Der Architekt, der Koch und der gute Geschmack 9783764381608

Eine faszinierende und perspektivenreiche Analyse der Gemeinsamkeiten zwischen dem Zubereiten von Speisen und dem Errich

189 52 12MB

German Pages 160 [157] Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Architekt, der Koch und der gute Geschmack
 9783764381608

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Architektur und Speisenbau
Maß und Zahl in der Architektur
Das rechte Maß im Kochen
Werkstoffe, Farbstoffe
Der heimische Herd
Fastengebote und Entgleisungen des Begehrens
Die Reproduzierbarkeit des Geschmacks
Sinnhafte Architektur in einer globalisierten Welt
Der Esser und seine Ahnen
Herd und Heim
Vom Pot au feu zum Processed Food
Die Globalisierung des Geschmacks
Über das Wesentliche in der Architektur
Die Speisenfolge
Slow Food
Besuch im Le Manoir oder ein kulinarisch-architektonisches Gesamtkunstwerk
Architektur backen
Biografien
Abbildungsnachweis

Citation preview

Der Architekt, der Koch und der gute Geschmack

Petra Hagen Hodgson Rolf Toyka Der Architekt, der Koch und der gute Geschmack

Herausgegeben für die Akademie der Architektenund Stadtplanerkammer Hessen

Birkhäuser Basel · Boston · Berlin

Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Gaggenau Hausgeräte GmbH

Konzeption und Redaktion Petra Hagen Hodgson, Königstein (Leitung) Rolf Toyka, Wiesbaden

Übersetzung Petra Hagen Hodgson, Königstein Beiträge von Peter Davey, Ian Ritchie und Claudio Silvestrin aus dem Englischen Beitrag von Carlo Petrini aus dem Italienischen

Graphische Gestaltung Studio Joachim Mildner, Düsseldorf/Zürich

Bildverarbeitung farbo Print + Media, Köln

Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erschienen: ISBN-13: 978-3-7643-7621-5 ISBN-10: 3-7643-7621-X

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

© 2007 Birkhäuser Verlag AG Basel · Boston · Berlin Postfach 133, CH-4010 Basel, Schweiz Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ' Printed in Germany

ISBN-13: 978-3-7643-7331-3 ISBN-10: 3-7643-7331-8

987654321 www.birkhauser.ch

Inhalt

6

Vorwort

94

Barbara Ettinger-Brinckmann/Rolf Toyka

8

Einleitung

Der Esser und seine Ahnen Andreas Hartmann

100

Petra Hagen Hodgson

Herd und Heim Orte der Speisezubereitung im Wandel der Zeit Peter Davey

14

Architektur und Speisenbau Peter Kubelka

110

Vom Pot au feu zum Processed Food Das Restaurant als Ort der Moderne

22

Maß und Zahl in der Architektur

Wilhelm Klauser

Paul von Naredi-Rainer 120 30

Das rechte Maß im Kochen

Die Globalisierung des Geschmacks Udo Pollmer

Renate Breuß 124 38

Werkstoffe, Farbstoffe

Über das Wesentliche in der Architektur Claudio Silvestrin

Annette Gigon im Gespräch mit Petra Hagen Hodgson

128

Die Speisenfolge Ein dramaturgisch aufgebautes Gefüge

50

Der heimische Herd

Onno Faller

Architekturtheoretische Betrachtungen zum Bauen und Wohnen, nebst Essen und Trinken

138

Fritz Neumeyer

60

72

Fastengebote und Entgleisungen des Begehrens

Carlo Petrini

142

Besuch im Le Manoir oder ein

Anmerkungen über Architektur und Gastronomie

kulinarisch-architektonisches Gesamtkunstwerk

Stanislaus von Moos

Petra Hagen Hodgson

Die Reproduzierbarkeit des Geschmacks

146

Ákos Moravánszky

82

Slow Food

Architektur backen Ian Ritchie

Sinnhafte Architektur in einer globalisierten Welt

152

Biografien

Gion Caminada

156

Abbildungsnachweis

Vorwort Barbara Ettinger-Brinckmann/Rolf Toyka

Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche (Gustav Mahler)

So wie der Inhalt unserer Kühlschränke ein Abbild der Globalisierung ist, gleicht sich auch das gebaute Umfeld auf der ganzen Welt in seinem städtebaulichen und architektonischen Kleid immer mehr an. Aber hält die Qualität der Produkte damit Schritt? Einmal schlecht gekocht ist einmal schlecht gegessen – sofern kein gesundheitlicher Schaden mit eventuell verheerenden Folgen davongetragen wird. Gebautes jedoch ist von langer Lebensdauer und prägt unseren Lebensraum, unsere Dörfer, Städte und Regionen über Jahrhunderte. Umso wichtiger ist die Qualität der gebauten Umwelt, und zwar nicht nur im funktionalen und konstruktiven, sondern auch im ästhetischen Sinne. Die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ ist viel beklagt worden. Sie fängt beim einzelnen, schlecht entworfenen Bauwerk an. Architektur stellt einen bedeutenden Teil unserer Kultur dar. Seit Jahren setzt sich die Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen und mit ihr die dazugehörige Akademie für ein größeres Qualitätsbewusstsein ein und betont immer wieder, dass das Bauen neben der Berücksichtigung ökonomischer und funktionaler Anforderungen vor allem auch einen Beitrag zur Bau-Kultur zu leisten hat.

Um Qualität einfordern und beanspruchen zu können, braucht man Wissen und Sensibilität. Wir leben in einer hochspeziali6

sierten Welt. Sie ruft nach vernetztem Denken und gegenseitigem gedanklichen Austausch zwischen unterschiedlichen Disziplinen, um zu neuen Sichtweisen zu gelangen. Innerhalb der Grundlagenarbeit der Akademie der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen findet deshalb seit über zehn Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit Schnittstellen zu anderen Kulturbereichen statt. Beispielhaft seien hier „Architektur und Musik“, „Architektur und Literatur“, „Architektur und Film“ und „Architektur und Theater“ erwähnt. So hat die Idee zu diesem Buch ihren Ursprung in einem interdisziplinären Symposium mit dem Titel „Architektur und Kochkultur“, das die Akademie der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen in Kooperation mit dem Deutschen Architektur Museum unter der Leitung von Petra Hagen Hodgson und Rolf Toyka im Jahr 2004 ausrichtete. Hier wurden grundsätzliche Beziehungen und Parallelen zwischen den beiden Künsten aufgedeckt. Die ersten, seinerzeit gewonnenen Erkenntnisse haben sich inzwischen mit neuen und vertieften Gedankengängen zu diesem Textband verdichtet.

Warum erschien uns das Thema der Beziehungen zwischen der Architektur und dem Kochen als besonders untersuchenswert? Beide Künste sind wesentliche „LebensMittel“. Wenn uns die Frage der Qualität beschäftigt, dann zeigt sich gerade beim Kochen genauso wie beim Bauen, dass Qualität nicht abhängig sein muss von hohen Kosten. Vielmehr kommt es darauf an, mit guten Grundzutaten bzw. -materialien – und diese können ganz einfache sein – intelligente, kreative Lösungen zu erarbeiten. Kochwerkstatt

Einige Kritiker haben anlässlich des Symposiums die Frage gestellt, ob es nicht dringendere Probleme gäbe, als sich Gedanken über das Bauen und das Kochen zu machen. Es ist unbestritten, dass die derzeitige wirtschaftliche Lage als schwierig bezeichnet werden muss. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass kulturelle Ansprüche – seien dies ästhetische wie ethische – dadurch an Bedeutung verlieren. Im Gegenteil, wenn es im Denken nur noch um Effizienz, Kosten und Fragen kurzfristiger Rendite geht, dann besteht die Gefahr, dass wir kulturlos werden. Vielmehr ist es eine besondere Herausforderung, trotz eingeschränkter Rahmenbedingungen mit Engagement und Kreativität kulturelle Leistungen zu erbringen, die sich obendrein langfristig „rechnen“. Wahre Kunst ist nichts Exklusives oder Elitäres, einer ihrer Werte beinhaltet das „Maß-halten“ – im Umgang mit unseren Ressourcen, mit Raum, mit ästhetischen Mitteln. Heute wird allzu oft

Modisches, Schrilles, Exaltiertes in der Architektur hoch geschätzt, um sich damit von der Masse abzuheben. Juhani Pallasmaa fand anlässlich des Symposiums „Architektur und Wahrnehmung“ in Frankfurt am Main (2002) scharfe Worte für den allgemeinen Trend dieser Ich-bezogenen Architektur: „Die meisten Bauten, die in der internationalen Presse der letzten Jahre angepriesen wurden, sind von Narzissmus und Nihilismus gekennzeichnet. Es wird Zeit, dass die Vormachtstellung des Visuellen endlich aufgebrochen wird zugunsten einer Re-Sensualisierung, Re-Erotisierung und Re-Verzauberung der Welt. Dabei fällt der Architektur die Aufgabe zu, die innere Welt zurückzubringen. Denn anstatt dass wir durch den architektonischen Raum unser Hier-sein in der Welt erfahren, ist die Architektur zur Kunst des gedruckten Bildes verkommen und hat ihre Plastizität und Materialität verloren. „Maß-halten“ bedeutet eben nicht ein Schielen nach Publizität und Ruhm, sondern beinhaltet ein von der Sache her besonnenes Herangehen an die gegebene Aufgabenstellung, eine Konzentration auf das Wesentliche. Dazu gehört insbesondere auch die Kenntnis von Tradition und Geschichte. Für Architektur und Städtebau, Landschaftsarchitektur und Innenarchitektur gleichermaßen wünschenswert sind innovative Lösungen, die – wie in der Kochkunst – an deren Kenntnis anschließen. Um dieses Anliegen zu fördern, beschränken sich die Initiativen der Herausgeber nicht nur auf Aktivitäten im Rahmen der Fortbildung für Architekten, Stadtplaner, Landschaftsarchitekten und Innenarchitekten. Es geht auch darum, der breiten Öffentlichkeit ein tieferes Verständnis für Fragen, die ihre gebaute Umwelt betreffen, zu vermitteln. Eine der vielen Aktivitäten, die die Kammer in diesem Zusammenhang realisiert, ist der jährlich stattfindende „Tag der Architektur“. Weil Themen der Architektur heute weit vom alltäglichen Denken und Erleben der meisten Menschen entfernt sind, wird unter der Überschrift „Architektur macht Schule“ die Annäherung an das weite Themenfeld auch gerade in der Schule gefördert. So finden nicht nur gezielte Einzelaktionen statt, sondern die Kammer ist darüber hinaus für diverse Publikationen verantwortlich, die Lehrende und Lernende mit fundiertem Unterrichtsmaterial versorgen. Von Kindesbeinen an die Lust an der Beschäftigung mit der gebauten Umwelt und Kriterien und Maßstäbe für die Beurteilung von architektonischer Qualität an die Hand zu bekommen ist deshalb so wichtig, weil aus den Schülern von heute die Bauherren und Entscheidungsträger von morgen werden, die unsere Umwelt wesentlich (mit-)bestimmen. Wenn ein Qualitätsbewusstsein einmal geweckt ist, kann gegen die oben beschriebene architektonische Entwicklung zur weltweiten Vereinheitlichung, gegen die ausschließlich auf kurzfristige Renditeerzielung ausgerichtete Architektur und gegen den Drang zum Spektakulären Widerstand geleistet werden. Auf der Ebene der Kochkunst leistet eine solche Arbeit die Bewegung Slow Food, die sich mit inzwischen über 80.000 Mitgliedern weltweit vor allem der Schulung des Geschmackssinns verschrieben hat und als Gegenbewegung zu Fast Food, verstanden als Synonym für Junk Food, erfolgreich auftritt. In der Architektur weisen in Deutschland beispielsweise die Bemühungen des Deutschen Architektur Museums, des Architekturmuseums München, der lokalen Architekturzentren und der „Stiftung Baukultur“ in diese Richtung. Wenn dieses Buch einen weiteren Anstoß geben kann, um eine relevante Bewegung zur Förderung einer wertehaltigen, qualitätsvollen Architektur zu stärken, wäre viel gewonnen. Was dieses Buch nicht liefert: Patent-Rezepte für das Kochen und das Bauen. Vielmehr geht es um die Weitergabe des Feuers, von dem Gustav Mahler sprach – durch eine zukunftsorientierte Rückbesinnung auf Tradition.

Architekturwerkstatt

7

Einleitung Petra Hagen Hodgson

Auf halbem Wege den Sacro Monte hinauf, nahe der Stadt Varese, befand sich ein einfaches, kleines Restaurant. Es bestand aus einem einzigen, langgestreckten, hellen Raum mit weiß gedeckten Tischen und hohen Holzstühlen mit Korbgeflecht. Der Raum war an den Berg gebaut, das Licht drang über weit geöffnete Fenstertüren, die in gleichmäßiger Reihung die Längsfront des Baukörpers ausmachten, in den schlicht gestalteten Raum. Diese Fenstertüren verbanden den Raum mit der Terrasse, die mit verwittertem Stein belegt und von Steinmauern umsäumt war, mit zwei Feigenbäumen, Lavendelsträuchern und Rosmarinbüschen bewachsen und einem herrlichen Blick in die Po-Ebene. Bei schönem Wetter trug der Wirt die Tische auf die Terrasse. 8

Sonntagmittags versammelten sich hier Familien mit Onkel und Tante, Oma und Opa um einen der langen Tische und tafelten bis weit in den Nachmittag hinein. Der Wirt war zugleich der Koch, oft kam er an den Tisch der Gäste, begierig zu erfahren, wie die Speisen munden – im Grunde aber, um mit ihnen die Freude an seiner Kunst zu teilen. Das Essen war immer wunderbar, wenngleich vergleichsweise einfach zubereitet mit den schmackhaftesten Produkten der jeweiligen Saison – würzigen Tomaten, tiefvioletten Auberginen, frischen, duftenden Kräutern, bestem Olivenöl, Butter und Sahne aus der nahen Molkerei. Der „Padrone“ kochte und servierte, als wären alle Gäste seine Familie. Manchmal schlossen sie sich zu einer einzigen großen Tischgemeinschaft zusammen. Dieses Gefühl des menschlichen Zusammenseins in einer Atmosphäre, die durch die warmherzige Persönlichkeit des Kochs, die sich in seinen schmackhaften Speisen manifestierte, sowie durch die bescheidene, aber klare, selbstverständliche räumliche Situation bestimmt wurde, tragen die Gäste noch heute mit sich. Manch einer hat sie immer wieder – wohin er auch kam – gesucht, allerdings in dieser natürlichen Stimmigkeit nur selten gefunden.

Dem Zusammenwirken von Architektur und Kochen nachzuspüren und damit der Frage nach dem „guten Geschmack“ näher zu kommen ist dieses Buch gewidmet: Das Bauen und das Kochen sind zwei zutiefst menschliche Tätigkeiten mit vielen Berührungspunkten. Was ist das Verbindende zwischen der Kunst des Kochens und der Kunst des Bauens? Worin gründen die Beziehungen und wie äußern sich die vermuteten Parallelen zwischen ihnen? Welche Schlüsse lassen sich aus einem Vergleich ziehen? Vor allem: Wie eigentlich tragen sie zur guten Gestimmtheit und zum Wohlbefinden von uns Menschen bei? Im Bauen wie im Kochen wird gemessen und proportioniert, geformt und gestaltet, gefügt und komponiert. Ästhetische Kategorien wie Harmonie, Proportion und Komposition, die in der Regel eher der architektonischen Gestaltung zugeschrieben werden, treffen auch auf das Kochen zu. Dass der Mensch seinen Körper als Maßstab für harmonische Maßverhältnisse nutzte, ist für die Architektur wie für das Kochen gültig. Grundlage für beide ist das verwendete Material bzw. die verwendeten Zutaten. Weiter: Welche Bedeutung haben das Kochen und das Bauen für „innermenschliche“ Empfindungen? Und darüber hinaus: Welche Rolle spielen sie für das menschliche Zusammenleben? Menschen legen „Gedächtnisarchive“1 an. Unsere Wertvorstellungen, Wahrnehmungen und (Geschmacks-)Empfindungen werden entscheidend durch unsere Erinnerungen aus unserer persönliAndreas Hartmann auf dem Symposium des DAM “Architektur und Wahrnehmung“, 21.-22. November 2002 in Frankfurt am Main 1

chen Lebensgeschichte und der tief in unser Gedächtnis eingegrabenen kollektiven kulturellen Erfahrung sozialer Rituale früherer Zeiten geprägt. Marcel Proust nannte es das „unermessliche Gebäude der Erinnerung“. Ritus, Tradition und (Geschmacks-)Erinnerung gehören ebenso zum Bauen wie zum Kochen. Wie beeinflussen sie unser heutiges Denken? Sie sind

uns präsent – nicht allein über Architekturtraktate und Kochbücher. Wie bedingen sie unser Handeln? Architekten arbeiten unter dem Anspruch, Spezialisten für die menschlichen Bezüge des Bauens und Gestaltens zu sein. Den Köchen aber ist selten bewusst, dass sich auch in ihrem Tun soziale, psychologische und ästhetische Aspekte abbilden und sie täglich aktiv an ihnen arbeiten. Kochen vermag – wie die Architektur – präzise über eine Kultur, eine Region oder einen Menschen zu berichten. Kochen bedeutet also nicht nur die Zubereitung bekömmlicher Nahrung, sondern ist der architektonischen Arbeit gleichbedeutendes kulturelles Tun – wenngleich es als solches eine vergänglichere Kunst ist.

Martin Heidegger verdanken wir indirekt eine wesentliche Erhellung der wesenhaften Verbindung zwischen dem Bauen und dem Kochen, und zwar durch sein Nachdenken über den Zusammenhang zwischen dem Bauen und dem Wohnen.2 Von der gemeinsamen etymologischen Herkunft der beiden Wörter ausgehend, veranschaulicht er, dass man sie praktisch identisch auffassen kann, im Sinne des artspezifischen „Auf-der-Erde-Seins“ von uns Menschen. Bauen umfasst so gesprochen das Bebauen bzw. die Pflege des Bodens, die „Cultura“, sowie das Erstellen von Bauten – beides Aspekte dessen, was ursprüng-

Vgl. Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken. In: Bartning, Otto (Hg): Mensch und Raum. Darmstädter Gespräch 1951, Darmstadt, 1951, S. 72-84

2

3

Ebenda: S. 73

Vilém Flusser zitiert nach: Botta, Mario: Architektur und Gedächtnis. Wege zur Architektur 2, Brakel, 2005

4

Trotz gegenteiliger Meinung wird auch heute noch die zubereitete Mahlzeit am häuslichen Esstisch vorwiegend gemeinsam eingenommen. Vgl. Leimgruber, Walter: Adieu Zmittag. In: NZZ Folio, 6/2006, S. 16-23

5

lich auch im Begriff Wohnen enthalten war. Wohnen hat zusätzlich die Bedeutungsherkunft des „Bleibens“, des „Sich-Aufhaltens“ und „Zum-Frieden-gebracht-Seins“, worin sich der Aspekt der örtlichen bzw. heimatlichen Verwurzelung widerspiegelt. Das menschliche Bauen schafft nach Heidegger den Ort und der Ort schafft den Raum, den Lebensraum des Menschen. Wenn er sagt: „Bauen (…) ist nicht nur Mittel und Weg zum Wohnen, das Bauen ist in sich selber bereits Wohnen“3, dann wird deutlich, dass „Wohnen“ umfassender zu verstehen ist, im Sinne eines anthropologischen Grundbedürfnisses, nämlich nach einem eigenen Zentrum, einer eigenen Mitte der Welt. Vilém Flusser charakterisiert dieses Bedürfnis mit seinen Worten so: „Wir wohnen. Wir könnten nicht leben, wenn wir nicht wohnten. Wir wären unbehaust und schutzlos. Ausgesetzt einer Welt ohne Mitte. Unsere Wohnung ist die Weltenmitte. Aus ihr stoßen wir in die Welt vor, um uns auf sie wieder zurückzuziehen. Von unserer Wohnung aus fordern wir die Welt heraus und wir fliehen vor der Welt in unsere Wohnung. Die Welt ist die Umgebung unserer Wohnung. Unsere Wohnung ist das, was die Welt befestigt. Der Verkehr zwischen Wohnung und Welt ist das Leben.“4 Aus diesen anthropologischen Überlegungen Heideggers und Flussers erschließt sich die Wesensverwandtschaft vom Bauen und Kochen, denn Letzteres gehört zu den elementaren Kulturtätigkeiten des Wohnens, die zur Konsolidierung des menschlichen „Zentrums“ beitragen. Wo sonst als in der Küche bzw. am Esstisch kristallisiert sich das familiäre, das gemeinschaftliche Leben am engsten und trägt damit zur emotionalen und sozialen Beheimatung (Zentrierung) des Menschen bei?5 Um diesen Esstisch herum gruppieren sich, bildlich gesprochen, die Gedanken dieses Buches – der gedeckte Tisch als Symbol für die „Mitte“ des Lebens.

