Die Kunst offenen Wissens: Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik 9783787323692, 9783787315802

Man kann Cassirer als Schöpfer eines eigenen epistemologischen Ansatzes verstehen, der nicht nur bisher ungelöste Proble

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Die Kunst offenen Wissens: Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik
 9783787323692, 9783787315802

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Christiane Schmitz-Rigal

Die Kunst offenen Wissens Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik

Meiner

CASSIR ER-FORSCHUNGEN

CASSIR ER-FORSCHUNGEN

Band 7

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Christiane Schmitz-Rigal

Die Kunst offenen Wissens Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1580-2 ISBN eBook: 978-3-7873-2369-2

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2002. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.  www.meiner.de

Inhalt

Einleitung. >Sub specie finitatisfoci imaginariiunreinen< Vernunft................

164

Ausdruck, Darstellung und Bedeutung: drei Stufen des Symbolbewußtseins...........................................................

177

2.4. 2.5.

Dritter Teil Die Physik als Symbolische Formung: zur »Probe an den Phänomenen«

185

3.1.

Der Prozeß wissenschaftlicher Objektivierung..............

194

3.1.1.

Die Maßbegriffe: freie Standortwahl und Transsubstantiation ...........................................................

196

3.1.1.1. Die Ontologisierungstendenz der Maßbegriffe und ihre Ursachen.....................................................................

201

3.1.2.

Die Gesetzesbegriffe: Integration zu reinen Verhältnissen......................................................................

206

3.1.3.

Die Prinzipienaussagen: Einheit als Leitgedanke...........

209

3.1.4.

Der Holismus des physikalischen Symbolsystems und seine Dynamik ...........................................................

220

Selbstbezug und Fremdbezug: zum indirekten Verhältnis von Theorie und Erfahrung............................

225

Die Kunst der Wissenschaft: »hypotheses fingo«...........

231

3.1.5. 3.1.6.

Inhalt

VII

3.2.

Relativitätstheorie und Quantentheorie als Invariantenwechsel: zur» Tieferlegung der Fundamente«................ 235

3.2.1.

Die Relativitätstheorie: von der Physik der Bilder zur Physik der Prinzipien.................................................

239

3.2.1.1. Die Krise der Anschauung in der Relativitätstheorie.....

246

3.2.1.2. Raum und Zeit in Physik und Philosophie.....................

249

3.2.1.3. Relativierung als Korrelat neuer Invarianz.....................

253

3.2.2.

Die Quantentheorie als Physik der offenen Form.........

256

3.2.2.1. Wahrscheinlichkeit und Gesetzlichkeit...........................

264

3.2.2.2. Die Unschärferelationen...................................................

270

3.2.2.3. Zur Funktion des Kausalsatzes........................................

277

3.2.2.4. Das Verhältnis der klassischen Mechanik zur Quantentheorie..................................................................

281

3.2.2.5. Der Physiker als >Bürger zweier WeltenSub specie finitatis>Caminante no hay camino se hace camino al andar.« Antonio Machado

Der Name Cassirer steht nicht nur für einen Denker, der das Reflexionsniveau des klassisch-philosophischen Erbes noch vollendet zu verkörpern vermochte und als herausragender Gegenspieler Martin Heideggers gelten kann. 1 Er bezeichnet ebenso einen profunden Kenner der mathematischen und naturwissenschaftlichen Neuerungen seiner Zeit. Und er steht in nicht geringerem Maße für einen grenzübergreifend arbeitenden Forscher, dessen Arbeiten äußerst heterogene, für die traditionelle Philosophie untypische Themenbereiche umspannen und das Ganze menschlichen Kulturschaffens zu fassen versuchen. Vor allem aber bezeichnet dieser Name den Schöpfer eines eigenen epistemologischen Ansatzes, der das Bedeutungsproblem ins Zentrum seiner Überlegungen stellt und sich dem rückhaltlosen Ernstnehmen offener Zeitlichkeit verdankt- so jedenfalls die These dieser Arbeit. Mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod ist Ernst Cassirers Werk noch nicht in dem ihm gebührenden Umfang als ernstzunehmende Antwort auf die Fragen der Zeit entdeckt worden. Partiell ist dies erklärbar durch seine erzwungene Exilierung im Jahre 1933. Der eigentliche Grund aber scheint, daß die geistige Situation seiner Zeit keine fruchtbare Rezeption zuließ, 2 und das heute spürbar wachsenVgl. dazu etwa die >Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger< (1929), in: M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/Main 1973, 4.Auflage. S.246ff., sowie S.Lofts Beitrag: >Husserl, Heidegger, Cassirer - trois philosophes de crise>als Aufbruch des Neuen in der Überwindung des Alten, als Aufbruch des existentiellen Denkens in der Überwindung des unglaubwürdigen IdealismusZugänge zu Ernst Cassirer. Eine EinleitungAn essay on man< by Ernst Cassirer, in: American Anthropologist 48, 1946, V. Gerhardt: Ver-

Wissen und Zeitlichkeit

XI

hier dahingestellt- ebensogut in die Nähe Jean Piagets 10 wie in die Moritz Schlicks 11 oder Karl-Otto Apels 12 gerückt. Und man könnte mit gleichem Recht Parallelen zu Leibniz, Kant oder Hegel ziehen. Oder zu Goethe, Humboldt und Herder. Oder zu David Hilben, Hermann Weyl und Felix Klein. Diese Sachlage verführt dazu, Cassirer als unoriginellen Eklektiker einzustufen, der in der Geistesgeschichte Anleihen macht, aber es höchstens in Ansätzen zu eigenen Entwürfen bringt - ein Eindruck, der noch verstärkt wird durch die für ihn charakteristische, stets konkret geschichtlich verortende Darstellungsweise. Nur wer in der scheinbaren Rhapsodie die neue, diese Einigung erst ermöglichende Sicht, die schöpferische Syntheseleistung Cassirers erkennt, vermag den Unterschied zwischen bloßer Anleihe und eminent fruchtbarer Aneignung und Anverwandlung zu machen. Wer glaubt, daß Erneuerung nur durch die rückhaltlose Aufgabe des Alten möglich sei, mag bei Cassirer entdecken, daß echte >Radikalität< sich erst da entfalten kann, wo das Niveau der >Wurzeln< des Bestehenden erreicht ist. Dieser Arbeit geht es aber nicht um Cassirer als historisches Thema, sondern vielmehr um die philosophischen Probleme, die er mit seinem Schaffen zu beantworten sucht. Es wären derer viele zu nennen - die Struktur des Erkennens, das Erfassen historischer und kultureller Phänomene wie Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft, die Begründung von Objektivitätsansprüchen, der Realitätsund Wahrheitsbegriff, die Rolle von Symbol und Repräsentation etc.-, aber die Art und Weise, in der Cassirer sich ihrer annimmt, läßt erkennen, daß er sie im Horizont eines Grundphänomens und Grundproblems behandelt: dem offener Zeitlichkeit. Gemeint ist dieser Begriff hier nicht in dem spezifischen- existentiellen oder bewußtseinstheoretischen - Sinn, den ihm andere Positionen gegeben haben. 13 Vielmehr soll damit nur der Aspekt unabnunft aus Geschichte, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S.224ff. 10 Siehe R. L. Fetz: Ernst Cassirer und der strukturgenetische Ansatz, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 156. 11 Vgl. T.A. Ryckman: Conditio sine qua non? Zuordnung in the early epistemologies of Cassirer and Schlick, in: Synthese 88, 1991, S. 57-95, bzw. dagegen M. Ferrari: Cassirer, Schlick und die Relativitätstheorie, in: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Studien und Materialien zum Neukantianismus Band 1, hg. von E. W. Orthund H. Holzhey, Würzburg 1992, S. 418 ff. 12 Siehe T. Göller: Ernst Cassirers kritische Sprachphilosophie, Epistemata, Würzburger wissenschaftliche Schriften, Bd. XXIX, 1986. 13 Zu denken ist hier vor allem an die Position M. Heideggers, aber auch an die Ansätze von J. P. Sartre, E. Husserl, M. Merleau-Ponty, oder- in ganz anderer Hin-

XII

Einleitung

schließbarer Prozeßhaftigkeit, des permanenten Wandels und der Kontingenz menschlicher Erfahrung benannt sein. Selbst wenn man bei Cassirer vergeblich eine explizite Thematisierung dieser Topoi suchen wird, läßt sich behaupten, daß Vergänglichkeit und Kontingenz in seinen Augen die echte und vor allen anderen zu beantwortende Herausforderung an das Denken darstellen. Denn er unternimmt es, konkret zu zeigen, inwiefern Vergänglichkeit nicht mehr als tiefgreifende Bedrohung des Wissens, als ein auszuräumendes Hindernis, sondern im Gegenteil als sein integrales Moment, ja sogar als die Bedingung seiner Möglichkeit gesehen werden kann. Cassirer versucht zu verstehen, wie das Wissen konstitutiv offen und vergänglich sein kann, ohne deswegen seinen Anspruch auf Erklärungskraft und Wahrheit einbüßen zu müssen. Mehr noch: es gilt zu verstehen, warum es sogar endlich und vorläufig sein muß, um echte Erkenntnis darstellen zu können. Damit öffnet er, nicht ohne Kühnheit gegenüber gewissen Denktraditionen, die Epistemologie selber der Kontingenz des Geschichtlichen und Phänomenalen - doch ohne deswegen in ihrer Beliebigkeit unterzugehen. Man könnte geneigt sein, bereits dieses Projekt für widersprüchlich zu halten. Entspricht es doch logisch gesehen dem Versuch, den Forderungen der Invarianz und der Variabilität ohne Einschränkung gleichzeitig zu entsprechen. Genauer betrachtet aber reformuliert man damit nur die komplexe Aufgabe, überhaupt >etwas zu denkenetwas< des Denkens ist vor allem Ausdruck einer Forderung, der Forderung einer Konstanz, die der nicht abreißen wollenden Veränderung des Sinnlichen hartnäckig entgegengehalten wird. 14 Ohne stabilisierende lnvarianzen ist Orientierung im Denken unmöglich. Gerade um jene phänomenalen Veränderungen fassen zu können, die das eigentliche Thema des Denkens sind, müssen Fixpunkte angenommen werden, die sich andererseits aus dem Phänomenalen selber nicht entnehmen lassen. Der Gegensatz von Invarianz und Variabilität ist also von der Anstrengung des >Verstehens von etwas< als solcher nicht zu trennen. 15 sieht- W. Marx. E. W. Orth thematisiert den Zeitaspekt in Cassirers Philosophie in wieder anderer Hinsicht als kulturschaffende Zeitgesta!tung. Siehe E. W. Orth: Zeitgestalten und Zeitgesta!tung. Überlegungen im Anschluß an Ernst Cassirers Darstellung des Zeitproblems, in: K. E. Bühl er: Zeitlichkeit als psychologisches Prinzip, Köln 1986, S.61-75. 14 Im Vorfeld der Untersuchung wird aus Darstellungsgründen an dieser Stelle noch eine dualistische Redeweise gebraucht, obwohl diese sich im folgenden als ungenügend herausstellen wird. 15 In diesem Sinne hält auch Platon im Dialog Sophistes (249 b folgende) fest, daß

Wissen und Zeitlichkeit

XIII

Karikiert man mit groben Strichen die beiden bisher dominierenden Lösungsstrategien für das Dilemma von Wissen und Kontingenz, so stößt man einerseits auf eine >idealistische< Variante. Diese hilft sich aus der Schwierigkeit, indem sie die Konstanz garantierenden Wissensinstrumente - Begriffe, Kategorien, Ideen - als unzeitliehe und erfahrungsenthobene Größen betrachtet. Sie hebt den Konflikt zwischen den konkurrierenden Forderungen von Variabilität und Invarianz also auf, indem sie sie scharf trennt und auf zwei Anwendungsbereiche verteilt: die >Formen< sind invariant, die >Phänomene< wandeln sich. 16 Klar ist allerdings, daß diese >Lösung< eigentlich nur das Problem vermeidet; denn die Invarianz besteht nur, insofern die Formen dem Bereich der zeitlichen Veränderung schlicht entzogen werdenY Zum anderen existiert eine >empiristisch-materialistische< Variante, die ihr Heil in der umgekehrten Richtung sucht. Statt wie im erstgenannten Fall die Differenz zwischen konstanter Wissensform und zeitlich-kontingentem Phänomen bis zu ihrer völligen Separation zu verschärfen, besteht ihre Strategie darin, ihren Unterschied bis zur gänzlichen Identifikation zu verwischen. Die >Phänomene< wandeln sich, und die >Formen< sollen ihr- im besten Fall gelungenes- Abbild sein. 18 Im Gegensatz zur idealistischen Auffassung werden hier die epistemischen Instrumente nicht als Voraussetzungen, sondern als Resultate der Erfahrung begriffen. Da sie so aber als gänzlich erfahrungsabhängige Größen definiert sind, ist nicht mehr zu verstehen, wieso sie zur Erklärung bestehender und sogar zur Voraussage neuartiger, bisher unbekannter Erfahrung befähigen. In diesem Modell die >Eide< einerseits als konstant, andererseits aber als beweglich gedacht werden müssen, wenn Wissen möglich sein soll. Siehe a. ZMP, 355: >>Ein Begriff [ ... ] muß zugleich fest und beweglich sein: das erstere, damit die Erkenntnis an ihm einen bestimmten Richtpunkt besitzt, das zweite, damit er sich immer vonneueman der Erfahrung orientieren und sich an ihr prüfen kann.Wahrheitvariabler Invarianz< verstanden werden, wenn nicht ein vollendeter Widerspruch? Seine Antwort ist ein Modell offenen Erkennens und Wissens, das Invarianz selber als zeitliche Funktion und reversible Setzung, nicht aber als gegebenes Absolutum begreift. Es ist der Gedanke des unabschließbaren Prozesses, dem die Vermittlung von Form und Phänomenalität zugemutet wird. Der Anspruch unhintergehbarer, invarianter Vorordnungen des Wissens, seien sie ontologisch, psychologisch oder logisch verstanden, wird dekonstruiert, indem alles Geformte auf seine Formungsgeschichte hin befragt und so auch die letzten >Gegebenheiten< des Gedanklichen restlos in die Bewegung ihres Gewordenseins überführt werden. Cassirer macht damit nur noch einen hypothetischen, vorläufig bleibenden Vernunftgebrauch geltend, der seine Stütze nirgendwo anders als im konkreten, offenen und testbaren Bestimmungs- und Objektivierungsprozeß selber sucht. Vermittels dieser antidogmatischen Haltung übersetzt er jedes noch namhaft gemachte, vermeintlich extraprozessuale >Unbedingte< konsequent in den Relationszusammenhang seiner Genese zurück. Ordnung und Struktur des Wissens erscheinen in ihr als Resultat ordnender Leistung, nicht aber als seine gegebenen Voraussetzungen. Dieser, die philosophischen Extreme vermittelnde, dritte Weg einer Temporalisierung des gesamten Wissens wird dadurch möglich, daß Cassirer das Erkenntnisproblem auf der Ebene der Bedeutung stellt und den kreativen Aufbau von Sinnordnungen als transzendentale gekennzeichnet. E. Cassirer: Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs, S. 332 sowie 336 ff. 19 Hier ist zu denken an Positionen wie die der >universalia post rebustabula rasa< eines J. Locke, der realitätserzeugten >impressions< D. Humes etc.

Wissen und Zeitlichkeit

XV

Bedingung jeglicher Objektivierung sichtbar werden läßt. Damit rückt die Fähigkeit zur schöpferischen Gestaltung, zum offenen Urteilen ins Zentrum seines epistemologischen Ansatzes. Es ist »die Kraft des inneren Bildens, die sich in der Erzeugung der Welt der Kunst und der Welt der Erkenntnis[ ... ] beweist«,20 und insofern das Wissen ohne sie nicht gedacht werden kann, zeigt es sich zuletzt als eine Form von Kunst. 21 Das Symbol, die in sich zweifache Einheit von konkret Sinnlichem und abstraktem Sinn, erscheint als sein >KunstwerkForm< und >Materie< verkörpert und insofern geeignet ist, den Dualismus in der Erkenntnistheorie zu überwinden. Bedeutung konstituierende Symbole taugen deswegen als Paradigma >variabler InvarianzFixpunktes< jeweils neu besetzt, die >Invarianten< können >gewechselt< werden. Dank dieser Dynamisierung aller Wissenskomponenten, inklusive der >GrundlegungenKunst des Wissens< ist also von Kunst nicht als einer spezifischen Symbolischen Form unter anderen die Rede, sondern gemeint ist damit allgemein die >>zugleich freie und gesetzliche Natur des Bildens« (WWS, 183), die grundsätzliche, menschliche Fähigkeit zur Gestaltung und Formung selbst, >>die Kraft, das Unbestimmte zur Bestimmung zu bringen, das Chaos zum Kosmos werden zu lassenSeinskomponentenVerweisens auf< und >Stehens für< immer schon voraussetzen. Um diese neue, spannungserhaltende Verbindung von >Denken< und >Zudenkendem< herstellen zu können, muß Cassirer traditionelle Verknüpfungen beider zertrennen. So löst er einerseits die Leistung gestaltender Sinngebung vom Abbildungs- und Korrespondenzzwang, dem sie in dualistisch-verdinglichenden Erkenntnistheorien unterliegt, und gesteht ihr statt dessen uneingeschränkte, praktische Schöpfungsfreiheit zu, die sie höchstens nach eigenem Ermessen durch zusätzliche Formforderungen regulieren kann. Andererseits aber spricht er ihr eben deswegen entschieden die Fähigkeit ab, sich selbst als gelingende Grundformung legitimieren zu können: über Tauglichkeit oder Untauglichkeit hinsichtlich ihrer Erkenntnis- und Erschließungsaufgabe vermag keine noch so subtile Deduktion, sondern einzig und allein ihre konkrete Anwendung zu entscheiden. 22 Damit entzerrt er - und dies ist entscheidend - die bisher vorherrschende Konfundierung der epistemologischen Funktionen der Konstitution und der Legitimation des Wissens. Der Theorie allein gebührt das erste, den durch sie erst Bestimmtheit gewinnenden, kontingenten, erfahrbaren Phänomenen aber das zweite und entscheidende letzte Wort. Insofern ist das Umdenken Cassirers erkennbar an zwei nur scheinbar entgegengesetzten Tendenzen seines Ansatzes: der simultanen Aufwertung und Autonomisierung des Gedanklich-Sinnhaften und des Kontingenten. Seine Epistemologie fußt nicht mehr auf der Zweistämmigkeit von Sinnlichkeit und Verstand, sondern auf der Polarität von sinnlicher Sinnschöpfung einerseits und pragmatischer Bewährung andererseits. Gerade durch diese >Kritik< der tatsächlichen Leistungsfähigkeit menschlicher Reflexion vermag Cassirer der Philosophie eine neue Würde zu verleihen, insofern er den >>Verlust an eigener Substanz und Relevanz« vermeidet, der nach Ansicht von W. Marx dadurch entsteht, »daß sie [die Philosophie] sich in konzentrierter Selbstbeschränkung auf sich vom >fruchtbaren Bathos< der Erfahrung selber abgeschnitten hat, ohne wirklich sicher sein zu können, daß Reflexion auf Prinzipien, auch auf apriorische Prinzipien, nicht vielleicht doch von Entwicklungen im Bereich der systematischen Erfahrungswissenschaften abhängig ist.Theorie der Zeit< oder eine neue, diesmal zeitorientierte >Grundlagentheorie der Erkenntnis< suchen; bedeutete dies doch im Grunde den Rückfall in eine Reflexionsnorm, die noch glaubt, >Letztgültiges< deduzieren zu können und sich so der offenen und offenbleibenden Aufgabe konkreter Phänomenerschließung gerade zu entledigen sucht.23 Statt dessen führt Cassirers vertiefter Respekt vor der uneinholbaren Kontingenz zu einer Form kontextuellen Philosophierens, die sich zäh und genau an den geschichtlichen Phänomenen entlangarbeitet. In dem daraus resultierenden, charakteristischen Ineinander von »historischen und systematischen Studien« 24 versucht er, das je als Invariantes Fungierende am lebendigen Prozeß des Variablen sichtbar werden zu lassen, ohne jedoch dabei seine Gültigkeit als Invariantes vom Prozeß selbst abstrahieren und verabsolutieren zu wollen. 25 Denn für ihn bleibt »der Sinn- die Idee- ursprünglich geschichtlich«. 26 Strukturell gesehen führt also das Ernstnehmen des Zeitlichkeitsgedankens im Fall Cassirers zu einer Transzendentalphilosophie sehr eigener Prägung, die die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zur Frage nach den Bedingungen der Genese objektivierenden Wissens verschärft. Dies führt zu einer Öffnung hin zu mindestens drei anderen methodischen Ansätzen: zur Pragmatik, zur Hermeneutik und zur Phänomenologie. Zuletzt erweitert sich dieses erkenntniskritische Unternehmen ganz konsequent noch hin zu einer anderen Disziplin, nämlich der Anthropologie. Es sollte aber nicht der Eindruck entstehen, daß die Cassirersche Integrationsbewegung keine Grenzen kenne und zu Entdifferenzierung und seichter Beliebigkeit führe. Ganz im Gegenteil argumentiert Cassirer stets unnachgiebig gegen philosophische Positionen, die

23 Darin unterscheidet er sich deutlich von M. Heidegger, der sich dem Problem der Zeitlichkeit auf andere Weise gewidmet hat. Cassirer selber grenzt sich folgendermaßen von ihm ab: »Uns aber ist nicht nur das Dasein, sondern der Sinn- die Idee- ursprünglich geschichtlichLebenDeterminismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum KausalproblemGegebenen< aus dann vermeinen, Anderslautendes mit gutem Grund ausschließen zu dürfen. Dabei ist ganz gleich, ob es sich um die >gegebenen< elementaren Sinnesdata eines kruden Sensualismus, die >transzendent< gegebenen Entitäten irgendeiner Ontologie oder auch die >gegebenen< Erkenntnisgrundlagen eines inhaltlich verstandenen Apriorismus handelt. Dies und Verwandtes gilt Cassirer als Form von Metaphysik im negativen Sinne, als Philosophien schlechter Transzendenz. Es sind für ihn erstarrte Formen des Denkens, die ihrerseits gerade zu einer fatalen Entdifferenzierung führen, insofern ihr fixer Gegebenheitsstandpunkt ihnen die integrative und innovative Kraft nimmt. Um die hier nur kurz angedeuteten, fruchtbaren Neuerungen Cassirers zu entwickeln, wird folgender, vierteiliger Weg beschritten: 1. Abgrenzung des Cassirerschen Ansatzes von der Epistemologie Kants 2. Ausführliche Entwicklung des offen-dynamischen Wissensmodells Cassirers 3. Konkrete Erprobung dieses Modells am Beispiel der Erkenntnisleistung der Physik, insbesondere der immer noch bestehenden Deutungsprobleme von Relativitätstheorie und Quantentheorie. 4. Kritischer Vergleich zu den wichtigsten, innerphysikalischen Deutungsansätzen

Zum ersten Teil: Die spezifische philosophische Leistung Cassirers läßt sich erst angemessen würdigen, wenn sie in den Zusammenhang einer Problemgeschichte gestellt wird. So soll durch den Kontrast zu einer klassischen Vergleichsfolie - dem Kamischen Erkenntnismodell - Bezug auf die grundsätzlichen Fragen genommen werden, die sich einem solchen, epistemologischen Unternehmen stellen. Auf diese Weise können die beiden Modelle als mehr oder weniger überzeugende Antworten auf diese Fragen gelesen werden. Der Bezug auf Kant wird dabei nicht im Sinne eines Vollständigkeit anstrebenden Vergleichs der beiden epistemologischen Ansätze durchgeführt: dies wäre ein eigenes, anderes Thema. Er dient hier einzig dem Zweck, für Cassirers Philosophie selber, wenigstens ansatzweise, das zu leisten, was dieser unermüdlich für andere Positionen durchführte: nämlich ihre Formen auf den Prozeß ihrer Formung und auf die in ihm wirkenden Motive zurückzubeziehen, um sie dank dieser Bewegung >verstehen< und plausibilisieren zu können.

