Ernst Lichtblau: Architekt 1883–1963. Gestell und Gestalt im Raum. Reflexionen über ein Paradigma der modernen Architektur 9783205105718, 3205055136, 9783205055136

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Ernst Lichtblau: Architekt 1883–1963. Gestell und Gestalt im Raum. Reflexionen über ein Paradigma der modernen Architektur
 9783205105718, 3205055136, 9783205055136

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August Sarnitz ERNST LICHTBLAU ARCHITEKT 1883-1965

Eingang zur Ausstellung „Furniture of Today", in den fünfziger Jahren, Installationsfoto von Nicholas Romano.

August Sarnitz

ERNST LICHTBLAU ARCHITEKT 1885-1965

Gestell und Gestalt im Raum Reflexionen über ein Paradigma der modernen Architektur

Ä BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und das Rulturamt der Stadt Wien.

Graphische Gestaltung und Layout: August Sarnitz

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sarnitz, August: Ernst Lichtblau : Architekt, 1885 - 1963 ; Gestell und Gestalt im Raum ; Reflexionen über ein Paradigma der modernen Architektur / August Sarnitz. Mit Fotos von Margherita Spiluttini. - Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau, 1994 ISBN 3-205-05513-6 NE: Lichtblau, Ernst [III.]

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1994 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien · Köln • Weimar Satz & Repro: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberrohrbach Druck: Tiskarna Ljudske pravice, Ljubljana/Slovenia

INHALT

VORWORT

7

EINLEITUNG

9

KAPITEL 1

Die Wagnerschule - Zur Genesis der modernen Architektur

15

KAPITEL 2

Gestell und Gestalt

35

KAPITEL 3

Über den wahren Zustand der Dinge

49

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

65

KAPITEL 4

Der verlorene Alltag: Emigration

93

KAPITEL 5

Eine neue Welt: Guter Geschmack und gutes Design Ernst Lichtblau in Providence, Rhode Island Samuel R. Frank

105

Riographie

145

KAPITEL 6 ANMERKUNGEN

157

PHOTODOKUMENTATION Ernst Lichtblau Photographien von Margherita Spiluttini

163

WERKVERZEICHNIS

195

ANHANG

226

RIRLIOGRAPHIE

235

ARRILDUNGSVERZEICHNIS

237

PERSONENREGISTER

239

SACHREGISTER

240

»I

VORWORT

Die vorliegende Publikation ist eine Sammlung. Sammeln, in seiner ursprünglichen Bedeutung, ist das Zusammentragen, Auffinden und die Relokation von Dingen und Objekten, die verlorengegangen waren - oder für verlorengegangen gehalten wurden. In der Architekturgeschichte gibt es viele Ansätze zum Sammeln, zumal wenn ein Lebenswerk wie dasjenige von Ernst Lichtblau durchbrochen war von dem politischen Holocaust des Dritten Reiches. Emigration, Neue Heimat, Alte Heimat, Aufbau, Zerstörung und Vergessen reihen sich in einem schrecklich logischen Zusammenhang bei der Werkbetrachtung von Ernst Lichtblau: Das wenige, was noch vorhanden war, war verstreut. So ist das Sammeln und Ansammeln für diese Publikation ein primäres Interesse gewesen, um das Werk zugänglich und nachvollziehbar zu machen. Werkdokumentation verstanden nicht als abgeschlossene Handlung, sondern als Aufforderung zum weiteren Diskurs. Parallel zur Sammlung der Werkdokumentation geben mehrere Essays den Hintergrund und den inneren Zusammenhang für das Ansammeln: Geschichte, Ursprung und Werk. Die drei Aspekte, Geschichte, Ursprung und Werk, reflektieren Zeit und Bedingung des Entstehens. „Geschichte" bezieht sich hierbei auf das Umfeld der Wagnerschule, hier im besonderen die Zeit von 1898 bis 1905 - und deren strukturelle Vorbedingungen für eine mögliche Entwicklung architektonischen Denkens und Handelns. „Ursprung" öffnet die Fragen nach den prinzipiellen Bedingungen in der Architektur, als welche diese sich in „Gestell" und in der „Gestalt" erklärt. Mit „Werk" wird schließlich jener Teil der Umsetzung von Ernst Lichtblau betrachtet, der sich über 55 Jahre aus der Beschäftigung mit den architektonischen Fragen ergeben hat: Die Essays bilden hier einen Überblick und einen Kommentar, das Werkverzeichnis versucht eine Vollständigkeit auf Grundlage und Möglichkeit von noch vorhandenen Quellen. Durch die Verbindung von Ansammeln und essayhaftem Kommentar wird eine Verdichtung angestrebt, die eine Reflexion über das Werden der Architektur Ernst Lichtblaus ermöglicht. An dieser Stelle sei auch der Dank ausgesprochen an alle diejenigen Menschen, die mitgeholfen haben, diese Publikation zu ermöglichen. Mein besonderer Dank gilt Otto Graf, Almut Krapf, Carl Pruscha, Gustav Peichl, Eduard Sekler und Maria Auböck, die dieses Proj ekt von Anfang an begleitet haben, und ferner allen Wohlmeinenden. Besonderer Dank gilt Samuel B. Frank für seine konstruktive Zusammenarbeit und seinen Beitrag über Ernst Lichtblau in Amerika. Besonderer Dank gilt auch Frau Gabriele Wrana für die Mithilfe bei Archivrecherchen und Aufstellung des Werkverzeichnisses. Akademiekollegium, Akademie der bildenden Künste, Wien; Paul Asenbaum, Wien; Firma Backhausen Joh. & Söhne, Peter Backhausen, Wien; Yusef Barcohana, Rhode Island; James Barnes, Rhode Island School of Design, Providence; Bibliothek der Akademie der bildenden Künste, Wien; Bibliothek der Hochschule für angewandte Kunst, Wien; Matthias Boeckl, Hochschule für angewandte Kunst, Wien; Elise Campbell, Rhode Island

School of Design, Providence; Joseph & Georgianna Decoster, Rhode Island; Ulrike Dietmayer, Böhlau Verlag, Wien; Alexandra Fialla, Wien; Nachlaß Vera Fish, Providence, Rhode Island; Friedrich St. Florian, Rhode Island School of Design, Providence, Rhode Island; Joe Fulkerson und Nachlaß J. Carol Fulkerson, Middletown, Rhode Island; Victoria Gianitsaris, Bibliothek der Rhode Island School of Design, Providence; Ferdinand Gutschi, Archiv der Akademie der bildenden Künste, Wien; Handschriftensammlung der Stadt Wien; Israelitische Kultusgemeinde, Matrikelamt, Wien; Renata Kassal-Mikula, Historisches Museum der Stadt Wien, Wien; Gabriele Koller, Bibliothek, Hochschule für angewandte Kunst, Wien; Archiv Künstlerhaus, Wien; Thomas Leavitt, Museum of Art, Rhode Island School of Design, Providence; Michael Leininger, Rotch Library, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge; Firma Lobmeyr, Peter Rath, Wien; Magistratsabteilung 37 der Stadt Wien, Wien; Gerald Matt, Büro der Geschäftsgruppe für Kultur, Wien; Thomas Michie, Museum of Art, Rhode Island School of Design, Providence; Ellie Nacheman, Bibliothek der Rhode Island School of Design, Providence; Österreichische Nationalbibliothek, Portraitsammlung und Bildarchiv, Wien; Ursula Pasterk, Stadträtin für Kultur, Wien; Erika Patka, Archiv der Hochschule für angewandte Kunst, Wien; Peter Rauch, Böhlau Verlag, Wien; Carol R. Scott, Providence, Rhode Island; Elisabeth Schmuttermaier, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien; Margherita Spiluttini, Wien; John Ames Steffian, Rhode Island School of Design, Providence, Rhode Island; Carol Terry, Bibliothek der Rhode Island School of Design, Providence; Angela Völker, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien; Wolfgang Waldner, Österreichisches Kulturinstitut, New York; Eva Weisz, Böhlau Verlag, Wien; Laurie Whitehill, Bibliothek der Rhode Island School of Design, Providence; Wiener Stadt- und Landesarchiv der Stadt Wien, Wien; Wiener Stadt- und Landesbibliothek der Stadt Wien, Wien; Helmut Zilk, Bürgermeister und Landeshauptmann, Wien; Ehemalige Ernst-Lichtblau-Schüler an der Rhode Island School of Design: Ida Millman, Donald P. Pollard, Barbara Gaspar Werber, Lawrence Peabody, Bill Dunlap, Sarah Reineman Green, James Howell, Christine Guarino Jones, Cynthia Patriquin, Edward T. Howell, Robert J. Soforenko, Joan Booth, Roland L. Marchand, Sebastian L. LaBella, Mary Ann Clegg Smith, Gino Mastrangeli, Ernest Kirwan, Elizabeth Cushman Whitman, Raymond L. Drouin. Mein aufrichtiger und herzlicher Dank gilt meiner Frau Brigitte, der ich dieses Buch widme.

EINLEITUNG

Daß die Struktur der Geschichte durch den parti pris für wirklich oder vermeintlich große Ereignisse verzerrt wird, gilt auch für die Geschichte der Kunst. Wohl kristallisiert sie jeweils sich im qualitativ Neuen, aber mitzudenken ist die Antithesis, daß dies Neue, die jäh hervortretende Qualität, der Umschlag, so gut wie ein Nichts ist. Das entkräftet den Mythos vom künstlerischen Schöpfertum. Der Künstler vollbringt den minimalen Übergang, nicht die maximale creatio ex nihilo. Das Differential des Neuen ist der Ort von Produktivität. Durch das unendlich Kleine des Entscheidenden erweist der Einzelkünstler sich als Exekutor einer kollektiven Objektivität des Geistes, der gegenüber sein Anteil verschwindet; in der Vorstellung vom Genie als einem Empfangenden, Passivischen war implizit daran erinnert. Das legt die Perspektive frei auf das an den Kunstwerken, wodurch sie mehr sind als ihre primäre Bestimmung, mehr als Artefakte. Ihr Verlangen, so und nicht anders zu sein, arbeitet dem Charakter des Artefakts entgegen, indem es ihn zum Äußersten treibt; der souveräne Künstler möchte die Hybris des Schöpfertums tilgen. Das Quentchen Wahrheit am Glauben, alles sei stets noch da, hat hier seine Stätte. In der Tastatur jeden Klaviers steckt die ganze Appassionata, der Komponist muß sie nur herausholen, und dazu freilich bedarf es Beethoven. Theodor W. Adorno

Die Konstruktion eines Gesamtwerkes oder eines opus setzt eine bestimmte Anzahl von Wahlmöglichkeiten voraus, die nicht einfach zu rechtfertigen, ja nicht einmal einfach zu formulieren ist: Genügt es, den vom Autor veröffentlichten Texten diesjenigen hinzuzufügen, die er in Druck zu geben vor hatte und die nur unvollendet geblieben sind, weil er gestorben ist? Muß man außerdem jeden Schmierzettel, jeden ersten Entwurf, Korrekturen und Durchstreichungen der Bücher hinzuzählen? Muß man die verworfenen Skizzen hinzufügen? Und welchen Status soll man den Briefen, den Anmerkungen, den berichteten Gesprächen, den von Hörern niedergeschriebenen Äußerungen, kurz: jenem ganzen Gewimmel sprachlicher Spuren geben, die ein Individium bei seinem Tode hinterläßt und die in einem unbestimmten Verkreuzen so viele verschiedene Sprachen sprechen? 1 Michel Foucault

Hinsichtlich des Werkes eines Architekten sind die entstehenden Probleme noch schwieriger als bei der Entstehung eines gedruckten Werkes. Die Skizzen, Pläne, Beschreibungen, Photos und Modelle sind nur Vorbedingung und Mittel, um die Intention des Architekten für die Umsetzung vorzubereiten. Die Spurensuche und die Spurensicherung eines architektonischen Werkes ist einfach, wenn gebaute Architektur als „Bau-Werk" erhalten blieb und wenn Zeitschnitte durch Photos und Zeichnungen belegt sind. Nachvollziehend, durch

Begehung und Betrachtung, vermitteln sich Baukörper und Raumvolumina als materialisierte Ideenumsetzung der Subjekt-Objekt-Wahrnehmung. Ephemere Architektur, hier als Sammelbegriff auch für jede Art von Ausstellungsarchitektur (Architektur für Ausstellungszwecke) und Innenarchitektur verwendet, verwehrt sich in den meisten Fällen einer zeitüberschreitenden Mitteilbarkeit: nur für kurze Dauer oder nur zeitpunktmäßig ist die authentische Wahrnehmung gegeben. 2 Dieses Flüchti-

9I

Einleitung

ge, dieses Verflüchtigende der ephe- Ausstellung von 1929 hat diese temmeren Architektur bewirkt eine am- porär gedachte - ephemere - Archibivalente Interpretation. Das Ideel- tektur grundlegenden Einfluß auf le, das Konzeptuelle wird wichtiger die Architekturentwicklung ausgeals das Materielle, das Reale. Ephe- übt. Sofern die Ausstellungsarchimere Architektur ist deshalb aber tektur in ihrer Existenz durch eine nicht weniger realitätsbezogen, Nachnutzung gesichert war, wurde nicht weniger „funktional" als Ar- ihre Auswirkung besonders histochitektur in gebauter Form. Die Aus- risch relevant. Der Unterschied zwistellungsarchitektur ist neben der schen Wirken und Nachwirken ist Festarchitektur vielleicht sogar die hier nicht nur durch die mediale Inam meisten funktionsorientierte Ar- formation gegeben, sondern durch chitektur schlechthin, da Zweck, die faktische Existenz ausgeführter Zeitpunkt und Wirkung präziser for- Bauten. muliert sind als bei jedem anderen In der Architektvirgeschichte haben Bauwerk. 3 „Der kurze Blick auf das, Aspekte der ephemeren Architektur was heute im näheren oder weiteren nur zu einem geringen Teil Eingang Umfeld der ,temporären', provisori- gefunden. 5 Architekten, deren Werk schen oder gar ,umgebauten' Archi- größtenteils ephemere Architektur tektur erdacht und in Vorschlag ge- enthält, beziehungsweise deren Täbracht wird, zeigt hinlänglich auf, tigkeit ebenfalls Bereiche der Innendaß das, was man gemeinsam unter architektur und des Produktdesigns ,Festarchitektur' zusammenfassen enthält, bewirken durch ihr heteromag, keineswegs bloß festlich oder genes Betätigungsfeld eine nicht gar der üblichen architektonischen eindeutige Zuordnung zu TendenProblematik entzogen sei."4 Gerade zen und Strömungen innerhalb der bei der ephemeren Architektur und Architekturgeschichte. Ein klassiauch bei der Festarchitektur ist die sches Beispiel dieser heterogenen Modelljunktion und das architekto- Künstler-Architekten-Persönlichkeinische Experiment in diesem Hin- ten im Wiener Umfeld ist sicherlich blick von besonderer Bedeutung. Josef Hoffmann, der 86jährig 1956 in Seit Josephs Paxtons Glaspalast für Wien starb und dessen vielseitige die Weltausstellung in London 1851 Architekturbetätigung erst 1981 ermöglicht die Ausstellungsarchi- durch die differenzierte und getektur jenen experimentellen Rah- schichtete Monographie von Eduard men, der aus der konventionellen Sekler verständlich gemacht wurBauproduktion aus Risikogründen de.6 Architekten - wie Josef Frank ausgeklammert wird. Im positiven mit ähnlich vielseitiger ArchitekturSinn reflektiert die Ausstellungsar- haltung wurden in Wien erst im Lauchitektur das architektonische Ex- fe der achtziger Jahre in ihrer Beperiment, sei es die Maschinenhalle deutung wiederentdeckt. 7 Ernst der Weltausstellung in Paris 1889 Lichtblau war - bis zu seiner Emivon Ferdinand Dutert und Contamin gration 1939 in die Vereinigten Staaoder der Eiffelturm. Von der Ausstel- ten - eingebunden in die Avantgarde lung der Darmstädter Künstlerkolo- der Wiener Architektengemeinnie um 1901 mit dem Ernst-Ludwig- schaft: Lichtblau war Mitglied des Haus von Joseph Olbrich über die Werkbundes, nahm an AusstellunWerkbundausstellung 1914 in Köln gen im Museum für Kunst und Indumit der Musterfabrik von Walter strie teil, baute Sozialwohnungen Gropius und Adolf Meyer bis zum für die Stadt Wien und war eingelaBarcelona-Pavillion von Mies van den gewesen, bei der Wiener Werkder Rohe bei der gleichnamigen bundausstellung im Jahr 1932 zwei

I 10

Einleitung

Wohnhäuser zu bauen. Seine Spuren sind vielfältig, sein Betätigungsfeld war umfassend: Neubauten, Umbauten, Inneneinrichtungen, Stoffentwürfe, Möbelentwürfe, Schriftengestaltung sowie Ausstellungsgestaltung. Größtenteils jedoch Arbeiten, die unter dem Begriff ephemere Architektur subsumiert werden können, und die - wenn überhaupt - nur in Abbildungen oder als Photos erhalten sind. Als Wagner-Schüler war Ernst Lichtblau einem architektonischen Umfeld „ausgesetzt" gewesen, dessen Qualität sich in der unvoreingenommenen Fragestellung gegenüber Konventionen und Ausführungen darstellte. Sowohl Beschränkungen hinsichtlich Material, Technik und Konstruktion als auch gegenüber Thema, Inhalt und Intention waren fremd: Die Reichweite der Aufgabenstellungen hatte in dieser Zeitspanne (1894-1918) in Mitteleuropa nichts Vergleichliches, die Arbeiten reichten von gigantischen Stahlbetontürmen für Flughäfen über GlasEisen-Konstruktionen für Ausstellungshallen und Sporteinrichtungen, seilverspannten temporären Festzelten sowie ganze Stadtanlagen für Südamerika. Durch genaue Kenntnisse der Wagnerschule erscheinen die großartigen Arbeiten von Antonio Sant' Elia und Mario Chiattone als zeitgemäße Interpretation der Großstadt und werden ihrer futuristischen Unantastbarkeit entrückt. Die Qualität und Bedeutung des Futurismus in der Architektur ist unbestritten, ebenso Aspekte des tschechischen Kubismus und die Arbeiten von Tony Garnier. Interessant erscheint hierbei die Wagnerschule als undogmatische Diskussionsebene - wo architektonische Neuerung sich getrennt von jeder „Stilfrage" entwickelte. Nicht ästhetische Variation, sondern problembezogene Interpretation - also Reflexion der Sachlage - war fundamen-

taler Ausgangspunkt der Wagnerschule. Architektur reflektiert Geschichte in unterschiedlicher Art und Weise: Und diese unterschiedlichen Reflexionen bestätigen oder verwerfen eine Architekturhaltung. Bauen ist entweder eine implizite oder explizite Interpretation eines intellektuellen Frameworks, in dem Architektur die Fragen des Seins und Hausens beantwortet. Traditionell sind Architekten jene Menschen, welche Bauwerte in Referenz zum Zeitgeschehen interpretieren und postulieren. Historiker neigen oft dazu, diese komplexen, sozialen Interaktionen auf Einzelpersonen oder Gruppen zu reduzieren, welche ein theoretisches Rahmenwerk (Framework) zum erstenmal aufstellen. Architekturtheorie empfiehlt sich deshalb als eine Schlüsselposition, um die Ursprünge der Architektur aufzuspüren: den architektonischen Gedanken hinter dem architektonischen Bild hinter dem architektonischen Bauwerk. Das „Kunstwollen" - um einen Terminus technicus aus der Wiener Kunstgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Alois Riegl zu gebrauchen - ist grundsätzlich anders interpretiert worden, von Gottfried Semper, Otto Wagner, Adolf Loos, Josef Hoffmann oder Lois Welzenbacher, um nur einige Beispiele aus dem Wiener Umfeld zu nennen. Durch diese Interpretation begeben sich Architekten in eine Position der Reflexion - in einen Dialog mit der Architekturgeschichte - , da der Begriff der Reflexion als Grundsatz jeglicher Geschichtswahrnehmung und geschichtlicher Untersuchung gilt. Die sprachliche Differenzierung bei der Wahrnehmung der Realität geht auf John Locke zurück, der zwischen „Sinne swahrnehmung" (sensation - the external notion) und „Selbstbeobachtung" (reflection the internal notion) unterschied. il I

Einleitung

Und jede Information über die Realitätwird folglich eine Frage über die Geschichtlichkeit, genauer - über die Geschichtlichkeiten. Eine Recherche in dem Bereich der Architektur könnte man deshalb mit dem Titel des berühmten Essays von Edmund Burke „Reflections on the Revolution in France" paraphrasieren: das Moment der Reflexion als Mittel der Architekturtheorie. Jede Reflexion ist abhängig von der Oberfläche, auf der die Reflexion stattfindet. Betrachtungsweisen sind eine abhängige Funktion der Oberfläche und des Einfallswinkels. 8 Bei der Verwendung des Begriffes der Reflexion als Mittel, Architekturgeschichte zu hinterfragen, sei der Hinweis angebracht, daß es sich dabei um eine bewußte Reduzierung des komplexen Themas der Geschichte auf drei Fragenbereiche handelt: 1. Geschichtliche Phänomene existieren absolut und relativ, wobei die relative Existenz abhängig von der Betrachtungsweise ist. 2. Geschichte in ihrer relativen Existenz reflektiert die Gegenwart aufgrund der subjektiven Interaktion zwischen Betrachter und Datenzugang. 3. Geschichte in ihrer relativen Existenz ist diffuse Reflexion bedingt durch unterschiedliche Schichtungen, interpretiert als unterschiedliche Informationsebene. Im Gegensatz zum linearen und monolithischen Geschichtsdenken, mit einem parakausalen Zusammenhang als Produkt einer logischen Abfolge, enthält der Reflexionsprozeß die Möglichkeit, einzelne sektorale Aspekte mit großer Dichte festzuhalten. Die Reflexionen über einen Architekten aus der Wagnerschule umfassen neben den Zeitbezügen deshalb auch grundsätzliche Fragen der Architektur - fundamentale Aspekte über das „gestellt sein" und

I 12

der „Gestalt" bei dem Interface zwischen Architektur und Rontext. Kunstgeschichte als eine Untersuchungsmethode von künstlerischen Arbeiten bedient sich unterschiedlicher Wertungen, um die Fragestellung zu präzisieren. Ikonologie und Ikonographie „befragen" andere Informationsebenen im Kunstwerk als die klassische Stilgeschichte oder das Riegeische Kunstwollen. Die Methoden und Probleme der Architekturgeschichtsschreibung zeigen eine gegenseitige Abhängigkeit aufgrund begrifflicher Interpretationen. Kunstgeschichte, verstanden bei Vasari als „Künstlergeschichte", verstanden bei Winckelmann als „Geschichte eines Ideals", verstanden bei Burckhardt als „Kulturgeschichte", verstanden bei Riegl als „Stilgeschichte", oder verstanden bei Sedlmayr als „Geistesgeschichte", verdeutlicht mehr die Zuordnungsproblematik des Untersuchungsgegenstandes als das Bemühen einer Strukturanalyse mittels Reflexion. Das Problem der Ordnung und Zuordnung ist charakterisiert durch das Einteilen und Teilen, wodurch einer ganzheitlichen Sicht des Gegenstandes entgegengewirkt wird. Begriffe wie Ordnen und Teilen verlangen nach Klassifikation, Kategorisierung und Systematisierung. Kunstgeschichtsschreibung ist weder eine objektive Beschreibung von historisch abgeschlossenen Vorgängen und Fakten noch eine historiographische, nachträgliche Interpretationsmöglichkeit von Kunst und Architektur. Bei dem Versuch über das „Erklären von Kunstwerken" schreibt H. Wölfflin in seinem gleichnamigen Buch über die Gestalt im Bereich ihrer Gesetzlichkeit, die im Einzelkunstwerk zur Vollendung kommt, wie folgt: „Wer die Welt als Historiker zu betrachten gewohnt ist, der kennt das tiefe Gefühl, wenn sich für den Blick, auch nur streckenweise, die

Einleitung

Dinge klar nach Ursprung und Verlauf darstellen, wenn das Daseiende den Schein des Zufälligen verloren hat und als ein Gewordenes verstanden werden kann." 9 Wölfflin zeigt sich hiermit als Interpret einer historischen Gesetzmäßigkeit - das Gesetz der Geschichte -, die er im einzelnen Kunstwerk wiederzuentdecken versucht. In der fortschreitenden Entwicklung einer Reflexion über die Historiographie der Architektur scheint aber die Betrachtung von Vorgängen und das Innenverhältnis von Strukturen und Ideen maßgeblich zu sein.10 Für den weiteren Gebrauch des Strukturbegriffes kann folgende Definition dienlich sein:11 ,,a) Das Ganze hat gegenüber seinen Teilen logische Priorität. b) Die Teile werden nicht selbständig, sondern durch ihre Stellung im Ganzen definiert. c) Die Beziehung der Elemente zueinander, die Strukturen, sind keine faßbaren Realitäten, sondern eine Angelegenheit der abstrakten Beschreibung. d) Strukturbeschreibungen haben den Vorrang vor etwaigen historischen Erklärungen." In Ergänzung zu einer Feldbetrachtung über kunsthistorische Grundbegriffsbildungen hat die Kunstwerkdefinition von Ernst Panofsky einen ontologischen Versuch unternommen, der jedoch begrifflich nur einen Teilbereich ontologischer Kategorien erfaßt. Seine Definition inkludiert sowohl die sinnliche Wahrnehmung als auch den Ordnungsbegriff: „Wenn also überhaupt eine Definition des Kunstwerkes versucht werden dürfte, so würde sie etwa so zu lauten haben: ,Das Kunstwerk, ontologisch betrachtet, ist eine Auseinandersetzung zwischen >Form< und >Fülle< - das Kunstwerk, methodologisch betrachtet, ist eine Auseinandersetzung zwischen >Zeit< und >RaumFülle< und >Raum< in einem individuellen anschaulichen Gebilde sich vereinigen können . . . Unter den besonderen Bedingungen der visuellen Anschauung . . . muß sich die genannte Problematik naturgemäß in spezifischeren Gegensätzen ausdrücken, und diese spezifisch visuellen Gegensätze, oder, genauer gesagt, diese Gegensätze spezifisch visueller Werte nur sind es, die wir als Grundprobleme des bildnerischen und architektonischen Schaffens bezeichnen dürfen und deren begriffliche Formulierung daher als »Grundbegriffe der Kunstwissenschaft zu gelten haben.'" 12 Auf einen Weg - mit der Reduktion auf Grundbegriffe geometrischer Formanalyse hinaus zu einer Kunstgeschichtsschreibung zu gelangen hat sicherlich Otto Antonia Graf hingewiesen, indem er durch graphisches „Nachzeichnen" eine mögliche Entstehung des Kunstwerkes aufzeigt, aber ohne daß er zwingende Argumente über die subjektiven künstlerischen Entscheidungskriterien für die jeweilige Werkinterpretation vorlegen will.13 Seine grundlegende Argumentation umschreibt sich in seiner Haltung zum Kunstwerk: „Das Sehen vertraut darauf, daß das, was erscheint, die Gesetze seines Gesehenwerdens in sich trägt, da der Künstler dem Werk die objektive Form gibt, die zu erkennen ist: es bedarf der Anschauung so lange, bis ihr die Schau vom Angeschauten geschenkt wird, weil sie sich nicht für das Licht hält, das von der Sache selbst ausgeht. Das Werk klärt die Analyse auf, nicht die Analyse das Werk. Der Gegenstand schenkt vielmehr der Empfindungsfähigkeit des Herzens und der Seele alles, was sie aufnehmen kann. Es ist nicht zu erreichen mit äußeren Mitteln, Zwecken und Kunstbegriffen."14 15 I

Einleitung

Mit seiner Methodik des „dynamischen Beschreibens" empfiehlt Graf die vorurteilslose Anschauung, das Betrachten und Begehen des Bauwerkes selbst. Gebäude bestehen nicht aus Linien oder Photographien, sondern aus Kanten, Ecken, Oberflächen, Material und Lichtbrechung. Das Kunstwerk - die architektonische Baukunst - als sich selbst erklärende Einheit versteht Otto Graf bei seinen idiosynkratischen GestaltUntersuchungen. Mit Hilfe einer nachvollziehenden Entwurfsmethodik, wobei sowohl Grundriß als auch Fassade durch geometrische Bezugslinien und basisgeometrische Formen wie Quadrat und Kreis mittels Formenmetamorphose „nachgezeichnet" werden, erklärt sich anhand von Zahlenproportion und geometrischer Ordnung das Werk als sinnvolle Ganzheit. Die subtile Ebene dieser kunstgeschichtlichen Betrachtung stellt keine a-prioriFragen an das „Wollen" des Kunstwerkes, noch versucht es eine Erklärung jenseits der reinen Gestalt. Über die „Absicht" des Kunstwerkes kann m a n nicht spekulieren. Wo das Kunstwerk schweigt, beginnt die Phantasie der Interpretation. Reflexionen versuchen die unterschiedlichen Ebenen in einem Kunstwerk anzusprechen. Wertun-

I 14

gen werden analysiert und durch ein mehrdimensionales Beziehungsnetz verknüpft. Als Resultat entsteht nicht eine Erklärung (explication), sondern eine Wahrscheinlichkeit (probability). Eine methodologische Wiederholung ist möglich, die Parameter bewirken weitgehend die Schärfe der Reflexion. Somit erklärt sich die Reflexion als Funktion der Beugung durch die Oberfläche unter Berücksichtigung unterschiedlicher Einfallswinkel, wobei, kunstgeschichtlich betrachtet, die Subjektivität der Parameter in der Methodik durch wiederholte Reflexion zur größtmöglichen Wahrscheinlichkeit konvergieren können. In den vorliegenden Essays werden nach einer einleitenden Betrachtung über die Wagnerschule in einer Abhandlung über die Begriffe „Gestell" und „Gestalt" mögliche Parameter einer Reflexion über die moderne Architektur vorgestellt, um schließlich mit einem Essay über das Werk von Ernst Lichtblau zu enden, betitelt „Über den wahren Zustand der Dinge". Und mit Ernst Lichtblau zu sprechen: „Denn nicht so sehr u m die Schöpfung immer neuer Formenreize ist es uns zu tun, als u m Züge, die vom wahren Zustand der Dinge anregend zu erzählen wissen" (Ernst Lichtblau, 1923).15

Kapitel 1

DIE WAGNERSCHULE ZUR GENESIS DER MODERNEN ARCHITEKTUR

Das Räumen der Baukunst umrundet den Menschen, der sich faßt, weil er unvermeidlich das Zentrum seines Aufmerksamkeitsfeldes bildet, und das Bilden Form annimmt, die um den Menschen dessen Äußeres formt. Die Kunst legt ihn aus durch das Zeichnen aller Linien, die von der gestaltenden Hand, dem Zentrum der künstlerischen Welt, hervorgebracht werden, seien sie dünne Striche auf einem Bildgrund oder mächtige Mauern auf dem Erdgrund, dem Boden. Das Sehen der Kunst ist ein Tun, das den Raum zur Mandorla der Aufmerksamkeit macht: die Baukunst gibt dieser Anthropozentrik Gestalt. Da sich der Mensch, der künstlerisch arbeitet, außer sich begibt und sich dem entstandenen Außen dahingibt, ergreift er die Welt, weil er von ihr ergriffen wird. Das, was ihn ergreift, ist ursprünglich ein anderes menschliches Wesen, denn der Leib, das Zentrum des Raumes, benötigt stets wenigstens einen anderen zum Überleben, damit das Äußere ins Innere eintrete, den wahren Ort der Baukunst. Die einfachste, weil zweifache Mandorla des Leibes, die Umarmung, bildet den Ursprung aller Baukunst, die über die Notwendigkeit, Platz zu haben für den Leib, hinausgeht ins Geformte. Das Liebespaar faßt einander, den Raum, die Lagerstatt, die dazu nötig ist, gibt die Kunst. Die Geschichte der Kirnst erscheint als die Geschichte des Himmels der Formen: das Wort „Himmelbett", dessen topologischer Sinn vom sumerischen Tempel vorgetragen wird, sagt es überdeutlich, weil kunstvoll und kunstreich gefaßt. Die Baukunst schließt Raum und Mensch zum Himmel zusammen, der auf Erden aufgerichtet wird, damit der Mensch in sich wohne: sie gestaltet die liebevolle Form des Ineinanderseins. 1 Otto Antonia

Der Begriff der Auswahl (selection) beschreibt die Möglichkeit, aus einer bestimmten Menge mit Hilfe unterschiedlicher Auswahlkriterien eine Entscheidung zu treffen, die als getroffene „Auswahl" sowohl den Wählprozeß beendet, als auch die Wahl selbst definiert. Auswahl impliziert Verfügbarkeit über Gegenstände, Inhalte und Mengen zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Gegenwart, der die gesamte vorangegangene Zeitdauer als akkumuliertes Wahlpotential ansieht. In der Architektur des 19. Jahrhunderts war dieser Begriff der Auswahl und der quantitativen und qualitativen Verfügbarkeit in bezug auf die Ästhetik durch den Weinbrenner-Schüler Heinrich Hübsch in einem Satz zusammengefaßt worden, der als Titel seiner Publikation

Graf

aus dem Jahr 1828 diente: „In welchem Style sollen wir bauen?"2 Das Vorbild für die Gegenwart wurde in der historischen Architekturentwicklung gesucht - und aus Mangel an Entscheidungskriterien mißverständlich als Verfügbarkeit der Geschichte interpretiert. Die Ausführungen von Heinrich Hübsch entsprechen einem baukonstruktivem Denken von Weinbrenner. Hübsch unterscheidet zwei Baukonstruktionen, nämlich die horizontale und die bogenförmige. Als Beispiel für die horizontale Konstruktion zählt er die griechische Baukunst auf, als Beispiel für die Bogenform (Rundbogen) nennt er die romanische Baukunst. Die gotische Baukunst wird anerkannt, jedoch als prinzipielle Variante des Rundbogenstiles angesehen.

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

Abb. 1: Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, Entretiens (II, 1872). Gewölbter Saal mit Eisenkonstruktion und Ziegeln

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Die Argumente - von Heinrich märes Gestaltungsprinzip ergänzt Hübsch ausführlich dargelegt - zei- durch eine ästhetische „Verpakgen eine methodische Vorgangswei- kung". se, die bei geänderten Vorzeichen Die Architektur des 19. Jahrhunjeden „Stil" als letztendlich konse- derts könnte geradezu als Inbegriff quent angeben. In Frankreich hat dieser Diskrepanz zwischen Inhalt Viollet-le-Duc mit größter Ronse- und Verpackung gesehen werden, quenz diese Methodik für den goti- oder wie Carl Boetücher in seiner schen Stil benützt.3 Sowohl Hübsch Publikation über die „Tektonik der als auch Viollet-le-Duc argumentie- Hellenen" formulierte, die Diskreren primär konstruktiv-funktional, panz zwischen „Werkform" und ihre Auswahlkriterien bezüglich der „Kunstform".5 Sein Hinweis scheint ästhetischen „Stilwahl" hingegen insofern von größtem Interesse, weil sind von Zeitgeschmack-Tendenzen diese Differenzierung zwischen abhängig und letztendlich nicht ra- Form und Funktion in einer weitertional-argumentativ. In diesem Zu- führenden Argumentation später sammenhang kann die Rolle der Phi- von Gottfried Semper und Otto Waglosophie des deutschen Idealismus ner aufgegriffen wurden und in difür die Architekturtheorie nur ange- daktischer Weise in der Wagnerdeutet werden. So hat Friedrich schule umgesetzt wurde. Auch Adolf Schelling in seiner „Philosophie der Loos bleibt ohne diesen Hintergrund Kunst" zur Architektur Stellung ge- mit Hinweis auf die deutliche idealinommen - Architektur als Interpre- stische Philosophie in seiner Architation der organischen Form durch tekturpolemik unverstanden. das Anorganische - , ebenso Georg Carl Boetticher untersucht in der Hegel in „Vorlesungen über die Äs- griechischen Architektur das Prinzip thetik" und Arthur Schopenhauer in der Tektonik. Erklärend differenseinem Werk „Die Welt als Wille und ziert Boetticher zwischen dem bauVorstellung".4 Schopenhauer argu- konstruküven Gerüst, der Werkmentiert konstruktiv-funktional, in- form, und der künstlerischen Ausdem er das Thema Stütze und Last formulierung der Einzelglieder, der als grundsätzlich für jede Architek- Kunstform. Die WerJtform braucht turdiskussion angibt. Die Gesetze für ihre Interpretation und Explikader Statik sind für die Architektur tion die Kunstform - gleichsam als wichtiger als die ästhetischen Anga- Kommentar zu Statik und Konstrukben über Form und Proportion: Bau- tion. Form und Inhalt stehen also in kunst ist für Schopenhauer demzu- einem komplementären Verhältnis folge eine Demonstration der kon- zueinander, ohne jedoch selbst ident struktiven und statischen Mög- zu sein. Boetticher argumentiert mit lichkeiten als Ausdruck des Werk- der Abhängigkeit der Form von der willens gegenüber der Schwerkraft. Funktion als ästhetisches Mittel, ohMit diesem Ansatz ist Schopenhau- ne jedoch die Funktion (Werkform) ers Architekturdiskussionsbeitrag bereits als eigenständige Form ein Hinweis auf den latenten „Funk- (Kunstform) zu akzeptieren. Diesem tionalismusbegriff' im 19. Jahrhun- „explikatorischen Funktionalismus" dert. Der Historismus - verstanden entspricht bei Semper sinngemäß als Stilpluralismus, als Kompendi- die sogenannte „Bekleidungstheoum historischer Stile - ergänzt somit rie". Otto Wagner verlangt entspreeine Architekturhaltung, die seit Vi- chend die künstlerische Ausgestaltruv und Alberti über Lodoli Gegen- tung der reinen Ingenieurbauten stand jeder Baukunst war: die Aner- und schreibt: „Der Realismus unsekennung der Konstruktion als pri- rer Zeit muß das Kunstwerk durch-

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

dringen, . . . kein Niedergang der tektur als Monument unserer Zeit Kunst wird daraus resultieren, er der richtenden Zukunft bestimmt, so wird vielmehr neues, pulsierendes wird der Verstand bei der Wahl der Leben den Formen einhauchen und Materie die solidesten Mittel zur Ersich mit der Zeit neue Gebiete, wel- reichung dieses Zweckes wählen, che heute noch der Kunst entbeh- und das Gefühl wird den Ausdruck ren, wie beispielsweise das Gebiet der Solidität in der Form zu erreichen suchen. Die nähere Bestimdes Ingenieurwesens, erobern." 6 Zusammenfassend kann man sagen, mung des Zweckes eines Gebäudes daß im 19. Jahrhundert neben der (nicht dieser oder jener Styl früherer Tatsache des „Historismus" als Epoche) bedingt die Wahl der Kongrundsätzliche künstlerische Gei- struktion. - Wir werden uns bemüsteshaltung die Fragen nach einer hen, die als zweckmäßig befundene konstruktiv-rationalen, stilge- Konstruktion so viel wie möglich schichtlichen und ästhetischen Pro- sichtbar zu machen, das Feine, Mablemlösung der baukünstlerischen gere vermeiden, das Würdige beAufgaben nicht vergessen wurden. streben, die wirkende Ursache der Die Bemühungen von Boetticher, konstruktiven Theile zu zeigen; die Semper, van der Nüll und Wagner im hinzukommende Veredelung der deutschsprachigen Bereich zeigen Form kann nur die Befriedigung des diese kontinuierliche Auseinander- Beschauers begünstigen, denn wir setzung auf. Sempers Architektur- setzen ja voraus, daß der Zweck theorie wurde in ihrer ganzen mo- durch die ornamentale Behandlung dernen Konsequenz nicht von ihm noch näher bezeichnet werde."9 selbst baukünstlerisch umgesetzt. 7 Beim Studium dieses Textes über die Auch Eduard van der Nüll, Lehrer „zweckmäßig befundene Konstrukvon Otto Wagner an der Wiener Aka- tion" ist eine spätere Analogie in Otdemie der bildenden Künste, hat in to Wagners Moderne Architektur unseiner beachtenswerten Publikation übersehbar. Auf die schrittweise aus dem Jahr 1845 über die „Andeu- Umsetzung dieser Gedanken im tung über die kunstgemäße Bezie- Werk Wagners und speziell in der hung des Ornamentes zur rohen Wagnerschule wird noch hingewieForm" eine moderne architektur- sen. theoretische Haltung eingenom- Obwohl das Bauwerk der Wiener men, deren konstruktive Gedanken Staatsoper, erbaut von August von jedoch noch nicht in seiner eigenen Siccardsburg und Eduard van der Planung gänzlich umgesetzt wur- Nüll, zu den besten Gebäuden der den.8 Ringstraßenarchitektur gehört, ist Van der Nüll fordert in einem drei seine Zurechnung zum Historismus Punkte umfassenden Anforderungs- nur bedingt wahr. Nur scheinbar profil der modernen Architektur er- handelt es sich hierbei um einen Restens eine „logische Beurteilung der naissance-Historismus, tatsächlich Materie", zweitens eine „wissen- entsteht hier vor den Augen aller Beschaftliche Bildung, welche zur ver- trachter jene „freie Renaissance", ständigen Konstruktion befähigt", von der Otto Wagner später spricht: und drittens die Gabe, „den Zweck ein autonomes Bauwerk, dessen geder durch den Verstand hervorgeru- stalterische Einheitlichkeit, konfenen noch rohen Form näher zu struktive Klarheit und funktionelle bezeichnen und durch den Schön- Disposition als Resultat moderner heitssinn zu veredeln". Abschlie- das heißt realitàtsbezogener- Anforßend stellt van der Nüll zusammen- derungen entspricht. fassend fest: „Ist ein Werk der Archi- Die synthetische Antwort auf die 17 I

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These „Historismus" und die Antithese „Tektonik" ist in Wien sicherlich zuerst Otto Wagner zuzuschreiben, und zwar mit dem Bau für die Länderbank aus dem Jahr 1882. Dreizehn Jahre später erscheint Wagners Publikation Moderne Architektur (1895), deren Bedeutung für die Entwicklung der Architektur im 20. Jahrhundert in der Literatur ausreichend dokumentiert wurde. 10 Wagner empfindet den Historismus als ein Wahnsinnsgebäude. Stil ist in seinem Verständnis kein ästhetisches Runstprodukt - sondern Reflexion des modernen Lebens, Resultat von neuen, zweckdienlichen Materialien, neuer Technologie und den neuen Bedürfnissen des Menschen in der Großstadt. Sempers Lehre von der Notwendigkeit wird vielfach als die Quelle von Wagners Architekturhaltung gesehen und mit seinem Zitat „Etwas Unpraktisches kann nicht schön sein" und „Artis sola domina nécessitas" als pars pro toto dokumentiert. In dieser Diskussion verweist Achleitner ebenfalls auf die direkte Semper-Wagner-Interpretation mit seiner Aussage, daß Otto Wagner der Testamentsvollstrecker Gottfried Sempers auf Wiener Boden war, und schreibt: „Er brachte die Sempersche Dialektik von Gerüst und Haut, Maske und Maskierten, Wirklichkeit und Schein, Realität und Bedeutung zu einem sichtbaren, auch für eine wissenschaftliche Weltauffassung akzeptablen Ergebnis." 11 Es bleibt dennoch die Frage, ob Wagner nicht vielleicht in seiner Architekturhaltung seinem Lehrer van der Nüll näher verbunden war als den Texten von Gottfried Semper. Eine zukünftige Wagner-Reflexion wird das Semper-Legat differenzierter betrachten. So kritisiert Wagner die etwas „exotische Weise", in der Semper „mit einer Symbolik der Konstruktion beholfen, statt die Konstruktion selbst als die Urzelle der Baukunst zu bezeichnen". 12

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Wagner sieht für die Kunstform - im Sinne von Carl Boetticher - den Ursprung in der Konstruktion, schränkt jedoch ein, daß die Sprache der reinen Ingenieurform durch die Kunst belebt werden müsse. An verschiedenen Stellen bekennt sich Wagner neben dem Prinzip der „Notwendigkeit" in der architektonischen Objektplanung im übertragenen Sinn zum „Realismus" der Großstadt, zur Akzeptanz der realen, modernen Welt. Dieser Realismusgedanke ist auch grundsätzlicher Bestandteil der gesamten Wagnerschule: Die präzisen Zeichnungen und die auratischen Perspektiven der Wagner-Schüler lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß alle ihre Projekte „hier und jetzt" gebaut werden könnten, daß die Präzision der Zeichnung ein Indiz für die Präzision des Denkens darstellt, reale Probleme direkt künstlerisch umsetzen zu können. So vermittelt die Aufgabenstellung der Wagnerschule eine direkte Interpretation des Großstadtlebens mit Kaufhäusern, Flugplätzen, Badeanstalten, Villen und Apartmenthäusern: realistischer wurde die Zukunft nie gezeichnet. 13 Als Hintergrund jenes vielschichtig vernetzten Europas des 19. Jahrhunderts müssen alle jene Theorien und Ismen gesehen werden, die als Resultate des Kampfes gegen die absolutistische Vorherrschaft und als Sieg der Aufklärung interpretiert werden können. Zeitgeschichtliche Untersuchungen über das 19. Jahrhundert projizieren einen Teil jener Gedanken, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge der „Moderne" ihre heterogene Manifestation in der bildenden Kunst und der Architektur gefunden haben: Fortschrittsglauben, Liberalismus, spekulative Romantik, Nihilismus, Futurismus und Kulturkampf. Benedetto Croce hat in seiner Geschichte Europas im neunzehnten

