausalen Denken; aber keineswegs allein darin; der Anteil des Affekts darf nicht ausgeschaltet werden. Sonst wird der Wille in den Intellekt aufgehoben. Dadurch aber würde die Rechtsfrage verflachen; die Schuldfrage nur umgangen, indem sie dem Anschein nach in die sokratische Frage des Wissens nivelliert wird 1 1 3 ." Cohen wendet sich mit der nachdrücklichen Betonung, daß die Zurechnung der gesetzwidrigen Handlung zum Täter die Feststellung des voluntativen, des Entscheidungselements, im Vorsatz verlangt, gegen die von v. Liszt in das Strafrecht ausdrücklich eingeführte und seit Franks Auseinandersetzung mit der Willenstheorie in seiner Abhandlung „Über Vorstellung und Wille in der modernen Dolus-Lehre" 114 immer breiter vertretene Vorstellungstheorie 115 . Zur Klarstellung des Cohenschen Einwandes ist der von Lisztsche Vorsatzbegriff kurz wiederzugeben. Der Begriff des Vorsatzes umfaßt bei v. Liszt „die Vorstellung der Willensbetätigung selbst", „die Voraussicht des Erfolges" und schließlich „die Vorstellung, daß der Erfolg Wirkung der Willensbetätigung" sei, „also die Vorstellung der Kausalität selbst" 116 . Cohens Einwand gegen die Fassung des Vorsatzbegriffs, durch den dem Täter der mißbilligte Erfolg imputiert werden soll, geht dahin, daß dieser Vorsatzbegriff nicht Handlung und Täter in der Weise verknüpft, daß die Vorstellung des Täters eine - wie Binding formuliert hat - „bestimmende Wirkung auf die Handlung" ausübt 117 . „Sonst würde ja die Vorstellung von der Handlung ganz unabhängig, und wie könnte dann sie allein Gegenstand der Strafe werden, da doch der Grund der Strafe stets eine Handlung ist 1 1 8 ." Die Lisztsche Auffassung rechnet dem Täter den Erfolg zu, „nicht weil er den Erfolg gewollt, sondern weil er die Vorstellung von demselben besessen hatte, deren kausale Folge die ohne ein Wollen des Erfolges sich vollziehende Nervenbewegung gewesen war 1 1 9 ."

113

ErW, S. 348. Frank, Reinhard: Über Vorstellung und Wille in der modernen Dolus-Lehre, in: ZStW 10(1890), S. 169 ff. 115 Vgl. zur Willens- und Vorstellungstheorie Engisch, Karl: Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, Berlin 1930, S. 126 ff. 116 v. Liszt: Lehrbuch, 9. Aufl., 1899, S. 165. Mit der Fassung von Vorsatz und Schuld ist v. Liszt nicht zu Rande gekommen. Das zeigt sich in den fast von Auflage zu Auflage wechselnden Versuchen der Neuformulierung. Eine Übersicht über die Entwicklung bis zur 18. Auflage des Lehrbuchs findet sich bei Rosenfeld, Ernst Heinrich: „Schuld und Vorsatz im v. Lisztschen Lehrbuch, in: ZStW 32,1911, S. 466-491 ; vgl. fernerhin Achenbach, Hans: Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, Berlin 1974, S. 38 ff. 117 Binding, Karl: Die Normen, Bd. 2, 1. Hälfte, 2. Aufl. 1914, S. 395. 118 Ebd., S. 395 f. 119 v. Buri: Vorstellung und Wille, in: Beiträge zur Theorie des Strafrechts und zum Strafgesetzbuche, gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1894, S. 354 f.; zuerst gedruckt in: Gerichtssaal, Bd. 18 (1890), S. 241-271. 114

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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Wenn der Täter deshalb strafrechtlich verantwortlich gemacht wird, weil er den verursachten Erfolg vorausgesehen hat, weil er die Vorstellung der Kausalität hatte, so bezieht sich die Zurechnung nicht auf den von ihm verursachten Erfolg, sondern auf sein Denken, er wird nicht eigentlich für die Tat verantwortlich gemacht, sondern für den Umstand, daß er diesen Erfolg vorausgesehen hat. „Jetzt würde es so herauskommen, als ob der Kriminalrichter nur festzustellen hätte, ob die Handlung auf Grund eines normalen kausalen Denkens vollführt worden sei. Und die Normalität dieses Denkens würde zugleich über die Schuld entscheiden, die dem Urheber der Handlung zufällt. Wenn der Richter aber selbst mit einer solchen Lösung der großen Frage zufriedenzustellen wäre; wenn dem Rechte dadurch ein Ausweg geschaffen worden wäre, so bliebe doch immer noch die Frage, ob dem Verbrecher damit gedient wäre. Und da wir das Recht nicht außer Zusammenhang mit der Ethik denken, so ginge diese Frage auf das Recht zurück 120 ." Die Ethik als „Logik der Menschenwelt" ist eine Logik der Handlung, sie zielt ab auf eine Ordnung, in der die Menschen einverständlich miteinander handeln können. Das in solcher Ethik fundierte Recht darf nicht für fehlerhaftes oder zu mißbilligendes Denken verantwortlich machen, sondern nur für vom Recht mißbilligte Handlungen. Nicht das Denken, sondern die Betätigung des Denkens, der Entschluß, die Entscheidung, die sich in das Werk umsetzt, bilden die subjektive Seite der zurechenbaren Handlung, jener Handlung, für die man im Strafrecht einzustehen hat. Zur „Verstandesschuld" 121 wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit, „wenn der Vorsatz auf das kausale Denken eingeschränkt wird. Denn damit wird die Handlung in eins gesetzt mit dem Denken. Daß der Affektanteil den Unterschied macht, das wird übersehen. Die ethische Bedeutung des Affekts für den Begriff des reinen Willens wird nicht erfaßt, weil man in dem kausalen Denken allein das Kriterium erkennt, an das der Richter sich halten könne. Einen anderen Ausweg, der Schuldfrage zu entgehen, hält man für nicht vorhanden. Damit aber läßt man für den Verbrecher die Selbstverantwortung fallen. Das Verbrechen wird damit zu einem Denkfehler 122". Wenn das Strafrecht nicht nur für vorsätzliche, sondern auch für fahrlässige begangene Taten verantwortlich macht, so fragt sich, wie Cohens Konzeption der strafrechtlichen Zurechnung den fahrlässig handelnden Täter erfaßt. Die Äußerungen Cohens hierzu sind sehr knapp und ergeben kein klares Bild. Wie schon ausgeführt, basiert Cohen die strafrechtliche Verantwortung in der Fähigkeit der Selbstbestimmung. Das Recht darf zur Feststellung der 120

ErW, S. 348. Vgl. zu diesem Begriff Engisch: Untersuchungen, S. 129. 122 ErW, S. 348 f. Daß die Vorstellungstheorie zur Pönalisierung einer „Verstandesschuld" führe, ist auch in der strafrechtlichen Literatur bemerkt worden. Vgl. v. Bun: Beiträge zur Theorie, S. 355, weitere Literatur bei Engisch, Untersuchungen, S. 129; zur Diskussion der Verstandesschuld vgl. Engisch: Untersuchungen über Vorsatz, S. 453 ff. 121

2*

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Verantwortlichkeit%nur die Frage stellen, ob der verbotene Erfolg oder die verbotene Handlung der „Bestimmung des Täters" unterlegen hat, ob er die Handlung beherrscht hat. Diese Konzeption der Verantwortlichkeit geht ersichtlich vom vorsätzlichen Handeln als ihrem Grundmodell aus. „Wie sehr auch der Unterschied von dolus und culpa fließend sein mag, so bildet doch der dolus die Grundfrage. Der dolus ist der Vorsatz, die Selbstbestimmung 123 ." Doch wie begründet die auf der Selbstbestimmung gründende Verantwortlichkeitsauffassung die Zurechnung zur fahrlässig herbeigeführten Tat? Wenn man den Täter deshalb verantwortlich macht, weil der Erfolg bei genauerer Vorsicht und Voraussicht vermeidbar gewesen wäre, so wirft man ihm vor, daß seine kognitive Fähigkeiten nicht ausreichend entwickelt sind oder konzentrierter hätten eingesetzt werden müssen. Vorausgesetzt dabei wird, daß der Mensch in den wechselnden Situationen, in die er gestellt ist, prinzipiell jedenfalls über die Fähigkeit, Kausalverläufe richtig zu prognostizieren, verfügt. Es fällt schwer, bei solcher Begründung nicht daran zu denken, daß der Täter auch für einen „Verstandesfehler" 124 , für den er nichts kann, haftbar gemacht wird. Cohen fragt deshalb: „Ist diese Voraussetzung richtig und gerecht? Darf man diese theoretische Fähigkeit und Sicherheit der Vorsicht als eine unfehlbare Voraussetzung annehmen? Und wodurch unterscheidet sich die Fahrlässigkeit von Zerstreutheit und mangelhafter Konzentration, wenn anders sie nicht zu einem Denkfehler nivelliert werden soll? 125 " Wenn nun die Verantwortung für die fahrlässige Tat nicht in einem „Denkfehler" begründet werden soll, nicht also primär auf die kognitiven Fähigkeiten des Individuums abgestellt wird 1 2 6 , dann bleibt nur die Möglichkeit, die Cohen nicht ausgesprochen hat, die aber in der Konsequenz seiner Überlegungen liegt, daß die Fahrlässigkeit, die Unvorsichtigkeit als Ausdruck einer mangelhaften Willensbildung aufgefaßt wird. Nicht also auf die Mangelhaftigkeit prognostischer Fähigkeiten kommt es danach an 1 2 7 , son123 124

sen. 125

ErW, S. 347. Vgl. ζ. Β. v. Liszt: Lehrbuch, 9. Aufl. (1899), S. 180, Fußnote 3; mit weiteren Nachwei-

ErW, S. 349. „Dummheit, das ist oft bemerkt worden, ist vielleicht ein Unglück, aber sie begründet keine Schuld. Im Gegenteil! Intelligenzdefekte wirken entschuldigend, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Entstehung." Kaufmann, Arthur: Das Schuldprinzip, eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung, Heidelberg 1961, S. 149. 127 Das aber ist die Auffassung Hold v. Fernecks: „Das Hinzutreten des Irrtums oder der Gedankenlosigkeit... bildet - was die culpa betrifft - ein wesentliches Requisit der strafrechtlichen Schuld. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend bestreiten wir den Satz, daß der Mensch für Irrtum oder Gedankenlosigkeit nicht haftbar gemacht werden kann. Wir bestreiten den Satz, daß strafrechtliche Schuld wesentlich Willensschuld ist. Und sollte jemand erklären, daß es „ungerecht" ist, jemand für seinen Irrtum oder seine Gedankenlosigkeit verantwortlich zu machen, so bestreiten wir auch dies." (Die Idee der Schuld, in: ZStW 32 (1911), S. 255). Zu dieser Konsequenz müssen auch die Vertreter der sogenannten symptomatischen Verbrechensauffassung kommen. Vgl. dazu Exner, Franz: Das Wesen der Fahrlässigkeit, Leipzig 1910, S. 104: „Wer die verbrecherische Tat nur als Symptom für die Sozialgefährlichkeit des Täters betrachtet, mit dieser Gefährlichkeit allein seine Bestrafung für begründet hält, der kann, ja muß eine Verstandesschuld aner126

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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dern auf die im gefährlichen Handeln manifestierte Mangelhaftigkeit der Entscheidung, niemand gefährden oder verletzen zu wollen. Die fahrlässige Tat ist danach also demjenigen zurechenbar, der die Pflicht, Verletzungen anderer zu vermeiden, in einem ihm möglichen und zumutbaren Maße erkennbar nicht genügend ernst genommen hat. Nicht wegen mangelnder Intelligenz darf das Recht den Fahrlässigkeitstäter verantwortlich machen, sondern wegen mangelnder Aufmerksamkeit in der Beachtung der dem einzelnen durch das Recht auferlegten Pflichten, die Rechte Dritter nicht zu gefährden oder zu verletzen. In der Konsequenz dieser auf das Moment des Willens zur rechtlich geforderten Beherrschung der Lebenssituation abstellenden Auffassung liegt es, daß dolus und culpa nicht wesentlich verschiedene Modi der Zurechnung sind, sondern im Moment der Willensherrschaft bzw. Willensbeherrschbarkeit das identische tragende Moment der rechtlichen Zurechnung haben 128 . Unter der Voraussetzung, daß alle Schuld Willensschuld sein soll, weil der Mensch nur für das, wofür er willentlich etwas kann, verantwortlich gemacht werden kann, kann auch die fahrlässige Tat nur dann zugerechnet werden, wenn dieses Moment der willensgetragenen Außerachtlassung der dem Täter möglichen Sorgfalt und Vorsicht festzustellen ist 1 2 9 . ' 4.2. Cohens Begriff der sittlichen Zurechnung