Café-Restaurant in Aachen

9

Anatol Herzfeld: Parlament, Museumsinsel Hombroich 2005

6 Vgl. zu Tischordnungen: Zischka, Ulrike; Ottomeyer, Hans; Bäumler, Susanne (Hg.): Die anständige Lust. Von Esskultur und Tafelsitten, München, 1994, S. 138. Selbstverständlich gab es nicht nur „Runde Tische“, sondern vor allem auch zentral geordnete Hierarchien an rechteckigen oder u-förmig zusammengestellten Tischen oder es gab eine unverbindliche Reihung – je nachdem, welches soziale Gefüge einer Gesellschaft in der Tischordnung ausgedrückt werden sollte und soll.

Am Tisch wird nicht nur der Hunger gestillt, der den Menschen zur Nahrungsaufnahme antreibt, um zu überleben. Hier ent-

Vgl. Endermann, Heinz (Bearb.): So du zu Tische wollest gan. Tischzuchten aus acht Jahrhunderten, Berlin, 1991, S. 141

ändern, nichts seien, was gleichsam von außen an den Menschen herankomme; die „Umstände, die sich ändern, sind die

7

Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Band 2, Frankfurt am Main, 1980

faltet sich seine Fähigkeit zur Teilnahme an der menschlichen Gemeinschaft. Immanuel Kant wusste um diese Bedeutung, wenn er mittags zu sich nach Hause an den gemeinsamen Tisch einlud. König Arthurs Tafelrunde, um die sich alle Beteiligten gleichberechtigt versammelten, steht noch heute Pate für „Runde Tische“ als Ausdruck einer Gemeinschaft von Gleichberechtigten.6 Viele über Jahrtausende entwickelte Tischsitten und Tischordnungen belegen die zentrale Bedeutung der gemeinsamen Nahrungsaufnahme für den Menschen. Nicht umsonst wählte der Soziologe Norbert Elias für seine Studie Über den Prozess der Zivilisation die menschlichen Sitten am Tische, um anhand sich wandelnder gesellschaftlicher Normen wie dem Verbot des Rülpsens am Tische oder dem gesitteten Essen mit Messer und Gabel den allgemeinen Zivilisationsprozess darzulegen. Das Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle und Schamgrenze7 erklärt Elias damit, dass die Umstände, die sich

Beziehungen zwischen den Menschen selbst.“8 Letztendlich beschreibt er damit auch die Geschichte der Privatisierung und Individualisierung des Menschen,9 der die Architektur den entsprechenden räumlichen Rahmen liefert.

8

Bis hin zur „Tyrannei der Intimität“. Vgl. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main, 1983. Nur scheinbar im Gegensatz hierzu steht, was Terence Riley „The UnPrivate House“ genannt hat (gleichnamige Ausstellung im Museum of Modern Art, New York) oder was im Katalog des DAM zur Revision der Postmoderne 2003 unter dem Oberbegriff „Leben ohne Nostalgie“ gezeigt wurde: vor allem das Einfamilienhaus „Aura“ von Foba Architekten in Tokio, das ohne Badezimmer und nur mit einer sehr kleinen Küche mit Waschbecken und einem Kühlschrank auskommt. Zum Essen müssen die städtischen Nomaden ins nahegelegene Restaurant, zum Baden in die öffentliche Badeanstalt. 9

Weiss, Richard: Häuser und Landschaften der Schweiz, Zürich, 1959, S. 101

10

Der römische Architekturtheoretiker Vitruv hat uns ausführlich beschrieben, dass das Feuer und das Dach zu den ursprünglichsten und wesentlichsten Bedingungen der Häuslichkeit gehören. Das Dach schützt als dritte Haut des Menschen vor den Unbilden der Witterung, vor Wind, Regen und anderen Gefahren. Das Feuer spendet Wärme, Licht und Wohnlichkeit. Es war Opferstätte, Werkstattort und machte und macht noch heute das Kochen und die Konservierung von Nahrungsmitteln möglich. Sesshaftigkeit und letztendlich Urbanisierung konnten sich nur mit der Möglichkeit zur Konservierung und Aufbewahrung von Nahrungsmitteln entwickeln. Wie Richard Weiss in seiner Untersuchung der Häuser und Landschaften der Schweiz darlegt, wurden der Besitz des eigenen kostbaren Feuers und damit des eigenen Rauches sogar „zur juristischen Bedingung des vollen Markgenossenrechtes auf dem Lande und der bürgerlichen Mündigkeit in der Stadt. (...) Das eigene Feuer ist also im älteren Recht nicht nur ein Zeichen der Häuslichkeit, sondern geradezu dingliche Voraussetzung der Teilnahme an den markgenossenschaftlichen Rechten und Pflichten“10 eines Bürgers. Mit fortschreitender Bautechnik, Rationalisierung und Differenzierung des Wohnens vom Einraumhaus bis hin zum „vielräumigen, nach mannigfachen Zwecken spezialisierten Wohnapparat, welcher die natürliche Hausgemeinschaft und auch die Familie weitgehend trennt und auflöst“11, rückte das „Urfeuer“ in den Hintergrund. Wir verdanken den Bemühungen der 1920er Jahre um ein Befreites Wohnen, so der Titel eines kleinen Büchleins von Siegfried Giedion aus dem Jahre 1929, welches einem neuen Leben in einer offenen, demokratischen Gesellschaft Ausdruck verleihen sollte, den freien Grundriss, den fließenden Raum, aber auch die weitgehende Funktionalisierung unserer Wohnräume mit der Degradierung der Küche zum rein funktionalen Kochlabor. Parallel dazu vollzog sich die Rationalisierung und Funktionalisierung des Kochens, zugeschnitten auf die berufstätige Frau, verkörpert in Fast-Food-Fertigprodukten aus der

Weiss, Richard: Volkskunde der Schweiz, Zürich, 1946, S.98/99

11

Vgl. Otl Aichers Buch: Die Küche zum Kochen. Das Ende einer Architekturdoktrin, München, 1982

12

Dose oder aus dem Tiefkühlfach. Wenn die Küche als zentraler (Lebens-)Raum des Hauses nur noch als rationalisiertes, technisches Laboratorium, als Funktionsraum betrachtet wird, wo fast alles per Knopfdruck erledigt werden kann, entspricht eine solche Auffassung räumlich nicht der Bedeutung, die der Küche zukommt, weil das seelische Empfinden des Behausens (und Bekochens) ausgeschaltet ist. Zwar ist es heute Mode, die Küche und mit ihr das Speisezimmer als Accessoire moderner Lifestyle-Vorstellungen zu arrangieren.12 Ihre Rolle als sinnstiftender Raum wird damit verkannt.

Heute noch benutztes Backhaus im Zentrum von Salouf, Graubünden

Aus brandtechnischen Gründen schiebt sich der immer noch funktionstüchtige Brotbackhofen dieses Hauses von 1637 durch die Außenwand. Bergdorf Mons, Graubünden

Abkühlendes Brot im Backhaus von Salouf

Neben der Küche kommt die Tätigkeit der Nahrungszubereitung und -aufbewahrung freilich noch in vielerlei anderer architektonischer Gestalt im Stadt- und Landschaftsbild zum Tragen, und zwar nicht nur in Form von Getreidesilos, Schlachthäusern und gusseisernen Markthallen, die den Architekten der 1920er Jahre konstruktiv und formal zum Vorbild wurden, sondern zum Beispiel im Backhaus: In ihm wurde und wird das wohl wichtigste Nahrungsmittel vieler Völker13 hergestellt: das Brot. Um Brot zu backen, braucht man gleichbleibende Hitze von allen Seiten. In Westeuropa kochte man noch sehr lange auf dem offenen Feuer oder der offenen Herdplatte. Sofern der Stubenofen mit entsprechender Zusatzeinrichtung die Aufgabe des Backens mit gleichbleibender Hitze nicht erfüllen konnte, wurde deshalb ein spezieller Backofen in der Küche des Hauses eingebaut, oder man erstellte ein eigenes Backhaus, das meistens von mehreren Familien gleichzeitig genutzt wurde. Im Graubündener Dorf Salouf, nahe bei Savognin, backen die Einwohner noch heute ihr Brot in so einem gemeinschaftlichen Backhaus. Von den Touristen unbeachtet, steht es direkt am Hauptplatz des Dorfes und gehört mit zum öffentlichen Leben der

13 Paczensky, Gert von; Dünnebier, Anna: Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München, 1999, S. 77 ff. Schon die alten Ägypter verzehrten Brot. Wenn es knapp wurde, fanden Getreideaufstände oder Plünderungen von Bäckereien statt. Im alten Rom zur Zeit der Republik gab es ein Getreidegesetz von 123 v. Chr., das jedem Bürger, ob arm oder reich und unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, ein Recht auf kostenloses Brot einräumte. Auch zur Zeit der Französischen Revolution gab es ein vergleichbares Dekret, welches darüber hinaus ein einheitliches, für alle gleiches Brot vorschrieb.

Dorfgemeinschaft.

Wenn man nun nach den Kriterien für die Qualität von Bauwerken oder Speisen fragt, stellt sich die Frage nach dem guten Geschmack. Was genau ist Geschmack? Er ist – wie das „Wohngedächtnis“, das wir in uns tragen – ein Sinn der Erinnerung, ein Sinn, der auf Erinnerungen und Empfindungen gewachsen ist. Er dient zur Erkundung von Eigenschaften der Dinge. Geschmack, das ist zunächst das Vermögen zu schmecken, eine sinnliche Lust oder – nach Immanuel Kant, der uns in seinen Schriften zur Anthropologie14 eine wunderbar klar gedachte Abhandlung über den Geschmack hinterlassen hat – der „Wohlgeschmack“, der den Genuss mit beinhaltet. Das mittelhochdeutsche Wort gesmac ist denn auch eine Lehnübersetzung des italienischen Wortes gusto, bzw. lateinischen gustare, was so viel heißt wie schmecken und genießen zugleich. Der „Wohlgeschmack“ ist für Kant ein subjektives Werturteil. Zugleich bedeutet Geschmack nach Kant aber auch ein allgemeingültiges Unterscheidungsvermögen (ob etwas süß oder salzig, sauer oder bitter ist), ein über Erfahrung und Vereinbarung gewonnenes Unterscheidungsvermögen, sowie, als dritte Kategorie, das Vermögen, allgemeingültig zu urteilen.15 So definiert Kant

14 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden, Band 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 2. Teil. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Sonderausgabe 1983, darin: S. 563-579

15 Wenn für Kant die Vernunft die Autorität dessen war, was zur Allgemeingültigkeit führt, würden wir heute sagen, dass es die Gemeinsamkeit der Wertvorstellungen ist, welche das Verallgemeinerungsfähige im Geschmacksurteil stiftet.

16

Ebenda S. 565

den Geschmack als „das Vermögen der ästhetischen Urteilskraft, allgemeingültig zu wählen. Er [der Geschmack] ist also ein

17

Vgl. ebenda S. 570

Vermögen der gesellschaftlichen Beurteilung äußerer Gegenstände in der Einbildungskraft.“16 Diese ästhetische Urteilskraft ist

18

Ebenda S. 570

von in der Gemeinschaft geteilten Werten abhängig, d.h., dass es beim Geschmacksurteil immer darauf ankommt, was für Werte die Gemeinschaft hat. Mit anderen Worten, der reine, sinnliche Genuss etwa von dem, was auf meinem Teller liegt, und dessen Bewertung ist abhängig von mit anderen Menschen geteilten Wertvorstellungen. Guter Geschmack ist nach Kant sozial bezogen. Ihm zufolge macht das gemeinsame Erleben – und das war die Situation im Restaurant am Sacro Monte – den Genuss noch größer, noch wertvoller.17 Weil der Mensch a priori eine individuelle kreative Intelligenz besitzt, die ihn befähigt, frei zu entscheiden, beurteilen wir nicht alle alles gleich – sofern wir uns nicht der reinen Nachahmung hingeben. Dann nämlich wird ein Geschmacksurteil zur Mode. Das Kriterium des guten Geschmacks ist für Kant das Maß; das Maß finden führt zur Moralität. Deshalb argumentiert er, dass „der ideale Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität“18 hat und nicht einfach der Lust folgt, sondern einem höheren Ziel. Dem wahren Werturteil ist damit eine ethisch-moralische Komponente inhärent. Sie findet sich explizit in den drei Slow-Food19-Kategorien „gut“ (biologisch wertvoll und sinnlich), „sauber“ (ökologisch nachhaltig) und „gerecht“ (ethisch nachhaltig). Vitruvs Kategorien utilitas (Nützlichkeit), firmitas (Festigkeit) und

19 Die Bewegung setzt sich für gesunde Ernährung aus hochwertigen und schmackhafen Lebensmitteln ein, die für das menschliche Wohlbefinden essenziell sind. Zugleich leistet sie Widerstand gegen die überall drohende Vereinheitlichung und fördert die Artenvielfalt, wie auch ökologisch und sozial verträgliche Produktionsweisen. Eines der wichtigsten Anliegen der SlowFood-Bewegung ist die Schulung des Geschmackssinns. Vgl. Petrini, Carlo: Slow Food. Genießen mit Verstand, Zürich, 2003 und der Artikel in diesem Buch.

venustas (Anmut) lassen sich mit heutigen Worten ohne weiteres in diese Richtung interpretieren. Den Architekten und den Koch sollte also vor allem der gute Geschmack – als moralisch-ethische Kategorie – zu Verbündeten werden lassen. Denn das Kochen und das Bauen berühren zutiefst soziale Fragen.

In diesem Buch schreibt der Künstler und „Querdenker“ Peter Kubelka über die Notwendigkeit, sich wieder auf die „Einheit aller Dinge“ zu besinnen, und zieht den kulturhistorischen Bogen zu den Anfängen unserer Kultur. Andreas Hartmann bringt uns als Ethnologe das Thema der menschlichen Verbundenheit mit der Vergangenheit näher. Die Arbeiten Gion Caminadas zeigen beispielhaft einen architektonischen Weg auf, wie eine über Jahrhunderte entwickelte Bautradition – hier der Strickbau – in sinnhafte, heutige Form umgesetzt und fortentwickelt werden kann. Die Künstlerin Onno Faller, die Kochen als Kunstgattung betreibt, beschreibt eine klassische schwäbische Speisenfolge, die auch heute noch bei bäuerlichen festlichen Anlässen gekocht wird. Die Anordnung der Speisen ist keineswegs beliebig, sondern weist eine durchstrukturierte, in sich schlüssige Form auf, die jahrhundertealten, von der Speisenevolution bedingten Zubereitungsarten sowie Gesetzen der sinnlichen Wahrnehmung dreidimensionaler Objekte folgt. Über den sozialen Aspekt, der die Baukunst und die Kochkunst verbindet, schreibt vor allem der Architekturtheoretiker Fritz Neumeyer. Der Architekturkritiker Peter Davey verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Feuer, Herd und Heim in seiner Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Küche. Der Architekt und Autor Wilhelm Klauser seinerseits legt die Entwicklungsgeschichte des Restaurants dar. Die von Claudio Silvestrin entworfene Panetteria in Mailand steht Pate für die auch heute noch große Bedeutung des Brotes als Grundnahrungsmittel – ausgedrückt in einer auf das Wesentliche reduzierten Architektur. Von der kunsthistorischen Seite her untersucht Stanislaus von Moos in seinem Beitrag die Bildersprache des Essens im architektonischen Diskurs und legt dar, wie verblüffend häufig die Bildersprache des Essens im allgemeinen architektonischen Entwurf verwendet wird. Der Kunsthistoriker Paul von NarediRainer beleuchtet die Zusammenhänge von Maß und Zahl, Proportion und Harmonie in der Architektur, Renate Breuss, die historisches Rezeptmaterial als Kunsthistorikerin untersucht hat, betrachtet diese Aspekte von der kulinarischen Seite her. Die Architektin Annette Gigon beantwortet Fragen zum Denken in Proportionen und Zahlenverhältnissen in der heutigen Architektur. Vor allem aber spricht sie – wie auch der Koch Raymond Blanc bezogen auf die Zutaten – über die Bedeutung des Materials für den architektonischen Entwurf. Um die Güte des Materials geht es auch der vor rund 20 Jahren entstandenen italienischen Bewegung Slow Food, die aus der Überzeugung gewachsen ist, dass der auf Produktivität und Quantität basierende 12

Massenkonsum die Umwelt, Traditionen und Lebensweisen zerstört. Indem die Bewegung Slow Food – wie Carlo Petrini, ihr Präsident schreibt – die Frage nach den Kriterien für Qualität von Lebensmitteln stellt, leistet sie Erziehung zum guten Geschmack. Der Architekturtheoretiker Ákos Moravánszky diskutiert, ob Geschmack reproduzierbar sei, während der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer die Globalisierung und damit konsumorientierte Nivellierung des Geschmacks thematisiert, die auch in der Architektur zu beobachten ist. Der Architekt Ian Ritchie schließlich stellt eine von ökologischer Verantwortung getragene Architektur vor, die in der Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen den ethischen Slow-Food-Kriterien architektonisch gerecht werden möchte.

Theo Dannecker: Stillleben mit Tomaten, 1998

Architektur und Speisenbau Peter Kubelka

Unter Kochkunst versteht man heute allgemein das Erlesene, das Besondere, das nicht Alltägliche. Aber wo bleibt die Nudelsuppe? Die Nudelsuppe, die hundert Mal wichtiger ist als der Kiwischaum, der die Kreationen der vermeintlichen „hohen“ Küche krönt. Heute hat sich das Essen losgelöst vom Wohlbefinden. Was als die Kunst des Kochens angesehen wird, 14

bedient vor allem das Auge. Sie hat sich auf riesige Teller zurückgezogen, in deren Mitte eine Erbse liegt, gebettet auf einem geschmacklosen Schaum. Der Sternekoch, der für das internationale Publikum kocht, das nicht dick werden will und aus Prestige isst, hat schlechte Voraussetzungen. Ihm bleiben nur Kompromisse in Richtung Harmlosigkeit übrig, angefangen bei den Zutaten. Das Ergebnis ist eine Fadheit der leichten Verdaulichkeit ohne Krusten und Fettschichten, ohne charakteristischen Geschmack. Diese geschmackliche Langeweile eben überdecken die „besternten Köche“ mit optischen Tricks, mit rotem, grünem und geschnitztem Gemüse. So bleibt dem Esser nichts anderes übrig, als sich von seinen Sinnen zu distanzieren. Sie stumpfen ab.

Was aber ist Kochen wirklich? Und worin liegt der Bezug zur Architektur? Speisen zubereiten bedeutet Speisen bauen, zusammensetzen, komponieren. Der Vorgang des Speisenbauens ist ein ähnlicher Prozess wie ihn die Architektur kennt. Um den engen Bezug zwischen Kochen und Architektur zu erklären, möchte ich weiter ausholen. Ich glaube, dass es für jedermann notwendig ist – nicht nur für Architekten und Köche – sich wieder auf die Einheit von allem, die einmal tief in der Vergangenheit geherrscht hat, zu besinnen. Wir müssen wieder begreifen, dass all unser Tun und Denken – so auch das Kochen und das Bauen – durchdrungen sind von uralter Vergangenheit und Tradition.

Ein Beispiel mag dies veranschaulichen. Wenn der Frühmensch trinken wollte, musste er die Quelle aufsuchen, zu ihr gehen. Er musste sich demütig beugen, niederknien, eine hohle Hand formen und aus dieser hohlen Hand das Wasser trinken, das der Berg für ihn über Jahrtausende bereitgehalten hat. Im Zuge seiner langen Entwicklung hat der Mensch gelernt, sich Wassergefäße in Nepal

diesen Berg selbst zu konstruieren – in Form der Wasserflasche. Letztendlich ist sie nichts anderes als eine herausgeschnittene Höhle, proportional so geformt, dass man sie mit dem Inhalt des Wassers gut in der Hand halten kann. Ebenso wie bei der Speisenzubereitung haben es die Architekten mit Höhlungen zu tun. Eigentlich sollte der Architekt nicht architectus sondern archicavus heißen. Denn Architekten sind Höhler, Aushöhler. Die Höhlen aber sind Modelle aus der Natur – zumeist aus unserem eigenen Körper. Aushöhlungen umgeben uns überall. Schon der Hund, der sich im Kreise dreht und scharrt und sich dann in die entstandene Mulde legt, ist ein schaffender Architekt. Denn er höhlt aus, er schafft Raum, der ihm bekömmlich ist.