Wissen und Zeitlichkeit

XIX

Dazu wird ein dreifacher Wechsel der Perspektive vorgenommen. Zunächst wird der Kantische Ansatz im Licht seiner eigenen Schwierigkeiten und Möglichkeiten betrachtet. Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei: die Folgeprobleme seiner dualistischen Ausgangsthese - der >Zweistämmigkeit< von Sinnlichkeit und Denken und seines Form-Inhalt-Modells, die theoretische Sonderstellung von Einbildungskraft und Urteilskraft, die versteckten Voraussetzungen der >Kritik der reinen Vernunft< sowie das, was in ihr bereits über sie hinaus führt. Sodann soll Cassirers eigene Kamdeutung als mögliche, erste Reaktion auf diese Sachverhalte gelesen werden. In der Tat verweist seine selektive Darstellungsweise der> Kritik der reinen Vernunft< spiegelbildlich auf die herausgearbeiteten Probleme, und er stützt sich auf die >Kritik der Urteilskraft< und ihre spezifische Thematik der offenen Bestimmungsaufgabe und des künstlerischen Schaffens, um aus ihr heraus weiterführende Lösungsansätze zu entwickeln. Aus der Untrennbarkeit von sinnlicher Einzelerscheinung und allgemeinem Sinn, die für das Kunstwerk charakteristisch ist, leitet Cassirer dabei den Symbolbegriff ab. Vermittels des Gestaltbegriffs verweist er auf die individuelle Ganzheit und Dignität des Phänomenalen. Am Lebensbegriff dagegen entfaltet er den Gedanken offener Prozeß ualität und einer dynamischen Einheit des Werdens, die ihren Teilen gegenüber Priorität beanspruchen kann. Abschließend wird eine Umkehr der Blickrichtung vollzogen, die das Cassirersche Anliegen aus Kantischer Sicht studiert. Hier wird der Vorwurf diskutiert, daß es Cassirers Epistemologie an einer theoretischen Grundlegung mangele. Es zeigt sich, daß Cassirer durchaus Grundkategorien des Verstehens anerkennt, benennt und bespricht. Da er sie aber in ihrem zeitlichen Funktionscharakter ernst nimmt und ihre Grundl~gungsaufgabe als integrales Moment der offenen Theorienentwicklung denkt, deren Kamingenzen nicht vorgegriffen werden kann, legt er sie bewußt nicht in Form einer abgeschlossenen Theorie vor. Damit verläßt Cassirer die Kantische Konzeption des Apriori zugunsten eines offen-funktional verstandenen Aprioris. Die folgende historische und systematische Durchmusterung seiner >lnvarianzkandidatenzeitlicher Konstanz< vorlegt, das den Substanzgedanken abzulösen vermag. Im Licht dieser drei Perspektiven lassen sich die Neuerungen Cassirers aus dem

XX

Einleitung

Problemhorizont ihrer Entstehung heraus begreifen und als Lösungsvorschläge für spezifische Schwierigkeiten legitimieren. Zum zweiten Teil: Dank dieser Vorklärung kann im zweiten Teil das Cassirersche Modell in seinen verschiedenen Aspekten zusammenhängend entwickelt und dargestellt werden, wobei sich historische Kontinuität und Innovation zugleich zeigen. Die epistemologisch entscheidenden Fragen nach Konstitution und Legitimation des Wissens werden in seinem Rahmen klar getrennt und beide neu beantwortet. So wird die Konstitution nicht länger mit dem Kamischen Begriff der Synthese, sondern durch das von Leibniz inspirierte Konzept freier Grenzsetzung und den Gedanken artikulierender, schöpferischer Sinngenese erklärt, die in Zusammenhang mit den Leistungen der produktiven Einbildungskraft und der reflektierenden Urteilskraft gebracht werden kann. Indem Cassirer Gegenstandskonstitution auf Sinnkonstitution zurückbezieht, macht er Bedingungen des Verstehensprozesses sichtbar, die bei Kant noch nicht berücksichtigt werden, und vollzieht so etwas wie eine >zweite Kopernikanische WendeSymbolsSymbolischen Prägnanznatürlichen und künstlichen Symbolik< und der >Symbolischen Form< mit dem zentralen Phänomen des Bewußtseins zusammenhängen und gezeigt, inwiefern in diesem Rahmen eine lnseparabilität von Geistigem und Sinnlichem behauptet werden kann, die das Dualismus-Problem Kants vermeidet. Dabei treten klar die holistischen Züge des Cassirerschen Modells ans Licht. Es erklärt die Kamischen Verstehensordnungen als Produkte eines beständigen, rückgekoppelten Formungsprozesses, der auf das vitale Problem der Orientierung kreativ mit der Bildung symbolischer Ordnungen reagiert und dabei jeweils von einem spezifischen Erkenntnismotiv gesteuert wird. Auch die Legitimation des Wissens erfolgt in einer neuen Weise. Eine Untersuchung der vorherrschenden Legitimationsstrategien - Evidenz, Deduktion und Korrespondenz - zeigt deren lnkonsistenzen und stellt bloß, inwiefern die Forderung der Letztbegründung von einem bestimmten, statisch-geschlossenen Erkenntnismodell abhängt. Gegenüber dieser Legitimation vom Ursprung her schlägt Cassirer eine pragmatisch-offene Legitimation durch die tatsächliche, gelingende Erkenntnisleistung vor, die sich von Kants Rechtfertigung der regulativen Ideen ableiten läßt. Dies hat eine prozessuale Konzeption des Wahrheitsbegriffs zur Folge, die auf die Ausgangsfrage zu antworten vermag, wie Wissen als veränderlich und dennoch als wahr angesehen werden kann.

Wissen und Zeitlichkeit

XXI

Zum dritten Teil: Nach Cassirers offen-pragmatischer Konzeption selber lassen sich Relevanz und Fruchtbarkeit eines Modells niemals abstrakt, sondern einzig und allein am gelingenden, konkreten Fungieren ermessen. Daher findet im Anschluß an die innerphilosophische Diskussion nun die von Cassirer selber geforderte >>Probe an den Phänomenen« 27 statt, insofern versucht wird, ein historisch vorliegendes Erkenntnisvorhaben- die Naturwissenschaft der Physik- im Rahmen des Cassirerschen Modells darzustellen. Es wird zunächst allgemein untersucht, was es heißt, die Physik als >Symbolische Form< zu verstehen. Dazu wird geklärt, inwiefern sie sich fassen läßt als schöpferische Strukturierung von Sinnordnungen und Überprüfungsmethoden im Hinblick auf das spezifische Wissensziel, gesetzliche Verbindungen meßbarer Phänomene zu objektivieren. Es werden ihre spezifischen symbolischen Bestimmungsmittel und -methoden entwickelt - erstens die Messung als Transsubstantiation des materiellen Phänomens zur Maßzahl dank schöpferischer Maßbegriffe, zweitens die Erfassung des Zusammenhangs dieser Maßzahlen dank funktionaler Gesetze und drittens die Suche nach Gesetzen dank umfassender Prinzipien bis hin zur Leitidee der Einheitsforderung -, um dann die innere Dynamik des tatsächlichen Wissenserwerbs zu studieren. Auf diese Weise wird sichtbar, wie Konstitution und Legitimation physikalischen Wissens sich konkret vollziehen. Die eigentliche Probe des Cassirerschen Modells aber besteht darin, mit Hilfe dieser Sicht der Physik als >Symbolischer Formung< die immer noch weitgehend als paradox empfundenen Befunde der Relativitätstheorie und Quantentheorie in ein neues Licht zu tauchen und ihrer Widersprüchlichkeit zu entkleiden. 28 Denn beide Theorien lassen sich verstehen als Übergang zu neuen Invarianten und Grundbegriffen, die ihrer stabilisierenden Funktion im Ganzen des Wissenssystems befriedigender als ihre Vorgänger zu entsprechen vermögen. Einen Wechsel der Fundamente selbst aber kann nur zulassen, wer sich von den versteckt dogmatischen Erwartungen eines Abbildmodells des Erkenntnis verabschiedet hat- eben so, wie es der Cassirersche Ansatz erlaubt. Bei der detaillierten Diskussion beider Theorien wird auf die Krise der AnIuG, 74. Dieses Programm ist nicht weit entfernt von der Forschungsmaxime der Studiengruppe >Philosophische Grundlagen der Wissenschaften>philosophische Grundbegriffsgestaltungen auszuprobieren, sie in der Auseinandersetzung mit den Einzelwissenschaften auf ihre sachliche Verwendbarkeit zu überprüfen«. W. Marx: Zur Selbstbegründung der Philosophie seit Kant, hg. von W. Marx, Frankfurt 1987, S. 9. 27 28

XXII

Einleitung

schauung, die Begriffe von Raum und Zeit, den vermeintlichen Verlust von Kausalität und Gesetzlichkeit, die Krise des Objekt- und Realitätsbegriffs und auf die in Frage gestellten Forderungen von Kontinuität und Eindeutigkeit eingegangen. Cassirer selber war der Ansicht, seine >>Grundanschauung [ ... ] auf Grund der Entwicklung der modernen Physik schärfer formulieren und besser begründen zu können als es früher der Fall war«, 29 und er widmete Relativitätstheorie und Quantenmechanik jeweils eine ausführliche Abhandlung, 30 die beide allerdings noch nicht das gesamte Deutungspotential seines Ansatzes ausschöpfen, so wie es hier versucht wird. Entscheidend ist, daß sein Modell einerseits eine klärende Unterscheidung von gedanklicher Funktion und der jeweiligen historisch-kontingenten Form ihrer Erfüllung möglich macht und andererseits die Ansprüche verschiedener Symbolischer Formen zu entzerren erlaubt, deren unerkannt bleibende Vermischung zum Konflikt führt. Zum vierten Teil: Abschließend wird diese Interpretation der modernen Physik mit den Positionen jener Physiker konfrontiert, die selbst entscheidend an der Entstehung und Deutung der modernen Physik beteiligt waren oder sind. Die acht zur Diskussion gestellten Interpretationsversuche von Niels Bohr, Albert Einstein, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger, Wolfgang Pauli, Hugh Everett, Franeo Selleri und David Bohm reichen von der restaurativen Rückkehr zum Altbewährten über kritische, aber konservative Kompromisse bis zu radikal innovativen Ansätzen. Im Vergleich erhellen sich die Cassirersche Perspektive und diese Deutungen wechselseitig, und auf diese Weise kann die interpretative Leistung des Cassirerschen Lösungsvorschlags nochmals klar herausgearbeitet werden. Es bestätigt sich der Verdacht, daß es nicht die Struktur der physikalischen Theorien selber, sondern vielmehr bestimmte, von außen an sie herangetragene Erwartungen hinsichtlich des Erkenntnis- und Realitätsbegriffs sind, die dazu führen, >Wider-sprüche< (eben gegen diese Erwartungen) und eine >Grundlagenkrise< der modernen Physik zu konstatieren. Die historischphilosophischen Analysen der ersten beiden Teile machen es möglich, diese- meist unbewußt bleibenden- Erwartungen erstens explizit zu benennen sowie sie zweitens als Teil eines ganz bestimmten, nämlich ZMP, 131. Vgl. a. ebd. 277. E. Cassirer: Zur Einstein'schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921 ), sowie Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem (1936), in: ZMP. 29

30

Wissen und Zeitlichkeit

XXIII

dualistisch-geschlossenen Typs von Erkenntnismodell zu identifizieren, von dem gezeigt wurde, daß es selbst höchst problematisch ist. Mit Relativitätstheorie und Quantentheorie werden innerhalb der Physik selber ihre Voraussetzungen als spezifisches Objektivierungsverfahren sichtbar. Es zeigt sich, daß diejenigen Physiker, die die Quantentheorie für kohärent halten, eben diese Bedingungen selber klar erkannt und formuliert haben und ein Bewußtsein für die konstitutive Rolle der symbolischen Instrumente der Physik entwickeln. Die Gruppe der Physiker dagegen, die die neuen Theorien ablehnt, teilt diesen Bewußtseinsstand nicht oder glaubt, mangels Alternativen, am statisch-geschlossenen Ideal prädeterminierter Realität festhalten zu müssen. Die sich zeigenden Parallelen zwischen diesen Deutungen und Cassirers Interpretation stützen und bestätigen Cassirers Sichtweise; umgekehrt ist sein Ansatz zugleich als neues Interpretationsinstrument einsetzbar, das die Deutungsstrategien der Physiker selbst kritisch zu durchleuchten und ihre Motivation offenzulegen vermag.

Danksagung Ich danke den Universitäten Bonn, Oxford und Paris, der Ecole normale superieure sowie den zahlreichen Persönlichkeiten, die mich dort auf je verschiedene Weise gefordert und geformt haben. Ein besonderer Platz gebührt dabei dem >Institut d'Histoire et Philosophie des Seiences et des Techniques< und Prof. Michel Bitbol, dessen ebenso fundiertem wie innovatorischem Denken ich viele anregende Diskussionen zu verdanken habe und dem ich für seine Großherzigkeit und unkonventionelle Förderung bleibend verbunden bin. Ich danke der Studienstiftung des deutschen Volkes und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für ihre langjährige finanzielle und ideelle Unterstützung, ohne die meine Studien in der vorliegenden Form nicht denkbar gewesen wären. Ebenso danke ich dem Förderungs- und Beihilfefond Wissenschaft der VG-Wort für seinen großzügigen Zuschuß zur Drucklegung dieses Buches. Allen voran möchte ich Prof. Wolfgang Marx meine tiefe Dankbarkeit und Hochachtung aussprechen. Weder diese Arbeit noch mein persönlicher Werdegang wären ohne sein Vertrauen, seine persönliche und intellektuelle Integrität und Kapazität sowie seine uneingeschränkte Unterstützung möglich geworden. Von ganzem Herzen danke ich meinen Freunden Klara CsordasWitt, Riina Koivisto und Thomas Schneider, meinem Vater und Bru-

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Einleitung

der, Viktor und Reinhard Schmitz, sowie vor allem meinem Mann, Eric Rigal, für ihre so liebevolle und einfühlsame Begleitung. Mein besonderer Dank gilt Raul Fornet-Ponse für seine kritische Durchsicht des Manuskripts.

Erster Teil Vom geschlossenen zum offenen Modell: zur Motivation des Übergangs Eine kritische Besprechung der Werke Cassirers hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß seine konzeptuellen Grundlagen stets nur als konkret operierende Grundlegungen, in der Verzahnung von systematischen und historischen Aspekten vorliegen. Wollte man diese Verbindung analytisch zerlegen, so ignorierte man die charakteristische Einheit dieser beiden Aspekte, in der möglicherweise gerade die philosophische Absicht und Leistung Cassirers besteht. Wendet man dagegen seine genetisch-rekonstruierende Perspektive auf ihn selber an, so wird es möglich, die nur implizite, systematische Tiefe seiner Arbeiten vor der Kontrastfolie einer anderen, hochentwickelten Konzeption auch explizit hervortreten zu lassen. Daher der Versuch, Cassirer von Kam abzugrenzen. Die Cassirersche Überzeugung, daß das Gleichbleibende sich erst in Bezug auf Veränderungen zeigen kann, soll im folgenden in Form einer Variationsmethode auch in der Vorgehensweise dieser Arbeit ihren Niederschlag finden. So wird versucht, durch einen dreifachen Perspektivenwechsel jene systematisch relevanten Aspekte hervortreten zu lassen, die den Unterschied von Kant zu Cassirer ausmachen und erklären helfen, was den Übergang von einem >geschlossenen< zu einem >offenen< epistemologischen Modell motiviert und worin er besteht. Begonnen wird mit einer immanenten Untersuchung des Erkenntnismodells, das Kant mit der >Kritik der reinen Vernunft< vorlegt. Die sich dabei zeigenden, und von Kant selbst als solche wahrgenommenen, Schwierigkeiten bilden einen ersten Ansatzpunkt. Zweitens wird die Cassirersche Sicht auf dieses Modell untersucht, so wie sie sich an den Zeugnissen seiner Kautexegese ablesen läßt. Schon dabei lassen sich klare Akzentverschiebungen aufweisen, die in Beziehung zu den internen Unstimmigkeiten des Kamischen Modells stehen. Drittens soll in einer Umkehrung dieser Perspektive die virtuelle Sicht Kants auf Cassirer eingenommen werden, um in der Gegenprobe die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung zu bestätigen und ihre volle systematische Bedeutung in den Blick zu bekommen.

2

1. Vom geschlossenen zum offenen Modell

1.1. Kants Ringen mit dem Dualismus >>Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, daß sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte.evidente Basis< verwenden möchte. Versucht man seiner Komplexität zum Trotz, sich den Aufbau der >Kritik der reinen Vernunft< einmal schematisch konzentriert vor Augen zu führen, um dessen Axiome und Vorentscheidungen klarer hervortreten zu lassen und so eine Orientierungsvorlage für die Auseinandersetzung mit Cassirers neuem Ansatz zu schaffen, so ergibt sich im wesentlichen das folgende Bild: Drei aufeinanderfolgende Zweiteilungen bestimmen seine Gliederung. Erstens steht der die Grundlagen entwickelnden Elementarlehre die Methodenlehre gegenüber, die den angemessenen Gebrauch dieser Grundlagen behandelt. 2 Zweitens teilt sich die Elementarlehre selbst in Transzendentale Ästhetik einerseits und Transzendentale Logik andererseits. Drittens zerfällt die Transzendentale Logik wiederum in Analytik und Dialektik. Ordnet man diesem Aufriß summarisch die entscheidenden, theoretischen Parameter ein, so ergibt sich: 1.

Elementarlehre Transzendentale Grundlagen

1.1.

Transzendentale Ästhetik Thema: Rezeptivität Erkenntnisvermögen: Sinnlichkeit, Anschauung formale Erkenntnismittel: Raum und Zeit

1

2

KrV, B766. Vgl. KrV, B 735ff.

Kants Ringen mit dem Dualismus

3

1.2.

Transzendentale Logik Thema: Spontaneität, Denken, Synthesis 1.2.1. Transzendentale Analytik Problem: Bestimmtheit und Notwendigkeit der Erkenntnis, konstitutiver Verstandesgebrauch Erkenntnisvermögen: Verstand (Regelvermögen), Urteilskraft, (Regelanwendung) und Einbildungskraft (Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand) formale Erkenntnismittel: Kategorien und Grundsätze, Urteile und Schemata 1.2.2. Transzendentale Dialektik Problem: Totalität der Erkenntnis; regulativer, hypothetischer Vernunftgebrauch; transzendentaler Schein, Erkenntnisvermögen: Vernunft (Vermögen der Prinzipien) formale Erkenntnismittel: Schlüsse, Maximen, 3 Ideen, Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität zur Erreichung der Idee systematischer Einheit, Zweckprinzip 2.

Methodenlehre Grenzbestimmungen des reinen, spekulativen Vernunftgebrauchs

2.1.

Disziplin der reinen Vernunft Kritik an Dogmatismus, Skeptizismus und Polemik, Differenzierung der beiden möglichen Vernunftmodi- des diskursiven, philosophischen oder des intuitiven, konstruktiven mathematischen Erkennens. Einschränkung des Gebrauchs von Definitionen, Axiomen und Demonstrationen auf die Mathematik, Einschränkung des transzendentalen Hypothesen- und Beweisverfahrens Kanon der reinen Vernunft moralischer Endzweck des Vernunftgebrauchs, Ideal des höchsten Guts, systematische Einheit der Zwecke, Vereinbarkeit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, Unterschied von Meinen, Wissen und Glauben Die Architektonik der reinen Vernunft Wissenschafts- und Systemgedanke, Idee architektonischer Ganzheit und Artikulation des Wissens vermittels eines Ord-

2.2.

2.3.

3

Vgl. KrV, B670ff., insbesondere B675, B685f., B694, B714.

4

1. Vom geschlossenen zum offenen Modell

2.4.

nungsschemas, 4 Unterscheidung historischer und rationaler Erkenntnis, Philosophiebegriff Geschichte der reinen Vernunft

Die Gesamtheit dieses intrikaten Netzwerkes ist die Kantische Antwort auf die Ausgangsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die sich ebensogut als die Frage nach den Bedingungen der Objektivierbarkeit bzw. der Setzbarkeit eines Wirklichen verstehen läßt. UndKanterhebt den nicht geringen Anspruch, mit diesem Modell das Erkenntnisproblem prinzipiell geklärt zu haben: >>Die Transzendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Sie ist das System aller Prinzipien der reinen Vernunft.« 5 Angesichts des obigen, hochdifferenzierten Schemas müßte den unvoreingenommenen Leser eigentlich die Frage beschäftigen, woher diese gelehrten Einteilungen stammen und wieso der Verstandesgebrauch sich gerade so gliedert. Denn Kant beginnt seine Erläuterungen mit einem bereits entfalteten Kosmos gegebener Leistungen- sein Arsenal an Formen reicht von Anschauungsformen und Schemata, über Kategorien und Grundsätze bis hin zu Ideen und Maximen. Obwohl er ihren Interdependenzzusammenhang untersucht und erläutert, bleibt problematisch, daß dieser keine konstitutive Rolle für die vollzogenen, logischen Grenzsetzungen beanspruchen kann: daß der gesamte Verstandesgebrauch sich so und nicht anders einteilt, vermag Kant nicht aus dem Verhältnis der internen Größen selbst heraus verständlich zu machen. Wie aber legitimieren sich dann die geltend gemachten Funktionsdifferenzierungen? Der Analyse wird sich erschließen, daß die interne Organisation der Kantischen Erkenntnistopologie sich im wesentlichen zwei von außen herangetragenen Ordnungsrastern verdankt und damit noch- schwer- am Erbe der philosophischen Tradition zu tragen hat. Einerseits ist es das Schema von >Form und MaterieReinheit< vom Empirischen garantierende - Unterscheidung kommt in Kants Erkenntnistheorie sogar dreifach zur Anwendung und erzeugt somit einen dreifachen Dualismus. Zum einen wird durch sie eine stoffliche >Sinnlichkeit< 4

5

Vgl. KrV, B 861 und B 863. KrV, B27, Hervorh. C.S., vgl. a. ebd. Vorrede AXX, sowie BXXXVIIf.