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Jahrhundert jene grundlegenden Veränderungen skizziert, welche den europäischen Kontinent verändern. „Der fast schwindelerregende industrielle Aufschwung Europas nach 1790, die technischen Erfindungen und deren Anwendungen, die Verschiedenartigkeit der Produktion, die Ausbreitung des Handels und die immer schneller werdenden Transportmittel - das alles sind Dinge, die jedermann bekannt sind und in dieser Darstellung vorausgesetzt werden können, da diese nur das geistige, moralische und politische Leben im Auge hat. Das geistige Leben schuf die Voraussetzungen für diese wunderbare Tätigkeit und Produktivität, es fand seinerseits die Mittel und Wege dazu. Als Beispiel mag der Bevölkerungszuwachs in Europa dienen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es einhundertachtzig Millionen gewesen, die gegen Ende des Jahrhunderts auf vierhundertfünfzig Millionen angewachsen waren, wobei die nach Amerika und in andere Erdteile gegangenen Auswanderer nicht mitgerechnet sind. Allein die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die um 1800 fünf Millionen Einwohner zählten, waren um 1900 auf siebenundsiebzig Millionen angewachsen. Man werfe einen Blick in irgendeine beliebige Statistik, und man wird Zahlen finden, die dieses Schicksal mit Tatsachen beleuchten und ebenfalls als Symbol dienen können." 14 Österreich kommt in dieser Untersuchung nur ein bescheidener Anteil im Hinblick auf die bereits bestehende preußische Machthegemonie zu. Wien als kulturelles Zentrum steht im Schatten von London und Paris. Diese kulturpolitische Schattenposition führt aber im Bereich der individuellen Kunstentfaltung und der individuellen Kunstförderung zu jener speziellen „Wiener Situation", die Carl Schorske in seinem Buch über das Fin de siècle

beschrieben hatte: Die Wiener Moderne war historisch vorbelastet, Moderne, Modernität und Modernismus wurden gegenseitig abgesetzt, skeptisch hinterfragt und nicht unreflektiert als Ultima ratio angesehen. So gab es in Wien keine Aktivisten, keinen wirklichen Futurismus und keinen radikalen Modernismus. Die Moderne in Wien wird problematisiert, diskutiert und sachbezogen untersucht. Im Bereich der Architektur schreibt Joseph Lux, ein begeisterter Verkünder von Wagner und der Wagnerschule, in einem Aufsatz „Das Hotel, ein Bauproblem" in der Zeitschrift Der Architekt 1909 ausführlich über die Anschauungen moderner Menschen zum Thema Lebensqualität und Reisen: „Das sind die drei Prinzipien, auf denen das Problem beruht: Dafl das Haus funktioniere, maschinenmäßig, wie ein tadellos konstruierter Apparat, daß es in den Einrichtungen auf der Höhe des Wagon-Lits stehe, daß es in bezug auf Hygiene und Reinlichkeit, auch was die Gebrauchsgegenstände betrifft, klinischen Anforderungen entspreche. Also eine Synthese von Klinik, Wagon-Lits und Maschine. Vielleicht gelangen wir in fünfzig Jahren zu solchen ausgezeichneten Hotels, vorausgesetzt, daß der Fortschritt mit dem heutigen Tempo wächst. Es ist sonach klar, daß das Problem nicht in den Fragen des guten Geschmackes oder der künstlerischen Gestaltung liegt, es liegt lediglich in der technischen und konstruktiven Durchführung, in der Grundrißlösung, und in der Forderung des höchsten Komforts, erreicht mit dem geringsten Aufwand von Zeit und Mitteln . . . Schon die technischen Dienerinnen und Helferinnen unseres Lebens, die Speisen-, Personenund Lastenaufzüge, die Licht- und Läuteanlagen, die Kalt- und Warmwasserleitungen, die Zentralheizung, die Haustelephone, all die me19 I

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chanischen und elektrischen Systeme, die das Haus mit Nervensträngen durchziehen, geben der ganzen Einrichtung einen gewissen Stich ins Apparatmäßige, ganz abgesehen von der Rüche im Souterrain, die wie ein Kesselhaus aussieht, von den großen Wasch-, Wirtschafts- und Vorratsräumen, die alle der Hauptsache nach im Untergeschoß liegen."15 Lux hat die Projekte der Wagnerschule über Hotelbauten am Ring gekannt - Hotelbauten für den bürgerlichen, kulturell gebildeten Reisenden und Geschäftsmann -, und es ist naheliegend, daß Joseph Lux mit seiner Beschreibung eine Charakterisierung jener Hotelprojekte liefert, welche die Wagner-Schüler Ferdinand Kaindl, Hans Böhm, Theodor Träxler, Antonin Engel, Andreas Hofer, Hans Fritz, Rudolf Weiß, Franz Kaym und Felid Kleinoschegg in den Jahren 1908 bis 1912 entworfen hatten. Eine Reflexion über die Wagnerschule zeigt nicht nur die Schulprojekte, sondern ortet ebenso die motivierende Kraft hinter oder neben derselben. Der sozialpolitische Hintergrund ist als „Geist und Gesellschaftim Fin de siècle" überzeugend von Carl Schorske skizziert worden.16 Seine Abhandlungen über die bürgerliche Kultur des Liberalismus zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts schildert vielfach die Position eines Generationenwechsels, den „Aufstand der Söhne gegen die Väter". Seine Essays über Literatur, Politik und Malerei zeigen durch ihre direkte Schilderung die Vielschichtigkeit sozialer Entwicklungen: Das Wien der Jahrhundertwende war kein Chemielabor und schon gar nicht eine kulturpolitische Versuchsstation der modernen Welt. Vor dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie - nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1918 - liegt der eigentliche Untersuchungszeit-

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räum der Wagnerschule, genauer definiert zwischen 1894 und 1912, der Zeitraum 1911-1912 galt als Ehrenjahr Otto Wagners. Die Wagnerschule liegt chronologisch am Ende der klassischen, liberalen Ära. Der österreichische Liberalismus und die damit zusammenhängende verfassungsmäßige Regierung blieben selbst während ihrer Hochblüte zwischen 1860 und 1880 vom Adel und der kaiserlichen Bürokratie abhängig. Bereits 1895 war Wien als ehemalige liberale Hochburg mit der Vorherrschaft der christlich-sozialen Massenparteien konfrontiert geworden. Doch 1897 wurde der christlich-soziale Bürgermeister Lueger in seinem Amt bestätigt. „Die christlich-sozialen Demagogen begannen ein Jahrzehnt der Herrschaft in Wien, das all das verband, was dem klassischen Liberalismus verhaßt war: Antisemitismus, Klerikalismus und Sozialismus auf kommunaler Ebene. Auf nationaler Ebene wurden die Liberalen ebenso 1900 als parlamentarische politische Macht geschlagen, um sich nie wieder zu erholen. Sie waren von den modernen Massenbewegungen, christlichen, antisemitischen, sozialistischen und nationalistischen, verdrängt worden. Diese Niederlage zeitigte tiefe psychologische Rückwirkungen. Die Stimmung, die sie hervorrief, war weniger eine der Dekadenz als der Impotenz. Der Fortschritt schien sein Ende erreicht zu haben. Die ,Neue Freie Presse' sah den erwarteten rationalen Lauf der Geschichte grausam verändert. Die kulturfeindliche Masse' hatte gesiegt, ehe die Erfordernisse einer politischen Aulklärung geschaffen waren."17 Vor diesem sozialen und kulturpolitischen Hintergrund bekommen sowohl die architekturtheoretischen Schriften Wagners als auch die Projekte der Wagnerschule ein besonderes Gewicht. Nicht im Gleichklang

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mit den christlich-sozialen und klerikalen Massenbewegungen befand sich das künstlerische Wirken der architektonischen Meisterschule Otto Wagners, sondern in angemessener Distanz und teilweisem Widerspruch. Dies scheint auch eines jener Argumente für die Begeisterung der jungen Architekten für Otto Wagner gewesen zu sein. Die Radikalität der künstlerischen Interpretation bei Wagner und der Wagnerschule basiert vielmehr auf jenem Teil des architektonischen Programms, das Wagner mit dem Begriff der Realität (Wirklichkeit) umschrieben hatte. Realität als Begriff mit zwei Bedeutungen, zum einen als Abbild der real existierenden Welt und zum anderen als kunsttheoretischer Begriff des darstellenden und abbildenden Funktionalismus in bezug auf Material und Tektonik.18 Die Akzeptanz der Wirklichkeit in der Architektur, das heißt die sozioökonomischen und technischen Kräfte, die zum Zeitpunkt des Entstehens der Architektur als bestimmend wirken - im Gegensatz zu einer Architektur, welche das gegenwärtige Kräfteverhältnis negiert und ihre Vorbilder in der Vergangenheit oder in der Interpretation bestimmter Stilepochen findet -, ist grundlegend in allen Ausführungen von Otto Wagner. Zur Wirklichkeitsakzeptanz um 1894 gehörte für Otto Wagner die Existenz aller neuen, modernen technischen Entwicklungen und sozioökonomischen Verhältnisse, einschließlich Automobil, Telephon, Rohrpost, Staubsauger, Elektrizität, Großstadtverkehr, Stadtbahn, sowie die Vielfalt neuer Produkte und Materialien, wie beispielsweise das Aluminium. Diese Auffassung Wagners wird in seiner theoretischen Abhandlung über die Großstadt um den soziologischen Begriff der „Anonymität" ergänzt. Realität beziehungsweise das Wort Wirklichkeit beinhaltet seiner Be-

deutung nach den Begriff des „Wirkens", der aktiven Handlung, um etwas Wirklichkeit werden zu lassen. Wie wird nun etwas wirklich im Sinne von „Wirken"? Sicherlich nicht dadurch, daß eine Auffassung, Einstellung oder eine Sache einfach nachgeahmt oder wiederholt wird, also ihren Ursprung in der Repetition begründet. Wirkung im konstitutionellen Sinn einer neu zu begründenden Wirklichkeit beinhaltet zum einen den Faktor der Innovation und zum anderen den Faktor der faktischen Transformation. Konzeptuelle Innovation und faktische Transformation begründen im architektonischen Handeln die Tatsache, durch Materialisation die agens architecturae aus dem Zustand der vielfältigen Möglichkeiten in die physische Existenz eines Bauwerkes hinüberzuführen. 19 Die Kriterien jeder Transformation wiederum begründen zumindest zwei Aspekte: den der Intention und den der Selektion. Beide Aspekte führen dazu, daß wahres architektonisches Wirken im Werk die Wirklichkeit der jeweiligen Zeit interpretiert. Unterschiedliche Fragestellungen zum Thema Wagnerschule bieten sich an, sowohl in bezug auf die „Schule" als auch der „Architektur". Bezieht sich die Qualität der Schule auf die Leistungen der Vergangenheit oder auf das Potential der Zukunft? Wie können Voraussetzungen geschaffen werden, daß Architektur einen Zielbezug interpretiert? Die jährlichen Publikationen über die Wagnerschule zwischen 1898 und 1906/07 beziehungsweise die Publikation über Otto Wagners Ehrenjahr 1912 erläutern die Architekturhaltung der Wagnerschule. Neben ehemaligen Schülern beschreibt auch Alfred Roller, Direktor der Kunstgewerbeschule, in seinem pointierten Vorwort die Situation der Architekturausbildung im Jahr 1900.

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Abb. 2: Wunibald Deininger, Villa, 1903

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„Gerade aber der Architekt kommt Doch liege es nicht in ihrer Absicht, mehr als jeder andere Künstler mit durch diese Studien etwa einen Tydem Leben und seinen Forderungen pus zu schaffen, auf diesem Wege in unmittelbare Berührung, gerade einen,modernen Stil' zu suchen; die er ist mehr als jeder andere der Ver- sprossende Kraft der Schule wurzelt suchung ausgesetzt, Zugeständnis- vielmehr in der Individualität jedes se zu machen. In besonderem Maße einzelnen: völlige künstlerische bedarf es daher, will er die hohen Freiheit ist die Lösung der WagnerEhren wirklichen Künstlertums er- schule und - die einzige Herrin der reichen, von Jugend auf des uner- Kunst ist die Notwendigkeit. In dieschütterlichen glaubensvollen Fest- ser Richtung wirkt das Streben der haltens an seinen Überzeugungen. Schule, nicht aber dahin, BestehenEs ist also vollkommen richtig, wenn des, für uns Moderne Unpassendes, ein Lehrer wie Otto Wagner seine zu kopieren, sich in alten KunstforAufgabe nicht mit der Vermittlung men zu üben und diese mit geringen des Rönnens und Wissens erschöpft Änderungen als neu aufzutischen. glaubt, sondern auf die ganze Le- Nicht etwas für ewige Zeiten Bleibensauffassung seiner Schüler Ein- bendes ist in der Kunst zu schaffen, fluß zu nehmen trachtet, ihnen eine nicht ein Typus, ein Vorbild, ein Muhohe Ehrfurcht vor ihrem Berufe ster, eine Schablone, mit deren Hilfe und damit ein kräftiges Standesbe- man Kunstwerke fabrizieren kann; wußtsein anzüchtet und überhaupt der Künstler muß der Göttin folgen Wert darauf legt, in seiner Schule auf ihrem Siegeslauf durch die Zeistets eine hochgespannte Stimmung ten; nur der rastlos Strebende bleibt der Begeisterung wachzuhalten." 20 Künstler, der auf errungenem StandDiese architekturtheoretische Posi- punkt Verharrende sinkt zum Handtion, den Architekten als Universali- werk herab, der erlernte Handgriffe sten - als Gesamtkünstler - zu se- ausübt, und glaubt noch immer der hen, ergänzt Karl Maria Kerndle in Kunst zu dienen, während ihn die seinem Vorwort aus dem Schuljahr Göttin schon längst verlassen, zu1902/03 mit dem wichtigen Hinweis rückgelassen hat. Der Künstler lernt über die „Stilfrage" und die „Nütz- nie aus, er kann nie etwas schaffen, lichkeit". das er nicht schon beim nächsten „Von diesem modernen Geist steten Versuch zu übertreffen trachtet, er Fortschrittes sind die Arbeiten in der schreitet immer mit der Muse fort Wagnerschule geleitet. Die Schaf- nur eines bleibt stehen, bleibt ewig fenskraft der Schule hat ihre Basis in und unabänderlich das gleiche: - der der Erkenntnis, daß der einzige Aus- Kunstgedanke, das Prinzip der 21 gangspunkt alles künstlerischen Kunst, die Basis seines Schaffens." Strebens das moderne, immer wie- Im gleichen Band der Wagnerschule der sich erneuernde Leben sein soll; befindet sich auch die erste publizierdiesem entsprießt die Aufgabe, wel- te Arbeit des Wagner-Schülers Ernst che die Kunst durch die Künstler zu Lichtblau, vertreten durch eine Stulösen hat. Zweck der Wagnerschule die für ein Mietshaus, einer Studie für ist es, sich im Schauen, Wahrneh- ein Zinshaus, einem Projekt für ein men, Erkennen der menschlichen Monarchenzelt sowie einem KaffeeBedürfnisse zu üben und die so ge- haus-Interieur gemeinsam mit Theo fundene Aufgabe künstlerisch zu lö- Deininger. Diese Zeichnungen fühsen. Diesen Prinzipien gemäß be- ren sowohl durch ihre Auswahl und schäftigt sich die Schule mit prakti- Thematik als auch durch ihre Dokuschen Projekten, an deren künst- mentation direkt zum Selbstverlerischer Durchbildung sie arbeitet. ständnis der Wagnerschule.

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

Die „Wagnerschule", ursprünglich mit Bindestrich als Hinweis auf die Zugehörigkeit und die Relation zum Spiritus rector Otto Wagner geschrieben, wird seit der epochalen Publikation von Otto Graf über die Vergessene Wagnerschule als begriffliche Einheit und eigenständige Erscheinung gesehen. Tatsächlich wurde die lineare Architekturgeschichtsschreibung durch diese „vergessene" Wagnerschule grundsätzlich in Frage gestellt. Bis in die sechziger Jahre war die logische und lineare Geschichtsinterpretation, vertreten durch Historiker wie Sigfried Giedion, raumgreifend in der Welt der Architekturrezeption. 22 Die Verknüpfung einzelner Informationen wurde in „logischen Reihen" als Beweis für den Fortschritt der Architektur angesehen. Durch Weglassen, Selektion oder jeder anderen Art der Unvollständigkeit wurde eine wissenschaftliche Theorie durch „Addition" aufgebaut, anstatt durch Falsifikation im Sinne Karl Poppers den wissenschaftlichen Ansatz kritisch zu hinterfragen. 23 Die Methode der Reflexion wurde bewußt ausgeklammert, um nicht durch relativierende Verknüpfungen und Sachbeziehungen die Schärfe der gewünschten Betrachtungsweise selbst zu entkräftigen. Ausgenommen von der Architekturrezeption war die Wagnerschule sicherlich auch deshalb, weil - wie Werner Hoffmann schreibt - die nicht gebaute Architektur als eines der traurigsten Kapitel in der an Versäumnissen und Unterdrückungen reichen Geschichte des schöpferischen Geistes bezeichnet werden muß. 24 1894 wurde Otto Wagner als Nachfolger von Karl von Hasenauer berufen, der gemeinsam mit Gottfried Semper für einige der besten klassizistischen Ringstraßenbauten verantwortlich war, wie das Burgtheater und den Museumskomplex, be-

stehend aus Kunsthistorischem und Naturhistorischem Museum. 25 Die Akademie der bildenden Künste Wien bestand zu dieser Zeit aus den Allgemeinen Klassen für Malerei und Bildhauerei, Gravur, Medailleurkunst und Architektur. Die zwei Architekturklassen wiederum unterschieden sich schwerpunktmäßig in der stilistischen Kunstvermittlung: die Schule Hasenauers vermittelte Kenntnisse der Renaissancearchitektur, die Schule Luntz' Kenntnisse der Architektur der Gotik. Mit dieser Aufteilung waren die beiden grundsätzlichen historistischen Kunstauffassungen vertreten: die „italienische, humanistische Renaissance" und die „deutsche, theologische Gotik". Die Berufungskommission an der Akademie nahm an, daß Wagner ein „fest auf dem Boden der Antike stehender" Künstler sei, der in der Verwendung „moderner Materialien besonders sattelfest" sei.26 Partiell verdankt Wagner einem Mißverständnis seine Berufung, denn bereits in seiner Antrittsvorlesung - einer Vorwegnahme seiner 1895 publizierten Modernen Architektur präzisierte Wagner seine zukünftigen Vorstellungen: „Sehen wir uns dem entgegen die Kunstwerke vergangener Jahrhunderte an. Von der Antike bis zur Renaissance, ja bis zu dem unserem Jahrhundert angehörigen,Empire' stets war das Werk ein Spiegelbild seiner Zeit. Und hierin liegt eben das Geheimnis. Kunst und Künstler sollen und müssen ihre Zeit repräsentieren. Im Durchpeitschen aller Stilrichtungen, wie es die letzten Jahrzehnte mit sich brachten, kann das Heil für die Zukunft nicht liegen. Wir können wohl alle uns vererbten Formen, ob sie nun stützend, tragend, krönend sind oder ob sie uns zeigen, wie die Flächen zu lösen ist, mit Geschick und Geschmack verwerten oder fortbilden. - Der Ausgangs-

Abb. 5: Wunibald Deininger, Fassade eines Mietshauses, 1900

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Abb. 4: Theo Deininger, Fassade eines Mietshauses, 1903

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punkt jedes künstlerischen Schaffens muß aber das Bedürfnis, das Rönnen, die Mittel und die Eigenschaften ,unserer' Zeit sein."27 Mit kurzen und prägnanten Worten verweist Wagner den Historismus als ungeeignete Architekturhaltung, den Realismus unserer Zeit zu interpretieren. Die Beliebigkeit der Stilwahl und die Verfügbarkeit der Architekturgeschichte als Kulissendepot moderner Stadtgestaltung werden zugunsten eines pragmatischen, funktionsorientierten Lösungsansatzes verworfen. Der Runstanspruch in der Architektur wird gewährt, indem die „Interpretation", die „Überhöhung" beziehungsweise das „Symbol" unzertrennlicher Bestandteil der Wagnerschen Architektursprache wird. Wagners Antrittsrede beschränkt sich aber nicht nur auf seine architekturtheoretischen Ansätze, sondern zeigt auch im Hinblick auf die Architektenausbildung eine dezitierte Haltung auf: „Gemäß unserer Studienordnung sind für die Schüler der Architektur drei Jahre normiert. Auch ich will es vorderhand so halten und habe mir diesbezüglich folgendes Programm zurechtgelegt. Den Schülern des 1. Jahrganges werde ich jene Aufgabe zur Lösung geben, welche, wenn sie ins Leben treten, wohl zuerst an sie herantreten wird, nämlich ein einfaches Wiener Zinshaus. Ich beabsichtige damit, Sie vor allem in bezug auf Ronstruktion und Wahrnehmung der Bedürfnisse recht sattelfest zu machen; bleibt uns dann voraussichtlich noch Zeit, so können Sie an die Lösung des Einzelwohnhauses schreiten, da unsere Verkehrsanlagen diese Frage in den Vordergrund drängen werden und sich eine diesbezügliche Umwälzung in der Wohnweise sicher voraussetzen läßt. Den Schülern des 2. Jahrganges

empfehle ich die Lösung eines öffentlichen Gebäudes mit all seinen komplizierten Innenkonstruktionen und der charakteristischen Außengestaltung. Ich mache Ihnen den Vorschlag, das künftige Gebäude des Handelsministeriums als Basis zu nehmen, dessen Programm ich zu geben in der Lage bin. Den Schülern des 3. Jahrganges empfehle ich die Lösung einer Aufgabe, welche im Leben wohl nie an Sie herantreten wird, deren Durchbildung aber dazu beitragen wird, den göttlichen Funken der Phantasie, der in Ihnen glimmen soll, zur leuchtenden Flamme anzufachen. In Paris an der Ecole des Beaux Arts werden alljährlich solche exotischen Aufgaben versucht und mit den heranreifenden Runstjüngern eine Art Phantasie-Training vorgenommen." 28 Dieses kurzgefaßte „Baukünstlerische Lehrprogramm" - so der Originaltitel der Antrittsrede in der Deutschen Bauzeitung - beinhaltet tatsächlich das ganze Spektrum der späteren Wagnerschule. Es besteht kein Zweifel, daß dieses Lehrprogramm an sich schon vielversprechend klingt, daß aber Inhalte und Ausführung sehr oft eine große Diskrepanz aufzeigen. Vom Herbst 1894 bis zum September 1912 - in 18 Lehrjahren - entstanden über 500 Entwurfsprojekte von Architekturstudenten, über die Otto Wagner im Vorwort zur Festschrift seines Ehrenjahres mit Stolz schreibt: „Aus meiner Schule sind, wie dies alle Rulturzentren bestätigen, beinahe nur ausgezeichnete Baukünstler hervorgegangen, ein Umstand, der seine Begründung im Statute der k. k. Akademie findet, welches den Lehrer berechtigt, die Wahl unter den sich meldenden Schülern in bezug auf Anzahl und Eignung zu treffen. Ein Teil der Arbeiten des letzten Schuljahres bringt dies Heft. Diese und frühere Arbeiten werden alle

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Jenen, welche meine Schulausstellungen besichtigen, überzeugen, daß das sukzessive künstlerische ,Werden', der innige Kontakt der Kunst mit dem jeweiligen menschlichen Empfinden und die Erhaltung der Individualität der Schüler bei Ihrem Schaffen stets angestrebt wurden."29 Inwieweit die Wagnerschule und die Entwicklung von einem talentierten Studenten - in diesem Fall Ernst Lichtblau - Zusammenhänge und Entfaltungen beinhalten und fördern, zeigt eine Beschreibung aus dem konkreten Umfeld der Arbeiten anhand von Beispielen und Werkspuren.30 Als Ernst Lichtblau im Herbst 1902 in die Meisterschule für Architektur bei Otto Wagner aufgenommen wurde, war die Wagnerschule bereits durch mehrere Publikationen bekannt und etabliert, das letzte vorangegangene Supplementheft über die Wagnerschule war mit einem Vorwort von Joseph August Lux eingeleitet worden, mit dem besonderen Hinweis auf die drei magischen Worte der neuen Ästhetik: Zweck, Konstruktion, Poesie. Die Vernetzung dieser drei Begriffe wird als Glaubensbekenntnis einer neuen Sachlichkeit, besser - einer neuen Versachlichung - in der Architektur gesehen. Der Gestaltungsgrundsatz, welcher diese drei Begriffe postuliert, fordert eine komplexe Synthese im architektonischen Denken und nicht eine Reduktion auf eindimensionale Zuordnung von Ursache und Wirkung. Im Zusammenspiel mehrerer Kräfte gestaltet sich Architektur, der Pluralismus des modernen Lebens gestaltet die „moderne Architektur". Als Ziel, wie Wagner in seinem Buch Moderne Architektur von 1895 schreibt, soll der Idealismus der Zeit mit dem Realismus der zeitgenössischen Zivilisation in Einklang gebracht werden: Das Resultat wäre die Kultur der modernen Zeit.

Eine Aufstellung über die möglichen Jahrgangskollegen von Ernst Lichtblau (erhoben aus den Inskriptionslisten der Akademie der bildenden Künste Wien) zeigt eine Gruppe von circa 25 Studenten, welche das neue personelle Umfeld von Lichtblau darstellte. Entsprechend den Gepflogenheiten wurden sechs Studenten im Herbst 1902 neu aufgenommen, Theodor Deininger (geb. 1881), Robert Farsky (geb. 1881), Karl Maria Kerndle (geb. 1882), Alfred Kinsky (geb. 1879), August Vaugoin (geb. 1882) sowie Ernst Zeschitz (geb. 1880). Ernst Lichtblau (geb. 1883) war somit mit 19 Jahren der jüngste Student in dieser Gruppe.31 Als Jahrgangskollegen, das sind jene Studenten, mit denen Lichtblau gleichzeitig die Räume der Meisterschule teilte, können folgende Studenten angeführt werden, die bereits das erste oder das zweite Studienjahr absolviert hatten:32 Oscar Barta, Istvàn Benkó, Karl Dorfmeister, Josef Eigei, Ferdinand Elstner, Karl Felsenstein, Rudolf Frass, Bohumil Hübschmann, Max Joli, Karl von Kéler, Friedrich Mahler, Albrecht Michler, Johann Mrácek, Franz Polzer, Christoph Stumpf, Emil Sulser sowie Franz Weigang. Das erste Projekt, mit dem sich jeder Student beschäftigen mußte, war der Entwurf eines Wiener „Zinshauses" - dem typischen vier- oder fünfgeschossigen Mietwohnhaus, dessen Erdgeschoßzone meistens als Ladenbereich ausgeführt war, mit darüberliegenden Wohnungen. Lichtblaus Entwurf für diese Aufgabe im ersten Bezirk sieht ein fünfgeschossiges Mietwohnhaus vor, dessen Mittelachse durch Erker und Terrasse sowie durch ein Dachatelier besonders betont wird. Die Sockelzone ist durch ein vertikales Streifenmuster charakterisiert, Erdgeschoß und erster Stock sind gestalterisch zusammengefaßt, darüber befinden

Abb. 5: Alfred Chalusch, Wohn- und Mietshaus, 1906

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Abb. 6: Franz Roith, Mietshaus, ca. 1905

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sich vier gleichartige Wohngeschoße, den Traufenabschluß bildet ein geometrisiertes Muster, bestehend aus vertikalen Stäben und Kreisformen. Ronzeptuell entspricht dieser Entwurf Lichtblaus genau dem von Otto Wagner in seinen Mietshäusern Linke Wienzeile vorgeführten Interpretation des städtischen Wohnhauses. Die Gleichartigkeit der Wohngeschoße deutet einerseits auf den Verlust des üblichen piano nobile der bürgerlichen Wohnbautradition, andererseits zeigt es die Erschließung der Wohnungen mit einem Aufzug, der die bequeme Erreichbarkeit höherer Stockwerke ermöglichte. Wagner verstand das Wohnmietshaus als Grundbaustein der Stadtplanung und somit auch als Regelfall für die künftigen Bauaufgaben junger Architekten. Lehrer und Schüler arbeiteten also an ähnlichen Aufgaben mit unterschiedlichen Größenordnungen. Die Mietshausaufgabe wird wie folgt charakterisiert: „Das Prinzip, das Zinshaus soviel als möglich den Bedürfnissen des modernen Menschen anzupassen, lag dieser Aufgabe zugrunde. Der Grundriß strebt die Verbindung der größtmöglichen Verwertung der zu verbauenden Fläche mit der zweckentsprechendsten Raumeinteilung an."33 Daß dieses privat finanzierte, spekulative Wohnmietshaus - deshalb in Wien „Zinshaus" genannt (Verzinsung des Kapitals durch addierte Wohneinheiten) - als Ausdruck spätkapitalistischen Unternehmertums gesehen werden muß und deshalb mit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie am Ende des Ersten Weltkrieges an Bedeutung verlor und somit die Umorientierung der gesamten Wohnbautätigkeit fordern würde, konnte damals niemand voraussehen. Die Wohnbautätigkeit der Gemeinde Wien in den zwanziger Jahren basierte nicht auf dem einzelnen Wohnhaus, sondern im kras-

sen Gegensatz dazu auf dem gesamten Stadtblock, dem „Wohnhof" als Antwort auf die städtische Behausungsfrage. Für einen Großteil der Wagner-Schüler waren die Planung für diese Wohnhöfe Gegenstand ihrer späteren Tätigkeit. Über den tatsächlichen Unterricht in der Wagnerschule gibt es nur mündliche Überlieferungen.34 Durch Aussagen und Informationen von Wagner-Schülern läßt sich der tägliche Schulbetrieb wie folgt skizzieren. Die Vormittage waren für das Entwerfenvorgesehen, die restliche Zeit für Vorlesungen und Vorträge. Jeden Montagvormittag erfolgte mit Wagner eine Besprechung und Kritik der Fachzeitschriften, anhand der vorliegenden Zeitschriften aus Österreich, Deutschland, Frankreich, England etc.35 Dieses praxisorientierte Lernen anhand von Beispielen erstreckte sich auch auf die Ausarbeitung der Projekte: Obwohl viele Projekte einen experimentellen Charakter aufweisen, ist die handwerkliche Durcharbeitung der Projekte mit größter Präzision gefertigt. In diesem Sinn handelt es sich bei den Projekten der Wagnerschule um konkrete Experimente - konkrete Utopie - als Beispiele für die moderne Großstadt. Die „Möblierung" der Großstadt war Wagners architektonisches Anliegen, die Ausbildung der Studenten sollte diese Intention reflektieren. Öffentliche Bauwerke (Kirchen, Theater, Ausstellungshallen), private Wohnhäuser, Bauten für den Verkehr, Bauwerke für den Konsum (Warenhäuser) sowie Bauten für die Erholung bilden jene urbane Grundstruktur, die ihrerseits die moderne Metropole ermöglicht. Der einzige vernachlässigte Bautypus war das kommerzielle Bürohaus, weil zu diesem Zeitpunkt die Entwicklung des tertiären Sektors anders bewertet wurde. Das Bewußtsein um die Probleme der .Architektur, wie das Suchen nach einer

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

neuen Struktur - einem neuen Ge- sen entsprechend: ohne arm zu erstell -, welches die Erneuerung der scheinen, einfach und glatt, daher Gestalt ermöglicht, bedeutet eine to- leicht rein zu halten."37 Der Auszug tale Umwälzung der Akademie- aus dem Erläuterungstext betont die Lehrtätigkeit. Auf der Grundlage Eigenschaften „modern", „einfach" dieser Kritik von Wagner an der Ar- und „rein". Mit den fast gleichen chitektur und dem Städtebau sind Worten empfiehlt Wagner seine die Leistungen der Wagner-Schüler Bauwerke als nutzerfreundlich und kostengünstig. Somit erklärt sich die zu sehen. Ein anonym gebliebener Schüler moderne Architektur indirekt als die summiert 1898 die Vorzüge der Wag- beste Investition für die Zukunft. nerschule wie folgt: „Das Atelier des Zu dem Zeitpunkt als Ernst LichtMeisters ist nicht nur räumlich mit blau in die Meisterschule Otto Wagder Schule im Zusammenhang, son- ners eintritt, hatte Wagner gerade dern es findet ein reger Verkehr zwi- die Vorkonkurrenz und den engeren schen beiden statt, wodurch Theorie Wettbewerb für das Kaiser-Franzund Praxis immer Hand in Hand ge- Joseph-Stadtmuseum für sich enthen. Der Hauptvorzug der Wagner- schieden. Das Amtsblatt der Gemeinschule ist das freie Individualisieren de Wien berichtet am 13. Juni 1902 aller Talente und Originalitäten . . . über das Ergebnis für das Projekt keine Spur von jenem auf bloßem Wagners, aber bereits Anfang Deäußeren Effekt berechneten ,Ein- zember gibt es im Gemeinderat hefexerzieren' und ,Drillen', an dem tige Auseinandersetzungen wegen 38 selbst die Ecole des Beaux-Arts noch diesem Entwurf. Lichtblau erlebt 36 also hautnah eines der tragischen krankt." Die Arbeiten aus dem Schuljahr Kapitel im ganzen Werk von Wagner 1903/04 zeigen eine Vielzahl von - das Kaiser-Franz-Joseph-Museum Projekten, die zu bestimmten The- sollte Wagner von 1901 bis 1912 mit men ausgearbeitet wurden. Ein Unterbrechungen beschäftigen. Im Forsthaus für Bosnien, 1904, ist so- Zusammenhang mit dem Kaiserwohl von Ernst Lichtblau, Hans Franz-Joseph-Museum tritt ein ArLaurentschitsch, Theodor Deinin- chitekturelement verstärkt in Wagger sowie Karl Maria Kerndle ent- ners Arbeiten auf, das zu einem zenstanden. Lichtblaus Projekt zeigt ge- tralen Anliegen seines späteren stalterisch Anlehnungen an die Arts- Werkes wird: der zentrale mehrgeand-Crafts-Bewegung in England, schossige und glasüberdachte Inwährend Kerndle eine starke Geo- nenraum, bei dem sich Qualitäten metrisierung und Abstraktion der der „Raumarchitektur" mit den Qualitäten der konstruktiven BautechFassade vornimmt. In ihrem ersten Schuljahr bearbei- nik - der „Tektonik" - auf das glückten Lichtblau und Deininger ge- lichste verbinden. Als bekanntestes meinsam zwei Projekte, ein Mehrfa- Beispiel gilt der Kassenraum der milienhaus in Wien-Baumgarten so- Postsparkasse. Die Konstruktion wie eine Inneneinrichtung für ein und die Form der abgehängten GlasKaffeehaus. Die lineare Darstellung decke sind eine Metapher für die der Einrichtung erweckt den Ein- transparente Architekturhülle, die druck von Transparenz und Leich- einen Innenraum definiert. Durch tigkeit. Bemerkenswert ist die Ver- vielfaltige Erlebnisebenen - speziell bindung von Beleuchtungskörper im Hauptsaal des Kaiser-Franz-Jound Kleiderständer als räumliches seph-Museums - entwickelt sich für Element. „Die Einrichtung des Kaf- den Besucher eine neue „raum-zeitfeehauses den modernen Bedürfnis- liche" Betrachtungsebene, das In27 I

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

Abb. 7: Bohumil Hübschmann, Denkmal, 1903

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einandergreifen von Raumsequenzen und die völlige Inszenierung des Bewegungsablaufes, der Zirkulation. Im Projekt für das Stadtmuseum Opus IV, 1912, entfaltet sich die Haupthalle zu einem glasüberdachten, viergeschossigen Innenraum, dessen räumliche Ambivalenz aus dem Dialog des Hauptraumes mit den angrenzenden Raumzonen resultiert. Die Wagner-Schüler haben dieses Konzept sowohl für die Warenhausentwürfe (Dorfmeister, 1902, oder Benko, 1902) als auch später für die Hotelbauentwürfe übernommen (Hans Böhm, 1908, oder Rudolf Weiß, 1912). Aus dem Versuch, die Aspekte der Konstruktion mit den Aspekten des Raumes zu verbinden, entstand ein architektonisches Problembewußtsein, das als prinzipieller Ausdruck der Modernität bezeichnet werden kann. Raum und Konstruktion sind in ihrer neuen Definition die Merkmalträger der modernen Architektur. Die Modernität unterscheidet sich deshalb so grundsätzlich von dem Modernismus, weil letzterer versucht, sich allein durch die Form mit Modernität zu assoziieren. Modernität als Oberbegriff verlangt eine inhaltliche Interpretation der zeitgenössischen Realität, während Modernismus durch die Verwendung von formalen Elementen einer inhaltlichen Subjekt-Objekt-Beziehung fernsteht. Die Wagnerschule reflektiert Modernität auf mehreren Ebenen gleichzeitig: Realismus, Konstruktion, Zweck, Material und Notwendigkeit; mit Hilfe der neuen Definition und der neuen Verknüpfung dieser Begriffe erklärt sie sich selbst als prozeßorientierte Institution, mit permanenter Rückkoppelung zur Realität. „Von diesem modernen Geist des steten Forschrittes sind die Arbeiten in der Wagnerschule geleit e t . . . Zweck der Wagnerschule ist es, sich im Schauen, Wahrnehmen,

Erkennen der menschlichen Bedürfnisse zu üben und die so gefundene Aufgabe künstlerisch zu lösen . . . Doch liegt es nicht in ihrer Absicht, durch diese Studien etwa einen Typus zu schaffen, auf diesem Weg einen ,modernen Stil' zu suchen . . ,"39 Karl Maria Kerndle summiert mit dieser Aussage das Problembewußtsein der Wagnerschule. Keine stilistische Interpretation weder moderner Stil noch nationaler Stil, noch internationaler Stil - , sondern eine permanente Reflexion über sich verändernde Parameter in einer dynamischen Gesellschaft. Die völlige künstlerische Freiheit also das Aufheben der Konventionen der akademischen Tradition - war der Leitspruch der Secession, öffentlich sichtbar für alle als Eingangsinschrift über dem Hauptportal des neuen Sezessionsgebäudes, entworfen von Joseph Olbrich 1898: „Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit". Wagner, als Mitglied und Förderer der Secession, hat diesen Leitspruch inhaltlich voll akzeptiert. Eine radikale Interpretation findet sich in der Arbeit von Christoph Stumpf, der mit seinem Projekt für einen Flughafen mit Leuchtturm (1904) an die Grenzen der damals möglichen Stahlbetonkonstruktion geht. 40 Der Projekttitel „Aeronautische Anstalt in Verbindung mit einer Automobilrennbahn" weist deutlich auf den kommenden Zusammenhang mit den Arbeiten der italienischen Futuristen Sant' Elia und Mario Chiattone, deren Begeisterung für Geschwindigkeit und Technik hier bereits vorweggenommen wurde. 41 Die in der Wagnerschule entstandenen Projekte tragen meistens zwei Merkmale, die man mit „geometrischer Abstraktion" und/oder „technischem Symbolismus" beschreiben kann. Durch Abstraktion, Reduktion und Linearitätzum einen, oder technische Konstruktionen, Materialien und statisches Tragsystem zum an-

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

deren unterscheiden sich diese Entwürfe in ihrer Haltung und Architektursprache. Als Beispiel können zwei Arbeiten von Karl Maria Kerndle aus dem Jahr 1905 dienen. Das Projekt für eine Gruftkapelle zeigt einen großen, weißen, hochgestellten Kubus, dessen Mittelachse durch eine Einkerbung und vorgestellten Treppenaufgang betont wird. Zwei vertikale Wände begrenzen den Treppenlauf und verstärken die Maßstablosigkeit der Zeichnung. Ohne die Darstellung zweier Personen könnte die wahre Größe der Gruftkapelle nicht genau definiert werden. Graphisch entwickelt Kerndle durch den Weißschwarzkontrast eine bemerkenswerte räumliche Tiefe von elementarer Einfachheit: dem Eintritt in die Gruftkapelle entspricht das Ungewisse, das Mystische, das Schwarz des Jenseits. Ganz anders bestimmt Kerndle den Charakter eines Festzeltes, indem er die heitere und festliche Atmosphäre in Anlehnung an einen Zirkuseingang entwickelt. Zwei A-förmige Konstruktionen, bestehend aus dreieckigen Unterteilungen, halten eine horizontale Verspannung, die ihrerseits durch einen Mittelaufsatz betont wird. Der Kurzfristigkeit der Nutzung entspricht die Transparenz der Konstruktion, verbunden mit stoflahnlichen Verspannungen und abgehängten Fahnen. In ähnlicher Weise entwickelt Marceli Kammerer ein Festzelt im Jahr 1901, dessen Hauptdach von zwei Pylonen abgespannt ist und in seiner technischen Perfektion an die Arbeiten eines Otto Frei erinnert. Eine verstärkte Verwendung der geometrischen Abstraktion findet sich in den Projekten von Bohumil Hübschmann und August Vaugoin. Hübschmann beantwortet die Aufgabenstellung für ein Denkmal (1903) für die Opfer am Semmering mit der abstrakten Geometrie eines Kreuzes. Vier quadrati-

sche Öffnungen werden so in eine Fläche gesetzt, daß der Abstand zwischen den Quadraten eine Kreuzform ergibt. Tagsüber erscheint das Kreuz als Positiv-Negativ-Form, in der Nacht werden die quadratischen Öffnungen von rückwärts hinterleuchtet, wodurch das Kreuz als Negativ-Positiv-Form hervortritt. Ähnlich verblüffend im minimalistischen Einsatz der Formen entwirft Vaugoin 1904 einen Friedhofsabschluß (Toranlage) mittel stilisierter Kreuzformen und vier ornamentlosen Mauerpfeilern. Einen wichtigen Aspekt der Verbindung von anonymer Architektur und dem Konzept von versetzten Bauvolumina zeigen die Arbeiten von Wunibald Deininger. Zwei Entwürfe, ein Landhaus für Capri, 1903, und eine Villa am Meer, 1903/04, verblüffen durch ihre ftadikalität. In ihrer kubenhaften Volumenhaftigkeit gehen sie weit über die schottischen Beispiele von Charles B. Mackintosh hinaus, dessen Landvillen stets durch ein „schützendes" Dach eine gewisse Bodenständigkeit aufweisen, im Gegensatz dazu steht die heitere Atmosphäre von Deiningers Villa am Meer. 42 Die Transformation der anonymen, mediterranen Architektur zur Formation einer frühmodernen Architekturgestaltung gehört zu den interessantesten Verknüpfungen der Wagnerschule. Deininger reduziert den Baukörper auf exakte Volumina, wobei ein Hauptkubus durch Annexe erweitert wird. Dadurch wird die konventionelle Symmetrie aufgehoben, und es resultiert ein Dialog zwischen Flächen und Öffnungen. Als besonderes Gestaltungselement wirkt die Verwendung von Mauerpilastern, die jedoch über das Dach hinausreichen. Die tektonisch-konstruktive Wirkung kontrastiert mit den ebenen, weißen Flächen. Beide Villenentwürfe, ausgestattet mit Flachdächern und begehbaren

Abb. 8: Karl Maria Kerndle, Gruftkapelle, 1903

Abb. 9: Karl Maria Kerndle, Festzelt, 1903

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Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

Abb. 10: Wunibald Deininger, Villa, 1903-04 Abb. 11: Wunibald Deininger, Landhaus für Capri, 1903

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Dachterrassen entwickeln sich - ohne einer dogmatischen Forderung für Ornamentlosigkeit im Loosschen Sinne - ganz selbstverständlich aus dem Ort und Material. Bei dem Landhaus für Capri kontrastiert Bruchsteinmauerwerk mit hellen Putzflächen, bei der Villa am Meer entwickelt sich das Gebäude wie eine Bekrönung des Hügels. Ein historischer Vergleich ruft einen Entwurf von Karl Friedrich Schinkel für ein Lusthaus in der Nähe von Potsdam in Erinnerung, publiziert in der Sammlung architektonischer Entwürfe. 43 Obwohl in Potsdam situiert, gestaltet Schinkel die Landschaft als mediterranes Arkadien an einem See, umgeben von einer sanften Hügellandschaft. Das Lusthaus mit seinen Terrassen, Pergolen, Weinlauben und geputzten Wänden vermittelt den Inbegriff von deutschem Neoklassizismus in seiner besten Ausformung. Die Analogie zu Deiningers Villa am Meer ist sicherlich insofern gegeben, als damit das kontinuierliche Interesse an den mediterranen Bauformen als „Quelle" und „Inspiration" für die Architekturdiskussion dokumentiert wird. Im gleichen Zusammenhang wie die Untersuchimg der „Mittelmeerarchitektur" durch Deininger (aber auch Kammerer, Kerndle und Hoppe) können die Forschungsansätze von Ernst Lichtblau mit seinen bosnischen Skizzen gesehen werden. Diesbezüglich hat Lichtblau eine sehr genaue Dokumentation hinterlassen, bestehend aus einer Photoserie und Skizzen, die in der Zeitschrift Der Architekt veröffentlicht wurden. Die Vermischung von Reiseskizzen und Entwürfen bringt die Idee der Collage in die Architekturbetrachtimg, bei der bestehende Formen der regionalen Architektur analysiert und zerlegt werden, um diese anschließend wieder zu einem neuen, architektonischen Ganzen zusammenzusetzen. Diese „Montage"

basiert auf Selektion geometrischer Grundformen, durchsetzt mit definitiven Materialaussagen wie Bruchsteinmauerwerk, sichtbarem Ziegelverband oder geputzten Wänden. Die neue „Einfachheit" wird damit empirisch legitimiert und findet wieder Eingang in die „akademische" Architekturhaltung. Für das damit im Zusammenhang stehende Projekt einer Forstdirektion für Bosnien wurde Lichtblau mit dem Hofpreis ausgezeichnet - ein Beweis für die Wertschätzung der Arbeit durch Wagner.44 Die vielen Projekte von Marceil Kämmerer, Alfred Fenzel, Oscar Felgel oder Emil Hoppe zeigen eine ähnliche Anlehnung an mediterrane und formal reduzierte Architektur. Ohne die Heterogenität der Wagnerschule-Entwürfe auf monokausale Argumente zurückführen zu wollen, scheint doch eine Negativklausel Gültigkeit zu haben: das Fehlen einer dogmatischen Architektursprache als Mittel einer stilistischen Identität. Somit bricht die Wagnerschule nicht nur im traditionalistischen Sinn mit der Beaux-Arts, sondern sie verfällt auch nicht einem zukünftigen stilistischen Modernismus. Eine geschichtliche Ortung im Hinblick auf die historische Bedeutung der Wagnerschule ist nur im Vergleich und im Verhältnis zu den Zeitgenossen festzustellen. Otto Graf formuliert in seiner Publikation Die vergessene Wagnerschule, daß die Frage nach der Teilnahme der Wagnerschule am historischen Strukturationsprozeß einer kunsthistorischen und biographischen Beantwortung bedarf.45 Der Historismus im 19. Jahrhundert ermöglichte nicht nur die (beinahe) beliebige Verwendbarkeit aller historischen Stile und Stilmutationen, sondern ermöglichte ebenso die Integration konstruktiver Teilelemente aus Eisen, Stahlbeton und Glas innerhalb