Während die Aufgabe des Richters darauf beschränkt ist, die Feststellung zu treffen, ob die durch das Strafgesetz beschriebene Handlung dem Täter zurechenbar ist, nämlich auf seiner Entscheidung beruht, sein Willenswerk ist, der Richter also nicht aus Anlaß der Tat ein Urteil zu fällen hat über die Persönlichkeit, den Charakter oder die Gesinnung des Täters, bleibt doch die Frage, ob mit dem Urteil, mit dem das Recht den Täter verantwortlich macht, dem Täter selbst gedient ist. Die Aufgabe der Selbstzurechnung, der Zurechnung zum Selbst wäre damit nicht gelöst. Sie würde nicht einmal verschoben werden, denn ein „stellvertretendes Gewissensurteil" 130 vermag der Richter weder abzugeben, noch wäre dem Individuum damit geholfen. kennen, soweit er überhaupt von Schuld zu reden berechtigt ist." Mit Bezug auf Tesar, Ottokar: Die symptomatische Bedeutung des verbrecherischen Verhaltens. Ein Beitrag zur Wertungslehre im Strafrecht, Berlin 1907. 128 Ebenso z. B. Hellmuth Mayer: Strafrecht, § 8 I I lc, § 40. 129 Die von Binding apostrophierte „Jagd nach dem Vorsatz in der Fahrlässigkeit" (Binding: Die Normen, a. a. Ο., Band IV, 2. Abteilung, 1920, S. 328) hat hier ihren Anknüpfungspunkt. Mit der willensgetragenen Außerachtlassung der notwendigen Vorsicht bestimmt der Täter über sein Handeln und sein Handlungsgesetz. In der Konsequenz dieser Auffassung liegt es, daß teilweise die unbewußte Fahrlässigkeit nicht zur Schuld zugerechnet wird. Ob dies auch Cohens Auffassung gewesen ist, erscheint fraglich. Positive Belege fehlen. 130 So aber Kaufmann, Arthur: Das Schuldprinzip, S. 197 ff.: „Auch im Strafrecht gilt, daß das Schuldurteil nur das Gewissen fällen kann, aber das Gewissen ist im Bereich des „ethischen Minimums" - besser: der elementaren Sittlichkeit - gewissermaßen eine vertretbare Sache, d. h. es ist möglich, daß ein anderer - der Richter - den Täter stellvertretend in der inneren Verbundenheit, als ob er es selbst wäre, richtet" (S. 198 f).

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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„Wir haben gesehen, daß diese Frage dem Rechte allerdings nicht zusteht; daß sie nicht einmal der Zukunft des Rechts vorbehalten bleiben darf. Wie ist es nun zu verstehen, daß die Schuldfrage nichtsdestoweniger als die Grundlage der menschlichen Kultur festgehalten werden soll? Soll sie etwa der Poesie überantwortet werden, da doch der Mythos abgestorben ist; und die Religion sich nur im Mythos scheinbar verjüngen kann, wenn sie auf die Erbsünde pocht. Welcher Richtung der Kultur fällt die Aufgabe zu, diese Grundfrage der menschlichen Kultur zur Klarheit und zur Lösung zu bringen? Hier erkennen wir neben ihrem Zusammenhange mit dem Rechte die Eigenart der Ethik; die eigene Formulierung und Behandlung der Frage des sittlichen Selbstbewußtseins 131 ." Cohens tragender Gedanke ist, daß der konkrete Mensch seiner Identität als sittliches Individuum verlustig ginge, wenn er die Aufgabe der Selbstverantwortung nicht auf sich nähme. Im mythischen, poetischen und religiösen Denken, in welchem die Schuld als Fatum oder göttlicher Wille angenommen wird, ist die sittliche Identität noch nicht zum Problem geworden, weil das sittliche Individuum als solches noch gar nicht voll entdeckt ist. Auch die rechtlichen Institutionen vermögen die sittliche Identitätssicherung nicht zu gewährleisten, sie muß allein vom Individuum selbst geleistet werden. „Das Selbst belastet sich mit dem Bewußtsein der Schuld, weil es erkennt, daß es sonst sich aufgeben müßte. Es kann nicht mehr zu dem Mittel greifen, sein Vergehen als ein Versehen zu deuten, und durch das Opfer aufgrund dieser Deutung von diesem Schuldbewußtsein sich zu befreien. Es kann auch nicht als sittliche Reinigung anerkannt werden, durch den Glauben an einen Gott, der sich selbst für meine Sünde geopfert habe, meine Erlösung von der Schuld zu erlangen. Nur im Urteil der sittlichen Erkenntnis kann ich mein Heil suchen und finden wollen. Und dieses Urteils der sittlichen Erkenntnis darf ich durch kein Mittel des Himmels oder der Hölle mich entheben lassen. Ich würde sonst meinen Mittelpunkt verlieren und mein sittliches Gewicht. Der Richter mag sich des Urteils über mich, nämlich des sittlichen Urteils enthalten müssen, ich selbst darf es nicht. Es handelt sich um mich selbst, um mein Selbst. Auch der Freispruch des Richters erledigt die Selbstverantwortung nicht 1 3 2 ." Was Zerstörung der sittlichen Identität, was sittliche Selbstaufgabe bedeutet, veranschaulicht Cohen an zwei Beispielen. Beide Beispiele richten sich ihrer Absicht nach gegen die in der Determinismus-Indeterminismus-Debatte verwendete Argumentationen, die die erfahrungswissenschaftlich-statistisch bekannte Natur des Menschen anführen, um dem Einzelnen eine Begründung zu geben, sich vor sich selbst für seine Handlungen und Taten freizusprechen. Beide Beispiele zeigen, daß Cohen, wie des öfteren angemerkt, die sittliche Autonomie, nicht nur, wie es methodisch gefordert wäre, als Möglichkeitsbedin131 132

ErW, S. 350. ErW, S. 350 f.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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gung des sittlichen I n d i v i d u u m s u n d als Aufgabe des konkreten begreift, sondern sie für das konkrete I n d i v i d u u m als vorhanden a n n i m m t . Diese Beispiele setzen ein introspektiv wahrnehmbares Phänomen voraus: das Gewissenserlebnis oder Schuldbewußtsein 1 3 3 . Sie sind deshalb besser unter Begriffe der Erlebnispsychologie oder einer phänomenologischen E t h i k subsumierbar als unter solche einer Ethik, deren M u s t e r b i l d der h o m o n o u m e n o n ist. „Ebensowenig kann aber auch die psychologische Ansicht von den pathologischen Veränderungen, denen das Bewußtsein des Denkens, wie des Willens, ausgesetzt ist, diese Sachlage für das Selbstbewußtsein des etwa kranken Verbrechers prinzipiell beeinflussen. Insoweit er vor sich selbst sich als krank erkennt und die Urheberschaft seiner Handlungen sich aberkennt, scheidet er damit aus dem Problem der Selbstverantwortung und des sittlichen Selbstbewußtseins aus. Wenn dagegen der Verbrecher das Urteil des medizinischen Sachverständigen über ihn sich selbst zu Nutze machen würde, während er an seiner Gesundheit von selbst nicht zweifelt, so würde er dadurch vor die Alternative gestellt, entweder sein Selbst aufzugeben, oder aber eine Differenz des juristischen und des sittlichen Urteils über sich selbst zuzulassen. Immer muß das Selbst das Forum bleiben für die Frage der Schuld. Um so klarer wird die Frage dem allgemeinen Zweifel an der Freiheit gegenüber, wie ihn die neurere Zeit in dem Problem der Vererbung populär gemacht hat. Wie der Richter diese Erfahrungen und Einsichten zu beachten hat, und wie er sie genau zu beachten in der Lage ist, das werden wir alsbald erwägen. Hier aber handelt es sich um den Verbrecher selbst; soll er aufgrund solcher statistischen Konsequenzen aus Krankengeschichten, wenn sich selbst Symptome der gleichen oder ähnlichen Art bei ihm finden sollten, in philosophischer Ruhe sein moralisches Selbstbewußtsein quittieren? Fordert etwa die theoretische Wahrhaftigkeit diesen moralischen Selbstmord von ihm? Es ist unbestreitbar, daß derselbe vielmehr verboten sein muß. Denn der statistische Durchschnitt hat keine theoretische Einsicht über das Individuum zur Folge. Das Individuum kann nicht aufgehen in einem Bruchteil der Wahrscheinlichkeit. Es könnte folglich nur ein Interesse der Wahrscheinlichkeit, nicht der ethischen Notwendigkeit sein, welches eine solche Selbstvernichtung nach sich ziehen dürfte. Würde aber die Schuld an dem einen Individuum zur Illusion, so müßte sie es, streng genommen^ aber auch bei jedem andern werden; denn wer ist vor dem Zweifel sicher, daß er nicht krank ist, wenngleich der Arzt es überhaupt oder bisher noch nicht zu erkennen vermag? 1 3 4 " Die Schuld, über deren Vorliegen sich das I n d i v i d u u m zur W a h r u n g seiner sittlichen Identität vor seinem inneren Gerichtshof Rechenschaft zu geben hat, erfährt es als Selbsterkenntnis. Der „allgemeine Zweifel der Freiheit", den die fortschreitende Wissenschaft v o m Menschen i n i m m e r neuen Gesetzmäßigkeiten verstärkt, findet Cohen zufolge seine Grenze an d e m F a k t u m des individuellen Freiheits- bzw. Schuldbewußtseins. Das I n d i v i d u u m gibt sich Schuld, ind e m es Rechenschaft über sein T u n u n d Lassen ablegt, i n d e m es erkennt, daß es hätte anders handeln k ö n n e n u n d sollen, als es gehandelt hat. „So lasse man denn auch das negative sittliche Urteil, die Schuld als Selbsterkenntnis unange133 Vgl. dazu Buber, Martin: Schuld und Schuldgefühle, in: WW, Bd. 1, München 1962, S. 475 ff.; ferner die einschlägigen Beiträge in den Sammelbänden: Das Gewissen in der Diskussion, hrsg. von Jürgen Blühdorn, Darmstadt 1976; Gewissen?, hrsg. von Helmut Holzhey, Basel 1975; dort Literaturverzeichnis zum Gewissensproblem S. 162 ff. ErW, S. 3 f.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

fochten. Sie ist nur Selbsterkenntnis; Selbst Verantwortung; der Richter dagegen hat weder die Schuld, noch die Tugend zu erkennen; oder über beide zu urteilen. Sie entziehen sich beide in gleicher Weise seiner Erkenntnis. Er überschreitet nicht nur seine Befugnis; und er verwirrt nicht nur sein Problem durch dieses ihm entlegene Interesse; sondern er verrückt dadurch die Grenze, welche für das innerste Eigentum des Selbst abgesteckt ist 1 3 5 /' Daß Cohens Begriff der Schuld als Selbsterkenntnis - ungeachtet der Frage der Berechtigung des Gedankens - aus dem methodischen Ansatz seiner Gesetzlichkeitsethik herausfällt, wird ganz deutlich, wenn man Cohens Begründung der Selbstverantwortung mit der Begründung der phänomenologischen Ethik vergleicht. Max Scheler basiert für die „intime Person" die sittliche Verantwortlichkeit, in der Selbstreflexion oder „Selbstprüfung" 136 : „Als ,verantwortlich' für ihre Akte überhaupt (es brauchen hierbei nicht notwendig Handlungen zu sein, es können auch Gesinnungsakte, potentielle Gesinnungen, Absichten, Vorsätze, Wünsche usw. sein) erlebt sich die Person in der Reflexion auf ihre Selbsttäterschaft im Vollzug ihrer Akte. Dieser Begriff wurzelt im Erleben der Person selbst und ist nicht erst aufgrund einer äußeren Betrachtung ihrer Handlungen gebildet. In dieser Reflexion allein erfüllt sich der Begriff der Verantwortlichkeit. Im unmittelbaren Wissen der Selbsttäterschaft und deren sittlicher Wertrelevanz - nicht also in einer nachträglichen, denkenden Verknüpfung eines vollzogenen fertigen Aktes oder einer Handlung mit dem Selbst - wurzelt der Begriff der sittlichen Verantwortlichkeit. Alle Verantwortlichkeit vor jemand (Mensch, Gott), d. h. alle relative Verantwortlichkeit setzt dieses Erleben einer ,Selbstverantwortlichkeit' als absolutes Erlebnis voraus 137 ." 5. Selbsterhaltung

Die Selbstverantwortung, so wurde oben gesagt, dient als Erkenntnis der eigenen Urheberschaft der Handlung der Sicherung der Identität des sittlichen Individuums. Mit dieser Bestimmung bleibt das Problem, das für die Frage nach der Selbstverantwortung den Hintergrund bildet, noch ungelöst: Was folgt aus der Zurechnung der bösen Tat zum Selbst für den Menschen als sittlichem Individuum? Offenbar ist der Begriff des sittlichen Individuums nicht erfüllt, bliebe es bei der Erkenntnis der Zurechnung zur bösen Tat. Die Aufgabe des Menschen als sittlichem Individuum widerspräche es, wenn Konsequenzen aus der Verletzung des Gesetzes nicht gezogen würden. Cohen behandelt die Probleme der Folgen der gesetzwidrigen Handlung für das sittliche Sein des Menschen unter dem zu falschen Assoziationen verleiten135 136 137