Kulturgeschichtlich gesehen ist die Zubereitung von Speisen, die Versorgung des Menschen mit Nahrung, noch älter als die Architektur, der Schutzspender vor Regen und Kälte. Das heißt, sie ist die älteste Kunstgattung der Menschheit. Kochen drückt wie alle anderen künstlerischen Disziplinen die Weltsicht einer Zivilisation aus. Dass Kochen Kunst ist, war bis 1980, als ich als Professor an dem Frankfurter Städelschen Kunstinstitut eine Klasse für Film und Kochen initiierte, eine völlig fremde Vorstellung. Kochen und Architektur – beides nutzbringende Aktivitäten – gab es lange vor der Höhlenmalerei. Kochen ist die Mutter der Philosophie, der Chemie, der Physik. Kochen ist Dichtung, Transformation. Während die Malerei – sie ist nur zum Anschauen brauchbar – kaum älter als 40.000 Jahre ist, reicht die Speisenzubereitung Millionen Jahre zurück. Illustrieren lässt sich dies am gemeinsamen Ursprung von Werkzeug und Kunst. Einst sind alle Künste als notwendiges Werkzeug für einen bestimmten Steinhaus in der Nähe von Perugia

Zweck entstanden. Werkzeug dient dem Bearbeiten

Rundes Einraumhaus mit Ackerland in Nepal

materieller Dinge. Kunst dient dazu, das nicht Greifbare zu bearbeiten und anschaulich werden zu lassen. Beginn jeder Kunst aber ist das objet trouvé, das ready made, das vorgefundene Material also, welches den Menschen auf gewisse Gedanken kommen läßt. Das objet trouvé kennen wir aus der Modernen Kunst und auch aus dem eigenen Leben. Auf dem Land, wo ich aufwuchs, saß ich als Jugendlicher abends oft mit meinem Freund Franzi vor einem kleinen Feuer, in dem wir gestohlene Kartoffeln garten. Wir waren Jäger und Sammler. Vom Nachbarfeld hatten wir uns die Kartoffeln angeeignet, die wir nun dem Feuer übergeben hatten. Die Kühe waren ruhig. Wir saßen also da und hatten dieses kostbare Gut – Muße. Und so denkt man nach, schaut ohne Grund irgendwo hin und sieht eine Wolke. Bis Franzi sagte: „Du, die sieht aus wie ein Pferd“ – das war der Beginn von Kunst, das objet trouvé. Niemand hat diese Wolke bearbeitet, dennoch ist sie zum Kunstwerk geworden.

Und so begannen die Ur-Werkzeuge. Unsere angeborenen Werkzeuge sind im Vergleich zum Tierreich nicht sehr erfolgreich. Wir haben keine anständigen Hauer wie das Wildschwein. Aber wir haben dieses großartige Instrument, unsere Hand, in die wir einen Stein nehmen können. Ich behaupte, die Hand hat uns zum Menschen gemacht. Denn sie hat uns zu einem Wesen gemacht, welches seine Gattung mit jedem Werkzeug verändert. Wenn unsere Hand ein Instrument festhält, verwandeln wir uns. Zunächst war es irgendein Stein, den wir in die Hand genommen haben. Später fanden wir einen zwar noch unveränderten Stein, aber einen, der genau in unsere Hand hineinpasst. Noch später haben wir den bearbeiteten Stein gefunden. Ein Schlag mag ihn gespalten haben, sodass sich eine Schneide und eine Spitze ergaben. Solche Stonehenge, England

bearbeiteten Steine, die auch der Speisenzubereitung und der Schaffung von Räumen dienten, sind über

2,8 Millionen Jahre alt. Der Mensch hat tausende von Jahren gebraucht, bis er bewusst einen derartigen Schlag zur eigenen Werkzeugherstellung selbst durchführen konnte. Ebenso ist es auch mit der Architektur. In Mittelafrika pflücken die Pygmäen noch heute ein Blatt und tragen es als Regenschirm. Dieser Regenschirm bedeutet eines der ersten architektonischen Großereignisse. Das Blatt lässt sich aber auch ganz anders verwenden. Man kann es eindrehen und als Hut aufsetzen. Zu Hause benutzen es die Pygmäen als Teller bzw. als Hülle zum Braten. Kurzum: Kochen und Architektur gebrauchen Werkzeuge, sind Handwerk und Kunst zugleich.

15

16

Höhlungen: Zentralraum der Rotunde des Guggenheim Museums von Frank Lloyd Wright in New York, 1959

Aber zurück zu den Höhlungen. Wir leben in einer Welt, die aus vielen Höhlungen besteht, die durch unsere Sinne abgetastet und begrenzt sind. Mit den Augen erlebt der Mensch das Universum als Höhle. Das Ohr reicht so weit, wie die Luft die Schwingungen trägt. Die Nase riecht weiter, als das Ohr hören kann, so weit wie eine Papierfabrik oder ein schlechtes Parfüm eben stinken. Besonders wichtig aber ist das Gewölbe der Begreifbarkeit, und zwar in beiderlei Sinne: das tatsächlich Anfassbare einerseits und das Fassbare im übertragenem Sinne andererseits. Weiterhin erleben wir die Welt als Höhlungen, wenn wir etwas über unseren Mund schlucken. Wie in der Architektur werden auch in der Kochkunst wesentliche Aussagen durch dreidimensionale Objekte gemacht. Der Mund ist ein Organ, welches noch viel besser als das Auge räumliche Gegebenheiten zu analysieren vermag. Tatsächlich wissen wir um die Härte des Steines, die Kälte des Glases und die Sanftheit des Holzes – die wir in der Architektur mit den Augen lesen können – durch Berührungen, und zwar nicht zuletzt durch Berührungen mit dem Mund und der Zunge, mit der wir uns als Kinder die Kenntnis von den Dingen der Welt erfühlt und erschleckt haben. Der Mund untersucht beispielsweise eine Gabel voll Pasta nicht wie das Auge aus der Distanz. Vielmehr wird die Portion Pasta in der Mundhöhle unmittelbar abgetastet, herumgewälzt, zerkleinert und zermalmt. Die Zunge und der Gaumen messen ab, erfassen die Form und lösen sie auf. Die Pasta ist Architektur für den Mund. Vom Mund erhält das Gehirn ganz genaue Informationen über Form, Oberfläche, Materialbeschaffenheit, aber auch Geruch, Geschmack und Temperatur der Speise, die im Mund gerade zertrennt und zerkleinert wird. Damit der Charakter der Pasta – seien es penne, farfalle oder spaghetti – im Mund lesbar wird, muss die Pasta al dente sein. Das heißt, sie muss richtig gekocht und von guter Qualität sein. Während das Auge verkochte, breiige Nudeln immer noch als Nudeln wahrnimmt, entlarvt sie spätestens der Mund als indifferente Masse.

Entdeckungen in der Entwicklung der Menschheit, die zu neuen Epochen geführt haben, manifestieren sich in den unterschiedlichsten künstlerischen Aktivitäten – wenngleich nicht immer zeitgleich. Mit der Erfindung der Pasta ist auf dem Gebiet des Kochens eine neue Epoche angebrochen. In der Architektur vollzog sich Ähnliches beispielsweise mit der Erfindung der Ziegelbauweise. Seitdem der prähistorische Mensch mit getrocknetem Lehm zu experimentieren begann, gehört der Ziegel zur Geschichte der menschlichen Zivilisation. Zunächst erfanden die Menschen den mit Stroh vermischten, zu handlichen Quadern geformten, an der Sonne getrockneten Ziegel. Trotz seiner unregelmäßigen Form und seiner natürlichen Mängel stellte er ein gutes Baumaterial für primitive Hütten dar. Als der Bedarf an unterschiedlichen und komplexeren Bauwerken stieg, reichten diese Lehmziegel nicht mehr aus. Es musste erst der in einem Brennofen gebackene Ziegel erfunden werden. Mit ihm schuf sich der Mensch ein wertvolles neues Material, mit dem viel kompliziertere Bauwerke als nur einfache Wohnhütten errichtet werden konnten. Die Bauweise mit gebranntem Ziegel revolutionierte die praktischen Möglichkeiten der Architektur und damit die Phantasie der Architekten. Gebrannte Ziegelsteine, auch Backsteine genannt, sind handwerklich gefertigte, sich in ihrer Form wiederholende kleine Elemente, aus denen man viel freier formen kann als mit den aus der Natur direkt übernommenen Elementen wie Steinblöcken oder Holzstämmen. Jetzt erst konnte das Pantheon erdacht werden. Denn erst der römische Backsteinbau ermöglichte größere, freitragende Deckenflächen, größere Spannungen zwischen feinen und mächtigen Bauteilen und stärker gegliederten Oberflächen. Analog verlief es in der Kochkunst. Die Pasta revolutionierte die Mundarchitektur. Der Bissen Pasta ist aus kleinen, handwerklich gefertigten, in der Natur nicht vorkommenden, meist geometrischen Elementen gebaut. Er kann dem Esser neue Formerlebnisse vermitteln, die vorher weder von Brei noch Brot, Fleisch noch Pflanze möglich waren.

17

Pantheon in Rom

18

Moderne Ziegelbaukunst: Museum of Modern Art von Mario Botta in San Francisco, 1990-1995

Alle italienische Pasta schmeckt mehr oder weniger gleich. Denn sie ist aus dem immer gleichen grano duro gemacht. Und doch hat jede eine andere Konsistenz, eine andere Größe, eine andere Form und teilt damit eine unverwechselbare Botschaft mit. Die eine Pasta stammt beispielsweise aus Neapel, die andere ist in Arezzo zu Hause. Wenn ein Sizilianer, der emigriert ist, sich in New York über seinen Teller beugt, in dem seine Frau ihm sizilianische Pasta serviert hat, mit der er aufgewachsen ist, dann ist er beim Essen zu Hause. Dann weiß er plötzlich wieder, wer er ist und wo er herkommt. Tatsächlich bedeuten die Speisen, mit denen man aufgezogen wird, einen wesentlichen Teil der Identität, der Heimat eines Menschen. Die „Mutterspeisen“ besitzen wie die Muttersprache ein Vokabular, das ein Leben lang gespeichert bleibt. Deshalb ist es ja so tragisch, wenn die eingangs erwähnte Nudelsuppe oder der althergebrachte Schweinsbraten heutzutage verschmäht wird. Die einfachen, über Jahrhunderte hinweg kanonisierten Gerichte sind wahre Kunstwerke. Dabei erheben sie gar keinen Anspruch, Kunst zu sein.

Im Ursprung ist die Architektur ein subtraktives Verfahren. Das heißt, aus der Höhle, in der zu viel vorhanden ist, wird Überflüssiges herausgenommen. Die vorgefundene Höhle der Frühzeit wurde vielleicht noch naturbelassen. Oder aber der Früh-

Höhlenartiges Innenleben der DG Bank in Berlin, 2001

mensch musste den Höhlenbären rauswerfen. Das ist eine Arbeit der Reinigung. Oder der Mensch hat sich entschieden, gewisse Erdhaufen abzutragen, die Höhle zu säubern, sie zu vergrößern, Platz zu schaffen. Das ist Architektur. Ebenso arbeitet der Fotograf – um ein modernes Medium ins Spiel zu bringen. Seine Kamerahöhle fängt zunächst alles ein, was sich vor der Linse befindet. Die Arbeit des Fotografen besteht dann im Entfernen dessen, was auf dem Bild zu viel ist. Die Malerei hingegen beschreibt einen additiven Prozess. Der Maler beginnt vor der weißen Leinwand bei Null. Was er nicht auf die Leinwand malt, existiert nicht. Das Kochen und die Architektur bedeuten beides: Subtraktion und Addition. Die Architektur beginnt mit dem Ausräumen und setzt dann mit dem additiven Anhäufen fort. So entsteht die Pyramide und der Grabhügel, so entstehen Mauern und Dächer. Dasselbe Prinzip findet beim Kochen Anwendung.

19

Additives Anhäufen: Reichstagskuppel von Norman Foster in Berlin, 1995-1999

Betrachtet man die Prozesse der Speisenzubereitung, heißt Kochen eigentlich gezielt verwittern lassen. Die Natur macht es uns vor. Dem natürlichen Kochprozess zur Herstellung von luftgetrocknetem Schinken helfen wir bloß etwas nach, indem wir das rohe Stück Fleisch frei an einen Nagel hängen. Wollen wir ein Schnitzel essen, brauchen wir diverse Werkzeuge zum Zerkleinern des rohen Fleischbrockens. Wir müssen das Fleisch faschieren, zerkleinern, klopfen. Dann erst kommt der große Moment des Kochens. Jetzt wird dem Fleisch etwas zugegeben. Damit wären wir bei einem weiteren wesentlichen Schlüsselwort, der Metapher. Speisen enthalten immer eine Mitteilung im künstlerischen Sinn, genauso wie Architektur, Malerei, Skulptur, Dichtung oder Musik. Die Metapher als Technik einer Mitteilung stellt Begriffe nebeneinander. Im Kochen werden essbare Elemente nebeneinandergestellt, in der Architektur sind es Räume, in denen man lebt. Wenn man sie wechselt, signalisiert man zugleich einen Identitätswechsel. Die österreichische Panadelsuppe, eine komplexe Metapher, die auf das Mittelalter zurückgeht, ist eine sättigende Suppe, eine Suppe mit Körper. Sie besteht aus Fleisch, Wasser, Brot, Ei und Sauerrahm. Die ungeheure Metapher dieser Suppe liegt in der Vermählung von Feuer und Wasser. Indem Fleisch über das Feuer gehängt wird und der Rauch einwirken kann, trinkt das Fleisch sozusagen den Rauch, durchtränkt der Rauch das Fleisch. Wasser kann man nicht räuchern. Trotzdem erhält es den Feuergeschmack über das geräucherte Fleisch. Seine feste Konsistenz schafft feingeschnittenes Weißbrot, welches zu Fetzen im „Feuerwasser“ verkocht wird, die im Mund spürbar sind, die der Mund lesen kann. Den Weißbrotfetzen wird Ei hinzugefügt, das in der Suppe zu Eierfetzen mutiert, die sich im Mund fester anfühlen. Zur Vollendung wird Sauerrahm hinzugegeben.

Hätte man ihn gleich in die Suppe geschüttet, würde er sich trennen. So schafft er eine milchige, einheitliche Bindung. Sauerrahm ist nichts anderes als verdichtete Milch, die in Lohnarbeit kleiner Lebewesen, die wir Bakterien nennen, verkocht, verändert, d.h. fermentiert wird. Dadurch erhält die Milch eine andere Geschmackskomponente, wird säuerlich und haltbarer. Milch ist die Spitze der Nahrung, das Vorbild für die Nahrung. Milch allein genügt, um ein Kind leben zu lassen. Durch Essen bereitet die Mutter in ihrem Körper die Nahrung für ihren Säugling. Letztendlich ist das Kochen die Fortsetzung der Brusternährung.

Die Erfindung von Prinzipien, die später in der Literatur, der Philosophie, der Technik die Welt verändert haben, sind schon durch die Beschäftigung und das Herrichten von essbarem Material definiert worden. So gesehen ist das Kochen, das 20

Zubereiten von Speisen die älteste aktive Veränderung des Universums des Menschen. Zur Erläuterung ein weiteres Beispiel aus meiner Kinderzeit: Meine Mutter nahm mich eines Tages mit zum Himbeerpflücken. Sie kannte die Frucht und die Orte, an denen die Himbeersträucher zu finden waren. Während ich die gepflückte Himbeere wie ein Vogel sofort in den Mund steckte und glücklich war, kam meine Mutter mit einem Gefäß – einem geschlossenen Raum, der tragbar war und Schutz bot. Sie lehrte mich, einen kulturellen Sprung zu vollziehen. Als ich die nächste Himbeere gepflückt hatte und sie essen wollte, ließ sie mich innehalten. Sie sagte: „Mach eine hohle Hand. Mit der anderen pflück eine Himbeere. Iss sie aber nicht, sondern leg sie in die hohle Hand. Pflück wieder eine Himbeere, iss sie nicht. Warte! Leg sie in die hohle Hand. Pflück noch eine Himbeere und iss sie wieder nicht, und weiter so, bis die hohle Hand gefüllt ist. Jetzt betrachte den gegupften Berg Himbeeren, riech daran und steck alles in den Mund.“ Meine Ungeduld wurde durch ein Ereignis belohnt, das so in der Natur nicht vorkommt. Die Himbeeren eines ganzen Strauches verdichtet zur Handvoll: großartig! Meine Mutter eröffnete mir so ein Konzept, das die Menschheit bei der Speisenbereitung entdeckt hatte: Das Konzept der Verdichtung von Energie. Dieser Prozess der Verdichtung bedarf keines Werkzeuges. Ihn kannten schon die Vorsteinzeitmenschen. Eine scheinbar so banale Handlung wie das Sammeln einer Handvoll Himbeeren zeigt, wie die Menschheit vor abertausenden von Generationen begonnen hat, Erkenntnisse zu entwickeln, die heutzutage techniktragend sind. Unseren Ursprung sollten wir immer im Auge behalten. Nur dann können wir verstehen, wohin es nun immer schneller geht. Kreativität, Improvisation und Phantasie können nur dann etwas Großartiges hervorbringen, wenn man mit Elementen arbeitet, die man kennt, und wenn man eine traditionelle Sprache zu sprechen imstande ist. Dieser Aufsatz basiert auf einer zweistündigen Performance, die Peter Kubelka anlässlich des Symposiums „Architektur und Kochkultur“ im März 2004 im Kloster Eberbach bei Wiesbaden gehalten hat – zusammengefasst von Petra Hagen Hodgson; Bildauswahl ebenfalls von Petra Hagen Hodgson.

21

Schlachtung eines Schweines

Maß und Zahl in der Architektur Paul von Naredi-Rainer

I 22

Weil sie sich nicht nur von der Intuition leiten lasse, sondern sich der Maße und Zahlen bediene und so eine innere Ordnung zu schaffen imstande sei, räumt Platon der Architektur den Vorrang vor jenen Künsten ein, die sich nur in der Nachahmung erschöpfen. Maß und Zahl sind Universalien der Architektur. Sie bilden nicht nur eine wesentliche Voraussetzung ihrer technischen Realisierbarkeit – von der Dimensionierung der Steinblöcke eines archaischen Hauses bis hin zu der nur mehr mit Hilfe eines Computermodells berechenbaren Metallverkleidung des Guggenheim-Museums in Bilbao –, sondern sind auch Indikatoren ihrer ästhetischen Qualität.

Die Zahl ist Grundlage des quantitativen Denkens, das die Beziehungen zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt ordnend zu begreifen versucht. Ihre Spannweite reicht von magischer Vorstellung, welche die Zahl als mythischen Gegenstand mit zugeschriebenen Attributen und Kräften begreift, bis hin zum wissenschaftlichen Denken, in dem die Zahl als ideale Entität ein mathematisches Objekt ist.

Das Maß ist Grundlage selbst der primitivsten Technik. Seit dem Beginn der menschlichen Kultur hat die Bestimmung von Messgrößen, vor allem der von Länge, Gewicht und Zeit, grundlegende Bedeutung. Messen heißt durch Zahlen vergleichen. Es bedeutet die Darstellung einer Größe (Messgröße) durch eine Zahl (Maßzahl), die angibt, wie oft die zugrundegelegte Maßeinheit in der zu messenden Größe enthalten ist. Ohne Zahl und Maßeinheit ist also kein Messen, und ohne Messen kein Bauen möglich.

Die sprachliche Vielfalt der um den Begriff Maß angesiedelten Wortbildungen verschiedenster Nuancierung – Angemessenheit und rechtes Maß gegenüber Vermessenheit und Maßlosigkeit, Maßgebendes neben Mäßigem, Gemessenheit und Übermaß, schließlich Messbarkeit, Vermessung etc. – zeigt Maß im Zentrum eines weiten Bedeutungsfeldes, das Ethik, Ästhetik und auch die Naturwissenschaften umfasst. Diese in der Sprache erhalten gebliebene Verbindung heute voneinander abgetrennter Bereiche weist auf den Ursprung des Maß-Begriffes im griechischen Denken, das aus der Gleichsetzung von Gutem und Schönem im Bildungsideal der Kalokagathia einen auf den Menschen bezogenen Maßstab entwickelt hat, der gleichermaßen den ethischen wie ästhetischen, religiösen, politischen, physischen und psychischen Bereich einschloss. Orientiert ist dieser Maßstab an einer als unwandelbar erklärten göttlichen Ordnung des Universums, der sich der Mensch einfügen müsse, um an ihr teilzuhaben. Diese Grundvorstellung begegnet uns auch im Christentum. Christus selbst spricht einmal vom „Tempel seines

Leibes“ (Johannes 2,21) und verwendet damit ein schon in vorchristlicher Zeit gebräuchliches Bild, das in der christlichen Deutung immer wieder aufgegriffen wird. Ein über das Metaphorische hinausgehender Zusammenhang zwischen der Menschengestalt Christi und dem Kirchengebäude ist beim Kirchenlehrer Augustinus (354-430) angelegt: Er sieht einen alttestamentlichen Hinweis auf Christus als Erretter der Menschheit und ein Vorbild der Kirche in der Arche, die Noah und die Seinen vor der Sintflut gerettet hatte. Die Maßverhältnisse dieser Arche (300 x 50 x 30 Ellen) versinnbildlichen den Menschenleib, in dessen Gestalt Christus die Welt erlöst habe: „Die Länge des menschlichen Leibes vom Scheitel bis zur Sohle beträgt nämlich das Sechsfache der Breite von einer Seite zur anderen und das Zehnfache der Tiefe vom Rücken zum Bauch“ (de civitate Dei XV/26.1).