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

Abb. 12: Karl Friedrich Schinkel, Perspektive eines Lusthauses in der Nähe von Potsdam

Abb. 13: Karl Maria Kerndle, Domänengebäude, 1903-04

der historischen (d. h. akademisch- des ausgehenden 19. Jahrhunderts künstlerisch richtigen) Fassaden. entgegen, deren soziokulturelle ProDie Bahnhöfe sind das klassische jektion die Architektur als ein MediBeispiel für die „additive" Architek- um ansahen, den Zeitbezug - „den tur des 19. Jahrhunderts, wo eine Realismus unserer Zeit" (Wagner) Glas-Gufleisen-Konstruktion ohne auszudrücken. Die englischen ReIntegration hinter eine historische former Morris und Mackintosh, der Fassade gestellt wurde. Dieser prag- Belgier Berlage, der Amerikaner matischen „Addition" in den Arbei- Louis Sullivan und Otto Wagner in ten von Paxton oder Eiffel stehen die Wien sind in den Strukturen des Arbeiten der Architekturreformer 19. Jahrhunderts aufgewachsen, 31 I

Die Wagnerschule zur Genesis der modernen Architektur

versuchten aber in ihren Arbeiten kritisch die Zeit zu reflektieren. Κϋ ΒΟ/ΠίΓίΤ"""· Das Fin de siècle und das Debut de siècle ist nicht nur überschattet von 'ilk. den Ereignissen um den Ersten lili Uli Weltkrieg und dem Zerfall der konIT"' Ϋ-Η tinentaleuropäischen Großmacht«'¡rWY politik, sondern auch von der Erscheinung der transitorischen Formen, welche die Kunst und die Architektur von der traditionellen Haltung des 19. Jahrhunderts trennen und die Modernität im engeren Sinn überführen. Der aktivste Zeitraum der Wagnerschule und damit auch die Hinwendung zur Modernität fällt in die Zeit zwischen 1897 und 1907, also circa jene zehn Jahre, in denen durch OpΓ»"— timismus und Offenheit eine AtAbb. 14: Ernst Lichtblau, Projekt für das Ge- mosphäre der experimentellen Arbäude einer Forst- und Domänendirektion, chitektur entstanden war, die zu die1904 sem Zeitpunkt einzigartig in der Welt war. Bereits 1906 wurde die Unity Church von Frank Lloyd Wright im Oak Park, Chicago, realisiert, deren komplexe Raumfolge eine gänzlich neue Interpretation der Architektur manifestierte. Mit der Wasmuth-Publikation über Frank Lloyd Wright, Ausgeführte Bauten und Entwürfe, Berlin 1910, war gemeinsam mit den Faguswerken von Walter Gropius, 1911-1916, und Bruno Tauts Kristallbau auf der Werkbundausstellung in Köln 1914 jene Perspektive angedeutet, in der sich zeitgenössische Architektur entwickeln wird. Aus diesem Grund kommt der Wagnerschule-Publikation aus dem Jahr 1905/06 und 1906/07 jene Bedeutung zu, die als Angelpunkt für das Verständnis zur Modernität aufzufassen ist.46 Die Wagnerschule trat in das 15. Jahr ihres Bestehens, und Ernst Lichtblau war redaktionell für diese Publikation verantwortlich. Erst drei Jahre später in Leipzig erschienen (1910), hat diese Werkdokumentation eine zweifache Relevanz. Erstens, ist es zeitlich gesehen die letzte Werkdokumentation, PwpirrwTfcwq'" öawt

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wenn man von der Ehrenjahr-Publikation Wagners absieht, und zweitens, ist durch das Vorwort von Ernst Lichtblau eine Zusammenfassung dieser aktiven Arbeitsperiode gegeben. Mit kämpferischen und pathetischen Worten deklariert Lichtblau den „idealen K a m p f , geführt gegen „Unvernunft und Verstocktheit". Die gesamte Leistung der Wagnerschule wird von Lichtblau mit heldenhaften Taten verglichen. „Seit ihrer Begründung steht sie (die Wagnerschule, Anmerkung des Autors) unter dem Wahlspruch, dem jäh aufkeimenden Fortschrittsdrange unseres Zeitalters sich anzuschließen und so auch der Baukunst einen zeitgemäßen Charakter, das wahre Gesicht, zu verleihen... Die vordem bestandenen Baukunstschulen befaßten sich ja nur damit, den ganzen Vorrat von Stilmaterial wiederzukäuen und mit mehr oder weniger Originalität die vergangenen Meister zu beschwören... . Die Bedürfnisse des modernen Kulturmenschen auszunützen, umzuwerten und im freien Gedankenfluge zur künstlerischen Form zu kristallisieren, war Aufgabe der Wagnerschule. . . . Architektur und Kunstgewerbe fühlen endlich wieder den engen Zusammenhang und das Entspringen aus gleichen Organismen und Grundsätzen. ,Zweck, Konstruktion und Poesie!' Dieses große Glaubensbekenntnis unseres verehrten Meisters hat herrliche Früchte gereift: Wir haben heute längst die Ansätze überwunden, die zu der einzigen Kunst, der modernen Kunst geführt." 47 Somit konstatiert Lichtblau eindeutig inhaltlich und künstlerisch die Aufgabe der modernen Architektur. Im Jahr 1910 ist für diesen WagnerSchüler (ex aequo) die Frage der Modernität bereits beantwortet: die Bedürfnisse des modernen Kulturmenschen in der wiedergefundenen Einheit von Architektur und Kunstge-

Die W a g n e r s c h u l e z u r Genesis d e r m o d e r n e n Architektur

werbe, basierend auf dem Zweck, die Konstruktion und die Poesie zu verwirklichen. Diese Definition ist präzise genug, um einen Trennungsstrich unter dem historischen Architektur-Maskenball des 19. Jahrhunderts zu setzen, und offen genug, um die zukünftigen Fragen des Werkbundes und der neuen Sachlichkeit mit aufzunehmen. Mit dem Begriff der Poesie entzieht sich aber Lichtblau der fatalen Konsequenz, mit der Walter Gropius seine deterministische Gleichung der modernen Architektur aufgestellt hat: Funktion und Konstruktion ist gleich Form. Form ist bei Gropius logisches Resultat gegebener Parameter, Poesie und Kul-

tur existieren nicht in der Gleichung des reinen Funktionalismus. Die Suche nach der Modernität - verstanden als prozeßbezogenes Denken - ist eine der wichtigsten Formulierungen der Wagnerschule und somit als essentieller Beitrag zur Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Das optimistische und positive Denken der Wagnerschule widerspricht der kunsthistorisch perpetuierten Sicht des Wiener Weltuntergangsszenarios. In den Projekten der Wagnerschule zeigt sich jene sezessionistische Haltung, dessen geistes- und formgeschichtliche Relevanz den Weg für die europäische Moderne ermöglicht.

Abb. I 5 - I 8 : Ernst Lichtblau, Photos u n d Skiz-

zen

a u s

Bosnien und Dalmatien, 1905/06

53 I

Gestell und Gestalt

Abb. 19: Ernst Lichtblau, Werkstätte des Künstlers, vor 1926

I 54

Kapitel 2

GESTELL UND GESTALT

Die erschöpfende Analyse der Funktionen aller Gegenstände des Gebrauches ist eine Aufgabe von größter volkswirtschaftlicher Bedeutung; die Zukunft unseres Wirtschaftslebens hängt mit davon ab, ob es gelingt, den Konsumenten soweit zu beeinflussen, daß er immer mehr ästhetische Forderungen an die Gegenstände des täglichen Bedarfes stellt, um sich so vom Ballast konventioneller Formlosigkeit zu befreien. Vielleicht gelingt es, durch Anpassung des Künstlers an die ökonomischen Forderungen unserer Zeit eine Formästhetik zu schaffen, die geeignet wäre, einen Stil aus dem Geiste der Wirtschaft heraufzuführen; denn nicht so sehr um die Schöpfung immer neuer Formenreize ist es uns zu tun, als um Züge, die vom wahren Zustande der Dinge anregend zu erzählen wissen. Ernst Lichtblau, 1923

Die qualitative Differenz von Kunst und Wissenschaft läßt diese nicht einfach gewähren als Instrument, jene zu erkennen. Die Kategorien, die sie dabei heranbringt, stehen zu den innerkünstlerischen so quer, daß deren Projektion auf wissenschaftliche Begriffe unweigerlich wegerklärt, was zu erklären sie vorhat. Die zunehmende Relevanz der Technologie in den Kunstwerken darf nicht dazu verleiten, sie jenem Typus von Vernunft zu unterstellen, der die Technologie hervorbrachte und in ihr sich fortsetzt. Theodor W.Adorno, Ästhetische Theorie

Architektonische Prinzipien sind die Ursprünge im Bereich der Baukunst. Die Frage nach den architektonischen Prinzipien bezeichnet man als architektonische Untersuchung (Research). Im folgenden sollen Fragen gestellt werden, die dazu angetan sind, die Ursprünge der architektonischen Prinzipien zu reflektieren und Antworten geben unter bestimmten Bedingungen der Reflexion.1 Architektur ist eine spezifische Form des Wissens; Architektin· gründet deshalb auf einer spezifischen Form der Architekturtheorie und ist somit Ausdruck einer umgesetzten abstrakten Idee. Gebäude sind Beispiele dieser Architekturtheorien, somit eine mögliche Interpretation aus dem größeren Bereich der Baukunst. Räumliche Relationen und räumliche Konfigurationen sind architektonische Mittel, um Baukunst entstehen zu lassen. Relation und Konfiguration lassen sich sowohl

sprachlich als auch architektonisch interpretieren. Die Vorgangsweise bedarf jedoch einer Vorbemerkung: Diese Untersuchung gründet auf einer philosophischen Tradition der Reflexion und des „Versuchs und Irrtums" und nicht auf einer philosophischen Tradition der „Wahrheit".2 Jede Untersuchung differenziert zwischen einer Profession (Praxis) der Architektur und einer Disziplin der Architektur. Gegenstand soll hierbei die Disziplin der Architektur sein - mit anderen Worten: die nachvollziehbare Entwicklung von architektonischen Ideen - und nicht die Probleme der pragmatischen und baulichen Umsetzung im Bereich der Bauproduktion. Auf der Suche nach Antworten sind die Fragen so formuliert, daß ein möglicher kausaler Zusammenhang entsteht. Der Begriff der Kausalität ist seinerseits ein Grundthema der abendländischen Philoso35 I

Gestell und Gestalt

phie, das seit der Publikation von David Hume mit dem Titel Eine Untersuchung über den menschlichen Ferstand3 die Verknüpfung von Ursache und Wirkung als Kernfrage allen „Ursächlichkeitsdenkens" angibt. Der Skeptizismus von David Hume in bezug auf die Kausalitätsfrage - der Begriff der notwendigen Verknüpfung - wird auch von Edmund Husserl in seinem Paragraphen aus dem Entwurf zur Neufassung der VI. logischen Untersuchung betont. 4 „Hume hat als erster dieses Problem zum Gegenstand einer umfassenden Untersuchung gemacht, und er endet mit dem Skeptizismus. Er findet keine Möglichkeit, auch nur die geringfügigste Kausalitätsfrage zu rechtfertigen, geschweige denn irgendein Naturgesetz und den Satz von der gesetzlichen Einheit der Natur oder, wie er gewöhnlich sagt, von der Gleichförmigkeit des Naturlaufs. Mit aller Schärfe scheidet er die Sphäre vernünftiger Einsicht von der Sphäre blinden Meinens. Auf der einen Seite steht das Gebiet der r e l a t i o n s of i d e a s . In diesem Gebiet sind mit den Beziehungspunkten die Beziehungen untrennbar verknüpft, sind also in der Anschauung notwendig mitgegeben, und so können wir (durch generalisierende Abstraktion) die in dem Wesen der betreffenden Begriffe gründenden Verhältnisgesetze gewinnen . . . Die Negation dieser Gesetze bedeutet einen offenbaren Widersinn. Auf der anderen Seite steht das Gebiet der m a t t e r s of f a c t , der allgemeinen Behauptungen über Tatsachen und der sie voraussetzenden singulären Tatsachenbehauptungen. Das Kausalverhältnis ist kein Verhältnis wie das von höher oder tiefer bei Qualitäten und Intensitäten. Die Notwendigkeit, die Wirkung an Ursache knüpft, das Bewirken und Bewirktwerden, das wir uns so gerne animistisch fingieren, ist nichts, was I 36

sich je am Einzelfall anschauen ließe. Also hier ist kein Raum für eine generalisierende Abstraktion, die uns aus dem Einzelfall die Allgemeinheit entnehmen ließe. Und dem entspricht es, daß nichts im Inhalt der Tatsache, die wir U r s a c h e , und derjenigen, die wir W i r k u n g nennen, die notwendige Verbindung beider so fordert, daß eine Aufhebung der Verbindung undenkbar wäre . . . In diesem ganzen Gebiete ist nach Hume von vernünftiger Rechtfertigung nichts zu finden . . . Das einzige, was man hier tun kann, ist, den psychologischen Ursprung der hierhergehörigen Urteile und Begriffe zu erforschen, d. i. in der faktischen menschlichen Psyche die Quellen aufzusuchen, aus denen der Schein der Vernünftigkeit dieser Urteile entspringt und zunächst auch genetisch zu erklären, wie wir überhaupt dazu kommen, über das in Wahrnehmung und Erinnerung Gegebene hinaus an Künftiges zu glauben, wie das G e f ü h l d e r N ö t i g u n g entspringt, und wie es mit jener objektiven Notwendigkeit verwechselt wird, die in der Sphäre der Relationen zwischen Ideen ihre alleinige Stätte hat." 5 Einer der profiliertesten und radikalsten Vertreter der analytischen Schule, A. J. Ayer, bezeichnete die Lehren von Russell und Wittgenstein als die logische Folge des Empirismus von Hume. Sein 1936 mit großem Aufsehen publiziertes Buch Language, Truth and Logic beschreibt den Sachverhalt, wie folgt: „Die in dieser Abhandlung vertretenen Ansichten leiten sich her aus den Lehren Bertrand Russells und Wittgensteins, die ihrerseits die logische Folge des Empirismus Berkeleys und David Humes sind. Wie Hume unterteile ich alle echten Urteile in zwei Klassen: in solche, die - in seiner Terminologie -,Vorstellungsbeziehungen', und in solche, die ,Tatsachen' betreffen." 6

Gestell und Gestalt

Ausgehend von den „Vorstellungs- spricht dann den Kerngedanken seibeziehungen" und den „Tatsachen" ner Untersuchung: den Dualismus stellt sich die Frage, wie in die Archi- zwischen Werkform und Kunstform, tekturtheorie diese philosophischen aus dem eine Körperform besteht. Positionen Eingang finden können: „Unter Werkform ist j enes werkliche Was sind „Tatsachen" (matters of Körperschema des Gliedes verstanfact) und was sind „Vorstellungsbe- den, dem ganz ausschließlich nur ziehungen" (relations of ideas) pro- die materielle und statische Leijektiert auf die Baukunst? Wie stel- stung zufällt: Es wurde deshalb frülen sich architektonische Prinzipien her auch wohl Kernform des Gliedes ursprünglich dar? Diese Fragestel- genannt, weil es den statisch fungielungen entsprechen im übertrage- renden Kern desselben bildet. Unter nene Sinn auch den Positionen, die Kunstform ist jede weitere Beigabe im 19. Jahrhundert von denjenigen von Formen zu diesem Schema beArchitekten hinterfragt wurden, die griffen, die völlig außerhalb von desgegen den Historismus und die Be- sen materieller Leistung stehen, liebigkeit der Stile aufgetreten sind. auch nicht im mindesten zur UnterIn dieser Reihe sind neben Karl stützung derselben mitwirken: obFriedrich Schinkel und Gottfried wohl sie im Dasein erst von ihm herSemper auch Carl Boetticher und Ot- vorgerufen und durchaus abhängig to Wagner zu nennen. Die künstleri- von ihm sind."7 Sowohl die Werkschen Werke von Schinkel und Sem- form als auch die Kunstform besitper sind weitgehend bekannt, die Ar- zen Eigenschaften, welche ausbeiten von Carl Boetticher über die schließlich nach dem Begriff gemesLehre der tektonischen Kunstfor- sen werden können, nach welchem men, veröffentlicht in Die Tektonik sie ihr Dasein empfangen haben. der Hellenen (Berlin, 1874), sind trotz „Die Bestimmung eines tektoniihrer umfassenden und ausführli- schen Gebildes, welches es auch chen Untersuchungen zum Thema sein mag, soll durch eine rein mateTektonik wenig bekannt. rielle, eine statische Leistung des Boetticher leitet seine Abhandlung betreffenden Werksstoffes erfüllt mit der Bemerkung ein, dafl der werden. Ist diese nach allen Bezieschöpferische Darstellungstrieb im hungen festgestellt und abgegrenzt, Menschen sinnlich wahrnehmbare oder im Begriffe konkret gemacht, Gebilde hervorbringt, die von den so entwirft die Idee mit Auffassung Hellenen mit Techne bezeichnet der natürlichen Eigenschaften des wurden, somit der so wirkende Werkstoffes das Urbild eines KörMann Technit, das so Erwirkte Tech- pers, in dem jeder Begriff vollkomnasma. Eine Unterscheidung der men aufgeht. Der hiernach aus dem künstlerischen Darstellungsmittel Werkstoffe folgerecht gestaltete wird nicht vorgenommen. Daher Körper wird in seiner Form dann gelten sie für jede Art der Erfindung: nichts anderes sein als das materiaSchrift, Wort, Musik oder auch bil- lisierte und verkörperte Urbild des dende Kunst. Ebensowenig findet Begriffes. An jedem dieser Körper, sich in der künstlerischen Tätigkeit an welchem der Begriff ganz ebenursprünglich eine Trennung zwi- mäßig und unversehrt in der Form schen Erfindung und Ausführung zur Erscheinung gelangt ist, wird oder gar zwischen bildender Kunst derselbe auch vollständig erkennbar und bloßem Handwerk. Boetticher sein."8 Und Boetticher resümiert wie behandelt für den Bereich der Bau- folgt: „Blickt man zurück auf die bekunst den Gliederbau und das Ver- rührten Unterschiede zwischen den hältnis des Räumlichen und be- Werkformen und Kunstformen, so

Abb. 20: Ernst Lichtblau, Exlibris, 1914

37 I

Gestell und Gestalt

ging nur aus der Vereinigung beider Formenelemente jenes Bauglied in seiner vollendeten Gestalt hervor." 9 In seinen Reflexionen über das Wesen der Baukunst postuliert Boetticher ein architektonisches Verständnis, das als vereinfachter „symbolischer Funktionalismus" die gesamte Haltung der frühen Moderne und des neuen Bauens vorwegnahm und mitbestimmte. Die vermeintlichen neuen Ideen des Funktionalismus und die Gestalt als Ausdruck der konstruktiven Kräfte waren somit bereits in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts präzise formuliert. Immer wieder bemächtigt sich die Kunstform der Analogie, um dem abstrakten „Urbild" ein reales „Abbild" zu ermöglichen. Die Gestalt erklärt sich somit als das Wesen der Form, jener innere Zusammenhang, der notwendig ist, die Abhängigkeit von Werkform und Kunst zu verdeutlichen. Bei den Überlegungen über die Ursprünge der architektonischen Prinzipien scheint die Gestalt jene Vermittlerrolle zu übernehmen, welche den Realitätsbezug der inneren Strukturen ausdrückt. Diese inneren Strukturen könnte man abstrakt mit dem Begriff „Gestell" bezeichnen, wobei sinngemäß das Gestell die Werkform, aber nicht die Kunstform in sich subsumiert. Ein Gestell ist einerseits etwas, das hingestellt ist, etwas, das seine Existenz aus dem „gestellt sein" erfährt, als Abbild seiner materiellen Realität - aber auch etwas, das „sich stellt" - , den Anforderungen der Welt entsprechend nach Nützlichkeit und Möglichkeit. Die Verwendung von dem Wort „stellen" hängt nicht nur von seiner sprachlichen Verwendung als transitives oder reflexives Verb ab, als Substantiv besteht ein noch größerer Unterschied zwischen Gestell und Stellung. Stellen wird im Lateinischen übersetzt I 38

mit statuere und meint das Hinstellen, Aufstellen, Errichten, Erbauen und Gründen und in einem übertragenen Sinn das Festsetzen, Verordnen und Entscheiden. Allein diese Wortreihe deutet auf die weite und reiche semantische Interpretation des Wortes. „Stellen" wird somit zu einem Kernbegriff im Hinterfragen der architektonischen Prinzipien, denn das Erbauen, Errichten und Aufstellen sind die charakteristischen Tätigkeiten jeder Bauleitung. Alle diese Begriffe suggerieren eine Lageveränderung vom Horizontalen ins Vertikale: erbauen, errrichten, aufstellen. Diese aktive Veränderung einer Lagebeziehung steht folglich an der ersten Stelle des Bauens. Gestellt sein verdeutlicht somit Bereitschaft und Wollen bezüglich einer Anforderung und ist sinngemäß das Resultat einer Funktion der Abhängigkeit. Die gerichtete Zuordnung - allgemein als Funktion f(x) = y umschrieben - zeigt im „gestellt sein" seine Verfügbarkeit. Das Gestell ist verfügbar, nutzbar und dient einem Zweck. Zusammenfassend kann man sagen, daß das Gestell seinem Wesen nach Abhängigkeit und Verfügbarkeit impliziert, wobei Abhängigkeit auch die Materialisation des Gestelles beinhaltet und die Verfügbarkeit auch die Aspekte der Zweckdienlichkeit und der Funktion. Im Zusammenhang mit der Errichtung von Bauwerken wird die Frage nach der Verfügbarkeit und Zweckdienlichkeit eine der grundsätzlichen sein. Gestell symbolisiert - zumindest in dieser reflektiven Betrachtung - eine grundsätzliche Voraussetzung des Bauens. Eine weitere Überlegung würde danach fragen, wie sich die Verfügbarkeit und Zweckdienlichkeit zeigt. Jedes Gestell ist ein Ding, etwas Seiendes, das hergestellt wurde und sich entsprechend den Anforderungen entwickelt hat. So gesehen ist jedes Ge-

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stell auch das Produkt eines Verfah- sich abbilden läßt - ist somit eine rens - eines Herstellens -, einer Tä- Information an den Betrachter über tigkeit, welche die Hellenen mit einen Gegenstand. In der lateinischen Sprache hat das Wort Abbild Techne (τε'χμη) bezeichneten. Das Wesen des Gestelles entfaltet (Bild oder Gebilde) seine Analogie sich aber nicht nur in seiner Art und im Wort figura. Auch in der engliWeise des Aufstellens und Herstel- schen Sprache steht dafür das analolens, sondern auch im übertragenen ge Wort figure beziehungsweise als Sinn als eine Herausforderung, als Adjektiv das Wort figurative. Auffalein „stellen". Wenn etwas „gestellt" lend ist die große semantische Bandwird, so impliziert dieses Stellen ein breite des Wortes: Das lateinische Abringen, ein Abfordern von der Sa- Wort figura bezieht sich sowohl auf che oder dem Gegenstand. In dieser die Bildung, die Gestaltung, die Beneuen, übertragenen sprachlichen schaffenheit, die Art, die Form, die Definition ist Gestell ein Hinweis auf Gestalt, die Schönheit, das Gebilde, einen Prozeß, der sich im Verfahren das Bild, aber ebenso im philosophideklariert. Das Entstehen des Ge- schen Sinn auf das Urbild oder die stelles ist zum einen abhängig von Idee. Allen Begriffen gemeinsam ist seinem Zweck (Kausalität und Fina- die Idee der Mitteilung in einem phylität), aber auch durch das Bedingen sischen und ästhetischen Sinn, weselbst. Bedingen wiederum ist der niger in seiner literarischen Bedeueigenständige Weg der Notwendig- tung. Fragt man nach Objekten und keit, etwas Notwendiges zu entber- Gegenständen, die sich mitteilen gen. Das Gestell zeigt sich in seinem wollen, so fragt man nach deren Dualismus einerseits als Verfügbar- Form. Jeder dreidimensionale Gekeit (als dienendes Instrumentari- genstand hat eine Form, ob länglich um) und andererseits als etwas Be- oder gedrungen, hoch oder niedrig. dingendes (als fordernde Notwen- Allein aber die Form besagt noch nichts über die spezifische Art und digkeit).10 Bei den Fragen nach den architekto- Weise, wie diese Form sich darstellt. nischen Prinzipien als Ursprung der Das Darstellende der Form äußert Baukunst sind wir von Boettichers sich in seiner Gestalt, jener spezifiWerkform und Kunstform als das schen Gestaltung, die den Willen eiwerkliche Körperschema ausgegan- nes Gestalters voraussetzen läßt. gen und letztendlich bei dem Gestell Gestalt ist somit verbunden mit eiangekommen. Offen bleibt eine Fra- ner willentlichen Aussage über die ge, wie sich im Hinblick auf die ar- Form eines Gegenstandes. Sofern es chitektonische Form das Gestell ma- einen möglichen Zusammenhang nifestiert. Wenn sich im Gestell das zwischen Wille und Gestalt gibt, so Wesen der Technik äußert, so läßt müßte man fragen, wie Gestaltung sich fragen, worin sich das Wesen sich in Gestalt manifestiert. Man kann davon ausgehen, daß sich ein der Form mitteilt. Eingangs wurde die Werkform und Kunstwerk durch sein Abbild in die Kunstform als Dualismus vorge- Form seiner Gestalt mitteilt. Gestalt stellt, der seine Synthese im Kunst- ist somit die Mitteilung eines Prozeswerk findet. Der Kunstform kommt ses der Gestaltung als Ausdruck des somit eine Eigenschaft zu, die mit Willens, einen Gegenstand in seiner der Werkform eine inhaltliche Ein- Form existent zu machen. Einen Geheit bilden kann und sich im Kunst- genstand in seiner Gestalt zu entwerk mitteilt. Diese Mitteilung wirkt wickeln bedingt zwei Faktoren: die in der bildenden Kunst als Abbild. Möglichkeiten, welche der GegenDas Abbild - das heißt das Bild, das stand in sich birgt, und die Möglich-

Abb. 21: Ernst Lichtblau, Entwurf und Ausführung eines Samowars, vor 1924

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Abb. 22: Emst Lichtblau, Leinendruck, 1915

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keit, welche der Gegenstand in sich aufnimmt. Ersteres könnte man als die Eigenschaft (Qualität) bezeichnen und zweiteres als die Fähigkeit (Potentialität). Gestaltung versucht aus der Eigenschaft und der Fähigkeit eines Gegenstandes eine Gestalt zu entwickeln, wobei sich die Frage stellt, unter welchen Prämissen sich Eigenschaften und Fähigkeit entfalten sollen. Die Eigenschaften eines Gegenstandes begründen sich vornehmlich in seinem Material. Das Material ist in seiner ursprünglichen Bedeutung eigentlich der „Mutterstoff' (materia-mater), dasjenige, woraus etwas anderes entsteht. Material verbindet sich gedanklich mit dem Begriff der Materie und der Quelle, dem Ursprung. Im übertragenen Sinne führt der Begriff weiter zur „Anlage" oder zum „Talent". Somit antwortet das Material eines Gegenstandes mit der Eigenschaft, welche der Anlage und dem Talent entspricht. Die Eigenschaften von Holz sind andere als diejenigen von Stein oder Glas. Um die Eigenschaften der Materie wirken zu lassen und in ihrer ursprünglichen Bedeutung existent werden zu lassen, dazu braucht es nicht den Begriff der Gestalt, denn der Wille der Gestaltung beruht mehr auf der Fähigkeit des Gegenstandes als auf der der Eigenschaft. Die Eigenschaft ist vergleichbar mit dem einzelnen Buchstaben einer Schrift oder der einzelnen Note einer Musik. Obwohl beide eine Qualität an sich haben, so sagt erst die Verwendung im Zusammenhang etwas über deren Fähigkeit aus. Ähnlich ist es mit dem Material: Die Qualität sagt noch nichts über die möglichen Fähigkeiten im Zusammenhang. Erst der Zusammenhang bringt die Fähigkeit zur Entfaltung - und zwar durch die Gestaltung in der Gestalt. In der Freiheit, die Fähigkeit des Materials zu interpretieren und zu gestalten, liegt die Möglichkeit der Ge-

stalt: die Haltung auszudrücken, derer sich der Gestaltungswille bemächtigt. Eine „Gestalt annehmen" bedeutet etwas anderes, als eine „andere Gestalt bekommen". In der Vielfalt der Gestaltung liegt somit jener Wesenszug begründet, der in seiner sichtbaren Physis Bedeutung vermittelt. Das Vermitteln in seiner wahren und gewollten Bedeutung ist folglich das Qualitätsmerkmal der Gestalt, sich in der Architektur auszudrücken: Das Gestell teilt sich durch die Gestalt mit. Ein Blick auf die ästhetischen Betrachtungen zeigt die Vielfalt und heterogenen Interpretationen in den letzten einhundert Jahren. Die Moderne, die ursprünglich als Wegbereiter einer neuen Zeit gegolten hatte, wurde abgelöst von einem Zweifel am permanenten Fortschritt in der Form des historizierenden Postmodernismus, der seine Legitimation in den Konventionen der Form und der Gestalt begründete. Mit der Skepsis gegenüber dem vielbemühten Zitat war gleichzeitig die Fragestellung gegenüber der Moderne wieder relevant und führte - zumindest historisch gesehen - wieder zu einer verstärkten Erforschung der ursprünglich ahistorischen Moderne. Gemeinsam mit dem ahistorischen Postulat der Moderne wurde der Verlust der „Selbstverständlichkeit" zum neuen Maßstab. Sowohl gegenüber dem Begriff der Gestalt als auch gegenüber dem Begriff des Inhaltes wurde mit einer Radikalität vorgegangen, so daß konventionelle Zuordnungen unmöglich erscheinen. Theodor Adorno schreibt sinngemäß in seiner unvollendeten und im Nachlaß herausgegebenen Ästhetischen Theorie zur Begriffsabgrenzung der Kunst: „Zur Selbstverständlichkeitwurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht

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einmal ihr Existenzrecht. Die Ein- hen darf. Jene verbindet sich mit buße an reflexionslos oder unpro- Naivität zweiter Potenz, der Ungeblematisch zu Tuendem wird nicht wißheit über das ästhetische Wozu. kompensiert durch die offene Un- Ungewiß, ob Kunst überhaupt noch endlichkeit des möglich Geworde- möglich sei; ob sie, nach ihrer vollnen, der die Reflexion sich gegen- kommenen Emanzipation, nicht ihübersieht. Erweiterung zeigt in re Voraussetzung sich abgegraben vielen Dimensionen sich als und verloren habe. Die Frage entSchrumpfung. Das Meer des nie zündet sich an dem, was sie einmal Geahnten, auf das die revolutionä- war."11 ren Runstbewegungen um 1910 sich Adorno verbindet die unvermeidlihinauswagten, hat nicht das ver- che Lossage der Kunst von der Theohießene abenteuerliche Glück be- logie - vom sogenannten „ungeschieden. Statt dessen hat der da- schmälerten Ausspruch auf die mals ausgelöste Prozeß die Katego- Wahrheit der Erlösung" mit dem rien angefressen, in deren Namen er Hoffnungsprinzip der Kunst, welche begonnen wurde. Mehr stets wurde sie ihrerseits aus dem Autonomiein den Strudel des neu Tabuierten prinzip gewinnen will. So gesehen hineingerissen; allerorten freuten bekommt der sezessionistische Aufdie Künstler weniger sich des neu ruf „Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst gewonnenen Reiches der Freiheit, ihre Freiheit" - als Motto über dem als daß sie sogleich wieder nach vor- Eingang auf dem Kunsthaus der geblicher, kaum je tragfähiger Ord- Wiener Secession (1899) aufgenung trachteten. Denn die absolute bracht - seine volle Bedeutung: die Freiheit in der Kunst, stets noch ei- Freiheit der Kunst ist der Ausdruck nem Partikularen, gerät in Wider- ihrer Zeit. In einer Zeit - und es spruch zum perennierenden Stande handelt sich bei der Wagnerschule von Unfreiheit im Ganzen. In diesem um eben jene Zeit zwischen 1894 ist der Ort der Kunst ungewiß gewor- und 1914 - wurden die Fragen nach den. Die Autonomie, die sie erlangte, der Gestalt wichtiger, weil die Konnachdem sie ihre kultische Funktion ventionen gebrochen und die Leitund deren Nachbilder abschüttelte, bilder verlorengegangen waren. Der zehrte von der Idee der Humanität. Schritt in die Zukunft braucht desSie wurde zerrüttet, je weniger Ge- halb Fragestellungen und keine Antsellschaft zur humanen wurde. In worten. Und gerade diese „Problemder Kunst verblaßten kraft ihres ei- stellungen" sind in der Wagnerschugenen Bewegungsgesetzes die Kon- le im Zusammenhang mit der stituentien, die ihr aus dem Ideal der modernen Großstadt diskutiert worHumanität zugewachsen waren. den. Daß der spätere Internationale Wohl bleibt ihre Autonomie irrevo- Stil aufgrund seiner Funktionaliskabel. Alle Versuche, durch gesell- mus-Aufteilung in Wohnen, Arbeischaftliche Funktion der Kunst zu- ten, Freizeit und Verkehr tendenziell rückzuerstatten, woran sie zweifelt antiurban war, schmälert in keiner und woran zu zweifeln sie aus- Weise die Bedeutung der Großstadtdrückt, sind gescheitert. Aber ihre architektur der Wagnerschule. Der Autonomie beginnt, ein Moment von Doppelcharakter der Architektur als Blindheit hervorzukehren. Es eigne- kunstautonom im konzeptuellen te der Kunst von j e; im Zeitalter ihrer Sinn und als fait social im Hinblick Emanzipation überschattet es jedes auf ihren Dialog mit der Realität teilt andere, trotz, wenn nicht wegen der sich wiederholt in ihrem Form- und Unnaivität, der sie schon nach He- Gestaltproblem wieder. Um mit gels Einsicht nicht mehr sich entzie- Adorno zu sprechen: „Die ungelö41 I

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sten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschuß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft. Die Spannungsverhältnisse in den Kunstwerken kristallisieren sich rein in diesen und treffen durch ihre Emanzipation von der faktischen Fassade des Auswendigen das reale Wesen."12 Fragen der Gestalt eröffnen die gesamte Bandbreite der ästhetischen Rezeptionsdiskussion. In der vorliegenden Untersuchung ist jedoch nicht die historische Frage über die unterschiedliche Bedeutung des Ästhetikbegriffes relevant - Baumgarten, Kant, Hegel und Schelling -, sondern unter dem Verzicht auf den Begriff der Ästhetik soll der Zusammenhang zwischen Gestell und Gestalt in der Architektur als eine Relation von fundamentaler Bedeutung gesehen werden, in der sich die Wahrheit der Architektur in ihrer Zeit selbst erkennen läßt. Der Gestaltungsfrage kommt keine a priori ästhetische Wertung zu, sondern eine phänomenologische Bedeutung. Sohin gilt mit Einschränkung der Hinweis von Adorno, daß es nicht Sache der Ästhetik sei, ihren Widerspruch auszulösen. „Während der Versuch von Ästhetik heute die Kritik ihrer allgemeinen Prinzipien und Normen als bindend voraussetzt, muß er notwendig selbst im Medium des Allgemeinen sich halten. Den Widerspruch wegzuschaffen steht nicht bei der Ästhetik. Sie muß ihn auf sich nehmen und reflektieren, dem theoretischen Bedürfnis folgend, das Kunst im Zeitalter ihrer Reflexion kategorisch anmeldet. Die Nötigung zu solcher Allgemeinheit legitimiert aber keine positive Invariantenlehre. In den zwangsläufig allgemeinen Bestimmungen fassen die Resultate des geschichtlichen Prozesses sich zusammen, eine ari-

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stotelische Sprachfigur variierend: was Kunst war. Die allgemeinen Bestimmungen von Kunst sind die dessen, wozu sie wurde. Die historische Situation, irr geworden an der Raison d'être von Kunst überhaupt, tastet rückwärts schauend nach dem Begriff von Kunst, die retrospektiv zu etwas wie Einheit zusammenschließt. Diese ist nicht abstrakt, sondern die Entfaltung der Kunst zu ihrem eigenen Begriff. Allerorten setzt darum die Theorie als ihre eigene Bindung, nicht als Beleg und Beispiel konkrete Analysen voraus. Zur geschichtlichen Wendung ins Allgemeine war bereits Benjamin, der philosophisch die Versenkung in konkrete Kunstwerke ins Extrem gesteigert hatte, in der Reproduktionstheorie veranlaßt."13 Im begrifflichen Denken des 19. Jahrhunderts war die Beliebigkeit und Verfügbarkeit aller Stile in Form des Historizismus noch nicht mit dem abstrakten Begriff wie dem der Reproduktionstheorie von Walter Benjamin verbunden. Inhaltliche Hinweise gäbe es zur Genüge, wollte man die moralisch-sittlichen Werte eines John Ruskin für die Legitimation einer „stilistischen Interpretation" bemühen. Allein aber der primäre Actus humanus der bildenden Kunst, einen Kommentar zur menschlichen Existenz zu geben, suggeriert die fragwürdige Haltung einer reproduktiven Kunstauffassung, bei der das Ineinandergreifen von existierenden Stilelementen und konventionalisierten Verknüpfungsoperationen im Sinne einer Grammatik die künstlerische Leistung auf ein Auswahlverfahren reduzieren. Die aktiven Künstler in Wien um 1900 waren sich dieser reduzierten Aktionsfreiheit bewußt und hatten deshalb mit der Secession ab 1899 ihre Position jenseits des „Künstlerhauses" definiert. Zeit, Kunst und Freiheit werden dabei als untereinander abhängige

Faktoren gesehen, wobei die Existenz der Kunst und folglich auch die der Architektur in ihrem Zeitbezug und an ihrem Freiheitsgrad gemessen wird. Spätestens seit diesem sezessionistischen Postulat gibt es eine „unzeitgemäße" und „zeitgemäße" Kunst. Vermittelt wird diese Haltung mittels der Gestalt. So findet über diesen Weg die Frage der relevanten neuen Gestaltung wieder Eingang in die Kunstdiskussion. Aus diesem Umfeld der Wiener Secession und der Wagnerschule kommend, formuliert Ernst Lichtblau zirka zwanzig Jahre später einen sehr bemerkenswerten Artikel mit dem Titel „Ästhetik aus dem Geiste der Wirtschaft". 14 Als Zusammenfassung gibt Lichtblau folgende Antwort: „Vielleicht gelingt es, durch Anpassung des Künstlers an die ökonomischen Forderungen unserer Zeit eine Formästhetik zu schaffen, die geeignet wäre, einen Stil aus dem Geiste der Wirtschaft herauszuführen; denn nicht so sehr um die Schöpfung immer neuer Formenreize ist es uns zu tun, als um Züge, die vom wahren Zustand der Dinge anregend zu erzählen wissen." 15 Sowohl der Zeitbezug als auch die Freiheitsgrade der Gestaltung werden in diesem Artikel angesprochen. Und der „wahre Zustand der Dinge" ist schließlich jenes Kriterium, welches eingangs als reziproker Wert zwischen Gestell und Gestalt besprochen wurde. Der Dualismus zwischen Gestell und Gestalt ist historisch gesprochen über die Jahrhunderte Ausdruck konvergierender und divergierender Interpretationen im Hinblick auf die gegenseitige Abhängigkeit von Formalem und Konstruktivem. Zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten scheint über eine kurze Dauer die Vorstellung eines Gleichklanges zwischen Gestell und Gestalt möglich zu sein, nämlich dann, wenn die divergie-

renden beziehungsweise konvergierenden Interpretationen sich derartig überlagern, daß sie sich in ihrem Verständnis ergänzen. Während circa zehn Jahren zwischen 1897 und 1907 kann die Wagnerschule als ein Beispiel dieser inneren Kohärenz angesehen werden. Für die Schüler und Studenten war diese künstlerische Erfahrung ein Auftakt dieses Gleichklanges, mit zeitgemäßen Mitteln neu gestalterisch zu interpretieren. Im Gegensatz zu einer Interpretation der modernen Architektur, die ihre Legitimation gerne aus der funktional-konstruktiven Ingenieurbaukunst ableitete und somit das konventionelle Selbstverständnis der Moderne manifestierte, gibt es ergänzend zu „Eiffelturm" und „Maschinenhalle" eine Fragestellung, welche die Moderne zurückführt auf eine neue Interpretation des Alltages und eine neue Interpretation des Selbstverständnisses des Menschen, resultierend aus den Dingen und Sachen, welche sein Leben und Sein bestimmen. Umschreibt man das Leben als das Sein mit den Dingen, so entsteht eine Subjekt-Objekt-Beziehung, bei der die Wahrheit sowohl von den Objekten als auch von der handelnden Person selbst ausgeht. Ein Sein mit den Dingen reflektiert demnach die Wirklichkeit durch das Objekt der Sache als ein Träger der Wahrheit. Somit kategorisiert man die Sache als einen Wahrheitsträger, dem seine inhaltliche Beliebigkeit nicht nur abgesprochen wird, sondern von dem geradezu umgekehrt eine wahrhafte Repräsentation der Sache gefordert wird. In dieser Forderung liegt nicht nur die Bekenntnis zur wahren Form, sondern auch die sachliche Begründung, in ihr zum Ursprung der Sache selbst zu finden. Diese Versachlichung hat in der Architektur eine inhaltliche Parallele in der „neuen Sachlichkeit", welche als In-

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Abb. 23: Ernst Lichtblau, Liegestuhl mit verstellbarer Rückenlehne und loser Fußbank, um 1934 Abb. 24: Ernst Lichtblau, Sessel und Lampe für die Wohnung Dr. Rübner, vor 1933 Abb. 25: Ernst Lichtblau, Stahlrohrstuhl, um 1930

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terpretation der Wirklichkeit versuchte, diese Innenbeziehungen darzulegen - ohne einem eindimensionalen Modernismus zu huldigen. Vom Anspruch her komplexer und vielschichtiger erfordert die Sachlichkeit ein Überdenken der Relationen (engl, relations) und Relokationen (eng. relocations) zwischen Objekt und Beniitzer. Rückblickend auf die Entwicklung der Wagner-Schüler und Ernst Lichtblau lassen sich die architekturtheoretischen Grundhaltungen dieser Projekte und Bauten mit folgender Begrifflichkeit skizzieren. Bei dem Versuch, sich der historizistischen Wiederholung zu entziehen und sich zumindest metaphorisch ihrer zu „entkleiden", wurde eine Reihe von ahistorischen Paradigmen gewählt, um vom Grundsatz her neu beginnen zu können: Diese Vorgangsweise war zum einen die formale Abstraktion und Geometrisierung, zum anderen die Analogie und formale Adaptierung naturnaher vegitabiler oder kristalliner Strukturen. Einer dieser in Kristallutopien denkender Architekt wie Wenzel Hablik wollte das Wort „bauen" durch das Wort „kristallisieren" ersetzt wissen.16 Die klassische moderne Architektur im Sinne der Bauhaus-Interpretation und des Internationalen Stils beschreibt die Architektur mittels der stereometrischen Körperhaftigkeit nicht als Antologie der reinen Formen (Le Corbusier, Kreis, Quadrat, Dreieck bzw. Kugel, Würfel, Pyramide), sondern als eine Gleichsetzung von geometrischer Form und Fortschritt. Alle differenzierten Zwischentöne - vom russischen Konstruktivismus bis zur organischen Analogie eines Hugo Häring - wurden als Irritationen eines Dogmas der Moderne weitgehend ignoriert. Architekten wie Ernst Lichtblau, Josef Frank und Rudolf Schindler, welche architektonische „Zwischentö-

ne" nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Bauaufgaben und der Differenzierung zwischen öffentlich und privat akzeptierten, sondern auch wegen ihrer spezifischen Haltung zum Raum an sich Material und Funktion betonten, waren die Opfer eines eindimensionalen Dogmas der Moderne, welches erst in den siebziger Jahren aufgrund der kritischen Auseinandersetzung mit der Moderne und dem Fortschrittsgedanken ihr vorläufiges Ende nahm. Die vielfaltigen Aufgaben, von Möbelentwürfen über Wohnbau bis zur Ausstellungsarchitektur, erforderte einen heterogenen Ansatz, bei dem sowohl das Gestell als auch die Gestalt in Einklang zu bringen waren. Im Werk von Ernst Lichtblau kommt seiner zeitlich sehr frühen affirmativen Haltung zum Werkbundgedanken besondere Bedeutung zu. Lichtblau war 1912 Gründungsmitglied des Österreichischen Werkbundes und führte von 1923 bis 1928 eine eigene Gesellschaft namens „Ernst Lichtblau Werkstätte". Seine zahlreichen Beteiligungen an Ausstellungen des Österreichischen Werkbundes bis hin zu seinem Doppelhaus für die Werkbundausstellung in Wien 1932 begleiten seine architektonische Diskussion. 1940 wird Lichtblau bei der Ausstellung „Good Design" im Museum of Modern Art in New York beteiligt, ganz in der Tradition des Werkbundgedankens, und 1956 begibt sich Lichtblau von den USA aus auf eine Europareise, mit der Absicht, neue europäische Möbel und Haushaltsgegenstände zu recherchieren: "It is a search for form, a continuation of my work along basic lines . . . I will also be concerned with the development of new forms, new concepts in the design of home furnishings, applicances, all kind of household articles. When I come back, I shall have more to say and to show in lectures."17 Im Zusammenhang mit der Werk-

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bundidee gibt es auch zahlreiche Überlagerungen mit der Wiener Werkstätte, beides Institutionen, mit denen Lichtblau eng zusammenarbeitete. Die Vorgeschichte des Werkbundgedankens läßt sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, bis zu den englischen Reformern wie William Morris. Die englische Arts-and-Crafts-Bewegung machte sich die Erneuerung des Handwerkes zur Aufgabe, wie es im Mittelalter seine Blütezeit erlebt hatte. Mit dieser romantischen Geschichtsinterpretation einher ging eine moralisierende Lebenseinstellung, basierend auf Ehrlichkeit und Sauberkeit der handwerklichen Gesinnung. Als Gegenbewegung zur Industrialisierung und Industrieproduktion war die Arts-and-Crafts-Bewegung von der naheliegenden, aber ex post naiven Analogie ausgegangen, daß eine Neubelebung des ehrlichen Handwerkes auch zu einer neuen soziokulturellen Interpretation der Kunst und folglich auch des täglichen Lebens führen würde. Die Gestaltung des täglichen Lebens - oder präziser formuliert -, die zeitbedingte Interpretation dessen, was als zeitgemäße Lebensform gelten soll, war als normativer Auftrag der Architekten und Designer sowohl der Arts-and-Crafts-Bewegung wie auch später der Werkbundmitglieder das oberste Anliegen. Der Deutsche Werkbund, gegründet im Oktober 1907, ist organisationsgeschichtlich Vorbild für den Österreichischen Werkbund, gegründet im Juni 1912.18 Sowohl der Deutsche Werkbund mit seinen aktiven Mitgliedern, unter anderen Hermann Muthesius, Karl Schmidt, Theodor Fischer, Richard Riemerschmid, Hans Poelzig, Heinrich Tessenow, Josef Hoffmann und Henry van de Velde, als auch der Österreichische Werkbund waren durch die heterogenen Einzelpersönlichkeiten geI 46

prägt, in Österreich unter anderem durch Josef Hoffmann, Alfred Roller, Oswald Haerdtl, Josef Frank, Otto Wagner, Oskar Strnad und Ernst Lichtblau. Ernst Lichtblaus Affinität zum Werkbundgedanken zeigt sich sowohl in seiner gestalterischen Haltung als auch in der Zusammenarbeit mit österreichischen Produktionsfirmen - wie Backhausen und Lobmeyr -, die bei Einzelproduktionen und bei Ausstellungsproduktionen als seine Partner tätig waren. Gemeinsam mit den anderen Architekten war Lichtblau der Versuch einer neuen, „zeitgemäßen", und fundierten Formensprache. Die sezessionistische These von der Ranggleichheit der Künste signalisiert nicht nur die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk, sondern enthält auch die Perspektive für eine neue Moderne. Der normative Auftrag, das Leben so zu gestalten, wie es der kulturellen Haltung einer bürgerlichen Oberschicht zu entsprechen habe, entwickelte sich in der klassischen Moderne zu einem Grundthema mit unterschiedlichen Varianten: Von der Gestaltung eines Teesalons durch Charles R. Mackintosh in der Buchanan Street (1897-1898) in Glasgow über die Gestaltung eines Stadtpalais durch Josef Hoffmann für die Familie Stoclet in Brüssel (1905) bis zur Wohnung für das Existenzminimum und der Gestaltung der Frankfurter Küche durch Margarete Schütte-Lihotzky war die Moderne gekennzeichnet durch eine gestaltete Verdinglichung der zeitgemäßen Alltäglichkeit. Die ästhetizierte und beinahe sakralisierte Gestaltung eines Teeraumes oder die rationalisierte und logistisch überprüfte Frankfurter Kleinküche bestätigen einen rationalen Empirismus, der sich sowohl an das Auratische (Teesalon) als auch an das Asketische (Kleinküche) wendet. Die Entwicklung der modernen Ar-

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chitektur in Österreich ist durch eine Verwirklichung von traditionellen Formen und einem umfangreichen ästhetischen Experimentieren charakterisiert. Beide Positionen stehen sich scheinbar diametral gegenüber, erklären aber auch den schwierigen und zum Teil unmöglichen Versuch, eine lineare strategische Koheränz in der österreichischen Moderne und speziell in der österreichischen modernen Architektur zu finden. Die gestalterische Vielfalt widerspricht sehr oft konzeptuellen Grundsätzen, und die komplexe Situation des Österreichischen Werkbundes reflektiert diese Dichotomie. Insofern, als Lichtblau als Architekt an der kulturellen Vielfalt teilnimmt - und respektive diese Vielfalt selbst in seinen Arbeiten perpetuiert -, dokumentiert sich in seinem Werk die spezifisch atmosphärische Qualität, welche sowohl ihre Umgebung inhaliert als auch partiell umgestaltet. In dieser transitori-

schen Haltung liegt ein Teil jener Eigenschaft begründet, die aus der Dualität zwischen Gestell-Sein und Gestalt-Werden resultiert. Das Prinzip der Konstruktion - als Gestell-Sein - sieht sich durch die flächenhafte und körperhafte Ästhetik der Primärformen - im GestaltWerden - relativiert. In der Wagnerschule waren beide Prinzipien parallel vorhanden und gereichten dem jeweiligen Bautypus seine funktionelle Form. Die Vielfalt innerhalb der Architektur wird durch das unterschiedliche Gestalt-Werden demonstriert: die gestalterischen Möglichkeiten eines Gewebes (fabric), zum Beispiel eines Vorhangstoffes, sind deshalb unendlich vielfältiger als die gestalterischen Möglichkeiten eines Sessels. Daß sich beide jedoch als „zeitgemäße" Interpretation des menschlichen Alltags verstanden wissen wollten, war das Verständnis im Werk von Ernst Lichtblau.