ErW, S. 352. Scheler, Der Formalismus, S. 571. Scheler, Der Formalismus, S. 492.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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den Begriff der Selbsterhaltung. Dieser Begriff der Selbsterhaltung meint nicht zuerst die biologische Existenz des Menschen oder der Menschengattung, obwohl auch sie - im Problem des Selbstmordes und der Todesstrafe - mitberührt wird, sondern betrifft das Problem der Bewahrung und Wiedergewinnung der sittlichen Physiognomie des Menschen. Im Problem der Selbsterhaltung werden jene Fragen verhandelt, die die moralische Verfassung des fehlenden Menschen betreffen. Hier geht es darum, wie die Aufgabe des sittlichen Selbstbewußtseins vom Menschen gelöst wird, wenn er gegen das Gesetz verstoßen hat. Der sich den Gesetzesverstoß als eigene Handlung zurechnende Mensch erkennt sich als schuldig. Doch was bedeutet diese Schuld für seine moralische Verfassung, dafür, daß er die Aufgabe des sittlichen Selbstbewußtseins verfehlt hat? Cohen bringt seine Lösung auf den Weg, indem er, wie immer wieder oben festgestellt, vom Moralempfinden, vom Schuidbewußtsein, vom Gewissens druck als phänomenologisch beschreibbaren Faktoren des Internum des Menschen ausgeht. Die Last der Schuld äußert sich für den moralisch empfindsamen Menschen als Selbstanklage, Reue, Buße. Der moralisch empfindende Mensch sucht sich durch diese Anstrengungen vom Drucke der Schuld zu befreien. Cohen bezweifelt, ob der schuldig gewordene Mensch sich tatsächlich durch diese von ihm erbrachten Leistungen von der Schuld befreien kann. „Die Schuld gibt ihm nur das Befreiungsmittel der Buße. Aber es ist die Frage, ob die Buße im ethischen Sinn ihn von der Schuld zu befreien vermag. Vielleicht wird seine Reue so bitter, daß er in der Selbstanklage, in der Zerknirschung, in der Verzweiflung hängen bleibt 1 3 8 ." Cohen ist der Ansicht, daß der Mensch als sittliches Individuum, sofern er die Befreiung von der Schuld selbst leisten will, zu sehr der Gefaht ausgesetzt ist, daß er mit seiner Schuld nicht fertig wird, daß er mit seiner Reueleistung überfordert wird, zu sehr „dem Drucke der Schuld wehrlos ausgesetzt"139 ist.

5.1. Das Problem der Wiedergewinnung sittlicher Identität - Cohens Straftheorie

Als geeignetes Mittel der Befreiung von der Last der bösen Tat erkennt Cohen die vom sich als schuldig erkennenden Individuum „eigenwillig anerkannte Strafe" 140 . Die Lösung für das Problem der Selbsterhaltung des sittlichen Individuums, also der Bewahrung und Wiedergewinnung der sittlichen Identität, liegt für Cohen im „sittlich begründeten Rechtsmittel der Strafe" 141 .

138 ErW, S. 357. 139 ErW, S. 357; vgl. dazu auch Scheler, Der Formalismus, S. 374 ff. 140 ErW, S. 357; vgl. dazu auch Scheler, Der Formalismus, S. 374 ff. 1 4 1 Ebd.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

Im folgenden ist nun Cohens Auffassung vom „Sinn und Wert der Strafe" 142 im Zusammenhang mit der Idee der Selbsterhaltung des sittlichen Individuums auseinanderzulegen. Für das angemessene Verständnis der Cohenschen Straftheorie gilt es sich zunächst klarzumachen, daß die Begründung für das Recht der Strafe verschieden ist je nachdem, ob man die sittliche Rechtfertigung für die strafende Instanz des Staates sucht oder für das straferleidende Individuum 1 4 3 . Die Rechtfertigung der ersteren, objektiv zu nennenden Straftheorie nimmt die Beantwortung der Frage auf sich: Welches ist der Sinn der Strafe aus der Sicht des strafeverhängenden Staates? Die Rechtfertigung der zweiten, der subjektiven Straftheorie, folgt der Frage: Welches ist der Sinn und Wert der Strafe für das Strafe erleidende Individuum? Cohens Erwägung zum jus puniendi betreffen, das ist für die weiteren Erörterungen im Auge zu behalten, vornehmlich die subjektive Rechtfertigung. Sie stellen die „Frage nach dem Sinn und Wert der Strafe für das Individuum" und lassen „das Interesse des Staates" daran zunächst „außer Betracht" 144 . Diese subjektive Perspektive der Rechtfertigung, nämlich der Rechtfertigung im Hinblick auf das Individuum, hat seinen systematischen Grund in der Absicht des ganzen Kapitels von der Autonomie des Selbstbewußtseins, in welchem nach der Anwendung der Grundbegriffe der Ethik für das Individuum gefragt wird. Da die Frage hier auf die sittliche Selbsterhaltung, die Bewahrung und Wiedergewinnung der sittlichen Identität des einzelnen Individuums geht, rückt das Problem der Strafe vor allem unter dem Aspekt in den Blick, unter welchem es für das fehlende Individuum nach Rechtfertigung verlangt. Da aber auch das sittliche Individuum nicht außer Zusammenhang gedacht werden kann mit der sittlichen Allheit, mit dem Leitbegriffe des Staates, sondern nur eine Verwandlungsform des Allheitssubjekts darstellt, muß auch die Rechtfertigung der Strafe, die das einzelne Individuum erleidet, in einem notwendigen Zusammenhang stehen mit dem jus puniendi des Staates 145 . Dieser Zusammenhang wird aber auch schon daraus ersichtlich, daß der Begriff der Strafe als Rechtsstrafe das Recht und mithin den Staat zu seiner Voraussetzung hat. Cohen hatte, das war oben dargestellt worden, dem staatlichen Richter das Recht bestritten, über die sittliche Schuld des fehlenden Menschen zu bestimmen. Sittliche Schuld sei Selbsterkenntnis, und diese könne nur vom Individuum selbst geleistet werden. Das Internum des Verbrechers müsse der Erkenntnis des Richters prinzipiell verschlossen bleiben. Wenn nun aber der staatli142

ErW, S. 355. Diese Unterscheidung findet sich bei Henrici, Andreas: Die Begründung des Strafrechts in der neueren deutschen Rechtsphilosophie, Aarau 1961, S. 41 ff. 144 ErW, S. 355. 145 Aus der „Reziprozität der Werte Einheit und Allheit" versucht Max Salomon in Verfolg der Cohenschen Überlegungen, das Recht zu strafen aus der Sicht des Staates und des Individuums zu begründen; vgl. Salomon, Max: Die Idee der Strafe, in: Philosophische Abhandlungen, Festschrift für Hermann Cohen, S. 223 ff. 143

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chen Instanz die Entscheidung über die Schuld entzogen sei, so ergibt sich zunächst, daß die Schuld als Selbsterkenntnis vornehmlich dem Individuum selbst „und zwar nur als Individuum zugute komme; daß dagegen die Allheit im Begriffe des Individuums, also der Staat, zu kurz käme, und um seine Würde gebracht wäre. Denn was wird die Folge sein, wenn dem Strafrecht die Erkenntnis der Schuld entzogen wird; wenn diese das Internum des Verbrechers bildet? Worauf bezieht sich alsdann das Urteil des Strafrichters? 146 " Das Urteil des Strafrichters ist nicht beschränkt auf die Feststellung der Tat, er ist nicht - wie Cohen sagt - „nur Kriminalrichter, sondern zugleich Straf rieht er" 1 4 7 . „Das Urteil hat die Verhängung der Strafe zum eigentlichen Inhalt. Die Feststellung des Tatbestandes kann von der Bestimmung der Strafe abgetrennt werden; einem andern Richter übertragen werden 1 4 8 ; der Begriff des Verbrechens, etwa zu einem Unterschied des Vergehens, kommt in der Strafe zum Ausdruck. Daher bildet die Strafe das eigentliche Urteil über die Qualität des Verbrechens. Jetzt soll bei dieser richterlichen Wertung der Verbrecher ganz aus dem Spiele bleiben; er wird nur zum grammatischen Objekte des Verbrechens. Das Verbrechen aber wird qualifiziert durch die Strafe 149 ." Wenn mit der Strafe ein Urteil über die Qualität des Verbrechens, nicht des Verbrechers ausgesprochen wird, so fragt sich, was die Qualität des Verbrechens, was nämlich die Strafe rechtfertigt. Cohen entwickelt seine Andeutungen zur Straftheorie konsequent aus der vertragstheoretischen Begründung des Staates. Diese Straftheorie wird in den allen auf der Idee des Vertrages basierenden Sozialkonstruktionen immanenten Gerechtigkeitskriterien der justitia commutativa gegründet: Gegenseitigkeit, Äquivalenz und Verhältnismäßigkeit der Leistungen. Cohen folgt auch hier zunächst der aufklärerisch-liberalen Begründung des jus puniendi. Das „juristische Problem des Verbrechens beschränkt sich nicht auf die Erkenntnis und Ermittlung der Tatsache des Verbrechens; so wenig sich das Problem des bürgerlichen Rechts darauf beschränkt, den Sinn eines Vertrages im allgemeinen festzustellen, ohne aber den genauen Betrag zu bestimmen, den der eine Kontrahent dem andern schuldig ist. Wir wissen, edle Rechtshandlungen sind solche Verträge. Deshalb hat es sich als eitel Sprödigkeit erwiesen, nicht auch den Staat als Vertrag, als Rechtsverhältnis seiner Glieder erkennen zu wollen. Der Verbrecher verletzt diesen Rechtsvertrag, in welchem er mit seinem Staate steht. Seine juristische Schuld ist seine Schuldigkeit, die er nicht allein zu fühlen, sondern zu entrichten hat. Das Urteil des Richters über den Tatbestand 146

ErW, S. 353. ErW, S. 353. 148 Cohen scheint hier die Möglichkeit eines Schuldinterlokuts ins Auge zu fassen; vgl. zur Herkunft des Schuldinterlokuts aus der Schwurgerichtsverfassung englischer Strafgerichte und zur Diskussion um die Einführung des Schuldinterlokuts in Deutschland (seit den zwanziger Jahren) Blau, Günter: Die Teilung des Strafverfahrens in zwei Abschnitte. Schuldspruch und Strafausspruch, in: ZStW 81, S. 31 ff. m. w. N. 9 ErW, S. 3 3 . 147

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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eines Verbrechens ist demnach kraft logischer Notwendigkeit in der gezogenen Einschränkung zugleich ein Urteil über den Verbrecher. Und dieses Urteil über den Verbrecher wird daher kraft logischer Notwendigkeit zu einem Urteil über seine Schuldigkeit; diese ist seine Strafe 150 ." Strafe ist nach diesem Verständnis Genugtuung für die Verletzung eines Rechtsverhältnisses; in der Verletzung der lex contractus, die der einzelne Wille mit dem allgemeinen Willen eingegangen ist, liegt der Grund der Strafe. Das Unrecht des Verbrechens rechtfertigt die Verhängung der Strafe. Allerdings scheint diese Rechtfertigung der Strafe, die den Grund der Strafe im begangenen Unrecht erkennt, erheblichen Einwänden ausgesetzt. Es scheint, als ob die Qualität des Verbrechers, „der Mensch im Verbrecher", nicht berücksichtigt sei, als ob diese Auffassung darauf verzichte, die Strafe auch im Hinblick auf die Person des Verbrechers zu rechtfertigen. „Hier wird der Widerspruch klaffend, der zwischen dem Individuum und dem Staat besteht; während wir gerade beflissen sind, das sittliche Selbstbewußtsein über diesen Widerspruch zu erheben, diesen Widerspruch als ein Vorurteil und dieses Vorurteil als die schwerste Gefahr der Ethik zu erkennen. Verhielte es sich wirklich so, wie der Einwurf meint, daß die Strafe nur der Gesellschaft und des Staates wegen diktiert würde, daß sie dagegen den Menschen im Verbrecher gar nicht tangierte, so würde damit in der Tat unser Grundbegriff des sittlichen Selbstbewußtseins in sich zerfallen; denn dann würde zwischen dem Individuum und dem Staate ein Abgrund aufgähnen, den keine Ethik überbrücken könnte oder dürfte 151 ." Diese Konsequenz wird noch verstärkt durch Cohens Feststellung, daß die Schuld dem Urteil des Richters entzogen sei und deshalb als Rechtsbegriff aufgegeben werden müsse; und lediglich als ethischer Begriff der Selbsterkenntnis Weiterberechtigung habe. „Man kommt auf den Gedanken, die Teilung zwischen Strafe und Schuld, die wir hier versuchen, sei nicht nur entwürdigend für das Recht, sondern zugleich unbarmherzig gegen den Menschen, dem man womöglich nur deshalb das Schuldbewußtsein aufgebürdet hat, um ihm auch noch die Straflast aufladen zu können. Der Richter soll nicht über die Schuld erkennen dürfen; wohl aber über die Strafe, als ein logisches Merkmal im Begriffe des Verbrechens. Würde dann aber dieser Begriff des Verbrechens als Problem sich halten lassen, wenn die Schuld gänzlich auszuschalten wäre? Das wäre die schwere Frage, welche diese ganze Verteilung der Begriffe auf den Kopf zu stellen scheint 152 ." Wie nun aber läßt sich die „ganze Verteilung der Begriffe", nämlich die Trennung von sittlicher Schuld und Rechtsschuld einerseits und die sittliche Rechtfertigung der Strafe in begangenem Unrecht andererseits ohne Mißachtung, d. h. unter Be150 151 152