Auf die Vorbildlichkeit der menschlichen Figur für die Architektur hatte schon der römische Architekturtheoretiker Vitruv (um 84-20 v. Chr.) bei der Beschreibung des Tempels hingewiesen: „Kein Tempel kann ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige Formgebung haben, wenn seine Glieder nicht in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, wie die Glieder eines wohlgeformten Menschen“ (de architectura III/1.1). Die Übertragung menschlicher Maße auf die Architektur ermöglichen Zahl und geometrische Form. Vitruv nennt hier vor allem Kreis und Quadrat, denen Vitruvianische Figur aus Cesare Cesarianos Vitruv-Kommentar, Como 1521

sich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen einschreiben lasse (de architectura III/1.3). Die im

Mittelalter vornehmlich als Abbreviatur des christlichen Universums verstandene „Vitruvianische Figur“ erlangte in der Renaissance als Zeugnis, das unmittelbar aus der bewunderten und zum Vorbild genommenen Antike überkommen war, zentrale Bedeutung und wurde direkt mit der Architektur in Verbindung gebracht. Man sah in diesen Zusammenhängen nicht nur den Ausdruck metaphysischer Bezüge, sondern vor allem die rationale Grundlage der Schönheit und die Vorbedingung künstlerischen Schaffens. Der alte Gedanke, dass menschliche Gestalt und mathematische Gesetzmäßigkeiten einander entsprechen, liegt auch dem „Modulor“ zugrunde, mit dem Le Corbusier (1887-1965) der Architektur im 20. Jahrhundert eine am Maß des Menschen orientierte mathematische Ordnung zu geben versucht hat.

Le Corbusier: Der Modulor, 1950

23

II

Das richtige Maß gehört zu den faszinierendsten und zugleich umstrittensten Themen künstlerischen Gestaltens, das zwischen den Polen Freiheit und Bindung, Gefühl und Verstand pendelt. Als in sich schlüssige Beziehung von Proportionen, die das Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen bestimmt, ist das richtige Maß ein Universalprinzip klassischer Ästhetik. Proportion ist ein Teilaspekt der Form; sie kann keine Form schaffen, aber die in Entstehung begriffene Form regeln und der gestalteten Form Dauer verleihen. Dies gilt zumal für die Architektur. So erstaunt es nicht, dass wesentliche Teile der Architekturtheorien von Vitruv bis Le Corbusier Proportionslehren sind.

Wie werden Proportionen in der Architektur erfahrbar? Das Wesen und die ureigenste Funktion der Architektur als Befriedigung des elementaren Bedürfnisses nach Schutz und Geborgenheit liegen im Räumlichen. Wir erleben den räumlichen Eindruck als dreidimensionales Phänomen einerseits expansiv mit dem Körper, wobei eine wesentliche Komponente dieses Erlebens die Beziehung zwischen der eigenen Körpergröße und der Größe des Bauwerks, seiner Dimension, bildet. Andererseits aber erfassen wir das Räumliche bildhaft auf dem Weg einer geometrischen Abstraktion, indem wir den gebauten Raum in die ihn umgebenden Flächen zerlegen. Diese erschließen sich vor allem von ihren Umrissen her, die wir – bewusst oder unbewusst – an gedachten Vertikalen und Horizontalen orientieren. Aus der Verschmelzung dieser beiden Grundrichtungen zu Flächen entstehen Rechtecke, die als Verhältnis von Höhe zu Breite nicht nur mathematisch fassbar sind, sondern auch einen Ausdruckswert besitzen, der steigend, lagernd oder neutral sein kann. Dieser „gestische Gehalt“ von Flächenwerten, die sich zu einem vielfältigen Wechselspiel von Lasten und Streben, Ruhe und Bewegung zusammenfügen können und auch als vertikale oder horizontale Maßfolge in linearer Teilung in Erscheinung treten, bestimmt wesentlich den ästhetischen Eindruck eines Bauwerks. Das Erleben und Betrachten, das ästhetische Beurteilen von Architektur ist demnach ebenso ein Wägen und Prüfen des gestischen Gehalts wie ein Messen geometrischer Formen. Weil dabei zwischen diesen beiden Komponenten kaum eine exakte Trennung möglich ist, ist der Vorgang des Erfassens und Beurteilens nicht ohne weiteres umkehrbar und als Schlüssel zum Nachvollziehen des Entwurfsprozesses zu verwenden. Denn der schöpferische Akt als Wahl und Verbindung von Formen und Inhalten zu einer in sich schlüssigen Gestalt erfolgt in einem nicht zu trennenden Ineinandergreifen von intuitiver Imagination und intellektueller Kontrolle, wobei – cum grano salis – der Intuition das Gestische der Form, dem Intellekt die 24

Proportion zuzuordnen ist. Die Form, abhängig von historischen, funktionalen, soziologischen, stilistischen, technischen und anderen Bedingtheiten, gibt den Grundcharakter an; die Proportion stellt innerhalb der gestischen Komposition die ordnende Bindung her. Die Form ist zeitgebunden, die proportionale Struktur nicht. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es eine ideale Proportion schlechthin gäbe oder dass eine bestimmte Proportionierungsmethode über Jahrhunderte in unterschiedlichen Stilepochen gleichbleibend Anwendung gefunden hätte, wie manche Proportionsforscher behaupten (die zudem jeweils ein anderes Proportionssystem als einzig maßgebliches favorisieren). Vielmehr bediente man sich im Laufe der Architekturgeschichte durchaus unterschiedlicher Proportionssysteme, die den einzelnen Stilen nicht ohne weiteres zuzuordnen sind.

„Gestik“ des Rechtecks (nach Wolfgang von Wersin)

III

Dass die einzelnen Teile in Form und Anordnung ähnliche Figuren bilden, bestimmt nach der Ähnlichkeitstheorie des historistischen Architekten August Thiersch (1843-1916) wesentlich die ästhetische Qualität eines Bauwerks. Angewandt auf die Tempel der Antike, werden die Proportionen ihrer (wohl aus der Holzbauweise entwickelten) Glieder-Architektur als Komposition aus rechteckigen Flächen gesehen – eine Interpretation, die durch die Ergebnisse der jüngeren Bauforschung bestätigt wird: Demnach bestimmen einfache ganzzahlige Verhältnisse den klassischen Tempelentwurf nicht nur im Grund-, sondern auch im Aufriss. Rationale Zahlenverhältnisse (1:2, 2:3, 4:9, 5:3, 7:4 etc.) bilden in immer neuen Verknüpfungen, deren Variierung im Wesentlichen die Individualität des in seiner Formensprache konstanten Bautypus bewirkt, die abstrakte Grundlage der griechischen Tempelarchitektur.

25

Poseidontempel in Paestum (460/450 v. Chr.), Säulenstellung, Proportionsschema (nach August Thiersch)

Tempel in Segesta (417/409 v. Chr.), Aufriss, Proportionsschema (nach Dieter Mertens)

Einfachste Zahlenverhältnisse gehören zu den Konstanten architektonischen Planens, die wir in nahezu allen Phasen der Architekturgeschichte finden. Zwei Beispiele – ein frühmittelalterlicher Grundriss und ein Aufriss aus der Barockzeit – vermögen dies zu belegen. Die rationalen, ganzzahligen Proportionen beider Bauten lassen sich auch als Entsprechungen musikalischer Intervalle verstehen: Ein Ton steigt mit der Anzahl der Schwingungen des Mediums (Luftsäule, Darmsaite etc.), durch das er erzeugt wird; umgekehrt sinkt er mit dessen zunehmender Länge. Ausgehend von der (angeblich durch den griechischen Philosophen Pythagoras im 6. Jahrhundert v. Chr. entdeckten) physikalischen Tatsache, dass die Schwingungsverhältnisse der elementaren musikalischen Intervalle einfachsten Zahlenrelationen entsprechen (Oktave = 2:1, Quinte = 3:2, Quarte = 4:3 etc.), entstand nicht nur der Gedanke, dass die Harmonie des Kosmos nach diesen Zahlenverhältnissen aufgebaut sei, sondern auch die Vorstellung, dass diese Zahlenverhältnisse ästhetische Vollkommenheit garantierten. Ihre konkrete architekturtheoretische Formulierung erfuhr diese pythagoräisch-platonische Vorstellung, die auch während des christlichen Mittelalters immer präsent war, in der italienischen Renaissance durch den Humanisten Leon Battista Alberti (1404-1472). In seinem außergewöhnlich einflussreichen, um die Mitte des 15. Jahrhunderts verfassten Architekturtraktat empfiehlt er den Architekten, „von den Musikern, welche diese Zahlen am besten kennen, das ganze Gesetz der Beziehung abzuleiten“ (de re aedificatoria IX/5). In seinen eigenen Bauten brachte Alberti die Harmonie musikalischer Proportionen in geradezu

Alter Dom in Köln (9./10. Jahrhundert), Grundriss, Proportionsschema (nach Arnold Wolff), Maßangaben in römischen Fuß à 34,4 cm

Porte St.-Denis in Paris (François Blondel, 1671-1673), Proportionsschema mit Modulzahlen des Architekten

26 Palazzo Rucellai in Florenz (Leon Battista Alberti, begonnen 1455), Fassadenausschnitt mit dem Proportionsschema der von Pilastern und Gesimsen gerahmten „Schauflächen“

St. Michael in Hildesheim (begonnen um 1010), Maßzahlen der Hauptachsen (nach Hans Roggenkamp)

Berner Münster (Matthäus Ensinger, begonnen 1425), Grundriss der Osthälfte mit eingezeichneter Quadratur (nach Luc Mojon)

Gabriele Stornaloco: Querschnitt des Mailänder Doms, Skizze zu dem 1391 vom „Consiglio della Fabbrica“ angeforderten Gutachten

virtuoser Weise zur Anschauung; bisweilen verwendete er Maßzahlen aber auch wegen ihrer symbolischen Bedeutung und knüpfte damit an das spirituelle Denken des Mittelalters an: Ohne optisch bewusst wahrgenommen werden zu können, bestimmen beispielsweise die seit der Antike aufgrund ihrer zahlenimmanenten Bedeutung als numeri perfecti gewerteten Zahlen 1, 6, 28 und 496 (sie sind identisch mit der Summe ihrer Teiler) als Maßzahlen die Achsmaße der berühmten Abteikirche Cluny III (Ende 11. Jahrhundert), und die numeri solidi 20, 35, 56 und 84 (klassifiziert nach der Vorstellung einer figurativen Anordnung der Zahlen in Flächen und Körpern) jene von St. Michael in Hildesheim (Anfang 11. Jahrhundert).

In der architektonischen Praxis ungleich häufiger allerdings verwendete und verwendet man „runde“ Zahlen, in der Regel die Basiszahlen des Dezimalsystems (und teilweise auch des Duodezimalsystems), deren bevorzugte Stellung sich auch in den Zahlwörtern der europäischen Kultursprachen widerspiegelt. Auch dort, wo man sich geometrischer Figuren zur Generierung architektonischer Proportionen bedient, nehmen diese ihren Ausgang fast immer von rundzahligen Strecken, die in der Regel mit einer besonders markanten Abmessung des Bauwerks zusammenfallen. Die Koinzidenz einfacher Zahlenverhältnisse mit geometrischen Figuren wird vor allem am Quadrat offensichtlich, das sich im Grundriss des alten Kölner Doms zu einem Rasternetz fügt und alle wesentlichen Linien des Bauwerks bestimmt. Die mathematische Eigenschaft des Quadrats aber, dass seine Seite zur Diagonale das Verhältnis 1:32 bildet – eine irrationale, in ganzen Zahlen nicht auszudrückende Proportion –, erweist den prinzipiellen Unterschied zwischen arithmetischen und geometrischen Maßverhältnissen: Erstere sind mathematisch als „kommensurabel“ zu klassifizieren, als „Größen, die von demselben Maß gemessen werden“, während Letztere als „inkommensurabel“ gelten, als Verhältnisse, „für die es kein gemeinsames Maß gibt“ (Euklid, Elemente X Def. 1). Obwohl dies an einem Bauwerk nicht unmittelbar ablesbar ist, entspricht Kommensurabilität als Vergleichbarkeit der Maßverhältnisse (in Bezug zu einer festen Einheit) einem völlig anderen Kunstverständnis als das sukzessive, geometrisch konstruierte Hervorwachsen eines Maßes aus dem anderen. Eine der einfachsten – und in den Quellen am besten dokumentierten – geometrischen Proportionierungsmethoden ist die sogenannte „Quadratur“: Die Mittelpunkte eines Quadrats werden diagonal miteinander verbunden, wodurch ein kleineres, um 45° gedrehtes Quadrat entsteht, dessen Diagonale der Seitenlänge des Grundquadrats entspricht. Dieser auch in umgekehrter Richtung beliebig wiederholbare Vorgang ergibt für die jeweils aufeinanderfolgenden Quadratseiten die Maßfolge 1:32:2:232:4 etc., d.h. die jeweils einander benachbarten Maße stehen zueinander jeweils im irrationalen Verhältnis 1:32, während die jeweils übernächsten das rationale Verhältnis 1:2 ergeben. Entscheidend an dieser Proportionierungsmethode, mit der beispielsweise das Verhältnis von Länge zu Breite in den Mittelschiffsjochen des Berner Münsters ermittelt wurde, ist – ungeachtet der Überschneidung rationaler und irrationaler Maßverhältnisse –, dass sie auf sukzessiver geometrischer Konstruktion beruht.

Nicht weniger elementar, aber von ungleich größerer Formenvielfalt, ist die Figur des Dreiecks. Ohne hier näher auf seine komplexe Geometrie eingehen zu können, sei wenigstens auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen Kreis und Dreieck verwiesen: Durch unterschiedliche radiale Teilungen des Kreises entstehen jeweils gleichschenkelige Dreiecke, die wiederum als Teile regelmäßiger Polygone (auch des Quadrats) verstanden werden können. Am einfachsten zu konstruieren ist zweifellos das gleichseitige Dreieck, das durch Auftragen des Radius auf den Umfang des Kreises entsteht und in der Baupraxis schon durch eine dreigeteilte Schnur hergestellt werden kann. Eine der wichtigsten aus dem gleichseitigen Dreieck ablesbaren Proportionen, das Verhältnis der Höhe zur Seitenlänge, entspricht dem irrationalen Wert 33:2. In seiner berühmten Proportionsskizze für den Querschnitt des Mailänder Doms bemisst der Mathematiker Gabriele Stornaloco die Höhe des Mittelschiffs mittels eines über der 96 bracci (= Ellen) messenden Langhausbreite errichteten gleichseitigen Dreiecks, gibt diese aber anhand eines RechteckRasters gleichzeitig mit der Zahl 84 an: eine dem mathematisch korrekten irrationalen Wert der Dreieckshöhe (83,138...) möglichst nahe kommende rationale Zahl. Das gleichseitige Dreieck dient gewissermaßen als „Wünschelrute“ zum Auffinden des richtigen Verhältnisses der Höhe zur Breite, das dann mit Hilfe ganzzahliger Maße zweifellos leichter zu realisieren war. So ist diese Zeichnung, eine der sehr seltenen mittelalterlichen Quellen für die „maßgebende“ Funktion des Dreiecks im architektonischen Planungsprozess, auch ein beredtes Zeugnis für das im Lauf der Architekturgeschichte immer wieder feststellbare Bemühen, aus geometrischen Operationen gewonnene irrationale Maßverhältnisse durch ganzzahlige Annäherungen praktikabel zu machen: So finden wir beispielsweise für die Proportion 32:1 auch den Näherungswert 17:12.

27

Ein besonders prominentes – und von zahllosen Spekulationen umgebenes – Maßverhältnis ist das des sogenannten „Goldenen Schnittes“. Es bezeichnet die Teilung einer gegebenen Strecke in zwei ungleiche Abschnitte, deren kleinerer sich zum größeren verhält wie dieser zur ganzen Strecke. Der schon in der Antike bekannte, aber erst seit dem 19. Jahrhundert mit diesem Namen belegte und zur ästhetischen Idealvorstellung stilisierte „Goldene Schnitt“ ist in mathematischer Klassifikation eine geometrische Reihe (a:b = b:[a+b]), die – mit der vergleichsweise komplizierten Geometrie des Fünfecks verbunden – in rationalen Zahlen nicht auszudrücken ist. So verwundert es nicht, dass seine Verwendung in der Architektur (sei es als Streckenverhältnis oder in der Fläche) nur selten seriös nachzuweisen ist. Auch hier kennt man in der Zahlenfolge 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 etc. eine Möglichkeit, sich dem irrationalen Wert dieses in der Renaissance als divina proportione bezeichneten Maßverhältnisses mit rationalen Zahlen anzunähern: Diese Zahlenfolge, benannt nach dem Beinamen „Fibonacci“ (= filius Bonacci) des Mathematikers Leonardo da Pisa (um 1180-1240), in der – unter der Anfangsbedingung 1, 1 – jedes Glied die Summe der beiden vorhergehenden Glieder ist, besitzt unter vielen anderen auch die Eigenschaft, dass die Quotienten aus den jeweils benachbarten Gliedern sich mit zunehmender Genauigkeit dem irrationalen Wert des Goldenen Schnitts annähern. Im Modell der (schließlich verändert realisierten) Florentiner Domkuppel sind Abmessungen von 55, 89 und 144 bracci vorgesehen. Auch die beiden Zahlenreihen in Le Corbusiers schon erwähntem „Modulor“ sind im Prinzip Fibonacci-Folgen, die allerdings nicht von den Gliedern 1, 1, 2, 3 etc. ihren Ausgang nehmen, sondern von den an durchschnittlichen Zentimeter-Abmessungen des menschlichen Körpers orientierten Zahlen 113 bzw. 183 („rote Reihe“) und 226 („blaue Reihe“). Da Le Corbusier vorsah, Maße aus beiden Reihen beliebig entnehmen zu können, ergeben sich bei der Anwendung des „Modulor“ nicht nur dem Goldenen Schnitt angenäherte Verhältnisse.

IV

Welche der – hier nur kursorisch und höchst unvollständig skizzierten – Methoden der Maßgebung auch immer zur Anwendung kommt: Die ästhetische Wirkung eines Bauwerks, dessen Qualität primär immer auf der Imaginationskraft des Entwurfs beruht, hängt auch von der Konsequenz ab, mit der ein Proportionssystem benutzt wird. Dies gilt in umgekehrter Weise auch für die Versuche, Wirkung und Entstehungsprozess von Architektur zu erklären. Auch wenn die Ergebnisse von 28

Proportionsanalysen, die (wie dies meist der Fall ist) quellenmäßig nicht zu belegen sind, immer nur den Rang von Wahrscheinlichkeitsaussagen beanspruchen können, weil „Proportionsfiguren“ nur selten unmittelbar evident werden: Die Darstellung eines Konstruktionsvorgangs, wie er beispielsweise für den romanischen Westbau der elsässischen Klosterkirche Marmoutier (Maursmünster) vorgeschlagen wurde, verdankt ihre Glaubwürdigkeit vor allem ihrer mathematischen wie technischen Plausibilität. Der Vorgang der geometrischen Bemessung ist in jeder Phase ohne weiteres nachvollziehbar. Dennoch folgt kein Schritt als konstruktionsimmanent einzig möglicher dem vorhergehenden, sondern wird jeweils von der übergeordneten Kompositionsidee bestimmt.

Abteikirche in Marmoutier (12. Jahrhundert), Proportionsschema von Grund- und Aufriss und geometrische Grundrisskonstruktion, ausgehend von der Strecke AC (= 50 römische Fuß à 29,57 cm) (nach Herwig Spieß)

In nicht weniger überzeugender Weise wurde vor kurzem anhand einiger Bauten des amerikanischen Architekten Louis I. Kahn (1901-1974) dargelegt, dass konsequent aufeinander bezogene Schritte figürlicher Geometrie auch im 20. Jahrhundert architekturbestimmende Faktoren sein konnten. Selbstverständliche Voraussetzung derartiger Analysen sind präzise Bauaufnahmen, die rechnerische Überprüfbarkeit geometrischer Konstruktionen und plausible Realisierbarkeit – Bedingungen, die von der Mehrzahl sogenannter Proportionsuntersuchungen leider nicht erfüllt werden und dieses Genre daher insgesamt in Verruf gebracht haben. Nicht weniger aufschlussreich als die Bevorzugung dieser oder jener Methode des Proportionierens ist für das Verständnis von Gestaltungsprinzipien die grundsätzliche Bewertung der Proportionen als Faktor künstlerischen Schaffens. Ars sine scientia nihil est, erklärte im Jahr 1400 der französische Baumeister Jean Mignot in einer Sitzung der Baukommission für den Mailänder Dom und meinte mit scientia die Wissenschaft der Geometrie als Grundlage des Proportionierens. 1957 wurde im Royal Institute of British Architects nach ausführlicher Diskussion mehrheitlich eine Vorlage abgelehnt, die besagte, „daß Proportionssysteme einen guten Entwurf leichter und einen schlechten schwerer machen“. In diesem Votum ist die dem Architekten der Spätgotik selbstverständliche Überzeugung, dass Freiheit und Gesetzlichkeit einander bedingen, einer für unsere Zeit charakteristischen Skepsis allem Regelhaften gegenüber gewichen. In der Differenz der beiden durch mehr als ein halbes Jahrtausend getrennten Bewertungen spiegelt sich aber auch die grundsätzlich ambivalente Rolle von Proportionen in der Architektur wider: Sie treten nicht nur als ästhetisches Phänomen unmittelbar in Erscheinung, sondern sie können auch als Konstruktionshilfe dienen, die nicht ohne weiteres anschaulich wird: Proportion als Erscheinungsform und/oder Entwurfsschema.