Abb. 26: Ernst Lichtblau, Lampe, um 1923

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Über den wahren Zustand der Dinge

Abb. 27: Ernst Lichtblau, Wiener Wohnraum Sitzecke und Schreibtisch, um 1955

Abb. 29: Ernst Lichtblau, Schlafzimmer für die Wohnung Dr. Rübner, vor 1933

Abb. 28: Ernst Lichtblau, Armlehnstuhl und Stuhl für die Wohnung Dr. Rübner, vor 1935

Kapitel 3

ÜBER DEN WAHREN ZUSTAND DER DINGE DER NEUE ALLTAG: WERK UND WIRRLICHREITEN

Prüfen wir einmal kühl und sachlich, wozu denn heute die technische Methode dient. Diese Rechenschaft schulden wir nicht nur der Zukunft, sondern vielleicht mehr noch der Vergangenheit, denn die Methode hat ihre Ursprünge in den gotischen Kathedralen und in den geistigen Architekturen glaubender Philosophie. Wir müssen von ihren Ursprüngen verantworten, was wir mit ihr begannen und was sie unter unsern Händen wurde, vor ihrer Zukunft, ob wir sie auf dem rechten Wege hielten. Dabei ist es wohl nicht so sehr wichtig, ob wir die Maschinen recht benutzt haben; das kann man ja bessern, wenn es etwa versehen wurde. Viel eindringlicher ist die Prüfung, was sie wurden und sind, welches ihre letzten Inhalte sind und welches ihre „Früchte", das heißt: welchen Sinn sie produzierend erzeugen, welches Leben von ihnen ausgeht, was durch sie fortgesetzt wird. Man muß sie also ernsthaft nehmen als Dinge, die sind und in ihrem Sein Symbol sind für unser eigenes Leben; als Erscheinungen der Geschichte. Erscheinungsein heißt bedeutend sein und seiend bedeuten. Im Ereignis selbst wird die Verborgenheit der Handelnden und Schaffenden offenkundig, es ist das Gericht. Sieht man die Werke so, dann zerfallen angenehme Täuschungen. Vorab die große und ohne Einspruch geglaubte Illusion, die Maschinen seien an sich harmlos und ohne Wesen, „indifferent", wie man sagt, und wenn ihre Früchte schlecht seien, so komme das von ihrer schlechten Verwendung. Indifferent war noch niemals ein wirkliches Werk; denn das kann nur entstehen, wenn Geist und Hand einen Stoff berühren; indifferent kann höchstens ein Beobachter sein, dem es an den Unterscheidungen fehlt. Erwachsen die Werke doch aus einem doppelten Wunsch zu werden: Im Werk größer zu werden durch das Dasein in bedeutenden Formen und über das Werk hinaus durch das höhere Leben, das so erst ermöglicht wurde. Die nötige Prüfung der Maschine wird sich also auf beides erstrecken müssen, auf das immanente Dasein im sinnvollen Werk und auf das transzendente, vermittelte und ermöglichte Leben. Dabei ist dieses letztere meist wohl das höhere; es kann aber auch einmal umgekehrt sein. Jedenfalls ist beides zu beachten. Rudolf Schwarz, „Werk in Not"

Die Ausstellungen, Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts zeigen w e d e r eine h o m o g e n e noch eine lineare Interpretation einer „Moderne" an sich. 1 Modern zu sein war zunächst eine Intention in der Negation zu allem historischen, zum Status quo. Modern war die konzeptionelle Zukunft, das n e u e Werden einer größtenteils städtischen Zivilisation, w e l c h e die Leistungsfähigkeit der traditionellen Kunstpraxis und Architekturhaltung anzweifelte. Modern zu sein war ein implizierter und explizierter Aufruf, die n e u e Realität

anzuerkennen und in ihrer Faktizität zu akzeptieren. Gleichzeitig war mit d e m Aufruf zur Moderne die Versprechung verbunden, die gegeben e n Unzulänglichkeiten i m besteh e n d e n Gesellschaftssystem zu verändern. Somit war dieser Weg zur Moderne gleichzusetzen mit e i n e m Kreuzzug g e g e n die ü b e r k o m m e n e n Konventionen - als Erlösung aus der sinnentleerten, toten Repetition historisierender Stilhülsen und - letztendlich überkommenen gesellschaftlichen Verhaltensformen. Das Comme il faut der bürgerlichen Gesellschaft zu Ende des 19. Jahrhun-

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Abb. 50: Ernst Lichtblau, Gestaltung der Weihnachtsschau im Künstlerhaus: Atrium und Wintergarten, 1929 Abb. 51: Ernst Lichtblau, Gestaltung der Weihnachtsschau im Künstlerhaus: Atrium und Wintergarten, 1929

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derts war geprägt vom romantischen Idealismus, der zu einem pervertierten Klischee des schönen Scheines reduziert worden war. Die Situation der europäischen Großstädte wie Berlin und Wien war einerseits gekennzeichnet durch Mietskasernen und Hinterhöfe, Bettgeher und Taglöhner, und andererseits durch die Alleen und Parks der großbürgerlichen Wohnsituation. Die Moderne hatte es sich programmatisch zur Aufgabe gemacht, zwischen diesen Extremen nicht nur zu vermitteln, sondern die gegebene Realität durch planerische und gestalterische Handlungen zu verbessern. Dem Mikrokosmos der Moderne entspricht deshalb der „neue Alltag" für den Durchschnittsbewohner, der in dem Makrokosmos Stadt seine alltägliche Existenz gefunden hatte. So ist es nicht zufällig, daß die Moderne zwischen den Polen Stadtplanung und Wohnbau zu vermitteln versucht, um hier sowohl bei der kleinsten Einheit, der Wohnung, als auch bei der Gesamtstruktur, der Stadt, eine Veränderung hervorzurufen. Die unterschiedlichen Programme und Manifeste von Henry van de Velde, Hans Poelzig, Adolf Loos, Hermann Muthesius, Walter Gropius, Hugo Häring, Le Corbusier, Hannes Mayer und Paul Scheerbart - und anderen - versuchen trotz ihrer Unterschiedlichkeit und Heterogenität tendenziell den Weg in eine neue, moderne - und idealistisch bessere Welt zu führen. Diese Affirmation des Zukünftigen gilt es im neuen Alltag ideologisch zu integrieren und baulich-gestalterisch zu realisieren. 2 Ausstellungen sind - in einer möglichen ideologischen Interpretation Vorbilder für zukünftige Konventionen. Eine Ausstellung stellt aus, indem sie eine Position oder Positionen darstellt und öffentlich zugänglich macht. „Ausgestellt sein" hat nicht nur den Charakter des medial

Vermarktbaren, sondern hat auch den Nimbus des schutzlosen Allgegenwärtigen. Die ausgestellten Objekte und Gegenstände können sich einer Vereinnahmung durch das Publikum nicht verwehren, gleichzeitig bedrängen sie durch die öffentliche Diskussion die konventionelle Meinung. Somit fungiert die Ausstellung als ein Vermittler zwischen dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen. Niemand anderer als die Protagonisten der Moderne hat die mediale Wirkung von Ausstellungen so gekonnt und zielgerichtet eingesetzt. In den Ausstellungen wurden labormäßig alle jene Ideen und Vorstellungen exemplarisch aufgezeigt, die als zukünftige Realität anzusehen waren. Der theoretische Unterbau, den die wichtigen Ausstellungen vermitteln sollten, war gedacht als Plattform für die individuelle und spezifische Interpretation im einzelnen. Der normative Charakter der Modernen manifestierte sich in jeder ihrer Ausstellungen. In Wien trägt die Secession, das Vorbild eines Ausstellungstempels per se, nicht nur eine sakrale Symbolik aufgrund der Dreischiffigkeit seiner Innenraumanlage, sondern auch durch den vergoldeten kuppelartigen Dachaufsatz aus einem vergitabilen Metallgeflecht sowie dem Eingang, geschmückt mit dem Motto „Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit". Wenige Ausstellungshäuser sind direkter, unverblümter in ihrem Anspruch des künstlerischen hic et nunc: die Aufforderung zum künstlerischen Ungehorsam ist hier gleichermaßen in Stein gehauen. Der romantische Artikel von Hermann Bahr, „Die Moderne", veröffentlicht im Januar 1890 in Wien, kann als weiterer Hinweis für die Aufforderung zur Suche nach der Wahrheit gesehen werden. 3 In der Tat kann man in der Moderne den Versuch sehen, eine neue, richtige und wahre Relation zwischen dem

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größeren Projekt der sozialpolitischen „Modernisierung" und der künstlerisch-intellektuellen „Formgebung" zu suchen. Übertragen auf den Bereich des Wohnens wird mit dem Konzept der neuen Wohnkultur jene Haltung beschrieben, welche durch ihre Sachlichkeit am ehesten geeignet war, diese neue Relation zwischen Leben und Form zu definieren. Wohnkultur repräsentiert somit eine wünschenswerte Wertvorstellung, deren Realisierung im Rahmen der Ausstellungen dokumentiert werden sollte. Das Konzept der modernen Wohnkultur als Ausdruck der Sachlichkeit im Umgang mit Materialien und Formen deckt sich ideologisch mit den Vorstellungen jener intellektuellen Organisationen wie dem Werkbund und seinen Mitgliedern. Die eigentliche Geburtskunde des Deutschen Werkbundes war die „Dritte Deutsche Kunstgewerbe-Ausstellung, Dresden 1906". Überlegungen, einen Bund von Künstlern und hochqualifizierten Vertretern von Gewerbe und Industrie zusammenzubringen, führte im Oktober 1907 zur Gründung des Deutschen Werkbundes. Obwohl Hermann Muthesius einer der Anreger zu dieser Gründung war, gehörte er nicht zu den Gründungsmitgliedern. Die zentralen Probleme des Werkbundes gehörten zum selben phänomenologischen Bereich, den Hermann Bahr in seinem Manifest über die Moderne beschrieben hatte. Richard Riemerschmid, eine weitere wichtige Figur der Werkbundbewegung, hat ebenso wie Muthesius die neue Identität der Moderne in der sachlichen Form gesehen. Muthesius schreibt in den Werkbundzielen dazu wie folgt: „Der Form wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, muß die fundamentale Aufgabe unserer Zeit, muß der Inhalt namentlich jeder künstlerischen Reformarbeit sein, um die es sich heute handeln kann . . . Denn die architek-

tonische Kultur ist und bleibt der eigentliche Gradmesser für die Kultur eines Volkes überhaupt. . . . Kultur ist ohne eine bedingungslose Schätzung der Form nicht denkbar, und Formlosigkeit ist gleichbedeutend mit Unkultur. Die Form ist in demselben Maß ein höheres geistiges Bedürfnis, wie die körperliche Reinlichkeit ein höheres leibliches Bedürfnis ist. Dem wirklich kultivierten Menschen bereiten Roheiten der Form fast körperliche Schmerzen, er hat ihnen gegenüber dasselbe Unbehagen, das ihm Schmutz und schlechter Geruch verursachen." 4 Ähnlich hat Fritz Schumacher anläßlich seiner ersten Ansprache gegenüber den versammelten Mitgliedern das Ziel des Werkbundes definiert und im Titel seiner Rede „Die Wiedereroberung harmonischer Kultur" implizit eine Zusammenfassung gegeben. Das Handwerk, und im übertragenen Sinn das Kunsthandwerk, sollten gemeinsam mit der Architektur dazu beitragen, diese neue harmonische Kultur zu ermöglichen. Im Alltag sollte sich diese harmonische Kultur darstellen, und zwar in Form von alltäglichen Gebrauchsgegenständen, Möbeln und dem Haus selbst: und genau diese Gegenstände wurden in den Ausstellungen des Kunstgewerbemuseums in Wien, dem Künstlerhaus und auf der Wiener Werkbundausstellung 1950 und auf der Werkbundsiedlung in Wien 1932 gezeigt. Ernst Lichtblau war als Gründungsmitglied des Werkbundes zu diesen Ausstellungen eingeladen, dessen Mitglieder in Österreich sich aus unterschiedlichen Positionen und Auffassungen zusammensetzten. Francesco Dal Co beschreibt in seinem Artikel über die „Kulturelle Tradition des Werkbundes" den „weimarischen Traum" als ein Kernstück der kulturpolitischen Haltung des Deutschen Werkbundes. Sein Argument ist aber abstrakt genug, um

Abb. Ober Abb. Ober

32: Josef Olbrich, Villa Hermann Bahr, St. Veit, ca. 1900 33: Josef Olbrich, Villa Hermann Bahr, St. Veit, ca. 1900

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auch als eine Parallele zum Österreichischen Werkbund gelten zu können 3 : "This 'Weimarian' dream became the core of the activity of the Werkbund, which strove from 1907 onward to build a bridge between life's 'shores that cannot be joined' an image looked by Thomas Mann in his 'Thoughts on the War' when he said, that 'politics fall within the province of reason, democraty, and civilization; morality, on the other hand, within that of cultur and the soul'. To bring these two distant banks together by drying up the stream running between them was the Werkbund's goal, the objective whereby they hoped to reunite the products of art harmoniously with political goals by smoothing down their respective rough edged in the name of a higher 'public interest'. This latter concept, however, is always, as Carl Schmitt tells us, 'in some way political, since nothing that in its essence concerns the state can ever really be depoliticized. The flight from politics is a flight from the state. And nobody can say where this flight will end and touch ground again.' This remark sheds light on the not always perceptible nature of the fundamental contradiction behind the troublesome coexistence of differences, which the Werkbund attemped to ensure." Im Unterschied zum Deutschen Werkbund, der sich aus einem kleinen Kreis von Künstlern und Mäzenen entwickelt hatte, war der Österreichische Werkbund von Beginn an offiziell politisch abgestützt.6 Die 178 Gründungsmitglieder des Österreichischen Werkbundes bei ihrer konstituierenden Sitzung im Juni 1912 verfolgten ideologisch jene Architekturhaltung, die im Deutschen Werkbund als „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk" beschrieben wurden und die in Österreich durch Adolf Vetter, dem Direktor des k. k. Gewer-

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beförderungsamtes, größtenteils ihre inhaltliche Formulierung erhielt. Als kultureller Aufbruch zu einer neuen Orientierung verstand sich der Werkbundgedanke, wurde aber seit seiner Gründung von Adolf Loos mit heftiger Polemik bekämpft: „güte der arbeit, Schaffung des stiles unserer zeit . . . Die ziele sind gut. Aber gerade der deutsche Werkbund wird sie nie erreichen." 7 Zu den österreichischen Gründungsmitgliedern des Werkbundes zählten neben dem Kreis der Wiener Sezession und der Wiener Werkstätte Künstler wie Ferdinand Andri, Franz Barwig, Max Benirschke, Remigus Geyling, Josef Hoffmann, Gustav Klimt, Carl Krenek, Robert Oerley, Koloman Moser, Michael Powolny, Otto Prutscher, Otto Wagner und Fritz Wärndorfer, eine Zahl junger Künstler und Architekten, wie Josef Frank, Hugo George, Ernst Lichtblau, Dagobert Peche und Eduard Josef Wimmer.8 Die Ausstellungstätigkeit des Österreichischen Werkbundes war eng mit den Aktivitäten des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie verknüpft. In der auratischen Umgebung der Museumsräume wurde die neue Wohnkultur als der neue Alltag präsentiert, wobei die Präsentation durch das Museum als zusätzliche künstlerische Nobilitierung und Qualitätsauszeichnung angesehen werden kann. Der Mikrokosmos der Ausstellung simuliert den Makrokosmos des weltlichen Alltages oder zumindest dessen wünschenswerte künstlerische Realisierung. Ausstellungsarchitektur war für Ernst Lichtblau ein Teil der realen Welt. Seine umfangreiche Beteiligung an Ausstellungen und seine Ausstellungsgestaltung dokumentieren diese Arbeiten über 40 Jahre. Ein Überblick über seine Ausstellungstätigkeit zeigt seine konsequente Haltung:

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1910 Teilnahme an der Werkbundausstellung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie; 1912 Teilnahme an der Frühjahrsausstellung des Österreichischen Runstgewerbes; 1913 Teilnahme an der Ausstellung der österreichischen Tapeten- und Linoleumindustrie im Museum für Kunst und Industrie; 1914 Teilnahme an einer Kunstausstellung für eine Gartengestaltung; 1919 Teilnahme an der kunstgewerblichen Ausstellung nach Kriegsschluß; 1923 Teilnahme an der Ausstellung „Arbeiten des modernen österreichischen Kunsthandwerks" im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie sowie die Teilnahme an der Werkbund-Ausstellung „Die Form" in Stuttgart; Mitte der zwanziger Jahre Teilnahme an einer internationalen kunstgewerblichen Ausstellung in Paris (ausgezeichnet mit der Goldenen Medaille, Quelle: Handschriftensammlung der Stadt Wien, ohne nähere Angaben); 1926 Teilnahme an der Hygiene-Ausstellung, 1927 Teilnahme an der KunstgewerbeAusstellung in Essen; 1927 Teilnahme an der Entwurfsausstellung des Österreichischen Museums; 1928 Teilnahme an der Ausstellung „Wien und die Wiener"; 1929 Teilnahme an der Ausstellung im Künstlerhaus in Wien; 1929 Teilnahme an der Ausstellung „Österreich auf der internationalen Architektur-Ausstellung" in Paris; 1929 Teilnahme an der Ausstellung „Wiener Raumkünstler" (Einwohnraum) im Museum für Kunst und Industrie; 1930 Teilnahme an der großen Werkbundausstellung in Wien im Museum für Kunst und Industrie mit zwei Ausstellungsbeiträgen (Fremdenverkehrspavillon und Musikladen); 1931 Teilnahme an der Ausstellung „Der gute billige Gegenstand", mit einem Schlaf-Wohn-Raum der Volkswohnung; 1931 Teilnahme an der Internationalen Raumausstellung in

Köln; 1932 Teilnahme an der Wiener Werkbundsiedlung mit zwei Wohnhäusern und der zusätzlichen Einrichtung der Hugo-Häring-Wohnhäuser sowie der Einrichtung der Wohnhäuser von Eugen Wachberger und Arthur Grünberger; 1950 Teilnahme an der Ausstellung „Sculpture 1850-1950" im Museum der Rhode Island School of Design in Providence, USA; 1954 Teilnahme an der Ausstellung „Good Design" im Museum of Modern Art für Merchandise Mart, Chicago. Die erste Beteiligung an einer großen Ausstellung war für Lichtblau der Entwurf für ein Gartenhaus für die Frühjahrsausstellung des österreichischen Kunstgewerbes im Jahr 1912. In einem langen Artikel der Tageszeitung die „Freie Presse" wird im Feuilletonteil ein ausführlicher Bericht über das „Moderne Kunsthandwerk" gegeben. Im Vergleich zu früheren Ausstellungen wird der gegenwärtigen Ausstellung eine positive Rezension erteilt, mit der Anmerkung, daß „man versucht, den natürlichen Gesetzen der Form zu folgen".9 Diese quasifunktionelle Haltung wird von den ausgestellten Objekten aber nur zum Teil erfüllt. „Durchwandert man dagegen eine gute kunstgewerbliche Ausstellung von heute - wie etwa die gegenwärtig vom k. k. Österreichischen Museum veranstaltete -, so ist der Eindruck dennoch ein sehr verschiedener. Übertreibungen und Geschmacklosigkeiten - was so ziemlich das gleiche besagen will, denn der gute Geschmack besteht ja im Maßhalten - sind wohl nicht verschwunden, aber doch in der Minorität. Man ist im allgemeinen davon abgekommen, durch ein in die Augen springendes ,Anders als bisher', durch Extravaganzen und Abnormitäten einen möglichst originellen Zeitstil zu konstruieren, man versucht, den natürlichen Gesetzen der Form zu folgen. Dabei gelangt man

Abb. 34: Ernst Lichtblau, FremdenverkehrsPavillon für die Werkbund-Ausstellung 1930 Abb. 35: Ernst Lichtblau, FremdenverkehrsPavillon für die Werkbund-Ausstellung 1930

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aber ganz von selbst zu Ronstruktions- und Zierformen, wie sie in den historischen Stilarten verwendet worden sind. Ein Freund, durch historische Fachstudien mit den Runstdenkmälern Italiens vertraut, besuchte unlängst eine der renommiertesten Wiener kunstgewerblichen Anstalten und äußerte vor einigen Objekten seine Freude darüber, daß man jetzt wieder anfange, die schönen Motive aus der frühmittelalterlichen, byzantinischen Epoche zu verwenden. Darauf antwortete man etwas gekränkt, es handle sich hier keineswegs um Racheempfindungen; es sei das alles ganz originell und modern. Es scheint also auch auf tiefem Gebiete mutatus mutandis der Goethesche Satz zu gelten: Alles Gescheite ist schon einmal gedacht worden. Man muß nur versuchen, es noch einmal zu deuten. Es scheint eine gewisse und nicht einmal besonders große Anzahl von Formenkomplexen zu geben, die den abendländischen Begriffen von Proportion und Schönheit besonders entsprechen." 10 Die Ausstellung selbst war eine Addition unterschiedlicher Werkkommentare zu den Dingen des Alltags: Möbel, Produktdesign, Gartenarchitektur und - last, not least - ein Gartenpavillon als Metapher für abgeklärte Heiterkeit und verfeinertes Lebensgefühl. Ein Gartenpavillon verkörpert nicht nur die Sehnsucht nach Freiheit, sondern auch nach Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Seit die Gartenpavillons in Form von Tempeln ein Motiv der barocken Gartenanlagen wurden, hatten diese „Follies" (wie sie im Englischen genannt werden) einen Platz in aristokratischen und großbürgerlichen Parkanlagen. In ihrer architektonischen Qualität sind sie vielfach mit der Idee einer „Urhütte" vergleichbar, wobei es darum geht, einen Einraum zu gestalten, dessen architektonische Mittel sich auf Grundele-

mente wie Säule, Bogen, Wand und Öffnungen reduziert. Lichtblau wählte für seinen Gartenpavillon einen quadratischen Grundriß mit einem eingeschriebenen Oktogon als Hauptraum. Die quadratische Hauptform wurde von vier Gruppen aus übereck gestellten Rundbögen begrenzt, die ein zeltförmiges Dach mit einem Laternenaufsatz trugen. Die Eingangsseite wurde von vier Rundbögen betont, während die Seiten nur jeweils zwei Rundbögen erhielten. Typologisch ein kleiner Tempel mit einem oktogonalen Innenraum und einem quadratischen Säulenumgang, nicht unähnlich jenen antiken Vorbildern in den barocken Gartenanlagen. Im Inneren erinnert ein Fußboden mit schwarzweißem Schachbrettmuster an klassische Vorbilder. Erst mit den Möbeln und den kleinen, grazilen Wandeinbauten erfährt der Betrachter etwas über die Nutzung des Gartenpavillons als Teeraum. Sessel, zum Teil mit durchbrochener Holzgitterlehne, eine Sitzgarnitur und eine Rommode sind die einzigen Einrichtungsgegenstände. Die einzelnen hellen Wandflächen sind durch dunkle Bordüren gerahmt, zwei große seitliche Rundbogenfenster bringen Tageslicht in den Raum. Eine szenische Hygiene begleitet den Innenraum, perfekt und geometrisch, eine beinahe transzendente Sinnlichkeit. Das geometrisierte, florale Ornament auf den Stoffbezügen findet seine Ergänzung in dem Blumenornament auf der Wandrestfläche zwischen den Rundbögen. Die Metapher ist eindeutig: Man sitzt in der Blumenwiese, umrankt von einem Blumenhaus, trinkt Tee und führt Ronversation. Englischer - im übertragenen Sinn - kann man sich England in Wien um 1912 nicht vorstellen. Die neue Rultur verlangt Reduktion der Formen und Distanz zur lauten Umwelt. Das neue Leben kann beginnen. Diese verkürzte und

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Abb. 36: Ernst Lichtblau, Garten-Pavillon, 1912

tfJffflWi Abb. 37: Ernst Lichtblau, Garten-Pavillon,

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Abb. 58: Ernst Lichtblau, Garten-Pavillon, 1912

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vereinfachte Interpretation zeigt jedoch einen wesentliche Qualität jeder Ausstellungsarchitektur: Argument und Überzeugung durch Beispiel. Eine Ausstellung des österreichischen Runstgewerbes im Jahr 1912 repräsentierte die Kunstgewerbeproduktion von k. k. Österreich zu einem Zeitpunkt, als Wien Mittelpunkt eines 50-Millionen-Vielvölkerstaates war. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges, spätestens aber nach 1918 waren die institutionellen Träger der Kunstgewerbeausstellungen, die innerhalb des Kulturgefüges der Monarchie gezielte Impulse für eine Erneuerung geben sollten, aus dem verbleibenden „Restösterreich" ideell und materiell ausgeklammert. - Ideell als neue staatliche Grenzen, materiell als Trennung ehemaliger österreichischer Absatzmärkte. Die Wagnerschule, in ihrer Zusammensetzung von Studenten aus allen Kronländern ein Symbol des alten Österreich, verteilt sich mit ihren Schülern auf die „Nachfolgestaaten", um jeweils dort zu arbeiten. Die schwierige Situation des Kunstgewerbes in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg kann anhand der Kunstschau-Ausstellung aus dem Jahr 1920 dokumentiert werden, welche von Josef Hoffmann organisiert wurde und alle Zweige der dekorativen und angewandten Künste umfaßte, mit Arbeiten unter anderem von Josef Hoffmann, Josef Frank und Dagobert Peche. Ernst Lichtblau war bei der Kunstschau 1920 nicht vertreten. Inhaltlich war die Kunstschau von 1920 ein Sammelsurium von formaler Mehrdeutigkeit und gestalterischer Beliebigkeit ohne Bezug auf die Realität des Alltages. Der Kunsthistoriker Hans Tietze kritisierte die unzeitgemäßen kunstgewerblichen Erzeugnisse als „orchideenhafte, seltsame Gebilde, hochgezüchtet,

zweckentbunden, bezaubernd für rein genießende Einstellung". 11 Und das Werkbundmitglied Arthur Roessler, Essayist und Kunstkritiker der sozialdemokratischen „ArbeiterZeitung", schreibt, daß die Produkte kaum mehr einen geistigen Gegenwartswert, „sicherlich aber keinen Zukunftswert" haben. 12 Im Jahr 1920 erforderte die Realität der sozioökonomischen Gegebenheiten keine kapriziösen Phantasieprodukte, sondern pragmatische Vorschläge zur Lösung der Wohnungsnot und der Siedlungsfrage. Die Themen der Ausstellungen in den zwanziger und dreißiger Jahren waren dem neuen Alltag gewidmet und geprägt von der neuen Sachlichkeit der werktätigen Arbeitswelt. Das neue Wohnen in seiner geplanten Rationalität wurde im 20. Jahrhundert endgültig entauratisiert, nachdem das Wohnen im 19. Jahrhundert durch den Historismus des Bürgertums bereits in seiner Authentizität stark getroffen worden war. In der Ersatzwelt des Historismus - als Abbild historischer Größe für den gebildeten Bourgois - zeigt sich bereits der Geschmackspluralismus der Produkt-Design-Konsumwelt des 20. Jahrhunderts. Der Wettbewerb der Warenwelt führt über den Pluralismus der Stilformen unweigerlich zur Beliebigkeit der Form an sich: Das Produkt und dessen Verpackung sind nicht mehr Inhalt und Form, sondern das Medium selbst wird zum Inhalt - die Botschaft als Ziel. Mit der Entauratisierung des Wohnens entflieht neben dem Ritus auch der Mythos der räumlichen Atmosphäre, der Raum als Konzept wird ersetzt durch Funktionen und einer Taylorisierung der Bewegungsabläufe in der Wohnung. Die Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky entauratisiert das Feuer und den Herd als Zentrum des Wohnens im Sinne des menschli-

chen Seins. Schiitte-Lihotzky sprach von sich als eine „Systematikerin", deren Studien zur Rationalisierung im Haushalt beitrugen. Die Rationalisierung, Typisierung und Normierung von Produkten und Wohnbauten sollte eine schnellere und billigere Produktion ermöglichen. Eindimensionaler Funktionalismus versus Formdifferenzierung und mehrschichtige Nutzungsmöglichkeit. Die Eindeutigkeit der Rationalisierung widerspricht einer kulturellen Differenzierung. Diesen Widerspruch fühlten ein Teil der Wiener Architekten, wenn es darum ging, die Rationalität des neuen Bauens aufzunehmen. Die Vorbehalte von Adolf Loos und Josef Frank gegenüber dem Internationalen Stil sind bekannt, ebenso die Angriffe von Rudolf Schindler auf den Funktionalismus und den Internationalen Stil.13 Die Relativierung des internationalen Funktionalismus hat aus der Sicht Österreichs viele Gesichter. Im Vergleich zu Ernst Plischke, Franz Singer und Friedl Dicker ist Ernst Lichtblau ein Architekt, dessen kritische Haltung zum Funktionalismus und dessen Nähe zum Handwerklichen im Österreichischen Werkbund sich deutlich abzeichnet. Für die Ausstellung „Wiener Raumkünstler" im Jahr 1930, gezeigt im Museum für Kunst und Industrie, entwirft Lichtblau einen Einwohnraum, dessen Materialvielfalt und Formenvielfalt eine heitere Atmosphäre aufkommen lassen. Der Wohnraum ist auf verschiedenen Niveaus räumlich strukturiert, die einzelnen Möbel teilweise aus Holz, teilweise aus Stahl gearbeitet. Die einzelnen Möbel kontrastieren durch ihren subjektiven Individualismus und verbinden sich zu einer Collage. Der resultierende additive Charakter setzt sich ab gegenüber der funktionellen Raumkomposition von Singer und Dicker. Lichtblaus

Raum ist traditioneller im Sinne des „Ansammeins" von Einzelmöbel zu einer neuen Gebrauchseinheit nicht aber Formeinheit. Eine ähnliche Haltung Lichtblaus ist bei seinem Entwurf für einen Wohn- und Schlafraum für die Volkswohnung zu sehen, entstanden 1931 für die Ausstellung „Der gute billige Gegenstand" im Museum für Kunst und Industrie in Wien. Bei dieser Ausstellung war auch Ernst Plischke mit einem Entwurf vertreten. Auch hier fällt im Vergleich auf, daß Lichtblau das Konzept der Addition vertritt, wobei verschiedene Aspekte wie Material, Form und Konstruktion zusammenwirken. Holz und Metall anstelle von Holz oder Metall, widersprechen dem Tenor der klassischen Moderne. Das System der einfachen Form reflektiert zwei Entwicklungen der Produktgestaltung; erstens die traditionelle handwerkliche Erfahrung und zweitens den Gestaltungswillen, das Wesentliche einer Sache durch eine Reduktion auf das Wahre selbst zu definieren. Dieser Blick nach innen soll auch den Wunsch verwirklichen helfen zu lassen, durch einen quasi „Röntgenblick" die Phantasie des Designs neu zu beleben. Der Künstler vertritt seine Zeit über den inneren Dialog zwischen Denkarbeit und Imagination. Aus den persönlichen Sehweisen entsteht ein Spiegel, der als Modell für die Wahrnehmung der Wirklichkeit fungiert und in dessen ästhetischem Rahmen sich die Wahrnehmung der Gesellschaft durch den Künstler abbildet.14 Für die Inneneinrichtung einer Werkstätte für einen Künstler (Ausstellung 1926) wählt Lichtblau als Leitmotiv vier Begriffe, die seine Architekturhaltung umschreiben: Zweck, Funktion, Material, Form. Vier Begriffe, die auf den ersten Blick direkt aus dem Vokabular des Internationalen Stils entstammen. Bei

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Abb. 39: Ernst Lichtblau, Werkbundausstellung Wien 1930

Abb. 40: Karl Hofmann & Felix Augenfeld, Espresso-Bar, Werkbundausstellung 1930

Lichtblau jedoch zeigt sich die Kontinuität zur Wagnerschule. Die Möbel und Einrichtungsgegenstände entsprechen durchaus einem traditionellen Funktionalismus, wobei das vorherrschende Material aus Holz ist; Möbelbezüge sind aus Stoff. Differenziert wird in den Materialquerschnitten des Holzes. Die ausschließliche Verwendung von Stahlrohr, Glas oder Leder ist für Lichtblau undenkbar. Erst in späteren Jahren kommen einige dieser Materialien zur Anwendung. Unter den Ausstellungen der Zwischenkriegszeit nimmt die Werkbundsiedlung im Jahr 1950 eine besondere Stellung ein. Zum ersten Mal seit achtzehn Jahren (seit 1912) veranstaltete der Österreichische Werkbund wieder eine repräsentative Ausstellung. Josef Hoffmann hatte die künstlerische Leitung der Ausstellung übernommen. Ernst Lichtblau war ebenso 1912 vertreten gewesen und wurde 1930 mit der Gestaltung eines größeren Pavillons und eines Musikladens beauftragt. Das Thema der Werkbundausstellung 1930 war verbunden mit der aktuellen Problematik des „Fremdenverkehrs". Dinge des täglichen Gebrauches und deren Gestaltung sollten als formal gute Lösung gezeigt werden. Dazu gehörte neben einer Reihe von Läden und Restaurants auch der Entwurf einer Hotelhalle. Als Architekten waren neben Josef Hoffmann dessen Assistent Oswald Haerdtl tätig, ferner Clemens Holzmeister, Walter Sobotka, Alfred Soulek, Felix Augenfeld und Karl Hofmann, E. J. Wimmer, Franz Kuhn, Oskar Strnad, Ernst Lichtblau sowie Josef Frank. Ort der Ausstellung war die Ausstellungshalle des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie sowie der dazugehörige Garten. Der Fremdenverkehrspavillon von Ernst Lichtblau im Garten war eine weißgestrichene, zweigeschossige offene

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Abb. 41: Ernst Lichtblau, Fremdenverkehrs-Pavillon, Werkbundausstellung 1930

Stahlkonstruktion, eine überdimensionale Rahmenstruktur, an deren Wände und Decken Informationen über Österreich angebracht waren. Eine Freitreppe führte in das erste Obergeschoß, welches mit einem Sonnensegel gegen die Hitze geschützt war. Eine L-förmige seitliche Fahnenhalterung bildete den optischen Dachabschlufl. Zeitgenössische Fotos zeigen eine sowohl bei Tag als auch bei Nacht sehr effektvolle Präsenz des Pavillons. Die zweite Arbeit von Lichtblau, ein Laden für Musikinstrumente („Musikalien- und Grammophonladen"),

war ganz mit mattem Birnbaum getäfelt, ergänzt durch transparente Glasschiebetüren, drapierte Vorhänge und Stahlrohrmöbel. Dem Musikladen kann ohne Einschränkung ein auratisiertes Erlebnis des „Musikhörens" zugeschrieben werden, das Materielle und Funktionelle verdichten sich zu einem luxuriösen Musikkonsum. Die zeitgenössischen Kritiker waren in ihrem Urteil über die Werkbundausstellung deskriptiv und nachsichtig. Wolfgang Born schreibt zusammenfassend: „Der Gesamteindruck gewinnt durch das ein59 I

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Abb. 42: Werkbundausstellung 1930, Gartenanlage mit Fremdenverkehrs-Pavillon

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Abb. 43: Ernst Lichtblau, FremdenverkehrsPavillon, Werkbundausstellung 1930

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Abb. 44: Ernst Lichtblau, FremdenverkehrsPavillon, Werkbundausstellung 1930

Abb. 45: Ernst Lichtblau, FremdenverkehrsPavillon, Werkbundausstellung 1950

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wandfreie Niveau und eine innere Einheitlichkeit, die dem kosmopolitischen Werkbundgedanken eine eigene österreichische Prägung von phantasievoll beschwingter Stimmung verleiht." 15 Ähnlich indifferent äußert sich die Zeitschrift Die Bau- und Werkkunst zur Werkbundausstellung 1930: „Vielleicht klingt es paradox: aber das besondere Merkmal dieser Österreichischen Werkbundausstellung 1930 ist, daß sie Tradition hat. Sie ist so modern als möglich, aber Gott sei Dank kein Tummelplatz experimentierender Mehr- oder Wenigerkönner. Sie wurzelt ehrlich im Praktischen und verliert fast nirgends den Zusammenhang mit dem tatsächlichen Leben unserer Zeit und einer logischen und gefühlsmäßigen Entwicklung. Sie hat darum alle Kultur, die man von einem sorgfältig vorbereiteten Bekenntnis einer Reihe von Künstlern verlangen kann. Der stark architektonische Gestaltungswille, der im Gesamtentwurf und im einzelnen anschaulich gemacht wird, ist, ohne zu übertreiben, bereits paneuropäisch. Trotzdem ist die Ausstellung bodenständig im besten Sinne, ist durchaus österreichisch. Man könnte sagen: die begrifflichen Elemente dieser architektonischen Ausdruckssprache mögen vielleicht bereits übernational sein, die Satzbildung selbst weist aber die Vorzüge österreichischer Tradition auf. Sie bleibt liebenswürdig, trotz aller Sachlichkeit." 16 Daß aus damaliger Sicht die Werkbundausstellung 1930 auch kritisch betrachtet wurde, zeigt eine Äußerung von Ernst Plischke: „Der Antagonismus innerhalb des Werkbundes war bei der Jubiläumsausstellung bereits 1930 klar erkennbar. „Das beste Ausstellungsobjekt war

damals der Pavillon für den österreichischen Fremdenverkehr von Ernst Lichtblau, ein leichter Stahlskelettbau, weiß gestrichen. Dem setzte Holzmeister demonstrativ seinen massiven alpenländischen Blockbau gegenüber, ganz in dunkelbraunem Karbolineum imprägniert. Hinter den kleinen Sprossenfenstern spielte eine Bauernkapelle auf. Bei der Gründung des antisemitischen Neuen Werkbundes wurde jedoch nicht Josef Hoffmann, sondern Clemens Holzmeister Präsident. Von da an spielte Hoffmann im künstlerischen Vereinsleben in Wien keine führende Rolle mehr. Die Gründung des Neuen Werkbundes fiel mit dem Ende der Ersten Republik und dem Beginn des autoritären Ständestaates zusammen. Die Gründung war keineswegs nur eine Spaltung des Werkbundes, sondern symptomatisch für die allgemeine gesellschaftliche Situation bis 1938. Sie ging reibungs- und geräuschlos vor sich, ohne die ansonsten üblichen Dokumente und Erklärungen." 17 Ähnlich kritisch wie Plischke sehen auch die Autoren der Publikation „Der Österreichische Werkbund", Astrid Gmeiner und Gottfried Pirhofer, die Situation der Werkbundausstellung 1930.18 Zusammenfassend kann dieser Werkbundausstellung gemeinsam mit der 1932 abgehaltenen internationalen Werkbundsiedlung die Bedeutung einer Trendwende zugewiesen werden: Die kulturpolitischen und künstlerischen Entwicklungen hatten bereits 1930 in Österreich eine Ambivalenz erreicht, welche der Moderne ab 1933 mit dem Hinweis auf fehlende „Bodenständigkeit" endgültig ihre Existenz absprach.