ErW, S. 353 f. ErW, S. 355. ErW, S. 354.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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rücksichtigung der Person des Verbrechers aufrechterhalten ? Cohens Überlegungen bei der Beantwortung der schweren Frage nach der richtigen Verteilung der Begriffe bei der Rechtfertigung der Strafe für das Individuum - auf das sittliche Individuum allein zielt die Frage der Selbsterhaltung - lassen folgender Deutung Raum. Das sittlicher Empfindung fähige Individuum vermag zu der von ihm begangenen bösen Tat in doppelter Weise Stellung zu nehmen: Es drückt im Schuidbewußtsein, im Anruf des Gewissens aus, daß es weiß, daß es für die Verletzung des Gesetzes verantwortlich ist. Diese Selbsterkenntnis, das Sich-zur-Einsicht-Bringen der Verantwortung für die böse Tat, diese Stellungnahme nennt Cohen Schuld. „Die Schuld ist die subjektive Anerkennung des Rechts in der Erkenntnis seiner Verletzung; sie ist die Anerkennung des Subjekts, nicht die des Richters 153 ." Das Individuum kann aber auch die Anerkennung des Rechts in der Erkenntnis seiner Verletzung dadurch vollziehen, daß es die vom Staate für das Unrecht vorgesehene Rechtsfolge, nämlich die Strafe, auf sich nimmt. Mit dieser „eigenwilligen Anerkennung" der von der Rechtsgemeinschaft für den Rechtsbruch vorgesehenen Rechtsfolge der Strafe unterwirft sich das Individuum dem allgemeinen Willen, in welchen es selbst eingestimmt hat, vollzieht es die Allheit im Begriffe des Individuums, nimmt es die Konsequenzen auf sich, die es als Gesetzgeber statuiert hat. Für Cohen beinhaltet diese Stellungnahme des Individuums gegenüber der bösen Tat, das Auf-sich-Nehmen der Strafe, „die objektive Anerkennung des Rechts von Seiten des Subjekts" 154 . Da Cohen die Schuld als ein im Internum des Verbrechers bleibendes Bewußtsein oder Gefühl begreift, das der rechtlichen Regelung, die immer auf den anderen Bezug hat, unzugänglich ist, vermag sie für die von der Rechtsgemeinschaft vorgesehene Rechtsfolge auf die Verletzung des Gesetzes nichts zu leisten. Ihre Stelle nimmt in der Rechtsordnung die Strafe ein. Die Strafe übernimmt die Aufgabe der sittlichen Schuld, sofern das fehlende Individuum sich als Mitglied der Rechtsgemeinschaft betrachtet. Die Strafe ist die Schuld, die der Rechtsbrecher gegenüber der Rechtsgemeinschaft zu leisten hat. Voraussetzung für diese Anerkennung der Strafe von Seiten des Individuums ist aber die Selbsterkenntnis der Urheberschaft der eigenen Tat, ist die eigene Schuld. Ohne die Möglichkeit der Schulderkenntnis könnte aber auch die Strafe aus dem Gesichtspunkte des Individuums nicht gerechtfertigt werden. Wie sollte das Individuum die Straflast auf sich nehmen können, wenn es nicht die Erkenntnis der Verantwortung für die eigene Rechtsverletzung hätte? Insofern bleibt der Schuldbegriff als Begriff der Ethik Voraussetzung und Grundlage des Rechtsbegriffes der Strafe. „Die Schuld scheidet aus der Reihe der juristi153 154

ErW, S. 356. ErW, S. 357.

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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sehen Begriffe aus; sie bleibt nur als ein ethischer Begriff bestehen. Dieser kann als Grundlage des Rechts dienen; in solcher Grundlage besteht der Zusammenhang zwischen Ethik und Recht; aber aus der Grundlage muß sich ein streng rechtlicher Begriff entwickeln lassen. Ein solcher rechtlicher Begriff, der sich auf dem Grunde des Schuldbegriffs erhebt, ist der Begriff der Strafe. Und da sein ethischer Grund, die Schuld, ein Grundbegriff des Individuums ist, so wird auch die Strafe schlechthin aus dem Gesichtspunkte des Individuums ein rechtlicher Begriff werden. Wenn die Schuld aus dem ethischen Gesichtspunkte die subjektive Anerkennung des Rechtes ist, so ist die Strafe dies aus dem rechtlichen Gesichtspunkte. Beides aber aus dem Standpunkte des Individuums. Man kann den Unterschied vielleicht auch dahin wenden, daß die Strafe die objektive Anerkennung des Rechts von Seiten des Subjekts sei, während das Subjekt mittels der Schuld nur subjektiv, nur gleichsam in seinem dunkeln Gefühle die Verletzung des Rechts sich zur Einsicht bringe; aber dieselbe noch nicht als ein inhaltliches Urteil zu objektivieren vermag. Diesen objektiven Inhalt vollzieht das Urteil der Rechtsverletzung im Begriff der Strafe. So bleibt die Strafe subjektiv, obwohl sie objektiv wird; objektiver als die Schuld 155 ." Aber was leistet die Strafe als die dem Individuum von der Rechtsgemeinschaft auferlegte Schuld gegenüber der Schuld, die das Individuum sich selbst zuschreibt und deren Last es trägt. Die vom Rechtsbrecher anerkannte Rechtsstrafe ermöglicht ihm eine Befreiung der Verpflichtungen, in die er sich durch die Gesetzes Verletzung verstrickt hat. Sie vermag ihn von seiner Rechtsschuld zu entlasten. „Indem der Verbrecher die eigenwillig anerkannte Strafe antritt, bleibt er nicht mehr lediglich ein Büßender; bleibt also nicht dem Drucke der Schuld wehrlos ausgesetzt; in der Strafe vollzieht sich zugleich objektiv die Anerkennung der Rechtsverletzung; damit aber bahnt sich wiederum der Ersatz dieser Verletzung an. Der Widerspruch, den das Verbrechen gegen das Recht bildet, fängt nunmehr an, sich auszugleichen und aufzuheben. Mithin fängt das Verbrechen an, seine Wirklichkeit und Tatsächlichkeit zu verlieren. Wenn aber das Verbrechen verschwindet, so verschwindet der Verbrecher 156." Die Anerkennung des „ethisch begründeten Rechts der Strafe" 157 durch den Verbrecher hat Cohen zufolge - und das ist im letzten Satz des obigen Zitats angedeutet - vor allem aber Bedeutung für das eigene Schuldbewußtsein. Es könnte so scheinen, als ob die Abbüßung der Strafe zwar die Rechtsschuld vom Verbrecher nähme, nicht aber jenen Vorwurf, den er sich selbst in Erkenntnis seiner eigenen bösen Tat machte. Darin aber gerade, daß der Täter die Strafe eigenwillig anerkennt und auf sich nimmt, bietet die Strafe die Möglichkeit, die Tat nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch, d. h. hier vor dem Forum des Selbst, zu entschulden, zu entsühnen. Die Strafe ist nicht nur Mittel zur Aufhe155 156 157

ErW, S. 356. ErW, S. 357. Ebd.

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bung des durch die Tat angerichteten Unrechts, nicht nur Negation der Negation des Rechts; sie restituiert nicht nur die verletzte Ordnung, sondern sie ist auch das Mittel sittlicher Absolution, sie befreit den Täter von seiner Schuld, gibt ihm die Möglichkeit, ein „neuer Mensch" zu werden 158 . Sofern der Täter die Strafe akzeptiert, entgilt er seine Schuld und gewinnt seine sittliche Integrität wieder." Das ist der Vorzug der Strafe vor der Schuld, daß das Schuidbewußtsein durch sie ausgetilgt wird. Mit der Abbüßung der Strafe vollzieht sich ein Subjektwechsel. Das Subjekt des Verbrechers wird abgetan; das sittliche Selbstbewußtsein wird wiedergewonnen. Oder sollte es etwa nicht in voller Integrität wiederzugewinnen sein? Sollte etwa die Schuld über den Kerker hinaus fortbestehen müssen? Das Recht lehrt und pflegt eine andere Ansicht von der Sittlichkeit des Rechtssubjekts. Nach Abbüßung der Strafe gilt das Verbrechen als gesühnt, und als vernichtet. Und demzufolge ist der Verbrecher nicht mehr vorhanden; sondern ein neuer Mensch geworden. Vielleicht sollte man umgekehrt sagen, daß nach der Abbüßung der Strafe der Verbrecher verschwunden ist, und daß demzufolge auch das Verbrechen vernichtet ist. Wenn nun aber nach der Abbüßung die Restitution zu einem integern Menschen erfolgen kann, so muß dabei die Voraussetzung obwalten, daß diese Wirkung nicht erst nach erfolgter Abbüßung eintritt, sondern während der Abbüßung mit dem Antritt der Strafe bereits einsetzt. Das ist der große Gewinn der Strafe für das sittliche Bewußtsein des Verbrechers, daß er sogleich mit dem Antritt der Strafe das Bewußtsein und den Charakter des Verbrechers zu verlieren beginnt. Und der Beginn dieser Befreiung ist schon die ganze Befreiung. Es gibt hier kein Weniger oder Mehr. Scheint einmal die Sonne der Gnade in die Angst des Verbrechers hinein, so lichtet sich sein Selbst. Der Verbrecher wird abgewälzt; das Selbst wird wiedergeboren 159 ." Cohens Begründung des jus puniendi, so läßt sich jetzt zusammenfassen, stellt den Versuch einer ethischen Theorie der Strafe dar, deren Grundposition die Einheit von sittlichem Individuum und Staat ist und die deshalb die Strafe sowohl für den strafeverhängenden Staat wie für das straferleidende Individuum aus einem einheitlichen Zusammenhang zu rechtfertigen versucht. Diese Straftheorie steht in ihrem, die Autonomie des Menschen als sittlichem Wesen fast überfordernden Rationalismus deutlich in der Tradition der idealistischen Strafrechtsbegründungen, wobei Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zur Hegeischen gegenüber der Kantschen Straftheorie überwiegen. Die Strafe hat ihren Grund im Unrecht, in der subjektiv zurechenbaren Verletzung des Strafgesetzes. Das Unrecht wird durch die Strafe, die das Unrecht entgilt, aufgehoben. Das Maß des subjektiv zurechenbaren Unrechts bestimmt 158 Max Salomon: Die Idee der Strafe, S. 243, sieht im Begriff der Läuterung Cohens Beitrag zur Fortbildung von Kants Strafrecht, soweit es in dessen Staatsrecht seine Wurzel hat. 9 ErW, S. 3 f.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

das Maß der Strafe. Die so festgesetzte Strafe ist die gerechte Strafe. Die Vergeltung ist deshalb für Cohen „nicht nur das tiefste, sondern auch das unumgänglich erste Prinzip" 1 6 0 unter den Gründen der Strafe. Bei dieser auf das Recht des Staates zu strafen bezogenen Rechtfertigungstheorie als Theorie der - unrechtsbezogenen - gerechten Vergeltung bleibt das Individuum, an dem vergolten wird, das die Strafe empfängt, im Hintergrund. Die Rechtfertigung der Strafe für das Individuum, also die subjektive Begründung des jus puniendi, nimmt ebenfalls ihren Ausgang vom Unrecht. Das Individuum erkennt sich selbst als verantwortlich für die Verletzung des Rechts, und in diesem Akt anerkennt es zugleich die Geltung des verletzten Rechts. Indem es die auf die Rechtsverletzung folgende Strafe „eigenwillig" auf sich nimmt, bestätigt das Individuum die Geltung des verletzten Rechts und verdient sich mit der Abbüßung der Strafe die Befreiung von der Schuld und die Versöhnung mit der Rechtsgemeinschaft. Für das Individuum liegt der Sinn oder Wert der Strafe Cohen zufolge also darin, daß der Staat hier nicht nur die böse Tat vergilt, sondern dem fehlenden Individuum ein Mittel gibt, mit welchem es die Schuld tilgen, sich entlasten kann von dem Bewußtsein der Schuld. Hat das Individuum das Unrecht gegenüber der Rechtsgemeinschaft entgolten, so mages auch, sofern die Strafe von Seiten des Individuums eigenwillig anerkannt, nämlich Sühneleistung war, hinsichtlich seines Schuldbewußtseins erlöst sein 161 . In der mit der Abbüßung der Strafe vollzogenen Aufhebung des Unrechts ist die Ordnung wiederhergestellt, wird das Individuum mit der Rechts- und Moralgemeinschaft versöhnt 162 . Die Versöhnung mit dem eigenen moralischen Selbst, den Frieden mit sich, vermag das Individuum erst zu schließen, wenn es im Vergeltungsmittel der Rechtsgemeinschaft, der Strafe, sich „die Qualität des Verbrechens zur Kenntnis, zur Wertung und zur Anerkennung" 163 durch freiwillige Strafleistung gebracht hat. 160