Kants Ringen mit dem Dualismus

5

dem formalen >Denken< gegenübergestellt: das >Mannigfaltige der Anschauung< liefert der synthetisierenden Tätigkeit der Verstandesformen ihren >InhaltÄsthetik< ihren Namen kaum verdient, da sie den vielfältigen Bereich der menschlichen Sinnlichkeit schlicht auf den der >Anschauung< reduziert. 6 Unbefriedigend ist auch, daß das Verhältnis von Anschauung und Denken in diesem Form-Materie-Modell ein bloß äußerliches bleibt. Dies verrät sich unter anderem darin, daß ihre Verbindung von Kant als >Subsumtion< gedacht wird. Denn Anschauungen können nur dann »unter Begriffe« 7 gebracht werden, wenn es grundsätzlich einen Sinn hat, von beiden auch unabhängig voneinander zu sprechen. Sowohl Anschauungen als auch Begriffen muß also schon vor ihrer Verknüpfung eigene Bestimmtheit zukommen, wenn sie als Grundelemente in einen derartigen >EinordnungsAusdehnung und Gestaltnur< über •sekundäre< Qualitäten unterrichten, gar nicht weiter ein. Daß man in der Absicht, apriorische Strukturen zu entdecken, nur jene Aspekte eines Phänomens behandelt, die dies auch zu leisten versprechen - noch dazu ausgehend von einem vorgefaßten Begriff davon, was an der Sinnlichkeit überhaupt invariant sein könnte-, kann kaum als angemessene Behandlung dieses Problems gelten. 7 KrV, z. B. B 75. 8 Das Subsumtionsmodell führt daher auch die Notwendigkeit mit sich, ein tertium comparationis anzugeben, das erstens die Anwendbarkeit von Kategorien auf Anschauungen überhaupt und zweitens ihre richtige Anwendung garantieren soll. Genau das versucht Kant mit dem Schematismus-Kapitel zu leisten (Vgl. B 176ff.: »In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letzteren gleichartig sein[ ... ] Nun ist es klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich machtKritik der reinen Vernunft< in Elementar- und Methodenlehre. Die erste ist der Entwicklung und Erörterung des reinen Formkanons als solchem, die zweite der Frage ihrer >unrein-materiellen< Anwendung und deren Grenzen und Gefahren gewidmet. Daß Kant auf diese Art der- traditionsreichen- Unterscheidung von Form und Materie noch größten Wert legt, steht allerdings in merkwürdigem Kontrast dazu, daß sie erkenntnistheoretisch für ihn bedeutungslos bleibt. Denn obwohl weiterhin die Existenz einer unabhängigen Erkenntnismaterie angenommen wird, kommt ihr doch im konkreten Erkenntnisprozeß keinerlei bestimmende und objektivitätsgarantierende Rolle mehr zu, und man kann sich an keiner Stelle des Theorieaufbaus zur Legitimation eines Wahrheitsanspruchs auf sie berufen. Genau besehen ist sie daher redundant und wirkt wie ein Überbleibsel jenes Sensualismus Lockescher oder Humescher Prägung, den Kant mit der >Kritik der reinen Vernunft< gerade überwinden will und zu dessen Überwindung er in der Tat die gedanklichen Mittel bereitstellt. Dies ist nicht der einzige Fall eines solchen Anachronismus. Wie sehr das Kautische Selbstverständnis - entgegen seinen eigenen Absichten - noch von der Auseinandersetzung und der Begrifflichkeit der empiristischen Theoreme geprägt ist, läßt sich ebenso an vielen seiner zunächst unproblematisch erscheinenden Grundbegriffe able9

KrV, B74.

° KrV, B45.

1

Kants Ringen mit dem Dualismus

7

sen. So entwirft er beispielsweise die Sinnlichkeit immer noch als >>Rezeptivität der EindrückeMannigfaltigen< schwingt noch die stillschweigende Voraussetzung elementarer, mannigfaltiger Sinnesdaten mit, die der Verstandestätigkeit als unabhängiges Grund-Datum >gegeben< werden müssen.U Die Verwendung des Gegenstandsbegriffs bleibt gleichfalls schillernd. Einerseits wird der >Gegenstand< als das Korrelat der synthetisierenden Verstandestätigkeit aufgefaßt,D also als Resultat von Bestimmung; die reinen Begriffe konstituieren erst >>die Form des Denkens eines Gegenstandes überhauptwie wir von Gegenständen affiziert werden«, 16 und es heißt von der Empfindung, daß sie >>die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt>Erscheinungen, als Data zu einer möglichen Erfahrung>Data der Sinne>Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.>denn dieser [der Gegenstand] ist nichts mehr, als das Etwas, davon der Begriff eine solche Notwendigkeit der Synthesis ausdruckt.« 14 KrV, B75. 15 Vgl. z.B. die Rede vom >>Gegenstand nur als etwas überhaupt= Xrepraesentatio< erscheinen, die als etwas Vorstellende immer schon Bestimmtheit hat. Kant verwendet den Terminus der >Vorstellung< im Sinne eines Oberbegriffs als allgemeinste Bestimmung der wie auch immer gearteten und wie auch immer verursachten »Modifikationen des Gemüts«. 20 Es stellt sich also die Frage, woher ihre Bestimmtheit stammt. Es liefe der gesamten Argumentation der >Kritik der reinen Vernunft< zuwider, ein transzendentes >Objekt< als ihre Quelle annehmen zu wollen. Nach Kants Voraussetzungen aber kann die Sinnlichkeit selbst ihre Definitheit ebenfalls nicht schaffen, da »der Sinn, bloß bestimmbar« und nur des Verstandes »Spontaneität [ ... ] bestimmend«21 sei. Die Bestimmtheit der Vorstellung, die es erst erlaubt, eben nicht von einem Chaos, sondern schon von einem geordneten >Mannigfaltigen der Sinnlichkeit< zu sprechen, verlangt aber zu ihrer Erklärung nach einer ordnenden Leistung. Dies bedeutet, daß sich, entgegen Kants eigener strikter Trennung, im Bereich der reinen >Rezeptivität< selber schon Spontaneitätszüge zeigen. Die kategorische Separation von >reiner Bestimmbarkeit< und >spontaner Bestimmung< läßt sich also nicht aufrechterhalten. Festzuhalten ist, daß die erste Trennung von Form und Inhalt - d. i. die abstrakte Aufteilung in ordnende Form einerseits und bloß passive Rezeptivität eines sinnlichen Inhalts andererseits- eine ungewollte Verdopplung des Dualismus induziert. Denn, was abgeschieden werden sollte, erzeugt sich in seinem Gegenstück aufs neue: der >reine Inhalt< selber zeigt einen Formaspekt, und es ist demnach zu vermuten, daß auch die >reine Form< nicht ohne immanenten Bezug auf den Inhaltsaspekt auskommt.22 19 Kr V, B 74. Vgl. a. die parallelen Formulierungen zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik B 33f. 2 KrV,A99. 21 Kr V, B 151 f., Hervorh. C. S., vgl. a. »Spontaneität meines Denkens, d. i. des BestimmensGegebene< soll nur in ihren Zusammenhang stiftenden Formen >erscheinen< können. Er nennt »Ausdehnung und Gestalt« 24 als greifbare Resultate dieser ersten Ordnungsleistung. Bezeichnenderweise aber weicht er der delikaten, weil die Schwierigkeiten der Konzeption enthüllenden Frage aus, ob Gestalt und Ausdehnung damit nicht Ergebnisse eines Typs vorkategorialer, sinnlicher Bestimmung sein müßten, indem er schlicht konstatiert: »Darinnen [im Raum] ist ihre [der Gegenstände] Gestalt, Größe und Verhältnis gegen einander bestimmt, oder bestimmbar.« 25 In diesem »oder« ist trefflich jene Spannung auf den Begriff gebracht, die durch seine dualistische Ausgangsthese zum Widerspruch gesteigert wird, und daher hütet Kant sich davor, das >oder< zu entscheiden. Seine kluge Zurückhaltung rettet jedoch nicht vor dem Paradox, daß die Anschauungsformen als rein rezeptive Formen Ordnung selber herstellen sollen; sie rettet nicht davor, daß Kant seinen eigenen Voraussetzungen zum Trotz auf der Ebene des Bestimmbaren schon Bestimmung annehmen muß. Er zieht daraus aber keineswegs den Schluß, daß die anfängliche >Zweistämmigkeitsthese< revidiert werden müsse, sondern nimmt in Kauf, daß die Einheit des Sinnlichen nicht als Produkt von Einigung verstanden werden, sondern ungeklärt vorausgesetzt werden muß. Diese Unstimmigkeiten haben manche der nachfolgenden Interpreten dazu veranlaßt, die Differenz zwischen Anschauungsformen und Kategorien zugunsten einer einheitlichen Konzeption aufzuheben - und damit auch die strikte Trennung von Anschauung und Denken aufzugeben, die sich für Kant zuletzt nur im Begriff der Spontaneität unterscheiden. So versucht Kant, die charakteristische Verstandesleistung zu definieren als das Vermögen, »Vorstellungen selbst hervorzubringen« 26 und Mannigfaltiges zu synthetisieren, wobei klar ist, daß »die Kategorien unabhängig von Sinnlichkeit bloß im Verstande entspringen«,27 und dementsprechend soll das »Mannigfaltige, was im Subjekte vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne herstellen muß. In derselben Weise wird später auch der Begriff der reinen Form, der reinen Kategorie die inhaltliche Komponente als sein Gegenstück wieder verlangen und Kant ins Problem des Urteils und des Schematismus führen. 23 KrV, B42. 24 KrV, B35. 2 5 KrV, B 37, Hervorh. C. S. 26 KrV, B 75. 2 7 KrV, B 144, Kants Hervorh.

1. Vom geschlossenen zum offenen Modell

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Spontaneität im Gemüte gegeben wird,[ ... ], um dieses Unterschiedes willen, Sinnlichkeit heißen«. 28 Höchst aufschlußreich für das problematische Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand ist, außer den einschlägigen Stellen des Schematismuskapitels, der gravierende Unterschied zwischen den Versionen A und B der Transzendentalen Deduktion. Denn in der ursprünglichen Fassung geht Kant noch von der Trias von Apprehension, Reproduktion und Rekognition 29 bzw. den ihr korrelierenden »drei subjektive[n] Erkenntnisquellen« aus, »worauf die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt, und der Erkenntnis der Gegenstände derselben beruht: Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption«. 30 Und ihr entspricht noch wie selbstverständlich eine »dreifache Synthesis«. 31 In dieser ersten, in vieler Hinsicht bemerkenswerten Fassung der Deduktion, deren Argumentation und triadischer Aufbau schon als eine Vermittlung suchende Reaktion auf die dichotomische Ausgangshypothese gewertet werden dürfen, arbeitet Kant in fast phänomenologisch-subtiler Weise die Struktur erkennenden Bewußtseins heraus. Dabei sind drei Aspekte entscheidend: die Rolle des Bewußtseins als Zeitbewußtsein, die lnseparabilität der drei Synthesen sowie die Stellung der Einbildungskraft. Kant geht davon aus, daß Erkenntnis nur im Rahmen einer Struktur in sich differenzierter Einheit denkbar sei, 32 wobei Einheit nicht als Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis gewertet werden müsse, das sich immer einer vorausgehenden Synthese verdanke. Einheit sei daher stets zu analysieren als >Verbindung des Mannigfaltigen>Wenn eine jede einzelne Vorstellung der anderen ganz fremd, gleichsam isoliert, und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntnis ist, entspringen, welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist.Synthesis der ApprehensionEinheit der Anschauung< und erzeugt darüber hinaus sogar jene »Vorstellungen des Raumes und der Zeit a priori«, 35 innerhalb und dank derer andererseits eine solche Unterscheidung überhaupt erst stattfinden kann. 36 Kant bleibt also der unlösbaren Verflochtenheit der Erkenntnismomente in dieser Version der Deduktion treuer als es der Gesamtaufbau der >Kritik der reinen Vernunft< mit den getrennten Untersuchungen zu Ästhetik, Logik und Dialektik vermuten läßt. 2. Differenzierbarkeit setzt Reproduzierbarkeit voraus. Die Leistung der >Synthesis der Reproduktion>Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde (wie etwa in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlieh das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und denn die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil siegerade zu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann. Die Synthesis der Apprehension muß nun auch a priori, d. i. in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch sind, ausgeübt werden. Denn ohne sie würden wir weder die Vorstellungen des Raumes, noch der Zeitapriori haben können: da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt werden können.Reinigung< von allem Empirischen zum Opfer fallen werden. 3. Reproduzierbarkeit setzt Identität voraus. Die Leistung der >Synthesis der Rekognitiondasselbe, was gerade vergangen ist< erscheinen und nicht als ein gänzlich anderes, wenn die gesuchte Beziehung des Vergangenen auf das Gegenwärtige soll stattfinden können. »Denn dieses eine Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und denn auch Reproduzierte, in KrV, A 102, Hervorh. C. S. 38 Ebd., Hervorh. C. S. 39 KrV, A 100f.: »Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigelegt, oder auch eben dasselbe Ding bald so, bald anders benannt, ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschete, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion statt finden.Wieder-Dieses-DenkenBewußtsein von etwasdurchsichtig< oder >einsichtig< zu machen. Daher wird sie von Kant in der Deduktion A sogar noch der Apperzeption und den Kategorien KrV, A 103, Kants Hervorh. KrV, A 103. 43 Kr V, B 102. 44 KrV, B 104. Vgl. auch KrV, A 120: »Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis des Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen>obgleich a priori ausgeübt, dennoch jederzeit sinnlich«,46 insofern sie sich direkt auf das Sinnlich-Mannigfaltige beziehe, dieses ohne Zuhilfenahme der Begriffe >>in ein Bild« 47 bringe und somit auf anschauliche Weise Zusammenhang und Einheit des Sinnlichen stifte. Da Kant konsequent davon ausgeht, daß Einheit immer nur ein Produkt einigender Tätigkeit sein kann, folgert er daraus sogar, >>daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei« 48 - eine These, die er später selber wieder energisch bestreiten wird. Ohne die synthetisierende Kraft der >Ein-bildung< könne nicht erklärt werden, daß das Gegebene der bloßen Eindrücke uns schon in der Form von geordneten >>Bildern der Gegenstände« entgegenträte, die nach Kants eigener Aussage bereits durch bestimmte >>Gestalt, Größe und Verhältnis« 49 ausgezeichnet sind. >>Wir haben also eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnisapriori zum Grunde liegt. Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits, und mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung. Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine GegenKrV, A 118, Hervorh. C. S. Vgl. a. ebd.: >>Da diese letztere [die Einheit der Apperzeption] nun der Möglichkeit aller Erkenntnis zum Grunde liegt, so ist die transzendentale Einheit der Synthesis der Einbildungskraft die reine Form aller möglichen Erkenntnis, durch welche mithin alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori vorgestellt werden müssen.sinnliche Einheiten< stellen ihre gestalthaften Bild-Produkte geradezu die Identität beider Aspekte dar. Während es für Kant also in der Urversion der Transzendentalen Deduktion noch selbstverständlich ist, daß auch auf der Ebene der Wahrnehmung eine spezifische Synthesis, also eine Form von Spontaneität angenommen werden müsse, bemüht er sich in der überarbeiteten späteren Fassung systematisch, die triadische Konzeption in eine duale umzudeuten und auf den prinzipiellen Gegensatz von >Rezeptivität< und >Spontaneität< zu reduzieren. Die Schwierigkeiten, denen Kant bei diesem energischen Versuch der völligen Entmischung von Sinnlichkeit und Denken begegnet, sind denen analog, die auch schon die Eingangslektüre der Transzendentalen Logik bestimmten. Es ist insbesondere das Problem der Einheit bzw. Bestimmtheit der Anschauung, das sich der Separationsthese nicht fügen will, und in der zweiten Auflage der Transzendentalen Deduktion ist Kant daher gezwungen, eine Reihe neuer Unterscheidungen und erläuternder Fußnoten einzuführen, die- nach Art mehr oder weniger plausibler Hilfshypothesen - allesamt nur dem Zweck dienen, die Trennungsthese nicht aufgeben zu müssen. So ist zwar immer noch von der Synthesis der Apprehension die Rede, 52 aber die durch sie eigentlich erst herzustellende Einheit, die in der ersten Auflage selbst die »Vorstellungen des Raumes und der Zeit a priori« 53 mitermöglichte, wird nun zur vorauszusetzenden und schlicht gegebenen Eigenschaft von Raum und Zeit »als Anschauungen selbst« 54 umgedeutet. Die erläuternde Fußnote zeigt, welche subtilen, um nicht zu sagen sophistischen, Anstrengungen Kant unternehmen muß, um den damit ad hoc eingeführten Unterschied zwischen Raum und Zeit als >Anschauungsformen< und als >Anschau-

° KrV, A 124, Hervorh. C.S.

5

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52 53 54

Vgl. z. B. KrV, Anm. A 120 und A 124. KrV, B 160. KrV, A99. KrV, B 160, Kants Hervorh.

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1. Vom geschlossenen zum offenen Modell

ungen< zu plausibilisieren. 55 Das kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, daß dieser >Unterschied< sich einzig und allein der Absicht verdankt, die unleugbare Einheit des Sinnlichen allem zum Trotz nicht als Spontaneitätsleistung denken zu müssen. Kant bestimmt die eingeklagte Differenz erwartungsgemäß so, >>daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt.« 56 Der nachfolgende Begründungsversuch demonstriert aber in exemplarischer Weise das unvermeidliche und widersprüchliche Oszillieren zwischen Sinnlichkeit und Denken, das aus der >mittelosen< Dualitätskonzeption beider resultieren muß: >>Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit, und nicht zum Begriff des Verstandes.« 57 Erst ordnet Kam die Einheit der Sinnlichkeit zu, um gleich darauf korrigierend einzuschränken, daß sie sich eigentlich einer nichtsinnlichen Verstandessynthesis verdanke, die aber ihrerseits nicht dem Verstand angehören soll, weil sie die Anschauungsformen als Anschauungen nach Art der Sinnlichkeit geben solle. Ausufernde Theoriekomplexität muß zuweilen schlicht als Symptom unangemessener Grundhypothesen gewertet werden: die sich hier zeigenden Unklarheiten sind Ausdruck tieferliegender Inkonsistenzen der Dualitätsthese. Die Apprehension tritt damit ihren erkenntniskonstituierenden Anspruch an die allein verbleibende Apperzeption ab und reduziert sich auf ihre bloß empirische Aufgabe. 58 Die Reproduktion, der Kant in der Version A noch kühn bescheinigt hatte, daß sie selbst als empi-

Wie unfundiert dieser Unterschied bleibt, erkennt man auch daran, daß man ihn in der Transzendentalen Ästhetik, wo er doch eigentlich hingehörte, vergeblich sucht. Vgl. KrV, B 33-B 73. 56 Kr V, Anm. B 161, Hervorh. C. S. 57 Kr V, Anm. B 161. 58 Vgl. Anm. B 162: >>Auf solche Weise wird bewiesen: daß die Synthesis der Apprehension, welche empirisch ist, der Synthesis der Apperzeption, welche intellektuell und gänzlich a priori in der Kategorie enthalten ist, notwendig gemäß sein müsse«, sowie z. B. B 164: >>Da nun von der Synthesis der Apprehension alle mögliche Wahrnehmung, sie selbst aber, diese empirische Synthesis, von der transzendentalen, mithin den Kategorien abhängt, so müssen alle möglichen Wahrnehmungen [... ]unter den Kategorien stehen>alle Verbindung als Verstandeshandlung« verstehen will, verbietet ihm an obiger Zitatstelle zudem, auf die Einbildungskraft Bezug zu nehmen. Die Einbildungskraft muß überhaupt als >störende>Es ist eine und dieselbe Spontaneität, welche dort, unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt.« 61 Er verwendet deshalb in der Deduktion B große Sorgfalt darauf, bei jeder namentlichen Erwähnung der Einbildungskraft auf ihre Identität mit dem Verstand hinzuweisen. 62 Ein Phänomen aber widersetzt sich dieser Behandlung erfolgreich: Kant sieht sich genötigt, dennoch zwischen >>synthesis intellectualis« und >>synthesis speciosa« zu differenzieren, da er letztere als rein >>figürlich« ausdrücklich von einer >> Verstandesverbindung« abheben möchte, die >>in der bloßen Kategorie gedacht würde«. 63 Er geht nicht soweit, leugnen zu wollen, daß es rein innerhalb der Wahrnehmungsebene - ohne und vor Inanspruchnahme der kategorialen Ordnungsschemata- bereits Strukturen der Zusammensetzung des Mannigfaltigem gibt, die sich rein sinnlich, als >Figur< oder >Gestalt< aufweisen lassen. Kanterkennt beide Ordnungsformen, die sinnliche und die kategoriale Synthesis, als transzendentale Bedingungen der Erfahrung an und wird dadurch gezwungen, der Einbildungskraft doch wieder jene Zwitterstellung zuzugestehen, in der sie dem Verstand gegenüber KrV, A 121, Hervorh. C. S.: >>Es ist aber klar, daß selbst diese Apprehension des Mannigfaltigen allein noch kein Bild und keinen Zusammenhang der Eindrücke hervorbringen würde, wenn nicht ein subjektiver Grund da wäre, eine Wahrnehmung, von welcher das Gemüt zu einer anderen übergegangen, zu den nachfolgenden herüber zu rufen, und so ganze Reihen derselben darzustellen, d. i. ein reproduktives Vermögen der Einbildungskraft, welches denn auch nur empirisch ist>blinde« Sinnlichkeit gegenüberzustellen.65 Die Abspaltung von bloßer >>Materie der sinnlichen Erkenntnis« 66 und den ihr fremd gegenüberstehenden Formen erinnert ohnehin in fataler Weise an Newtons Konzeption der klassischen Mechanik, in der ebenfalls die absoluten Formen >Raum< und >Zeit< als leere >Behälter< die Materie der Atome in sich aufnehmeneine Theorie, die sich schon zur Zeit ihrer Entstehung scharfer Kritik von seiten Leibnizens ausgesetzt sah und die die moderne Fortentwicklung der Physik vollends hinter sich gelassen hat. Wenn sich also die Einbildungskraft nicht auf den Verstand zurückführen läßt- so ist vielleicht der umgekehrte Weg denkbar? Denn was wäre logischer als- statt von einer Dichotomie auszugehen und sich folglich beständig dem Problem der Vermittlung gegenüberzusehen -lieber gleich mit der >Mitte< zu beginnen und aus ihr heraus die vermeintlichen >Extreme< zu entwickeln? Es wird im folgenden zu klären sein, inwiefern es gerade dieser Weg ist, den Cassirer favorisiert und weiterverfolgtP KrV,B151f. Vgl. KrV, B 75: >>Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind.>leereAlso sind die Sehemate der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen>Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert.>In einem Punkt besteht zwischen uns Übereinstimmung, daß die produktive Einbildungskraft auch mir in der Tat für Kant zentrale Bedeutung zu haben scheint. Darauf bin ich durch meine Arbeit an dem Symbolischen geführt. Das kann man 64