Literatur 29 Ein nur einigermaßen repräsentatives Literaturverzeichnis würde den Umfang dieser Text-Skizze um ein Vielfaches übersteigen. Deshalb sind im Folgenden nur wenige Titel angeführt, die für diese Thematik als grundlegend oder beispielhaft gelten können und/oder weiterführende Literaturangaben enthalten. Die Titel sind chronologisch nach Erscheinungsjahr der Erstausgaben geordnet.

– Thiersch, August: Proportionen in der Architektur, in: Handbuch der Architektur, Teil 4, Halbband 1, – 3. Aufl. Stuttgart 1904 (1. Aufl. 1883), 37-90 – Fischer, Theodor: Zwei Vorträge über Proportionen, 2. Aufl. München/Berlin 1956 (1. Aufl. 1934) – Wittkower, Rudolf: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, 2. dt. Aufl. München 1983 – (zuerst englisch: Architectural Principles in the Age of Humanism, London 1949) – Le Corbusier: Der Modulor. Darstellung eines in Architektur und Technik allgemein anwendbaren Maßes im Maßstab, – 3. Aufl. Stuttgart 1978 (zuerst französisch: Le modulor. Essai sur une mesure harmonique, à l'échelle humaine – applicable universellement, à l'architecture et à la mécanique, Boulogne/Seine 1950) – Wersin, Wolfgang v.: Das Buch vom Rechteck – Gesetz und Gestik des Räumlichen, Ravensburg 1956 – Scholfield, P. H.: The Theory of Proportion in Architecture, Cambridge/Mass. 1958 – Naredi-Rainer, Paul von: Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, – 7. Aufl. Köln 2001 (1. Aufl. 1982) – Bauplanung und Bautheorie der Antike. Diskussionen zur archäologischen Bauforschung 4, – hrsg. vom Deutschen Archäologischen Institut, Berlin 1984 – Wiemer, Wolfgang: Baugeometrie und Maßordnung der Abteikirche Ebrach – Ergebnisse einer Computeranalyse I. – Zugleich Einführung in die Methodik (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, – hrsg. von Klaus Wittstadt, Bd. XLV), Würzburg 1995 – Gast, Klaus-Peter: Louis I. Kahn. Die Ordnung der Ideen, Basel/Berlin/Boston 1998 – Schoot, Albert van der: Die Geschichte des Goldenen Schnittes, Stuttgart/Bad Cannstatt 2005 (zuerst niederländisch: – De ontstelling van Pythagoras. Over de geschiedenis van de goddelijke proportie, Kampen 1998) – Padovan, Richard: Proportion. Science, Philosophy, Architecture, London/New York 1999

Das rechte Maß im Kochen Renate Breuß

Um 1450 plante Leon Battista Alberti die Fassade des Tempio Malatestiano in San Francesco in Rimini im einfachen Rhythmus offener und geschlossener Arkadenflächen. 12 Fuß breite Arkaden wechseln mit 6 Fuß breiten Pfeilern im Verhältnis 2:1, die 30

Kämpferhöhe steht mit 18 Fuß in einem 3:2 Verhältnis zur Arkadenbreite. Es handelt sich um einfache Zahlenproportionen, die nach der Auffassung der damaligen Zeit, in Analogie zu musikalischen Verhältnisrelationen, Oktaven und Quinten stehen. Alberti wollte dem Auge dasselbe ästhetische Wohlgefallen bieten, wie dieselben Zahlenproportionen dies dem Ohr bescherten.1

Eines der Hauptanliegen des Renaissance-Architekten Andrea Palladio war die Schaffung harmonischer Proportionen nicht nur innerhalb eines Raumes, sondern auch in der Beziehung mehrerer Räume zueinander.2 Für das nicht realisierte Projekt einer Villa in Verona entwarf er um 1560/70 den Grund- und Aufriss mit einfachen Proportionsverhältnissen, und zwar mit den Maßen 15, 20 und 40 Fuß. Die Grundrisse der Zimmer weisen Verhältnisse Leon Battista Alberti: Tempio Malatestiano in San Francesco in Rimini

von 4:3 auf. Um in der repräsentativen Fassade eine gleichmäßige Dreiteilung von 40 Fuß einhalten zu können, verrin-

gerte er die quergelagerten vorderen Räume um die Mauerstärke von jeweils 2 Fuß auf 36 Fuß und reduzierte das 1 vgl. Naredi-Rainer, Paul von: Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst. Köln: DuMont, 1989, S. 166

2

vgl. ebd., S. 177-179

3 vgl. Breuß, Renate: Das Neue als das Rückgrat des Alten. In: Architektur- und Bauforum. Das österreichische Magazin für Baukultur. Wien: Österreichischer Wirtschaftsverlag, 1997

Oktavverhältnis 40:20 zu einem Septimenverhältnis von 36:20.

Für die Architektur der Gegenwart hat das Entwerfen mit bewährten Proportionsverhältnissen nichts von seiner Gültigkeit verloren. Bruno Spagolla beispielsweise, ein wichtiger Wegbereiter der inzwischen weltweit anerkannten Vorarlberger Baukünstler, überträgt mit dem Entwurf für die preisgekrönte Erweiterung und Sanierung einer Volksschule Proportionsverhältnisse des Altbaus auf den neuen Anbau. Der Saal ist 9 m breit, 12 m lang und 6 m hoch – ein klassischer Dreiviertler. Ausgehend von elementaren Verhältnissen (4:3, 2:1, 3:2) und Ordnungen ist eine zeitgemäße und angemessene Lösung entstanden, die ohne modische Elemente auskommt.3

Lageplan

Grundriss Erdgeschoss

Bruno Spagolla: Volksschule in Marul, für die das Dorf 1997 den Internationalen Sextenpreis erhalten hat

Kochen als wissenschaftliche Disziplin

Im Gegensatz zur Architektur- und Kunstgeschichte werden alltägliche Handlungen wie das Kochen noch kaum wissenschaftlich untersucht. Die intensive Auseinandersetzung mit historischen Kochrezepten und praxisimmanenten Regeln aber lässt verblüffende Parallelen zu künstlerischen Gestaltungsprinzipien sowohl in der Kochkunst wie der Architektur oder der Musik erkennen. Zudem lässt sich anhand von Speisen eine Idee vom Wandel geschmacklicher Vorstellungen nachvollziehen. Im Gegensatz zu Bauten und Bildern, die Bestand haben, werden Speisen verzehrt. Was bleibt, ist das Rezept, das – vergleichbar mit der Partitur in der Musik – eine Vorlage bietet, die zur Interpretation einlädt.

Methodisch kann ein Rezept genauso analysiert werden wie ein Bild oder ein Bauwerk. In einer inhaltlichen Annäherung lassen sich zunächst die dargebotenen Gegenstände identifizieren. Beim Kochen können dies das Fleisch, der Fisch, das Gemüse oder die Früchte sein. In der Malerei erkennt man eine Frau, einen Hund, einen Engel oder einen Baum und in der gebauten Welt die Kirche, das Haus, das Schloss oder die Fabrik. Lässt sich in der Beschreibung von Gewürzen ein emotionaler Ausdruck über die Geschmacksqualitäten süß, sauer, salzig oder bitter festhalten, so weiß man in der bildlichen Darstellung zum Beispiel den lachenden vom weinenden Engel, in der gebauten Gestalt die männlich-kräftige von der jungfräulich-zarten Säule zu unterscheiden. In einem nächsten Schritt werden die formalen Beziehungen als Bedeutungsträger untersucht, um dann in Kenntnis der Gegebenheiten und historischen Bedingungen eine Vorstellung vom Werk im Kontext der Zeit herauszuarbeiten. Bei einem Rezept wird erst dann der eigentliche Gehalt einer Speise sichtbar. Den Gegenstand formal zu beschreiben, sich auf die ästhetische Struktur einer Speise einzulassen, zeigt, dass auch diese Träger von Bedeutung und Ausdruck einer Weltanschauung ist. Einen Bissen auf der Zunge intensiv wahrzunehmen und daraus eine Botschaft abzulesen setzt eine ästhetische Struktur und eine bewusste Wahrnehmung zwingend voraus. Erst dann wird die Speise zum sinnlichen Angebot einer gestalteten Form, lässt Essen das geschmackliche Spüren einer Idee auf der Zunge zu.

Es geht in der Folge im Wesentlichen darum, das Feld aufzuzeigen, in dem im Kochen Regeln des Messens und Teilens auftauchen, und nachvollziehbar zu machen, wie eingesetzte Formen und Proportionsverhältnisse sich auf den Geschmack auswirken und wie der Mensch in der gestalterischen Erschließung von Welt, im Bereich des Kochens (beziehungsweise des Essens), über seinen Körper und seine Sinne Einfluss nimmt.

31

Der Mensch und das Maß

Bis zur Einführung des metrischen Systems im 19. Jahrhundert nahm der Mensch seinen eigenen Körper als Vorbild für Maßeinheiten in Kochrezepten. Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: in den Speisenbenennungen, in den eingesetzten Mengen, in den Formen und Größen, in der Wahrnehmung auf der Zunge und im Gaumen.

Ähnlich den anthropomorphen Architekturkonzepten wie beispielsweise Francesco Giorgio Martinis auf menschliche Maße bezogener Kirchengrundriss von 1480/1490 werden auch Teile einer Speise mit den Gliedern und Organen des Menschen verglichen. Sind es im Kirchenbau das Chorhaupt, die Arme des Querschiffs, der Gewölbescheitel, die Front oder die Stirnseite, der Baukörper selbst, so finden wir in der Speisensprache den Laib Brot, die Handsemmel, den von der Matrix hergeleiteten Kuchen, den Zopf, die Knoblauchzehen, den Kohlkopf oder die orecchiette. Bestimmend für die Benennung ist die gegebene zit. nach Breuß, Renate: Das Maß im Kochen. Mengen und Maßangaben in Kochrezepten von der Antike bis zur Einführung der metrischen Maße im 19. Jahrhundert und deren Parallelität zu künstlerischen Gestaltungsprinzipien, Innsbruck: Haymon, 1999, S. 56 4

Ähnlichkeit mit dem menschlichen Körperteil, bzw. dessen Einfluss auf die Herstellungsart. Im Bregenzerwald (Vorarlberg, Österreich) gab es früher ein Gebäck mit dem Namen „Ault wibar knüe“ (Altweiberknie). „Ihre Herstellungsart bestand darin, dass eine gedörrte Zwetschke oder ähnliches in den Teig getaucht und herausgebacken wurde; diese Küchlein wurden wieder eingetaucht und von neuem gebacken. Wenn dieser Vorgang 2-3 Mal wiederholt wird, entstehen größere knorrige Gebilde, die 4

in derber Weise mit den Knien alter Weiber verglichen werden.“

Heute wird in der Benennung von Speisen eine Analogie zu eigenen Körperteilen möglichst vermieden. Die einmal selbstverständliche Nähe des Menschen zum Speisen-Material ist inzwischen weitgehend tabuisiert. Es fehlen qualitative Vergleiche wie „lass die Kütten (Quitten) so lange kochen, dass sie sich noch greifen lassen“ oder „zuckere die Mandelmilch in der Süße einer Kühe-Milch“. Vielmehr erleben wir in der gegenwärtigen Darstellung von Speisen eine Ästhetisierung. Zwar ist von Sinnen und Sinnlichkeit die Rede, vom Prozess der Herstellung in seiner Nähe zum Material, zum Körper ist das Bild aber unscharf geworden. In den alten Kochbüchern ist diese sinnlich materialorientierte Körperlichkeit, mitunter auch zwischen den Zeilen, noch gespeichert. 32

Eine unmittelbare Übertragung der menschlichen Gestalt auf den architektonischen Entwurf findet im Kochen über den Einsatz von Mengen eine Parallele. Ursprünglich gab es eine sehr direkte und einfache Beziehung. Ausgehend vom individuellen Menschen mit „seinem Appetit“ und „seinem Hunger“ war über „seine Handvoll“ die richtige Menge für den täglichen Nahrungsbedarf gesichert. Diese schwankenden Größen, die sich an einem wohlgeformten, normal gewachsenen Menschen orientierten, wurden im Zuge der Standardisierung der Maße in einem verallgemeinerten System zu einer festen Größe. Das griechische Trocken- und Kornmaß choenix übertrug das gewöhnliche Maß einer Tagesration, bemessen für einen erwachsenen Mann, auf ein festes Maßsystem. Das deutsche Raummaß für trockene Waren war der Metzen, der auf eine faustgroße Ration Getreide zurückgeht. Von einer Grundzutat wie Mehl, Nudeln oder Reis pro Person eine Hand voll zu nehmen und diese Größe als Grundmaß oder Modul einzusetzen bleibt Francesco Giorgio Martini: Kirchengrundriss von 1480/1490

bewährte Küchenpraxis. Werden gute oder kleine Esser zu Tisch erwartet, wird eine Extrahand voll, eine Männerhand voll oder ein Händlein voll einge-

setzt. In der Verteilung der Stücke kommen Rang und Hierarchie der Esser zum Tragen. Quantität ist also in eine qualitative Formulierung übertragbar, und umgekehrt ist über rein perzeptive Beschreibungen eine Beziehung zu den Maßen herstellbar. Nicht aus dem Blickfeld gerät das ungeteilte Ganze, welches neben der Anzahl der Personen auch das Gefäß, das Nahrungsmittel, der ganze Fisch sein kann. Daraus können sich die weiteren Ordnungen und Teilungen ableiten.

Im Kochen nimmt der Mensch neben seinen Gliedmaßen auch über die Sinne und die Körpersprache Einfluss auf die Gestaltung. So erhält eine Speise ihren letzten Schliff unter Einsatz aller Sinne: Wie fühlt sich ein Teig an, wie schaut ein Schnitzel in der Pfanne aus, was höre ich, was rieche ich? Über das brutzelnde Geräusch oder die Farbe „laz es also lange braten biz daz es singe und rot werde“, hört und sieht der Koch das Ende einer Garzeit. Über den aufsteigenden Duft riecht er, ob genug Kräuter zugeführt wurden, über das Rühren, Kneten und Wirken strukturiert er gestisch und rhythmisch eine Teigmasse, mit der Hand und den Fingern begreift er die richtige Konsistenz einer Knödelmasse, teilt Mengen und Flächen, misst räumliche Verhältnisse. Technische Messgeräte sind für sich genommen genauer, der Mensch mit seinen Sinnen aber ist zutreffender im Finden der richtigen Verbindung, im Zusammenführen (Komponieren), in der Instanz des Abschmeckens.

Immer wieder forderten die Köche in frühen Aufzeichnungen das Abschmecken einer Speise ein: So lange, bis es passt. „Der Koch, der auf seinen eigenen Geschmackssinn baut, wird nie ein schlechter Koch sein. Du wirst auch niemals fehlschlagen, wenn deine Sinnesorgane klar und in Ordnung sind. Koche und schmecke oft ab! Nicht genug Salz; gib etwas hinzu. Noch etwas fehlt; probiere, schmecke ab, bis es passt, bis der Geschmack stimmt; ziehe an wie bei einer Harfe, bis sie gestimmt Machon zit. nach Breuß, Renate: Das Maß im Kochen, S. 39f.

5

ist. Und wenn du glaubst, dass alles in Harmonie ist, dann bring deinen Chorus von Speisen in singendem Einklang 5

herbei.“

Anpassen, aufpassen, passen

Vom Anpassen, Aufpassen und Passen ist im Rezeptmaterial der vormetrischen Zeit ständig die Rede. „Und besagter Meister

6

Chiquart zit. nach ebd. S. 83

sollte aufpassen, dass er von nichts zu viel hineingibt, sondern eine maßvolle und kontrollierte Hand habe und nur das hin6

eingebe, was ihm vonnöten erscheint.“

Nach griechischem Verständnis bedeutet Harmonie die Anpassung der Teile ans Ganze. Sei dies im Bootsbau die Fügung zweier Baumstämme zu einem Floß oder im Kochen das Verbinden von Mehl und Butter zu einem neuen, passenden Ganzen, zu einem mürben Teig. Die Auffassung von Harmonie als der Vereinigung von Gegensätzlichem geht auf die mythologische 33

Person der Harmonia zurück, welche bei Hesiod (700 v. Chr.) als Tochter des Kriegsgottes Ares und der Schönheits- und Liebesgöttin Aphrodite erscheint. Mathematisch gefasst wird der Harmoniebegriff von den Pythagoreern, die in ihrer Zahlenlehre die wechselseitige Entsprechung von Tönen und Zahlen, von Qualitäten und Quantitäten entdeckten. Beträgt das Verhältnis der auf dem Monochord zum Schwingen gebrachten Saite 1:2, hört man eine Oktave; beträgt das Verhältnis 2:3, hört man eine Quinte, beim Verhältnis 3:4 eine Quarte. Dass eine Oktave die Halbierung eines Ganzen ausdrückt – sei es auf der Saite eines Musikinstruments, auf einer gezogenen Linie, einem Haufen Mehl oder einem Brocken Butter – gehörte einmal zum Allgemeinwissen und bestimmte auch die Küchenpraxis. „Es beginnt nach Kunst auszuschauen, was?“, spricht ein Koch bei Damoxenus (3. Jahrhundert v. Chr.). Und weiter: „Wie du siehst, mische ich nach höherem Zusammenklang: Einiges hat Gemeinsamkeit nach der Quarte, anderes nach der Quinte oder nach der Oktave. Ich verbinde alles nach seinen eigenen Intervallen und verflechte dies zu einer Reihe angemessener Gänge. Manchmal überwache ich alles mit Verweisen wie: 7

Warum gibst du das hinzu?, Was willst du hier beimischen?, Pass auf, du zupfst eine dissonante Saite.“ Über die dissonante Saite ist eine Empfindung, ein Wert ausgedrückt. Bevorzugt werden konsonante Klänge, d.h. Proportionen aus niedrigen ganzen Zahlen. Dass eine Quantität in Qualität umschlägt und diese als Wert aufgefasst wird, ist auch Ausdruck des vielzitierten „rechten Maßes“, der Einhaltung der glücklichen oder richtigen Mitte. 1485 forderte der Küchenmeister im ältesten gedruckten deutschen Kochbuch: „Ob du dy mos recht kanst treffen so bistu ein guter koch.“ Mit Dürers Worten: „Zwischen zu viel und zu wenig gibt es eine richtige Mitte; diese musst du in all deinen Werken zu treffen suchen.“ Er wollte wissen „wie die recht mas wär und keine andere“. Dürer verwendete das Wort „mas“ als einen der Proportion gleichgestellten Begriff und 8

versteht darunter „die Harmonie der ganzen Versammlung oder des ganzen Ensembles“ . Dabei sind nicht nur quantitative,

7

Athenaeus zit. nach ebd. S. 132f.

sondern auch qualitative Aspekte zu berücksichtigen, Männliches sollte nicht mit Weiblichem, fette Gestalten nicht mit

8

zit. nach ebd. S. 72

mageren, Jugend nicht mit Alter gemischt werden.

Wie in der Malerei und der Baukunst ist das Proportionieren auch im Kochen Teil der Form. In der Proportion ist die zwischen mehreren Teilen herrschende Relation geregelt. So wie für den mittelalterlichen Baumeister die Proportionsregeln statische Grundformeln beinhalteten, ist auch in der Küche der praktische Wert einer eingesetzten Regel die Voraussetzung, d.h. ein Teig darf nicht zerbröseln, muss statisch halten und gleichzeitig den dietätischen wie geschmacklichen Vorstellungen genügen. Die im Kochen im Zusammenhang mit Verhältnissen und Proportionierungen auftauchenden Formulierungen sind einfacher Natur. So heisst es: „Nimm doppelt so viel vom einen wie vom andern; für die Kässpätzle nimm 3 Teil Bergkäse, 2 Teil Räßkäs und 1 Teil Emmentaler“. Hildegard von Bingen hätte gesagt: „Nimm Emmentaler, doppelt soviel Räßkäs und soviel Bergkäse wie beide zusammen.“ Das Persönliche, das Eigene drückt sich dabei durch geringfügige Abweichungen von einem Idealtypus (9:8) aus – etwas mehr, eine Spur weniger. Halbierungen, Drittelungen und Viertelungen können meist mit freiem Auge durchgeführt werden. Wichtig sind das grundsätzlich proportionale Arbeiten, die Angemessenheit der Teile zu einem Ganzen und qualitative Entsprechungen. Die einfache Lesbarkeit dieser Verhältnisse ist durch die Umrechnung auf ein metrisches Äquivalent inzwischen allerdings in Vergessenheit geraten. Dabei sind ein Teil Butter und zwei Teile Mehl als anschauliche Größen besser merkbar als die präzisen Angaben 280 g und 560 g.

Der gute Reis

9 siehe hierzu Naredi-Rainer, Paul von: Architektur und Harmonie, Kapitel „Proportionen“, 1989, S. 186ff.