ErW, S. 358. Vgl. dazu die Ausführungen Max Schelers in: Der Formalismus, S. 370-380; Scheler, für den Strafe und Vergeltung „überhaupt keinen Ort in der rein sittlichen Sphäre" (S. 372) haben, betont aber die in der Strafe gelegene Möglichkeit „der Wiederherstellung verletzter rein sittlicher Beziehungen" (S. 376) : „So wenig die Strafe sich aus der sittlichen Verschuldung als wertnotwendige Forderung des Sollens ergibt, so wenig kann sie als solche auch von der Schuld und ihrem Drucke befreien. Diese Funktion und Leistung ist der rein sittlichen Reue vorbehalten. ... Aber eins bringt das Strafübel notwendig hervor: Jene „Läuterung", die überhaupt - wie wir sahen - die einzige sittlich-bedeutsame Folge einer der tieferen Personsphäre nicht zugehörigen Unlust oder eines solchen Leides sein kann Sie gibt ihm in diesem Sinne Gelegenheit zur sittlichen Ausgleichung seines ihm anhaftenden Bösen durch den Akt der Reue - ohne indes damit den Reueakt notwendig zu bestimmen So ist die Strafe die Form, in der - unter Voraussetzung des an sich außersittlichen Vergeltungsimpulses - die Möglichkeit eines sittlichen Verhältnisses zwischen dem Geschädigten und dem Schädiger wieder hergestellt wird Darin allein - nicht in einer rein »sittlichen Forderung der Gerechtigkeit' - liegt das nur relative sittliche Recht der Strafe" (S. 375 f.). 162 Vgl. zum Problem von Strafe und Versöhnung die Nachweise bei Peter Noll: Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen 1962, S. 8, Fußnote 13; ebenso: Kaufmann, Arthur: Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens im Strafrecht, in: JZ 1967, S. 553 ff. (S. 557). 163 ErW, S. 258. 161

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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5.2. Die Aufgabe der Selbsterhaltung und das Problem der Todesstrafe

Nachdem Cohen seine Straftheorie, die im jus puniendi das Interesse des Staates, der rechtlich-moralischen Gemeinschaft an der Aufhebung des Unrechts verbindet mit dem Interesse des Individuums an der Tilgung seiner Schuld, in den Grundzügen entworfen hat, versucht er, sie mit klassischen und aktuellen Themen der Strafrechtsphilosophie zu konfrontieren. Jenem klassischen Thema, an dem keine Strafrechtsphilosophie vorbeigehen kann, der Todesstrafe, widmet er eine relativ ausführliche Widerlegung. Nach einer sehr knappen ethischen Theorie des Verbrechens, die nach der sittlichen Wertigkeit der Güter absolute und relative Verbrechen unterscheidet 1 6 4 , tritt er an die Frage heran, was das Prinzip der Vergeltung für den Mord als das „absolute Verbrechen" bedeuten kann. „Wir wissen, den zentralen Gegenstand der Ethik bildet das ethische Subjekt: das Selbstbewußtsein. Kann daher die Anwendung des Prinzips der Vergeltung richtig sein, welche auf den Mord die Tötung setzt? Weil ein sittliches Wesen vernichtet worden ist, muß darum auch das andere sittliche Wesen vernichtet werden, welches die Vernichtung des ersten herbeigeführt hat? 1 6 5 " Cohen ist der Auffassung, daß die Todesstrafe sittlich und rechtlich „der Begründung ermangelt" 166 . Seine Beweisführung gegen die Todesstrafe setzt nicht beim Sozialvertrage 1 6 7 an, über dessen vermeintlichen Inhalt noch Kant gegen Beccaria polemisiert 1 6 8 und den Hegel für die Strafbegründung gänzlich verworfen 169 hatte, sondern sie betrachtet zunächst ein vordergründig erscheinendes, bekanntes pragmatisches Argument: Es ist das Argument von der Möglichkeit des

164 „Der Mord ist das absolute Verbrechen. Ihm schließen sich die Verletzungen der Person, die materiellen, wie die ideellen, an. Die Person bildet den absoluten Gegenstandsbegriff der Sittlichkeit und des Rechts. Alle anderen Verbrechen haben einen anderen Begriff, den des Eigentums zur Voraussetzung. An diesen relativen Verbrechen wird auch die Vergeltung notwendigerweise relativ; denn der Begriff des Eigentums erzeugt die große Fülle von Relationen, welche die Probleme des bürgerlichen Rechts bilden. Daher nimmt die Vergeltung hier bisweilen, und zwar an sehr markanten Stationen der Geschichte den Anschein der Rache an; wie bei der Todesstrafe für den Vagabunden im Zeitalter des beginnenden Fabrikwesens. Von solchen Komplikationen und Verirrungen darf man den Begriff der Strafe nicht ableiten; nach ihnen aber auch nicht die Vergeltung würdigen" (ErW, S. 359). 165 ErW, S. 360. 166 Ebd. 167 Vgl. z u r Diskussion des Verhältnisses von Todesstrafe und Sozial vertrag: Radbruch, Gustav, Rechtsphilosophie, § 23 (S. 270-275); ferner gegen Radbruch Ebbinghaus, Julius: Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, Bonn 1968 (Kantstudien-Ergänzungsheft 94), S. 23 ff., 91 ff. 168

Vgl. Kant, MdS, A 202/B 232. 169 Hegel, Rechtsphilosophie, § 101 mit Verweis auf § 75. 28

Winter

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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menschlichen Irrtums 1 7 0 , vom mangelnden oder fehlenden Wissen des Menschen. Der Richter ist als urteilender Mensch prinzipiell nicht in der Lage, das „absolute Wissen" 171 über die Tat zu haben. Deshalb ist er gegen Fehler und Fehlurteile nicht gefeit. Mit dem auf einem Irrtum beruhenden Todesurteil aber würde der Mensch als sittliche Person, ohne die Möglichkeit der Korrektur, vernichtet. Der Richter „muß wissen, daß der Kausalnexus in den Handlungen, Taten und Geschehnissen keines einzigen Menschen in keiner Minute seines Daseins uns in der methodischen Form des Wissens bekannt ist. Beim Todesurteil ist daher in keinem einzigen Falle die Möglichkeit ausgeschlossen, daß ein Justizmord begangen wird. So wird durch das Todesurteil für alle menschliche Einsicht ein sittliches Wesen vernichtet 172." Doch wie steht es um den Verbrecher selbst, der sich selbst als verantwortlich für den Mord erkennt; was bedeutet für ihn das Prinzip gerechter Vergeltung angesichts der Tat? Wie müßte er, der in der Schuld seine Selbstverurteilung vornimmt, unter dem Prinzip der Vergeltung die Tat entgelten? „Es scheint keine andere Möglichkeit der Vergeltung, das will sagen, der wirksamen Anerkennung des Verbrechens durch und für den Verbrecher erdenkbar zu sein, als welche der Tod bildet 1 7 3 ." Die „wahre Vergeltung" 174 könnte also nur in der Selbstvernichtung, im Selbstmord bestehen. Cohen verwirft diese „absurde Konsequenz" 175 , aber er weist sie nicht deshalb ab, weil sie aller Erfahrung widerspricht, sondern weil er den Selbstmord für sittlich unzulässig hält. „Würde er in diesem Falle erlaubt, so wäre seine Zulassung dem subjektiven Ermessen anheimgegeben; und die Verzweiflung des Menschen an sich selbst kann sich zu einem Grade steigern, der demjenigen über einen vollbrachten Mord vergleichbar werden kann. Diese Konsequenz des Selbstmords führt uns daher zu dem Gedanken, daß das Prinzip der Vergeltung zwar den ersten Gesichtspunkt bilden muß, aus dem der Verbrecher sein Verbrechen sich zu Gemüte zu führen hat, daß es aber eine Ergänzung notwendig macht, weil seine ausschließliche Wirksamkeit eine fehlerhafte Anwendung herbeiführt 1 7 6 ." Worin liegt nun aber der tragende Grund für die Ablehnung der Todesstrafe und die Einschränkung der „ausschließlichen Wirksamkeit des Vergeltungsprinzips" 177 ? Das Vergeltungsprinzip ist Cohen zufolge zwar das „unumgänglich erste Prinzip" 178 unter den Gründen der Strafe, das schließt aber nicht aus, 170 ErW, S. 360. Zum Argument „Justiz-Irrtum" gegen die Todesstrafe vgl. Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung, S. 42 ff. 171 172 173 174 175 176 177 178

ErW, S. 360. ErW, S. 360. ErW, S. 359. ErW, S. 360. ErW, S. 360. ErW, S. 359. Ebd. ErW, S. 358.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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so argumentiert Cohen, daß es in seinen Konsequenzen an den Grundprinzipien der Sittlichkeit ausgerichtet bleiben muß. Als das höchste zentrale Prinzip der Ethik war die Personenhaftigkeit des Menschen bestimmt worden. Das sittliche Selbstbewußtsein, die Sittlichkeit, wird allerdings nicht durch den konkreten Menschen realisiert, sondern ist eine dem konkreten Menschen aufgegebene Idee, es ist eine von ihm in stetiger Bemühung zu vollziehende unendliche Aufgabe. Es gibt keine moralischen Wertigkeiten und Klassenunterschiede unter den Menschen. Ihnen allen ist - unter den Prämissen der Cohenschen Ethik - die fortwährende Aufgäbe der Moralverwirklichung gestellt. Wenn jeder fehlen kann, dann muß auch jeder die Möglichkeit der Besserung 179 haben, dann darf es auch keine absolute Verurteilung geben, wie sie die Todesstrafe darstellt. Eine solche Verurteilung würde die sittliche Aufgabe des Täters verunmöglichen. „Das sittliche Wesen sehen wir nicht in seiner vollen Bedeutung nach in einem leibhaftigen Individuum, sondern wir projizieren dieses auf seine unendliche Aufgabe. Diese Bedeutung der Aufgabe hat für uns der Begriff des sittlichen Selbstbewußtseins. Da das sittliche Wesen also die Aufgabe des Selbstbewußtseins bedeutet, so hat es gemäß den Stufen und Graden, in welchen diese Aufgabe bearbeitet wird, selbst auch Stufen und Grade in seiner Entwicklung. Die Aufgabe kann niemals zur adäquaten Lösung kommen; aber sie kann auch niemals aus dem Herzen eines Menschen herausgerissen werden. Daraus folgt: daß, wie kein Mensch gut ist, auch kein Mensch böse ist. Das Selbstbewußtsein bleibt das Joch des Menschen. Das zentrale Prinzip des sittlichen Selbstbewußtseins hat uns an die Grenze geführt, welche die Vergeltung einzuhalten hat, wenn sie mit der Aufgabe des sittlichen Wesens in Einklang bleiben soll. Daher führen wir die Selbstverantwortung zur Selbsterhaltung hinaus. Die Zurechnung und die Strafe dürfen niemals die Grenze der Selbsterhaltung überschreiten 18°." Bei dem Problem der Todesstrafe greift der Begriff der Selbsterhaltung, den wir zunächst als Bewahrung und Wiedergewinnung der Identität des sittlichen Individuums gedeutet hatten, auf den konkreten Menschen, auf den die unendliche Aufgabe des sittlichen Selbstbewußtseins zielt, über. „Die Selbsterhaltung hat aber, wie das Selbst überhaupt, das natürliche Individuum zur unauslöschlichen Voraussetzung. Mit der Seele des Menschen ist rechtlich nichts anzufangen, und nichts auszurichten, wenn sie die des getöteten Menschen ist. Die Seele kann einen ethischen Sinn rechtlich nur haben, als die Seele des lebendigen Menschen. Daher bricht die Todesstrafe das sittliche Lebenswerk ab 1 8 1 ." Damit ist auch die oben aufgeworfene Frage beantwortet, warum Cohen den Selbstmord für unzulässig hält. Der Selbstmord stellt für Cohen, wie die Todes179 Gegen das Argument der Möglichkeit der Besserung Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung, S. 41 f. iso ErW, S. 361. 181 ErW, S. 361.