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Vor der Untersuchung dieser Frage aber soll zunächst kurz nach den Gründen für diese folgenreiche Akzentverschiebung in der zweiten Auflage der >Kritik der reinen Vernunft< gefragt werden. Die ihr gewidmete Vorrede läßt kaum Zweifel an der Motivation Kants: >>Ob ich nun gleich [ ... ]nicht die Freiheit als Eigenschaft eines Wesens, dem ich Wirkungen in der Sinnenwelt zuschreibe, erkennen kann[ ... ] so kann ich mir doch die Freiheit denken, d. i. die Vorstellung davon enthält wenigstens keinen Widerspruch in sich, wenn unsere kritische Unterscheidung beider (der sinnlichen und der intellektuellen Vorstellungsarten) und die davon herrührende Einschränkung der reinen Verstandesbegriffe ... Statt hat. [ ... ] So aber, da ich zur Moral nichts weiter brauche, als das Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche,[ ... ] so behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz, und die Naturlehre auch den ihren, welches aber nicht Statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich belehrt, und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte.« 68 D. h. die bis zum Bruch verschärfte, theoretische Entkopplung des Sinnlichen und Intellektuellen wäre das Ergebnis eines hinzutretenden, praktisch-moralischen Interesses: Freiheit soll denkbar sein können, Moral und Sittlichkeit sollen möglich sein, und daher muß das Reich des Intelligiblen von dem des Sinnlich-Phänomenalen, das unwiderruflich dem Kausalgesetz untersteht, gänzlich unabhängig sein. Die Veränderungen in der zweiten Fassung der Deduktion erklärten sich also - zumindest partiell - durch Einfluß der Arbeiten Kants auf dem Gebiet der praktischen Philosophie. Dies erscheint desto plausibler, da die Umarbeitung zur zweiten Auflage im Jahre 1787 zeitlich genau zwischen dem Erscheinen der >Grundlegung zur Metaphysik der Sitten< (erste Auflage 1785 sowie zweite 1786) sowie der >Kritik der praktischen Vernunft< (1788) liegt. Es ist allerdings zweifelhaft, ob Kant der Erkenntnistheorie damit wirklich einen Dienst erwiesen hat. Die theoretische Dichte und Konsistenz der >Kritik der reinen Vernunft< aber erlauben es nicht nur, die strukturellen Mißlichkeiten einer dichotomischen Erkenntnislehre sichtbar zu machen, sondern sie eröffnen zugleich Auswege aus ihren Schwierigkeiten. Sucht man nach Kants eigenen Lösungsansätzen, so sind vor allem zwei theoretische nicht lösen, ohne es auf das Vermögen der produktiven Einbildungskraft zurückzuführen.EinbildungskraftUrteilskraftKritik der reinen Vernunft< entwickelt wird. Beide vermitteln auf ihre Weise den Grundhiatus: die Urteilskraft, indem sie die Anwendung der Kategorien auf die Anschauungen durchführt, 69 die Einbildungskraft, indem sie die Sinnlichkeit überhaupt erst in anwendungskonforme Gestalt bringt. Daraus geht schon hervor, daß Einbildungs- und Urteilskraft bezüglich dieser Vermittlungsfunktion nicht getrennt werden können. Einerseits ermöglicht erst die Schematisierungsleistung der produktiven Einbildungskraft den gelingenden Urteilsakt, andererseits aber ist zu fragen, ob nicht auch das Schematisieren schon der Urteilskraft bedarf, selbst wenn Kant dies an keiner Stelle ausführt. Da er aber das Schema bestimmt als eine »Regel der Synthesis der Einbildungskraft«, bzw. eine »Regel der Bestimmung unserer Anschauung«/ 0 so müßte konsequenterweise auch in diesem Fall »das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren«/ 1 d. h. die bestimmende Urteilskraft, hinzutreten, um ihre ordnende Leistung in concreto durchführen zu können. Unabhängig von der Frage, wie das wechselseitige Verhältnis von Einbildungs- und Urteilskraft zu denken ist, verdeutlichen die folgenden Zitate, daß Kant sie beide gleichermaßen als irreduzible Ursprungsvermögen ansieht, ohne die gelingende Erkenntnis schlechterdings nicht zu erklären ist. Dies spricht sich formal darin aus, daß er nur diese beiden Größen des gesamten Erfahrungsaufbaus als >Kräfte< bezeichnet: 72 »Dieser Schematismus [der Einbildungskraft a priori] [ ... ]ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden«; 73 »so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.« 74 »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« 75 Vgl. KrV, B 170ff., insbesondere B 177ff. Vgl. KrV, B 179f. 71 KrV,B171. 72 Gegenüber Anschauung, Verstand und Vernunft (die mitnichten als Rezeptionskraft, Regelkraft oder Schlußkraft paraphrasiert werden) hat er ihnenso-ohne daß dies nochmals thematisch würde - eine gemeinsame Sonderstellung zugesprochen, die sich wohl durch beider >Schöpfungskraft< begründen läßt. 73 KrV,B180f. 74 KrV, B 172, Hervorh. C.S. 7s KrV, Anm. B 172. 69

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Die subsumierende Urteilskraft spielt aber nicht nur in bezugauf die Einbildungskraft, sondern auch mit Hinblick auf Verstand und Vernunft eine entscheidende Rolle. Denn zum einen ist die Vernunft in der ihr eigentümlichen Leistung, »das Besondere im Allgemeinen durch Begriffe [zu] erkenne[n]Kritik der reinen Vernunft< sogar eine noch darüber hinausgehende Auflösung der Differenz von Verstand und bestimmender Urteilskraft angelegt. Denn betrachtet man einmal genauer die logische Funktion des Begriffs >Urteil< selber, so zeigt sich, daß sie in der Kantischen Konzeption der des >Verstandesbegriffs< und der >Regel< geradezu gleichzustellen ist. Alle drei bezeichnen mit gleicher Berechtigung die Instrumente der gedanklichen Grundleistung der Bestimmung. Vom Begriff heißt es, er sei »seiner Form nach jederzeit etwas Allgemeines, und was zur Regel dient«, 78 wobei jeder Begriff auf einer »Funktion« beruhen soll, die ihrerseits nichts weiter bedeutet als »die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen«.79 Begriffe werden also verstanden als einheitenschaffende Regeln bzw. Funktionen, die spontan zu synthetisieren vermögen. Es darf nicht übersehen werden, daß Kant die reinen Verstandesbegriffe zuletzt nur als »Funktionen der Einheit in den Urteilen« 80 zu definieren vermag. Denn die Funktion einer Einheitsbildung läßt sich nur in der synthetisierenden Struktur eines Urteils überhaupt aussprechen. Die Form des Urteils ist der Satz, der Verschiedenartiges verbindet. Darin wird z. B. etwas konkret Anschauliches als >Fall von< ausgesagt und somit als >begriff76 77

78

79

80

Kr V, B 357. KrV, B 364, Hervorh. C. S. KrV,A106. KrV,B93. Kr V, B 94, Hervorh. C. S.

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lieh Eines< gegenüber anderem bestimmt. Daher urteilt Kant selbst konsequenterweise: >>Wir haben den Verstand oben auf mancherlei Weise erklärt: durch eine Spontaneität der Erkenntnis [ ... ] durch ein Vermögen zu denken, oder auch ein Vermögen der Begriffe, oder auch der Urteile, welche Erklärungen, wenn man sie beim Lichten besieht, auf eins hinauslaufen. Jetzt können wir ihn als das Vermögen der Regeln charakterisieren.« 81 >DenkenRegelBegriff< und >Urteil< bezeichnen also im Grunde nur ein und dieselbe Funktion, nämlich die der spontanen Einigung. Damit verliert allerdings Kants konzeptuelle Trennung von Begriff (Verstandeskategorie) und Urteil (Anwendung der Kategorien) erheblich an Überzeugungskraft. Die Kantische Rede von der systematischen Ableitung der Kategorientafel >>aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen« 82 einerseits - die gerade ihre Erkenntnisdignität begründen soll- und der urteilenden Anwendung der Kategorien auf das Sinnlich-Mannigfaltige andererseits, benennen und verschleiern diesen Sachverhalt zugleich. Hier wird begrifflich eine Abgrenzung aufrechterhalten, die sich bezüglich der eigentlich relevanten, logischen Aufgabe nicht bestätigen läßt. Die Ablösung der >reinen Verstandesbegriffe< aus dem eigentlichen Urteilszusammenhang erscheint daher als bloßes Abstraktionsprodukt. Ein klares Argument dafür ist, daß die entscheidenden Fragen nach Ursprung, Funktion und Zweck der Kategorien auch von Kant selber in allen drei Fällen nur durch Verweis auf die Urteilsfunktion beantwortet werden können. Dieses paradoxe Ergebnis erlaubt es, das zweite traditionelle Ordnungsschema freizulegen, das Kant ohne interne Rechtfertigung aufgreift: es ist die klassische Einteilung der Logik in >Begriff, Urteil und SchlußKritik der reinen Vernunft< ihn entwickelt: 83 unter dem Titel des >Begriffs< werden die apriorischen Leistungen des kategorialen Verstandes besprochen; unter dem des >Urteils< die Leistung der gleichnamigen Urteilskraft, die in den Grundsätzen die Kategorien dank der vermittelnden Schemata zur Anwendung bringt; KrV, A 126, Hervorh. C.S. Vgl.a. KrV, B94ff. KrV, B 106. 83 Vgl. Kr V, B 169, Hervorh. C.S.: >>Die allgemeine Logik ist über einem Grundrisse erbauet, der ganz genau mit der Einteilung der oberen Erkenntnisvermögen zusammentrifft. Diese sind: Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Jene Doktrin handelt daher in ihrer Analytik von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, gerade den Funktionen und Ordnungen jener Gemütskräfte gemäß, die man unter der weitläufigen Benennung des Verstandes überhaupt begreift.Schlusses< wird zuletzt die Vernunft in ihrer totalisierenden Funktion thematisiert, und zwar in ihrer legitimen Anwendung ebenso wie ihrem dialektischen Mißbrauch. Entscheidend aber ist, daß diese äußere Organisation der Erkenntnis von innen her durch neue Beziehungen unterlaufen und zuletzt sogar untergraben wird, ganz so wie es sich vorher schon für das erste Ordnungsschema, die ebenso fraglos herangezogene Dichotomie >FormMaterieMorphe und hyle< sowie >Begriff, Urteil und SchlußKritik der reinen Vernunft< erst mitermöglichen, von ihr zugleich wieder in Frage gestellt- auch wenn Kant dies weitgehend verborgen bleibt. Das Weiterdenken der >Kritik< über diese Vor-Ordnungen hinaus ist deswegen fast geboten und der erste Schritt dazu ist nicht schwer. Um über den geschlossen-statischen Erkenntnisaufbau der >Kritik< hinauszugehen, der auf diesen Ordnungsschemata beruht und zu Beginn dieses Abschnitts kurz rekapituliert wurde, braucht man nur Kants eigene Forderung >>der durchgängigen Beziehung« 84 aller Wissenskomponenten aufeinander auf ihn anzuwenden: Wie soll die >Durchgängigkeit< zwischen Anschauung und Verstand, zwischen Verstand und Vernunft gedacht werden? Wie ist der Zusammenhang von Materie und Form der Erkenntnis zu verstehen? Auch die Frage nach der >>durchgängigen BeziehungKritik der reinen Vernunft< erscheint diese Relation recht besehen nur als Ergebnis >prästabilierter Harmonie< und ist nicht weiter explizierbar. Alle nur möglichen neuen Inhalte müssen schlicht mit den anschaulichen und kategorialen Formen übereinstimmen, weil diese die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind. Eineverändernde Rückwirkung neuer Inhalte auf bestehende Erkenntnisformen ist somit ausgeschlossen: die Kategorien sind sozusagen >fensterlose MonadenÜbereinstimmen< ist die Frage der >Angemessenheit< der Kategorien 84

KrV, B XXIV, Kants Hervorh. Vgl. den gesamten Abschnitt dort.

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also sinnlos- und darin besteht gerade Kants Lösung dieses Problems. Es bleibt zu klären, ob diese Lösung wirklich befriedigen kann. 1.2. Cassirers Ringen mit Kant Es steht außer Zweifel, daß die klassische Form der Transzendentalphilosophie, so wie sie von Kant erst geschaffen wurde, für Cassirer Ausgangs- und beständiger Bezugspunkt seines eigenen Philosophierens war. 85 Dies belegt nicht nur der Duktus seines eigenen Arbeitens, sondern auch die Vielzahl der Veröffentlichungen, die Cassirer der Kantischen Philosophie selbst gewidmet hat. Zu untersuchen bleibt aber, inwiefern Cassirer dabei eine neue Artikulation der Epistemologie versucht hat, die der eigentlichen Stoßrichtung der Kamischen Überlegungen angemessener ist als die traditionellen Schemata, derer Kant sich noch bedient. Es liegt nahe, zur Klärung dieser Frage zunächst einmal Cassirer selber zu Wort kommen zu lassen und seine Arbeiten zu Kant als erste Zeugnisse seiner Deutung und möglichen U mdeutung der >Erkenntnistheorie< klassischer Prägung heranzuziehen. Es wird sich zeigen, daß die Cassirersche Auseinandersetzung mit Kant in gleicher Weise von Verbundenheit und irreversibler Absetzung zeugt. Wenn auch dem Projekt einer Transzendentalphilosophie als Methode noch entsprochen wird, so erteilt Cassirer doch dem Kantischen, geschlossenen Typ dieser Philosophie eine klare Absage.S 6 Denn seine >Darstellung< der >Kritik der reinen Vernunft< sowie der >Kritik der Urteilskraft< zeichnet- wenn auch im Ton gebührender Anerkennung vorgetragen- ein in zentralen Punkten so stark abweichendes Bild, daß sie als Kritik und Reaktion auf die Schwächen der Kantischen Position gelesen werden muß. Umgekehrt verweist die sich abzeichnende Verschiebung des theoretischen Schwerpunkts- durchaus in Fortentwicklung kameigener Ansätze - auf eine Reihe neuer oder neugewichteter Theoriegrößen. Diese Größen aus dem Zusammenhang der Cassirerschen Kantrezeption heraus zu entwickeln hat den Vorteil, sie einerseits in Bezug auf den hochentwickelten Kantischen Theoriekontext situieren und bereits in ihrer theoretischen Cassirer selbst schreibt: >>Seitdem bin ich zu den Problemen der Kamischen Philosophie in stets wiederholten eigenen Studien und im Zusammenhang verschiedenartiger sachlicher Aufgaben immer von neuem zurückgekehrt.« KLL, VII f. 86 Siehe dazu a. E. Cassirer: Kam und die moderne Mathematik, in: Kamstudien XII, 1907, S. 31 f. sowie LS, 142 ff. und 245 ff. 85

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Funktion benennen zu können, und andererseits die treibende, philosophische Motivation für die Umgestaltungen ans Licht zu bringen. Das wohl wichtigste Dokument der profunden Beschäftigung Cassirers mit Kant ist sein Buch >Kants Leben und Lehre< (1918), das dem gesamten Schaffen Kants gewidmet ist und den letzten Band der Werkausgabe Kants bildet, die Cassirer selbst herausgegeben hat. Es kann nicht überraschen, daß das darin vorliegende Kantbild entscheidend von den Einflüssen geprägt ist, die Cassirer durch seine Lehrer Hermann Cohen und Paul N atorp empfing. 87 Den Filiationen dieser drei Denker im Detail nachzugehen wäre ein eigenes- ebenso lohnendes, wie komplexes - Thema, das hier nicht weiter verfolgt werden kann. 88 Dennoch lassen sich hier bereits Akzentuierungen aufweisen, die klar eine eigene Richtung der Auslegung zeigen. Das Buch zeichnet in großen Zügen die Gesamtentwicklung Kants nach, wobei jeder der drei >Kritiken< ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Für das hier im Zentrum stehende Problem der theoretischen Philosophie entscheidend sind vor allem die Kapitel zur >Kritik der reinen Vernunft< sowie zur >Kritik der UrteilskraftKritik der reinen Vernunft< hält für den Interpreten eine doppelte Überraschung bereit. Einerseits findet er in der Cassirerschen Rekonstruktion den entwickelten, Kantischen Korpus auf einige wenige Theorieelemente zusammengeschmolzen, was nicht alleine aus der erklärten Absicht zu begründen ist, »sich nicht in die Fülle der Sonderprobleme, die Kants Lehre allenthalben darbietet, zu verlieren«. 89 Andererseits wird er Themen und Termini begegnen, die Cassirer nimmt in der Vorrede zur ersten Auflage von KLL ausdrücklich danksagend Bezug auf Cohen, distanziert sich aber zugleich von ihm. Als einzige uneingeschränkt geltende Gemeinsamkeit nennt er den Grundgedanken der transzendentalen Methode. KLL, Vorrede VIII. Vgl. dazu a. E.Cassirer: Hermann Cohen und die Erneuerung der Kamischen Philosophie, in: Kant Studien, hg. von P. Menzer und A. Liebert, Bd.17, Berlin 1912, S.253-273, sowie ders.: Paul Natorp, in: Kant Studien, Bd. 30, Berlin 1925, S. 269-298. 88 Für weiterführende, diesbezügliche Literatur siehe etwa W. Marx: Cassirers Symboltheorie als Entwicklung und Kritik der Neukantianischen Grundlagen einer Theorie des Denkens und Erkennens. Überlegungen zur Struktur transzendentaler Logik als Wissenschaftstheorie, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, hg. von H. Wagner, Bd.57, Berlin/New York 1975, sowie ders.: Die philosophische Entwicklung Paul Natorps im Hinblick auf das System Hermann Cohens, in: Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, hg. von H.-L. Ollig, Darmstadt 1987, oder H. Holzhey: Die Marburger Schule des Neukantianismus, ders.: Cohen und Natorp, Basei!Stuttgart 1986, M. Ferrari: lntroduzione al Neocriticismo, Roma- Bari 1997, T. Knoppe: Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Harnburg 1992. 89 KLL, Vorrede V. Cassirer wählte für das hier vorgestellte Kapitel den Titel 87

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man bei Kant in dieser Form vergebens sucht. Durch das Medium der Darstellung hindurch zeigen sich hier also bereits jene charakteristischen Verschiebungen des theoretischen Schwerpunkts, denen genauer nachzugehen ist. Die knappe Bestandsaufnahme zeigt folgendes: Ins Zentrum der einleitenden, allgemeinen Darstellung der >Kritik der reinen Vernunft< rückt Cassirer den Gedanken des >>neuen Typus des Denkens«, 90 der in der >Kritik der reinen Vernunft< erstmals vollzogenen >>Revolution der Denkart«, 91 und den durch sie eingeführten neuen Erfahrungs- und Objektivitätsbegriff. Er versteht den Kamischen Erfahrungsbegriff als Ausdruck einer neuerworbenen Immanenz des Erkenntnisprozesses in dem Sinn, daß zur Sicherung eines Objektivitätsanspruchs nun nicht mehr auf eine transzendente Instanz welcher Provenienz auch immer verwiesen werden kann, sondern einzig auf die Notwendigkeit eines Urteils in einem relationalen Urteilskomplex, die auf einer >>spezifischen Gesetzlichkeit der Erkenntnis«92 beruht. Auf diese Weise kehrt sich das traditionelle Bedingungsverhältnis um: die >>Eigenart des Erkenntnisobjektes« geht der >>Eigenart der Erkenntnisfunkion« 93 nicht mehr als Urbild voraus, sondern wird zu ihrem nachgeordneten Korrelat. Damit ist ein Begriff von Gegenstandskonstitution geboren, der prinzipiell eine Vielzahl von Erkenntnisfunktionen und korrelierenden Objektwelten zuläßt. Die Tatsache, daß Kant drei Kritiken schrieb, dokumentiert für Cassirer eben diesen Sachverhalt. Jede von ihnen widme sich einem eigenen, irreduziblen Phänomenbereich, der durch eine je spezifisch andere Urteilsart (theoretisches Urteil, ethisches Urteil und ästhetisches Urteil) konstituiert werde. Verschiedene Geltungsarten korrespondieren also verschiedenen Objektivitätsmodi, und die konkrete Aufgabe des Philosophen besteht darin, von als >>Faktum« 94 vorgefundener Gegenständlichkeit auf die zugrundeliegenden, bedingenden Erkenntnisformen zurückzuschließen. Cassirer beginnt die konkrete Interpretation der >Kritik der reinen Vernunft< mit einer knappen Darlegung der KategorientafeL Er thematisiert dabei am Problemkomplex der Transzendentalen Deduktion >>Der Aufbau und die Grundprobleme der Kritik der reinen Vernunft>Es ist ein Grundzug von Kants transzendentaler Methodik, daß sie überall auf ein bestimmtes >Faktum< Bezug nimmt, an welchem die philosophische Kritik durchgeführt wird.Raum< und >Zeit< noch der transzendentale Schematismus oder die Deduktion der Kategorien zur Sprache. Auch vom »Ding an sich« als dem »Noumenon im negativen Verstande« 96 ist nicht die Rede. Noch befremdlicher fast erscheint es, daß ebenso stillschweigend über den zentralen Themenkomplex der Vernunftbegriffe und ihrer regulativen Funktion hinweggegangen wird. Es ergibt sich also ein partiell durch die Lesart Cohens erklärbares Ergebnis: die Transzendentale Ästhetik ist schlicht entfallen und mit ihr die gesamte Problematik des vermittelnden Schematismus;97 die Transzendentale Analytik beschränkt sich im wesentlichen auf die Grundsätze, als fungierende, ins Urteil gesetzte Kategorien,98 und die Transzendentale Dialektik erbringt systematisch nichts als die Kritik am ontologisierenden und damit logische Momente ungerechtfertigt hypostasierenden Denken. Die genannten Verschiebungen weisen aber in eine gemeinsame Richtung. Unberücksichtigt bleibt gerade das, was zur, wie gesehen problematischen, >Zweistämmigkeit< der Kautischen Erkenntnislehre gehört. Wie bereits erläutert, ist die Transzendentale Ästhetik eigens zu dem Zweck geschrieben, der Anschauung als Erkenntnisquelle Autonomie zu sichern. Deshalb wird in ihr nachdrücklich der nichtbegriffshafte Charakter der ihr eigenen >Kategorien< Raum und Zeit behauptet. 99 Das Schematismus-Kapitel ist die logische Folge dieser »Diese Dialektik begegnet uns überall, wenn wir irgendein bestimmtes Verhältnis, das innerhalb der Erfahrung und zur Verknüpfung ihrer einzelnen Glieder gültig ist, zu einer vor aller Erfahrung vorangehenden Wesenheit zu machen versuchen.Anwendung< vermittels der Schemata wieder hergestellt. Nichts anderes gilt für den Begriff eines »Dinges an sich« als Ausdruck für etwas, »welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch den reinen Verstand) gedacht werden solk 101 Klarerweise hat auch diese gedankliche Abgrenzung nur unter Voraussetzung von »zwei Grundquellen des Gemüts« 102 eine wohldefinierte - wenn auch »problematische« 103 - Bedeutung als Grenz begriff. Es läßt sich folglich an dieser Stelle bereits eine spiegelbildliche Entsprechung zwischen den angesprochenen, ungelösten Theoriespannungen der Kamischen Konzeption und der Cassirerschen >Kantdeutung< feststellen. Konnten jene Spannungen als Indikatoren interner Brüche sowie möglicher Fortentwicklungsrichtungen gedeutet werden, so erlaubt sich Cassirer bei seiner Darstellung, jene >Fortentwicklung< mit Kant gegen Kant über Kant hinaus schon vorzunehmen und in das Kamische Werk zurückzuprojezieren. Unauffällig >reinigt< er es -darin ganz Cohen folgend- von ebenjenen Elementen, die der vollen Entfaltung des von Kant selbst geschaffenen,funktionalen Denktypus noch im Wege stehen. Deshalb stützt Cassirer sich bei der Besprechung der >Kritik der reinen Vernunft< von Beginn an auf die Grundkorrelation zwischen Urteil und Gegenstand. Da das Urteil für Cassirer - wie für Kant selber104- »im allgemeinsten Sinne, den Vollzug und die Forderung jener >Verknüpfung< aus[spricht], auf die sich für uns der Begriff des Gegenstandes reduziert hat«, 105 fungiert es als »Moment der Gegenstandssetzung selbst« 106 und erfüllt damit in Cassirers Perspektive jene kon100 Vgl. Kr V, B 177ff, aber auch B 75 f.: »Nur daraus, daß sie [Verstand und Sinne] sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.>jede Verknüpfung von Inhalten des Bewußtseins spricht sich, objektiv gefaßt, als Urteil aus.Subsumtion< zu kennzeichnen, da dieser Begriff den schöpferisch-setzenden Aspekt nicht zum Ausdruck bringt. Daraus ist zu schließen, daß er bereits in der Beschreibung der >Kritik der reinen Vernunft< die Leistung der >>bestimmenden« Urteilskraft als einen Sonderfall der erst im Rahmen der >Kritik der Urteilskraft< diskutierten, produktiven >>reflektierenden« Urteilskraft 107 versteht. Das Urteil ist der eigentliche Ort der Objektivität; von ihm allein kann gefragt werden, ob es wahr oder falsch ist. Vor allem aber bildet es, wie die Schemata der Einbildungskraft, die Schnittstelle zwischen konkret-sinnlicher Anschauung und abstrahierender Verstandesleistung. Im Urteil wird die Beziehung von Phänomen und begrifflicher Ordnung hergestellt und vollzogen; das Urteil ist diese Beziehung. Es bildet insofern die offene Stelle ihres Vermitteltseins und kann niemals von der einen oder anderen Seite vereinnahmt werden. Dieser >Zwischenstellung< wegen verwendet Cassirer es als Ausgangspunkt der Rekonstruktion Kants, und auf diese Weise gelingt es ihm, die in der >Kritik der reinen Vernunft< selber vorliegenden Zwiespältigkeitengeschickt zu vermeiden. Diese Lesart der >Kritik der reinen Vernunft< läßt bereits vermuten, daß die >Kritik der Urteilskraft< in Cassirers Durchmusterung des Kamischen Gesamtwerks von besonderem Interesse ist, und in der Tat widmet er sich ihr fast ausführlicher als der ersten Vernunftkritik Seine Darstellung kreist einerseits um den Begriff der >>formalen Zweckmäßigkeit« und dessen unverzichtbare Funktion im Erkenntnisganzen, und andererseits um die Themen >Kunst< und >Leben>Revolution der Denkart« 108 und des >>neuen Erkenntnisideal[s]« 109 als Leitmotive auf. Dabei vertritt er die Meinung, daß >>der ursprüngliche Erkenntnisbegriff Kants hier [in der Kritik der Urteilskraft] eine Erweiterung und Vertiefung erfahren 107 Kant faßt in der KrV die Urteilskraft schon als >>Talent>Naturgabe>bestimmenden« Funktion der Urteilskraft eine andere zur Seite zu stellen, die nicht nur unter gegebene Formen subsumiert, sondern diese Integration erlaubenden Formen erst selbst zu suchen und zu schaffen hat: die regelsetzende, reflektierende Urteilskraft. Vgl. KdU, erste Fassung der Einleitung, Punkt V, 24. 108 KLL, 303. 109 KLL, 380.