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Abb. 46: Ernst Lichtblau, Musikalien- und Grammophonladen, Werkbundausstellung 1930

Abb. 47: Ernst Lichtblau, Musikalien- und Grammophonladen, Werkbundausstellung 1950

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

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Abb. 48: Werkbund-Siedlung 1932 Abb. 49: Werkbund-Siedlung 1932, Lageplan

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WOHNKULTUR: WOHNFORM UND LEBENSFORM

Zwei Prinzipien stehen hier gegeneinander: Sachlichkeit und Dekoration. Wer bloß dekorativ denken kann, begreift es natürlich nicht und verfälscht die Bedeutung dieser Gegensätze in Neues und Altes. Die ganze Stilentwicklung, die meistens, soweit sie aus dem Kunsthandwerk hervorgegangen ist, nur eine Modeveränderung war, hat sich im Grund auf dem dekorativen Gebiet abgespielt. Die Forderung, daß jeder Gegensatz ganz und gar seine Funktion erfüllen soll, wurde immer angestrebt, aber nie konsequent durchgeführt, weil sie dekorativ gedacht war. Ja in vielen Fällen wurde das erstrebte Ziel viel besser in Zeiten einer lebendigen handwerklichen Tradition erreicht. Der Gegenstand wurde oft mit veralteter, nunmehr toter Ausschmückung versehen, weil der Dekorateur bloß die Dekoration sieht. Der Begriff Tradition kann genau betrachtet nichts anderes als das Streben nach Verbesserung und Vervollkommnung bedeuten. Wer würde sich jemals zu einer anderen Tradition bekennen wollen? Wenn wir jetzt die geometrische Modeform heutzutage betrachten, die im allgemeinen mit dem Wort „funktionell" bezeichnet wird, finden wir wieder, daß die funktionelle Form mit der geometrisch einfachsten verwechselt wird, weil diese eben als primitivste angesehen wird. In diese soll alles gezwungen werden, und man vergißt dabei den Zweck des Gegenstandes, der oft dieser Form widerspricht. Aber der dekorativ denkende Modemensch sieht in diesem Sinn in der funktionellen Form, die meistens keineswegs geometrisch ist, schon eine allzu deutliche Äußerung der Persönlichkeit ihres Schöpfers. Er fühlt sich freier und weniger beeinflußt zwischen seinen Kuben und hält das für modern, was eigentlich eine Mode ist. Wenn man das Gefühl für das Organische unterdrückt, läßt sich die angestrebte Einheitlichkeit oft viel leichter erzielen; die Unfreiheit ist aber nicht kleiner als im Stilzimmer. Das Ganze bleibt Dekoration. Ebenso kann man leicht jede Geschmacklosigkeit vermeiden, wenn man sich auf blutlose Askese einschränkt und jede Temperamentsäußerung unterdrückt. Das Geschmackvolle wird trostlos langweilig. Die Industrie, die ohne Rücksicht auf ästhetische Forderungen arbeitet, erzielt die organische Form oft viel besser. Sie bleibt nie im Geometrischen stecken und kann Typen schaffen. Der Architekt kann nie T y P e n erfinden, denn sein ganzes Denken ist persönlich, was den Wert seiner Arbeit ausmacht.14 Josef Frank

Der kommunale Wohnbau der Stadt Wien in der Zwischenkriegszeit ist in erster Linie eine Errungenschaft und ein Ergebnis sozialdemokratischer Stadtpolitik und muß im Umfeld des gesamten sozialen Engagement gesehen werden: Wien verkörpert in der Zeit von 1918 bis 1934 mit der sozialdemokratischen Partei die damals größte Parteiorganisation der Welt. Wien wurde als Prüffeld für die Machbarkeit sozialdemokratischer Ideale gesehen. Neben der Gesundheitspolitik, der Bildungs- und Kulturpolitik, der Arbeitsmarktpolitik war die Wohnbaupolitik jener essentielle Bereich, der durch seine

komplementäre Funktion zur allgemeinen Arbeitswelt die private Identität ermöglichte. Der kommunale Wohnbau der Stadt Wien erhält seine Qualität nicht primär aus der Verwirklichung einer radikalen, avantgardistischen Ästhetik (wie es durch den Einfluß des Bauhauses in Frankfurt durch Ernst May geschah), sondern durch funktionierende „kommunale" Einrichtungen innerhalb des Wohnbauprojektes: durch kommunale Rindergärten, durch kommunale Waschsalons, durch kommunale Büchereien, durch kommunale Sport- und Freizeitflächen. Der „Funktionalismusaspekt" dieser 65 I

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 50: Josef Frank, Wiederhofer-Hof, Wien 17,1924 Abb. 51: Josef Frank, Wiederhofer-Hof, Wien 17,1924

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Einrichtungen differenziert den Wiener kommunalen Wohnbau von Wohnbau bürgerlicher Ideologie, wo diese Funktionen nicht kommunal, sondern individuell (bzw. durch Dienstboten) bewerkstelligt wurden. In ästhetischer Hinsicht erinnern viele kommunale Wohnbauten an eine „monumentale Kleinbürgerlichkeit", die besonders durch die Verwendung historischer Formfragmente wie Rundbogen, Erker und Loggien gekennzeichnet sind. Nur wenige Architekten sind in der Lage - Josef Frank und Ernst Lichtblau gehören sicher zu ihnen - , eine moderne Architektursprache diesem neuen kommunalen Anforderungsprofil entsprechend zu entwickeln. In Ergänzung zur politischen Notwendigkeit zur Schaffung von Wohnraum gibt es immer auch die Frage nach der architektonischen Qualität. Wohnbauten gestalten über Jahrzehnte das Stadtbild und prägen die „Qualität" ganzer Stadtviertel. Voraussetzung für die große Veränderung war die 1923 eingeführte Wohnbausteuer der Gemeinde Wien, eine zweckgebundene Steuer, welche die Wohnhausproduktion der Stadt Wien in den folgenden Jahren ermöglichte. Die private Wohnbautätigkeit war nach dem Kriegsende 1918 faktisch zum Stillstand gekommen. Von 1923 bis 1933 wurden durch die kommunale Verwaltung in Wien rund 65.000 Wohnungen errichtet. „Die Stadtarchitektur der sozialdemokratischen Kommune hat sich sichtlich bemüht, ein Bild von der Vollständigkeit' eines Roten Wien zu produzieren. Der Wohnbau war jenes Segment der Kommunalpolitik, das am direktesten plakativ, signalhaft wirkte. Die ,Rote Burg' keineswegs eine ,Festung für den Bürgerkrieg' - war vor allem eine semantische Operation. Sie zu

schaffen, bedurfte großer architektonischer und diskursiver Anstrengung. Man war nicht selbstbewußt auf das freie Feld gegangen - jenes ,neue Zion mit weißen Mauern', von dem Adolf Loos träumte - , sondern baute die Roten Burgen in die Stadt, die man als Herrschaftsgefüge erkannt/kritisiert hatte, deren zehrende Wirkung auf Leib, Gesundheit und vor allem Sittlichkeit der Arbeiter man fürchtete. Man baute dem Anspruch nach Gegenwirklichkeiten. Die Erregung, die Rede von den Festungen schien diesen Anspruch zu bestätigen. Im heutigen städtischen Blick - Dezentrierung des frontalen Hochglanzbilds - fügen sich diese Anlagen indessen nicht nur in die großräumige Stadtstruktur, die sie selbst als Großwohnanlagen oder Superblocks bescheiden nachzeichnen und ergänzen, sondern auch in Baulücken - unauffälliger als heutige Genossenschaftsbauten, die auf Gegenwirklichkeit längst keinen Anspruch mehr erheben, sondern in nacheilendem Gehorsam gründerzeitüche Qualitäten in das System der Moderne verlängern wollen - in das historische Stadt- und Straßenbild. Hundertfach verstreut sind sie ideale Objekte für das Sammeln (das erwähnte Buch und viele neuere Versuche). Gegenwirklichkeiten schaffen, lautete sinngemäß der politische Auftrag an die Architekten, die - häufig Otto-Wagner-Schüler, an denen die internationale Moderne vorbeigegangen war - diesen Auftrag (angesichts von Krise und nahezu völligem Zusammenbruch privaten Bauens) naturgemäß in Kauf nahmen oder zu ihrem Anliegen machten und im Verständnis von Architekten proletarische Monumente' schufen, manche größer und massiver, die meisten klein und bescheiden. Zinnen, Erker, Fahnenstangen, Tore, Bögen, Säulen, Beschriftung, Farben, Symmetrien, Ecklösungen, Dächer, Tür-

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

me, Statuen, viel kleines Grün, viel Kunst und Kunsthandwerk am Bau bildeten das Repertoire eines großangelegten architektonischen Versuchs, ein vollständiges und proletarisches und Rotes und Neues Wien zu schaffen. Josef Frank sprach mit einem Wort von Pathos. ,Eine Stadt in der Stadt', die,zugleich über die ganze Stadt verteilt' ist (Hans ΉβΙζβ), gibt es auch bei wohlwollendster dialektischer Betrachtung nicht, allenfalls Partikel, kleine Kerne eines neuen zwischen den Wunden/Narben eines alten Sozialen. Die Stadt (und es gab niemals eine soziale Stadt) war/ist stärker."20 Die Wohnform ist Ausdruck der Lebensform. Durch die Lebensform sind verschiedene Wohnformen bedingt, abhängig von der Zeit und dem Ort, wo Wohnen stattfindet. Die Wohnform hingegen ist nicht nur ein Leben mit den Dingen, sondern auch ein Leben zwischen den Dingen. Die Dinge des Wohnens, die Idee, welche den Objekten zugrunde liegen, sind Ausdruck der Lebensform, interpretiert durch die Wohnform. Somit sind die Dinge des Wohnens mehr als nur Objekte zum Leben: sie sind bedingt durch die Dinglichkeit der Sachen und bedingt durch die Konvention der Lebensform. Durch die Konvention der Lebensform wird die Wohnform als zeitbezogene Interpretation eines Verhaltensmusters sichtbar gemacht. Ein Wohnen an sich ist schwer definierbar: erst der Ort und die Zeit geben Auskunft über die Konvention der Wohnform. In den Großstädten gibt es nicht nur eine Konvention der Wohnform, sondern es gibt zur gleichen Zeit und am gleichen Ort eine Vielzahl von Konventionen. Diese Differenzierung und Vielfalt sind ein Grund, warum das Wohnen in der Großstadt - das kollektive Wohnen - von den Architekten reflektiert wird. Zum einen definiert sich die Großstadt quantitativ

durch das Wohnen, zum anderen interpretiert die Großstadt die mögliche Qualität des öffentlichen Lebens. Architekten wie Otto Wagner und Adolf Loos waren von diesem städtischen Dialog zwischen Privatheit und Öffentlichkeit fasziniert. Beide Architekten übernahmen und akzeptierten die traditionelle Polarisierung der Stadt und versuchten die Wohnform beziehungsweise die Wohnformen der neuen Großstadt den neuen Lebensformen entsprechend zu ermöglichen. Die Wagnerschule trägt in ihrem Keim das uneingelöste Versprechen der modernen Architektur, die Differenz zwischen Alltag und Kultur, zwischen Form und Notwendigkeit aufzuheben. Mit dem Versuch, in der „Moderne" diesen Widerspruch zu lösen, wird kraft des architektonisch-künstlerischen Vermögens das gesamte Leben in seiner Realität neu entworfen, man vermeint die Realität künstlerisch interpretieren zu können, um sie folglich als ästhetische Gestalt neu zu definieren. Dieser Ansatz, von Otto Wagner erfolgreich in seiner Architekturtheorie vorgebracht und in seinen Bauwerken umgesetzt, hat in seiner Großstadtstudie (1911) den vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die technischen und ökonomischen Voraussetzungen der Stadt werden darin zu einer neuen, gestalteten Stadtstruktur zusammengefaßt, die alle Belange der neuen Urbanen Realität akzeptiert und sogar als zwingend für die moderne Architektur ansieht. Für seine Schüler kommt dieser Großstadtstudie fast der Charakter eines architektonischen Testamentes gleich, wo in präziser Kurzfassung alle Wagnerschen Überlegungen zum städtischen Verständnis der Architektur angeführt sind. Ziel war es, das Leben als ästhetizierbare Stadtkultur erleben zu können, indem sich die Alltagskultur durch das künstlerische Schaffen des Architek-

Abb. 52: Typischer Grundriß eines „Bassenahauses" aus der Gründerzeit Abb. 53: Karl Marx-Hof: Ikone einer kommunalen Wohnbauarchitektur

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Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 54: Ernst Lichtblau, Haus in der Wattmanngasse 29, Wien 13, Historische Photo-Aufnahme um 1915

Abb. 55: Ernst Lichtblau, Haus in der Wattmanngasse 29, Wien 13, Historische Photo-Aufnahme um 1915

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Β

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ten auf eine neue Form des Selbst- führung des Begriffes der „Realität" verständnisses erhebt. Uneingelöst angesehen werden, wobei der Beim Sinne der Wagnerschule blieb griff Sachlichkeit auf die Wichtigkeit dieses Versprechen durch die wahn- der architektonischen Realität in witzigen Ereignisse der europäi- dem Sinn hinweist, daß er in Opposchen Großmachtpolitik mit den sition zu der ornamenthaften Oberverheerenden Auswirkungen des flächlichkeit des späten Jugendstiles Ersten Weltkrieges auf das zivilisa- steht und sich mit einem kritischen torische und kulturelle Zusammen- Ansatz einem spezifischeren Konleben der europäischen Bewohner. zept der Moderne verbindet. SachEs ist naheliegend, daß politische lichkeit als eine inhaltliche Reinterund ökonomische Umwälzungen pretation der Wirklichkeit, welche dieser Größenordnung ein lineares die Architekturreformer, wie Otto Fortschreiben der Architekturge- Wagner, Richard Streitner und Alschichte nur bedingt ermöglichen. fred Lichtwark, am Ende des Für einzelne Architekten mögen 19. Jahrhunderts als Kritik gegen „Arbeitsnischen" für ihr kontinuier- den Historizismus verstanden hatliches Arbeitsfeld existiert haben, ten. Somit führen die Wagner-Schüfür den größten Teil war die neue ler den Begriff der Realität, der urZeit faktische Realität mit allen ih- sprünglich hauptsächlich mit den ren neuen Bedingungen. französischen künstlerischen und liSo ist es zum Beispiel nur vorder- terarischen Bewegungen zwischen gründig unverständlich, warum sich 1850 und 1870 in Verbindung geder Großteil der Wagnerschule wie bracht wurde und durch HauptfiguKarl Ehn, Rudolf Perco, Franz Gess- ren wie Gustave Coubert, Édouard ner, Alfons Hetmanek und Ernst Manet und Émile Zola vertreten waLichtblau fast ausschließlich für den ren, im Sinne der neuen Sachlichkeit Wohnbau und das Siedlungswesen, fort, um dergestalt die Fragen einer jedoch nicht für die Stadtplanung im modernen Architektur zu beantworSinne von Wagners Großstadt enga- ten. gierten: Der Wohnungsnot der Der Begriff der Sachlichkeit bildet zwanziger Jahre konnte nur durch sich zuerst im Gegensatz zum Juein aktives kommunales Wohnbau- gendstil als Hinweis auf die sachbeprogramm begegnet werden, da die zogene, rationale und gemütsferne Instrumente des privaten Wohnbau- Interpretation von Gestaltungsfraes nicht zur Anwendung kamen. An- gen bezüglich der Gebrauchsgegendere Wagner-Schüler, wie Rudolf stände und später bezüglich der ArSchindler, mußten im Ausland ein chitektur. Ab 1901 entwickelt sich im unfreiwilliges Exil in Kauf nehmen, deutschsprachigen Raum ein verweil die wirtschaftliche Situation in stärkter Beitrag zum Thema SachÖsterreich die ortsansässigen Archi- lichkeit, wobei sowohl Muthesius als tekten in eine große wirtschaftliche auch Meier-Graefe diesbezüglich Krise führte. 21 Beiträge lieferten.22 Die Sachlichkeit Die neue Realität nach dem Ersten manifestierte sich idealistisch in AnWeltkrieg forderte von den Architek- lehnung an die Geometrie regelmäten eine Neuorientierung im Hin- ßiger Formen und teilte sich somit blick auf neue Produktionstechni- optisch als geordnete, proportionierken, neue soziale Gegebenheiten te und logische Form dar. Sowohl in und eine neue Interpretation der Otto Wagners Kirche am Steinhof Zeit. So gesehen kann der Begriff der mit der geometrisch gegliederten „Neuen Sachlichkeit" in den zwanzi- abgehängten Decke als auch bei den ger Jahren als eine inhaltliche Fort- frühen Arbeiten von seinen SchüI 70

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 56: Ernst Lichtblau, Familienhaus in der Meytensgasse 20, Wien 13, 1913 Abb. 57-59: Ernst Lichtblau, Familienhaus in der Meytensgasse 22, Wien 13, 1913

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Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

STÄDTISCHE« WOHN HAU 5 BA Ii IM V.BKZIBK. CASSiaCASSI CÎêCEOGaSJÏ MAPCABETHENGÜBTEI.

Abb. 62: Ernst Lichtblau, Wettbewerb für die Wohnhausanlage Sandleiten, 1923/24 Abb. 63: Ernst Lichtblau, Julius Ofner-Hof, Wien 5, 1926 Abb. 64·: Karl Dirnhuber, Volkswohnhaus in der Löhrgasse, Wien 15

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lern und bei Lichtblau (KaffeehausInterieur, 1903-1904) zeigt sich diese „geradlinige", sachliche Formensprache. Die „geradlinige" und „sachliche" ästhetische Formensprache ist Ausdruck für einen Versuch, objektivierbare Kriterien für die architektonische Gestaltung als nachvollziehbar und deshalb als rational gültig aufzustellen. Die logische Folge dieser Betrachtungsweise ist die Forderung nach eine Typisierung des Wohnens aufgrund einer allgemein für gültig erachteten Konvention der Lebensform. So geschehen bei einem großen Teil der modernen Architekten in Mitteleuropa. Der überraschende Konsens der Typisierung war bedingt und inhaltlich bestärkt durch die sozialpolitischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit. Ein Blick auf das Œuvre von Ernst Lichtblau zu dieser Zeit bestätigt die allgemeine Situation. Abgesehen von kleineren Umbauten und seinen Beteiligungen an Ausstellungen war das Hauptthema seiner Architektur der Wohnbau. Der Wettbewerb der Gemeinde Wien für die Wohnhausanlage Sandleiten (1923/24) ist ein Beispiel für die großangelegten Maßnahmen, die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Großstadt zu ermöglichen. Zwei Jahre später entsteht Ernst Lichtblaus erste Wohnhausanlage der Gemeinde Wien, der JuliusOfner-Hof am Margaretengürtel im fünften Wiener Gemeindebezirk. Die konzentrische Straßenanlage des „Gürtels" wird in einer Analogie zur Wiener Ringstraße als die „Ringstraße des Proletariats" bezeichnet. An diese Straße reihen sich einige der wichtigsten Wiener Wohnbauten der Zwischenkriegszeit. Unter dem Titel „Neue Volkswohnhäuser der Gemeinde Wien" gibt ein Artikel in der Zeitschrift Die Bau- und Werkkunst aus dem Jahr 1927/28 folgende Beschreibung:

„Die Volkswohnhausbauten der Gemeinde Wien können von der kulturellen sowohl als auch von der künstlerischen Seite her betrachtet werden. Und auch dies kann nun wieder von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus geschehen. Der eine ist der Anschauung, daß sich die sozialen, wirtschaftlichen und ästhetischen Anschauungen als Ausdruck einer neuen Zeit völlig geändert haben und darum eine völlig neue Wohnbauweise geschaffen werden muß. Der andere wieder meint, daß man der naturgemäßen, evolutionistischen Entwicklung weder ins Gesicht schlagen darf noch kann, daß es vielmehr die Aufgabe ist, die bewährten Erfahrungen durch neue Anforderungen weiterzuentwickeln, ohne mit dem Gewordenen und Gewachsenen abzubrechen. Wie überall, dürfte auch hier der richtige Weg in der Mitte liegen. Denn unzweifelhaft hat sich die Wirtschaftsführung der meisten Haushaltungen zwangsläufig sehr vereinfacht, und auf alle in der Hauptsache der Repräsentation dienenden Räume und Ausstattungen mußte verzichtet werden. Ebenso unzweifelhaft ist die Erkenntnis der Notwendigkeit, selbst das Wohnungsminimum mit genügend Luft, Licht, Sonne, Wasser, eigenen Klosetten usw. zu versehen. Andererseits ist man wohl mit schlagwortähnlichen Neuerungen in Grundriß, Dachgestaltung und Material, im Rationalisieren von Wohngerät und Fassade zu weit gegangen. Alle künstlerischen Fragen laufen heute darauf hinaus, der Brauchbarkeit, Bequemlichkeit und Sparsamkeit eine angenehme äußere Erscheinung zu geben. Die hier gezeigten Beispiele packen das Problem des Ästhetischen von verschiedenen Seiten an. Man kann sich für die rationellen oder für die dekorativen Lösungen entscheiden."23 Das Eckgrundstück am Margareten-

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 65/66: Ernst Lichtblau, Julius Ofner-Hof, Wien 5, 1926

gürtel wird von Ernst Lichtblau durch einen achtgeschossigen Turmbau fast theatralisch betont, wobei sich durch den Rücksprung an der Ecke funktionell auch eine bessere Belichtung für die Wohnungen ergibt. Die Kleinwohnungen, entsprechend dem Wiener Standard, werden von hofseitigen Treppenhäusern erschlossen. Gegenüber

der Straße tritt das Gebäude durch einen optischen zweigeschossigen, umlaufenden farbigen Sockel auf, mit anschließenden vier weiteren Wohngeschossen. Die Fassade am Margaretengürtel wird zusätzlich durch vorgesetzte Balkone rhythmisiert. In bezug auf das Haupteingangstor ist die Lochfassade am Margaretengürtel symmetrisch auf-

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Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 67: Paul Speiser-Hof mit Artillerieschäden, Wien 21, 1934

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gebaut, der Turmbau an der Ecke zur Geigergasse führt die Symmetrie über die Ecke weiter. Bei der Wohnhausanlage „Julius-Ofner-Hof" handelt es sich um die Komplettierung eines gründerzeitlichen Straßenblockes. Drei Jahre später, im Jahr 1929, errichtet Lichtblau für die Gemeinde Wien den „Paul-Speiser-HoP (1929), eine klassische Wohnhausanlage, welche einen gesamten Straßenblock als Blockrandbebauung umgibt. Dieses Bauwerk entstand in Zusammenarbeit mit Leopold Bauer, Hans Glaser und Karl Scheffel. Die Wohnhausanlage wird durch drei große Toreinfahrten gegliedert, die Erschließung durch die Stiegenhäuser erfolgt in der Tradition der Wiener Wohnhausanlagen vom Innenhof aus. Charakteristisches Gestaltungselement sind die verglasten Erker, welche dem Wohnhaus eine heitere Atmosphäre geben. Auf der Suche nach dem idealen städtischen Wohnhaus ist der Wohnblock sicher eine geradezu typologische Antwort: der städtische, öffentliche Raum und die Straße werden respektiert, der Innenhof gibt Privatheit und Ruhe. Durch das erhöhte Sockeigeschoß werden auch die Wohnungen im Hochparterre gut bewohnbar. Es entsteht durch die viergeschossige Bebauung ein Wohnbautypus, der in seinen Maßen und Proportionen eine kaum verbesserbare Qualität aufweist. Eine Bepflanzung der Höfe (beziehungsweise durch mögliche Alleestraßen) umschließen das Bauwerk mit einem vielschichtigen Außenraum, welcher der Höhe des Gebäudes entspricht. Die Qualität dieses Bauwerkes wurde einhellig positiv und begeistert von Architekten und Architekturhistorikern beschrieben. Die architektonischen Randbedingungen für den sozialen Wohnbau der Zwischenkriegszeit in Österreich im allgemeinen und in Wien

im besonderen sind gekennzeichnet durch die kulturpolitische Situation des Ständestaates, basierend auf der „Universalistischen Gesellschaftslehre" des österreichischen Nationalökonomen Othmar Spann,24 sowie dem politischen Kräftespiel zwischen der konservativ-kirchlichen Seite einerseits und der austromarxistisch-sozialistischen Seite andererseits.25 1923 wird das erste Wohnbauprogramm mit 25.000 geplanten Wohnungen in Wien beschlossen, vier Jahre später das zweite große Wohnbauprogramm mit 30.000 geplanten Wohnungen. Die Finanzierung erfolgt größtenteils über die Wohnbausteuer, eine Umverteilungssteuer, welche vom sozialistischen Stadtrat für Finanzen, Hugo Breitner, eingeführt wurde. Die im Durchschnitt circa 50 m2 großen neuen Sozialwohnungen - bestehend aus einer Wohnküche, ein bis zwei Schlafräumen, Vorraum und WC (kein eigenes Badezimmer) - wurden nach einem Punktesystem von der Gemeinde Wien an die Wohnungssuchenden vergeben. Bei Arbeitslosigkeit oder Krankheit der Mietparteien wird der Mietzins von der Gemeinde Wien gestundet. Die Wohnbaupolitik der Gemeinde Wien durchbricht hier das klassische ökonomische Prinzip, wonach der Mietzins als Kapitalrendite aus Immobilien gesehen wurde. Der Wiener soziale Wohnbau, basierend auf dem architektonischen Konzept der Wohnhöfe, welche die „Gemeinschaft" der Bewohner auch baulich dokumentieren sollte, und dem ökonomischen Konzept der neuen Wohnmieten, stand im krassen Gegensatz zu den architektonischen Ideen der Stadtrandsiedlung nach angelsächsischem Muster. Architekten wie Adolf Loos und Josef Frank versuchten alternativ die Siedlungsidee in Wien umzusetzen. Beide Versuche, sowohl die Siedlung

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WIEN 21., F L O R I D S D O R F , P a u L

Abb. Abb. Abb. Abb.

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Paul Speiser-Hof, Wien 21, Historische Photo-Aufnahme um 1962 Paul Speiser-Hof, Wien 21, Historische Photo-Aufnahme dreißiger Jahre Ernst Lichtblau, Paul Speiser-Hof, Wien 21, 1929 Ernst Lichtblau, Paul Speiser-Hof, Wien 21, 1929

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von Adolf Loos am Heuberg, die er als Chefarchitekt des Siedlungsamtes der Gemeinde Wien 1921 (Planung) - 1923 bis 1924 (Ausführung) - durchführte, als auch die Werkbundsiedlung, welche Josef Frank als Präsident des österreichischen Werkbundes in den Jahren 1930 bis 1932 organisierte, blieben die Ausnahmen innerhalb der Wohnbaupolitik in der Ersten Republik. Die Werkbundsiedlung kann als die einzige ernstzunehmende Alternative zur Wiener Wohnbaupolitik der Wohnhöfe betrachtet werden. Organisiert von der Ausstellungsleitung durch Hermann Neubacher, Josef Frank und Laszlo Gabor und mit dem Ehrenschutz des Bundespräsidenten der Republik Österreich, Wilhelm Miklas, versehen, wurde die Werkbundausstellung als große Attraktion für das In- und Ausland gefeiert. Josef Frank umschreibt den Charakter der Ausstellung im Vorwort des Ausstellungskataloges „Werkbundsiedlung Internationale Ausstellung Wien 1932" wie folgt. „Für keine Bauaufgabe ist heute so viel allgemeines Interesse vorhanden, wie für das Wohnhaus; so klein diese Bauten auch ihrem Umfang nach sind, so groß ist ihre Bedeutung. Das Haus im Freien war und ist die ideale Wohnform und damit die Grundlage einer jeden Wohnkultur. Wenn es heute auch noch nicht für einen jeden erreichbar ist, so ist es doch von höchster Wichtigkeit, sich dauernd mit seinen Problemen zu beschäftigen und es immer im Sinn eines jeden geistigen und technischen Fortschritts zu entwickeln. Nur dadurch kann man zu dem Ziel gelangen, es zur Wohnung für die Allgemeinheit zu machen. Diese Bewegimg geht heute durch die ganze Welt. Wir wissen heute bereits, daß Bescheidenheit nicht Armut bedeutet und daß wir lieber in einfachem Rahmen leben, als daß wir unsere Umgebung dekorieren wollen. Wir I 76

wissen bereits, daß es wichtig ist, unnötige Arbeit an Überflüssigem zu ersparen, um Geist und Körper freier sich entwickeln zu lassen. Wir wissen, daß es ein wesentliches Ziel der modernen Zivilisation sein muß, einem jeden eine würdige Wohnstätte zu bieten. Deshalb wollen wir Einfachheit und Zweckmäßigkeit zu Schönheit vereinigen. Wir wollen dazu beitragen, durch die Wohnung eine gemeinsame Art des Denkens und der gemeinsamen Kultur zu begründen, von der allein eine höhere Entwicklung der gesamten Menschheit möglich ist."26 Der Begriff der Wohnkultur steht auch hier bei Josef Frank an erster Stelle und ist auch für ihn untrennbar mit dem Einfamilienhaus mit Garten verbunden. Fast pathetisch wird die höhere Entwicklung der gesamten Menschheit in direkten Zusammenhang mit der neuen Wohnkultur gebracht. Die neue Wohnkultur, Einfachheit und Zweckmäßigkeit, symbolisiert auch einen neuen Humanismus: die Welt als Garten Eden anstelle der kapitalistischen Großstadt. Obwohl Josef Frank den sozialen Sachverhalt differenziert beurteilte und weit davon entfernt war, die Architektur eindimensional zu betrachten, bleibt die innere Diskrepanz zwischen Siedlungshaus und Wohnblock aufrecht. In ähnlicher Weise ist sicherlich auch die Einstellung von Ernst Lichtblau zu interpretieren. Seine Verdienste in architektonischer Hinsicht für den sozialen Wohnbau (Wohnblock) sind evident, sein Verständnis der Wohnkultur läßt sich aber überzeugender im Siedlungshaus realisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat in Österreich eine ähnliche Diskussion Platz gegriffen, man denke nur an die überzeugende Darstellung von Roland Rainer zur Behausungsfrage. Obwohl sich Rainer der großstadtrelevanten Probleme und Anforderun-

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 72: Werkbundsiedlung 1952, Häuser von Haerdtl, Groag, Lichtblau, Gorge

gen voll bewußt war (Planungskonzept Wien 1961), war sein Votum eindeutig für das Siedlungshaus als Symbol der Wohnkultur. Die Auswirkungen der Werkbundsiedlung für die österreichische Moderne waren trotzdem von relevanter Bedeutung. Lichtblau selbst war in mehrfacher Hinsicht für dieses Ausstellungsprojekt tätig. Die beiden eigenen Wohnhausentwürfe von Lichtblau zeichnen sich durch eine schlichte, kubische Baukörperkonzeption aus, weisen aber eine sehr unterschiedliche Raummorphologie beziehungsweise Semantik der Räume aus. Der eine Teil des Doppelhauses (Nr. 41) an der Jagdschloßgasse wird über einen kleinen Vorgarten mit Pergola direkt betreten, während der andere Teil (Nr. 42) über den Garten seitlich erschlossen wird. Beide Häuser haben einen fast quadratischen Grundriß, Haus

Abb. 73: Werkbundsiedlung 1932

Nr. 42 besitzt einen kleinen straßenseitigen Erker. Die Einteilung der Räume sieht für das Haus Nr. 41 im Erdgeschoß einen Wohnraum sowie eine Wohnküche vor, im Obergeschoß befinden sich drei Schlafräume sowie das Bad. Das etwas größere Haus Nr. 42 weist im Erdgeschoß neben dem Wohnraum und der Rüche noch ein kleines Zimmer aus (die traditionelle Lage entspricht einem Dienstbotenzimmer), im Obergeschoß drei Schlafzimmer sowie das Bad. In beiden Häusern ist die Rüche gartenseiüg orientiert, um eine Beaufsichtigung von Rleinkindern zu ermöglichen. Die Fassade bei beiden Häusern entspricht der modernen Forderung, die Innenräume mit unterschiedlichen und proportionalen Fenstergrößen auszustatten, eine Funktionalisierung der Fenster in bezug auf die Wertigkeit der Räume. Baukörper und Fassade zeichnen sich durch Schlichtheit 77 I

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. Abb. Abb. Abb.

74: 75: 76: 77:

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Ernst Ernst Ernst Ernst

Lichtblau, Lichtblau, Lichtblau, Lichtblau,

Werkbundsiedlung, Jagdschloßgasse 88, 90, 1952 Rochnische, Werkbundsiedlung 1932 Wohnraum, Werkbundsiedlung 1932 Werkbundsiedlung, JagdschloDgasse 8, 90, 1932

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

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Abb. 78: Ernst Lichtblau, Wohnraum für Haus Nr. 22, Werkbundsiedlung 1952

und Zurückhaltung aus, innerhalb der Werkbundausstellung reihen sich die beiden Häuser mit großer Selbstverständlichkeit in das Gesamtkonzept. Speziell die Raumabfolge im Erdgeschoß weist auf zwei unterschiedliche Vorbilder hin. Beim Haus Nr. 41 handelt es sich um die traditionelle „Vorraum-Situation", mit dem Eingang und dem Stiegenhaus als eine Einheit. Alle anderen Räume werden direkt vom Vorraum aus erschlossen. Beim Haus Nr. 42 hingegen übernimmt die Verteilerfunktion ein größerer Wohnraum, von dem aus die Treppe in das Obergeschoß führt. Es handelt sich hierbei um eine Anlehnung an das anglosächsische Prinzip der „Wohnhalle", welche das Zentrum des Hauses in doppelter Hinsicht darstellt: sowohl von der internen Verkehrserschließung als auch vom physischen Zentrum des Bauwerkes. In der Morphologie der Räume ergibt sich daraus

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eine neue Wertigkeit der Wohnhalle, die sich durch eine verstärkte „Öffentlichkeit" präsentiert. Alle Familienmitglieder müssen durch diesen Raum, die Wohnhalle ist nicht Wohnzimmer (Wohnstube, „gute Stube"), sondern das Zentrum des Hauses. Neben der Planung und Ausführung seines eigenen Entwurfes, dem Doppelhaus Jagdschloßgasse 88 und 90, war Lichtblau für die Inneneinrichtung mehrerer Wohnhäuser zuständig: die Häuser von Hugo Häring (Veitingergasse 73), das Haus von Eugen Wachberger (Haus Nr. 22) sowie das Haus von Arthur Grünberger. Obwohl alle drei Häuser von Lichtblau eingerichtet wurden, ist keine ästhetische Identität festzustellen. Eher - das Gegenteil ist wahr. Eine undogmatische ästhetische Vorstellung, aber eine fast dogmatische Auffassung einer MöbelCollage: Metallrohrmöbel stehen neben Holzmöbel, traditionelle Tep-

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piche und gegenständliche Bilder verwässern den Eindruck einer radikalen Moderne. Die Vielfalt der Möblierung wirkt selbstverständlich und beinahe zufällig. Von der klirrenden Kälte und Ronsequenz der Bauhausmaterialien Stahl und Glas sind diese Inneneinrichtungen weit entfernt. In einer Affinität zu Josef Franks Möblierungskonzepten scheint Lichtblau die Frage nach der zeitgemäßen Wohnform aus der zeitgemäßen Lebensform zu interpretieren. Ähnlich wie Frank in seinem Text über die „Großstadtwohnung unserer Zeit" (1927), versucht Lichtblau das Prinzip der geplanten „Zufälligkeit" in den privaten Wohnräumen umzusetzen: „Daß unsere heutige Wohnkultur auf der englisch-amerikanischen beruht, ist seit langem bekannt, aber erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts folgen wir ihr bewußt, wenn auch in gewissem Abstand nach. Die Wohnbedürfnisse einzelner Völker und Menschen werden einander immer ähnlicher. Wenn wir die Entwicklung unseres Vorbilds betrachten, so können wir leicht den Weg voraussagen, den wir gehen werden. Das englische Haus ist nach bestimmten Regeln erbaut. Regeln, deren wir uns erst jetzt bewußt werden, wie etwa die Lage der Rüche zu den Wohnräumen, und die Regeln der Hantierung in der Rüche wie deren Einrichtung sind dort seit langem bekannt und ohne Hilfe von Architekten festgelegt worden. Diese bilden aber nur einen Teil und nicht das Wesentliche der Hausanlage, da sie nur dazu dienen, das Wohnen im Haus bequemer zu machen. Daß dieser mechanisierte Teil möglichst vollkommen ausgebildet sein muß, ist selbstverständlich. Das eigentliche Wohnen aber ist seit den ältesten Zeiten gleich primitiv geblieben, und es ist auch keine Veranlassung da, davon abzugehen. Ein jedes

Zimmér und ein jeder Platz im Zimmer muß seinen bestimmten Zweck haben, um ihn vollkommen erfüllen zu können. Hier ist es als wesentlich zu betrachten, daß Wohn- und Schlafzimmer voneinander vollkommen getrennt sind. Das ist die Grundlage einer jeden Wohnkultur. Selbst im amerikanischen Mietshaus ist deshalb zwischen diese Räume ein eigener Vorraum gelegt, der bei uns unbekannt ist. Im Wohnzimmer muß der Sitzplatz deutlich erkennbar sein, ohne daß dort Möbel stehen. Es gibt nun Regeln, an welchen Stellen die Türen sein müssen und wie sie aufgehen, um diesen Platz nicht zu stören; wie das Licht den Eintretenden emplangt, wie die Stiege im Haus liegen muß und in welchem Verhältnis die Betten gegen das Fenster gestellt sein müssen. Das sind Dinge, die auch in vielen unserer traditionell gebauten Häuser zum Teil vorhanden waren, aber verlorengegangen sind und wiedergewonnen werden müssen. Wir müssen dies alles erst wieder erleben und nicht nur wissen; erst dann kann an ein Typisieren gedacht werden. Zuerst muß die Wohnart einheitlich werden, dann erst die Wohnform, die innerhalb ihrer Notwendigkeiten noch eine Fülle von Variationen zuläßt." 27 Unterschiedliche Sesselformen, kleine Beistelltische, differenzierte Beleuchtungskörper sowie vielfältige Materialien dekodieren soziale Bezüge der Lebensform. In diesem Zusammenhang schreibt Erich Boltenstern über das Wiener Möbel wie folgt: „Das Wiener Möbel der Gegenwart knüpft an diese Entwicklung wieder an. Es hat - sonst wäre es nicht ein Gewächs der Rultur - Tradition. Tüchtigkeit, Einsicht und Erfahrung der Tischlerei, auch durch die Zeit des Formenverfalls im 19. Jahrhundert bewahrt, stehen dem neuen Möbel von Anfang an zu Gebote. Von

Abb. 79: Ernst Lichtblau, Lampenentwurf, vor 1955 Abb. 80: Ernst Lichtblau, Speisezimmer für die Wohnung Dr. Rübner, vor 1955

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Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform Ernst Lichtblau, Wohnung für Dr. Rübner, vor 1933 Abb. 81 Vorraum Abb. 82 Wohnraum Abb. 83 Schreibstube Abb. 84 Küche Abb. 85 Schlafzimmer Abb. 86 Wohnzimmer Abb. 87 Badezimmer Abb. 88 Barwand Abb. 89 Zweigefachter Barschrank

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Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Ernst Lichtblau, Wohnung für Sch., vor 1931 Abb. 90: Ecke im Salon Abb. 91: Salon Abb. 92: Speisezimmer-Buffet Abb. 93: Wohnzimmer Abb. 94: Schlafzimmer Abb. 95: Schlafzimmer Abb. 96: Schlafzimmer Abb. 97: Speisezimmer Abb. 98: Wohnzimmer

Wohnkultur: Wohriform und Lebensform

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Anfang an kann es auf geschickte und verläßliche Hände rechnen, bereit und fähig, jeden Formenwandel mit richtiger Empfindung und ganzem Rönnen mitzumachen. Freilich, die Führung liegt jetzt beim Architekten. Das verleitete am Anfang nicht selten zur Einmischung der freien, rasch vergänglichen Künstlerlaune, zur Überschätzung des Zierats, kurzum zu einem nicht ungefährlichen künstlerischen Spiel mit Formen. Doch bald lernte der Architekt vom Tischler. Seine Entwürfe verzichteten nicht auf Persönlichkeit, wohl aber auf Willkür und mit ihr auf das Geschmückte. Sie kehren zurück zu den einfachen Grundlagen des Möbelbaues. Die Formen werden wieder klar, werden glatt, leicht und beweglich, aber auch klein und im Umriß beschwingt. Es ist, als ob jenes englische und das Altwiener Möbel mit ihren besten Eigenschaften zusammenfänden. Aber das Ergebnis ist durchaus neu, jedenfalls durchaus lebendig."28 Die Ronsequenz, mit der Lichtblau die Fragen der Wohnungseinrichtung behandelt wissen wollte, zeigt die Gründung einer Beratungsstelle für Inneneinrichtung. „BEST" war die Abkürzung für die im Dezember 1929 gegründete „Beratungsstelle für Inneneinrichtung des österreichischen Verbandes für Wohnungsreform", deren Leitung Ernst Lichtblau in Zusammenarbeit mit anderen Architekten übernommen hatte. In einer ständigen Ausstellung wurde eine Musterwohnung, die die größtmögliche Ausnutzung der gesamten Wohnfläche vorführte, sowie preisgünstige Einrichtungs- und Haushaltsgegenstände gezeigt. Durch eine Reihe von Vorträgen wurde theoretische „Wohnhilfe" geboten. In einer Mitteilung des Österreichischen Werkbundes wird die Tätigkeit der Beratungsstelle geschildert. I 86

„In dem Wohnhausblock der Gemeinde Wien, Rarl-Marx-Hof, XIX, Heiligenstädter Straße 82, befindet sich seit kurzem eine überaus begrüßenswerte Einrichtung, die in erster Linie denen zugute kommt, die durch Zuweisung von Wohnungen in Neubauten der Gemeinde Wien in die Lage versetzt werden, sich neu einzurichten. Eine ständige Ausstellung umfaßt alle Einrichtungs- und Haushaltsgegenstände, wobei auf die weniger zahlungskräftigen Mittelstands- und Arbeiterkreise bei der Preisgestaltung große Rücksicht genommen wird. Die Beratungsstelle steht unter der Leitung eines Überwachungskomitees, welchem unter anderen auch die Architekten Professor Josef Frank, Professor Ernst Lichtblau, Walter Sobotka und Professor Carl Witzmann angehören. Die Geschäftsführung hat Generalsekretär Dr. Ludwig Neumann inne. Die Beratungsstelle veranstaltet in dichter Folge Vorträge, welche von nun an in den Mitteilungen des Österreichischen Werkbundes angekündigt werden. Mittwoch, 18. März, Josef Pieringer: ,Zweckmäßige Wandbekleidung'. Freitag, 20. März, Dr. Irene Rubinstein: ,Der Haushalt der berufstätigen Frau'. Mittwoch, 25. März, Architekt Rudolf R. Trestler: ,Wie bringe ich meine Sachen unter?' Freitag, 27. März, Architekt F. Waage: ,Sitz- und Ruhemöbel'. Die Beratungsstelle und die Dauerausstellung sind Montag bis Freitag von 3 bis 7, Samstag von 2 bis 6, Sonntag von 10 bis 1, an Feiertagen (mit Ausnahme von Ostern, Pfingsten, Weihnachten und den Staatsfeiertagen) ebenfalls von 10 bis 1 Uhr geöffnet. Der Eintritt, die Beratung und sämtliche Veranstaltungen sind vollkommen unentgeltlich. Führungen von Gruppen, Organisationen usw. finden nach vorheriger

Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 99: Räumlichkeiten der „BEST" im Karl Marx-Hof Abb. 100-102: Grundriß der „BEST" im Karl Marx-Hof

Die Räume der BEST.