28*

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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strafe, die Ethik selbst in Frage. In beiden Fällen äußert sich nicht nur der radikale Zweifel an der Möglichkeit sittlichen Handelns, die auf den anderen zielt und mit dem anderen rechnet, sondern in ihm wird die Aufgabe, das Individuum auf die rechtlich-moralische Gemeinschaft und diese auf das Individuum zu orientierten, negiert. Wenn also der Mörder keinen character indelebilis hat und haben darf, so kann und darfauch die Todesstrafe keinen Bestand haben. Die Möglichkeit, die Aufgabe des sittlichen Selbst zu erfüllen, muß ihm prinzipiell erhalten bleiben. Das Eröffnen und Offenhalten der Möglichkeit der Wiedergewinnung der sittlichen Identität muß als Prinzip allen Rechtsbrechern erhalten bleiben, da sie in gleicher Weise wie der Mörder vor dem Forum des ethisch begründeten Strafrechts ihre Personenhaftigkeit nicht einbüßen dürfen. Deshalb muß ihnen in der staatlichen Strafe immer der Anspruch auf Wiedererzeugung des sittlichen Selbst gewährt bleiben.

5.3. Cohens Stellungnahme zur Straftheorie der „modernen Schule"

Im Rahmen der Auseinanderlegung der Konsequenzen des sittlichen Selbsterhaltungsbegriffs nimmt Cohen auch Stellung zum straftheoretischen Konzept der „modernen" Schule der Strafrechtswissenschaft. Cohen erwähnt den Namen v. Liszts hier nicht, doch geht aus seinen Ausführungen klar hervor, daß er bei seinen Erörterungen von Liszts wegweisende kriminalpolitische Forderungen im Auge hat. Zunächst wendet er sich gegen das „Prinzip der Besserung", also die spezialpräventiv begründete Besserungsstrafe. Nach dem oben Ausgeführten ist es nur konsequent, daß Cohen der Begründung der Besserungsstrafe als pädagogischer Maßnahme, sofern sie auf Anpassung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zielt, mit Skepsis gegenübersteht. Das Prinzip der Besserung akzeptiert er nur als „Selbstbesserung" 182 . In der Selbstbesserung, nämlich der Arbeit an der Aufgabe des Selbst, in der sittlichen Einsicht, sieht er die Möglichkeit, die sittliche Identität wiederzugewinnen. Die durch Selbstbesserung in Angriff genommene Wiedergewinnung und Erhaltung der sittlichen Identität bezeichnet Cohen auch als „Selbst-Wiedererzeugung" 183 ; „ist doch das Selbst stets nur als Aufgabe zu denken; und ist doch demgemäß auch die Selbsterhaltung eine stete Neuerzeugung" 184 . „In diesem Sinne erkennen wir das Prinzip der Besserung an. Man sieht, es handelt sich bei demselben nicht lediglich um eine sozialpädagogische Frage, bei der es zweifelhaft werden dürfte, ob sie nicht vor dem Mörder zu verstummen hat. Es handelt sich nicht um 182

ErW, S. 363. ErW, S. 363. »84 ErW, S. 363.

183

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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die Verbesserung des Verbrechers mit Rücksicht auf seine künftige Rehabilitierung in der Gesellschaft; sondern wenn sein natürlicher Tod sicheren Anzeigen nach unmittelbar bevorstände, so würde die Besserung Problem bleiben müssen. Sie ist Selbstbesserung; und das will sagen, die Besserung muß durch ihn selbst bewirkt werden. Mache ich ihm aber nun diese seine Selbstbesserung unmöglich, so beraube ich ihn seiner sittlichen Aufgabe. Die Selbstbesserung beruht auf der Selbsterhaltung. Die Selbsterhaltung bedeutet die Selbstbesserung 185 ." Wie Cohen gegenüber der spezialpräventiven Besserungsstrafe, sofern sie lediglich sozial-technisch motiviert ist als Mittel, „einen Verbrecher wieder zu einem brauchbaren Gliede der Gesellschaft zu machen (künstliche Anpassung, Adaption)" 186 , deutliche Vorbehalte anmeldet, ebenso drückt er sein Bedenken gegen das aus „dem Prinzip des Schutzes und der Sicherung der Gesellschaft" begründete, auf Abschreckung oder „Unschädlichmachung des Verbrechers" 187 „(künstliche Selektion)" 188 abzielende Strafübel an. Insgesamt wird im Text spürbar, daß Cohen angesichts der faktischen Ökonomie und Funktionalität staatlichen Strafens nicht völlig ablehnend sich gegenüber allen relativen Zwecktheorien verhält. So akzeptiert er auch die Sicherungsstrafe, wenn sie nur die Ausgestaltung erhält, daß dem Täter Selbstbesserung, Findung sittlicher Identität möglich bleibt. „Hiermit aber kommen wir auf das Prinzip des Schutzes und der Sicherung der Gesellschaft, welches ebenfalls, teils allein, teils vorzugsweise als Prinzip der Strafe aufgestellt wird. Die Strafe darf freilich nicht in dem Sinne als Schutzmittel des Staates gedacht werden, daß der Verbrecher zum selbstlosen Werkzeug würde, um nur die Gesellschaft und den Staat gegen das Raubtier des Verbrechers zu schützen. Das wäre krasser Jesuitismus. Der Zweck darf niemals das Mittel so heiligen, daß es dabei zum Sündenbock wird. Dieser Sinn der Sicherung des Staates darf sich nicht hervorwagen, wenn die Erhaltung des sittlichen Selbst als die zen185 ErW, S. 362. Vgl. die Auffassung Cohens mit Arthur Kaufmanns Interpretation des Resozialisierungskonzepts: „Wer aber Resozialisierung will, darf nicht Front machen gegen den Sühnegedanken, sonst sägt er sich den Ast, auf dem er sitzt, selber ab. Gewiß kann man Sühne nicht erzwingen. Aber läßt sich denn Resozialisierung erzwingen? ... Im Grunde ist ein Resozialisiertwerden gar nicht möglich, nur der Täter selbst kann es tun, und was im Strafvollzug in dieser Richtung geschehen kann, ist Anstoß, Ermutigung, Hilfe" (Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte, S. 557). Vgl. dazu aüch § 37 Abs. 2, S. 1. AlternativEntwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Tübingen 1969, (entsprechend §4 Abs. 1, S. 2 Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, Tübingen 1973): „Im Vollzug ist der Verurteilte auf seine Selbstverantwortung anzusprechen" (S. 78). In der Begründung zu § 37 Abs. 2 AEAT heißt es: „An eine Resozialisierung ist nur zu denken, wenn der Verurteilte von dem von außen kommenden Strafdruck soweit freigestellt wird, daß er bereit ist, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und an sich zu arbeiten" (S. 79). 186 v. Liszt, Lehrbuch, 9. Aufl., S. 62. 187 v. Liszt, Lehrbuch, 9. Aufl., S. 62. 188 Vgl. ebd.

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2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

trale Aufgabe des Rechtes und Staates erkannt wird. Es ist die Sicherung des Rechts und des Staates selbst, um die es sich handelt bei der Strafe; die auf dem Spiele steht sowohl im Strafurteil wie in der Strafpflege. Immer muß die Selbsterhaltung die Richtschnur bleiben. Der Verbrecher darf niemals zu einem Gegenstande des Abscheus werden; niemals als ein verlorener Mensch behandelt werden, immer nur als ein vçrirrter. Immer muß die Einsicht dazwischentreten, daß die Schuld schlechterdings außerhalb unseres Horizontes liegt. Sonst wird der Richter in den Hochmut der Selbstgerechtigkeit versetzt, und der Strafpfleger in die Gefahr der Grausamkeit verlockt. Es ist also die Erhaltung der sittlichen Kultur, welche die Selbsterhaltung bedeutet, um die es sich bei der Frage der Sicherung handelt 189 ." Wenn Cohen oben von der „Gefahr der Grausamkeit" spricht, die das Prinzip des Schutzes und der Sicherung der Gesellschaft als Strafbegründung beinhaltet, so hat er dabei bestimmte Strafkonsequenzen im Auge, die die moderne Schule als kriminalpolitische Forderung aus ihrem Zweckstrafenkonzept gezogen hat, deren ethische Insuffizienz für die Verfechter der Zweckstrafe aber offenbar kein Problem war. Dabei spielt Cohen auf die auch von v. Liszt im Kampf gegen die kurzzeitige Freiheitsstrafe befürwortete Wiedereinführung der Prügelstrafe 190 an und attaktiert diese „Vexierfragen der Brutalität" 1 9 1 . „Wenn die Strafe aber diese sittliche Bedeutung für das Recht behalten und fruchtbar machen soll, so muß die Selbsterhaltung das herrschende Prinzip werden. Die Würde des Menschen darf unter keinem Vorwande der sittlichen Entrüstung und unter keiner Vorspiegelung der Selbstgerechtigkeit gekränkt werden. Und die Selbsterhaltung wird als das zuverlässige Prinzip für die Anwendung des Selbstzwecks, den der Mensch bilden soll, zu erkennen sein. Die Selbsterhaltung ist ein sichererer Leitbegriff als die Würde. Die Menschenwürde kann man in der Prügelstrafe zu vollziehen glauben. So weit kann die Differenz zwischen Begriff und Wort die Verirrung treiben. Die Selbsterhaltung läßt eine solche dramatische Szenerie als verwerflich erkennen. Denn die Verletzung der tierischen Gewebe im Menschen könnte schädlich werden für seine sittliche Seele 192 ." Der Crux aller absoluten, aller Gerechtigkeits-, Vergeltungs- oder Sühnetheorie, praktisch zu werden, d. h. angemessen auf die Realitäten der Kriminalität 189

ErW, S. 356 f. Vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 9. Aufl. (1899), § 15, S. 69: Aus der Erkenntnis der schädlichen Wirkungen der kurzzeitigen Freiheitsstrafe „ergibt sich die Forderung, daß der Gesetzgeber die kurzzeitige Freiheitsstrafe möglichst durch andere geeignete Maßregeln (Zwangsarbeit ohne Einsperrung, Ehrenhauptstrafen, Wirtshausverbot, Hausarrest, Prügelstrafe) ersetzen oder durch Verschärfungen ihr die abschreckende Kraft zurückgeben solle." Die Prügelstrafe als peinliche Strafe ist in den deutschen Staaten teils vor - teils nach 1848 beseitigt worden. Sie fand aber noch Anwendung als Disziplinarstrafmittel in den Strafanstalten von Preußen, Sachsen, Hamburg, Lübeck, Mecklenburg, Schwarzburg, Rudolstadt, Oldenburg. Vgl. v. Liszt, S. 69 Fußnote 1. 191 ErW, S. 364. 1 ErW, S. 6 . 190

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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und des staatlichen Strafens sich einzulassen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, entgeht auch Cohen nicht. Wie er zwar einerseits ein emphatisches Bekenntnis zur als sittliche Selbsterhaltung verstandenen Menschenwürde ablegt, deren praktische Konsequenz die unbedingte Achtung der Personenwürde auch des Rechtsbrechers ist, so bleibt es auch für Cohen dabei, daß die Strafe „als das exakte Mittel des Rechts" 193 festgehalten bleibt, da nur sie - als die von der Rechtsgemeinschaft vorgesehene Institution für die Tilgung des Unrechts - auch das Internum des Rechtsbrechers zu entlasten und von dem Druck der Schuld zu befreien vermag. Aus solchen Erwägungen wird erklärbar, daß Cohen die von der modernen Schule seit den achtziger Jahren auch in Deutschland geforderte „bedingte Verurteilung" 194 , modern: die Strafaussetzung zur Bewährung, für bedenklich hält, weil der Täter nur im Vollzuge der Strafe die Sühnearbeit leisten könne, die zu einer wirklichen Schuldentlastung führe. „Daher kann ich mich nicht enthalten, gegen das neuere Prinzip der bedingten Verurteilung ein prinzipielles Bedenken auszusprechen. Nach diesem Verfahren wird die Strafe nicht angetreten; und es wird so der Verbrecher der Möglichkeit entrückt, seines Sehuldbewußtseins sich zu entledigen 195 . Die Sache wird durch den Namen der bedingten Verurteilung, während sie eigentlich doch vielmehr eine bedingte Bestrafung ist, nicht verbessert. Denn dadurch wird auch noch der gefährliche Schein erregt, als ob auch das Urteil ein bedingtes wäre 1 9 6 . Die praktische Frage der Opportunität steht hier außer Betracht; es sollte nur der prinzipielle Standpunkt gewahrt werden 197 ."