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hat«, 110 ja daß partiell sogar von einer Berichtigung die Rede sein könne. 111 Denn in ihr wird ein neu es »heuristisches Prinzip« 112 eingeführt, das den systematischen Erfahrungsbegriff >>vollendet«, 113 insofern es >>die Voraussetzung bildet, auf Grund deren es uns allein möglich ist, Erfahrungen auf systematische Art anzustellen«. 114 Dieses Prinzip besteht im Gedanken der Zweckmäßigkeit. Er sei im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts aufzufassen als ein >>allgemeiner Ausdruck für die Zusammenstimmung der Teile eines Mannigfaltigen zu einer Einheit« 11 S, und durch ihn werde eine neue, >>eigentümliche Gesetzesform« 116 eingeführt. Denn insofern er eine Forderung an die Form der vom Verstand aufgestellten, besonderen Gesetze ausspreche, stelleer-so Cassirers neuartige Formulierung- eine >>Formung zweiten Grades« 117 des bereits kategorial vorgeordneten Materials dar. Die formale >Zweckmäßigkeit< fordere die Möglichkeit einer einheitlich-gesetzlichen Ordnung der Formungen ersten Grades und sei somit Begriff einer letzte Vollendung gewährenden Totalität und lntegrabilität des Wissens. 118 Charakteristisch für die Kantische Konzeption sei, daß der Zweckgedanke nun nicht mehr den Status eines metaphysischen Urgrundes, noch einer bloß subjektiv-täuschenden Vorstellung, sondern den einer Strukturbedingung menschlichen Wissens habe. Als Prinzip der Urteilskraft wird der Zweckgedanke zur transzendentalen Bedingung des Wissens. Cassirer betont, daß mit diesem Gedanken ein bestimmter Aspekt der Transzendentalität deutlich ans Licht tritt: was gefordert werden muß, ist (noch) nicht gegeben, sondern nur aufgegeben. Die mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit ausgesprochene Gesetzlichkeit ist in seinen Augen deswegen neu und >>eigentümlich«, weil sie nur antizipiert und angestrebt werden kann; sie >>erweitert und berichtigt«11 9 die 11

° KLL, 384.

Vgl. KLL, 306. KLL, 318. 113 KLL, 325. 11 4 KLL,319, Hervorh. C.S. 115 KLL, 306, Hervorh. C. S. 116 KLL, 305. 117 KLL, 316, Hervorh. C.S. 118 Kant geht darauf bereits in der >Transzendentalen Dialektik< der KrV ein, allerdings noch in theologischer Perspektive. Dort wird schon behauptet: »Die höchste, formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht, ist die zweckmäßige Einheit der Dinge.Kritik der reinen Vernunft>Erweiterung und Vertiefung des Aprioritätsbegriffs der Theorie« 120 selbst. Denn es sind >>für die vollständige Form der Erfahrung die Bedingungen der allgemeinen Verstandesgesetze zwar notwendig, aber nicht hinreichend«.121 In welchem Verhältnis aber stehen die gleich unverzichtbaren Forderungen der Finalität und der Kausalität zueinander? Treten sie nicht in Widerspruch, wenn es um die Erklärung der Phänomene geht? Kant versucht, den Konflikt beider im >>Übersinnlichen« 122 zu vermitteln, obwohl er zugleich zugeben muß, daß >>wir uns in theoretischer Absicht nicht den mindesten bejahend bestimmten Begriff« 123 davon machen können. Denn man könne >>getrost beiden gemäß den Naturgesetzen nachforschen [ ... ] ohne sich an den scheinbaren Widerstreit zu stoßen«, 124 insofern zumindest die Möglichkeit ihrer Vereinbarkeit im Übersinnlichen nicht auszuschließen sei. Seine eigentliche Konfliktlösung aber besteht darin, daß er den Widerspruch beider als Erklärungsprinzipien, zur schwächeren Opposition als Er-

12o 121 122 123 124

KLL, 324, Cassirers Hervorh. KLL, 324. KdU, § 78, B 357, siehe a. B 354 ff. KdU, § 78, B 358. KdU, § 78, B 359.

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örterungsprinzipien aufweicht. 125 Da sich keines der beiden Prinzipien auf >gegebene Gesetze< berufen kann, vermögen sie beide nicht einfach durch Anwendung zu >bestimmen< und damit zu >erklärenreflektierenkritische< Lösung des vermeintlichen Konflikts erarbeitet, auch wenn er sie selbst immer noch in Abhängigkeit von einer externen, quasi ontologischen Absicherung versteht. 127 Cassirer unterstreicht in seiner Darstellung, daß beide Prinzipien bei der gemeinsamen Aufgabe des einen Erfahrungsaufbaus als unvertretbare und gleich notwendige Standpunkte der »ErörterungFormungen ersten Grades< anzusehen wären. Nimmt man dies an, so taucht allerdings desto dringlicher die Frage auf, wie Cassirer dann das Verhältnis von >Kategorie< und >Idee< noch bestimmt. Es scheint sich in seiner Konzeption eine Fusion beider Begriffe zugunsten einer neuen Bedeutung von Konstitution anzudeuten, die mitbegründet wird dadurch, daß das reflektierende Urteil als schöpferisch-hypothetisches >>Moment der Gegenstandssetzung selbst« 134 anzusehen ist. So würde auch erklärlich, daß Cassirer den Terminus >Idee< an den einschlägigen Stellen vermissen läßt. Deutlich ist jedenfalls schon hier, daß die Differenzierungen, die er weiterhin zwischen konstitutivem und regulativem Verstandesgebrauch vornehmen möchte, der Kautischen Opposition von >Kategorie< und >Idee< nicht mehr entsprechen. Dies bestätigt sich auch darin, daß Cassirer sich gezwungen sieht, an ihrer Stelle die eigenen, neutralen Termini >Formungen ersten und zweiten Grades< einzuführen. Diese reduzieren einerseits den zuvor prinzipiellen Unterschied zu einem bloß graduellen und bringen andererseits explizit zum Ausdruck, daß es sich bei beiden gleichermaßen um Produkte eines aktiven Formungsprozesses handelt. Und diese Termini stellen darüber hinaus ein weiteres Argument für die cassirereigene These dar, daß eine echte gedankliche Neuerung sich erst in der Schaffung eines neuen Begriffs, einer neuen Symbols realisieren kann. Läßt sich also abschließend legitimieren, daß Cassirer die spezifischen Regulationsleistungen der Vernunft nur im Zusammenhang der >Kritik der Urteilskraft< diskutiert? Unbestrittenerweise >>geht der transzendentale Vernunftbegriff jederzeit nur auf die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen, und endigt niemals, als bei dem schlechthin, d.i. in jeder Beziehung, Unbedingten«: 135 die Vernunft und ihre Begriffe sollen also für den Erfahrungsaufbau eben das leisten, was auch der Zweckbegriff fordert. Beide indizieren das eine Ziel- Vollständigkeit und Einheitlichkeit- auf das die Wissensorganisation hingerichtet ist und verweisen somit auf eine, ungelöste und vielleicht unlösbare, Aufgabe, die dem Denken gestellt ist. Sie benen134

135

KLL, 330. KrV, B 382.

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nen also eher ein offenes Problem als seine Lösung. >Vernunft< und >reflektierende Urteilskraft< erscheinen in dieser Sicht als zwei verschiedene Namen für dieselbe Disposition, die Lösungen bzw. Lösungsvorschläge für dieses Problem zu ersinnen erlaubt. Sie seneinen sich allerdings darin zu unterscheiden, daß >VernunftLösungen< bezeichnet- nämlich den apriorischen Vernunftbegriffen, den Ideen - während unter dem Stichwort >reflektierende Urteilskraft< nur diese Disposition selber in ihrer Dynamik angesichts ihrer Aufgabe thematisch wird. Daß Cassirers Darstellung der >Kritik der reinen Vernunft< also die Ideen schlicht beiseite läßt und die regulative Leistung erst in der >Kritik der Urteilskraft< bespricht, ist ein signifikantes Argument dafür, daß ihm die eigentliche Dynamik, das Produzieren selber wesentlich wichtiger erscheint als seine jeweiligen Produkte. Daß er mit den Kategorien, als ebenfalls fertigem Lösungskanon für das eigentliche Problem der Konstitution der Gegenstände, genauso stiefmütterlich umgeht wie mit den Ideen, erhärtet diesen Verdacht. Der neuen, heuristisch-problematischen Form der Gesetzlichkeit, die zur reflektierenden Urteilskraft gehört, entspricht eine >>neue Form des Urteils«. 136 Die auch bei Kant vorliegende, strikte Abgrenzung des ästhetischen vom theoretischen oder moralischen UrteiP 37 wird von Cassirer übernommen, aber anders akzentuiert. Er charakterisiert das ästhetische Urteil weniger durch die Beziehung der Vorstellung auf das Gefühl der Lust und Unlust, sondern sucht vor allem, die es auszeichnende Relation von Einzelnem und Allgemeinem präzise herauszuarbeiten. Denn anders als in den Bereichen der Theorie und sittlichen Praxis ist diese Beziehung hier weder als »Unterordnung« des Besonderen unter das Allgemeine noch als >>bloße Anwendung« 138 einer allgemeinen Erkenntnis auf einen besonderen Fall zu verstehen. Cassirer wirft diesen beiden Urteilsformen vor, dem Begriff des Einzelnen in seiner vollen Bedeutung nicht gerecht werden zu können: >>Das >Einzelne< der Theorie ist immer nur der Spezialfall eines allgemeinen Gesetzes, von welchem es erst seine Bedeutung und seinen Wahrheitswert gewinnt; - wie >der< Einzelne als sittliches Subjekt [ ... ] stets nur als Träger des allgemeingültigen VerKLL, 329. Cassirers Hervorh. Vgl. KdU, § 1, B 3 ff., insbesondere z. B. § 5, B 14: >>denn das Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil (weder ein theoretisches noch praktisches), und daher auch nicht auf Begriffe gegründet, oder auch auf solche abgezweckt.« 138 KLL, 329. 136

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nunftgebots in Betracht kommt [ ... ] In beiden Fällen scheint somit das Individuelle seine wahrhafte Begründung und Rechtfertigung erst darin zu finden, daß es in das Allgemeine aufgeht« 139 - und damit seine Eigenständigkeit und seine Würde als dieses Einzigartige gerade an das Allgemeine abgibt. Theoretische Subsumtion und praktische Applikation erlauben es also nicht, beim individuellen Phänomen als solchem stehen zu bleiben. Der theoretische Anspruch fordert seine Integration bzw. Zerlegung in einen Bedingungszusammenhang, der aber unabschließbar offen ist. Daher ist der in diesem Bereich einzig zugängliche Begriff von Einheit der einer aufgegebenen Einheit, so wie ihn der Zweckbegriff bezeichnet. Dies hat zur Folge, daß >>jedes theoretische Erfahrungsurteil notwendig Fragment« 140 bleibt und sich bei kritischer Selbstreflexion auch durchaus als solches weiß. >>Eine völlig andere Art der Verknüpfung des Einzelnem zum Ganzen, des Mannigfaltigen zur Einheit aber stellt sich uns dar, wenn wir vom Faktum der Kunst und der künstlerischen Gestaltung ausgehen. Das Faktum selbst setzen wir hierbei- wie überall in der transzendentalen Untersuchung- voraus.«1 41 Die diesem Zitat folgende Analyse der Phänomene >Kunst< und >Leben< inspiriert Cassirer zu Überlegungen, die den Kamischen Text weit hinter sich lassen. Er behandelt dabei einen Themenkomplex, der sein Werk durchzieht und entscheidend strukturiert, aber an fast keiner Stelle ausdrücklich thematisiert wird. Drei sich wechselseitig bedingende Begriffe umschreiben den fraglichen Bereich: Individualität, Ganzheit und Gestalt. Im übrigen Werk greifbar ist vor allem der Gestaltbegriff, der stellvertretend für den ganzen, hier genannten Bedingungskomplex steht, dessen Bedeutung aber trotz der wichtigen Rolle, die er spielt, nicht expliziert wird. Die Darstellung der >Kritik der Urteilskraft< dagegen gibt Cassirer Anlaß, sich deutlich zu den drei genannten Begriffen zu äußern. Fast ist es, als würde der Vorwand, daß es sich >nur< um Kamexegese handelt, ihm erlauben, sich unter dem Schutz verbürgter Autorität freizügiger dazu zu äußern, als er es sonst getan hat. Zudem entwickelt Cassirer aus diesem zentralen Zusammenhang heraus den Begriff, der wie kein anderer seine Philosophie charakterisiert: den des Symbols.t42 KLL, 328. KLL, 328 f. 141 KLL, 329. 142 Damit soll nicht gesagt sein, daß der Begriff des Symbols nur aus diesem Zusammenhang heraus zu verstehen ist. So sind für Cassirer neben anderen Quellen insbesondere auch die Arbeiten von H. v. Helmholtz, H. Hertz und P. Duhem, die die Rolle des Symbolbegriffs für die naturwissenschaftliche Erkenntnis untersuchen, 139

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Cassirer benutzt das Paradigma der Kunst, um einerseits einen Begriff konkret-sinnlicher Sinneinheit und andererseits das Ideal eines symmetrischen Verhältnisses von Individuellem und Universellem, von Sinnlichem und Intelligiblem daraus zu entwickeln. Am Lebensbegriff dagegen entfaltet er den Gedanken offener Prozeßualität und einer dynamischen Einheit des Werdens. Für beides läßt sich in Kants Ausführungen weder ein direktes Äquivalent finden noch liegt ein Widerspruch zu ihnen vor. Was Cassirer am »nicht wegzuleugnende[n] Phänomen [ ... ] der künstlerischen Auffassung« 143 interessiert, ist, daß sich in ihr »eine innere Gesetzlichkeit und Zweckmäßigkeit [enthüllt], die sich jedoch nirgends anders als in dem konkreten und einzelnen Kunstgebilde selbst darstellt und ausprägt«. 144 Es ist die unwiderrufliche Gebundenheit an das individuell-sinnliche Phänomen und die mit ihr sichtbar werdende Einheit von Sinn und Sinnlichem, die ihm daran theoretisch wichtig ist. Dieses Konkrete repräsentiert sein Allgemeines. Insofern stellt das Kunstwerk den eigentümlichen Fall eines >>individuell-notwendigen Gesetz[es]« 145 dar. Dies scheint ein Widerspruch in sich zu sein, insofern die Notwendigkeit eines Gesetzes gerade in seiner universellen Geltung für Verschiedenes und d. h. in seiner Ablösbarkeit vom Einzelnen besteht. Soll der Ausdruck trotzdem sinnvoll sein, so muß Gesetzlichkeit hier im Sinne eines notwendigen, nachvollziehbaren und möglicherweise analysierbaren Zusammenhangs rein innerhalb des einen, einzelnen Kunstwerks gedeutet werden- worauf auch der obige Ausdruck >>innere Gesetzlichkeit« hinweist.146 Ein >individuelles Gesetz< wäre also das, was die konkret vorliegende Konstellation der das Kunstwerk konstituierenden Momente bestimmt und erklärt. von großer Bedeutung und er bezieht sich immer wieder explizit auf sie. Vgl. PSF III, 25, EP IV, 113 und 118, E. Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, WWS, 186 f., sowie P. Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Harnburg 1978, z. B. S. 249, 279, H. Hertz: Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Darmstadt 1963, S. 1 ff., 9, 28, 157ff., 306f. 143 KLL, 354. 144 KLL, 343, Hervorh. C. S. 145 KLL, 343. 146 Auch in dieser Hinsicht macht Cassirer möglicherweise Anleihen bei Leibniz, der in seiner Monadologie den nicht unähnlichen Begriff der >>notion individuelleGenie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.«147 Die paradox zugespitzte Formulierung des individuellen Gesetzes bringt den entscheidenden Sachverhalt zum Ausdruck, daß dieses Allgemeine nicht ohne Einschränkungen verallgemeinerbar, sondern gleichsam eingeschlossen in das sinnliche Phänomen ist. Sie nötigt der ästhetischen Auffassung ab, reflektierend beim Phänomen zu verweilen und sich nicht endgültig zugunsten einer theoretischen Einsicht über es hinwegzusetzen, so wie es in der Wissenschaft der Fall wäre. Es ist diese Untrennbarkeit und der mit ihr geforderte Respekt des Phänomenalen als solchen, die Cassirer hier wichtig sind. Die Unmöglichkeit, das Phänomen zu überschreiten, ist gleichbedeutend mit der Unmöglichkeit, die Einheit des Phänomens zu ignorieren. Die gesuchte Gesetzlichkeit des Kunstobjekts ist eine Funktion der Gesamtheit seiner Aspekte und ihrer wechselseitigen Verwobenheit, und keine willkürliche Isolierung vermag ihr beizukommen. Cassirer versucht diese Sachlage auszudrücken durch Formulierungen wie das >>Festhalten der Erscheinung«, das >>Stehenbleiben bei ihr«, und er fordert die Anstrengung, ihre Momente >>sämtlich zumal zu ergreifen und in einer Gesamtansicht für unsere Einbildungskraft zusammenzuschließen.« 148 Das Kunstwerk verkörpert für Cassirer also exemplarisch eine sinnlich-konkrete, individuelle Einheit, deren Sinn nicht von ihrer sinnlichen Erscheinung getrennt werden kann. Eine so geartete Einheit hat für ihn einen eigenen Namen: er nennt sie >Gestalt>Da die Naturgabe der Kunst (als schönen Kunst) die Regel geben muß: welcher Art ist denn diese Regel? Sie kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorschrift dienen; denn sonst würde das Urteil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar sein: sondern die Regel muß von der Tat, d. i. vom Produkt abstrahiert werden, an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster, nicht der Nachmachung, sondern der Nachahmung, dienen zu lassen. Wie dieses möglich sei, ist schwer zu erklären.Gestalt< und >individuelles Gesetz< auch kompatibel erscheinen und gemeinsam die Bedeutung von >>individueller Ganzheit« bestimmen, 150 so behauptet Cassirer an anderer Stelle doch eine Objektivität der Gestalt, die der des Gesetzlichen, als des All-Gemeinen, gerade entgegengesetzt ist. So wirft er Paul Natorp vor, den aus dem Bereich der >Theoria< stammenden und für die Wissenschaft typischen Gesetzesbegriff als universell gültige Bestimmungsweise auch auf die Bereiche der >Poesis< und >Praxis< zu übertragen und damit gänzlich andersartigen Objektivierungsweisen nicht gerecht zu werden. Cassirer fragt dagegen, was etwa den Gehalt der Bereiche Kunst, Sittlichkeit und Religion angeht: >>ist es nicht die Objektivität der Gestalt, statt der des Gesetzes, die hier gesucht wird?«. 151 Das heißt, es geht in den bezeichneten Gebieten gerade um jene phänomenale Konkretheit und Würde des Individuellen, die man aus der Perspektive des Gesetzes gar nicht erst in den Blick bekommt. >Gestalt< und >Gesetz< müssen insofern als mögliche, aber >>qualitativverschiedene Arten der Sinngebung« 152 differenziert und anerkannt werden. D. h. der Gestaltbegriff schafft einen theoretischen Ort für jene Bedeutungsdimensionen, die mit dem Gesetzesbegriff nicht erreicht werden können. Wem es um das Individuelle geht, wer den Aspekt des Konkreten und Historisch-Kontingenten zum Ausdruck bringen möchte, der jeder >rekonstruktiven Analyse< der Bedingungen seiner Möglichkeit gerade als Ausgangspunkt dient, der kann sich

zu Beginn des 20.Jh. aufkommenden Gestaltpsychologie, zu deren Protagonisten Cassirer in Kontakt stand, für ihn eine entscheidende Rolle gespielt. Siehe dazu etwa die Arbeiten C. v. Ehrenfels: Über >Gestaltqualitäten>Denn Zweckmäßigkeit bedeutet[ ... ] nichts anderes als die individuelle Formung, die eine Gesamtgestalt in sich selbst und ihrem Aufbau aufweist.« 151 Vgl. PSF III, 66, Hervorh. C.S. Vgl. dazu a. ebd. 65-67. 152 PSFIII, 67.