Der Goldene Schnitt belegt, dass der Mensch den eigenen Körper zum Vorbild für ausgewogen empfundene Proportionsverhältnisse nahm. Der Mensch ging davon aus, dass seine ihm angeborenen Maßwerkzeuge wie Elle, Fuß, Hand und Finger in ihren Untergliederungen der Proportion des Goldenen Schnitts gleichkommen. Tatsächlich entsprechen sie aber den 9

Verhältnissen der Fibonacci-Reihe , einer Zahlenfolge, die in ihrer sukzessiven Teilung dem Goldenen Schnitt ähnlich ist. Im Kochen findet sich das Verhältnis von 5:8 in Flächen- wie in Raummaßen: Umschreibe ich meine „wohlgeformten Finger“ mit einem Rechteck, so ist dieses ca. 5 cm breit und 8 cm hoch. Etwas „zween finger breit und eines fingers lang“ zu schneiden ist in Rezepten gängige Praxis. In einer sizilianischen caponata, einem Gemüsegericht, stehen die thematisch wichtigsten Zutaten im Verhältnis von 5:8 zueinander. Die Köchin aus dem Benediktinerinnenkloster Sant´Andrea Apostolo alle Vergini in Palermo drückte das 34

noch Ende des letzten Jahrhunderts so aus: „Es ist schwierig, für diese Art von Speisen eine exakte Menge zu geben. Man kann nur bedenken, dass die Melanzane und die Zucchini die Speise ausmachen und alle anderen Zutaten die Gewürze (Kapern, Oliven, Essig, Zucker) darstellen, und dass 800 g 10

Melanzane und 1/2 kg Zucchini für 6 Personen genügen werden.“ In guten Küchen Chinas beträgt das Verhältnis von Reis zu Wasser 1:1,6, d.h. 5 Teile Goldener Schnitt und Fibonacci-Reihe

Reis werden in 8 Teilen Wasser gekocht. Der österreichische Koch Zenker gab folgende Beschreibung für das Schneeschlagen: „In der ersten Minute 180

Schläge, in der zweiten 200 Schläge, in der dritten 230, in der vierten 280 und in der fünften Minute 360 Schläge.“ Die Zunahme der Schläge von der ersten bis zur fünften Minute kommt einer Fibonacci-Folge gleich: 20, 30, 50, 80. Ebenso verhielten sich die damaligen Bemühungen in der Musik, welche die Dauer einer Note durch Zählen exakt festlegten. Das Metronom, der Taktmesser, wurde von Johann Nepomuk Mälzel 1816 patentiert, Zenker hielt sein Rezept 1817/18 fest. Einfachste Zahlenverhältnisse bilden also nicht nur die Entwurfsgrundlage für griechische Tempel, die Villen von Palladio und die Schule von Marul. Auch die Mischungsverhältnisse von Teigen, Suppen und Saucen enthalten die am meisten verwendeten Verhältnisse der Oktave, Quinte und Quarte und umschließen die Zahlen 1, 2, 3 und 4. Nach dem italienischen Architekten 10

zit. nach ebd. S. 78

zit. nach Museum für Gestaltung (Hg.): Die gute Form. Teigwaren aller Art. Basel: Schwabe & Co AG, 1991, S. 18

11

und Theoretiker Leon Battista Alberti sind dies musikalische Zahlen. „Bauten, die diese Zahlenproportionen enthielten, bescherten seiner Überzeugung nach den Augen ebensolches ästhetisches Wohlgefallen wie die ihnen entsprechenden Töne dem Ohr.“ Ästhetisches Wohlgefallen für die Zunge ist die naheliegende Weiterführung dieses Zitats. Der Philosoph Lichtenberg 11

vermutete, dass so wie das Ohr Verhältnisse misst, so berechne vielleicht die Zunge Flächen an Körpern.

Die Form auf der Zunge lesen

Die Vielzahl an Formbeschreibungen in Rezepten lässt vermuten, dass die Beziehungen zwischen Form und Geschmack allseits bekannt waren. Nicht nur der Kunsthistoriker Karl Friedrich von Rumohr beschrieb 1822 in seinem Geist der Kochkunst das formale Spiel mit den Gegensätzen in ihrer geschmacklichen Auswirkung: „Die Süßigkeit und Milde des Aales bekommt 12

durch die Kruste, zu der ich eben die Anweisung gegeben habe, einen sehr angenehmen Gegensatz.“ In einem barocken

Rezept für Mandelschmarren wird 1 Pfund Mandeln zuerst in drei Teile getrennt: „Den ersten daill stoß groblet, den andern schneid langlet, den driten toil laß ganz ...“ Um eine Pastete aus Kamm, Leber und Hoden vom Hahn zu machen: „Schneide jeden Kamm in drei Teile und die Lebern in 4 Teile, und die Hoden lasse ganz.“ Über Vergleichsgrößen ist auch Einblick in das persönliche und kulturelle Umfeld eines Kochs oder einer Köchin gegeben. In den Klosterküchen war das Schaumgebäck „so

12 Rumohr, Karl Friedrich von: Geist der Kochkunst. München: Georg Müller, 1922, S. 79 (Erstausgabe Stuttgart-Tübingen, 1822)

13

zit. nach Breuß, 1999, S. 116

groß wie Hostien“, das Anmalen der Schokoladenkekse folgte „den Königen und Königinnen vom Kartenspiel“. Der österreichische Koch Zenker spickte die Gänseleber mit Trüffeln, „... wozu dieselben in der Form derjenigen Nägel geschnitten werden, 13

die man an heiligen Gemählden sieht, z.B. an dem heiligen Kreutze, wo nur die Köpfchen herausstehen bleiben ...“

Ob gewürfelt, zerfädelt, in Streifen und in Scheibchen geschnitten oder als Ganzes belassen, über die Form kann neben ästhetischen Kriterien auch Persönliches, wie Großzügigkeit und Knausrigkeit zum Ausdruck kommen. Wenn man an Fleisch sparen will oder nicht viel davon hat, wird es eben kleiner geschnitten. Uns ist allen bewusst, dass eine Pellkartoffel mit Butter und Salz belegt anders schmeckt als dieselbe Kartoffel zu Brei zermanscht. Jeder hat seine Vorlieben, wenn es um hauchdünne Schokolade oder dicke Rippen geht, um ganze Nüsse oder Nusssplitter, um dicke oder dünne Scheiben Brot. Unsere Zungen sind sehr wohl imstande, die feinsten Unterschiede wahrzunehmen, auch wenn wir dafür keine präzisen Benennungen finden.

Um eine geschmackliche Erfahrung aufzubauen und das Vorstellungsvermögen zu schulen, reicht die verbale Beschreibung nicht aus. Sie ist nur über das Probieren möglich: Reicht man zweierlei Mürbeteigkekse als Kostproben, einmal im Verhältnis 2:1 und einmal im Verhältnis 3:2, d.h. einmal sparsam, einmal fein, stellt sich heraus: Beide sind gut, die sparsamere Variante kann mit der feineren allemal mithalten. Es ist nur eine Frage der Verhältnisse. Mies van der Rohe nannte es „less is more“.

35

Die folgende Auflistung zeigt den Einsatz von Proportionsverhältnissen, wie sie gleichermaßen im Kochen, in der Musik und in der Architektur praktiziert werden.

Prime

1:1

so viel vom einen wie vom anderen 1 Teil Mehl, 1 Teil Butter (Butterteig, Sandteig, königl. Auslegeteig) weitere Beispiele: Einbrenn, Marzipan, Beizen, Gleichschwerkuchen Architektur: Das Allerheiligste im salomonischen Tempel in Jerusalem

Großer Ganzton

9:8

9 Teile Butter, 8 Teile Mehl (guter Butterteig) Ausdruck einer kleinen Abweichung von der Prim, der Butter wird ein Vorschlag gegeben. In der Küchensprache: nimm gleich viel Butter, Mehl, der Butter gib den Vorschlag. Architektur: Alberti, Palazzo Rucellai, Fassade: Mittelachse ist gegenüber den anderen Achsen um einen Ganzton breiter

Quarte

4:3

4 Teile Mandeln, 3 Teile Zucker (Marzipan, sparsamere Variante) Ausdruck einer größeren Abweichung, beispielsweise in Zeiten, wo mit Zucker gespart werden muss, das Verhältnis aber noch funktioniert. Architektur: Spagolla, Volksschule Marul

Quinte

3:2

3 Teile Mehl, 2 Teile Butter (feiner Mürbteig) Architektur: Francesco di Giorgio Martini, Kirchengrundriss nach dem Maß des Menschen

Kleine Sexte

8:5

8 Teile Wasser, 5 Teile Reis (chinesischer Reis) Architektur: Le Corbusier, Modulor mit Fibonaccifolgen

Große Sexte

5:3

5 Teile Mehl, 3 Teile Butter (feiner Auslegeteig) Architektur: Alberti, Palazzo Rucellai, Fassade, Schauflächen

Kleine Septime

9:5

etwas weniger als doppelt so viel vom einen wie vom anderen Architektur: Alberti, Palazzo Rucellai, Fassade, Schauflächen

36 Große Septime

15:8

nur minimal weniger als doppelt so viel wie vom anderen Architektur: Alberti, Palazzo Rucellai, Fassade, Schauflächen

Oktave

2:1

doppelt so viel vom einen wie vom anderen 2 Teile Mehl, 1 Teil Butter (sparsamerer Mürbteig) Architektur: Bramante, Tempietto, San Pietro in Montorio

37

Karl Krimes: Aus einem Speisezimmer, 1919

Werkstoffe, Farbstoffe Annette Gigon im Gespräch mit Petra Hagen Hodgson

Petra Hagen Hodgson (P.H.H.): Zivilisationsgeschichtlich gehören das Bauen und das Kochen zu existenziellen Tätigkeiten des Menschen. Haben für Sie die Errichtung von Häusern und die Zubereitung von Speisen immer noch mit der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse zu tun? Annette Gigon (A.G.): Es gibt tatsächlich einige Parallelen zwischen dem Konstruieren von Gebäuden und dem Zubereiten von Nahrungsmitteln. Dazu gehört, wie Sie sagen, dass wir Menschen die Produkte beider Tätigkeiten nicht entbehren können. Das gilt aber auch für das Herstellen von Bekleidung. Kleider und Bauten sind sich wesensmäßig noch verwandter. Man kann Architekturen durchaus als steife Schutzhüllen verstehen; Schutzhüllen, die – außer im Märchen – eben gerade nicht aus essbaren Bestandteilen beschaffen sein dürfen. Im Unterschied zu Kleidern sind Bauten jedoch um ein Vielfaches größer und schwerer, bedecken und besetzen Land, bilden Orte. Architekturen sind Veränderungen der Erdkruste, bearbeitete, transformierte Materie, um die Erdoberfläche zu vergrößern, sie raumhaltig zu machen. Von der Nahrungsmittelerzeugung, der Vorstufe der Nahrungsmittelzubereitung, lässt sich natürlich ebenfalls sagen, dass sie die Erdoberfläche verändert – weniger tiefgreifend, aber großflächiger. 38

P.H.H.: Über Jahrhunderte tradierte Regeln und Rezepte für die Art und Weise des Zusammenfügens von Zutaten sind die Basis der Kochkunst. Auch das Bauen vollzieht sich nach Konventionen und Regeln, arbeitet mit Proportions- und Maßverhältnissen. Das Bauen wie das Kochen sind zugleich auf die Befriedigung geschmacklicher bzw. ästhetischer Ansprüche ausgerichtet. Ihre Bauten haben eine eigene Harmonie. Sie ruhen in sich. Entstehen Ihre Gebäude aus dem Spiel mit den Regeln der Baukunst allein, oder beziehen Sie die sich wandelnden Wahrnehmungsansprüche mit ein? A.G.: Lassen Sie mich dazu einen kleinen Exkurs machen: Anlässlich einer Ausstellung in der Architekturgalerie in Luzern im Jahr 1993 haben wir all jene Materialien als Muster ausgestellt, aus denen unsere ersten Gebäude zusammengesetzt waren, bzw. die wir für diese Bauten evaluiert hatten. Wir verglichen diese Auslegeordnung mit einer mise en place – einem Begriff aus der Gastronomie (und der Schauküche) für die vorbereiteten Zutaten, die alsbald zu einem Gericht verarbeitet werden. Wir wollten damit einerseits darauf aufmerksam machen, wie wichtig uns die Materialien sind, andererseits interessierte uns die „Zerlegung“ der Bauten in deren Bestandteile und schließlich gefiel uns der Aspekt des Baukastens. Darunter waren Materialien, die man als hässlich empfand, weil sie im Industriebau eingesetzt wurden, oder solche, die man kaum kannte, weil man sie zumeist nicht sichtbar beließ. Materialien, die man „erwecken“ konnte, indem man sie anders gebrauchte. Im Zusammenhang mit ihrer Frage nach den Maß- und Proportionsverhältnissen ist interessant, dass die Dimensionen und Proportionen eines Körpers oder eines Raumes nicht absolut richtig oder falsch sind, sondern dass sie besser oder schlechter Ausstellung „Werkstoff“ in der Architekturgalerie Luzern 1993. Ausgestellt waren „Zutaten“ wie Materialmuster, aus denen Architektur entsteht.

sind, je nachdem in welchem Material sie ausgeführt wurden. Ein hölzerner Raum wirkt ganz anders als ein gleich großer stei-

nerner. Wir bestimmen die Dimensionen und Proportionen anhand von Modellen in den unterschiedlichen Maßstäben – mit Augenmaß also viel mehr als mit Proportionsregeln. In der Architektur hat diese Suche jedoch innerhalb der Grenzen jener Regeln und Regulierungen zu geschehen, die da heißen Funktion, Konstruktion, Budget und Baugesetze. Letztere sind zumeist die entscheidenden „Maßgaben“.

P.H.H.: Für beide kreativen Tätigkeiten, das Kochen und das Bauen, sind das verwendete Material bzw. die Zutaten und deren je spezifische Bearbeitungsweise wichtig. Die von Ihnen geschaffenen Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass Material und Konstruktion zur Vollendung des Ausdrucks wesentlich beitragen. Entstehen diese Projekte aus einer Reduktion und Verfeinerung der Zutaten oder aufgrund ihrer Neuerfindung und Differenzierung? A.G.: Sowohl als auch. Beim Kirchner Museum ist das Erstere vorwiegend. Dort haben wir ein bekanntes Baumaterial, Glas, unterschiedlich behandelt und unterschiedlich verwendet, je nachdem welche Funktion das Glas in Bezug auf die Lichtführung und Sichtgewährung in das Innere des Museums zu erfüllen hatte. Es kamen klare, geätzte und auch profilierte Gläser zum Einsatz. Zerbrochenes Glas, d.h. Abfallglas streuten wir damals schließlich anstelle von Kies auf die Flachdächer. Bei der Sammlung Oskar Reinhart am Römerholz in Winterthur war es hingegen das Letztere, die Erfindung einer neuen Betonmixtur. Wir versuchten dort eine Adaption der neuen Baukörper an die bestehende historistische Villa (1915) und deren Galerieanbau (1924) mit Material statt mit Formen und Details. Wir wollten eine Betonfassade und gleichzeitig eine beschleunigte Patinierung, wie man sie bei Metallen, insbesondere Kupfer, beobachten kann. Also begannen wir mit feinem Kupferpulver als Betonzusatz zu experimentieren. Die gewünschte grünliche Farbveränderung stellte sich aber erst bei einem Betonmuster ein, das auch noch Kalksandstein als Zusatz aufwies. Beides, Kupfer und Kalksandstein, waren übrigens Materialien, die bei der bestehenden Villa verwendet worden waren. Die ungewohnte Betonmischung kann auch als eine Art alchemistische Annäherung an diesen schwierigen genius loci verstanden werden.

Grundriss

Umbau Sammlung Reinhart „ Am Römerholz“, Winterhur 1993/1995-1998

Grundriss

Kirchner Museum Davos, 1989-1992

39

P.H.H.: Die Kochkunst hat immer regionale Bezüge. Ihre Bauten haben entsprechend immer einen Bezug zum Ort. Wie „verkochen“ Sie diesen? Wie gehen Sie mit Tradition und Heimat um, ohne in Regionalismen zu verfallen? A.G.: Der Ort ist sehr wichtig in unserer Arbeit. Die Bezugnahme kann auf verschiedensten Ebenen geschehen. Manchmal sind Bezüge zur örtlichen Bautradition unausweichlich und werden gewissermaßen durch eine Baugesetzgebung auferlegt, wie beispielsweise beim Galerielager in Wichtrach, einer ländlichen Ortschaft im Kanton Bern, wo der Ortbildschutz der Gemeinde für Neubauten Satteldächer und Dachvorsprünge von mindestens einem Meter verlangt. Wir haben diese Bedingungen erfüllt, von den Dachvorsprüngen eine transparente Fassadenschicht als Klimavorhang abgehängt, den Bau aber mit jenem Material verkleidet, das nicht nur lokal, sondern global für die Verkleidung von Lagerhäusern verwendet wird – mit Tetrablechen. Häufig sind es aber wir, die Ortsbezüge herauszuschälen suchen, um die Gebäude zu „verorten“. Das Liner Museum ist ein Beispiel dafür. Dort haben wir versucht, auf die Kleinteiligkeit der Landschaft zu reagieren, indem wir einen stark gegliederten Baukörper schufen, der sich aus aneinandergereihten Einzelhäusern, bzw. -räumen zusammensetzt. Die Fassadenverkleidung aus Chromstahlblechen dient der farbneutralen, diffusen Lichtreflexion der Sheddächer. Obwohl um ein x-faches größer und eine andere Materialität aufweisend, erinnern die überschuppten Bleche aber auch an die traditionelle Bauweise mit kleinen Holzschindeln. Der ungewöhnlichste und gleichsam direkteste Ortsbezug findet sich beim archäologischen Museum und Park in Bramsche-Kalkriese bei Osnabrück. Der Ort ist dort nicht nur Bauplatz und Kontext, sondern bildet den eigentlichen Grund der Bauaufgabe. Es handelt sich nämlich um den Ort, wo sich vor zweitausend Jahren die berühmte Schlacht der Germanen gegen die Römer zugetragen hat; Varusschlacht genannt oder Hermannsschlacht oder (fälschlich) Schlacht im Teutoburger Wald. Sämtliche baulichen Eingriffe, die wir getätigt haben, sind in Stahl ausgeführt – in Form von Konstruktionsstahl, Larsen, Stahlrohren, stählernen Platten für die Fassadenverkleidung sowie als Gehwegbelag; Stahl in verschiedenen Bearbeitungsarten und Legierungen; gestrichen, geölt, galvanisiert, rostend. Stahl ist in diesen Dimensionen erst seit der Industrialisierung möglich und datiert somit den zeitgenössischen Eingriff. Er verweist aber nichtsdestotrotz auf die kleinteiligen, metallischen Gegenstände, die Münzen, Schuhnägel, Schleuderbleie und Gesichtsmasken, die aus römischer Zeit geborgen wurden. Schließlich vermitteln die verschiedenen Materialzustände des Stahls den Aspekt des Zeitlichen, des Vergänglichen.

40

Kunst-Depot Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach bei Bern, 2002-2004

Archäologisches Museum Kalkriese, 1998-2002

Museum Liner, Appenzell, 1996-1998

41

Grundriss

Museum Liner, Appenzell, 1996-1998

Museum Liner, Appenzell, 1996-1998

42

Grundriss

Erweiterungsbau des Kunstmuseums Winterthur, 1993-1995

P.H.H.: „Alles Gute“, sagte einmal der französische Schriftsteller Curnonsky, „schmeckt nach dem, was es ist.“ Damit stellt er die Frage nach den Zutaten, ihrer materialmäßigen Qualität und ihrem natürlichen Geschmack. Zur Forderung nach der Güte des verwendeten Materials hat die Moderne in der Architektur die moralischen Kategorien der „Ehrlichkeit“ und „Materialgerechtigkeit“ eingeführt. Sind das für Sie überhaupt noch Kriterien? Ich empfinde, dass es Ihnen heute um mehr, vordergründig um anderes geht: um Wirkungen und Stimmungen, um physisches, optisches Erleben, um reine, materielle Schönheit. A.G.: Im Halbkanton Appenzell Innerrhoden sind die Häuser wunderschön, bunt bemalt, im benachbarten Halbkanton Appenzell Ausserrhoden, wo ich aufgewachsen bin, sind die traditionellen Häuser weiß oder holzfarben. Es gibt diese beiden Pole auch in unseren Arbeiten. Zum einen gibt es die Bauten, die nur durch Konstruktion und Material wirken, wie das genannte Kirchner Museum oder die Museumserweiterung in Winterthur, die beide das Kriterium der Ehrlichkeit noch weiter treiben, indem sie sogar Einblicke in die Konstruktionsweise des Fassadenaufbaus erlauben. Zum anderen gibt es jene Bauten, deren Erscheinung wir mittels Farben zu steigern suchen. Farbe ist ein sehr günstiges und überdies ungeheuer potentes Mittel dafür. Sie verändert, bedeckt oder überdeckt Baumaterial. Vielleicht könnte man Farbe tatsächlich mit Gewürzen vergleichen, von denen es nur ganz kleine Quantitäten braucht, um die Speisen geschmacklich zu verändern. Beim Wohnkomplex Broëlberg I, einem der ersten farbigen Gebäude, haben wir Farbe jedoch sogar als kognitives Element einzusetzen versucht. Eine verputzte Außenisolationsfassade färbten wir dunkelbraun und hellorange. Wir wollten mit diesen für Verputze ungewohnten, verfremdenden und an organische Dinge erinnernden Farben auf den Untergrund verweisen, der eben nicht aus mineralischem Mauerwerk oder Beton bestand, sondern aus (chemisch) organischer Isolation. Eine ruhige, gelassene Erscheinung eines Gebäudes, Einprägsamkeit, Ausstrahlung, auch Schönheit, das sind tatsächlich Ziele, die wir mit unserer Arbeit zu erreichen suchen – ob mit oder ohne Farbe. Ebenso wichtig ist uns jedoch die Schlüssigkeit, die Kohärenz eines Projektes, die Art und Weise, wie die Teile zueinander in Beziehung stehen. Folgen sie einer inneren Logik oder bilden sie nur eine Addition von interessanten Details?