193 ErW, S. 368; vgl. dazu Natorp: „Gerade in der Bestrafung liegt - wie in neuerer Zeit besonders Cohen in seiner Ethik kräftig betont hat - die Anerkennung dieses Kerns seiner Persönlichkeit, nämlich seiner Willensfähigkeit. Nichtbestrafung vielmehr würde ihn für willensunfähig erklären, und damit überhaupt außer rechtlicher Beurteilung stellen; denn rechtlicher Beurteilung unterliegt nur der Willensfähige." In: Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, Philosophische Abhandlungen, S. 221. 194 Vgl. zur bedingten Verurteilung v. Liszt, Lehrbuch, 9. Aufl., S. 69: „In besonders berücksichtigungswerten Fällen soll dem Gelegenheitsverbrecher die Möglichkeit geboten werden, durch einwandfreies Verhalten den Vollzug der erkannten Strafe abzuwenden. Das ist die sog. bedingte Verurteilung mit oder ohne Friedensbürgschaft, die, alter deutscher Rechtsanschauung durchaus entsprechend, sich nicht nur im heutigen englisch-amerikanischen Recht seit längerer Zeit findet, sondern auch in Belgien, Frankreich, Neuenburg, Genf, Portugal, Norwegen, eingeführt, in anderen Ländern in Aussicht genommen worden ist. In den deutschen Einzelstaaten ist sie als bedingte Begnadigung 1895 und 1896 im Verordnungswege zugelassen worden." 195 Diese Entwicklung (vgl. § 59 StGB) hat allerdings das Strafrecht inzwischen genommen. Sie müßte dem Verdikte Cohens voll verfallen. 196 ErW, S. 363 f. 197 In seiner Rezension kommentiert Kantorowicz (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik XXXI, S. 605) diese Stelle sarkastisch: „Bedauernswerter Mann! Der einzige Trost ist, daß er nach allen Gesetzgebungen durch ein neues Verbrechen innerhalb der Bewährungsfrist diesen Anschlag des Richters auf seinen Seelenfrieden zu Schanden machen kann. Aber ernsthaft gesprochen: wie kann der Ethiker den sittlichen Ernst des Gedankens einer Verzeihung unter der Bedingung der Bewährung verkennen?"

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

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6. Zusammenfassung

Den Hintergrund für Cohens Auffassung vom Begriff und der Idee der Strafe bildet eine Anthropologie, die, wie die idealistische Philosophie seit Kant, den Menschen als freies, der Selbstgesetzgebung, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbsterhaltung fähiges Wesen bestimmt. Entscheidend ist, daß Cohen, obwohl er fortwährend die Autonomie nur als Leitidee, als Aufgabe des Menschen begründet, im realen Menschen diese Autonomie stillschweigend immer schon voraussetzt. Nur auf dieser Voraussetzung, daß die Autonomie faktisch durch den einzelnen realisierbar ist und realisiert wird, ist seine Straftheorie, die den konkreten Menschen meint, schlüssig. Nur unter dieser Voraussetzung wird ein Urteil, das der bedingten Verurteilung gegenüber „Bedenken prinzipieller Art" ausspricht, verständlich. Die Forderung nach der bedingten Verurteilung beruht auf einer anderen Anthropologie. Diese Anthropologie wird bestimmt durch das Bild eines von seinen Anlagen, Interessen, Motiven und Umwelteinflüssen wesentlich festgelegten Menschen. In der bedingten Verurteilung, in der Strafaussetzung zur Bewährung, äußert sich diese stärker erfahrungswissenschaftlich orientierte Anthropologie in zweierlei Weise. Von seiten des strafenden Staates wird die Tat nicht umstaridslos diesem Täter allein als seine eigene, von ihm zu verantwortende, zugerechnet. Deshalb braucht er, trotz der Tat, die Last der Straffolge vorerst nicht auf sich zu nehmen. Andererseits hat dieser Täter sich regelwidrig verhalten; deshalb dient die Aussetzung der Strafe als ein Mittel zur Steuerung seines zukünftigen normgemäßen Verhaltens. Wiederum nur unter der Voraussetzung der im konkreten Menschen realisierten autonomen Person mag diese Strafart „vom prinzipiellen Standpunkt" Bedenken erregen, wird doch in der Nichtvollziehung der Strafe das selbstverantwortlich angerichtete Unrecht nicht geahndet, wird doch durch das Drohmittel der Vollziehung der Strafe der Täter nicht als „vernünftiger" geehrt. Bei Cohen soll bei der bedingten Verurteilung die „praktische Frage der Opportunität" außer Betracht bleiben, und er will damit wohl sagen, daß unter bestimmten Umständen auch die bedingte Verurteilung sinnvoll und gerechtfertigt sein könnte. Darin aber liegt das Problem: ob es zulässig ist für eine Ethik, die „nicht für ein Wolkenkuckucksheim spekulieren, sondern mit dem Wirklichkeitssinn, der dem wahrhaften Idealismus eigen ist, die Wirklichkeit umklammern (will), um sie zu bändigen, zu wandeln, zu verwandeln" 198 , ob eine solche Ethik es bei der Trennung zwischen „prinzipiellem Standpunkt" und der „praktischen Frage der Opportunität", zwischen dem aus dem moralischen Gesetz gewonnenen Prinzip einerseits und den aus den Erfahrungen der Menschen gewonnenen Einsichten andererseits belassen darf. Das Auffällige ist, daß Cohen in den Einzelheiten seiner Straftheorie deutlich den homo phänoErW, S.

.

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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menon mit dem homo noumenon identifiziert, obwohl es doch seiner Ansicht und seinem eigenen methodischen Ansatz nach gerade darum geht, den homo noumenon als Idee, als Aufgabe für den konkreten Menschen aufzufassen, den konkreten Menschen also zunächst einmal mit der ganzen Last seiner Naturgeschichte zu akzeptieren. Dieser Widerspruch kennzeichnet nicht nur Cohens Ausführungen zur sittlichen Selbsterhaltung, er ist bestimmend für das ganze Kapitel über die „Autonomie des Willens". So sollen Selbstgesetzgebung, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbsterhaltung nur Aufgaben darstellen, welchen der Mensch immerfort nachzustreben hat. „Das sittliche Wesen sehen wir nicht seiner vollen Bedeutung nach in einem leibhaftigen Individuum, sondern wir projizieren dieses auf seine unendliche Aufgabe. Diese Bedeutung der Aufgabe hat für uns der Begriff des sittlichen Selbstbewußtseins 199 ." Doch muß dieses leibhaftige Individuum auch imstande sein, die Aufgaben der Autonomie zu lösen. Das setzt die Untersuchung der Frage voraus, welche intellektuellen, emotionalen und sozialen Voraussetzungen das leibhaftige Individuum, welche Fähigkeiten es ausgebildet haben muß, um überhaupt die Aufgabe der Autonomie in Angriff nehmen zu können. Allein dieses mit den ausreichenden Voraussetzungen solcher Art ausgestattete Individuum könnte sittlich in Anspruch genommen werden, nur an es könnten sittliche Ansprüche gestellt werden. Cohen untersucht solche Voraussetzungen nicht, er fragt nicht nach den Entstehungsbedingungen des Schuldbewußtseins, nach den psychosozialen Normationsprozessen, die das Phänomen des Gewissens möglich machen. Diese Fragen haben nur in den ersten Ansätzen im Horizont der Wissenschaften jener Zeit gelegen. Diese Fragen brauchte Cohen sich aber auch nicht zu stellen, weil seine Anthropologie eine gelungene Sozialisation, eine gelungene Ausbildung und Entwicklung der Persönlichkeitsstrukturen im Hinblick auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, also Mündigkeit, beim einzelnen Menschen für den Regelfall voraussetzt. Wenn die empirischen Annahmen dieser Anthropologie problematisch werden, dann müssen sich hier auch Konsequenzen für die auf ihr basierte Ethik geltend machen. Diese Konsequenzen berühren nicht die Grundprinzipien im Blick auf das sittliche Individuum, die Idee und Aufgabe der sittlichen Autonomie, als vielmehr die Anwendung für jenen Menschen, der der Aufgabe der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung nicht oder nur in geringem Maße mächtig ist. Dem der Selbstbestimmung nur unzulänglich fähigen Menschen die Straflast aufzubürden mit der Rechtfertigung, sie gebe ihm die Gelegenheit, durch Einsicht und sittliche Selbsterkenntnis zur Aufhebung des Unrechts und zur sittlichen Läuterung zu gelangen, kann offenbar nicht der Personenwürde, der Idee der sittlichen Selbsterhaltung entsprechen. Cohens Ethik gibt hier keine Auskunft. Sie begnügt sich mit der allgemeinen Rede von der Autonomie, die dem einzelnen aufgegeben ist. Darin aber besteht das Dilemma der Cohen99

E r W , S. 3 6 .

442

2. Teil: Cohens Begründung der Ethik

sehen Ethik, daß sie zum leibhaftigen Individuum, dem homo phaenomenon, entsprechend ihren eigenen methodischen Grundsätzen, keinen Zugang haben darf, obwohl sie, wie das Autonomiekapitel zeigt, Annahmen über bestimmte moralische Fähigkeiten des wirklichen Menschen und damit eine bestimmte Anthropologie stillschweigend oder offen ständig zur Voraussetzung macht. Wenn das sittliche Individuum nur eine Verwandlungsform des sittlichen Allheitssubjekts, das nichts anderes als die Personifizierung des Sittengesetzes darstellt, ist, so lassen sich die Begriffe des Vorsatzes, der Schuld, der Selbsterkenntnis und der Strafe als von der Wirklichkeit des konkreten Menschen abgezogene Begriffe mit dem intelligiblen Ich der Ethik, dem als sittlichen Selbstbewußtsein personifizierten Sittengesetz nicht vermitteln. Wenn oben versucht wurde, die Cohenschen Merkmale der Autonomie als Formen der Herstellung, Sicherung und Wiedergewinnung sittlicher Identität auszudeuten, so wird darin die Voraussetzung gemacht, daß diese sittliche Identität ungesichert, problematisch ist. Das sittliche Individuum, der homo noumenon, hat aber keine Identitätsprobleme, er kann sich weder sittlich falsch bestimmen, noch verfügt er über eine Psyche, die der Selbsterkenntnis fähig wäre, noch bedarf er der Strafe, denn er kann sein eigenes Gesetz nicht verletzen, weil er dieses selbst darstellt. Probleme sittlicher Identität können nur für den leibhaftigen Menschen entstehen. Voraussetzung aber ist, daß er moralischen Handelns und der sittlichen Idee mächtig ist. Der konkrete Mensch aber und seine mehr postulierten als nachgewiesenen Voraussetzungen werden von Cohen stillschweigend, ohne methodische Rechtfertigung, in die Untersuchung eingeführt. Ohne jenen konkreten Menschen, der in vielerlei Weise und aus vielerlei Ursachen gegen das Gesetz verstößt, bleibt die Rede von Vorsatz, Schuld und Strafe ohne Substrat. Cohen fällt bei dem Versuch, das von Kant nicht gelöste Problem des Verhältnisses von homo noumenon und homo phaenomenon, von intelligiblem und empirischem Ich, zu klären durch die Deutung des homo noumenon als Idee, als die unendliche sittliche Aufgabe, die dem wirklichen Menschen gestellt ist, bei der Frage der Anwendung des Aufgabenbegriffs der Ethik auf den leibhaftigen Menschen in die Kantische Position zurück, indem er intelligibles und empirisches Ich gleichsetzt. Die Konsequenzen dieser Identifizierung werden sichtbar in Cohens Straftheorie, die das Recht zu strafen gegenüber dem konkreten Individuum rechtfertigen soll. Cohens Variante einer Gerechtigkeits- und Sühnetheorie setzt Autonomie, die Fähigkeit zur moralisch-rechtlichen Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbsterhaltung im konkreten Individuum voraus. Diese Annahme rechtfertigt sein ungebrochenes Vertrauen in die unbedingte Anwendung und Vollziehung der vergeltenden Strafe und ihre für das Schuldbewußtsein des Rechtsbrechers reinigende Kraft. Darauf beruht seine Ablehnung und sein Bedenken gegen die Bestimmung der Strafe als Zweckinstrument, sei es der Abschreckung, sei es der Pädagogik. Die teilweise rigoristisch-moralisierenden, hochgradig rationalistischen Elemente

5. Kap.: Cohens Begriff der Autonomie

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seiner Straftheorie, sind, das sollte nicht vergessen werden, nur das Komplement der liberalaufklärerischen Tendenz einer mit humanitärem Pathos vorgetragenen Theorie, die ihren Ausgang von einer im Begriff des Selbstzwecks des Menschen, der Personenwürde, zentrierten Ethik nimmt.