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Wohnkultur: Wohnform und Lebensform

Abb. 103-105: Ernst Lichtblau, Ausstellung „Der gute billige Gegenstand", 1931

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Anmeldung innerhalb der Besuchszeit statt."29 Die Dezenniumswende 1929/30 beziehungsweise der Beginn der dreißiger Jahre war charakterisiert durch eine nunmehr errungene internationale Orientierung. Sowohl die Arbeiten von Lichtblau als auch die Arbeiten an den Wiener Architekturschulen reflektieren dieses neue Selbstverständnis. Begleitet wurde diese aktive Architekturphase durch eine Reihe von Publikationen, welche die Haltung der Wiener Moderne sowohl für den Hochbau als auch in bezug auf die Möblierung festhalten. Neben den Publikationen über die Werkbundausstellung erschien 1929 das Buch „Gute Möbel" von Herbert Hoffmann, ein Jahr später erschienen die Publikationen „Wiener Raumkünstler" und „Einzelmöbel und neuzeitliche Baukunst" von Alexander Koch. Weiters die Ausstellungen „Die neuzeitliche Wohnung - Die Mietwohnung" (1931) sowie „Der gute, billige Gegenstand" und „Raum und Mode" (beide 1932). Mit dem Buch von Erich Boltenstern, „Wiener Möbel" (1934), liegt gleichzeitig eine Zusammenfassung der Wiener Moderne vor, welche in den nächsten Jahren durch reaktionäre kulturpolitische Tendenzen und dem Austrofaschismus beendet wurden. Die kulturpolitische Situation im Ständestaat änderte sich grundsätzlich, als am 12. Februar 1934 Österreich eine neue Kulturpolitik verordnet bekommt, deren Aufgaben sogar in der Verfassung verankert werden: vaterländisch, universalkatholisch, deutsch und legitimistisch soll sie sein. Der Errichtung des Ständestaates in Österreich am 27. April 1934 ist die planmäßige Ausschaltung des Parlamentes vorausgegangen, welche wiederum zum Ausbruch des Bürgerkrieges zwei Monate zuvor geführt hatte. Stellvertretend für diese neue, „bo-

denständige" Einstellung zu Kunst und Kultur kann eine Aussage von Clemens Holzmeister dienen, dessen Einfluß im Ständestaat in kulturpolitischer Hinsicht immer bedeutender wurde: „Landschaft, Stadt- und Ortsbild werden immer wieder zuschanden gebaut. Das Übel nimmt durch die Geschäftstüchtigkeit Unberufener zu, statt ab. Wir alle haben zusammenzustehen, um dieses Verbrechen an unserem Natur- und Kulturgut durch Pflege edler, traditionsverbundener und zugleich lebensnaher Baugesinnung gutzumachen. Wir müssen einer gediegenen und einheitlichen Erziehung des Architekten, als dem einzig Verantwortlichen für die Erscheinungsform des Hauses und allen anderen Bauaufgaben, unser besonderes Augenmerk zuwenden. Und so ihm durch entsprechende Eingliederung in den ständischen Aufbau endlich die Ausschließlichkeitsrechte seines für das zukünftige Gesicht unserer Heimat so verantwortlichen Berufes zu verleihen. Haus - und sei es das kleinste - , Kirche, Schule und andere Bauten der Gemeinschaft werden dann erst wieder Zierde und Symbol einer mit den heiligen Kräften unseres Volkstums verbundenen und dem Geiste unserer Heimat, unseres Vaterlandes verpflichteten Zeit werden." 30 Solange in der Sachlichkeit das Wesen der Dinge existiert, ist Sachlichkeit ein Ausdruck der Wirklichkeit. Die Grenzen der Sachlichkeit beginnen dort, wo in der Verdinglichung der Sache das System des reproduzierenden Verfahrens anstelle des Erfahrens tritt. Der diffizile Weg, den Begriff der Sachlichkeit zu differenzieren, führt die Sache selbst zur allgemeinen Bedingung ihrer selbst, nämlich zur Wirklichkeit. In den zwanziger Jahren wurde jedoch der Begriff der Wirklichkeit schrittweise durch den

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Ausdruck Sachlichkeit ersetzt, bis dieser als „Neue Sachlichkeit" sogar als Brennpunkt eines neuen und spezifischen Konzeptes der Modernität galt. Nicht zufällig verwendet ein nach Modernität strebender Architekt wie Adolf Loos den Begriff der Sachlichkeit, wenn es gilt, die Verdinglichung im modernen Land Amerika für Europa und Österreich verständlich zu machen. Der amerikanische Fortschritt, wie Loos diesen kennengelernt hatte, war gekennzeichnet durch die Verdinglichung des Lebens. Die Sprache der Dinge wird oft mit Sachlichkeit gleichgesetzt. Wie nahe aber Sachlichkeit und Barbarei in Berührung kommen können, zeigt eine Analyse der Begriffe Sachlichkeit und Barbarei von Adorno: „Lehrt man, wie es wohl Adolf Loos intendierte und wie seitdem Technokraten willig es wiederholen, die Schönheit realer technischer Objekte, so prädiziert man von ihnen eben das, wogegen Sachlichkeit als ästhetische Innervation sich sträubt. Beiherspielende Schönheit, nach undurchsichtig traditionellen Kategorien wie formale Harmonie oder gar imponierender Größe bemessen, geht auf Kosten der realen Zweckmäßigkeit, in der Zweckgebilde wie Brücken oder industrielle Anlagen ihr Formgesetz aufsuchen. Daß die Zweckgebilde vermöge ihrer Treue zu jenem Formgesetz immer auch schön seien, ist apologetisch, als wolle es trösten über etwas, was ihnen abgeht: schlechtes Gewissen von Sachlichkeit selber. Das autonome, einzig in sich funktionelle Kunstwerk dagegen möchte durch seine immanente Teleologie erreichen, was einmal Schönheit hieß. Teilen indessen zweckgebundene und zweckfreie Kunst die Innervation von Sachlichkeit trotz ihrer Trennung, so wird die Schönheit des autonomen technologischen Kunstwerks problematisch, auf die ihr

Vorbild, die Zweckgebilde, verzichtet. Sie laboriert am funktionslosen Funktionieren. Weil ihm der auswendige Terminus ad quem abgeht, verkümmert der inwendige; Funktionieren, als ein Für anderes, wird überflüssig, ornamental als Selbstzweck. Sabotiert wird dabei ein Moment von Funktionalität selber, die von unten her aufsteigende Notwendigkeit, die danach sich richtet, was und wohin die Partialmomente wollen. Aufs tiefste beeinträchtigt wird jener Spannungsausgleich, den das sachliche Kunstwerk von den Zweckkünsten sich erborgt. In all dem manifestiert sich die Inadäquanz zwischen dem in sich funktional durchgestalteten Kunstwerk und seiner Funktionslosigkeit. Dennoch ist die ästhetische Mimesis an Funktionalität durch keinen Rekurs aufs subjektiv Unmittelbare widerruflich: er würde nur verhüllen, wie sehr der Einzelne und seine Psychologie gegenüber der Vormacht der gesellschaftlichen Objektivität zur Ideologie geworden ist: davon hat Sachlichkeit das richtige Bewußtsein. Die Krisis der Sachlichkeit ist kein Signal, diese durch ein Menschliches zu ersetzen, das sogleich in Zuspruch degenerierte Korrelat der real ansteigenden Unmenschlichkeit. Bis zum bitteren Ende gedacht, wendet jedoch Sachlichkeit sich zum barbarisch Vorkünstlerischen. Noch die ästhetisch hochgezüchtete Allergie gegen Kitsch, Ornament, Überflüssiges, dem Luxus sich Näherndes hat auch den Aspekt von Barbarei, des nach Freuds Theorie destruktiven Unbehagens in der Kultur. Die Antinomien der Sachlichkeit bezeugen jenes Stück Dialektik der Aufklärung, in dem Fortschritt und Regression ineinander sind. Das Barbarische ist das Buchstäbliche. Gänzlich versachlicht wird das Kunstwerk, kraft seiner puren Gesetzmäßigkeit, zum bloßen Faktum und damit als Kunst abge-

Abb. 106-108: Ausstellung „Der gute billige Gegenstand", 1951

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schafft. Die Alternative, die in der Rrisis sich öffnet, ist die, entweder aus der Kunst herauszufallen oder deren eigenen Begriff zu verändern." 31 Die internationale Diskussion zum Thema Wohnen und Wohnbau in den dreißiger Jahren wurde nicht nur durch programmatische Ausstellungen und Kataloge dokumentiert, sondern auch grundsätzlich aufgearbeitet und zusammengefaßt. Stellvertretend für diese Arbeiten kann die Publikation von Gustav Adolf Platz über die „Wohnräume der Gegenwart" genannt werden, die zusammen mit seinem zweiten Buch, „Die Baukunst der neuesten Zeit", das große Spektrum des neuen Bauens in der gesamten europäischen und amerikanischen und japanischen Kulturwelt erfaßt. 32 Das umfangreiche Buch „Wohnräume der Gegenwart" wurde im Jahr 1933 publiziert und zeigt eine internationale Übersicht. Es ist gleichzeitig die letzte umfassende deutsche Architekturpublikation vor der nationalsozialistischen Kultur- und Kunstpropaganda. Die Auswahl der gezeigten Arbeiten entspricht einer repräsentativen Selektion. Neben den wichtigen Architekten, deren Namen stellvertretend für die Moderne stehen, umfaßt diese Publikation jenen zeitgeschichtlichen Überblick, der die wichtigen Arbeiten einer „Werkgeneration" darstellt. Aus Österreich werden neben Josef Hoffmann, Adolf Loos und Joseph 01brich folgende Architekten mit ihren Arbeiten gezeigt: Lois Welzenbacher, Ernst Lichtblau, Clemens Holzmeister, Grete Schütte-Lihotzky, Walter Sobotka, Heinrich Tessenow, Jacques Groag, Franz Singer, Josef Frank und Oskar Wlach sowie Oskar Strnad. Die Arbeiten von Hoffmann und Olbrich werden zur Gänze „vor" die Gegenwart gestellt („also nicht modern"). Platz unterteilt in seiner Publikation

grundsätzlich bei den „Grundfragen des Hausbaues" zwischen Stadtwohnung und Landhaus. Bei den „Einzelräumen" hingegen werden in konventioneller Weise die einzelnen Funktionsbereiche besprochen, Wohnraum, Halle, Arbeitszimmer, Empfangszimmer, Speisezimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer sowie Räume der Hygiene und des Sports. Innerhalb dieser Einteilung zeigt Platz eine Auswahl von internationalen Beispielen, welche stellvertretend für die Gegenwart gelten können. Lichtblau ist mit seinem Projekt für die „Internationale Raumausstellung, Köln, 1931" in der Publikation vertreten, eine Arbeit, die man als sehr typisch für die Wiener Moderne bezeichnen kann. 33 Das Bett ist aus poliertem Cocobolo mit Peddigrohr, Saffianleder und Messingfüßen, die Schlafnische selbst wird durch Vorhänge vom übrigen Raum getrennt. Der ausgestellte Entwurf von Lichtblau für ein Schlafzimmer war in Köln neben den Arbeiten von Pierre Barbe zu sehen. Barbes Entwurf zeigt eine Stahlrohrkonstruktion sowohl für das Bett als auch für Nachtkästchen und Toilettentisch. Ebenso inkludiert in diesem Entwurf ist eine Gymnastikwand aus einem verchromten Gestell. Dieser Vergleich zeigt eindeutig die verschiedenen Positionen und die unterschiedliche Materialverwendung: bei Lichtblau und der Wiener Moderne existiert eine Materialdifferenzierung und Vielfalt der Formen und Oberflächen, die „Bauhaus-Moderne" hingegen ist auf eine Reduktion von Material und Form bedacht - Chrom, Glas, weiße oder naturfarbene Stoffe, vereinzelt Holz. Die Welt der Dinge veränderte sich in den dreißiger Jahren zusehends. Der Verdinglichung folgte die Idylle, und somit war der Weg zur Umdeutung der Werte vorprogrammiert.

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Abb. 109: Ernst Lichblau, Ankleidespiegel im Schlafzimmer der Dame, Internationale Raumausstellung in Köln, 1931 Abb. 110: Ernst Lichtblau, Internationale Raumausstellung in Köln, 1931 Abb. 111: Ernst Lichtblau, Promenaden-Kaffee, um 1934 Abb. 112: Ernst Lichtblau, Promenaden-Kaffee, um 1934

Die scheinbare Wohnidylle des Dritten Reiches war aufgebaut auf der Intoleranz gegenüber der Moderne. Mit dem Begriff der entarteten Kunst wurde die Avantgarde vertrieben, hingegen die Mittelmäßigkeit und die reaktionären Rleingeister ermöglicht. In den Jahren von 1934 bis zu seiner Emigration 1958 nach London hatte

Lichtblau fast kein architektonisches Betätigungsfeld. Seine Emigration führte Lichtblau über London nach New York und weiter nach Providence, Rhode Island. Erst dort konnte er im Rahmen seiner Tätigkeit an der Rhode Island School of Design seine architektonische Arbeit wiederaufnehmen.

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Abb. 113: Ernst Lichtblau mit drei Studenten bei einer Projektbesprechung an der Rhode Island School of Design (Lichtblau zweiter von links), Foto nicht datiert (ca. 1950)

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Kapitel 4

DER VERLORENE ALLTAG: EMIGRATION

Freiwillige Fluchten, zwangsweise Ausbürgerung oder Verbannung gehören zu den Grunderfahrungen von Künstlern und Wissenschaftern in diesem Jahrhundert der Kriege und der politischen Umbrüche. Uwe WoW

Heimweh ist es, das die Abenteuer entbindet, durch welche Subjektivität, deren Urgeschichte die Odyssee gibt, der Vorwelt entrinnt. Daß der Begriff der Heimat dem Mythos entgegensteht, den die Faschisten zur Heimat umlügen möchten, darin ist die innerste Paradoxie der Epopöe beschlossen. Es schlägt sich darin die Erinnerung an Geschichte nieder, welche Seßhaftigkeit, die Voraussetzung aller Heimat, aufs nomadische Zeitalter folgen ließ. Wenn die feste Ordnung des Eigentums, die mit der Seßhaftigkeit gegeben ist, die Entfremdung der Menschen begründet, in der alles Heimweh und alle Sehnsucht nach dem verlorenen Urzustand entspringt, dann ist es doch zugleich Seßhaftigkeit und festes Eigentum, an dem allein der Begriff von Heimat sich bildet, auf den alle Sehnsucht und alles Heimweh sich richtet. Max

Horkheimer

Alle Gewässer durchkreuzt, die Heimat zu finden, Odysseus; durch der Skylla Gebell, durch der Charybdis Gefahr durch die Schrecken des feindlichen Meeres, durch die Schrecken des Landes selber in Aides Reich führt ihn die irrende Fahrt. Endlich trägt das Geschick ihn schlafend an Ithakas Küste; er erwacht und erkennt jammernd das Vaterland nicht. Friedrich

1938: eine Jahreszahl ist Symbol geworden für eine staats- und kulturpolitische Veränderung innerhalb Österreichs, die sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens aller Personen betraf. Am 13. März hatte die „New York Times" über den Einmarsch Hitlers in Österreich berichtet. Der Hauptartikel trug folgende Überschrift: „Hitler enters Austria in triumphal parade; Vienna prepares for union, voids treaty ban, France mans border; Britain studies moves."1 Am 21. August 1939 emigrierte Ernst Lichtblau nach England, 17 Monate nach dem „Anschluß Österreichs an Deutschland".

Schiller

Nach dem „Anschluß" waren die Grenzen zu den Nachbarstaaten Österreichs bald geschlossen. Bis zum Mai 1939 gelang es der Israelitischen Kultus gemeinde Wien, circa 100.000 Juden der Stadt die Emigration zu ermöglichen. Als am 7. August 1941 der Auswanderungsstopp für jüdische Männer vom 18. bis zum 45. Lebensjahr verfügt wurde, wurde die Emigration fast unmöglich.2 Die Vertreibung bildender Künstler und Architekten 1938 in das Ausland im allgemeinen und nach Amerika im speziellen ist eine der Schlüsselfragen der österreichischen Kulturgeschichte. Neben dem zeithistorischen Aspekt der Vernichtung fast 93 I

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Abb. 114: Otto Breuer, Haus Nr. 59 und 60 der Werkbundsiedlung, Wien, 1932 Abb. 115: Hans A. Vetter, Blick in einen Wohnraum, um 1932 Abb. 116: Josef F. Dex, Wohnraum im Haus Nr. 66 der Werkbundsiedlung, Wien, 1932

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des gesamten künstlerischen und intellektuellen Potentials nach dem Anschluß ist auch aus kunsthistorischer Sicht besondere Aufmerksamkeit auf das Thema zu richten, da die Geschichte der österreichischen Moderne mit den Vereinigten Staaten unversehens einen zweiten Schauplatz erhalten hatte. Darüber hinaus sollte die Emigration des Jahres 1938 den Blick auch auf jene österreichischen Künstler lenken, die schon früher nach Amerika gegangen waren und dort zum Teil wesentlichen Einiluß auf die Avantgarde ausgeübt hatten. Schließlich vermitteln die einzelnen künstlerischen Laufbahnen mit ihren vielfältigen ideellen und persönlichen Beziehungsgeflechten eine Vielzahl bisher unerschlossener Informationen über die Moderne innerhalb der Landesgrenzen Österreichs. 3 Wenn man heute versucht, die Auswirkungen der Emigration aus Österreich in kultureller Hinsicht zu interpretieren, so kann man für den Bereich der Architektur feststellen, daß fast die gesamte Avantgarde in die Emigration oder in den Tod getrieben wurde. „Wenn man ergänzt, daß Adolf Loos 1933, Oskar Strnad 1935, Hugo George 1938 starben und Otto Breuer 1938 aus politischen Gründen Selbstmord verübte, so ist es eben eine historische Tatsache, daß Wien innerhalb von fünf Jahren praktisch sein ganzes intellektuelles und progressives Architekturpotential verloren hat."4 Die bekanntesten Namen der Wiener Architekten, die in die unfreiwillige Emigration gingen, waren: Felix Augenfeld, Rudolf Baumfeld, Josef F. Dex, Ernst Egli, Herbert Eichholzer, Josef Frank, Jacques Groag, Fritz Gross, Otto Rudolf Hellwig, Heinrich Rulka, Ernst Lichtblau, Walter Loos, Ernst Anton Plischke, Egon Riss, Otto Schönthal, Stephan Simony, Franz Singer, Mar-

garethe Schütte-Lihotzky, Walter Sobotka, Hans Adolf Vetter, Oskar Wlach, Liane Zimbler, geb. Fischer, Wilhelm Baumgarten, Artur Berger, Walter Eichberg, Martin Eisler, Ernst Leslie Fooks (bis 1946 Fuchs), Fred Forbát (bis 1915 Alfred Füchsl), Paul Theodore Frankl, Ernst von Gotthilf, Victor Guen (eigentlich Grünbaum), Rudolf Hönigsfeld, Fritz Janeba, Leopold Kleiner, Fritz Michael Müller, Emanuel Neubrunn, Kurt Popper, Alfred Preis, Harry Seidler sowie Hans Vetter.5 Somit war nach 1938 in Österreich nichts mehr „alltäglich", was als alltäglich erschien. Die Umwertung im Alltag entsprach den Vorstellungen eines modernen totalitären Regimes, der Alltag im Dritten Reich wurde zur scheinbaren Idylle degradiert. Ernst Lichtblau war bei seiner Ankunft in London 56 Jahre alt, bei seiner Einreise in die Vereinigten Staaten 61 Jahre. Anders als die „berühmten" Architekturemigranten, wie Walter Gropius oder Mies van der Rohe, waren die ersten Jahre für Lichtblau sehr mühevoll und schwierig. In einem Zeitungsinterview 1953 wird über Lichtblau von seiner ersten Zeit in den USA berichtet: "Professor Lichtblau wouldn't elaborate on the period prior to his departure from Austria other than to say that life became uncomfortable for him. He closed the door on one way of life and began on a new one, taking only a few personal possessions and his drawing boards. Ί could take nothing of value, not even my medals,' he said. He went to England for a time and earned a skimpy living doing magazine and book cover illustrations, then departed for America, his drawing boards, formed into a box to hold his belongings. Ί arrived in New York with five pounds in my pocket. For the first 12 days I slept in a YMCA in Jamaica. Then I rented a garret, so low I had to stoop.

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I took apart my box, set up my drawing boards and went to work.' He held several jobs during these first years in the United States, taught at Cooper Union for a time, became a design consultant for Macy's department store and created exhibits for the store. Eight years ago he came to the School of Design and began a fulltime teaching job. In the last eight years there have been some big moments at the School of Design. Perhaps not quite as wonderful as that first gold medal presented by Otto Wagner, but satisfying. There was the touring exhibit of 100 articles selected by the Museum of Modern Art which has been travelling in Europe for the last two years. Two platters designed by Professor Lichtblau are among the items." 6 Lichtblaus Tätigkeit in den USA war durch seine pädagogischen Leistungen gekennzeichnet, als Professor für Architektur an der Rhode Island School of Design in Providence, weniger durch seine Arbeiten als planender Architekt. Seine Entwürfe für die Wohnhaus-Umbauten für die Familie Fulkerson (1947) sowie für die Familie Fish (1948) reflektieren das Design-Bewußtsein der fünfziger Jahre in den USA, das dem Begriff „Good Design" zugeordnet werden kann. Seine Design-Entwürfe für Haushaltsobjekte wurden bei verschiedenen Ausstellungen gezeigt (siehe Biographie). Bemerkenswert ist Lichtblaus Ausstellungsgestaltung für die Ausstellung „Sculpture" im Museum der Rhode Island School of Design, wo er mit minimalen Mitteln aus Maschendraht, Gitterstrukturen und Tlich eine vielfältige Raumabfolge gestaltet. Der Terminus „Good Design" vermittelt verschiedenen Menschen unterschiedliche Inhalte. Gutes Design ist durch heterogene Interpretationen gekennzeichnet, die sowohl kulturelle, funktionale und ästhetische Konnotationen beinhaltet.

Die Zusammenarbeit vom Museum of Modern Art in New York mit dem Merchandise Mart of Chicago war ein Versuch, das „Post World War II America Design" zu revolutionieren. 7 Initiator dieses Programms im Jahr 1950 war Edgar Raufmann, der als Direktor der Abteilung für industrielles Design am Museum of Modern Art in New York tätig war. Intention beider Vertragspartner war, den Entwurf und die Produktion von Alltagsprodukten neu zu stimulieren, um sowohl für Designer, Produzenten und Konsumenten eine neue Warenwelt zu entwickeln: "The attention of all America will be focused on the good things being created by the home furnishing industry."8 Die Auswahl der Objekte für das Good Design wurde durch ein Drei-Personen-Komitee erarbeitet, bestehend aus Edgar Kaufmann (permanenter Vorsitzender) sowie ein Designer und ein Vertreter des Handels. Im Januar 1950 wurde in Chicago die erste „Good Design"-Ausstellung gezeigt, wobei die Ausstellungsgestaltung von Charles und Ray Eames durchgeführt wurde. Insgesamt wurden 250 Produkte aus Amerika sowie einige aus Skandinavien ausgesucht. Ein Jahr später, 1951, wurde ein graphisches Symbol für das „Good Design"-Programm von Morton Goldsholl entwickelt. Mit diesem Anhänger (oder Aulkleber) wurden diejenigen Produkte gekennzeichnet, welche für die Ausstellung ausgewählt wurden. Somit war für den Designer, Produzenten und Konsumenten ein „Symbol" beziehungsweise ein „Zertifikat" entstanden, welches sich für Qualität verbürgte. Die Überlegungen zum „Good Design"-Programm waren neu für die amerikanischen Verhältnisse, jedoch aus europäischer Sicht ein traditionelles Muster, um neues Design einer größeren Öffentlichkeit vorzuführen. Ernst Lichtblau beteiligte

Abb. 117: Good Design-Ausstellung Abb. 118: Morton Goldsholl, Symbol „Good Design"

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Abb. 119: Ernst Lichtblau, Wohnhaus-Umbau und Inneneinrichtung für Familie Fish, Providence, ca. 1948

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Abb. 120: Ernst Lichtblau, Wohnhaus-Umbau und Inneneinrichtung für Familie Fish, Providence, ca. 1948

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Abb. 121: Ernst Lichtblau, Wohnhaus-Umbau und Inneneinrichtung für Familie Fish, Providence, ca. 1948

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Abb. 122: Ernst Lichtblau, Wohnhaus-Umbau und Inneneinrichtung für Familie Fish, Providence, ca. 1948

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Abb. 123: Ernst Lichtblau, Gestaltung der Ausstellung „Sculpture 1850-1950", Rhode Island School of Design, Providence, Mai 1950

Abb. 124: Ernst Lichtblau, Gestaltung der Ausstellung „Sculpture 1850-1950", Rhode Island School Design, Providence, Mai 1950

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sich an der Ausstellung im Jahr 1954 mit seinen Arbeiten für Haushaltsobjekte aus färbigem Email. Lichtblaus Beiträge zeigen ein reduziertes Design, das sich auf die grundsätzlichen geometrischen Formen, Farben und Proportionen beschränkt. Aufgrund der geringen Anzahl von Archivalien über Ernst Lichtblau während seiner Zeit in den USA soll ein Zeitungsinterview als „Zeitzeugnis" über Lichtblau eine persönliche Auskunft geben. Entstanden als „Profile of A Professor, R.I. School of Design's Lichtblau", wurde dieser Artikel von Stuart O. Haie im „Evening Bulletin", Providence, im Jahre 1953 veröffentlicht.9 Profile of a Professor R.I. School of Design's Lichtblau By STUART 0. HALE The door at the bottom of the stairs leading to the third floor at 544 Benefit Street swung open. A small man wearing a dark gray pinstripe suit and striped tie extended his hand in greeting. "Won't you come up please," he said. He had the old world manners you seldom find these days, a subtle blend of deference, dignity and warm hospitality. His thick gray hair, and mustache and heavy horn rimmed glasses completed the picture of a European gentleman, a man who might surround himself with rich fabrics, shelves of leatherbound books, dark, ornately carved furniture. At the top of the stairs, two gooseneck lamps of spun aluminumscrewed to the ceiling spotlighted the landing and a wall size photo enlargement of a thin, black patter, a study in black and white contrast. A small Eames chair wrought iron with upholstered seat and back, completed the furnishings of a sparse entrance hall.

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Prof. Ernest Lichtblau, 70 year old architect and head of the interior design department at the Rhode Island School of Design, was receiving guests. He opened the door of an apartment as contemporary in furnishings as an exhibit at the Museum of Modern Art.

"As I Really Am"

"This is my home," he said, moving his hands with their long, tapering fingers in a small but expressive gesture. The hands seemed to say, "Now you will know me as I really am." The apartment was old, as was the house, and had once been a series of dull, high-ceilinged rooms, linked by a grimy, dark floor. Then Professor Lichtblau moved in. The walls and ceiling became stark white, the floor, scrubbed until it glowed, showed its natural grain once more. Ceilinghigh draperies of cream-colored cloth were placed on metal tracks along two walls. A third wall, in sharp contrast, was covered with drapery material colored bright blue. Every piece of furniture in each room was of modern design, down to the smallest object on the coffee table. Many of the articles were of his own creation. He offered cigarettes from a little metal trough with small accessories on the coffee table, and talked about the old days in Vienna, before 1938, about his gold and silver medals for architecture and design, contemporary furniture in America, his students at the School of Design, his plans for the future. Defends

Furnishings

It was mentioned that at a recent design conference in Michigan the average American homes were described as furnished in bad taste.

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"I don't think so," he said. "They could be improved but there has been a tremendous improvement in the last 16 years. The big trouble is that stores and manufacturers make good contemporary things but also continue to produce the abominations which sold well 20 or 25 years ago. The average m a n goes to a store, without background, and lets the salesman talk him into buying the worst instead of the best. "It's the responsibility of the stores and manufacturers to see that he gets the best." Key to His Theory He talked of antiques and thereby provided a key to his theory of good design. "I have no use for antiques as such. If they are useful and still pleasing to look at they are all right. If they are treasured to show the evolution of design they are all right. If they are not useful I don't want them." Professor Lichtblau believes that in general antiques demand more fulsome surroundings than, simple, uncluttered modern interiors but there are certain exceptions. In the dining end of his apartment, surrounding a modern dining table with white metal legs, were chairs with bent wood backs and legs. "Those were made by Toneth in the 1830's. They are as modern today as they were then," he said. The Crown of Art He displayed some copper and enamel ware pieces and several thin, graceful plates and trays made of aluminium, and said that architecture "is the crown of art," the synthesis of all art forms, while properly designed useful objects should combine both beauty and function, "the one complementing and enhancing the other."

Then he went on to say that he believes an architect should be able to do a complete job, from planning the basic construction of a house down to designing the furnishings. That was the way Austrian architects were trained, he said, and went on the disclose an idea he has nurtured for some time. He'd like to see the School of Design expand its activities to embrace all forms of allied art and operate an integrated program in which students would do work in all departments. "It could perhaps become an Academy of Design," he said. He poured sherry into tallstemmed glasses and in halting, careful English talked about his own work. Built His Career Twice It turned out that Professor Lichtblau is a man who had to build a career twice. He came to the United States in 1938, well past 50, penniless and speaking only broken English. Behind him: a flourishing and lucrative career as a leading Viennese architect smashed by Nazi terrorism. But to go back to the beginning: "My father was the supervisor of the largest pipe factory in Austria-Hungary. We lived next door to the factory and I practically grew up in the factory where beautiful briars and meerschaums were made, largely for export. I finished my education in Vienna under Otto Wagner, the great architect, in 1912. Two years later I became a professor and could teach and practice architecture. I remember how proud I was when I received my first prize. It was presented by the Master (Wagner) in front of the entire class, by order of Franz Joseph, Emperor of Austria and King of Hungary. It was for the design of a government building in Bosnia."

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Reverence for a Master "In those days there was always great reverence for the Master. I remember how wonderful it was once when he asked a few of us to visit him at his house in the country." He refilled the sherry glasses and opened a fat photograph album to show some of the things he did in the good years before 1938: small houses furniture, lamps, glassware, rugs, silver bowls, a picture of the gold medal he won in 1924 in international competition with a beautiful silver coffee pot, apartments, stores and shops in Vienna and Paris, pictures of apartment interiors made in the early 30's which would be considered contemporary today. "I remember the first house I did," he said wistfully. "It was for a young professor of geography and history. He was a writter too. It was a regular villa, the salon on the second floor and a terrace on the roof. And on the front of the house beetween the second floor windows I put a lifesize symbol made of a ceramic material. It was a man playing a lyre, signifying the story teller or writer." Wrote Play About House "My client liked it so well. It was furnished with Biedermeier furniture which he had inherited. He wrote a play about it, called 'The Blessing of a House.'We all had parts in the play. People in the neighborhood were in it and we gave it in his living room. Not long ago the director of the great art museum in Vienna visited the School of Design. He had been one of the professor's pupils and because he was a good one was given a book plate which I had designed for the professor's extensive liberary. We found we had much in common." Professor Lichtblau wouldn't elaborate on the period prior to his depar-

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ture from Austria other than to say that life became uncomfortable for him. He closed the door on one way of life and began on a new one taking only a few personal possessions and his drawing boards. "I could take nothing of value, not even my medals," he said. He went to England for a time and earned a skimpy living doing magazine and book cover illustrations, then departed for America, his drawing boards formed into a box to hold his belongings. Rented a Garret "I arrived in New York with five pounds in my pocket. For the first 12 days I slept in a YMCA in Jamaica. Then I rented a garret, so low I had to stoop. I took apart my box, set up my drawing boards and went to work." He held several jobs during these first years in the United States, taught at Cooper Union for a time, became a design consultant for Macy's department store and created exhibits for the store. Eight years ago he came to the School of Design and began a fulltime teaching job. In the last eight years there have been some big moments at the School of Design. Perhaps not quite as wonderful as that first gold medal presented by Otto Wagner, but satisfying. There was the touring exhibit of 100 articles selected by the Museum of Modern Art which has been traveling in Europe for the last two years. Two platters designed by Professor Lichtblau are among the items. Every spring at the Merchandise Mart in Chicago a nationally-known exhibit of furniture and household accessories takes place. Articles selected for the exhibit are marked with a „Good Design" tag and any manufacturer who arranges to produce an article from the exhibit for

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market can stamp each one with the „Good Design" label. In Chicago Exhibit Last year the School of Design was among eight schools exhibiting at the Merchandise Mart a high honor. Next month, March 1 to 8, the School of Design exhibit, a future New England home down to the last detail of furnishing, will be featured at a special exhibition at the Museum of Modern Art in New York. The Museum of Modern Art is a co-sponsor of the Merchandise Mart show. Articles which he has designed, all with the "Good Design" label, are included in two new exhibits under preparation for foreign travel this year. A joint State Department-Museum of Modern Art exhibit contains six Lichtblau items, while another Museum of Modern Art collection being arranged for a Paris showing this spring has four of his creations. His students, whom he delights in working with, have done exceptionally well. Among others, Lawrence Peabody, who was graduated four years ago and then studied in Denmark on a scholarship, has created an outstanding plastic chair and other furniture now in production. James Howell, a member of last year's graduating class, designed chairs and a table, now produced commercially, which won top honors in the Young Designers Competition of 1954 at the Akron Museum of Art, an event sponsored by the magazine Living for Young Home-

makers. Thomas A. Henderson, who will be graduated this spring, has designed an constructed a chair which will be featured in the Museum of Modern Art show next month. Tremendous Energy Other faculty members at the school say Professor Lichtblau is a man of tremendous energy, bubbling over with new ideas, plans for fresh projects. He says himself, "I have much designing yet to do, if I can find the time." He doesn't feel that he will turn to basic home designing again though. "Working with American clients is quite a problem. They are too changeable. With every new copy of House and Garden they have a different idea about what they want while the architect's work is in progress. In Europe they were more respectful, more appreciative." Two years ago he learned to drive a car. Providence traffic was difficult but he persevered for a time until a few scratches made him decide to put the machine up in a Benefit Street garage. "I'm too sensitive, I'm afraid," he said, "but I don't know. I may take it out again in the spring." He often cooks his own meals but describes himself als "a bloody amateur chef," and he walks back and forth to school each day, a small scholarly figure in black overcoat and gray hat with the rim turned up all around.

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Eine neue Welt: Guter Geschmack und gutes Design

Abb. 126: Foto der Raumkomposition von Nicholas Romano. Die Stäbe sind rot lackiert, die abgehängte Decke in blassem Grün gehalten. Der Mittelteil ist lichtdurchlässig. Die einzelnen Möbelstücke sind äußerst farbenfroh: Chinagelb, sattes Rot, Grün, Weiß und Ultramarin in Kombination mit hellem Holz und schwarzer Lackierung. Der Eßtisch im Vordergrund ist ein Entwurf von Edward J. Wormley für die Brexel Furniture Company. Die dazugehörigen Sessel sind ein Entwurf von Leslie Diamond für die Conant Ball Company. Die Couch links wurde von Edward J. Wormley für die Dunbar Furniture Manufacturing Company entworfen. Der Armsessel gegenüber stammt von Alvar Aalto und wurde von Christina Nute importiert. Der Beistelltisch daneben ist ein Entwurf von Abel Sorensen und James Johnson für Knoll Associates Incorporated. Der große Tisch im Gartenbereich im Hintergrund ist ein Entwurf von Hendrik van Keppel und Taylor Green für Van Keppel-Green Incorporated. Das Glas ist entweder von der Sorte „Blue ridge flutex" oder leicht aufgerauht. Der aus Furnierholz geformte Wandschirm außen links ist ein Entwurf von Charles Eames. Die Tapeten dahinter stammen von Bassett and Folium Incorporated. Vor dem Schirm sieht man den „hängenden Garten" von Felix Augenfeld für Hansen and Waldron, daneben an der Wand steht ein für die Herman Miller Furniture Company entworfener schwarz lackierter Wandschrank von George Nelson. Die Stehlampe neben der Couch ist ein Entwurf von Walter von Nessen für Nessen Studio, Inc. Die über den Beistelltisch gebeugte Lampe, die sowohl direktes als auch indirektes Licht gibt, ist ein Entwurf von Kurt Verson für die Kurt Verson Company.

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Kapitel 5 EINE NEUE WELT: GUTER GESCHMACK UND GUTES DESIGN ERNST LICHTBLAU IN PROVIDENCE, RHODE ISLAND Samuel B. Frank

1. EIN WANDEL ZEICHNET SICH AB den Kreisen potentieller Kunden bewegte und ihre Studenten entspreEin Blick in die Jahrbücher der Rho- chend vorbereitete, sah ihr Unterde Island School of Design aus den richt eine Auseinandersetzung mit Jahren 1949 bis 1956 genügt, um die den abstrakten Prinzipien des Deersten Anzeichen des erstaunlichen signs (Farbe, Form, Materialien) vor Wandels zu erkennen, der sich hier und bot eine Einführung in die Konstruktionslehre und die Materialvollzogen hat. 1 Von 1919 bis 1947 wurde die Klasse kunde. Im Sommer 1947 legte Emifür Innendekoration (interior de- lie Wildprett aus gesundheitlichen sign) von Emilie Wildprett geleitet, Gründen ihre Lehrtätigkeit zurück. einer RISD Absolventin, die davon (Sie verstarb im darauffolgenden überzeugt war, daß Innendekoration Jahr.) Im Herbst 1947 nahm Ernst vornehmlich einem erlesenen Kun- Lichtblau seine Lehrtätigkeit an der denkreis zugänglich sei. Ihr Ziel war RISD auf und damit kam es zu einer es, die besten Absolventen des Lehr- grundlegenden Veränderung der gangs bei einer der beiden erfolg- Ansätze und Maßstäbe. Im Jahr dareichsten Innenausstattungsfirmen rauf erfolgte seine offizielle Ernennung zum Institutsvorstand. Mit der New Yorks unterzubringen. Zeit machte sich sein Einfluß bemerkbar und es vollzog sich ein 1949 „Die Klasse für,inferior desecrators' sichtbarer Wandel. (,Innenraumverschandler') - hier werden die besten Reihenhäuser der 1950 Welt entworfen, hier entstehen Vi- „Anfänglich nähert man sich der Insionen von Beleuchtungssystemen nendekoration mit großer Begeisteund in Serie gefertigten Grundris- rung und ein wenig Neugier und assen. Aber Spaß beiseite - dem Stu- soziiert damit Chintz und Louis denten wird hier das allerbeste Rüst- Quinze, aber ehe man sich's versieht zeug für die Berufspraxis mitgege- ist man ein begeisterter Verfechter ben und es wird ihm die Möglichkeit des zeitgenössischen Designs. Bald geboten, künstlerische und praxis- schon drängt man darauf, das Wisbezogene Fertigkeiten zu erwerben. sen in die Praxis umsetzen, kauft Das Erlernen von Fertigkeiten in sich - sofern die Kasse stimmt - eiden diversen verwandten Fachge- nen Hardoy Chair,,leiht' sich einen bieten, wie beispielsweise Möbelde- kleinen Rhododendron und malt sign, Ausstellungs- und Wohnacces- sein Zimmer in schlichtem Weiß soiregestaltung soll dem Studenten aus. Dann arbeitet man Tag und die nötige Erfahrung mit auf den Nacht an übergroßen Perspektiven Weg geben."2 Während sich Emilie bis schließlich die anfängliche UnWildprett mit großer Sicherheit in geduld der wohltuenden Gewißheit

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gewichen ist, zum legendären Kreis um Ernst Lichtblau zu gehören." 3 Auf die anfängliche Orientierungslosigkeit und Zaghaftigkeit sollte schon bald Entschlossenheit und Zuversicht folgen. Nicht nur, daß das Alte verworfen wurde, dem Neuen wurde auf den verschiedensten Ebenen und auf die verschiedenste Art und Weise zum Durchbruch verholfen: Schreibstil, Produkt und Funktionstyp wurden revolutioniert.

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mittelt werden damit er später den Anforderungen der Praxis gerecht werden kann und ein Haus von Innen nach Außen zu gestalten vermag."3 Waren die Grundlagen erst einmal geschaffen, ging man noch einen Schritt weiter und ließ die verwandten Fachgebiete in das Programm einfließen, vornehmlich Architektur, aber wohl auch Industrielles Design als Grundvoraussetzung für die eigentliche Produktion.

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1954

„Innenarchitektur an der RISD kann fortan nicht mehr mit Innendekoration gleichgestellt werden. Bei ersterem liegt die Betonung auf kreativer Gestaltung. Die eingehende Beschäftigung mit den Grundlagen der modernen Architektur, der Ronstruktionslehre und der Materialkunde soll es dem Studenten ermöglichen, den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden, insbesondere in Hinblick auf das Entwerfen von Wohnhäusern, öffentlichen Bauten und Geschäftsbauten. Im Rahmen eines neuen Seminars dieses Lehrgangs, bei dem der Schwerpunkt auf dem Zusammenspiel von Formgebung und Produktion liegt, soll dem Studenten die Entwicklung einer Idee vom Reißbrett bis hin zu ihrer Verwirklichung näher gebracht werden." 4 Im folgenden sollte die Aussage noch klarer und überzeugender werden.

„Der neue Lehrplan, der eine Verbindung zwischen Innenarchitektur und Architektur herstellt, ist für beide Disziplinen von Vorteil und hat sich auch auf die Planung positiv ausgewirkt. Aufgabe des Innenarchitekten ist es, sich Gedanken über die Inneneinrichtung zu machen und Form und Funktion des Mobiliars den menschlichen Bedürfnissen anzupassen. Ein kreativer Geist - praxisbezogen und zugleich phantasievoll - ein Designer also, der es versteht, Funktionalität und Formvollendung in Einklang zu bringen."6 Schließlich sollte das Ganze noch aufgewertet und in Verse gesetzt werden. 1955

1952

„Das Leben zu verstehen und ihm durch die Form Ausdruck zu geben ist wahrlich eine hohe Kunst." (Eliel Saarinen) Dies sollte die Leitlinie von Professor Lichtblaus Klasse werden.

„Hier sollen künftige Innenarchitekten die Grundlagen der Architekturgestaltung und der Erzeugung von Textilien und Möbel erwerben. Im Rahmen von Workshops soll die Umsetzung einer auf dem Reißbrett entstandenen Idee erlernt werden. Erklärtes Ziel ist es, den Studenten zu einer objektiven, realistischen Gestaltungsweise hinzuführen. Dem Studenten soll das nötige Wissen ver-

„Aus der Erkenntnis heraus, daß Innenraum, Grundriß und Konstruktion eine Einheit bilden und Innenraumgestaltung somit nicht als etwas Selbständiges betrachtet werden kann, soll den Studenten des Innenarchitekturlehrgangs {Interior Architecture Design) die gleiche Designausbildung geboten werden wie den

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Architekturstudenten. Der Student Offensichtlich waren tiefgreifende soll somit ein Verständnis für die Har- Umwälzungen im Gange. Die Promonie einer Konstruktion entwickeln bleme, Ansätze und Maßstäbe der und erkennen, daß man von gutem Architektur des 20. Jahrhunderts Design nur dann sprechen kann, das Manifest des Modernismus wenn ein und dieselben Gestaltungs- hatten ihren Platz in einer Kunstprinzipien bei allen Teilen eines Bau- schule der Nachkriegszeit gefunden. werks Anwendung finden. Bei unserer Lehrmethode gehen wir INNENARCHITEKTUR AN DER prinzipiell davon aus, daß das FormRHODE ISLAND SCHOOL verständnis eines jeden Menschen OF DESIGN durch den Sessel auf dem er sitzt, den Boden auf dem er geht und Die Rhode Island School of Design durch die Farbe, Textur und das Ma- wurde 1878 von einer Gruppe von terial der Wände seiner Behausung Frauen aus Rhode Island mit dem geprägt wird. Restbudget einer Ausstellung geIn den Kursen, wo die Grundregeln gründet, die 1876 im Rahmen der guten Designs dargelegt werden, Weltausstellung in Philadelphia verund im Studio, wo die eigentliche anstaltet worden war. Erklärtes Ziel Umsetzung der Ideen in Hinblick auf war es, die Kinder von Arbeitern aus die menschlichen Bedürfnisse er- den Textilfabriken kunsthandwerkfolgt, soll der Student die Fähigkeit lich auszubilden. Von 1885 bis zur erlernen, der Kunst kritisch und ob- Jahrhundertwende wurden von den jektiv gegenüberzutreten und die Direktoren der Schule, die meist konstitutiven Merkmale eines selbst Architekten waren, Kurse in Kunstwerkes zu erkennen. Dadurch diesem Lehrfach angeboten. Die erwiederum soll der künftige Innenar- sten Absolventen der Architekturchitekt lernen, seine eigenen Ideen klasse gingen aus dem Jahrgang gestalterisch umzusetzen. Wissen- 1897 hervor, als die Klasse für Archischaft und Technik haben schon im- tektur noch Teil des technischen mer das Verhalten und die Gewohn- Lehrgangs war. Im Jahr 1901 wurde heiten des Menschen verändert und ein eigener Lehrgang für Architekdie Gestaltung seiner Umwelt maß- tur gegründet. Geleitet wurde er von geblich beeinflußt. Somit läßt sich Eleazer Bartlett Homer, einer Absoleine Tendenz zu immer wiederkeh- ventin des Massachusetts Institute of renden Verhaltensmustern erken- Technology, die gleichzeitig auch nen, die sich an den jeweiligen Be- Rektorin (director, vormals headmadürfnissen orientieren. Das ist die ster genannt) der RISD war. Homer Triebfeder, der wir unseren kultu- hatte diese beiden Funktionen bis rellen Fortschritt verdanken und die zum Jahr 1907 inne, als diese von dafür sorgt, das neue Ausdrucksfor- Huger Elliott übernommen wurden. Im Jahr 1912 kam es zur Teilung der men entstehen können. Die Kreation neuer Formen und ihre Funktionen, wobei die Leitung der Beziehung zur Umwelt ist für den Architekturklasse von Norman MorKünstler eine Herausforderung, rison Isham übernommen wurde, denn er wird vor die schwierige Auf- einem Architekten, der sich auf dem gabe gestellt, in unserer modernen Gebiet der Kolonialarchitektur eiZeit Harmonie zu schaffen. Er ver- nen Namen gemacht hatte. Bis 1932 dankt es seinem kreativen Talent, stand das Institut unter der Leitung daß er die Welt verstehen kann, da von Isham, der seine Lehrtätigkeit er allein die Symbolsprache unserer bis 1942 fortsetzte. Im Jahr 1912 heutigen Kultur zu deuten vermag." 7 wurde Innendekoration (interior de107 I

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sign) an der RISD erstmals als eigenständiges Fach gelehrt. Der Lehrplan war dem der Architekturklasse sehr ähnlich, nur daß die Betonung eher auf Kreativität als auf mathematischen Fächern lag. Im Jahr 1917 wurde der Name des Lehrgangs auf Interior Decoration geändert. Als Emilie Wildprett im Jahr 1919 ihre Lehrtätigkeit an der RISD aufnahm - sie selbst hatte an der RISD und an der Brown University studiert - bestand der Lehrplan aus Kursen der Architekturklasse und der Klasse für 'Decorative Design', wie dem RISD Katalog des Jahrgangs 1922-23 zu entnehmen ist.8 „Im Rahmen dieses Jahrgangs werden dem Studenten Kenntnisse im Bereich der Innenraumgestaltung vermittelt, die zu seiner Geschmacksbildung beitragen sollen. Dies erfolgt durch das Studium der Baukunst, der Möbelkunde, Farbenund Formenlehre, anhand von konkreten Beispielen, die gezeichnet und analysiert werden. Dabei finden die dem Entwurf zugrundeliegenden Prinzipien der Formgebung, des Maßstabs, der Proportion und der Harmonielehre Anwendung auf die Gestaltung der Wände, Böden und Decken, auf die Möblierung, die Musterung und Struktur von Stoffen und auf die gesamte Farbgebung. Die Studenten der höheren Klassen müssen Gestaltungsvorschläge ausarbeiten und eine Auswahl an Wandverkleidungen, Drapierungen, Stoffen und Bodenbelägen treffen, um so die nötigen Erfahrungen für die spätere Praxis zu sammeln. Ergänzt wird das Lehrprogramm durch Vorlesungen aus der Textilund Möbelkunde sowie durch Exkursionen zu ausgewählten Privathäusern. 9 Im Jahr 1928 wurde ein eigener Lehrgang für Innendekoration {interior decoration) unter der Leitung von Emilie Wildprett eingerichtet. Im Jahr 1934 wurde daraus die KlasI 108

se für Innenraumgestaltung und Möbelkunde (Interior Architecture and Furnishing) und 1937 die Klasse für Interior Design. Mitte der 40er Jahre umfaßte der Lehrplan dieses Lehrgangs eine Auswahl der wichtigsten Gestaltungsfächer mit Zugeständnissen an die Architektur und die Innendekoration. Die Lehrgangsbeschreibung aus dem Jahr 1922 wurde in den folgenden 25 Jahren nur unwesentlich geändert, war aber 1947-48 etwas fachspezifischer und genauer. „Studenten des Lehrgangs für Innendekoration soll hier die Möglichkeit gegeben werden, das nötige Wissen für die Praxis zu erwerben. Durch das Studium der Innenraumgestaltung und Möbelkunde von den Anfängen bis zur Gegenwart soll der Student lernen, sich ein kritisches Urteil zu bilden. Das Studium der Innenarchitektur und Möbelkunde sowie der Grundkenntnisse der Farbenlehre, des Maßstabs und der Textilkunst erfolgt durch Aufgabenstellung, ergänzt durch Vorlesungen über die Grundlagen der Innenarchitektur und über die Theorie der Form- und Farbgebung, Kunstgeschichte, Architektur, Textil- und Stilmöbelkunde. Schließlich werden die Zeichnungen zwecks größerer Praxisnähe durch Vorschläge hinsichtlich der Farbe und Textur der Wände, Tapeten und Stoffe ergänzt, wobei diese am Markt erhältlich sein müssen. Um es dem Studenten zu ermöglichen, sich mit der Berufswelt vertraut zu machen, bieten wir ihm die Gelegenheit, praktische Erfahrungen in einer Ausstattungsfirma zu sammeln. Diese Praxis, die noch durch das Studium wertvoller Sammlungen antiker Möbel wie beispielsweise die „Pendleton Sammlung" aus dem eigenen Museum ergänzt wird, ist eine einzigartige Vorbereitung für den Berufsalltag. Wenngleich der Lehrplan vor allem auf den Beruf des Innendekorateurs