43

Wohnüberbauung, Broëlberg I, Kilchberg, 1994-1996

Grundriss

P.H.H.: Bei der Speisenzubereitung besteht ein enger Zusammenhang zwischen Farbe und Appetit, den sie erregt. Auch in der Architektur besteht ein enges Zusammenspiel zwischen Farbe und einem „Sich-Einlassen“ des Betrachters. Ihre Farbgebungen vermitteln nicht nur Stimmungen, sondern definieren vor allem Körper und Räume. Sie arbeiten hierzu eng mit Künstlern zusammen. Können Sie die Bedeutung der Farbe für das Bauen erläutern? In diesem Zusammenhang interessiert mich auch, wie die Auseinandersetzung mit der Kunst Ihre Arbeit beeinflusst hat. Sie haben mehrere Kunstmuseen realisiert und vielfach unmittelbar mit Künstlern zusammengearbeitet. A.G.: Wir haben Farbe jeweils aus unterschiedlichen Gründen verwendet und auch auf ganz verschiedene Weise, je nachdem welches architektonische Konzept den Bauten zugrunde lag. Zumeist zogen wir dann Künstler heran, die uns durch den „Farbkosmos“ lotsen: Adrian Schiess, Harald F. Müller, Pierre André Ferrand. Ich kann diese unterschiedliche Herangehensweise wiederum am besten mit Bespielen erläutern. Bei dem kleinen Stellwerk in Zürich brachte uns die Beobachtung der braunroten Verschmutzungen der Gebäude und Objekte nahe der Geleise, die von feinem Eisenstaub herrühren, der beim Bremsen der Züge freigesetzt wird, dazu, dem Beton Eisenoxid-Pigmente beizufügen. Bei der Wohnüberbauung Susenbergstrasse am Zürichberg ordneten wir den drei Häusern verschiedene Farben zu, um sie zu individualisieren und so den umliegenden Einzelvillen verwandt zu machen. Die Farben sind hier als Anstriche von mineralischen Pigmenten aufgetragen. Bei der Wohnüberbauung Pflegi-Areal in Zürich wurde Farbe nur auf drei Farbflächen beschränkt, um die Außenräume zu färben, zu „aromatisieren“, währenddessen die anderen Fassadenflächen in Beton belassen wurden. Vielleicht müsste ich noch nachschicken, dass es bei der Zusammenarbeit mit Künstlern weder uns noch ihnen darum ging, Architekturen zu begehbaren Kunstwerken zu erklären. Was wir bei diesen Gebäuden suchten und von den Künstlern auf unterschiedliche Art bekamen, war je ein ihrem Charakter und ihrem künstlerischen Interesse entsprechender Beitrag zu unserer Architektur. Ein Beitrag im Sinne eines Mitdenkens, Mitsuchens, Mitschauens, Mitgestaltens an der Architektur. Die künstlerische Arbeit ist in der Folge so stark in das entwerferische Konzept der Bauten integriert, dass sich die Teile Kunst und Architektur kaum mehr trennen lassen. Dies steht im Unterschied zur bekannten „Kunst am Bau“-Situation, aber auch zu den Museumsbauten, bei denen die Architektur und die ausgestellte Kunst deutlich getrennt sind. Bei den meisten Museumsbauten haben wir keine Farbe verwendet, die Farbe sozusagen der Kunst überlassen. Der Vollständigkeit halber müsste ich auch noch die Ausnahmen erwähnen – eben das Gebäude für die Sammlung am Römerholz mit seiner autopigmentierenden Patina und das Museum Albers-Honegger Espace de l’art concrète in Mouans-Sartoux, Frankreich, das mitten in einem kleinen Waldstück eines 44

Schlossparks steht. Das turmähnliche Gebäude ist mit einer gelbgrünen mineralischen Farbe gestrichen, die, je nach Jahreszeit, mit den umstehenden Bäumen harmoniert oder auch kontrastiert, die aber auch die Verfärbungen antizipiert, welche sich durch Algen und Moose einstellen werden.

Drei Wohnhäuser an der Susenbergstrasse, Zürich, 1998-2000

Stellwerk Vorbahnhof, Zürich, 1996-1999

Ansicht

45

Grundriss

Wohnüberbauung Pflegi-Areal, Zürich, 1996-1999

46

Wohnüberbauung Pflegi-Areal, Zürich, 1996-1999

Wohnüberbauung Pflegi-Areal, Zürich, 1996-1999

47 P.H.H.: Über den reinen Nützlichkeitswert hinaus spricht man von beiden als Kunst – von der Baukunst und von der Kochkunst. Beide vermitteln Werte und Vorstellungen. Frau Gigon, Ihre Bauten rühren an, schaffen sinnhaft aufeinander bezogene Räume. Welche entwurfsleitenden Gedanken führen Ihre Bauten zu dieser Qualität? A.G.: Es sind wohl weniger Gedanken als Visionen, Vorstellungen, Ideen, welche die Entwurfsarbeit leiten. Und es ist neben der eigentlichen Arbeit, dem Erstellen von Plänen, vor allem die Modellbauarbeit, welche es ermöglicht, Vorstellungen zu überprüfen, zu korrigieren – auch durch trial and error, durch Versuche, am Modell neue Lösungen zu generieren. Ein Stück weit ist dieses Ausprobieren wohl tatsächlich vergleichbar mit dem Kosten beim Kochen, dem Abschmecken. Ich mag den Begriff Baukunst nicht sonderlich, obwohl er wiedergibt, dass durch diese intensive, geduldige, manchmal auch verzweifelte Suche nach schlüssigen Lösungen, in Kongruenz mit dem Nützlichkeitswert, eine Art Mehrwert entsteht. Es ist aber trotzdem nicht so, dass mit diesem Prädikat Baukunst ein Disziplinwechsel zur bildenden Kunst hin geschehen würde. Obwohl es eine Vielzahl von gegenseitigen Annäherungen, ein großes gegenseitiges Interesse und verschiedene Arten der Zusammenarbeit gibt, bleibt doch ein entscheidender Unterschied zwischen der bildenden Kunst und der Architektur (und auch dem Kochen) bestehen: Die bildende Kunst hat keine Funktion zu erfüllen, keinem Zweck zu dienen, definiert sich selbst, wählt ihre Sujets und Mittel selbst – zumindest seit dem 20. Jahrhundert. Bildende Künstler mögen kochen wie Rirkrit Tiravanija, Speisen auf einer nackten Frau kredenzen, wie es Meret Oppenheim einmal tat, Möbel machen wie Franz West und Joep van Lieshout oder Jorge Pardo. Sie tun dies innerhalb des selbst erweiterten Perimeters der Kunst – immer noch der Mimesis gehorchend, der künstlerischen Abbildung und Nachbildung der Welt. Und sie werden damit nicht zu Koch- oder Designkünstlern.

P.H.H.: Die Speise spricht alle Sinne an. Wir schmecken und riechen vor allem über die Nase. Welche Bedeutung hat die sensorische Wahrnehmung der Architektur für Sie? Sollen Bauwerke riechen? Erschließen sie sich eventuell sogar über das Ohr und die Haptik? A.G.: Gebäude berührt man ja eigentlich kaum. Man steht und geht zwar in ihnen, aber nur ganz wenige Elemente sind dafür bestimmt, dass man sie berührt – umgekehrt betrachtet sind es jene Dinge an einem Gebäude, die einen gewissermaßen „an die Hand nehmen“, Einlass gewähren, durch das Haus führen, es „handhabbar“ machen: Tür- und Fenstergriffe, Handläufe, Armaturen und elektrische Schalter. Ein weiterer Faktor, wie sich uns ein Gebäude erschließt, ist der Hall der Schritte, der Stimme. Es gibt im Kanton Graubünden Räume, die riechen, die sogar gut riechen, und dies über Jahrzehnte hinweg, denn sie sind mit Arvenholz ausgekleidet. Dies ist eine schöne Ausnahme, ansonsten bin ich froh, wenn die Räume keinen Eigengeruch, keine harte Akustik haben und hell sind, damit man darin atmen, arbeiten, sprechen, träumen, essen und trinken kann.

P.H.H.: Zum Schluss: Wir kennen Sie als gute Architektin. Kochen Sie auch? Bevorzugen Sie eine bestimmte Küche? Wenn ja, warum? A.G.: Ich mag gern Ungekochtes; Früchte, Salate, Gemüse. Das hindert mich wohl – neben einem gut gefüllten Terminplan – mein kleines Repertoire an Gerichten auszudehnen. Ich koche nämlich gern, eben z.B. Tomatenknoblauchspaghetti mit Olivenöl, Fisch mit Ingwer und Lauch, Sauerkraut mit Äpfeln, Zwiebeln und Speck – also nicht nur Schweizer Küche. Nicht selten ernähren wir uns aber von frischen Ravioli aus einem kleinen Laden in unserem Quartier.

48

Grundriss

Schnitt

„Espace de l’art concrete“, Mouans-Sartoux, Frankreich, 1999-2003

Der heimische Herd Architekturtheoretische Betrachtungen zum Bauen und Wohnen, nebst Essen und Trinken Fritz Neumeyer

„Eigener Herd ist Goldes wert.“ Volksmund

I 50 Was die kunstvolle Verbindung von Rohstoffen zur Vereinigung von „nützlichen“ und „schönen“ Zwecken betrifft, so gibt es zwischen der Kochkunst und der Baukunst eine tief verwurzelte kulturgeschichtliche Beziehung. In die üblichen Betrachtungen zur Wechselseitigen Erhellung der Künste1 – so der Titel einer Studie von Oskar Walzel, in der unter anderem Baukunst und Musik verglichen werden – sind die Wechselbeziehungen und Parallelen jener beiden praktischen Künste bisher nicht ein1 Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste, Berlin 1917

bezogen worden. Dabei gibt es doch eine Reihe von verbindenden Gesichtspunkten festzuhalten, die sich bei näherem Hinsehen aufdrängen und eine eingehende Behandlung lohnenswert machen.

Als elementare, lebenspraktische Tätigkeiten stehen sich Baukunst und Kochkunst einander durchaus nahe; beide besorgen die existenzielle Produktion von Lebensmitteln, nämlich einerseits die den Körper erhaltende und stärkende Ernährung und andererseits die schützende und dauerhafte Unterkunft. Das Zubereiten bekömmlicher fester Nahrung und das Herstellen einer stabilen bergenden Hülle gehören zu den anthropologischen Konstanten der menschlichen Kultur. Unsere Sprache rechnet deshalb nicht zufällig Weinbau und Ackerbau dem übergeordneten Begriffsreich des Bau-Wesens zu, das also keineswegs eine exklusive Domäne der Architektur ist. Mit ihrem Satzbau gehört auch die Sprache in diese elementare Kulturproduktion. Die selbstverständliche und doch tiefgründig-vielschichtige Bedeutung der „Bau-Kunst“ für das menschliche Leben offenbart sich ebenso unmittelbar in der Kultursphäre „Essen und Trinken“, aus der Ackerbau und Weinbau nicht wegzudenken sind. Was den Verzehr und die Zubereitung von Speisen und Getränken betrifft, so verfügt hier wohl ein jeder über eine direkte ganzheitliche Erfahrung. Jedermann hat sich im Laufe seines Lebens auf irgendeine Weise mit dem Kochen beschäftigt, und beträfe es nur das Frühstücksei. Beim Bauen herrscht eine wesentlich stärker ausgeprägte Arbeitsteilung. Trotzt der Beliebtheit von Baumärkten und weit verbreiteter Do-it-yourself-Mentalität fällt die Rolle des Konsumenten nur selten mit der des Produzenten zusammen.

Dass es eine Beziehung zwischen der Baukunst und der Kochkunst geben muss, der nachzugehen sich lohnte, hat sich mir durch die eigenen kulinarischen und künstlerischen Geschmackserfahrungen und -vorlieben aufgedrängt. Eine nachdrückliche Wirkung haben dabei Reiseeindrücke ausgeübt, und an erster Stelle steht hier als Reiseland – wie könnte es anders sein – Italien. Nirgendwo sonst habe ich so viele schöne Häuser und Städte gesehen und in Kunst und Architektur geschwelgt, nirgendwo sonst habe ich so lustvoll und ausgiebig geschmaust und so umwerfend-üppige Weine gekostet, Letzteres vor allem im

Piemont. In Italien ist mein Schmecken auf den Geschmack gekommen. Hier wurden für die leiblich-sinnlichen Genüsse und die Architektur (und auch noch einige andere schöne Dinge, die hier nichts zur Sache tun) Maßstäbe gesetzt, die mein Geschmacksgedächtnis nachhaltig geprägt haben. Dass zwischen der Architektur und der Koch- und Esskultur über den Zufall hinaus geheimnisvolle Bande bestehen müssen, die eine lebendige kulturelle Einheit bilden, kann man wohl aus jedem Land, in dem Kochen und Essen eine Art zu leben bedeuten, als mächtige Ahnung mit nach Hause nehmen.

Zum Essen gehört, wie wir alle wissen, nicht nur die Speise selbst, die nahrhaft, wohlschmeckend und wohlgefällig anzusehen sein soll, sondern vorzüglich auch das Ambiente, das ganze Drumherum. Ein nicht unwesentlicher Bestandteil dieses Kontextes, in dem das Essen als ein vielschichtiges kulturelles und soziales „Ereignis“ steht, ist unter anderem die Architektur. Koch- und Esskultur finden als solche immer in einem architektonischen Kontext statt, denn Zubereitung und Genuss von Speisen bedingen in der Regel einen mehr oder weniger festen räumlichen Rahmen. Ihn bietet die Häuslichkeit der eigenen oder fremden vier Wände oder auch jenseits der Privatheit ein angemessener Ort im öffentlichen Raum.

Selbst wenn wir davon sprechen, im Freien zu essen, so denken wir im Grunde doch an einen räumlich gefassten, auch architektonisch gestalteten Ort. Selbst zum Picknick gehört mindestens eine Decke, die auf dem Boden ausgebreitet wird, um auch zu ebener Erde auf diese Art den Tisch zu decken. Vorzugsorte unserer Essgewohnheiten unter freiem Himmel sind die Terrasse, das Halboffene einer Pergola oder Loggia, deren Raumwelt in besonders privilegierter Lage es mitunter auch ermöglicht, die Natur als landschaftliches Schaustück mit ins Bild zu nehmen. Ebenso sind Hof und Garten beliebte Speiseplätze von besonderer Verweilqualität. Selbstverständlich gehören aber auch belebte Orte, wie der Bürgersteig einer Straße oder schließlich der städtische Platz, zu den Speiseplätzen, die sich äußerster Beliebtheit erfreuen. Die alteuropäische Urbanität, die es erlaubt, wie in einem großen Festsaal unter freiem Himmel Platz zu nehmen, kommt den räumlichen Vorlieben in unseren Essgewohnheiten offenbar auch heute noch am nächsten. Dabei muss keineswegs 51

immer der Verzehr von Speisen nebst Getränken im Vordergrund stehen. Der Genuss des Öffentlichen selbst ist ein eigenwertiger Faktor, und die Platzierung im Raum wird bisweilen wichtiger als das Konsumieren selbst, das nur den Anlass, gleichsam die Eintrittskarte darstellt, um sich bei Tische an dem uralten, sich ständig neu inszenierenden urbanen Schauspiel von Sehen und Gesehenwerden zu ergötzen. Was wäre diese „Aufführung“ ohne eine feste architektonische oder stadträumliche Fassung? Wie das Theater mit seinem Parkett, Rängen und Logen im Schauspielhaus seine architektonische Form findet, so verlangt auch dieses Schauspiel unter freiem Himmel seinen baulichen Rahmen.

Esskultur ist mit den Ritualen einer Erlebniswelt verknüpft, in der sich die Freude am Leben in Kunst verwandelt. Überhöhung und Feier des Lebens sind wesentlicher Sinn und Zweck der Kunst. Die Kunst des Lebens besteht vor allem darin, aus dem

Italienische Esskultur: Massa Marittima

Alltäglichen etwas Besonderes, nämlich ein „Ereignis“ zu machen. Die Kunst ist, nach einem Wort von Nietzsche, die höchste Bejahung des Daseins in der Steigerung des Lebensgefühls durch das Schöne. Die lebenssteigernde Funktion der Kunst wird im Fall der Kochkunst, die wie die Architektur das Notwendige und Schöne miteinander verknüpft, ganz unmittelbar deutlich. Baukunst und Kochkunst gehören beide, wie schon angedeutet, in die Rubrik der „Kunst der Notwendigkeit“, um diesen Begriff des Philosophen F.W.J. Schelling zu benutzen, mit dem er einmal die Architektur gekennzeichnet hat. Wirklicher Essgenuss ist also jener, in dem das nahrhaft Notwendige und das schmackhaft Schöne miteinander untrennbar verknüpft sind. Und wie jeder wirkliche Genuss, so steigert auch der Essgenuss als Befriedigung des physisch Notwendigen und als Freude am Sinnlich-Schönen unsere körperliche und geistige Befindlichkeit und versetzt uns damit in eine deutlich günstigere Stimmung, was wohl ein jeder von uns aus eigener Erfahrung zur Genüge wird bestätigen können.

Essen in ein erhebendes „Erlebnis“ oder ein Kunstwerk zu verwandeln bedeutet demnach nichts Geringeres, als die notwendige Nahrungsaufnahme in ein Fest der Sinne für Auge, Nase und Gaumen zu verwandeln und hierdurch zu überhöhen. Gelingt dies, so versetzt uns die Gegenwart der Dinge in eine ursprünglich-eigentümliche, erwartungsfrohe Erregung, welche die gesamte Nervenmaschine auf Touren bringt. In diesem Moment stellt sich die ursprüngliche Einheit von schaffendem und genießendem Subjekt wieder neu her. Begeistert vom Genuss werden wir kommunikativ, möchten uns dem Tischnachbarn mitteilen, gehen aus uns heraus. Haltung, Mimik und Gestik werden ausdrucksvoll, die Begeisterung lässt unsere Stimme lautmalerisch-klangliche Biegungen einschlagen, wenn Speise und Trank vortrefflich munden, die Sprache sucht farbige Worte, bilderreiche Wendungen zur Beschreibung superlativischer Erlebnisse, kurzum, im lustvoll-hochgestimmten Kunstgenuss werden wir gleichsam selbst ein wenig poetisch und künstlerisch. Hölderlins schönes Wort, „Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde“, könnte man aus dieser schwelgerischen gesteigerten Daseins-Form gewiss auch kulinarisch ausdeuten.

Vorzüglich der soziale Aspekt verbindet Kochkunst und Baukunst. Die gesellschaftsstiftende Kunst der Architektur ermöglicht bestimmte Formen von Gemeinschaft; Esskultur fordert und verlangt Gemeinschaft, denn nichts ist öder und unkultivierter, als sich allein den Bauch vollzuschlagen. Das gemeinsame Zubereiten und Verzehren von Nahrung ist eine der bestgeeigneten Formen, Gemeinschaftsgefühl zu wecken. In diesem Sachverhalt liegt gleichsam die „Urbanität“ des Essens. Hierauf gründet auch die quasi religiöse Bedeutung des gemeinsamen Mahles wie des „Abendmahls“. Kommunikation steigert den Genuss und macht das Essen erst wirklich zum Erlebnis, denn im Versammeltsein bei Tische kommen Sinnlichkeit und Sozialität gleichermaßen zu ihrem Recht. Kamin aus dem 18. Jahrhundert, Isola am Splügenpass

Die Gestaltung solchen gemeinschaftlichen Erlebnisses beginnt im häuslichen Rahmen und im kleinsten architektonischen 52

Maßstab mit dem Decken des Tisches, der Anordnung von verschiedenen kleinen Raumgefäßen wie Gläsern, Schalen und Tellern, die der angemessenen Aufbewahrung und Darbietung von Speisen und Getränken dienen. Die Morphologie der Gefäße setzt sich über Tisch, Stuhl und Wand in die nächste Raumdimension fort, zu dem architektonischen Raumgefäß, genannt „Esszimmer“ oder Salon. Sie kann auch über die Sphären des Innenraums und des Privaten hinweggreifen und in ein großes kollektives Raumgefäß, in ein „Esszimmer“ unter freien Himmel, münden, etwa in einen mit Restaurants und gedeckten Tischen besetzten, unwiderstehlich einladend wirkenden städtischen Platz.