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dazu des Gestaltbegriffs bedienen. 153 In derselben Weise spricht Cassirer auch von den »wechselnden historischen Gestalten«, 154 die eigentliches Thema der philosophischen Verstehensbemühungen sind. So kann >Gestalthaftigkeit< zum Synonym für die Erscheinungsweise des Phänomenalen selber werden. Daß diese Deutung des Gestaltbegriffs jedenfalls nicht an Cassirers Kunstauffassung vorbeigeht, zeigt sich darin, daß er die Kunst insgesamt als ein >Reich reiner Gestalten< 155 bestimmt, deren gesetzlich-individueller Doppelcharakter sich darin ausspricht, daß »deren jede in sich selbst beschlossen ist und einen eigenen individuellen Mittelpunkt besitzt«, 156 der »die selbständige Eigenart und das Eigenleben der besonderen Gestalt« 157 begründet. Mit dieser Formulierung von Gestalthaftigkeit erfaßt Cassirer zudem die schon angesprochene Eigengesetzlichkeit und Selbstreferentialität der Kunstprodukte, die traditionell als ihre Selbstgenügsamkeit oder Autonomie gedeutet wird. Seine Beschreibung affirmiert diese Eigenschaft ohne deswegen auszuschließen, daß das Kunstwerk »doch zugleich mit anderen einem eigentümlichen Wesens- und Wirkungszusammenhang angehört«. 158 Wenn auch die Produkte als solche auf nichts als sich selber verweisen, so tragen sie doch die rekonstruierbaren Spuren ihres Produziertseins an sich, die auf einen »Wirkungszusammenhang« zurückgehen, der für sie alle gleichermaßen in Anspruch genommen werden kann. Die Selbstgesetzlichkeit des Kunstwerkes erscheint insofern als Folge und Ausdruck einer fundamentalen »Selbstgesetzlichkeit des Geistes«, 159 die sich in den Gebilden der Kunst unverstellter als auf anderen Gebieten des Geistigen zeigen kann, weil ihre Freiheit hier- weitgehend 160 unbeschnitten bleibt. Dies indiziert einen anderen Grund für die herausragende Stellung der Kunst für die Epistemologie Cassirers. Denn in der Kunst tritt jene elementare Konstitutionsleistung, die für jede Form von Verstehenstätigkeit unverzichtbar ist, offener als irgendwo sonst zutage und kann daher der Analyse besser zugänglich gemacht PSFIII, 67. E. Cassirer: Hermann Cohen und die Erneuerung der Kamischen Philosophie, in: Kant Studien, hg. von P. Menzer und A. Liebert, Bd. 17, Berlin 1912, S. 261. ISS Vgl. KLL, 331, Kunst als »Welt der reinen Gestalt>Der freie Prozeß des Bildens selbst wird hier [in der ästhetischen Vorstellung] durch die Rücksicht auf den objektiven Bestand der Dinge, wie wir ihn in wissenschaftlichen Begriffen und Gesetzen festhalten, nicht gebunden und eingeschränkt.« 161 In dieser Hinsicht kann man den Gestaltbegriff in der Kunst als Korrelat der konkreten Tätigkeit des Gestaltens, >>jenes freie[n] Gestalten[s] der bildenden Phantasieproduktiven Einbildungskraft< zuschreibt. Eines seiner Charakteristika ist, daß der Gestaltbegriff direkt auf die Sinnlichkeit und primär die Anschauung bezogen bleibt. Das >Verweilen< beim Phänomen ist ein Modus der Gegenwart, derzeitentrückten Anschauung. Ästhetisch-gestalthaft zu sehen bedeutet deshalb, daß wir an den Phänomenen >>statt der Wirkungen, durch welche sie in die ursächliche Kette der Erscheinungen eingreifen und sich in sie fortsetzen [ ... ] lediglich ihren reinen Gegenwartswert heraus[heben], wie er sich dem Anschauen selbst erschließt.Kritik der reinen Vernunft< deutlich wurde, hat Cassirer gerade jene Theoriekomponenten ausgelassen, die auf der >Zweistämmigkeitsthese< beruhen und gegen eine einheitliche Auffassung der Erkenntnisleistung sprechen. Dieses Umstrukturierungsmotiv findet sich auch hier wieder. Die Cassirersche Kritik richtet sich erneut auf die Abtrennung des Sinnlichen vom Intelligiblen im Sinne heterogener Bereiche, seien sie ontologisch, psychologisch oder logisch verstanden. 165 Im Bereich der KLL, 366, Hervorh. C. S.; im Original betont Cassirer das Wort >ProzeßGestalt< zu fassen erlaubt, so ist doch damit noch keine ausgearbeitete Theorie ästhetischer Wahrnehmung gegeben, die die gestalthaften Einheiten in Bezug setzen würde zu einer einheitsstiftenden Leistung des Bewußtseins. Dies ist Thema des grundlegenden, dritten Bandes der >Philosophie der symbolischen Formen< und soll in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit weiter untersucht werden. 165 Es kann in der Kr V sicher nicht davon gesprochen werden, daß Verstand und Sinnlichkeit, Spontaneität und Rezeptivität als Seinsbereiche getrennt werden, sondern sie sind als konstitutive Momente des einen Erfahrungsaufbaus natürlich logischer Natur. Die Weise ihrer Behandlung aber läßt sie doch wieder wie getrennte Gebiete erscheinen und damit ihren logischen Momentcharakter einbüßen, der jede 161

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Kunst aber ist für Cassirer die Untrennbarkeit von Besonderem und Allgemeinem, von Sinnlichem und Sinn sichtbar erfüllt.l 66 »In dieser Hinsicht - aber auch nur in ihr - weist die Tatsache der Kunst, ohne daß wir sie in abstrakte Grübelei auflösen, auf eine neue Einheit von >Sinnlichem< und >IntelligiblemArbeit des Begriffs< nicht mehr zu vereinen ist? Diese berechtigten Bedenken, die in Cassirers Anstrengungen das Wiederaufleben einer Unmittelbarkeitslehre wittern, die der distanzierenden Leistung der Reflexion eine protologische Einheit vorordnen möchte, werden zugleich bestätigt und aufgehoben, wenn man Cassirers Begründung für die behauptete Einheit in Betracht zieht: »Das Einzelne weist hier nicht auf ein hinter ihm stehendes, abstraktUniverselles hin; sondern es ist dieses Universelle selbst, weil es seinen Gehalt symbolisch in sich faßt.« 168 Die vorher so mysteriös erscheinende Einheit, die hier sogar zur Identität verschärft ist, hat also einen schlichten und vertrauten Namen: sie heißt >SymbolDer Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften< charakterisiert Cassirer die Kunst in gleicher Weise durch »ein reines Gleichgewicht>Indifferenz« bzw. >>Spannung>Erfüllung dessen, was in anderen Gebieten des Geistes[ ... ] als Forderung enthalten istdaß die von Cassirer gewählte Orientierung an der Wissenschaft den Symbolbegriff nicht vielleicht unangemessen einengt und für eine angemessene Anwendung auf andere oder in anderen Bereichen ganz oder teilweise unfähig machtIndividuell-Sinnliches< und >universaler Sinn< konstituiert. Und wie aus dem obigen Zitat klar hervorgeht, ist für Cassirer das symbolisierende Verweisungsverhältnis dieser beiden Komponenten nicht als eine Relation getrennt voneinander existierender Seiender zu verstehen. Bedeutung ist für ihn keine transzendent-unabhängige Größe, die aus der Polarität der Symbolrelation ungestraft isoliert werden könnte. Das Symbol ist nichts anderes als die Tatsache ihrer Identität und d. h. hier ihrer lnseparabilität. Der Eindruck der Trennbarkeit beider Momente entsteht nur dadurch, daß man die mit dem Zeichen einmal erzeugte Bedeutung, dann auch mit Hilfe eines beliebigen anderen Zeichens festhalten kann- was aber an der grundsätzlichen Tatsache der irreduziblen Verbundenheit von Sinn und Sinnlichem nichts ändertY 0 Es wird im folgenden entwickelt werden, inwiefern die hier benannte Symbolstruktur von >in sich differenzierter Einheit< zum Ausgangspunkt eines neuen Verstehensmodells werden kann. In bezug auf die oben formulierten Befürchtungen einer obskuren >protologischen Gegebenheit< wird allerdings hier schon klar, daß die Behauptung dieser Einheit weit von einer ontologischen Unterstellung entfernt ist, obwohl sich der Charakter ihres >Vorgeordnetsein< durchaus bestätigt: nämlich im Sinne einer transzendentalen Bedingung. Denn mit dem Symbolbegriff als >sinnlicher Sinneinheit< wird etwas thematisch, was für Kant noch keine Rolle spielte: die Konstitution von Bedeutung. Cassirer erkennt, daß Gegenstandskonstitution Bedeutungskonstitution voraussetzt, ja möglicherweise nur als ihr Sonderfall beschrieben werden kann. Gäbe es nicht die symbolschaffende »Urfunktion der Repräsentation«, 171 wären alle anderen Funktionen gegenstandslos. Die Möglichkeit der Einheit von Sinnlichem und Sinn ist also keine, nur in der Kunst anzutreffende Ausnahme, sondern

daher aufzugebende Einengung erscheinen. Vgl. W.Marx: Cassirers Philosophieein Abschied von kantianisierender Letztbegründung?, S. 82. 170 Die Tatsache, daß Form und Inhalt »wenngleich niemals im absoluten Sinne voneinander trennbar, so doch in weitem Ausmaß voneinander unabhängig variabelSelbstgesetzlichkeitKunstKritik der Urteilskraft< scheinbar heterogene Bereiche im selben Problemhorizont behandelt, begegnet Cassirer mit der These, daß sich in Kunst- und Lebenserscheinungen gleichermaßen das Problem konkreter Ganzheit, d. h. der Gestalthaftigkeit, als 172 173 174

KLL, 360. KLL, 372. KLL, 381, Cassirers Hervorh.

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Erkenntnisperspektive stellt, die man jenseits der >zerlegenden< theoretischen und praktischen Erfassung den Phänomenen gegenüber einnehmen kann. Daß eine derartige Sichtweise nicht nur möglich, sondern im Ganzen des Erkenntnisprozesses auch notwendig ist, erörterte Cassirer bereits am Exempel der unverzichtbaren einheitsetzenden Funktion des Zweckbegriffs. >>In jeder dieser beiden Betrachtungsarten [der teleologischen und ästhetischen] wird also das Ganze, um das es sich handelt, so angesehen, als ob es sich nicht aus seinen Teilen zusammensetzte, sondern als ob es selbst der Ursprung der Teile und der Grund ihrer konkreten Bestimmtheit wäre.« 175 Dieser neue Einheitstyp entsteht durch eine Umkehr der Priorität von Teil und Ganzem, insofern ein Ganzes hier nicht mehr als Produkt vorausgehender Teile, sondern vielmehr die >Teile< nun selber als Produkte eines bedingenden Ganzen aufgefaßt werden. Dabei darf diese Vorgängigkeit nicht als zeitliche, sondern muß als logische verstanden werden. Denn wäre das vorausliegende Ganze auf eine bloße Summation von selbständigen Teilen reduzierbar, hätte sich an der grundsätzlichen Priorität des Teils nichts geändert. Wichtig ist zudem, nicht hinter das im >als ob< klar ausgesprochene, methodische Bewußtsein Cassirers zurückzufallen: dieses >Ganze< ist als gedankliche Hinsicht, nicht aber als seiender Urgrund zu verstehen. Als Hypothese aufgefaßt erweist sich dieser neue Einheitsbegriff als ausgesprochen erkenntnisförderlich, da er eine neue Ordnungsweise der Phänomene ermöglicht. Was etwa ein Herz sei, ist auf physiologischkausaler Basis nur unvollständig zu beantworten. Der Bezug auf seine Funktion innerhalb eines größeren Gesamtzusammenhangs aber, sein Pumpen von Flüssigkeit zwecks Stoffaustauschs, vermag neue, erhellende Antworten zu geben. Als >Teil< verweist es auf ein anderes, ihm Zu- und Übergeordnetes. Dieses kann mit Hilfe der neuen Sicht als ursprünglich-begründendes >Ganzes< interpretiert werden, welches nicht als Aggregat seiner Einzelteile, sondern als Ausdruck einer wechselseitigen, funktionalen Verwobenheit zu fassen ist, die für den Gedanken einer Trennbarkeit von >Teilen< gar keinen Platz läßt. >>Denn das eben bezeichnet den Begriff des Lebens: daß in ihm eine Art von Wirksamkeit angenommen wird, die nicht von der Vielheit zur Einheit, sondern von der Einheit zur Vielheit, nicht von den Teilen zum Ganzen, sondern vom Ganzen in die Teile geht.« 176 Dieselbe Struktur logischer Vorgängigkeit eines Ganzen bei korrelierender Abhängigkeit der Teilmomente charakterisiert für Cassirer 175 176

KLL, 358. KLL, 358.

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aber nicht nur den Lebens-, sondern auch den Entwicklungsbegriff, sodaß für ihn beide eng verschmelzen. >>Wo wahrhafte Entwicklung vorhanden ist, da bildet sich nicht ein Ganzes aus den Teilen, sondern da ist es bereits in ihnen, als richtunggebendes Prinzip enthalten.« 177 Die philosophische Tradition stellt mit dem Aristotelischen Terminus der >en-telechiedessen, was sein Ziel in sich hat>richtunggebende PrinzipZweck< geschaffene Sicht zeigt folglich den Naturgegenstand als einen, der einen Zweck in sich hat und sich auf diesen Zweck hin entwickelt, d. h. als einen der wird. Für die teleologische Urteilskraft stellt sich die Natur daher als eine prozessuale und evaluierende dar. Von ihrem Blickwinkel aus schließt sich alles das zu einer dynamischen Einheit zusammen, was für den kategorialen Verstand noch beziehungslos bleibt. So wird das starre Nebeneinander der Verstandesordnungen aufgehoben in die Bewegung eines unendlichen Werdeprozesses. 179 Dieser Typ ganzheitlicher, regulativer Ordnungsleistung ist deshalb von ganz entscheidender Bedeutung, weil er erst möglich macht, was man Verstehen nennen kann. Denn etwas zu verstehen, bedeutet für Cassirer, sein Werden zu verstehen. >>Hier zeigt sich, daß wir jegliche besondere Mannigfaltigkeit nur insofern verstehen, als wir sie in unserem Denken aus einem Prinzip, das sich selbst >spezifiziertsteht innerhalb des Gegensatzes des >Allgemeinen< und des >Besonderen< und es KLL, 358, Cassirers Hervorh. Der deutsche Begriff der >Entwicklung< suggeriert ebenfalls einen Prozeß, in dem das Kommende bereits angelegt ist und der nur der entsprechenden Stimuli und Randbedingungen bedarf, um sein bereits festliegendes Ziel zu erreichen. 179 Dementsprechend ist >Entwicklung< kein metaphysischer Begriff, der den transzendenten Ursprung des Lebens aufschlösse, »sondern sie [die Entwicklung] ist ihm [Kant] das Prinzip, vermöge dessen sich für unsere Erkenntnis erst die ganze Fülle und der Zusammenhang der Lebenserscheinungen vollständig darstelltintellectus archetypus«, eines urbildlich-intuitiven, unmittelbar-vollständigen Verstandes, versetzen zu wollen. Das Denken muß sich vielmehr radikal als sinnliches Denken und Denken des Sinnlichen verstehen lernen. Ziel seines Verstehens kann nicht die >theoria>nur umso tiefer in die Struktur der Erfahrung zurück und erhellt, statt dieses Urgrundes vielmehr nur die Fülle und den Gehalt der Erscheinung selbst.« 184 Cassirer bekennt sich rückhaltlos zu dieser Immanenz und Phänomenbindung des Wissens. Verstehen bedeutet ihm daher nicht die Enträtselung eines Wahren jenseits der Phänomene, sondern es geht vielmehr darum >>den Blick für den Reichtum der Erscheinungen [ ... ] immer mehr und mehr zu schärfen und ihn immer weiter in die Besonderheiten und Einzelheiten der Lebensphänomene und ihrer Bedingungen eindringen zu lassen« 185 - ganz im Sinne des von Cassirer immer wieder zitierten Diktums Goethes: >>Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.«186 Die aus der Diskussion des Lebensphänomens hervorgehende, teleologisch-offene Betrachtungsweise hat also noch eine andere, nicht zu unterschätzende Konsequenz. Sie transformiert eine starre >SeinsKLL, 379. KdU, §77, B351. 183 KLL, 375. 184 KLL, 376, Hervorh. C. S. 185 KLL, 373. 186 J. W. von Goethe: Maximen und Reflexionen, hg. von Hecker, Frankfurt/ Main 1976, 5.116. 181

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Theorie< zur dynamischen >Geschichte des WerdensFaktum< 2. Rückgang auf die Bedingungen der Möglichkeit dieses Faktums 3. Zentrale Rolle des Urteils: 189 der >Gegenstand< als Korrelat der je konstituierenden Urteilsweise, Objektivität als Resultat, nicht als Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses (>>Kopernikanische Wende« oder >>Revolution der Denkart«) 4. Irreduzibel verschiedenen Modi des Urteilens korreliert eine ebenso irreduzible Vielheitlichkeit der Vernunft und der Gegenständlichkeit (ursprüngliche Pluralität)190 5. Die grundlegende, einheitensetzende, >vermittelnde< Funktion von Einbildungskraft und Urteilskraft 6. Der Gestaltbegriff als Ausdruck von individueller Ganzheit und Dignität des Phänomenalen 7. Der Symbolbegriff als Ausdruck der Untrennbarkeit von Sinnlich- Individuellem und Sinnhaft-Universellem 8. Der Zweckbegriff als Ausdruck systemischer Ganzheit, die das >Einzelne< dynamisch aus sich hervorgehen läßt, als Ideal höchster Formeinheit und lntegrabilität 9. Verstehen als Verstehen des jeweiligen Werdensprozesses 10. Die unaufhebbar offene Prozeßualität des Erkenntnisvorganges, die Geschichtlichkeit 11. Endlichkeit, Immanenz und Phänomenbindung des Wissens 187 Vgl. KLL, 380f. Cassirer möchte diese Wandlung zur Geschichte fast schon in der KrV selbst verwirklicht sehen, obwohl dieses Werk den meisten Interpreten doch geradezu als Musterbeispiel festen, axiomatischen Aufbaus gilt. Augenscheinlich liegt Cassirer daran, bei ihrem Urheber selber schon jenes prozessuale Element einzuklagen, das für ihn die eigentliche Fruchtbarkeit der transzendentalen Methode ausmacht. Vgl. KLL, 152. 188 Cassirer hält in seinem Nachruf auf Paul Natorp fest, daß dieser seinem Lehrer Usener die Einsicht verdanke, daß alles Geistige nur in seinem Werden, nur genetisch zu fassen sei, was zu einer >>wechselseitigen Durchdringung von Systematik und Geschichte führe>Der >Verstand< ist hier[ ... ] im rein transzendentalen Sinne als das Ganze der geistigen Kultur zu verstehen.« 192 Es deutet sich darin bereits an, was fünf Jahre später mit dem Projekt der >Philosophie der symbolischen Formen< Gestalt annehmen wird: nämlich der Versuch, der Gesamtheit möglicher Objektivierungshinsichten und geistiger Sinndimensionen gerecht zu werden. Auch in anderen begrifflichen Neuerungen verrät sich diese Öffnung hin zur Sinnvielfalt. So ist - immer im Plural- die Rede von >>mannigfachen objektiv-geistigen Richtungen«, 193 von >>>Ordnungen< intellektueller, ethischer oder ästhetischer Art«, 194 von >>produktiven Kräften des Geistes«, 195 von >>Operationen«, >>konstruktiven Grundakten« 196 sowie >>Grenzsetzungen, die wir im ideellen Ganzen [ ... ] vornehmen« .197 Die Erfahrung selbst erscheint keineswegs als einsinnige Größe, sondern als >>Inbegriff verschiedenartiger Wege der Objektbestimmung«.198 Aufall dies wird noch zurückzukommen sein. Insgesamt scheint Cassirer an Kantebenjene Seiten herauszuheben, die das Verständnis eines wesentlich endlichen, untrennbar sinnlichgeistigen, essentiell auf Vermittlung angewiesenen >intellectus ectypus< ermöglichen, ohne ihn als bloß unvollkommenes Gegenbild eines 191 Vgl. dazu KLL, 161: »es ist die Mannigfaltigkeit, die sich in der Vernunft selbst, in ihren grundlegenden Richtungen und Fragestellungen findet, was uns die Mannigfaltigkeit der Gegenstände erst vermittelt und deutet.« 192 KLL, 166, Hervorh. C.S. 193 KLL, 165. 194 Ebd. 195 Ebd. 196 KLL, 172. 197 KLL, 173, Cassirers hebt das Wort >Grenzsetzungen< hervor. 198 KLL, 216.

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unendlichen, idealen >intellectus archetypus< denken zu müssen und damit von vorneherein zu degradieren: verbirgt sich doch im Gedanken des >intellectus archetypus< zuletzt theologisch motiviertes und strukturiertes Absolutheitsdenken, dem seine neue, säkularisierte Form nur zur besseren Tarnung und Wirksamkeit zu verhelfen scheint. Erst befreit von diesem immer schon vernichtenden Vergleich vermag das endliche Verstehen sich als das zu fassen, was es seiner Struktur nach ist und leisten kann- ohne das Stigma eines Mangels. 1.3. Von Kant zu Cassirer: vom geschlossenen zum offen-funktionalen Apriori Kehrt man abschließend die Perspektive der Betrachtung nochmals um und mißt die selektive, Cassirersche Lesart am Maß der Kamischen Forderungen, so tritt einer ihrer Charakterzüge besonders stark hervor und zwar deshalb, weil er im Vergleich zur Vorlage fehlt. Die heutigen Vertreter dieser Sicht- und nicht nur diese- formulieren diesen Sachverhalt für gewöhnlich als den schwerwiegenden Vorwurf, daß es Cassirers Philosophie an einer theoretischen Grundlegung mangele: »Problematisch wird es allerdings dort, wo es 199 den Verzicht nach sich zieht, die systematischen Grundlagen allen Erkennens nicht nur in ihrem Zusammenhang herauszustellen, sondern vor allem auch als Grundlegungen zu rechtfertigen. Die Feststellung dieses Verzichts gehört heute zu den Allgemeinplätzen der Cassirer-Forschung.«200 In anderer Formulierung: »Cassirer hat nicht hinreichend jene Geltungsprinzipien berücksichtigt, die Wissen selbst und folglich Denken seiner Eigenbestimmtheit nach konstituieren. Bei Cassirer fehlt, und dies ist zu kritisieren, eine Bearbeitung jener Prinzipien, die Gegenständlichkeit überhaupt konstituieren.« 201 Dieser Vorwurf läßt sich auch mit Blick auf Cassirers Kaminterpretation bestätigen, da er in ihr die Gretchenfrage des Apriori, der Gültigkeit und Vollständigkeit der erkenntnisfundierenden Kategorien, Anschauungsformen, Schemata und Ideen schlicht übergeht, um sich dafür um so ausführlicher den Urteilsgrundsätzen des Verstandes zu widmen. 199 Gemeint ist damit das ansonsten >>unverdächtige Lob>Grundhaltung>die Geheimnisse des Lebens auf sich beruhen zu lassen und sich stattdessen an seiner unendlich reichen Oberfläche zu erfreuen, deren Beschreibung durch Symbole völlig ausreichtPhilosophie der symbolischen Formenabstrakten Denktheorie< vergleichbar wäre und formelle Grundlagen des Denkens als solche zu legitimieren unternähme. Nicht gering ist die Zahl derer, die darin eine unverzeihliche Schwäche des Cassirerschen Philosophierens sehen. Wo bei anderen die Bemühung stehe, die Fundamente für die Gültigkeit der eigenen Überlegungen zu sichern und Rechenschaft abzulegen, liege bei Cassirer ein blinder Fleck; die bloße Beteuerung müsse den Nachweis ersetzen. Und seine eigene Begrifflichkeit schlicht unreflektiert vorauszusetzen, käme einer philosophischen Bankrotterklärung gleich. Die Behauptung aber, daß dergleichen Grundlagen prinzipiell nicht theoriefähig seien, sondern rhapsodisch aufgelesen werden müßten, könne erst recht nicht befriedigen. Muß also das unleugbare diesbezügliche Schweigen Cassirers als ein Verschweigen mangelnder Durchdringung gedeutet oder kann es möglicherweise als durchdachte Zurückhaltung angesichts einer wohl verlockenden, aber zuletzt unmöglichen >Sophistikation der Vernunft< gesehen werden? Zu präzisieren ist, daß das Schweigen so vollständig nicht ist. Man findet sehr wohl- wenn auch eher vereinzelt- Hinweise auf »universelle Formelemente«,202 denen die Konstitution des Erkenntnisaufbaus zugemutet wird. Untersucht man systematisch jene Stellen, an denen sich Cassirer direkt zu dieser Frage äußert, so ist zunächst festzustellen, daß er den Gedanken bedingender Grundformen als solcher durchweg affirmiert. In der >Philosophie der symbolischen Formen< beispielsweise wird die Existenz konstituierender Objektivierungsbedingungen einschränkungslos vorausgesetzt: »Die Logik der Wissenschaften [ ... ] besitzt die Kraft, zu den letzten grundlegenden Relationen des Denkens hinabzusteigen, die in allen Verknüpfungen des Besonderen implizit enthalten sind, und auf denen das Recht dieser Verknüpfungen beruht.« 203 Cassirer bestätigt also nicht nur ihr Vorhandensein, sondern ebenso ihre Legitimationsfunktion sowie die Möglichkeit, sie explizieren zu können. Im gleichen Sinne führt er aus, daß »ein und dieselbe Urschicht reiner Beziehungsformen« 204 die gemeinsame Grundlage aller Denkanstrengungen bildet. Denn »ohne diese Formen, ohne kategoriale Bestimmungen wie Einheit und Andersheit, 202 203 204

SFB, 356. PSF III, 470. PSFIII, 447.