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zugeschnitten ist, so vermittelt er doch auch Grundlagen in verwandten Bereichen wie Industrielles Design, Schaufensterdesign und Ladeneinrichtung." 10 Im Sommer 1947 beendete Emilie Wildprett ihre Lehrtätigkeit und an ihre Stelle trat im Herbst Ernst Lichtblau. Im Jahrgang 1957-58, am Ende seiner Lehrtätigkeit, hatte der Lehrgang für Innenarchitektur (Interior Architectural Design) schließlich konkrete Formen angenommen. „Die richtige Form und Funktion für den Raum zu finden, in dem wir leben und arbeiten, obliegt der Kreativität und dem technischen Können des Innenarchitekten. Dabei ist der Begriff ,Innenarchitektur' nicht gleichbedeutend mit Innendekoration'. Wir an der RISD sind davon überzeugt, daß die Tätigkeit eines Designers, der Innenräume von öffentlichen und privaten Bauten gestaltet, weit über die bloße Ausschmückung derselben hinausgehen sollte. Im Sinne eines modernen, kreativen Zugangs zum Design wird den Studenten dieses Lehrgangs dieselbe Designausbildung geboten wie den Architekturstudenten. Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Studienrichtungen Architektur und Landschaftsgestaltung beweist die Wichtigkeit der engen Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Fachgebieten. Unsere Lehrmethode geht davon aus, daß die Gestaltung von Innenräumen nicht von der Gesamtplanung zu trennen ist und daß man von gutem Design nur dann sprechen kann, wenn ein und dieselben Gestaltungsprinzipien bei allen Teilen des Bauwerks Anwendung finden. Deshalb muß den Studenten das nötige Rüstzeug gegeben werden, damit sie später die Probleme der Praxis - Größe, Form und Orientierung im Hinblick auf Sonneneinstrahlung, Windverhältnisse und Ausblick - bewältigen können. In seiner Planung

muß der Innenarchitekt auf Bewegungsfreiheit ebenso viel Wert legen wie auf die Möblierung und die Anordnung von Abstellräumen und Geräten, um die jeweiligen Büro- und Wohnräume arbeitsgerecht beziehungsweise wohnlich zu gestalten. Dazu bedarf es einer fundierten Kenntnis der Konstruktionsprinzipien und Baustoffe, nicht nur die eigentliche Architektur betreffend, sondern insbesondere im Hinblick auf die Herstellung des Mobiliars. Der Student muß ein Gefühl für Proportion und Maßstab entwickeln, ebenso für eine harmonische Farbgebung und für weniger greilbare Kriterien wie Stimmung, Atmosphäre oder gar Phantasie. Er soll lernen, jedes gestalterische Problem unter den verschiedenen Gesichtspunkten der Funktionalität, Ästhetik und Psychologie zu betrachten. Schließlich wird ein Konzept für die Gesamtplanung mit einer Grundausstattung an Möbeln und Einrichtungsgegenständen erstellt und in der Folge ausgearbeitet. Auch soll der Student lernen, seine Kreativität bei der Anfertigung von Plänen, Zeichnungen und maßstabsgetreuen Modellen unter Beweis zu stellen. Beispiele einzelner Möbelstücke und Textilien, die für das Design von besonderer Wichtigkeit sind, werden zum Teil maßstabsgetreu widergegeben. Somit ist der im Rahmen des Lehrgangs veranstaltete Workshop über konstruktive Methoden für den künftigen Designer eine wichtige Hilfe. Für Absolventen dieses Lehrgangs gibt es zahlreiche Stellenangebote in den diversen Branchen. Aufgrund des hohen Stellenwerts, den die Architektur im Rahmen des Innenarchitekturlehrgangs besitzt, können unsere Absolventen eine Anstellung als freie oder ständige Mitarbeiter bei den großen Architekturbüros finden. Talentierte Designer, die um die eigentliche Verwendung eines

Abb. 127: Sessel, Rhode Island School of Design, Department of Interior Design, Providence, ca. 1952

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Einrichtungsgegenstandes Bescheid wissen, sind auch bei Möbelproduzenten bzw. bei auf Raumausstattung spezialisierten Firmen stets gefragt. Schließlich kann der Absolvent auch sein eigenes Büro eröffnen, um hier seiner Planungs- und Beratungstätigkeit mit privaten und geschäftlichen Kunden nachzugehen."11 Die Entwicklung des Lehrgangs für Innenarchitektur an der RISD mit seinen unterschiedlichen Bezeichnungen - von Interior Design, Interior Decoration (Mitte der 30er Jahre kurzzeitig Interior Architecture and Furnishings), dann wieder Interior Design bis hin zu Interior Architectural Design - läßt erkennen, daß von den frühen Anfängen bis weit in die 50er Jahre hinein das Streben nach „gutem Geschmack" ein zentrales Thema war. Die Ausbildung und der gute Geschmack, die schon 1922 zu den wichtigsten Zielsetzungen gehört hatten - ja sich bis hin zur Gründung der RISD im Jahr 1878 zurückverfolgen lassen - werden am ehesten durch die Formulierung „Exkursionen zu ausgewählten Privathäusern" charakterisiert, die bis 1945 in Gebrauch war. Die Fähigkeit „sich ein kritisches Urteil zu bilden", eine Formulierung der Jahre 1944 bis 1947, sollte eher durch Museumsbesuche als durch Exkursionen zu ausgewählten Privathäusern gefördert werden. Schließlich wurde in den 50er Jahren, unter Lichtblau, aus dem Thema „guter Geschmack" - im Einverständnis mit Edgar Raufmann und dem Museum of Modern Art- „gutes Design". Möglichkeiten seiner Umsetzung wurden auch anderswo gesucht, so auch in Ausstellungen (Verkaufsbzw. Museumsausstellungen) zu den neuesten Entwicklungen und wurden in den Rahmen des Designstudios integriert. Man war davon

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abgekommen, das Geschmackvolle einem kleinen, erlesenen Kreis vorzubehalten und wollte es nun auch der breite Masse zugänglich machen. Die Anmerkung aus dem Jahr 1946, daß der Lehrplan entsprechend weitgefächert sei und „auch Grundlagen in verwandten Bereichen wie Industrielles Design, Schaufensterdesign und Ladeneinrichtung vermittelt", läßt die Berufung Lichtblaus an die RISD im Jahr 1947- der neben fundierten Kenntnissen in der Architektur auch über reiche Erfahrungen in diesen Disziplinen verfügte - als geradezu naheliegend erscheinen. Im Jahr 1951 heißt es schließlich, daß „ein moderner, kreativer Zugang zum Design durch den besonderen Stellenwert der Architektur und der verwandten Fachgebiete gefördert wird". An die Stelle des Leitmotivs des guten Geschmacks tritt das Thema des Zusammenwirkens zwischen den einzelnen Disziplinen der „architectures".12 „Die Klassen der Architektur und Landschaftsarchitektur sollen während des Studienjahres die Aufgabenstellungen gemeinsam erarbeiten". Ein weiterer Schritt durch den der Geschmack seine Vorrangstellung verlieren sollte, war die Entwicklung weg von der Fertigung von Einzelstücken hin zur Massenproduktion als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Ausstattung von Innenräumen. „Technisches Wissen für Entwürfe von Möbeln, Textilien, Geschäftsausstattung, Beleuchtungssystemen etc. soll in der Werkstatt und im Studio erworben werden, um den Studenten die Lösung praktischer Probleme zu erleichtern. Nicht nur die Einstellung zum,guten Geschmack' sondern auch die Produktgestaltung haben eine grundlegende Veränderung erfahren. Möglicherweise wurde lediglich der Be-

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griff Innendekoration', nicht aber die eigentliche Tätigkeit verbannt, der Begriffsinhalt hat sich jedenfalls grundlegend gewandelt, weg von der Inszenierung schöner Bilder, die einen Luxus vortäuschen, hin zur Neudefinition der täglichen Lebensinhalte. „Seit dem Tag im Jahr 1947, als Professor Ernst Lichtblau aus Wien kommend die Rhode Island School of Design betrat und eingeladen wurde, Innenarchitektur und nicht allgemeine Architektur zu lehren, hatte der Innenarchitekturlehrgang eine Richtung eingeschlagen, die bis zum heutigen Tag einzigartig ist. Lichtblau war ein Architekt, der sich den Prinzipien der neuen Strömung verschrieben hatte, die im damaligen Europa ihren Ursprung genommen hatte und er war es auch, der die Architektur aus den Klauen des Klassizismus befreite, in dessen Bann sie ein Jahrhundert lang gewesen war. Der von ihm herbeigeführte Wandel erfolgte umgehend und war allumfassend. Das schnöde Beiwerk des alten Lehrplans der Klasse für Innendekoration hatte endgültig ausgedient: traditionelle Aquarellstudien, Fenstergestaltung, ja sogar das gesamte eklektizistische Vokabular und die der Innendekoration zugrunde liegende Gesinnung - die Quintessenz eines Studiums an der RISD - wurden verworfen. Anstatt sich auf eine große Auswahl an genormten Ausstattungsvarianten zu stützen, lehrte Lichtblau seinen Studenten, die Raumkonzepte auf Nutzung und Funktion abzustimmen, die sich im Bauwerk widerspiegeln sollten. Anstatt eine Auswahl von Stilmöbel zu treffen, lernten die Studenten, Höhe und Art der Sitzfläche sowie Neigung der Rücken- und Armlehnen anhand ihrer Körpermaße zu bestimmen. Entwurfsbestimmend war jetzt eher der Komfort als der „gute Geschmack". Sowohl die

Tischlerei- als auch die Metallklasse verdanken Lichtblau ihre Eingliederung in den Innenarchitekturlehrgang. Als Lichtblau im Jahre 1957 nach seiner zehnjährigen Lehrtätigkeit an der RISD nach Wien zurückkehrte, war nichts mehr von der alten Gesinnung zu spüren. Seine früheren Studenten - einige von ihnen sind inzwischen berühmt - sprechen nach wie vor mit Respekt und voller Bewunderung von Professor Lichtblau, ein Hinweis auf seine große Überzeugungskraft und Ausstrahlung."13 Wenn auch Emilie Wildprett und Ernst Lichtblau aus verschiedenen Welten kamen, so waren diese doch nicht gänzlich unvereinbar. Schließlich waren die Studenten, die in den frühen 50er Jahren bei Professor Lichtblau zu Besuch waren, von dem modernen Stil seines Appartements sehr beeindruckt, und wenn diese Besuche auch nur eine freundliche Geste des Professors gewesen sein mögen, so waren sie doch auch von pädagogischem Wert. Zweifellos waren Emilie Wildprett und Ernst Lichtblau sich darin einig, daß es einen grundlegenden Unterschied zwischen gutem und schlechtem Design gibt. Während Emilie Wildprett Wert darauflegte, daß die höheren Jahrgänge „auf dem Markt erhältliche Tapeten- und Stoffmuster" für ihre Arbeiten heranzogen, versuchte Ernst Lichtblau die praktische Komponente schon viel früher miteinzubeziehen, indem er mitzubestimmen trachtete, was eigentlich auf den Markt kam. („Talentierte Designer, die um die eigentliche Verwendung eines Einrichtungsgegenstandes Bescheid wissen, sind bei Möbelproduzenten beziehungsweise bei auf Raumausstattung spezialisierten Firmen stets gefragt.") Letztendlich mag es Lichtblau nicht prinzipiell auf die Verbannung der Innendekoration im herkömmlichen Sinn an-

Abb. 128: Sebastian LaBella, Student an der Rhode Island School of Design, Schrank ca. 1957

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gekommen sein, sondern eher auf eine Schwerpunktverlagerung, weg von der Detailbezogenheit des Räufers antiker Möbel hin zur schöpferischen Gestaltung der Elemente eines Innenraums. Neben der Bedeutung des Entwurfs ist die Vorstellung, daß das Design in die Massenproduktion zu integrieren sei, ein wichtiger Bestandteil des Trends in Richtung Moderne. Schließlich sollten nun auch die Disziplinen im Bereich der Landschaftsgestaltung in den Lehrplan einbezogen werden. Die Klasse für Innenarchitektur an der RISD war im wesentlichen aus dem Architekturlehrgang hervorgegangen, stützte sich aber auch auf andere Gestaltungsdisziplinen. Im Jahr 1945 wurde das Lehrprogramm der Lowthorpe School of Landscape Architecture in die RISD integriert. Die Lowthorpe School, die 1901 als erste derartige Bildungsstätte für Frauen in den Vereinigten Staaten gegründet worden war, sollte nun dem Angebot der RISD im Bereich Landschaftsgestaltung eine neue Dimension geben. Nicht nur, daß der Lehrplan durch eine neue Disziplin und eine Vielzahl an entsprechenden Wahlfächern erweitert wurde, es wurde damit grundsätzlich der Landschaftsgestaltung an der RISD der Weg geebnet. Im Jahr 1946 wurde an der RISD ein neuer Lehrgang für Entwurfsgestaltung {Division of Planning) eingerichtet, bestehend aus der RISD Klasse für Architektur, der Klasse für Innenarchitektur und der ehemaligen Lowthorpe Klasse für Landschaftsgestaltung. Im gleichen Jahr noch wurden an der RISD neue Städtebaukurse eingerichtet. Wenngleich die Einbeziehung neuer Disziplinen noch vor der Berufung Lichtblaus an die RISD erfolgt war, trat „die Wichtigkeit der engen Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Fachgebieten" erst mit seiner Berufung deutlich zutage. Als I 112

er 1947 schließlich seine Lehrtätigkeit an der RISD aufnahm, waren die Weichen für die Verbreitung seiner Lehre weitgehend gestellt, sowohl was das Manifest des Modernismus betrifft, als auch im Hinblick auf das Zusammenwirken sämtlicher Kunstgattungen. 3. LICHTBLAU IN AMERIKA Ernst Lichtblau war anscheinend nie bereit, über seine Flucht aus dem Europa der 30er Jahre zu sprechen. So gibt es in Lichtblaus Lebenslauf einen Zeitraum, von den späten 30er Jahren bis hin zur Mitte der 40er Jahre, über den wir nichts Genaues wissen. Es ist uns lediglich bekannt, daß seine Vertreibung aus der Heimat erfolgte, als Lichtblau, Mitte Fünfzig, als Architekt und Designer am Höhepunkt seiner Laufbahn stand. Er lebte dann einige Zeit in England, wo er als Illustrator nur mäßigen Erfolg hatte und übersiedelte schließlich ein zweites Mal, diesmal nach New York. In einem Interview für das Providence Journal (22. Februar 1955) beschreibt er seine Ankunft in Amerika im Jahre 1939. „Ich kam mit nur fünf Pfund in der Tasche nach Amerika. Die ersten 12 Nächte verbrachte ich in einer YMCA in Jamaica. Dann mietete ich ein Mansardenzimmer, das so niedrig war, daß ich mich kaum aufrichten konnte. Ich packte meine Habseligkeiten aus, nahm mein Zeichenbrett zur Hand und ging an die Arbeit."14 In den folgenden Jahren war Lichtblau als Werbegraphiker für das Warenhaus Macy's tätig, fertigte eine Reihe von Stoffentwürfen an und unterrichtete Textiles Gestalten an der Cooper Union - allerdings gibt es dafür keinerlei Belege. Im Jahr 1945 wurde Lichtblau amerikanischer Staatsbürger. Wie aus den verschiedenen Beschreibungen des RISD Jahrbuchs

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Abb. 129: Ernst Lichtblau, Ausstellungsgestaltung „Sculpture 1850-1950", Rhode Island School of Design, Providence, Mai 1950

hervorgeht hatte die Berufung Lichtblaus an die School of Design im Jahr 1947 - was für ihn im Alter von 64 Jahren ein neuer Anfang sein sollte - f ü r einiges Aufsehen gesorgt. Ein kleiner, gebeugter, immer adrett gekleideter, sehr korrekter Europäer eine etwas seltsame Erscheinung und die kleine Welt einer amerikanischen Provinzschule der 40er Jahre waren aufeinandergetroffen. Der Übergang von einem Institut, wo die Betonung bis dato auf der Gestaltung stilgetreuer Innenräume für einen erlesenen Kundenkreis gelegen hatte, hin zu den Idealen und dem Vokabular der europäischen Moderne konnte wohl nicht unbemerkt vor sich gehen, obwohl (oder vielleicht weil?) guter Geschmack bzw. „gutes Design" nach wie vor an erster Stelle standen. „Ich habe keine besondere Vorliebe für Antiquitäten. Wenn sie zweckmäßig und dabei optisch ansprechend sind, habe ich nichts dagegen.

Abb. 130: Ernst Lichtblau, Ausstellungsgestaltung „Sculpture 1850-1950", Rhode Island School of Design, Providence, Mai 1950

Mag man sie, weil sie die Entwicklung des Designs widerspiegeln, so ist dagegen nichts einzuwenden. Wenn sie aber nicht zweckmäßig sind, kann ich darauf verzichten." 15 Die Idee, an der RISD eine Ausbildung in den diversen künstlerischen und kunsthandwerklichen Disziplinen anzubieten, geht auf die frühen Anfänge der RISD zurück, als man es sich zum Ziel gesetzt hatte, junge Leute kunsthandwerklich auszubilden. Als schließlich neue Disziplinen in den Lehrplan aufgenommen wurden, machen sich deutliche Abgrenzungstendenzen bemerkbar. Lichtblau wollte diesem Trend entgegenwirken und versuchte eine Vereinheitlichung herbeizuführen. „[Lichtblau] war der Meinung, daß die Architektur die Krönung der Künste sei, gewissermaßen deren Synthese, und daß sich gelungenes Design eines zweckmäßigen Gegenstands dadurch auszeichnet, daß Form und Funktion in Einklang ste113 I

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hen, wobei ,beide einander ergänzen und erhöhen'. Weiters war er der Meinung, daß die gesamte Planung eines Baus von der eigentlichen Konstruktion bis hin zur Einrichtung Aufgabe des Architekten sei. Das, so Lichtblau, würde der Architekturausbildung in Österreich entsprechen, und er äußerte schließlich einen lang gehegten Wunsch: Er würde es sehr begrüßen, wenn die RISD ihr Lehrangebot ausdehnen und sämtliche Kunstgattungen mit einbeziehen würde, um so den Studenten im Rahmen eines „integrierten Lehrplans" die Möglichkeit zu bieten, auch mit anderen Disziplinen in Berührung zu kommen. »Vielleicht könnte daraus einmal eine Akademie für Design entstehen'" 16 Vieles von dem, was Ernst Lichtblau an der RISD erreicht hat, läßt sich auf seinem Wunsch nach Integration und Synthese zurückführen. Er verdankte es seiner günstigen Ausgangsposition im Rahmen des Lehrgangs für Innenarchitektur, daß er sich mit Fragen der Architektur beschäftigen und diese auch in die Gestaltung von Möbel und Gebrauchsgegenständen einfließen lassen konnte. Die Gründung der RISD im 19. Jahrhundert läßt sich auf das Verlangen nach einer allgemeinen Designausbildung zurückführen, wobei die überschaubare Größe der Klassen bereits auf eine Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Fächern hindeutet. 17 Die Gründung einer Klasse für Entwurfsgestaltung, bestehend aus den Lehrgängen Architektur, Innenarchitektur und Landschaftsgestaltung - nur ein Jahr vor Lichtblaus Berufung - war gleichsam ein Gerüst für die Eingliederung verwandter Disziplinen (ein Unterfangen, das unterschiedliche Formen annehmen sollte und in den nächsten Jahrzehnten nicht immer von gleichbleibendem Erfolg gekröntwar). I 114

Nicht alle Studenten Lichtblaus wurden Innenarchitekten; manche wurden Architekten, andere Möbeldesigner, andere wiederum waren in der Glasindustrie tätig oder ergriffen einen der vielen Berufe, auf den sie die allumfassende Designausbildung an der RISD vorbereitet hatte. In seinem ersten Jahr an der RISD (im Frühling 1948) war Lichtblau an der Gestaltung einer Ausstellung für modernens Mobiliar im RISD Museum beteiligt. Er zeichnete für das Raumkonzept der Ausstellung „Furniture Today" verantwortlich und beteiligte sich im Rahmen der Ausstellung an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Was versteht man unter gutem modernen Möbeldesign?" Sollte er Edgar Kaufmann, den Direktor für Industrielles Design am Museum of Modern Art (New York) zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekannt haben, so hatte er anläßlich der Eröffnungsrede Kaufmanns sicherlich Gelegenheit dazu. (Möglicherweise war es ja auch schon ein früheres Zusammentreffen der beiden, das dazu führte, daß Kaufmann die Rede hielt). Zwei Jahre später, im Jahr 1950, sollte Lichtblau eine aktivere Rolle bei der Gestaltung der bedeutenden Ausstellung „Sculpture, 1850-1950" im Museum der RISD übernehmen. Diffuses Licht, weiße Wände, farbenfrohe Draperien und Metallverkleidungen wurden verwendet, um eine spannungsvolle Kulisse zu schaffen und gleichzeitig die architektonischen Details der Museumsgalerien in den Hintergrund treten zu lassen. Dank der Gestaltungstechnik Lichtblaus konnte ein adäquater Rahmen für das bildhauerische Schaffen eines überaus dynamischen, im Wandel befindliche Jahrhunderts geschaffen werden. Die in einem äußerst schlichten, modernen Umfeld präsentierten Ausstellungsstücke wurden von ihm so angeordnet, daß der Besu-

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eher sie von allen Seiten betrachten konnte. Das Runstmagazin Interiors bezeichnete die Ausstellung als „ein gelungenes Beispiel dramatischer Zurückhaltung". „Das etwas ungewöhnliche Konzept der Ausstellungsfläche bestand aus zwei Untergeschoßgalerien und einer Obergeschoßgalerie, die durch ein Treppenhaus verbunden waren, vergleichbar mit einer durch einen Abfluß verbundenen, nach beiden Seiten hin offenen Rohrleitung. Die Skulpturen würden schon für sich allein wirken, meinte Lichtblau, solange sie sich nicht gegen die traditionelle Architektur zu behaupten hätten und die Besucher durch die räumliche Sogwirkung nicht allzu flott durchgeschleust würden. Um den Blick von der oberen zur unteren Galerie zu verstellen, hat Lichtblau den oberen Stiegenlauf mit Holz verkleidet und eine Draperie aus leuchtendgrünem Samt von der Decke abgespannt, wodurch gleichsam ein Rahmen für das darüberhängendes Mobile gebildet wurde. Eine Deckenverkleidung aus Baumwollgewebe verdeckte teilweise das Oberlicht, sorgte somit für eine diffuse Beleuchtung und teilte den Treppenschacht in zwei Ebenen. Die eigentliche Zäsur wurde durch einen Netzvorhang erreicht, der das Treppenpodest kachiert.18 Im Jahr 1952 wurde neuerlich eine Bildhauereiausstellung im RISD Museum eröffnet, die allerdings ganz anders geartet war. „Eine Ausstellung mit dem Titel,Sculpture by Painters' wurde letzten Monat im Museum of Art der Rhode Island School of Design eröffnet. Das ist aber keineswegs der Grund, warum wir unsere fachkundigen Leser darüber informieren wollen. Die Gesamtkosten dieser durchaus beachtliche Raumgestaltung haben weniger als U.S. Dollar 200 ausgemacht das ist aber auch nicht der Grund, warum wir Ihnen davon berichten.

Der eigentliche Grund dafür ist, daß Ernst Lichtblau erkannt hatte, daß die Skulpturen, die der überwältigenden Wirkung der Räumlichkeiten nicht gewachsen waren, in einem kleineren Maßstab viel besser zur Geltung kämen. So hat Ernst Lichtblau, der Vorstand des Innenarchitekturlehrgangs der RISD, einen „Idealisierten Raum" für die Ausstellungsstücke geschaffen, indem er von Studenten entworfene Möbel heranzog, diese aber nicht aus ihrem unmittelbaren Rontext riß, sondern lediglich Anspielungen auf die Wohnkultur machte. Indem er die Decke abhängte und raumtrennende Elemente in Leichtbauweise einsetzte, um den Besucher auf verschlungenen Wegen durch die Ausstellung zu leiten, hat er ein System sich überlagernder, untereinander in Verbindung stehender Räume geschaffen, das ständig neue Spannung bietet."19 Ernst Lichtblau brach den Rontakt zur Designerszene New Yorks nicht sofort ab (er hatte dort einige Jahre noch eine Wohnung) und engagierte sich in den frühen 50er Jahren für eine Strömung, die für „gutes Design" eintrat. Er entwarf selbst Aluminiumteller, Messingschalen und Holzgegenstände und ließ davon Prototypen herstellen. Manche dieser Teller wurden dann im Jahr 1950 bei der Firma Joseph Franken Decorative Accessories in New York in größerer Stückzahl produziert. Ein Modell davon wurde auch in den „Good Design exhibitions" ausgestellt, die von Edgar Raufmann im Jahr 1951 am Museum of Modern Art (MoMA) in New York und beim Merchandise Mart in Chicago veranstaltet wurden. Es ist heute Teil der ständigen Sammlung des RISD Museums. Ähnliche Modelle wurden von derselben Firma reproduziert und wurden schließlich auch in andere Ausstellugen aufgenommen. 20

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Abb. 131: Haze Warner, Student an der Rhode Island School of Design, Sessel, ca. 1957 Abb. 132: Haze Warner, Student an der Rhode Island School of Design, Sessel, ca. 1957

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Im Jahr 1954 wurden sieben Architekturschulen eingeladen, 21 anläßlich der im Merchandise Mart in Chicago veranstalteten Jubiläumsausstellung zum fünften Jahrestag des „Good Design" ein „Gegengewicht zu bilden". Die Ausstellung wurde vom MoMA gesponsort und betreut, wobei die Schulausstellungen dann jeweils für eine Woche im Februar und im März 1955 nach New York gingen. In einer Aktion mit dem Titel „Trends in Designer Training in the United States, 1954" wurden „führende amerikanische Institutionen im Bereich der Designausbildung eingeladen, Voraussagen über zünftige Trends zu m a c h e n . . . wobei die Schulen aufgefordert wurden, ihre wichtigsten zukunftsweisenden Designkonzepte im Bereich Architektur und Einrichtung darzulegen." 22 Den Schulen wurden jeweils rund 23 m 2 Ausstellungsfläche zugestanden. „Die RISD Ausstellung wurde von den Studenten geplant und gebaut, unter der Leitung von Ernst Lichtblau, dem für die Entwurfsklasse verantwortlichen, geschäftsführenden Leiter des Architekturlehrgangs. Mit dem Ziel, eine Richtung aufzuzeigen, die das moderne Design innerhalb der nächsten zehn Jahre einschlagen würde, haben Studenten von den verschiedensten Fakultäten anschaulich dargestellt, inwieweit fortschrittliche Trends die amerikanische Architektur und die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs in Zukunft beeinflussen werden. Ernst Lichtblau bezeichnete das vorherrschende Thema der RISD Exponate als ,architectural'. Die gesamte Ausstellung sei eine Studie strukturellen Designs: vom Haus bis zum Spielzeug sei alles hier vertreten, was beweisen würde, daß sich der Designer von der eigentlichen Beschaffenheit der Materialien und ihrer Verwendung leiten lassen sollte . . .

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Im Mittelpunkt der Ausstellung stand das Modell eines Fertigteilbaus in Neuengland mit einem Rernbereich, der Stiegenhaus, Rüche und Naßzellen umfaßte . . . Das Modell ist aus Plexiglas, um es dem Betrachter zu ermöglichen, die Innenraumgestaltung und die Ronstruktionsdetails mit freiem Auge zu erkennen. Durch das Modell kann aber auch ein Einblick in die topographischen Gegebenheiten gewonnen werden. Das Haus ist für eine Rleinfamilie entworfen worden, wobei als Annahme die klimatischen Bedingungen von Neuengland gelten. Es handelt sich dabei um eine Stützenkonstruktion bei der im Erdgeschoß außer einem Garagenplatz Absteilflächen, ein Waschraum und eine bewegliche Rüche, die im Sommer im Freien aufgestellt werden kann, vorgesehen sind. Ein eigenes Modell für das Obergeschoß, den eigentlichen Wohnbereich, ermöglicht es dem Betrachter den Kernbereich auf einen Blick zu erkennen: Treppen, zwei Naßzellen, ein Waschraum und die Rüche bilden eine Einheit. Die Restfläche ermöglicht eine freie Raumgestaltung. Vorgesehen sind ein Wohn- und Eßbereich, ein großes, an das Bad gekoppeltes Schlafzimmer mit Garderobenbereich und für die Rinder ein Spielzimmer, Schlafzimmer, Garderobe und Bad. In jedem Zimmer ist durch die Wandkonstruktion genügend Stauraum gegeben. Dadurch, daß sich das Rlappbett in den Stauraum hochklappen läßt, kann das Spielzimmer bei Bedarf in ein Gästezimmer umgewandelt werden. Die freie Raumgestaltung wird dadurch gewährleistet, daß durch verstellbare Wände die Raumgrößen beliebig variiert werden können. Das Haus soll elektrisch beheizt werden, und zwar mit Deckenheizung. Das Modell läßt ferner auf zwei Seiten Balkone erkennen und ein Sonnendeck.

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Abb. 133: Ernst Lichtblau (links) mit Christine Guarino (mit ihrem Entwurf für einen Sessel) an der Rhode Island School of Design, Providence, ca. 1951

Abb. 134: Ausstellungshalle, Studentenentwurf, Rhode Island School of Design, Department of Interior Design, ca. 1953

Abb. 135: Halle, Studentenentwurf, Rhode Island School of Design, Department of Interior Design, ca. 1952

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Der restliche Teil der Ausstellung befaßte sich mit Einrichtungsvorschlägen, die für ein zukunftsweisendes Projekt dieser Art zweckmäßig erschienen. Gezeigt wurden Entwürfe von Stühlen, Tischen, eine Bar, Mosaikböden, künstlerische Keramik, Beleuchtungskörper, Teppiche und Spielzeuge, und zwar anhand von maßstabsgetreuen Modellen, Photographien und im Maßstab 1:1. Sogar ein Wandteppich wurde ausgestellt, womit der neuerliche Trend hin zum Wanddekor, der eine rein ästhetische, simulierende Funktion erfüllt, vorweggenommen wurde."23 Aus dieser Beschreibung geht hervor, daß die Ausstellung es Lichtblau ermöglichte, viele seiner Interessen in ein einziges Medium zu verpakken: die Erforschung neuer Materialien, Möbeldesign und Handwerksdesign sowie die Fertigteilbauweise. Gleichzeitig bringt er aber auch die größeren Themen zur Sprache - jene mystische Vorstellung der „ästhetischen Simulation" und der Import europäischen Gedankenguts nach Amerika - und doch appelliert er an den Genius loci: „Der Kernbereich ein direkter Nachfahre des traditionellen Schornsteins der frühen Kolonialbauten."24 Für die beteiligten Schulen war die Ausstellung ein entscheidender Moment und ausschlaggebend im Hinblick auf ihre Rolle in der Designausbildung und auf die Rolle der Ausbildung im Design.25 „Unsere Ausstellung in Chicago lief viel länger als anfänglich geplant; ihre Präsentation wurde somit von wesentlich mehr Leuten gesehen. Trotz des dürftigen Medieninteresses sind das Management des Merchandise Mart und wir der Meinung, daß die Schulausstellungen in Chicago ein großer Erfolg waren bewundert und vom Publikum mit großem Interesse verfolgt, wobei darunter viele begeisterungsfähige I 118

junge Studenten und Designer waren."26 Mitte der 50er Jahre - er hatte gerade seinen 70. Geburtstag gefeiert begann Lichtblau seine Lehrtätigkeit an der RISD allmählich einzuschränken. Im Rahmen des akademischen Jahres 1953-54 war er zwar noch als geschäftsführender Leiter des Architekturlehrgangs tätig, aber schon das darauffolgende Jahr sollte das letzte sein, in dem er die Lehrtätigkeit an der RISD in vollem Umfang ausübte. Seit dem Krieg war er insgesamt vier Mal nach Österreich zurückgekehrt. Schließlich ließ er sich im Frühling des Jahres 1956 beurlauben, um eine längere Reise nach Österreich, Italien, Schweden und Dänemark anzutreten - „eine Suche nach neuen Formen, ein grundsätzliches Streben nach Kontinuität. Ich möchte in Europa vor allem die Entwicklung im Bereich des Fertigteilbaus weiterverfolgen. Diese Bauweise bietet eine Reihe von überaus interessanten Möglichkeiten. Ich bin der Meinung, daß die Fertigteilbauweise weiterentwickelt werden sollte, sodaß sie einmal als verbindendes Element zwischen der Architektur und dem industriellen Design fungieren kann. [Teil seiner Forschungstätigkeit war auch] die Entwicklung neuer Formen und Konzepte für Wohnmöbel, Haushaltsgeräte und sämtliche andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs." {Providence Journal, 4. März 1956). Nachdem er im Herbst 1956 wieder an die RISD zurückgekehrt war, um dort den Herbst und Winter zu verbringen, reiste er bereits im Frühjahr wieder ab, um in Wien an einem Gemeindeprojekt für eine Hauptschule mitzuarbeiten. Im Frühjahr des Jahres 1960 kehrte er noch einmal als Gastprofessor an die RISD zurück. Während seiner Aufenthalte in Amerika arbeitete Lichtblau im Auftrag von Kunden im Bereich des Einzel-

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handele (sowohl in New York als auch in Providence27); er fertigte Entwürfe für Möbel und kleinere, teilweise auch kommerziell gefertigte Objekte an und es oblag ihm die Renovierung eines Hauses in Providence für Familie Fish. In den letzten 20 Jahren seines Lebens war Lichtblau jedenfalls größtenteils als Lehrer tätig und hat dabei die akademische Kultur der Innenarchitektur und Architektur an der RISD entscheidend geprägt. IN MEMORIAM ERNST LICHTBLAU Die Erzählungen der Studenten geben der Karriere von Ernst Lichtblau eine wesentlich persönlichere Note. Im folgenden werden ihre Eindrükke in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben. 28 Barbara Gaspar Werber (Absolventin des Jahrgangs 1949) hatte im Herbst 1945 ihr Studium an der RISD begonnen und kam im darauffolgenden Jahr in Emilie Wildpretts Klasse für Innendekoration. „. . . sie verstarb im Sommer des 47er Jahres. Als wir aus den Semesterferien zurückkamen, hatte die Reorganisation bereits stattgefunden. Unser Lehrgang hieß jetzt „Klasse für Entwurfsgestaltung" und setzte sich aus den Studienrichtungen der Architektur (unter der Leitung von J. C. Fulkerson), der Landschaftsgestaltung und der Innenarchitektur zusammen, wobei letzere unter der Leitung von Ernst Lichtblau stand. Unsere Klasse für Innenarchitektur bestand im vorletzten und letzten Studienjahr aus etwa 12 bis 14 Studenten . . . Das war für die RISD revolutionär . . . Wir waren im ersten Semester so um die acht Studenten. Es hieß, daß Lichtblau die treibende Kraft hinter der Idee eines integrierten Lehrplanes gewesen sei, wobei die drei Studienrichtungen manche Kurse gemeinsam hat-

ten, andere wieder nicht.29 Sieben von uns schlossen 1949 ihr Studium ab. Professor Lichtblau behandelte uns von Anfang an wie Absolventen und er forderte unseren vollen Einsatz. Mittelmäßigkeit war für ihn ein Fremdwort. War man nicht bereit, ausgezeichnete Leistungen zu erbringen, hatte man in seiner Klasse nichts verloren. Das Studio war Tag und Nacht geöffnet und wir arbeiteten meistens auch am Abend und gönnten uns nur einen kleinen Imbiß in der Cafeteria. Professor Lichtblau war auch immer dort, jeden Abend und meistens auch am Wochenende. Er motivierte uns und wir hatten viel Freude am Arbeiten. Vergessen waren die Aquarellstudien alter Fenster - was jetzt geboten wurde war eine abgerundete Ausbildung für Design, Raumplanung und Landschaftsgestaltung. Auch Elizabeth Cushman Whitman (Absolventin des Jahrgangs 1949) erinnert sich noch an ihr zweites Studienjahr. „Im Jahr darauf kam Professor Lichtblau an die RISD. Er konnte uns für die Architektur begeistern. Als eines der ersten Projekte sollten wir ein Kaffeehaus entwerfen. Die meisten wußten gar nicht, was ein Kaffeehaus ist. . . Ein anderes Thema, der Entwurf eines Reihenhauses, war uns ebenso wenig vertraut. Natürlich gab es das auch bei uns, aber es war uns einfach nicht geläufig. Er eröffnete uns neue Perspektiven, verlangte aber auch einen großen Einsatz. Zu dieser Zeit kamen viele Veteranen des Zweiten Weltkriegs zu uns und wollten hier die bestmögliche Ausbildung bekommen. Das waren die besten Jahre an der RISD und Professor Lichtblau blühte sichtbar auf. Von Zeit zu Zeit hielt er es unbedingt für notwendig, einen Brief in Englisch zu schreiben. Er kam zu mir und bat mich, den Text 119 I

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zu,redigieren'. Das ehrte mich sehr, aber ich besserte nur sehr wenig aus. Seine Formulierungen waren nicht immer idiomatisch, aber gerade das machte ihren Reiz aus. Er wählte stets das treffendste Substantiv, sodaß jede nähere Bestimmung durch ein Adjektiv überflüssig wurde. Er war der erste in meinem Bekanntenkreis, der einen Kugelschreiber besaß. Er konnte mit einem einzigen Satz eine Arbeit, an der wir stundenlang gearbeitet hatten, kaputt machen. Das war oft sehr entmutigend. Ich glaube er traute uns mehr zu und hatte dabei gar nicht so unrecht. Andererseits war niemand so stolz wie er, wenn dann ein Projekt seinen Erwartungen entsprach. Nach meinem Studium sollte ich eine Stelle in New York annehmen, von der er gehört hatte. Er war enttäuscht, als ich mich anders entschied. Ich glaube er war dann sehr froh, als er erfuhr, daß es bei mir dann doch beruflich geklappt hatte, daß ich als Designer bei TAC tätig war und in „Design Research" promoviert hatte. Er dachte nicht in traditionellen Bahnen; er forderte uns auf, ein Problem aus einem ganz anderen, unkonventionellen Blickwinkel aus zu betrachten. Zum Beispiel wünsche ich mir oft, er hätte seine Idee, daß Möbel von Studenten entworfen und gebaut werden sollen, noch zu unserer Studienzeit verwirklicht." In dieser ersten Klasse war auch Donald Pollard (Absolvent des Jahrgangs 1949). Sicherlich war es eine Kombination der verschiedenen Faktoren wie Alter, Geschlecht (Pollard gab zu bedenken, daß er der einzige Mann in der Klasse war) und Talent, daß Pollard eine besondere Beziehung zu Lichtblau hatte, aus der sich dann eine enge Freundschaft entwickelte.

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„Man hätte sich im ersten Moment vor [Lichtblau] geradezu fürchten können. Als ehemaliger Marineoffizier sträubte ich mich gegen sein teutonisches Gehabe. Manchmal, wenn eine Linie nicht sauber genug gezogen war, schmierte er einfach drüber, so daß man alles noch einmal machen konnte . . . . . . Was mich am meisten wunderte war, daß es so ein Vorurteil gegen ihn gab, bis mir klar wurde, daß er der einzige Jude unter den Lehrern war. .. Seine Lehrmethode beruhte auf Osmose . . . Er liebte es, mit hinterm Rücken verschränkten Händen spazieren zu gehen . . . Gegen Ende meines Studiums haben wir oft zusammen gespeist, im Hintergrund die Walzermusik, während er genüßlich seine Zigarre paffte. Was er immer wieder betonte, war das Gefühl, die Grenzen des Raumes zu überwinden - die Brücken in Venedig, der Bogen als Eingangssituation einer Piazza, die kühle Frontansicht des Vatikans. Die Psychologie des Raumes . . . Einmal saßen wir im Park bei Gramercy, wo er in den späten 50er Jahren ein Appartement hatte, und er fragte mich: ,Don, wie kann man Design lehren?' Lawrence Peabody (Absolvent des Jahrgangs 1950) war gerade am Beginn des zweiten Studienjahres, als Lichtblau an die RISD kam. „Ich hatte das große Glück damals in dieser Klasse zu sein und noch drei weitere Jahre von seinem unglaublichen Wissen profitieren zu dürfen. Wir waren nur zu acht in der Klasse. Ich kam gleich nach Kriegsende an die RISD - ich wußte schon immer, was ich werden wollte, aber erst nach dem Krieg wurde mir bewußt, daß dafür eigentlich nur die RISD in Frage käme. Ich wußte damals noch nicht, daß Lichtblau mir das alles ermöglichen würde.