Anhang Hermann Cohen - Kurzbiographie Hermann Cohen wurde im Jahre 1842 als Sohn einer orthodox-jüdischen Familie in Coswig im Herzogtum Anhalt geboren. Seine Eltern waren Gerson Cohen, damals Lehrer der jüdischen Gemeinde, und Friederike Cohen geb. Salomon. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Dessau und des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau, wo Cohen von Bernays, Frankel, Joel und Grätz unterrichtet wurde, nahm er 1861 seine Studien an der Universität Breslau auf. Unter den Lehrern seiner Studienzeit nennt er u. a. den Schleiermacher-Schüler Julius Braniss. 1863 gewann Cohen den Preis der Philosophischen Fakultät mit einer Arbeit „Über die Psychologie des Piaton und Aristoteles". Im Jahr 1864 siedelte Cohen nach Berlin über. Er wurde durch Adolf Trendelenburg als Prorektor an der Universität Berlin eingeschrieben. Mit der Bearbeitung einer Preisaufgabe über casus und contingens bei Aristoteles hatte Cohen in Berlin keinen Erfolg, obwohl Trendelenburg ihm ein ausdrückliches Lob aussprach. Die veränderte Fassung dieser Arbeit reichte er an der Universität Halle als Dissertation mit dem Thema „Philosophorum de antinomia necessitatis et contingentiae doctrinae" ein. 1865 bestand Cohen dort das Rigorosum. Zurück in Berlin widmete er sich verstärkt der Mitarbeit an der von seinen Förderern Heymann Steinthal und Moritz Lazarus seit 1859 herausgegebenen „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft". Er veröffentlichte zwischen 1867 und 1869 drei längere Abhandlungen in dieser Zeitschrift, die noch deutlich unter dem Einfluß der Herbart-Steinthalschen Psychologie standen, bis er 1870 mit der Arbeit „Zur Kontroverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer" seine spezifischen Interessen an der Philosophie Kants erkennen ließ. In Berlin hörte er u. a. die Altphilologen August Boeckh und M. Haupt, den Physiker und Philosophen Hermann Helmholtz (ab 1870), den Physiologen Emil du Bois-Reymond, Steinthal und Trendelenburg. 1871 erschien die bereits in der „Kontroverse" angekündigte Arbeit „Kants Theorie der Erfahrung", die der Verleger Ferdinand Dümmler auf Betreiben Steinthals druckte. Dieses Buch hatte eine starke Wirkung und veranlaßte F. A. Lange, in der 2. Auflage seiner berühmten „Geschichte des Materialismus" seine eigene Kantauffassung einer Revision zu unterziehen. Die Hoffnung, sich in Berlin zu habilitieren, schlug nach einem mißlungenen Versuch und einem angesichts der drohenden Ablehnung von Cohen selbst ab-

Hermann Cohen - Kurzbiographie

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gebrochenen Verfahren fehl. Dafür eröffnete ihm aber der im Sommer 1872 nach Marburg berufene F. A. Lange die Möglichkeit, ab 1873 eine Lehrtätigkeit zu beginnen, die bis zum Jahre 1912 nicht wieder unterbrochen werden sollte. Cohen habilitierte sich mit einer kurzen Schrift über „Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften nach ihrem Verhältnis zum kritischen Idealismus" (1873). Schon im folgenden Jahre wurde Cohen nach dem Tode Georg Weißenborns auf maßgebliches Betreiben von F. A. Lange von der Fakultät als einziger für die Nachfolge in dem freigewordenen Ordinariat vorgeschlagen. Doch wurde die Stelle mit Julius Bergmann besetzt, und Cohen mußte sich mit einem Extraordinariat begnügen. Wie in Berlin, so war auch bei diesem Verfahren ein mehr oder weniger latenter Antisemitismus mitwirkend gewesen. So hatte der Botaniker Wigand in seinem Sondervotum gegen die Berufung Cohens ausgeführt, daß in der Universität Marburg, die ihrer Satzung nach christlich sei, ein Jude ein Amt nicht bekleiden könne. Im November 1875 starb F. A. Lange. Cohen wurde wiederum als einziger von der Fakultät als Nachfolger vorgeschlagen und erhielt schließlich auch den Ruf. Im Jahre 1876 wurde er vom liberalen preußischen Kultusminister Falk zum ordentlichen Professor der Philosophie in Marburg ernannt. In den „Preußischen Jahrbüchern" brachte Cohen 1876 eine umfassende Würdigung seines Mentors F. A. Lange. Die von Lange hinterlassenen „Logischen Studien" fanden 1877 in Cohen ihren Herausgeber. Die „Geschichte des Materialismus" wurde von ihm in den weiteren Auflagen besorgt, 1881 mit einem biographischen Vorwort und 1896, in der fünften Auflage, mit einer Einleitung und einem „Kritischen Nachtrag" versehen, der 1908 und 1914 noch einmal überarbeitet wurde. Im 50seitigen „Kritischen Nachtrag" faßt Cohen seine eigenen philosophischen Bemühungen zusammen im Bekenntnis zu Langes Auffassungen von der praktischen Rolle der philosophischen Kritik, wie Lange sie in der „Arbeiterfrage" und in der „Geschichte des Materialismus" entwickelt hatte. Cohen formuliert dort einen kantisch inspirierten ethischen Sozialismus, dessen jüdisch-messianischer Ursprung erst in den Hauptschriften ganz deutlich wird. 1877 erschien das zweite von Cohens Kantwerken „Kants Begründung der Ethik" und 1878 legt er in „Piatons Ideenlehre und die Mathematik" den Grund für die spezifisch neukantianische Platon-Deutung. Im Jahre 1878 heiratete Cohen Martha Lewandowsky, deren Vater aufgrund seines Rufs als Komponist, vor allem jüdisch-geistlicher Gesänge, zum kgl. Musikdirektor und Professor an der Akademie der Künste in Berlin berufen wurde. Hatte Cohen bis zum Ende der siebziger Jahre in Fragen seiner Religion publizistisch sich nur beiläufig geäußert, so sah er sich 1880 durch Heinrich von Treitschkes Eintreten für den Antisemitismus, das er 1879 in den „Preußischen Jahrbüchern" darlegte, gezwungen, ein „Bekenntnis in der Judenfrage" abzugeben. Cohen war im Bewußtsein einer Zeit aufgewachsen, in der das Juden-

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tum nach erreichter politischer Emanzipation die Hoffnung haben konnte, in Zukunft in religiöser Freiheit gleichberechtigt am staatlich-gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Cohen verteidigte gegen den Antisemitismus seine Ansicht, daß Juden und Christen gemeinsam, den Zielen ihres jeweiligen Glaubens entsprechend, dem Nationalstaat dienen sollten. Er setzte sich mit dieser Position einer gemäßigten Assimilation zugleich in Gegensatz zu der im Gegenzug zum Antisemitismus sich formierenden zionistischen Bewegung, die die von Cohen für nötig und möglich gehaltene Trennung von Religion und Nation nicht akzeptierte. Diese doppelte Verteidigungsstellung gegen Antisemitismus und Zionismus im Bestreben um versöhnenden Ausgleich der Differenzen zwischen Deutschtum und Judentum hat Cohen bis zu seinem Lebensende durchgehalten und hat ihm zu seinem besonderen Schmerz die Ablehnung der jüdischen Theologie in fast allen Fragen eingetragen. Die Tragik dieser Haltung erfuhr nicht Cohen, sondern seine Frau: sie wurde 1942 im Alter von 82 Jahren nach Theresienstadt deportiert. 1883 veröffentlichte Cohen die für die Grundlegung seines eigenen philosophischen Denkens wichtige Schrift „Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte". In dieser Arbeit verweist Cohen auf das Descartes-Buch Paul Natorps. Natorp, sein neuer Weggefährte, hatte sich 1881 bei Cohen habilitiert, wurde 1885 Extraordinarius und 1893 neben Cohen ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik. Nachdem 1885 die stark erweiterte und völlig umgearbeitete Fassung von „Kants Theorie der Erfahrung" in der 2. Auflage erschien, kam vier Jahre später das dritte von Cohens Kantbüchern, „Kants Begründung der Ästhetik" heraus. Inzwischen wurde Cohens Lehrwirksamkeit bestätigt und es bildete sich langsam ein ständiger Schülerkreis heraus. Aus dem im Jahre 1900 gegründeten Philosophischen Seminar gingen eine Reihe wertvoller Untersuchungen hervor, die seit 1906 in den „Philosophischen Arbeiten", die von Cohen und Natorp herausgegeben wurden, gesammelt wurden. Allmählich bürgerte sich in der Publizistik der Name „Marburger Schule" ein. Erst 1902 trat Cohen wieder mit einer größeren Arbeit in Erscheinung. Es ist der erste Teil eines „Systems der Philosophie": die „Logik der reinen Erkenntnis". 1904 folgte die „Ethik des reinen Willens" und 1912 vervollständigte Cohen das System mit der zweibändigen „Ästhetik des reinen Gefühls". 1912 ließ Cohen sich von seinen akademischen Verpflichtungen entbinden und er verließ Marburg, um nach Berlin zu gehen, wo er eine Tätigkeit an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, dessen Kuratorium er als Nachfolger Lazarus seit 1904 angehörte, übernahm. Zu seinem in das Jahr 1912 fallenden siebzigsten Geburtstag wurde Cohen von seinem engeren Schülerkreis unter Leitung Paul Natorps eine Festschrift dargebracht. Unter den Mitarbeitern fanden sich u.a. Arthur Buchenau, Ernst Cassirer, Dimitry Gawronsky, Albert Görland, Heinz Heimsoeth, Nicolai Hartmann, Walter Kinkel, Benzion Kellermann, Paul Natorp, Max Salomon, Kurt Vorländer. Auch die

Hermann Cohen - Kurzbiographie

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„Kantstudien" widmete Cohen ein Festheft, in welchem Beiträge von Natorp, Cassirer, Görland und Kinkel vereinigt waren. Schließlich erschien zur Würdigung seiner religionsphilosophischen und jüdischen Schriften eine von jüdischen Gelehrten herausgegebene Festschrift „Judaica". Der Weggang Cohens aus Marburg hatte keinen bestimmten Grund. Doch war Cohen in den letzten Jahren vor dem Wechsel zunehmend verbittert worden. Sein Verhältnis zur Fakultät hatte sich zusehends verschlechtert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Hochschulen war die Marburger Fakultät den Philosophen wenig gewogen. Das zeigte sich auch nach Cohens Emeritierung, als die Fakultät nicht den von ihm gewünschten Schüler Ernst Cassirer, sondern einen jungen Experimentalpsychologen zum Nachfolger auf seinen Lehrstuhl berief. Auch hatten sich die antisemitischen Tendenzen in Marburg sehr verstärkt. So verzichtete Cohen auf eine Sondervorlesung über Schillers Verhältnis zur deutschen Philosophie wegen zu erwartender antisemitischer Störungen seitens der Studenten. Darüberhinaus machten die studentischen Verbindungen, die - dem Beispiel des Vereins deutscher Studierender folgend - jüdischen Bewerbern den Eintritt verweigerten, einen beträchtlichen Teil der Marburger Studentenschaft aus. Cohens Verbitterung wird auch daraus verständlich, daß er während der 36 Jahre seines Ordinariats niemals zum Rektor der Universität gewählt worden ist, obwohl er den Ruf dieser Universität maßgeblich mitbegründet hat. Wahrscheinlich aber war für Cohen die Entfremdung von seinen Fachkollegen noch kränkender. Er hat niemals einen Ruf an eine andere Universität erhalten, eine Anerkennung, die in der Laufbahn eines erfolgreichen Professors durchaus als normal galt. Diese Nichtbeachtung äußerte sich schließlich auch in anderem: So wurde Cohen, als die Berliner Akademie unter der Leitung Diltheys daran ging, die Werke Kants in einer textkritischen Ausgabe herauszugeben, nicht zur Mitarbeit eingeladen (wohl aber Paul Natorp!). Dafür brachte Ernst Cassirer, Cohens bedeutendster und ihm am nächsten stehender Schüler, mit Hilfe seines Vetters, des Berliner Verlegers Bruno Cassirer, eine Kant-Ausgabe zustande, die ähnlichen Ansprüchen genügte und die in ihrem Mitarbeiterkreis die Marburger Schule repräsentierte. In den Jahren von 1912 bis zu seinem Tode 1918 lag der Schwerpunkt von Cohens sehr reichlichem literarischen Schaffen in der Behandlung spezifisch jüdischer religionswissenschaftlicher und -philosophischer Probleme. Aber er nahm auch weiter an den fachphilosophischen Entwicklungen teil. Während des Krieges unterstützte er die deutsche Kriegsführung. Sein Vortrag „Über das Eigentümliche des deutschen Geistes", den er im Herbst 1914 in der „KantGesellschaft" in Berlin hielt, die Broschüre „Deutschtum und Judentum" (1915/16), die „Kantische(n) Gedanken im deutschen Militarismus" (1916) sind, obwohl vom Kriege kaum die Rede ist, Professorenkriegsliteratur.

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Im Winter 1913/14 hielt Cohen in Berlin in der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums eine Vorlesung, in der es um den Platz, den die Theorie der Religion im System der Philosophie haben könnte, ging. Diese Gedanken wurden zusammengefaßt in dem Buch „Der Begriff der Religion im System der Philosophie" (1915). Diese Untersuchung führte Cohen dann weiter zu seinem religionsphilosophischen Hauptwerk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums", dessen Manuskripte er fertig hinterließ, als er im April 1918 starb.

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