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wie Gleichheit und Unterschied, wäre es so wenig möglich ein Ganzes logischer Gegenstände, wie einen Inbegriff mathematischer Gegenstände oder eine Ordnung empirischer Objekte zu denken.DingEigenschaft< gefaßt wird, oder von aufeinanderfolgenden Ereignissen in der Art, daß das eine als Ursache des anderen erscheint: dies alles sind Beispiele solcher ursprünglicher Beziehungsarten.Einheit< und >Differenz< allerdings werden in diesem Zusammenhang gar nicht erwähnt. Dies spricht wiederum dafür, daß Cassirer Grade logischer Bedeutsamkeit unterscheidet und diese beiden Grundrelationen für ihn einen anderen Stellenwert besitzen. Daß er jedoch im folgenden >Nebeneinander< (Raum) und >Nacheinander< (Zeit), >Ding und Eigenschaft< (Substanz und Akzidens) sowie >Ursache und Wirkung< (Kausalität) ununterschieden zu »Ordnungsmomenten>Beziehungen der Einheit und Andersheit, der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, der Gleichheit oder VerschiedenheitEinheit< zusammengenommen, ein Mannigfaltiges nach bestimmten Gestalten abgeteilt und gegliedert werden soll.« 210 >>Wie« und >>gewissermaßen«: erneut begegnet man hier jener distanzwahrenden Vorsicht in der Formulierung, die im Zusammenhang mit Bestimmtheit fordernden Grundlegungsfragen doppelt befremdlich wirkt. Muß dies nicht als Bestätigung der oben formulierten Vorwürfe gegen Cassirers Konzeption gewertet werden? Festzuhalten bleibt zunächst jedenfalls, daß allen diesbezüglichen Äußerungen Cassirers dieselbe Offenheit gemeinsam ist. Zwar äußert er sich durchaus konkret dazu, welche Verknüpfungsformen er für fundamental hält, aber jedesmal betont er zugleich ausdrücklich den vorläufigen oder bloß beispielhaften, jedenfalls unvollständigen Charakter dieser Aufzählungen. Die obige Zusammenschau signifikanter Textstellen unterstreicht diesen Eindruck zusätzlich durch die Verschiedenheit der jeweils angeführten Grundrelationen. Offensichtlich vermeidet Cassirer es bewußt, in die Nähe deduzierenden Grundlagendenkens zu geraten und seine Formsammlungen für unumstößliche Gesetzestafeln auszugeben. Woher diese Weigerung? Kann man sie getrost als Zeichen mangelnden theoretischen Durchdringungswillens oder gar mangelnder Durchdringungskraft abtun, so wie seine Kritiker dies tun? Oder faßt man sie- großmütiger- als zwar unerfreuliches, aber eigentlich unerhebliches Theoriedefizit; als Ausdruck einer halbherzigen, nicht zu Ende gebrachten Reflexion, die Ein letzter Rest von Unterschied, der die absolute Gleichsetzung beider verhindert, bewahrt sich in der Setzung des unscheinbar wirkenden Bindestrichs, der im obigen Zitat >Raum< und >Zeit< nach wie vor von den anderen Ordnungsmomenten abtrennt- es wäre zu klären, worauf er sich gründet. 210 PSFIII, 17. 209

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sich zuletzt gezwungen sieht, etwas zuzugestehen, was sie theoretisch nicht verorten kann? Oder versteht man sie gerade umgekehrt als Ausdruck einerneuen Sicht, die sich von der traditionellen Weise der Legitimation von Grundlagen nicht aus Unfähigkeit, sondern aus Einsicht verabschieden möchte? Der Ansatz zu einer Antwort findet sich ironischerweise gerade dort, wo Cassirer das Unternehmen der kritischen Erkenntnistheorie scheinbar klassisch zur »allgemeinen Invariantentheorie der Erfahrung«211 erklärt- in >Substanzbegriff und Funktionsbegriff>das letzte Gemeinsame aller möglichen Formen der wissenschaftlichen Erfahrung herauszustellen, d. h. diejenigen Momente begrifflich zu fixieren, die sich im Fortschritt von Theorie zu Theorie erhalten, weil sie die Bedingungen jedweder Theorie sind«. 213 Höchst bemerkenswert an dieser Bestimmung ist aber, daß die gesuchten Invarianten nicht absolut, sondern in bezug auf ein variables, evaluierendes Gesamtsystem, nämlich das der offenen Theorienentwicklung, definiert werden. Daher erklärt sich, daß Cassirer an die Formulierung dieses Ziels sogleich die Einschränkung anschließt, daß es nur als Forderung zu verstehen sei, die >>auf keiner gegebenen Stufe des Wissens vollständig erreicht«214 sei. Daraus aber folgt, daß, wenn es auch durchaus Sinn hat, nach Invarianten zu fragen, es dennoch widersinnig wäre, sie in Form einer ein für allemal abgeschlossenen Theorie vorlegen zu wollen. Konsequenterweise kann Cassirer seine Kategorien nur als Kategoriekandidaten präsentieren, die sich angesichts der permanenten Theorieevolution der Wahl zur echten Invarianten immer wieder aufs neue zu stellen und sich in ihr zu bewähren haben. Nur relativ zur geschehenden Veränderung kann sich zeigen, was wirklich unverändert bleibt. Und es ist nicht auszuschließen, daß eine radikal neue Sichtweise auch radikal neue Invarianten verlangt. Diese Auffassung ist zum einen, wie so vieles in Cassirers Epistemologie, von strukturellen Einsichten der Mathematik inspiriert, nämlich von Felix Kleins >Erlanger Programm>Das Ziel dem alle empirische Erkenntnis zustrebt, liegt[ ... ] in der Gewinnung letzter Invarianten, die die notwendigen und konstitutiven Faktoren jedes Erfahrungsurteils bilden.« 213 SFB, 357. 214 Ebd. 215 Vgl. SFB, 97, 114-121, sowie ZMP, 286 und EPIV, 36. Siehe dazu a. K.N. Ihmig: Cassirers Rezeption des Erlanger Programms von Felix Klein, in: Einheit des 211

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einer Grundlegung der Geometrie den fundamentalen Gedanken, daß sich immer nur relativ zu einer Transformationsgruppe, d. h. eines bestimmten Typs von Veränderung, überhaupt fragen und entscheiden läßt, was invariant ist. Jede Transformation- sei es eine Translation, Rotation oder Spiegelung- hat also ihre, je spezifischen Invarianten. 216 Zum anderen kann diese Relativierung der Invarianten als Ausdruck jener konsequenten Bindung an die konkrete, zeitlich-offene Urteilsfunktion gesehen werden, die schon bei der Analyse der Cassirerschen Kautrezeption deutlich zutage getreten war und die - wie ausgeführt - in der >Kritik der reinen Vernunft< selbst angelegt, aber nicht zu ihrem adäquaten Ausdruck gekommen ist. Dies erklärt auch Cassirers Bevorzugung der Grundsätze gegenüber den Kategorien bei seiner Besprechung der >Kritik der reinen Vernunft>relativiert sich zugleich der Begriff der >Bedingung der Möglichkeit< und damit auch der Begriff des >AprioriFortschritt von Theorie zu Theorie« aussehen sollte; für Kant kann dies keineriet Rückwirkung auf die kategorialen Grundbegriffe haben, da diese Entwicklung sich nur innerhalb ihres Rahmens abspielen soll. Es ist gerade diese gedankliche Figur unaufhebbarer Abhängigkeit, die die Notwendigkeit des Apriori, und mit ihr seine Erkenntnisdignität, etablieren und gegen alle relativierenden Angriffe des >bloß< Empirischen und Zeitlichen immunisieren soll, so wie sie Humes Kritik an Leibniz vorgebracht hatte. Dies verhilft der bewußt unzeitlichen, Kantischen Konzeption zur gewünschten, Stabilität versprechenden Unveränderlichkeit: das Kantische Apriori ist ein für allemal abgeschlossen. Bedenklich daran ist aber gerade, was seine eigentliche Leistung auszumachen scheint, nämlich daß die Kantischen >Invarianten< als >ab-solute< verstanden werden, >losgelöst< von der Veränderung, in bezugauf die sie doch, recht besehen, ihre In-varianz überhaupt erst behaupten könnten und die als zukünftige gerade nicht vorausgesehen werden kann. Cassirer sieht sich gezwungen, gerade diesen Triumph versprechenden, statischen Zug des geschlossenen Apriori aufzugeben, da er dem Standpunkt der lebendigen, immer zeitlichen Grundlegungsiunktion nicht gerecht zu werden vermag, der ja auch für Kant selbst unverzichtbarer Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist. Kants Konzeption kann von daher als hybrid angesehen werden. Denn einerseits führt sie den Gedanken, daß die Grundkategorien von ihrer Konstitutionsfunktion her zu denken sind, überhaupt als erste ein und versucht, die Verstandesbegriffe eben nicht mehr durch Rückgriff auf ein ontologisch Gegebenes zu legitimieren. Andererseits aber hat sie mit den kritisierten, dogmatischen Theoremen dennoch wieder gemeinsam, die legitimierende Größe, also die konstituierende Kategorie, als absolute festschreiben zu wollen. Das Niveau der eigentlichen Funktion oder Aufgabe einzunehmen bedeutet aber, die Hypothesen, die sie erfüllen, als jeweilige, kontextgebundene Lösungen dieser Aufgabe zu verstehen. Von daher ergibt sich, daß die Frage, ob diese Lösungen ihre Grundlegungsaufgabe in gewandelten Erfahrungskontexten auch weiterhin erfüllen können, offenbleibt und offenbleiben muß. Wie das Kantische stammt zwar auch das Cassirersche Apriori nicht aus der Erfahrung, und es setzt weiterhin die Bedingungen ihrer- jeweiligen

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- Möglichkeit. Der Unterschied beider Konzeptionen aber besteht darin, daß dies keineswegs von selbst schon seine Erkenntnistauglichkeit impliziert. Denn ob es seiner Konstitutionsfunktion gerecht zu werden vermag oder nicht, zeigt einzig sein pragmatischer, immer nur vorläufig zu konstatierender Anwendungserfolg. Cassirer versteht das Apriori damit als funktionales - und das heißt in letzter Konsequenz als unabschließbar-offenes und verzeitlichtes. Daß diese Kritik am geschlossenen Apriori geradezu eine Invariante des Cassirerschen Denkens bezeichnet, ist unter anderem daran ersichtlich, daß er fast 30 Jahre später, in dem Aufsatz >Zur Logik des Symbolbegriffs< 1938 seine damaligen Überlegungen explizit wiederaufgreift und affirmiert. 221 Aber schon 1902 erschien es ihm bei der Erörterung des Leibnizschen Systems »immer problematischer[ ... ], eine in sich abgeschlossene, rein >formale< Logik zu entwerfen, die der Wissenschaft vorausgehen und sie ein für alle Mal an bestimmte Regeln der Begriffs- und Urteilsbildung binden wilk 222 Er meint Leibniz, der in seinem Entwurf einer »mathesis universalis« bzw. einer »allgemeinen Charakteristik« 223 auf seine Weise den Gedanken eines Kategoriensystems aufgreift, deswegen folgenden Vorwurf machen zu müssen: »Der Gedanke, daß sie [d. i. die Grundrelationen, aus denen die Begriffe erschaffen werden] erst im Fortschritt der Wissenschaft zu entdecken sind und daß dieser Fortschritt ein unabschließbarer Prozeß ist, ist nirgends bestimmt genug zum Ausdruck gekommen.«224 Auf der anderen Seite aber findet Cassirer bei Leibniz bereits jenen unterstützenswerten »Reformgedanken für die Logik« 225 angelegt, der schließlich zu einem Umdenken zur offenen Form hin führt. Denn an die Stelle einer abgelöst abstrakten Formenlehre tritt bei

221 E. Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs, in: WWS, 226. Cassirer verteidigt an dieser Stelle gegen die von ihm so genannte »ldentitätslogik>logische[n) Primat des Relationsbegriffs vor dem Klassenbegriff>Die Grundrelationen nun, aus denen die Begriffe erschaffen werden, zu isolieren und systematisch darzustellen: dies ist die eigentliche sachlogische Aufgabe der allgemeinen Charakteristik.Philosophie der symbolischen Formen< als Stabilitäts- und Strukturgaranten namhaft gemacht: Einheit und Differenz, Zeit und Raum, Zahl, Ding und Eigenschaft, Ursache und Wirkung sowie Zweck. 228 In Cassirers erster Auseinandersetzung mit dieser Frage, die er 1910 in seinem frühen systematischen Werk >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< ausgetragen hat, stößt man auf genau dieselben Ordnungsparameter. Wertet man den Gesamtaufbau des Buches als implizite Stellungnahme zum Problem der zu eruierenden Invarianten, so tauchen wiederum der Begriff der Zahl,229 des Raumes,230 der Kausalität,231 des Dinges (der Substanz) 232 und der des Zwecks 233 auf. Cassirer affirmiert explizit: »Es gibt keine Objektivität, die außerhalb des Rahmens der Zahl und LS, 122 f. Aus dieser Perspektive kann und muß W. Marx darin widersprochen werden, daß Cassirer bezüglich des Gedankens vom Fortschritt der Erkenntnisbedingungen selber das Niveau Cohens unterschreite, indem er das Apriori als- statischen- >>Minimal-Bestand>Substanz und Accidens« (PSF I, 39)); 2. Verknüpfung von Ereignissen nach dem Schema der Ursache (PSF I, 28); 3. Verknüpfung von Ereignissen nach dem Schema von Mittel und Zweck (PSFI, 38); vgl. zur Zeit a. STS, 102. 229 SFB, z.B. 35ff. 23o SFB, z. B. 88 ff, 225 ff. 231 SFB, z.B. 357,411. m SFB, z.B. 200ff. 233 SFB, z. B. 176 ff. 226 227

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Größe, der Beharrung und Veränderlichkeit, der Causalität und Wechselwirkung stünde«. 234 An anderer Stelle spricht er erneut von den >»Kategorien< des Raumes und der Zeit, der Größe und der funktionalen Abhängigkeit von Größen usf.« 235 Im »usf.« begegnet einmal mehr das logische Korrelat des Unabschließbarkeitsgedankens. Daß Cassirer den Ausdruck >Kategorie< zwar verwendet, aber durch das Setzen in Anführungsstriche zugleich wieder zurücknimmt, verrät Anknüpfung und zugleich bewußte Distanz zur traditionellen Bedeutung dieses Terminus- wie auch im Fall der »Urformen der Synthesis«.236 Schon zur Zeit der Entstehung von >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< sind Cassirers Kategorien also keine Kategorien im Kautischen Sinne mehr. Das läßt sich allein schon daran erkennen, daß er >Raum< und >Zeit< sowie >Größe< und >Funktion< ununterschieden darunter faßt. Und es äußert sich unwiderruflich darin, daß ihnen- im nur scheinbaren Widerspruch zu ihrer Definition als >Invarianten< die zeitlose Gültigkeit abgesprochen wird und sie sich daher nicht mehr zu dem wohlgeordnet-stabilen Kosmos einer Tafel von vier Momenten mit je drei Unterpunkten zusammenfassen lassen wollen, die Kant noch glaubte aufstellen zu können. In den etwa zwanzig Jahren, die >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< von der >Philosophie der symbolischen Formen< trennen, hat sich Cassirers offene >Kandidatenliste< also nicht verändert. Es sind weiterhin Identität und Differenz, Raum, Zeit, Zahl, Funktion, Substanz, Kausalität und Finalität, die ihm als bisher unverzichtbare Ordnungsgesichtspunkte erscheinen,237 über deren wahre Tauglichkeit als Invarianten er aber allein den konkret-geschichtlichen Theoriefortschritt entscheiden lassen will. Wenn es in Cassirers Augen auch ein müßiges, weil prinzipiell unmögliches Unterfangen ist, die absolute Grundlegungstauglichkeit dieser >Kategoriekandidaten< deduzieren zu wollen, so lassen sich doch Argumente dafür angeben, warum er gerade diese und keine anderen anführt. Denn es zeigt sich, daß sie relativ zum derzeitigen Wissenshorizont- auf je ihre Weise die epistemologische Grundfunktion der Bestimmung ermöglichen, ohne die kein Objektivitäts-, und d. h. kein Realitätsanspruch erhoben werden kann. Ihre Verwendung bei Cassirer ist, im Sinne der für ihn charakSFB, 411. SFB, 356. 236 PSF III, 17. 237 V gl. dazu auch die Argumentation in E. Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: STS, 102, wo Cassirer diese Ordnungsformen jeweils als >>rein formale Möglichkeit« bestimmt, die in jeder Symbolischen Form verschiedene >>Arten ihrer Verwirklichung, ihrer Aktualisierung und Konkretisierung« erfährt. 234 235

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teristischen Doppelperspektive des >Systematischen und HistorischenInvariantenproblem< auf seine Weise gestellt und zu lösen versucht hat: 1. Identität und Differenz: Platon 2. Zahl, Funktion, Raum und Zeit: Leibniz 3. Ding und Eigenschaft, Kausalität, Finalität: Kant Es ergibt sich im einzelnen: 1. Identität und Differenz: Platon Cassirer beruft sich ausdrücklich auf Platon als den ersten, der mit der Frage nach der »Xotvwvia rwv yt:vwv« das Problem »der systematischen >Gemeinschaft< der reinen Ideen und Formbegriffe« gestellt hat, das seitdem wegen seiner eminenten Bedeutsamkeit »in der Geschichte des philosophischen Denkens nicht mehr zur Ruhe gekommen« sei. 238 Platon selbst führt im Dialog >Sophistes< die in Frage stehende Untersuchung angesichts der unendlichen Menge möglicher Begriffe lediglich »an einigen der wichtigsten« 239 durch, die er ohne den geringsten Anspruch auf systematische Ableitung oder gar Vollständigkeit zunächst einfach »vorzugsweise« aufgreift. 240 Bei der Interpretation dieses Textes ist aber meist unbeachtet geblieben, daß er von den fünf behandelten Begriffen - dem des Seihen, des Verschiedenen, des Seienden, der Ruhe und der Bewegung- nur für drei den direkten Nachweis jener herausragenden Eigenschaft liefert, »durch alles und auch durcheinander hindurch(zu)gehen«: 241 für Selbigkeit, Verschiedenheit und Sein nämlich. 242 Dabei arbeitet er ent-

238 239 240 241 242

PSF I, 28. Platon: Sophistes 254 c. V gl. Platon: Sophistes, 254 d und 255 e. Platon: Sophistes, 259a. Platon: Sophistes, 255 e, 256 a, 259 a.

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schieden den rein relationalen Charakter der Begriffe >Verschiedenes< und >Selbiges< heraus. 243 Wenn der Seinsbegriff auch dieselbe Universalität beansprucht, so vermag er doch logisch gesehen der Bestimmtheit setzenden Kraft dieser beiden Begriffe nichts mehr hinzufügen: zu >sein< heißt immer zugleich >ein Selbes sein< und >ein Verschiedenes sein< und scheint sich daher auch darin zu erschöpfen. 244 Also bleiben als gänzlich unhintergehbare Bedingungen vernünftiger Rede, um die es Platon mit der Frage um die >Xotvwvia< eigentlich geht, 245 auf jeden Fall >Identität< und >Differenzetwas überhaupt< als >dieseses selbst< eben erst dank des Verhältnisses zu einem von ihm unterschiedenen >anderen< sein kann. Bestimmung wird hier also verstanden als relationale, die stets nur als Wechsel-Bestimmung und Ab-Grenzung innerhalb eines Begriffsnetzwerks möglich ist. Für Platon impliziert daher jede Seinsbehauptung eine solche Doppelbestimmung durch Identität und Differenz. Von Ruhe und Bewegung dagegen ist in diesem Konstitutionszusammenhang nicht mehr ausdrücklich die Rede. Dieses Begriffspaar scheint vielmehr wesentlich für die >methexisEide< im Erkenntnisvorgang. Denn Platon faßt Erkenntnis hier als einen Prozeß wechselseitigen Tuns und Leidens auf (Erkennen-Erkanntwerden) und leitet daraus ab, daß die >Eide< als zu Erkennende auch beweglich sein müßten 246 - nicht ohne zugleich einzuschränken, daß sie ebensosehr als ruhend anzusehen sind. Veränderlichkeit und Konstanz scheinen ihm folglich gleichermaßen unverzichtbare Momente gelingenden Verstehens 247 - und ebendieser Einsicht versucht Cassirer mit einem neuen Wissensmodell Gestalt zu geben. Vgl. Platon: Sophistes, 255 d-e, 256 a-b, 259 c-d. Zudem greift Platon zunächst im Bezug auf das konkret vorangegangene Gespräch die drei Begriffe >SeinBewegung< und >Ruhe< auf (vgl. 254d), um dann erst das >Selbe< und >Verschiedene< als notwendige Bestimmungen dieser drei erstgenannten einzuführen (254d und folgende) und ihnen somit schon eine Sonderstellung einzuräumen. 244 Eine andere mögliche Zuordnung der Begriffe bestände darin, parallel zur späteren Identifikation des gesuchten >Nichtseins< mit dem >Verschiedenen< (257b), das >Sein< in seiner Funktion mit dem >Selben< gleichzusetzen. 245 Vgl. Platon: Sophistes 251 a-d, 252 b-d, 253 b-c, 259e-260 b folgende. 246 Platon: Sophistes, 248 b folgende. 247 Platon: Sophistes, 249 b folgende. Es ist aufschlußreich, Platons Argument für die Notwendigkeit der Invarianz genauer zu betrachten. Es heißt an der betreffenden Stelle: »Das >auf gleiche Weise< und >ebenso< und >in derselben Beziehung Erkenntnismittel der extensiven Größe« 249 gelten lassen will, und er kritisiert, daß es >>in der Tendenz alle Naturbegriffe auf räumliche Verhältnisse zu reduzieren und einzuschränken - die Grundlage der modernen Dynamik: den Begriff der Zeit verfehlt«. 250 Zeitliche Veränderung ist nicht durch die Zahl allein zu erfassen, 251 weil dieses Erkenntnismittel diskretisiert und isoliert, während nur kann die obige Passage, wie so oft bei Platon, allerdings nicht einfach inhaltlich-affirmativ gewertet werden, denn es schließt sich eine partielle Revision an, die vor allem auf das in ihr noch vorherrschende, widersprüchliche, weil falsch verstandene Verhältnis der Begriffe zueinander zielt - ebendies führt erst zu dem Projekt der >koinonia ton genonZeit und Wissen< in analoger Weise: >»Zukunft der Vergangenheit< ist die Gestalt des durch Gesetze Charakterisierten.Funktion< und >ReiheZuordnung< bzw. der >OrdnungZahl< und >Funktion< ins Verhältnis zueinander, so stellt man eine höchst bedeutsame Asymmetrie fest: die diskreten Zahlen lassen sich von der erzeugenden, Kontinuität schaffenden Funktion her verstehen, aber nicht umgekehrt. Die Beziehung von Quantitäten läßt sich nicht selber wieder als bloße Quantität aussagen. Individuelle Reihenglieder und universelles Reihengesetz gehören verschiedenen logischen Dimensionen an und sind nicht aufeinander reduzierbar. »Die Relation ist [ ... ] der >Modus, nach dem eine Quantität aus der anderen gefunden werden kann«Sein< möglich wird; - sofern wir es nicht als absolut denken, sondern in ihm nur die eindeutige relative Bestimmtheit als Grenzwert bezeichnen.« 261 Ist dieser logische Zusammenhang einmal durchschaut, so kann man nicht mehr fraglos von der fertigen Existenz eines diskreten >Mannigfaltigen< ausgehen, das jeder Verbindung vorausginge. Statt dessen erscheint die durchgehende Relation nun als Bedingung seiner Bestimmung zum Einzelnen. Die daraus resultierende Umkehr des 258 259 260 261

LS, 250. LS, 140. LS, 186.