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Er hat mein Leben von Grund auf „. . . nach der Anfertigung von Skizverändert... und mir die Augen für zen wandten wir uns Aufrissen und die Vielfalt an interessanten Mög- Perspektiven zu, die oft ein Mal zwei lichkeiten geöffnet, die das Design Meter groß waren . . . Wir verwenbietet. Mit zwölf Jahren ging ich auf deten Tusche und Plakatfarben. eine öffentliche Schule und bildete Manchmal kam er vor der eigentlimir ein, Innendekorateur werden zu chen Ausführung zu unserem Arwollen - nach der Ausbildung an der beitsplatz, zückte seinen 6B Blei und RISD war mir plötzlich bewußt, daß strich alles wieder aus. Damit wollte ich Architekt, Innenarchitekt, Land- er das Beste aus uns herausholen schaftsgestalter und Produktdesi- und genau das tat er auch." gner für Wohnungseinrichtung werden wollte . . . Bill Dunlap (Absolvent des JahrGleich nach der Ungarischen Revo- gangs 1951) lution arbeitete ich einige Zeit (mit „. . . Sein scharfer Verstand, sein meiner Frau) in Wien und hatte dort Perfektionsdrang und seine hohe die Gelegenheit, viel Zeit mit Ernst Erwartungshaltung gegenüber den zu verbringen. Es war eine wunder- Studenten werden uns ewig in Erinbare Zeit; er erzählte mir, wie er nerung bleiben, ebenso wie seine damals als Architekt in Schönbrunn Vorliebe für „Hydrox Cookies" (jefür den Kaiser gearbeitet hatte . . . Er denfalls jenen von uns, die sie ihm summte und pfiff leise vor sich hin aus dem Geschäft holen mußten). und es war wohl jene Musik, die die . . . wir genossen das Gefühl der kaiserliche Kapelle gespielt hatte, Freiheit, wenn Professor Lichtblau als sie durch Wien marschierte . . . am Freitag einmal früher Schluß Unter Lichtblaus strenger Leitung - machte und mit dem Zug nach New die ewigen Übungen und Detail- York fuhr. Zeit war für Professor zeichnungen - wurde uns mit fast Lichtblau kein Begriff, wenn es dareligiösem Eifer beigebracht, wor- rum ging gutes Design zu schaffen; um es beim Design geht, wie sich so konnte die Präsentation eines durch die Devise „Natur-Funktion- Klassenprojektes unendlich lange Architektur" alle gestalterischen dauern, ganz gleich ob dabei die Probleme lösen lassen und wie die Schulstunden überschritten würbewußte Kombination dieser Ele- den. Die Präsentation war beinahe mente zu einem geradezu mysti- so wichtig wie das eigentliche Proschen Verständnis für das führen jekt. kann, was „guter Geschmack" und Leben eigentlich sind. Ernest Kirwan (Absolvent des JahrLichtblau wußte, daß man, um ein gangs 1951) guter Designer zu sein, sämtliche „Im Frühling 1949 stand ich gerade Sinneseindrücke einfließen lassen kurz vor dem Abschluß meines vormuß. Man sollte es verstehen schön letzten Studienjahres der Werbegrazu leben - gut zu essen (selbstver- phik an der RISD, als mich ein guter ständlich einfach), etwas von Musik Freund, Larry Peabody, aufforderte zu verstehen, den Frühling wahr- mir doch einmal die Klasse für Innehmen, ein Grashalm, ein plät- nenarchitektur anzusehen. Ich beschernder Bach, ein freundliches trat (sehr vorsichtig) das Studio des Lächeln. Alles, was Gott uns gege- 3. Jahrgangs, als Professor Lichtblau ben hat, müssen wir einsetzen! gerade vor versammelter Mannschaft eine seiner berühmten StegRaymond L. Drouin (Absolvent des reifreden über Design hielt. Er saß auf einem Hocker in der Mitte des Jahrgangs 1950) 121 I

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Raumes und beschrieb gerade die funktionelle und symbolische Komponente bei der Gestaltung eines offenen Treppenaufgangs im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung einer zweigeschoßigen Buchhandlung. Ihm zuzuhören war ein Genuß; nie werde ich seine einzigartige Stimme vergessen, deren Klang einmal sehr hell und dann wieder sehr tief w a r . . . sein sympathischer Akzent und seine eigenwillige Diktion. Seine Vortragsweise wurde noch durch die langen schöpferischen Pausen und seine eindrucksvolle Gestik untermalt - er gestikulierte mit seinen langen Armen und Fingern, bewegte den Kopf hin und her und versuchte, mit seinen stechenden Augen Kontakt mit den Zuhörern aufzunehmen. Wenn sich dieser kleinwüchsige Mann aufrichtete, fiel einem die starke Verkrümmung der oberen Wirbelsäule auf, eine Fehlhaltung, die wohl von einem mysteriösen Vorfall herrührte, der sich vor seiner Vertreibung durch die Nazis ereignet haben muß. Und doch wirkte er aufgrund seines ansprechenden Wesens viel größer und sehr adrett in seinen maßgeschneiderten Anzügen und der obligaten Weste. Professor Lichtblau stellte an sich selbst und an seine Mitmenschen hohe Ansprüche. Er erwartete, daß die Studenten jeden Tag und zwei Abende in der Woche im Studio arbeiteten; wir mußten uns stets vorbildhaft benehmen und gut gekleidet sein, ja er schickte des öfteren Leute nach Hause, wenn ihr Äußeres nicht seinen Vorstellungen entsprach. Liebe und Haß waren unzertrennliche Bestandteile unserer Beziehung zu Professor Lichtblau, der oft von seinem Respekt und seiner Bewunderung für seinen Lehrmeister Otto Wagner sprach. Wir haben unzählige unvergeßliche Stunden mit unserem Lehrmeister verbracht. Das Präsentieren von

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Klassenprojekten war aufregend und aufreibend zugleich. Sämtliche Arbeiten - Zeichnungen, Modelle, Möbelstücke, Stoffmuster und ergänzendes Material - wurden zwecks größerer Wirkung immer wieder neu arrangiert, und Professor Lichtblau saß auf seinem üblichen Holzhocker und gab Anweisungen bis um zehn oder elf Uhr nachts, bis alles perfekt war. Auch die Parties in seiner Wohnung waren einzigartig. Für gewöhnlich lud er zehn bis zwölf Studenten zu diesen Nachmittagstreffen ein; es wurden alkoholfreie Getränke und dazu runde und eckige Crackers mit seinen Käsekreationen serviert; dann erzählte er Geschichten und forderte seine Zuhörer auf, sich an den Diskussionen zu beteiligen. Die kleinen Käsehappen wurden auf seinen großen, runden ,Good Design Award' Tellern serviert, die perfekt zu seinem weiß getünchten, mit Parkettböden ausgestatteten Appartement in der Benefit Street paßten. Am eindruckvollsten waren allerdings seine Bilder, darunter eine große, teilweise abstrakte Darstellung von ,Sea Gulls over the Seekonk River'. Sein Kommentar zu dem Kolossalgemälde war ,Gemälde müssen den Betrachter einnehmen'. Professor Lichtblau war das Um und Auf der Fakultät und zählte in den 40er und 50er Jahren gemeinsam mit dem Bildhauer Waldemar Raemisch und dem Maler John Frazier zu den Größen der RISD. Für J. Carol Fulkerson, dem damaligen Institutsvorstand, und Albert Simonson, dem Leiter der Architekturklasse - alles selbst große Persönlichkeiten - war ,Ernest' im Bereich der Designphilosophie und des visuellen Ausdrucks eine Autorität. Die Architekturstudenten nahmen damals regelmäßig an den Ausstellungen und Präsentationen der Innenarchitekturklasse teil und waren vom Niveau der Arbeiten sehr beein-

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druckt. Die Studenten präsentierten ihre in Bleistift oder Tusche sorgfältig ausgeführten Arbeiten in Mappen, denen Arbeitsblätter mit detaillierten Perspektiven sowie Mustermappen von Materialien und Innenraummodelle einzugefügt waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Arbeitsmoral in der Architekturklasse ein Jahrzehnt lang überaus gut, was zum Großteil Ernst Lichtblau zu verdanken war. Gegen Ende seiner Lehrtätigkeit trübte sich die Stimmung ein wenig. Seine Kräfte ließen nach, er ermüdete sehr schnell und war leicht zu entmutigen - administrative Probleme, der schlechte Gesundheitszustand seines Bruders, sein Besitz in Wien und, wie ich glaube, seine Enttäuschung darüber, daß er in Amerika nur wenig Eigenes verwirklicht hatte. Er dachte des öfteren an die Zeit in Wien zurück, wo er Einzelanfertigungen von Buchdeckeln, Möbelstücken und Lampen entworfen hatte, die er dann gegen geringe Bezahlung kunsthandwerklich fertigen ließ. Einen Großteil seiner Zeit und Energie widmete er seinen Studenten . . . " Sarah Reineman Green (Absolventin des Jahrgangs 1952) Der Beruf des Innendekorateurs war für ihn ein rotes Tuch. Er befürchtete, daß ich diesen Beruf ergreifen würde und redete deshalb ständig auf mich ein. Er riet mir, auf meine Frage hin, was ich machen sollte, wenn ein Runde auf schlechtem Design beharrte, daß ich dafür zu sorgen hätte, daß wenigstens ein kleines Eck' meinen Vorstellungen entspräche, damit ich mich irgendwie mit dem Projekt identifizieren könne." Christine (Guarino) Jones (Absolventin des Jahrgangs 1952) Lichtblau hat uns beigebracht, die

Dinge mit anderen Augen zu sehen, uns eigene Gedanken zu machen und anders auf Dinge zu reagieren eine ganzheitliche Betrachtungsweise, bei der doch jedes einzelne Element seinen Wert hat. Die Aufgabenstellungen des zweiten und dritten Studienjahres waren gleich und wurden auch gemeinsam benotet. Die anderen hatten außerdem noch Ronstruktionslehre, während wir uns auf die Innenraumgestaltung und die Einrichtung konzentrierten. Das Alte wurde in diesem Lehrgang nicht behandelt, da Lichtblau der Meinung war, wir könnten das, wenn es uns interessiert, selber nachlesen bzw. entsprechende Kurse besuchen. Wir aber wären zu Höherem bestimmt. . . . da gab es Fächer, die für die Innenarchitektur ganz ungewöhnlich waren - die Tischlereiklasse und die Metallklasse. In unserer Klasse wurden erstmals die von den Studenten entworfenen Möbel auch tatsächlich gebaut. Um nicht den Bezug zur Praxis zu verlieren, ließ Lichtblau gemeinsam mit einer ansässigen Firma für Stahlrohrmöbel einen Wettbewerb für den Entwurf eines Küchensessels veranstalten, wobei auf die Sieger Geldpreise warteten. Im Herbst 1949 eröffnete uns Professor Lichtblau, daß wir einmal, dann zweimal die Woche auch am Abend anwesend sein sollten . . . es wurden dann immer mehr Abende. Als er eines Tages meinte, es war ein Freitag im Jahr 1951, daß wir von nun an auch Freitag abends da sein sollten, probten wir den Aufstand und stürzten hinaus (sicherlich nachdem er den Raum verlassen hatte - so mutig waren wir auch wieder nicht) . . . Einen Montag Morgen warteten wir alle gespannt auf Lichtblau, als er zur gewohnten Zeit bei der Tür hereinkam, kurz innehielt, nickte und schelmisch lächelte - seine blitzblauen Augen funkelten nur so vor Freude. 123 I

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Damit war die Sache erledigt und sich vor ihm gefürchtet haben. Ob über unseren ,Aufstand' wurde nie ich es tat? Vielleicht manchmal, mehr ein Wort verloren. Jedenfalls wenn ich nicht vorbereitet war, aber mußten wir nicht mehr Freitag grundsätzlich läßt sich das Gefühl abends anwesend sein . . . eher als ,Ehrfurcht' oder ,Respekt' In Lichtblaus Unterricht gab es so charakterisieren. manche Schlüsselworte;,architectonic' war eines davon. Ein einfacher, Robert Soforenko (Absolvent des hilfreicher und kluger Ausspruch Jahrgangs 1954) von Lichtblau hat mich ganz beson- „Professor Lichtblau war eine sehr ders beeindruckt und hat mir nicht starke Persönlichkeit. Man konnte nur bei meiner Arbeit sondern auch ihn nur lieben oder hassen. Ich glauin anderen Situationen sehr gehol- be, daß ihn die meisten Studenten, fen. die wußten, was er mitgemacht hatIch höre direkt noch seine Stimme te, liebten. Ich jedenfalls mochte ihn mit diesem sympathischen Akzent: sehr. Ich zählte zu den Studenten, ,Vhere is the flowT (Diese Frage die im Jahr 1950 frisch von der High wurde im Unterricht oft mit dem Ge- School an die RISD gekommen waräusch seines Bleistifts untermalt, ren. Im Gegensatz zu meinen arwenn er gerade wieder einmal einen beitsamen, trinkfesten Rollegen, die präzise gezeichneten Entwurf den Krieg überlebt hatten, war ich ein richtiges Greenhorn. durchstrich.)... Und obwohl er betonte, daß Ideen Ich glaube, daß Ernst meine Fähigauch umsetzbar sein müßten, gehör- keiten erkannt hat und mich in meite seiner Meinung nach doch auch nen Bestrebungen fördern wollte. So ein gewisses Maß an Phantasie wurde also aus einem unbedarften (,Vhere is the fentessy?') und Schön- High-School Absolventen ein recht Studentensprecher und heit dazu. Er war der Meinung, daß reifer beim Entwerfen alle Sinne zum Ein- schließlich auch der erste Innenarchitekturabsolvent, der von der satz kommen sollten. Seine Lehrmethode wurde bei der RISD nach Harvard an die Graduate Gestaltung der Ausstellung für Bild- School of Design ging. Er war stolz hauerei im RISD Museum (1950-51) auf mich und ebenso erfreut wie anschaulich unter Beweis gestellt. meine Eltern. Es war einfach großartig, wie er sich Niemand mit dem ich seitdem studer Materie näherte - immer auf den diert oder gearbeitet habe, ja vieloptischen Effekt bedacht. Alles leicht sogar niemand, den ich seitrundherum war weiß, nur hier und her kennenlernte, hat mich je so da waren Farbtupfer als optischer stark beeinflußt... Aus dem anfängKontrast. lichen Angstgefühl wurde bald ReDie weißen, eckigen Sockel, die er spekt und schließlich Bewunderung. für jedes Ausstellungsstück anferti- Sein Einfluß auf mich war so stark, gen ließ, waren für damals sehr fort- daß es mir heute noch so vorkommt, schrittlich und es war nicht leicht, als würde er mir beim Zeichnen den Tischler davon zu überzeugen, über die Schulter schauen . . . Er stellte hohe Anforderungen an uns sie so zu machen. Interessant war auch die Tatsache, und konnte einem manchmal zur daß er neben den visuellen Reizen Verzweiflung bringen; manchmal auch akustische heranzog (Aufnah- schien uns sein Perfektionsdrang men klassischer Musik) und Düfte ungerechtfertigt. Er sagte mir ein(entsprechend piazierte blühende mal, daß wenn er aus mir keinen Orangenbäume). Manche sollen guten Designer machen könnte, so I 124

Eine neue Welt: Guter Geschmack und gutes Design Abb. 156: Ausstellung von Studenten, Möbel, Entwürfe, in der 50er Jahren (ohne Datierung)

Abb. 137: Lawrence Charity, Student an der Rhode Island School of Design, Teilbarer Tisch, ca. 1957

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Abb. 138: Entwurf eines Studenten an der Rhode Island School of Design, ca. 1955

Abb. 159: Entwurf eines Studenten für einen Wohnraum, Rhode Island School of Design, ca. 1952

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würde er zumindest versuchen, einen erstklassigen Zeichner aus mir zu machen. Ob er wohl heute mit mir zufrieden wäre? Ernst war ein gutaussehender Mann und immer adrett gekleidet, er hatte Humor (manchmal zwar einen etwas seltsamen) und ein großes Herz. Um das zu erkennen, mußte man nur in seine leuchtend blauen Augen schauen. Dabei vermute ich, daß er jeden Tag starke Schmerzen hatte und wußte, daß seine Leistungen nie - ob als Lehrer oder als Designer entsprechend gewürdigt wurden. Es gäbe hier so manche Anekdote zu erzählen, die für seinen Humor und sein gestalterisches Talent beispielgebend ist. Am besten gefällt mir die Geschichte, wie er den von Raymond Lowey entworfenen Studebaker, Baujahr 1946, ummodelte. Es war ein schwarzes Coupé, das auf dem amerikanischen Markt einzigartig war. Zum großen Entsetzen des Verkäufers verlangte Lichtblau, daß alle Chromteile entfernt werden sollten. War er seiner Zeit um 45 Jahre voraus? Er hatte das Auto in einer Garage in der Benefit Street untergestellt, und weil er ein so schlechter Autofahrer war und den Wagen früher oder später zu Schrott gefahren hätte, trugen wir Studenten uns an, ihn herumzuchauffieren." Mary Ann Clegg Smith (Absolventin des Jahrgangs 1956) „. . . Ich hatte während meines ganzen Studiums furchtbare Angst vor ihm. Als ich Ihren Brief bekam und erstmals wieder an die Zeit zurückdachte, fiel mir als erstes ein, wie er mich immer wieder angeschrien und meine Zeichnungen zunichte gemacht hatte. Dann erinnerte ich mich aber an ein Gemeinschaftsprojekt zur Neuplanung von Hartford, Connecticut - es muß um 1955 gewesen sein. Ich hatte die Aufgabe, die Reihenhäuser zu entwerfen und auch einen Biergarten, und Licht-

blau hatte nichts besseres zu tun, als darauf hinzuweisen, daß es in jeder Einheit mindestens einen geben müsse. Das Projekt Biergarten wurde dann auch irgendwie verwirklicht. Bis daher klingt das wahrscheinlich alles sehr negativ. Und doch glaube ich, daß Professor Lichtblau mein Leben entscheidend geprägt hat - wahrscheinlich die RISD insgesamt. Heute bin ich an der Syracuse University als Professor für Architekturgeschichte tätig. Mein Forschungsschwerpunkt... ist das Arts and Crafts Movement. Diese Idee, daß der Designer alle Dinge des täglichen Gebrauchs gestaltet, war, glaube ich, auch Teil seines Gedankenguts. LICHTBLAUS VERMÄCHTNIS Ein bebilderter Artikel, der am 25. Mai 1951 in der Sonntagsausgabe des Providence Journal erschienen war (und von so großem Allgemeininteresse war, daß sich die Associated Press und schließlich auch andere Zeitungen der Geschichte annahmen), berichtete in einer etwas befremdlichen Art über den neuen Ansatz zur Innenarchitektur, ist aber vielleicht gerade deshalb ein wesentliches Indiz für die bemerkenswerten Umwälzungen, die Professor Lichtblau in Gang gesetzt hatte. „Neun junge Studentinnen der Rhode Island School of Design schreckten im vergangenen Schuljahr nicht davor zurück, sich auf der Baustelle ihre Hände schmutzig zu machen . . . Es handelt sich dabei um Studentinnen des Innenarchitekturlehrgangs, die einen Ausflug in die Berufspraxis wagen und sich davon mehr versprechen, als tagaus, tagein an einem Zeichentisch zu sitzen. Besagtes Proj ekt ist Teil der Ausbildung der Innenarchitektur und wird nun schon das zweite Jahr erprobt. Im zweiten beziehungsweise dritten Studienjahr werden die Studenten in 127 I

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die Holzbearbeitung eingeführt, im letzten Jahr werden sie mit der Metallverarbeitung vertraut gemacht. Junge Männer und junge Frauen werden hier gemeinsam unterrichtet. Earle Young betreut die Tischlereiklasse, James Beattie die Metallklasse. ,Im ersten Semester', so Young, ,wird die Funktion der Werkzeuge erläutert, zuerst die manuellen Werkzeuge, dann die mechanischen. Die Studenten müssen auch über die einzelnen Holzarten, die Ausmaße und deren Bearbeitung Bescheid wissen. Schließlich werden ihnen die gebräuchlichsten Verbindungsarten erklärt und wie man sie mit den entsprechenden Werkzeugen herstellt. Im zweiten Semester werden dann eigene, zumeist im Sinne der Moderne entworfene Projekte gebaut - Tische, Werkbänke, Zeitungsständer, Sessel. . . Die Studenten sind diszipliniert und fleißig und haben wiederholt ihre Begabung auf einem Gebiet unter Beweis gestellt, in dem sie nur wenig Vorbildung haben.' Der Leiter der Klasse für Innenarchitektur, Ernst Lichtblau, formulierte das Ziel folgendermaßen: ,Den Studenten soll über die bloße Ausschmückung und Einrichtung von Innenräumen hinaus ein Verständnis für die Innenarchitektur als Teil der Architektur vermittelt werden. Die von uns gelehrte Formensprache basiert auf konstruktiven und funktionellen Prinzipien, die sich aus der Beschaffenheit der Materialien ableiten lassen und kreative Gesichtspunkte berücksichtigen. Soll dem Studenten ein besseres Formengefühl vermittelt werden, muß er mit den entsprechenden Werkzeugen ebenso vertraut gemacht werden wie mit den eigentlichen Ronstruktionsmethoden. Ein Schriftsteller würde auch nicht viel Erfolg haben, würde er nur an seinem Schreibtisch sitzen und nach-

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denken. Er muß in der Welt herumgekommen sein und einiges erlebt haben, damit er jene Wärme zum Ausdruck bringen kann, die nur durch genaues Beobachten entsteht. ,Das diesjährige Projekt heißt Mein Studentenzimmer. Der Student/die Studentin muß sich mit dem Problem seiner/ihrer eigenen Unterkunft auseinandersetzen - hier in Providence, wo es einen Mangel an Studentenwohnheimen gibt, müssen viele Studenten ein Zimmer mieten. Dem Studenten stehen Mittel in einer gewissen Höhe zur Verfügung. Was kommt für ihn in Frage? Was sind seine Bedürfnisse? Was kann er sich leisten? Nach diesen Gegebenheiten haben sich die Entwürfe zu richten.'" Lichtblau brachte die österreichische Variante der Moderne nach Rhode Island, und mit der Zeit stellte sich heraus, daß diese Stilform mit der dortigen Kultur, den Gewohnheiten sowie der Kombination der einzelnen Disziplinen durchaus vereinbar war. Ernst Lichtblau vermochte es, die Möglichkeiten einer umfassenden Institution für Kunst und Design zu erkennen. Wenngleich Einzelheiten seiner Ideen, was „gutes Design" und die gestaltete Umwelt betrifft, heute überholt sein mögen, so ist sein Konzept im Hinblick auf das Zusammenwirken der Disziplinen, die notwendige Wechselwirkung zwischen Design und Industrie und die Notwendigkeit, Materialien und Prozesse zu durchschauen heute noch aktuell und hat nichts an Bedeutung verloren. Vielleicht gelingt es dieser längst fälligen Dokumentation seines Lebenswerkes die nächsten Generationen zu inspirieren, ihre eigenen Ansätze zu formulieren und dem Design im Alltag einen angemessenen Stellenwert zu geben. (Übersetzung: Alexandra Fialla)

Eine neue Welt: Guter Geschmack und gutes Design

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Abb. 144: Ernst Lichtblau, Wohnhaus in der Wattmanngasse 29,1914

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Abb. 145: Ernst Lichtblau, Wohnhaus in der Wattmanngasse 29,1914

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Abb. 146: Ernst Lichtblau, Julius Ofner-Hof, Wien 5, 1926

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Abb. 147: Ernst Lichtblau, Julius Ofner-Hof, Wien 5, 1926

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Abb. 148: Ernst Lichtblau, Paul Speiser-Hof, Wien 21,1929

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Abb. 149: Ernst Lichtblau, Paul Speiser-Hof, Wien 21,1929

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Abb. 150: Ernst Lichtblau, Paul Speiser-Hof, Wien 21,1929

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Abb. 151: Ernst Lichtblau, Paul Speiser-Hof, Wien 21,1929

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Abb. 152: Ernst Lichtblau, Doppelhaus für die Werkbundsiedlung, 1932

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ÜÜHigl Abb. 153: Ernst Lichtblau, Doppelhaus für die Werkbundsiedlung, 1932

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Abb. 154: Ernst Lichtblau mit Norbert Schlesinger, Hauptschule in der Grundsteingasse 48, Wien 16, 1962-63

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Abb. 155: Ernst Lichtblau mit Norbert Schlesinger, Hauptschule in der Grundsteingasse 48, Wien 16, 1962-63

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Abb. 156: Ernst Lichtblau, Tisch für die Familie Fish, Rhode Island, ca. 1948

Abb. 157: Ernst Lichtblau, Tisch für die Familie Fish, Rhode Island, ca. 1948

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Abb. 158: Ernst Lichtblau, Tisch für die Familie Fish, Rhode Island, ca. 1948

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Abb. 159: Ernst Lichtblau, Schalen für die Familie Fulkerson, Rhode Island, ca. 1948 Abb. 160: Ernst Lichtblau, Teller für die Familie Fulkerson, Rhode Island, ca. 1948 Abb. 161: Ernst Lichtblau, Kerzenleuchter für die Familie Fulkerson, Rhode Island, ca. 1948 Abb. 162: Ernst Lichtblau, Holzkassetten für die Familie Fulkerson, Rhode Island, ca. 1948

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Kapitel 6 BIOGRAPHIE ERNST LICHTBLAU

Biographie Ernst Lichtblau

Abb. 163: Ernst Lichtblau, Rhode Island School of Design, Interior Architectural Design, Providence, 18. Februar 1955 Abb. 164: Ernst Lichtblau, Rhode Island School of Design, Porträtfoto nicht datiert (ca. 1948) Abb. 165: Ernst Lichtblau, Rhode Island School of Design, Interior Architectural Design, 7. Mai 1955 Abb. 166: Ernst Lichtblau, Rhode Island School of Design, Porträtfoto nicht datiert (ca. 1948)

Biographie Ernst Lichtblau

1902 1883 Ernst Lichtblau wird am 24. Ju- Lichtblau absolviert im Juli 1902 die ni 1883 in Wien als Sohn jüdischer Höhere Staatsgewerbeschule, SchelEltern geboren, Bezirk Margareten, linggasse, in Wien. in der Grießgasse 1 (alter Straßenname). Sein Vater Johann Lichtblau, geboren am 26. April 1849 in Breiten- 1902/03 see bei Wien, ist Geschäftsführer der Ernst Lichtblau beginnt mit 19 Jahdamals größten Meerschaumpfei- ren das Architekturstudium an der fenfabrik von Österreich-Ungarn, Akademie der bildenden Rünste in die im Besitz von Verwandten der Wien an der Meisterschule für ArFamilie Lichtblau (Adolf Lichtblau) chitektur bei Professor Otto Wagwar. Johann Lichtblaus Vater war ner. 2 Im Herbst 1902 Eintritt in die Philiph Lichtblau, ein Händler in Wagnerschule (Winterhalbjahr), wo Wien, der mit Netti Lichtblau (gebo- er bis zum Diplom 1905 inskribiert rene Röhn aus Wien) verheiratet ist (Sommerhalbjahr). 3 Seine Wohnwar. Philiph und Netti Lichtblau hat- adresse während seiner Studienzeit ten sieben Rinder (Theresia, Johann, in Wien ist die Spengergasse 35 im Julie, Antonnia, Heinrich, Sigmund 5. Wiener Gemeindebezirk.4 Sein und Barbara). Die Mutter Ernst erstes Studienprojekt ist ein MietLichtblaus, Anna/Hanni Lichtblau zinshaus für den 1. Bezirk in Wien. (geborene Falticzek), wurde am Lichtblau nimmt an der Ronkurrenz 25. Juni 1854 in Boskowitz in Mähren um den Fügerpreis der Akademie geboren. Die Eltern Ernst Lichtblaus der bildenden Rünste Wien teil, den heirateten am 8. März 1874, die da- Preis erhält jedoch Rari Maria malige Adresse war Wiedner Stra- Rerndle mit seinem Projekt „Monße 67 in Wien-Wieden.1 Aus dem Ge- archenzelt". 5 Beide Projekte werden burtenbuch der Israelitischen Rul- in der Publikation Die Wagnerschule tusgemeinde Nr. 1044/1883 sind 1902/03 und 1903/04 publiziert. weitere Daten festgehalten: 1. Juli 1883: Beschneidungstag von Ernst Lichtblau. Am 24. September 1909 bezeichnet sich Lichtblau beim Ausfüllen eines Meldezettels als konfessionslos. Am 6. 5. 1939 (im Jahr seiner Emigration) nimmt Ernst Lichtblau den Zusatznamen Israel-Sara an. Ernst Lichtblau hat zwei ältere Brüder. Alfred Lichtblau, geboren am 1. Jänner 1875, ist Drechslermeister und bezeichnet sich am 9. Juli 1939 ebenfalls als konfessionslos (Geburtenbuch der Israelitischen Rultusgemeinde Nr. 642/1875). Sein zweiter älterer Bruder, Heinrich Richard Lichtblau, ist am 28. Juli 1880 in Wien geboren. Auch er leugnet am 20. November 1939 das Judentum. Er stirbt in Polen im Ghetto Lodz (Geburtenbuch der Israelitischen Rultusgemeinde Nr. 5440/1880).

Abb. 167: Geburtshaus von Ernst Lichtblau, heutige Margaretenstraße 83, Wien 5

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Biographie Ernst Lichtblau

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Abb. 168: Meldezettel Ernst Lichtblau, datiert vom 5. Mai 1904

1903/04 Studienprojekt für ein Mietzinshaus in Baumgarten sowie Studienprojekt für ein Kaffeehaus-Interieur, gemeinsam mit Theo Deininger. Die Projekte werden in der Publikation Die Wagnerschule 1902/03 und 1903/04 veröffentlicht.

1904 Lichtblau erhält den Allerhöchsten Hofpreis I. Klasse in Gold für das Projekt „Forst- und Domänendirektion für Bosnien", 6 weiters erhält Lichtblau zwei Rothschildsche Künstlerstipendien, die er für Reisen nach Italien und Deutschland verwendet. 7 Seine neue Adresse lautet: Grohgasse 13 im 5. Wiener Gemeindebezirk. 8

1904/05 Stipendium der Akademie der bildenden Künste, Aushilfsfonds, für das Schuljahr 1904/05, Jahresbetrag 200 Kronen. 9

1905 Architekturdiplom, Akademie der bildenden Künste, Sommersemester 1905. Im gleichen Jahr werden die „Bosnischen Studien" in der Zeitschrift Der Architekt publiziert. Nach dem Studium übersiedelt Ernst Lichtblau in die Auhofstraße 223 in Wien-Hietzing. 10

1906 Lichtblau unterrichtet an der Höheren Staatsgewerbeschule (19061914) in der Schellinggasse 13, deren Absolvent er selbst war. Vorlesungen über Fachzeichnen für Möbeltischlerei. 11

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1908 Projekt für eine Villa in Wien, OberSt. Veit, sowie Studien und Skizzen aus Bosnien und Dalmatien.

1909 Lichtblau verfaßt das vorletzte Heft der Wagnerschule, mit dem Titel: Wagnerschule, Projekte und Skizzen aus der Spezialschule flir Architektur des Oberbaurates Otto Wagner, Arbeiten aus Jahren 1905/06 und 1906/07, nebst einem Anhang, Leipzig 1910.

1910 Ab dem Jahr 1910 ist Lichtblau freier Mitarbeiter der Wiener Werkstätte bis zum Jahr 1920. Seine Wohnadresse in diesem Zeitraum ist die Schweizerthalstraße 30 in Wien-Hietzing.12 Teilnahme an der Werkbundausstellung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien. 13

1912 Lichtblau beteiligt sich am Wettbewerb für eine Synagoge in Wien-Hietzing. Realisation des Parkpavillons für die Frühjahrsausstellung im Museum für Kunst und Industrie vom Mai-Juli 1912. Lichtblau ist österreichisches Mitglied des Deutschen Werkbundes seit dem Jahr 1912.

1913 Lichtblau erhält von der Höheren Staatsgewerbeschule den Professorentitel zugesprochen. 14 Bau des Einfamilienhauses in der Linzackergasse 9 in Wien-Hietzing. Teilnahme an der Ausstellung der österreichischen Tapeten-, Linkrusta- und Linoleumindustrie im Museum für Kunst und Industrie (20. Mai 1913Juli 1913). Ausgestellt waren Arbeiten von Ernst Lichtblau, Dagobert Peche, Karl Witzmann, V. Petter und Oskar Strnad u. a. von der Firma

Biographie Ernst Lichtblau

Rette. Von den Entwürfen existiert ein Leinendruck aus dem Jahr 1913 in Form einer Fotodokumentation. 15 Lichtblau arbeitete auch für andere Firmen: Backhausen (Stoffe), Piette (Tapeten), Alfred Pollak (Schmuck), Anton Hergestell (Möbel), Wienerberger (Öfen), Lobmeyr (Lampen und Gläser). 1914

Austritt aus der Höheren Staatsgewerbeschule.16 Bau des Einfamilienhauses Dr. Hoffmann in der Wattmanngasse 29, Wien-Hietzing. Bis 1914 arbeitet Ernst Lichtblau teilweise bei Josef Hoffmann, danach ist er freiberuflich als Architekt und Designer tätig. Lichtblau ist Gründungsmitglied des Österreichischen Werkbundes seit 1914.17 Teilnahme an einer Kunstausstellung für eine Gartengestaltung. 1914/15

Lichtblau arbeitet für die Wiener Werkstätte auch am Mappenwerk Wiener Mode 1914/15.

1923

Oktober 1933, Einführung der Wohnbausteuer in Wien, mit dem Ziel, 25.000 Wohnungen in fünf Jahren zu bauen. Lichtblau erhält den 1. Preis für den Wettbewerb für das Denkmal der Auslandshilfe, gemeinsam mit dem Bildhauer Hagenauer. Teilnahme an der Ausstellung von Arbeiten des modernen österreichischen Kunsthandwerks im Museum für Kunst und Industrie. Ab circa 1923 führt Ernst Lichtblau ein Atelier in der Linken Wienzeile 4 im 6. Wiener Gemeindebezirk, seine Wohnadresse ist nach wie vor die Schweizerthalstraße 30 in Wien Ober-St. Veit. (Freundliche Mitteilung von Rudolf L. Baumfeld, Los Angeles, an Architektin Maria Auböck.)

Abb. 169: Blick zur Linken Wienzeile 4 (Atelier von Ernst Lichtblau), historische Fotoaufnahme um 1910

1923/24

Umbau der Raucherrequisiten-Firma Adolf Lichtblau in der Hermanngasse 17 im 7. Wiener Gemeindebezirk und der Pfeifenfirma Rudolf Lichtblau in der Millergasse im 6. Wiener Gemeindebezirk.

1915-18

Lichtblau baut das größte orthopädische Spital Mitteleuropas in der Gassergasse 44/46 im 5. Wiener Gemeindebezirk. 1918

12. November 1918, Ausrufung der Ersten Republik Österreich.

1924

Teilnahme Lichtblaus an der Werkbundausstellung „Die Form" in Stuttgart. Entwurf und Ausführung einer Bowleschale. (Quelle: Die Form ohne Ornament, Werkbundausstellung 1924, Deutsche VerlagsAnstalt Stuttgart, Berlin - Leipzig, 1924)

1919

14. Mai 1919, erste Wahl des Wiener Gemeinderates. Von 165 Mandaten: 100 Sozialdemokraten, 50 Christsoziale. Teilnahme an der ersten kunstgewerblichen Ausstellung nach Kriegsschluß.18

1925

Im Jahr 1925 nimmt Lichtblau an der internationalen kunstgewerblichen Ausstellung an Paris teil, wo er mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet wird (Quelle: Handschriftensammlung der Stadt Wien).

Abb. 170: Ernst Lichtblau, Dame mit Vogelkäfig, 1914

149 I

Biographie Ernst Lichtblau

1925-28 Gründung und Leitung der eigenen „Ernst Lichtblau Werkstätte GesmbH" für „Gegenstände des täglichen Bedarfs in exakter Zweckbestimmtheit" unter Verwendung von „bescheidenen Werkmaterialien". 19

1926 Errichtung des Wohnhauses für die Gemeinde Wien, „Julius-Ofner-Hof" in Wien-Margareten, Margaretengürtel 22. Teilnahme an der Hygiene-Ausstellung (Quelle: Handschriftensammlung der Stadt Wien). Abb. 171: Ernst Lichtblau, Porträtfoto ohne Datierung

1927 Ernst Lichtblau nimmt an der Österreichischen Kunstgewerbe-Ausstellung in Essen teil. Teilnahme an der Entwurfsausstellung des Österreichischen Museums (Quelle: Handschriftensammlung der Stadt Wien).

1928 Als Mitglied des Österreichischen Werkbundes: 20 Teilnahme Lichtblaus an der Ausstellung „Wien und die Wiener" (Quelle: Handschriftensammlung der Stadt Wien).

Abb. 172: Ernst Lichtblau, Karikatur von B. F. Dolbin um 1926

I 150

1929 Teilnahme an der Ausstellung „Österreich auf der internationalen Architektur-Ausstellung" in Paris (Quelle: Deutsche Kunst und Dekoration, XXXII. Jahrgang, Darmstadt, August 1929, pp. 517-318). 24. Oktober 1929, „Schwarzer Freitag", New Yorker Börse - Börsenkrach.

1929/30 Ernst Lichtblau nimmt an der Weihnachtsschau im Rünstlerhaus in Wien teil (Quelle: Weihnachtsschau, Künstlerhaus 23. November 1929 bis 6. Jänner 1930, Verlag Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens, 1929).

1929-31 Errichtung des Wohnhauses für die Gemeinde Wien, „Paul-SpeiserH o f F r a n k l i n s t r a ß e 20, im 21. Wiener Gemeindebezirk (2. Bauteil, zusammen mit Leopold Bauer, Hans Glaser und Karl Scheffel). Ausstellung „Wiener Raumkünstler" mit dem Beitrag: Einwohnraum im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie. Am 10. Dezember 1929 erfolgte die Gründung der „BEST"-Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene im Karl-MarxHof, dessen Leitung Ernst Lichtblau übernimmt. 2 1

1930 Im Jahr 1930 zählt man circa 300.000 Arbeitslose. Teilnahme Lichtblaus mit zwei Beiträgen an der Wiener Werkbundausstellung im Jahr 1930 im Museum für Kunst und Industrie mit dem Thema: „Wie eine Großstadt von moderner Kultur den Fremden dienen müßte." Lichtblau plant einen Fremdenverkehrs-Pavillon sowie einen Musikalien- und Grammophonladen. Im Jahr 1930 erscheint ein „Prominenten-Almanach", herausgegeben von Oskar Friedmann, in dem unter anderen auch Ernst Lichtblau aufgenommen wurde. Der Kurztext mit Photo lautet wie folgt: „Zivilarchitekt, geboren 1883 in Wien, ist der Erbauer einer großen Anzahl markanter Familienhäuser, Volkswohnhäuser der Gemeinde Wien, Fabriksbauten und des Ortho-

Biographie Ernst Lichtblau

pädischen Spitals in Wien. Viele große Wiener Geschäftshäuser und Laden zeigen prachtvolle Innenräume und Schauflächen, nach seinen Entwürfen gebildet. In vielen Einfamilienhäusern und Mietshäusern sind seine Wohnungseinrichtungen die praktische Erfüllung seiner Formideen. Atelier-Adresse: Linke Wienzeile 4, in Wien VI. Telephon: Β 28006." 2 2

1939

Am 21. August 1939 Emigration über England in die Vereinigten Staaten von Amerika. 24 Ernst Lichtblau kommt mit 5 Englischen Pfund in seiner Tasche in New York an (eigene Aussage nach einem Zeitungsartikel). Seinen Lebensunterhalt verdient sich Lichtblau in England durch Gestaltung von Buch- und Zeitschriftencovers (Graphische Arbeiten). 25

1931

1945

Lichtblau beteiligt sich an der im Rahmen des Wiener Werkbundes von Josef Frank im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie veranstalteten Ausstellung: „Der gute, billige Gegenstand". Beitrag von Lichtblau: Schlaf- und Wohnraum der Volkswohnung. Teilnahme an der internationalen Raumausstellung in Köln.

Ernst Lichtblau wird am 4. Juli 1945 Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Amerika. 26 Nach mehreren kurzen Arbeiten beginnt Lichtblau 1945 an der Cooper Union als TextilDesign Instructor zu unterrichten und arbeitet als Design-Ronsulent für New Yorks größtes Kaufhaus, Macy & Company. 27 "Mr. Lichtblau became a citizen of the U.S.A. on June 4, 1945. Since his arrival in this country, he has done free lance work for several offices, and for 2 V2 years he designed the functional fixtures of interior display and exhibition plans for R. H. Macy & Company in New York. Prior to joining the faculty at RISD, he was an instructor of textile design at the Cooper Union Art School in New York." (Faculty News' section of the RISD Alumni Bulletin of September 1948).

1932

Errichtung eines Doppelkleinhauses für die Wiener Werkbundsiedlung, Jagdschloßgasse Nr. 88 und Nr. 90, sowie Inneneinrichtungen der Werkbundhäuser von Hugo Häring, Haus Nr. 2, von Eugen Wachberger, Haus Nr. 22, und von Arthur Grünberger (Haus Nr. 63) 2 3

1933

1947

Teilnahme am Wettbewerb für das Kahlenberg-Restaurant; Lichtblau erhält den 4. Preis. Anfang 1933 circa 600.000 Arbeitslose (Gesamtbevölkerung: circa 6,5 Mio.).

Im Herbst 1947 wird an der Rhode Island School of Design der Lehrplan umgestellt. Nach dem Tod von Frau Prof. Wildprett (im Juli 1948) wird das „Department of Planning" gegründet, welches auch die Bereiche Architektur (Prof. Fulkerson, Chairman), Landschafts- und Innenarchitektur (Prof. Ernst Lichtblau) beinhaltet. 28 Der erste Jahrgang 1947 von Ernst Lichtblau besteht aus circa

1934

Bürgerkrieg in Österreich.

melbezeitel

Abb. 175: Meldezettel Ernst Lichtblau, datiert vom 19. Oktober 1910 Abb. 174: Meldezettel Ernst Lichtblau, datiert vom 25. August 1933

151 I

Biographie Ernst Lichtblau

zwölf Studenten, darunter befinden sich Donald P. Pollard, ein Designer, der später für den Glasproduzenten Steuben arbeitete.

Nach 1947 Mr. Fulkerson ist Chairman des „Department of Planning" an der Rhode Island School of Design (RISD) und ersucht Lichtblau, verschiedene Möbel und Haushaltsobjekte für seine Familie zu entwickeln. Abb. 175: Ernst Lichtblau bei einem Kostümfest an der Rhode Island School of Design mit Fakultätskollegen und Studenten (Lichtblau rechts außen), Foto nicht datiert (ca. 1950)

1947/48 Professor an der Abteilung für Innenarchitektur der Rhode Island School of Design, Providence.29

1948 Die Universitätszeitung der Rhode Island School of Design berichtet, daß Ernst Lichtblau am 9. September 1948 als Vorstand des Departments für Innenarchitektur (Interior Design) bestellt wird. Lichtblau ist seit September 1947 als „Instructor" an der Rhode Island School of Design tätig. Während seines Aufenthaltes in den fünfziger Jahren in Providence lebt Ernst Lichtblau unter der Adresse: 344 Benefit Street, 3. Stock. Nach Angaben der Zeitung Providence Journal vom 4. März 1956 erhält Ernst Lichtblau für seine Ausstellungsbeteiligungen mehrere Auszeichnungen im Rahmen der „Good Design"-Ausstellung, Auszeichnungen für die Ausstellung im Museum of Modern Art in New York im Jahre 1950 sowie 1953; 1949 für die Ausstellung in Chicago und in Mailand. Die Design-Objekte von Ernst Lichtblau werden bei folgenden Ausstellungen gezeigt: Exhibition of Modern Living, Detroit Institute of Arts, 1949; Haiti Bicentennial Exposition in Port-au-Prince, 1950; Wanderausstellung „Amerika-Design", zusammengestellt vom Mu-

I 152

seum of Modern Art New York für Europa im Jahre 1953 sowie bei der Ausstellung „Salute to Paris" im Jahre 1955, die vom amerikanischen Außenministerium gesponsert wird. Im Zusammenhang mit diesen Ausstellungen erscheinen Artikel in folgenden amerikanischen Zeitschriften: Interiors, Better Design, Architectural Record. 30

Mai 1950 Lichtblau ist verantwortlich für die Installation der Ausstellung „Sculpture 1850-1950" im Museum of Fine Arts der Universität Rhode Island School of Design in Providence.

1951 Ernst Lichtblau kehrt nach Österreich zurück.

März 1954 Ausstellungsbeitrag für die Ausstellung „Good Design" des Museums of Modern Art für Merchandise Mart, Chicago, der Rhode Island School of Design durch Ernst Lichtblau. 32

1954-57 Im akademischen Jahr 1953/54 war Lichtblau Dekan (acting head) an der Fakultät für Architektur. Im darauffolgenden Jahr kehrte er zu seiner regulären Tätigkeit als Fakultätsmitglied für Innenarchitektur zurück. Für das Sommersemester 1956 läßt sich Lichtblau karenzieren (Europareise) und kehrt im Wintersemester 1956/57 wieder an die Rhode Island School of Design zurück (Innenarchitektur). Während seines Aufenthaltes in Wien stellt Ernst Lichtblau einen Rückstellungsantrag auf seinen arisierten Familienbesitz. 33

Biographie Ernst Lichtblau

H. Lichtblau of RISD's Division of Ar1956 Mitte März fährt Ernst Lichtblau für chitecture, will leave for Vienna, sechs Monate nach Europa (seine Austria. He is no stranger to that befünfte Reise seit 1959), um ein priva- autiful and ancient city. It is the place tes Forschungsprojekt durchzufüh- of his birth and the sen ce of much of ren. Es handelt sich zum einen um his life's work. It was there that he den Bereich Fertigteilhäuser, zum studied under the famed Otto Waganderen um die Formenentwicklun- ner and received his Master's degree gen im Bereich von Möbel und Haus- from Vienna's Masterschool of Arhaltsgegenständen. Zitat laut Zei- chitecture. Now in his seventytungsbericht des Providence Jour- fourth year, his drive and enthusinal·. "It is a search for form, a asm would humble many a younger continuation of my work along basic man. At his same time last year, Prof. lines. I go to look particularly at what Lichtblau was granted a leave of abis being done in prefabricated hou- sence to carry on a personal resing. The prefabricated house has search project taking him through most interesting possibilities. I belie- Austria, Italy, Sweden and Denmark. ve it should be developed as an entity This time, his departure is of a more uniting architecture and industral permanent nature. He has been design" . . . "I will also be concerned commissioned by the municipal gowith the development of new forms, vernment of Vienna to design and new concepts in the design of home oversee the construction of a new furnishings, appliances, all kinds of elementary school structure which household articles. When I come will be truly 'representative' of the back, I shall have more to say and to city, futuristic in concept and yet incorporating some of the old tradishow in lectures." tions which make Vienna the beloved city that it is. Prof. Lichtblau is a man dedicated to his field and in his März 1957 Am 8. März 1957 verläßt Lichtblau own words, he is 'full of ideas'. It Providence, um nach Wien zu rei- would be difficult to designate him sen. Aus diesem Anlaß erscheint ein only as an architect, for he is a desilängerer Artikel im Journal, Rhode gner in the fullest meaning of the Island School of Design, Providence, world. He finds 'architecture' in all Rhode Island, mit dem Titel "Licht- things and in lieu of this, concerns blau takes Leave of RISD to underta- himself with the design of objects ke Vienna Commission", der einen within the structures which he conHinweis auf den zukünftigen Auftrag ceives as well as the exterior shells der Stadt Wien an Lichtblau für die themselves. In carrying out his preVolksschule in der Grundsteingasse, sent commission, a project in which Wien 1160, enthält. In diesem Artikel he will be assisted by various Gerwerden wichtige Hinweise zur Bio- man and Austrian architects, the graphie Lichtblaus gegeben: Licht- form of lighting, furniture, etc., will blau will in Europa die Länder come under his strict attention. This Österreich, Italien, Schweden und concept of designing the enclosure Dänemark besuchen, um ein „per- and the enclosed as a single harmosönliches wissenschaftliches Pro- nious entity was pioneered by Wagjekt" durchzuführen (das heißt eine ner and has been the hallmark of Studienreise in die damals führen- Lichtblau's work throughout his den Design-Länder Europas, An- long career. The Professor is redoubtable as far as sheer energy is conmerkung des Autors). 34 "On Friday, March 8, Professor Ernst cerned. He plans to continue tea-

Abb. 176: Raymond Loewy's Studebaker Starliner coupe (1953)

153 I

Biographie Ernst Lichtblau

ching in one form or another, lecturing, arranging seminars, etc. He fills to the letter a yearly contract with a New York manufacturer, is exhibiting a pair of coffee urns — of his many 'useful things' — at a forthcoming international exhibition in Belgium and plans to return to the United State upon the fulfillment of his obligations in Vienna. This is the time and place for words of advice and those of Lichtblau echo those he once heard from Otto Wagner. 'Think in terms of an entity, a whole unit' he reiterated, directing his comments particularly to the freshmen he once passed daily on Benefit Street, beginning their sketches in one small corner of the paper." Als Illustration des Artikels dient Lichtblaus Pavillon für die Wiener Werkbundausstellung 1930.

Juni 1957

Ernst Lichtblau verläßt die Rhode Island School of Design, Providence, um nach Wien zu reisen. 35

noch einmal als Professor für Architektur und Innenarchitektur an der Rhode Island School of Design. 1962

Ernst Lichtblau erhält in Zusammenarbeit mit Norbert Schlesinger von der Gemeinde Wien den Auftrag zum Bau einer Schule für den 16. Wiener Gemeindebezirk; Adresse: Grundsteingasse 48, Ecke Kirchstetterngasse.

1963

Lichtblau stirbt am 8. Januar 1963 beim Brand des Hietzinger Parkhotels, jedoch nicht als Folge des Hotelbrandes, sondern vor „Aufregung". (Laut Zeitungsmitteilung gibt es beim Hotelbrand keinen Verletzten oder Toten.) Beisetzung auf dem Simmeringer Friedhof in einem Urnengrab.

April 1963 1959/60

Im Sommersemester 1960 (spring term) unterrichtet Ernst Lichtblau

I 154

Eröffnung der in Zusammenarbeit mit Norbert Schlesinger errichteten Hauptschule im 16. Wiener Gemeindebezirk, Grundsteingasse 48.

Schülerliste

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HACKL, Alois

a O ce a X

ROITH, Franz

GRAF, Alfred

EHN, Karl

Wien

01

11. 10. 1884

OÒ 0 ©

19. 01. 1885

χ OD

I DISCHER, Camillo

1904

s

II CALUSCH, Alfred

s

Peinpreis 1905

S

Hofpreis (Gold) 1907

1906

«

Wien

Wien

15. 10. 1882

1905

«

BRUCKNER, Karl

Wien

23. 03. 1882

1901 j 1902

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I STOIK, Karl

Wien

03. 12. 1880

1900

ΙΟ

Fügerpreis (Gold) 1905, Speciaischulpreis 1906

1899 1910

ì

SEDLACZEK, Rudolf

Brünn/Mähren

27. 05. 1884

1898

»

SAFONITH, Franz

Wien

25. 06. 1881

Preise



Il NICOIADONI, Alfred

Heimatort

8061

Geb.-Daten

6061

1 Zuname, Vorname

Schülerliste

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