LS, 286, Hervorh. C. S.

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Legitimationsverhältnisses von Einzelnem und Relation impliziert notwendigerweise eine grundsätzliche »Kritik des >Einfachen< und >Absoluten«< 262 als solchen. Die Erkenntnis seiner Bedingtheit diskreditiert den bisher fraglos für möglich gehaltenen Ausgang von letzten, gegebenen, absoluten Grundeinheiten wie etwa den >Dingensubstantiellen Seins< zu »wohlgeordnete[n] Erscheinungen«: die Bestimmung durch das diskrete >Ding< und seine Eigenschaften weicht so der Objektivierung von Beziehungen mit Hilfe von Gesetzen. Damit wird hier die Relationalität, und d. h. immer auch die Relativität, zum Garanten der Rationalität. »Das Gesetz muß als das erkenntniskritische Fundament xar' lf,ox~v anerkannt werden: nicht als Relation, die sich an anderweitig begründete Dinge anlehnen muß, sondern als die Voraussetzung unter der wir allein von Dingen sprechen können.« 264 Die sich damit abzeichnenden beiden Typen von Bestimmung stehen allerdings in einem komplexen Verhältnis zueinander. Obwohl einerseits aus logischer Sicht nun klargeworden ist, daß die vermeintlich ursprüngliche, substantielle Einzelbestimmung sich erst dank bestehender gesetzmäßiger Relationen gewinnen läßt und insofern ihren Primat an diese Gesetze abtreten muß, scheint ihr andererseits ein versteckter struktureller Vorteil zuzukommen, der sie trotzdem immer wieder dominieren läßt. Denn »Überall wurde hier eine logische Identität und Konstanz gesucht, und überall verwandelte sie sich in eine dingliche und räumliche«.26S Cassirer versäumt es, einen Grund für diese Tendenz zur Verdinglichung anzugeben. Aber es ist denkbar, daß die diskrete Dingvorstellung im Kampf darum, wie Invarianz zu fassen sei, einen stillen Verbündeten auf ihrer Seite hat: nämlich die Anschauung. Denn der LS, 187. G. W. Leibniz, in: Die philosophischen Schriften, Band III, S. 612, vgl. bes. Band II, S. 262, 268, 282 f, Band IV, S. 491. 264 LS, 338, Hervorh. C. S. 265 LS, 294. 262 263

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Dingbegriff ist im Grunde nicht die Antwort darauf, wie Konstanz zu denken, sondern vielmehr darauf, wie sie vorzustellen sei. Es ist die >Logik des SichtbarenLogik des Raumes< führt. Das der Anschauung zugängliche und >offen-sichtliche< Bild der Beharrung ist nämlich das des gleichbleibenden, im - seinerseits beharrenden- Anschauungsraum lokalisierten Anschauungsobjekts. Die von Cassirer kritisierte »Verwandlung« der Konstanzforderung in die Vorstellung räumlicher Einzelsubstanzen wird also wahrscheinlich motiviert- und erhalten- von der Vermischung logischer und anschaulicher Forderungen. Diese anschauungsverhaftete >Logik des Sichtbaren< verbirgt sich auch hinter dem traditionellen Topos der >Realität als Anwesenheitsichtbarnoch nicht< zum >nicht mehr< (sichtbar). 267 In dieser Perspektive erscheint daher die Zeit als das nur im Vergehen Bestehende, schlechthin Unwirkliche, während sich der Raum als das, worin sie vergeht, behauptet und erhält. Und so erwirbt er sich, z. B. im Begriff der Cartesischen >res extensaInvarianz>In der Geschichte der Philosophie bedeutet diese Ansicht [Leibnizens] die Auflösung einer Verbindung, die bisher der Rationalismus selbst zwischen den Begriffen der Realität und der Gegenwart stillschweigend angenommen hatte.substanzlose< sind, die nichts >sind< außer ihrer Sukzession. Auch das Riechen, Schmecken und Fühlen verweisen nicht primär auf ein Distanziert-Räumliches, dessen Essenz Cartesisch durch die geometrische Eigenschaft der Ausgedehntheit bezeichnet werden könnte. 26 8 LS, 290, Hervorh. C. S., das Wort >ist< wurde von Cassirer hervorgehoben. 266

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gungen der Anschauung - als >substantielles Verharren im Raum< bzw. als >absolute Gegenwart< zu denken versucht. Die im dritte9 und vierten Teil dieser Arbeit noch stattfindende Diskussion der epistemologischen Herausforderungen der Relativitätstheorie und Quantentheorie wird ergeben, daß dieses Modell auch etwa dreihundert Jahre nach Leibniz immer noch zum selbstverständlichen Interpretationsarsenal der Physiker gehört - selbst wenn dies heute noch größere Schwierigkeiten auf den Plan ruft als bereits zu seiner Zeit und Leibnizens Einwände ebenso triftig sind wie ehedem. Leibniz stellt dieser konservativen >Raum-LogikLogik der Zeit< entgegen, die die vermeintlichen Absoluta in Bezüglichkeit zurückübersetzt. Daher wehrt er sich vehement gegen Newtons Auffassung von Raum und Zeit als >Container>Zeitbestimmungen apriorinach RegelnJetzt< wird daher möglich sein- nicht insofern wir in ihm die Zeit gleichsam zum Stehen bringen, sondern in ihm die Beziehung auf Vergangenheit und Zukunft notwendig mitdenken und somit die Gesamtreihe des Geschehens begrifflich repräsentieren. Bestimmtheit des Realen im Zeitmoment kann also nicht eine sinnlich-einzelne Gegenwärtigkeit bedeuten, sondern eine begriffliche Fixierung, wonach der gegenwärtige Zustand das Gesetz seiner Erzeugung und das Gesetz seiner Fortsetzung in sich trägt.etwas< im Bewußtsein unverzichtbaren Leistungen der Re-produktion und Re-kognition erscheinen als Teilmomente des einen Vorganges der Re-präsentation, der seinerseits die Struktur einer kontinuitätsverleihenden, gesetzlichen Verflechtung aufweist. 273

274

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Resultat und nicht Voraussetzung repräsentierender Leistung. Angesichts der Zeitstruktur selbst wird dies vollkommen deutlich. Denn die »Realität des Zeitmomentes« ist nur verbürgt, wenn man ihn als »Repräsentanten des zeitlichen Gesamtprozesses« ansieht. 279 Wüßte man den einzelnen Gegenwartsmoment nicht als eingebettet in den zeitlichen Ablauf, d. h. als den, der eben noch Zukunft war und gleich zum Vergaugenen werden wird, so hätte man überhaupt kein Gegenwarts- bzw. Zeitbewußtsein. Also ist es erst die im Gesetz ausgesagte Gesamtheit der Reihe, die jedem einzelnen Reihenglied seine Bestimmtheit als Einzelnes ermöglicht. Der hier bereits aufscheinende Zusammenhang von Bestimmung, Grenzsetzung, Repräsentationsleistung, Virtualität, Zeitbewußtsein und Realitätsbegriff wird im folgenden noch weiter zu entwickeln sein. Cassirer jedenfalls faßt den Leibnizschen Entwurf in seinen wesentlichen Punkten folgendermaßen zusammen: »In der logischen Entwicklung haben sich nun bisher vor allem drei allgemeine Systeme von Bedingungen herausgehoben. Als das erste Moment der Bestimmung erkannten wir die Quantität. Was wir als real denken sollen, bedarf vor allem der Objektivierung zur Größe. Zugleich aber zeigte sich, daß die Größe, wie sie in der elementaren Mathematik gedacht wird, für die erkenntniskritische Aufgabe nicht ausreicht. Die Wissenschaft der Quantität mußte daher durch ein neues Prinzip vertieft werden: so entstand im Gesetz der Kontinuität die neue Analysis des Unendlichen. Den begrifflichen Voraussetzungen dieser Analysis müssen nunmehr die Bestimmungen des Realen unterworfen gedacht werden: nicht durch die Bestimmtheit als gegebene Größe, sondern durch die ursprünglichen Bedingungen der Größenerzeugung muß es also determiniert werden. Schließlich haben wir in Raum und Zeit Systeme von Relationen erkannt, die für alle empirischen Inhalte die Voraussetzung bilden: Bestimmtheit innerhalb dieser Systeme ist also die dritte Charakteristik, durch die wir vorläufig die gesuchte Realität begrifflich umgrenzen können.« 280 Quantität, Kontinuität, Raum und Zeit - oder bezeichnet durch die entsprechenden Erkenntnisinstrumente: Zahl, Funktion, Nebeneinander und Nacheinander- sind also die von Leibniz eingebrachten Grundhinsichten, gemäß denen eine Bestimmung zum Realen möglich wird. Und Cassirer macht sich diese Analyse zu eigen.

279 280

LS, 293, Hervorh. C. S. LS, 284, Cassirers Hervorh.

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3. Ding und Eigenschaft, Kausalität, Finalität: Kant Die Begriffe dieser letzten Gruppe wirken wie Überbleibsel des Kantischen Kategorienkosmos. Man erkennt insbesondere die ersten beiden Momente der Relationskategorie wieder: »substantia et accidens« sowie »Kausalität und Dependenz«. 281 Der Finalitätsgesichtspunkt gehört zum Reflexionsbestand der >Kritik der UrteilskraftSubstanzKausalität< und >Finalität< als erfahrungsbezogene Konkretisierungen, sozusagen als verschiedene Modalitäten der abstrakten Leibnizschen Zusammenhangsforderung, d. h. als Varianten des Bestimmungsmittels >FunktionZahl, Funktion, Zeit und Raum< beruft und vor welchem philosophischen Hintergrund er dies tut, um zu begreifen, wie er es wagen kann, von den stolzen zwölf Kategorien der >Kritik der reinen Vernunft< nur zwei übrigzubehalten. Die Momente >Qualität< - mit ihren drei Untermomenten >Realität, Negation, Limitation< - und >ModalitätMöglichkeit, Dasein und NotwendigkeitQuantität< abhandelt, ist für Cassirer mit der einheitensetzenden Funktion der Zahlkategorie bereits abgegolten. Soweit ließen sich die Cassirerschen >Vorschläge für Erfahrungsinvarianten< als produktive Synthese bestehender, historischer Vorgaben werten. Zum anderen können seine Kategoriekandidaten aber auch systematisch interpretiert werden, und zwar geleitet von der Frage nach der jeweiligen Funktion der verschiedenen Formen für die zentrale BeKrV, B 106. Man kann Raum, Zeit, Zahl, Substanz und Kausalität auch als Aufgreifen der »Zeitreihen« bzw. »ZeitordnungsGrenze< suggeriert, im Gegensatz zu der vom >Teil>das logische Minimum, ohne welches sich keine Art von Gegenständlichkeit denken läßt«. 286 PSF I, 20. 287 Ebd. 288 E.Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: STS, 101, vgl. a. ebd. 99 ff. 283 284

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schaffenden, >de-finierenden< Tätigkeit: das Setzen und Fixieren der Grenze erlaubt es, nun das >Seihe< vom >Anderen< zu unterscheiden, d. h. überhaupt zu unter-scheiden. Die Bestimmtheit der Grenze ist >relativ< zu ihr, aber nichtsdestoweniger >eindeutig>Wir sahen wie mitten im Prozeß selbst dennoch ein individuelles, in sich bestimmtes >Sein< möglich wird;- sofern wir es nicht als absolut denken, sondern in ihm nur die eindeutige relative Bestimmtheit als Grenzwert bezeichnen.«290 2. Welchen gedanklichen Zuwachs erbringt dem gegenüber die Zahl? Sie erweitert das Paradigma der ur-teilenden Grenzsetzung durch die Idee des festen Maßes hin zu einer universellen Ordnung des Abgrenzens; insofern bezeichnet Cassirer sie als >>das Schema der Ordnung und Reihung überhaupt«. 291 Denn im Zählen, der im Prinzip beliebig oft wiederholbaren Operation der Grenzsetzung im gleichbleibenden Abstand eines Grundmaßes, entsteht erst die geordnete Reihe. Die Asymmetrie dieser neuen, offenen Reihenstruktur garantiert für Cassirer die Eigenständigkeit der Zahl gegenüber dem rein symmetrischen Verhältnis von Identität und Differenz. Versteht man so die Zahl als Grundeinheit, das Zählen als Grundordnungsmuster, ergibt sich, daß sie >>Aufnahmestätte für alles Erfassen und Begreifen konkreter Ordnungen« 292 sein kann. Daß Cassirer das mathematische Konzept der Zahl damit unbedenklich zur >>eigene[n], ideale[n] Norm« 293 des Denkens als solchem erhebt, ist also nur Ausdruck der an Leibniz geschulten, rein relationalen Grundkonzeption. Hier wird nicht etwa, wie so oft zuvor, die Mathematik als der eine, unerschütterliche Beweis der >>glücklich sich selbst erweiternden Vernunft«294 ihrer vermeintlichen Unantastbarkeit wegen zum Wissensparadigma erhoben, sondern umgekehrt läßt eine neue Sicht der Erkenntnis die Mathematik in anderem Licht erscheinen. >>Diese Erkenntnisform ist es, von der die allgemeine Wissenschaftslehre, die Mathesis universalis, handelt. [ ... ]sie erstreckt sich auf alles, was sich nach >Ordnung und Maß< bestimmt. Und in dieser Bestimmung erscheint[ ... ] der Ordnungsbegriff als das allgemeinere, der Maßbegriff als das speziellere Motiv. [ ... ]Die eigentlich entscheidende CharakteLS, 286. Ebd., Hervorh. C. S. 291 PSF III, 408. 292 PSF III, 402. Vgl. dort auch die Rede von der Zahl als >>schlechthin allgemeiner ideeller Maßstab der Betrachtung>universellen Zeichensystem«. 293 PSF III, 408. 294 Vgl. KrV, B740. 289 290

Von Kant zu Cassirer

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ristik des >Gegenstandes< der Mathematik drängt sich mehr und mehr in den einen Grundbegriff der Ordnung zusammen. Bei Leibniz ist dieser gedankliche Prozeß vollendet.«295 Die Mathematik zeigt sich als der Bereich, in dem der relationale Ordnungszusammenhang, der alles Denken und Wissen konstituiert, als solcher hervortreten kann, da er frei von substantialisierenden, empirischen Bedeutungen konstruiert wird. Die Mathematik ist »reine Beziehungslehre« 296 und deswegen ist sie von herausragender epistemischer Bedeutung. Was eine gewisse Zahl >istsubstantieller Rest< außerhalb der definierenden Relation übrig. Im Bereich der mathematischen Symbolik kann daher nicht geleugnet werden, daß die Bestimmtheit des Einzelnen einzig und allein eine Funktion des in sich differenzierten und zugleich integrierten Gesamtkontextes ist. Diese signifikante Bedeutung des Zahlbegriffs erweitert und klärt sich für Cassirer in der Entwicklung der Mathematik hin zum Begriff der mathematischen >GruppeElement und >Operation< aufgehoben« 297 wird: die Operation selbst wird hier als Element betrachtet, und insofern verbleibt als einziges >Fundament< des mathematischen Operierens die Bezüglichkeitsform selbst. »For here I found a new confirmation of my general conviction that the concept of group is of universal applicability and extends over the whole field of human knowledge.« 298 Diese epistemologische Kehrtwendung vom Anschaulich-Einzelnen hin zum Kontinuum der Relationalität ist allerdings nicht im Sinne einer Überwindung oder Aufgabe des Diskretionsgesichtspunktes zu verstehen. Dieser bleibt nach wie vor unentbehrlich, nur daß er nun selbst in seiner unaufhebbaren Beziehung zum Gesichtspunkt der Kontinuität gesehen wird und PSF 111, 410, Hervorh. C. S. SFB, 123. 297 PSFIII, 413. 298 Vgl. a. PSF 111, 411 ff. Cassirer diskutiert dort den >>inneren methodischen Zusammenhang>allgemeine ÜberzeugungÜberzeugung< von SFB an eine wirkliche >Invariante< Cassirerschen Denkens bezeichnet, belegt unter anderem der noch in seinem Todesjahr herausgegebene Aufsatz, aus dem dieses Zitat stammt. Er ist speziell der epistemologischen Bedeutung der Gruppentheorie und ihrer Verbindung zum Aufbau der Wahrnehmungsleistungen gewidmet. Vgl. E. Cassirer: Reflections on the Concept of Group and the Theory of Perception, in: SMC, 290, vgl. SFB, 125. 29 5 296

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1. Vom geschlossenen zum offenen Modell

damit aus seiner bisherigen Isolierung und Verabsolutierung heraustritt. Man kann in diesem Zusammenhang die Überlegungen miteinbeziehen, die Kant im Methodenteil der >Kritik der reinen Vernunft< zur strikten Trennung der philosophischen von der mathematischen Erkenntnis im Sinnezweier grundsätzlich möglicher Modi der Vernunft bewegen. Er charakterisiert ihren Unterschied folgendermaßen: >>Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe.« 299 Zwar ist für Kant der Begriff der Konstruktion noch ganz an die Anschauung gebunden, da er sich nur so erklären kann, daß sie zu synthetisch-apriorischen Einsichten befähigt, aber seine Analyse überschreitet unmerklich den von ihm selbst vorgebrachten Standpunkt - wie auch schon andernorts. Denn das Konstruieren faßt er allgemein als >>a priori darstellen«, 300 und er selbst ergänzt, daß die Mathematik dabei gar nicht auf eine geometrische und ostentative, also anschauliche, Konstruktion angewiesen ist, sondern >>vermittelst einer symbolischen Konstruktion eben so gut«3° 1 zum Ziel kommt. >Konstruieren< bedeutet also im Grunde >a priori Symbolisieren< und dieser Ausdruck bezeichnet mit erstaunlicher Genauigkeit jenen Kern der mathematischen Tätigkeit, der für Cassirer gleichzeitig die elementare Grundlage jeder anderen, wie auch immer gearteten, verstehenden Tätigkeit ausmacht. Insofern hebt Cassirer die Kamische Trennung von mathematischem und diskursivem Verstehen zugunsten eines einzigen Vernunftmodus auf, den man unter Verwendung des Kamischen Terminus nicht unzutreffend >symbolische Konstruktion< nennen könnte. Was bei Kant >Konstruktion< heißt, nennt Leibniz >Gesetz< und Cassirer >FunktionAuseinander< aufgefaßt werden, die jene Dimensionen erst aufspannen, ohne die Relationalität undenkbar wäre. Doch scheinen sich die bisher behandelten vier >Kategorien< ihnen gegenüber wie formal-abstrakte Ordnungsgesichtspunkte gegenüber ihren ersten Konkretisierungen zu verhalten. So wäre z. B. die Ordnung der Zeit ohne die messend-reihende Grundoperation der Zahl nicht bestimmbar;302 andererseits aber scheint sie sich in derem abstrakten Grundmuster auch nicht zu erschöpfen. Die Ordnung der Zahl aber beruht ihrerseits auf der >Urfunktion< der Grenzsetzung, die Identität und Differenz erst hervorbringt. Man könnte aber ebensogut umgekehrt argumentieren, daß das Zählen, Bestimmen oder Setzen einer Grenze als Tätigkeit ohne den Gedanken des Nacheinander unsinnig wäre. Insofern liegen wiederum Interdependenzen zwischen den genannten Ordnungsformen vor und >Identität, Differenz, Zahl und Funktion< scheinen nicht trennbar vom Begriff der Zeit. Vergleichbares läßt sich auch für die >Raum-Kategorie< festhalten. Das Nebeneinander des Raumes kann als das Produkt differenzierender Grenzsetzungen gesehen werden, die ein >Zwischen< aus sich entlassen, das Ort immer neuer Grenzsetzungen werden kann. Die Tatsache, daß man das Argument wiederum umkehren kann und die Möglichkeit von Grenzsetzungen an einen >Raum< rückbinden muß, erhärtet die Annahme, daß es sich abermals um eine echte Wechselbedingtheit der Begriffe handelt. 3. >Ding und EigenschaftKausalität< und >Finalität< scheinen demgegenüber noch speziellere Ordnungsweisen zu bezeichnen, und dementsprechend lockern sich hier auch die logischen Verflechtungen etwas. Zwar läßt sich immer noch eine gewisse Abhängigkeit der Bedeutungen voneinander konstatieren. Denn zum einen setzen diese drei Gesichtspunkte alle bisher behandelten, Bestimmtheit und Zuordnung erst erlaubenden Formen zu ihrem Verständnis voraus. Zum anderen aber gewinnen die Konzepte von >ZahlFunktionRaum< Genau diesen Gedanken findet Cassirer bei Leibniz ausgesprochen: »Die Zeit nun denkt Leibniz als einen Spezialfall des allgemeinen Grundbegriffs der Reihe: in dem prägnanten Sinne, den dieser Begriff in der neuen Analysis erhalten hat.die Möglichkeit der Bestimmung innerhalb einer ReiheZeit< in diesen Spezifikationen an Bedeutungsfülle und nehmen quasi erst phänomenalen Charakter an. So setzt die Kategorie >Ding und Eigenschaft< diskrete Einheiten, die das Zählen, und damit auch alles weitere Verbinden, erst erlaubt, indem sie ihm konkrete Anhaltspunkte gibt. Sie führt zugleich die Prädikation ein, also das Zuordnen gewisser Bestimmungen zu diesen gesetzten Grundeinheiten. Damit wird eine sekundäre Weiterbestimmung möglich. Der Begriff von >Ursache und Wirkung< erscheint dagegen wie eine Konkretisierung des Funktionsgedankens: er fordert und ermöglicht die gesetzliche Verknüpfung des Phänomenalen. Gäbe es keine reihende Zuordnung von Ursache und Wirkung, keine wechselnden Ereignisse, so blieben zudem die einzelnen Zeitmomente ununterscheidbar, und man vermöchte noch nicht einmal eine Zeitstruktur zu fassen. In analoger Weise wären die Raum>teile< und die Raumstruktur nicht differenzierbar, unterschiede man nicht verschiedene, lokalisierbare Phänomene anhand ihrer unterschiedlichen Prädikate dank der Kategorie von >Ding und EigenschaftFinalität< schließlich erlaubt die Gesamtintegration der durch die beiden anderen Kategorien geschaffenen, diskretisiert-integrierten Struktur. Ohne den Begriff des Ziels könnten diese Ordnungsmomente nicht als bloße Teilmomente eines Gesamtprozesses und einer Einheit gewertet werden. Doch in dieser dritten Gruppe von Ordnungsweisen werden schon jene Unsicherheiten erkennbar, die im Prinzip für alle hier untersuchten Formen gelten: wie >notwendigunentbehrlich< ist beispielsweise die Kategorie >Ding und Eigenschaft