II

2 Rumohr, Karl Friedrich von: Geist der Kochkunst, Leipzig 1822; Reprint. Heidelberg 1994, S.45

Kommen wir auf die materielle, stoffliche Seite zu sprechen, auf die Kunst der Zubereitung und Herstellung von fein erdachten Anordnungen mannigfaltiger Stoffe als Grundlage jeder Ess- und auch Baukultur. Karl Friedrich von Rumohr definiert in seinem berühmten und immer noch lesenswerten Geist der Kochkunst von 1822 den Begriff Kochkunst folgendermaßen: „Die Kunst zu kochen entwickelt in den Naturstoffen, welche überhaupt zur Ernährung oder Labung des Menschen geeignet sind, durch Feuer, Wasser und Salz ihre nahrsame, erquickende und ergötzliche Eigenschaft. Auf die Kochkunst allein ist daher jener berühmte Ausspruch des Horaz anzuwenden (...): ‚Vermische Nützlichkeit mit Anmut.’“2 Dieses „Rezept“ für die Poesie von Horaz lässt sich nicht nur auf die Kochkunst, sondern ebenso auf die Baukunst übertragen, deren elementare Bedingungen Vitruv als Landsmann und Zeitgenosse von Horaz mit der Trias firmitas (Festigkeit), utilitas (Nützlichkeit) und venustas (Anmut) auf den Begriff brachte. Dieser harmonische Begriffsdreiklang gleichwertiger Bedingungen, die als Voraussetzungen guter Architektur eine Einheit bilden, hat bis auf den heutigen Tag seine Gültigkeit, denn es kommt bei der Architektur immer noch darauf an, aus festen Stoffen ein stabiles, brauchbares und ansehnliches Bauwerk zusammenzufügen. Aber auch auf die Kochkunst lassen sich diese Begriffe anwenden.

Die firmitas, Festigkeit, betrifft den richtigen Umgang mit den Stoffen, was schon bei deren Auswahl beginnt, wo Knauserigkeit nach Vitruv ein großer Fehler ist. Auch die Wahl der entsprechenden Technik in der Verarbeitung der Stoffe ist unerlässliche Voraussetzung dafür, Festigkeit und Dauerhaftigkeit als materielle Beschaffenheitskriterien zu gewährleisten. Mit dem Wissen um die Qualität der Rohstoffe und der Beherrschung angemessener Verarbeitungs- bzw. Zubereitungsweisen beginnen

Baukunst und Kochkunst. Die utilitas, die fehlerfreie Anordnung von Räumen, betrifft die Nützlichkeit der Anordnungen, und zielt auf den Gebrauchswert des Hauses ab, der in starkem Maße einen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden seiner Bewohner hat. Mit Blick auf die Kochkunst könnte man hier analog vom Nährwert und der Bekömmlichkeit der zubreiteten Stoffe sprechen. Mit der venustas, der Anmut, schließlich ist die wohlgefällige, ansprechende Erscheinung als die ästhetische Qualität des Produktes gemeint, mit der es zu den Sinnen spricht. Auch lassen sich in Rumohrs Schrift architekturtheoretische Parallelen herauslesen, die jenem vitruvischen Dreigestirn der Begriffe entsprächen, wenn es etwa heißt: „Nützlich macht sich die Kochkunst, indem sie den dauernden Zweck des Essens, Ernährung und Labung, unablässig verfolgt. Ergötzliches aber bringt sie auf zweierlei Wegen hervor; zunächst indem sie dem voran benannten Zweck nachgeht, denn alle nahrhaften und gesunden Speisen sind meist auch wohlschmeckend; sodann indem sie“ – und dies könnte der Funktion des Ornaments in der Architektur entsprechen – „zu den bloß nahrhaften Gerichten und Speisen eine passliche Würze hinzufügt, ihnen dabei auch

3

Ebda

ein wohlgefälliges Ansehen gibt.“3

Das Zusammenwirken der sinnlichen Erscheinungswelt von Aussehen, Konsistenz, Geruch und Geschmack ist hier als Ganzes angesprochen. Jedermann weiß, dass das Auge mitisst, wie es so schön heißt. Dieser Satz gilt auch für die Architektur, die

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Ästhetik, Frankfurt am Main o.J., Band 2, Kapitel 2, S. 62

4

nicht in erster Linie zum Anschauen gemacht wird, in der das Auge aber ebenfalls stets zu Tisch gebeten wird. Alle Künste der sichtbaren Erscheinung produzieren Augennahrung, und die Architektur, die mit Bau- und Raumkörpern eine zur Natur komplementäre Umwelt schafft, tut dies insbesondere. Ähnlich wird es auch Leon Battista Alberti empfunden haben, der als sinnenfreudiger Mensch der Renaissance in seiner Schrift De re aedificatoria von 1485 das Betrachten von schönen Bauwerken in einer Weise beschrieben hat (9. Buch, Kap. 8), als würde das Auge mit nicht enden wollender Lust seinen Gegenstand regelrecht verzehren. Georg Friedrich Wilhelm Hegel hat in seiner Ästhetik die Architektur tatsächlich als eine Angelegenheit des Augenschmauses betrachtet, was ihn zu der trefflichen Formulierung inspirierte, dass die griechischen Tempelbauten „einen befriedigenden, sozusagen sättigenden Anblick“4 böten; dieses im Gegensatz zu den gotischen Bauwerken, deren knöcherne Magerkeit als Mahlzeit für die Augen offenbar wenig Substanzielles zu bieten hat, sodass man hungrig vom Tische geht. Was hätte wohl jemand wie Hegel erst zu der dezidiert fleischlosen Kost der „Haut- und Knochenbauten“ (Mies van der Rohe) der Moderne des 20. Jahrhunderts gesagt? Weiter auf dieser metaphorischen Ebene vorgewagt, ließe sich fragen, ob nicht vielleicht sogar die Erfindung der „Sättigungsbeilage“ in der modernen Küche als Folge der minimalistischen Orientierung der Kochkunst der hungerleiderischen Dürre moderner Skelett-Architekturen zu verdanken ist?

Das Substanzielle ist Thema der Kochkunst wie der Baukunst. Dem Bewusstsein für die Eigenschaften und Möglichkeiten des Stoffes und einer ihm angemessenen Bearbeitungsweise entspringt alle kunsthandwerkliche Technik, auch die des Bauens. Liegen die Dinge beim Herstellen eines nahr- und schmackhaften Mahles nicht ganz ähnlich? Es bedarf nämlich einer Anstrengung, die potenziellen Möglichkeiten und die Charakteristika des Stoffes ans Tageslicht zu holen und damit überhaupt in gestaltete Erscheinung zu übersetzen. Erst dadurch wird aus dem Stoff „an sich“ ein Stoff „für uns“, gewinnt er „Bedeutung“, d.h. tritt er in unsere Welt der Vorstellungen und Wertschätzungen ein. Auf diesem Wege bezieht er sein(en) „Gehalt“, denn wir überweisen ihm „Eigen“-schaften, die wir seinem Konto als charakteristische Merkmale gutschreiben. „Jeder Stoff ist nur das wert, was wir aus ihm machen.“ – Dieser Satz von Mies van der Rohe gilt erst recht in der Küche! Was uns dazu berechtigt, in Bezug auf jene Techniken von „Kunst“ zu sprechen, ist diese gewisse Vollkommenheit ihrer Handhabung und Beherrschung, zu der nicht nur eine über einen längeren Zeitraum entwickelte handwerkliche Fertigkeit, sondern ebenso die Entwicklung und Prägung von bestimmten Geschmacksvorstellungen und Gebräuchen, von Kombinationen und Verhältnissen gehört, die sich als kulturelle Formen und Typen im Laufe der Geschichte bewährt, durchgesetzt und verfeinert haben.

Der Weinbau führt diese Gesetzmäßigkeit geradezu exemplarisch vor Augen. Wirkliche Qualität ist nicht das Ergebnis von Beliebigkeit, sondern von Prinzipienhaftigkeit und lässt sich nicht von heute auf morgen einfach erfinden und technisch erzeugen. Man kann – um ein anderes Wort von Mies van der Rohe zu benutzen – nicht jeden Montag eine neue Architektur erfinden, was heute allerdings viele Architekten zu meinen glauben. Ebenso wenig kann man am kollektiven Geschmacksgedächtnis vorbei nach Lust und Laune kurzfristig einen neuen Wein kreieren und erfolgreich vermarkten. Im Gegensatz zur architektonischen Augennahrung bleiben dem Gaumen die extremen Geschmackszumutungen des Bauens erspart. Moderne Winzer wissen, im Gegensatz zu manchen sich modern dünkenden Architekten, dass ein langer Prozess des sich Einlassens auf bestimmte „natürliche“ Bedingungen, sowie das handwerklich kontrollierte Entwickeln, Justieren und Präzisieren „geschmacklicher“ oder sagen wir besser ästhetischer Vorstellungen zum Handwerk gehört. Darum kann jeder große Wein dem Gaumen und der Nase, die es gelernt haben, ihr Geschmacks-Sensorium zu verfeinern, auf seine Art ganz nebenbei auch eine Geschichte des kultivierenden „Bauens“ erzählen; eine Geschichte – um es mit Heidegger zu sagen – vom Hegen und Pflegen und Schonen der Erde.

53

54

Weinberg bei Malans, Graubünden

Kultur ist eine Ablagerung von Gebräuchen, die aus langem Gebrauch als Gewohnheiten entstehen und zugleich einem andauernden Prozess der Veränderung und Verfeinerung unterliegen, in dem es wohl Zufälle, aber keine Beliebigkeit gibt. Kulturgeschichtlich ist es sicherlich kein Zufall, dass sich auf der kunsthistorischen Landkarte Europas die Regionen, in denen die Architektur und die Künste zu hoher Blüte gelangten, in der Regel mit jenen decken, in denen eine gute Küche ebenso wie Weinbau anzutreffen sind. Küche und Keller sind Garanten gepflegter Häuslichkeit und geselliger Kultur. Aus dem Lebenszusammenhang des Privaten und dem häuslichen Zentrum des Wohnens sind auch die übrigen Künste hervorgegangen, was wir – gewohnt, Kunstwerke vornehmlich in reinen Kunsträumen vor der weißen und neutralen Wand eines Museums zu betrachten –, fast vergessen haben.

Kein zweiter Architekt und Architekturtheoretiker ist wie Gottfried Semper vom innigen Zusammenwirken aller bildenden Künste und ihrem gemeinschaftlichen Ursprung aus dem unmittelbaren menschlichen Bedürfnis heraus überzeugt gewesen. Getragen von diesem Verständnis der kulturellen Einheit von Kunst und Leben und leidenschaftlich an der Hebung des Kunstsinns im Allgemeinen interessiert, hat er wie kein zweiter die Gesetzmäßigkeiten des Bauens aus kulturgeschichtlicher Perspektive durchgemustert. In beispielloser Umfänglichkeit, Gründlichkeit und Detailliertheit hat er sich der material- und bearbeitungstechnischen Voraussetzungen des Bauens angenommen, angefangen bei den ganz alltäglichen Dingen, wie dem Bekleidungswesen und dem Hausrat und den Gefäßen zum Aufbewahren von Dingen, bis hin zum eigentlichen Raumgefäß

des Hauses, das der „Aufbewahrung“ des Menschen dient. Aus lebensweltlicher Perspektive hat er gleichsam den ganzen „Haushalt“ der Künste analysieren wollen, um daraus das kulturgeschichtliche Phänomen des Entstehens von Formprinzipien und der Herausbildung von „Stilen“ im Sinne einer „praktischen Aesthetik“ zu erklären.

Zur Vergleichbarkeit von Kochkunst und Baukunst hat Semper indirekt etwas Wesentliches beigetragen. In seiner Schrift Die vier Elemente der Baukunst von 1851 bezeichnet er die Feuerstelle als das „erste Element“ der Baukunst. Der Herd ist der heilige Mittelpunkt und jenes ursächlich erste Element, zu dessen Schutz die anderen drei raumbegrenzenden Elemente, nämlich Boden, Wand und Decke, in Folge versammelt sind. Der heimische Herd ist ein „Ort“ des Wohnens im Heideggerschen Sinn, der sammelt und versammelt, und dadurch das Stiften und Fügen von Räumen auslöst. Der Herd ist nicht nur der lebenspraktisch-nützliche, sondern zugleich auch der kultisch-heilige Mittelpunkt des Hauses. Um den Herd herum entstehen Sitten und Gebräuche, weshalb Semper auch vom Herd als dem „moralischen Element“ der Architektur spricht; auch nennt er ihn „Embryo“ der Architektur. Insofern könnte man mit einigem Recht von der Küche auch als dem Schoß und der Kinderstube der Architektur sprechen.

In einem ähnlichen Sinn, aber mit anderen Intentionen, hat lange vor Semper Andrea Palladio mit dem Ursprung der Architektur aus dem Schoße des Wohnens argumentiert. Palladio legitimierte die Übertragung des Tempelmotivs auf das Wohnhaus, das „Markenzeichen“ seiner Architektur, als eine quasi selbstverständliche Rückübertragung eines sakralen Motivs ins Profane mit dem Hinweis, dass entwicklungsgeschichtlich das Wohnhaus dem Tempel voranginge und ihm seine Form gegeben habe, wie auch der Herd dem Altar vorausgriff. Dass der Herd für uns auch heute noch als symbolische Bezeichnung eines ursprünglichen Zentrums an Bedeutung dient, verrät uns die Sprache, wenn wir etwa vom Herd einer Entzündung (doppelte Feuersymbolik!) oder einem Unruheherd sprechen. Sempers Freund Richard Wagner sprach sogar vom Orchester als dem „technischen Herd“ für die Zubereitung seines Musikdramas.

Schon bei Vitruv, dem Verfasser der ältesten architekturtheoretischen Schrift, die wir kennen, wird in der so genannten „Ursprungslegende der Architektur“ (2. Buch, Kap.1) das Feuer als die zivilisationsstiftende Macht angeführt. Ihr sei das Entstehen von Architektur und Sprache zu verdanken. Erst durch die Feuerstelle wurde der Mensch an einen Ort gebunden 55

und ansässig; durch diese Verortung entstand Versammlung, sprich Gesellschaft, und damit ergab sich zugleich die Notwendigkeit sowohl von Kommunikation, wie auch von fester Behausung. Als Folge der Verortung des Menschen entstehen für Vitruv daher interessanterweise Sprache und Architektur als parallele kulturelle Phänomene. Der Herd festigt als Institution die thermische und soziale Gemeinschaft des Menschen und stiftet somit architektonische Form. Diese wiederum ist, wie es Adolf Behne 1926 im Modernen Zweckbau so treffend formuliert hat, die Voraussetzung für Gemeinschaft und daher eine eminent soziale Angelegenheit: „Form ist nichts anderes als Konsequenz der Inbeziehungsetzung von Mensch zu Mensch. Für das Einzelne, Einzige in der Natur existiert kein Problem der Form. Das Einzelne, auch das Einzelne in der Natur, ist frei. Das Problem der Form erhebt sich dort, wo ein Zusammen gefordert wird. Form ist die Voraussetzung, unter der ein Zusammen möglich wird.“5

Der Herd schafft die feste Bindung an den Ort. Ortsbindung ist, wie wir wissen, eine Voraussetzung für die Architektur

Behne, Adolf: Der moderne Zweckbau, München 1926, S. 59

5

ebenso wie für die Küche. Bauformen und Essgewohnheiten entwickeln sich vor Ort, beeinflusst durch die Bedingungen von Colli, Georgi; Montinari, Mazzino (Hg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, München/ Berlin/ New York 1980, Band 10, S. 631

6

Himmel und Erde, durch das Klima und das Reich der Pflanzen und Tiere. Aber auch kulturelle Bräuche und Gebräuche entstehen um diesen Mittelpunkt, denn das Gewohnte entsteht aus dem Wohnen, wie Nietzsches unvergleichlich poetisches Wort aus den Nachgelassenen Fragmenten von 1883 erklärt: „(...) was um euch wohnt, das wohnt sich bald euch an: Gewöhnung wird daraus. Und wo man lange sitzt, da wachsen Sitten.“6 Eine schönere kulturphilosophische und architekturtheoretische Zeile ist kaum geschrieben worden. Martin Heidegger hätte sie seinem Bauen, Wohnen, Denken von 1951 als Motto voranstellen können.

An der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Feuerstelle als Herd und Altar, nämlich als dem wärmenden und auch heiligen, kultischen Mittelpunkt des Wohnens, hat sich im Grunde bis heute wenig geändert, auch wenn der Fernseher inzwischen vielerorts die Funktion des rituellen Mittelpunktes moderner Häuslichkeit übernommen hat. Die Kerzen, die wir immer noch gerne auf den Tisch stellen, um ein Essen mit den Weihen des Feierlichen zu überhöhen, sind vielleicht auch nichts anderes als ein kulturgeschichtlicher Reflex jenes frühgeschichtlichen Ausgangspunktes, in dem auch die Beziehung zwischen Kochkunst und Baukunst wurzelt. Schließlich bereiten beide Künste auch einen guten Teil ihres Stoffes auf dem Feuer zu. Was wäre das Bauwesen ohne Keramik und Metallurgie, ohne den aus dem Ofen kommenden Backstein und den „hartgekochten“ Stahl?

Gottfried Semper, von seinen zahlreichen Missverstehern oft als Materialist gescholten, hat sich mit geradezu Goethescher Universalität auf den langen Weg vom Material über die Zwecke zur Formidee begeben und sich durch die Kategorien der Stoffe, ihre Bearbeitungstechniken bis hin zu den formalen Gesetzlichkeiten hindurchgearbeitet. Die Logik der Überwindung der Materie durch die Idee, des Stoffes durch die Form, konnte von einem vermeintlichen Materialisten kaum radikaler ausgesprochen worden. Nach Semper ist die „Vernichtung des Stoffes“, nämlich das gezielte Vergessenmachen oder Eliminieren des Stoffes zugunsten einer rein ästhetischen Wirkung, die Absicht aller Kunst. Sind Kochen und Essen nicht ebenso ein Akt der überhöhenden, genüsslichen „Vernichtung“ des Stoffes durch kunstvolle Zubereitung und bewusst zelebrierten Verzehr?

In diesem kulturellen Akt der „Vernichtung“ feiern die Sinne ihr eigenes Fest, um in einem speziell für diese zubereiteten ästhetischen „Objekt“, im Kunstwerk, die Freude an dem Sichtbaren, Hörbaren, Schmeckbaren etc. zu kultivieren. Dieser Genuss am Genuss, der den Menschen als schöpfendes und genießendes Subjekt zugleich bestätigt, liegt dem künstlerischen Akt zugrunde, der den „Stoff“ als Mittel einer höheren geistigen Freude betrachtet und darum überwindet. Das Transzendieren des Stoffes führt also keineswegs am Stoff vorbei, sondern, ganz im Gegenteil, im vollen Bewusstsein seiner Qualität und Würde, durch ihn hindurch. Stoff und Idee bilden also ein dialektisches Paar in einem ganzheitlichen Prozess: So wie der Stoff unbewusst mit an der Form wirkt, so verhilft die Form erst dem Stoff zur bewussten Wirkung. Jenes Transzendieren gelingt also nur, wenn der Kampf zwischen Form und Stoff zugunsten der Form als Sieger ausgeht, sie also nicht in den Fängen des Stoffs stecken bleibt, sondern souverän über ihn verfügen kann. Diese „vollständige Bemeisterung“, so Semper, nämlich die vollkommene Beherrschung des Stoffes durch technisches Können in der Bearbeitung und durch gestaltende Formphantasie, ist die unabdingliche Voraussetzung dafür, ästhetische Wahrnehmung in ein gestaltetes geistiges Erlebnis zu verwandeln.

Zum Zweck dieser Begegnung von Subjekt und Objekt muss der Stoff kunstvoll zubereitet werden, denn Material ist genaugenommen nur ein anderer Begriff für Zubereitung. Baustoffe und Nahrungsstoffe sind nicht einfach gegeben. Es muss der Stoff als Stoff zunächst erst einmal erkannt, gewonnen und auf eine bestimmte Absicht hin geprüft werden, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was in ihm steckt und was er „kann“. Zum bewussten kulinarischen Genuss gehört immer wieder auch die Überraschung, durch welche elementaren Kombinationen und technischen Prozeduren alltägliche und bekannte Nährstoffe 56

sich unter der Hand eines wirklichen Kochkünstlers in unerhörte, oder sagen wir besser unerschmeckte Ausdrucksweisen verwandeln lassen. Die „Zubereitung“ macht als Akt der Veredelung der Natur aus dem Rohstoff einen „Kunst-Werkstoff“: Stein wird in Tafeln gebrochen, Ton wird zum Ziegelstein gebrannt, Holz in Balken und Bretter zersägt; kurz, Stoff ist immer ein Resultat von Arbeit, insofern bereits ein künstliches Produkt, wie die Weintraube, die bereits im Weinberg nach allen Regeln der Kunst gepflegt und gehegt werden muss, um eine bestimmte „rohstoffliche“ Qualität des Weines zu gewähren. Ähnliches gilt auch für die übrigen natürlichen Nahrungs- und Genussmittel.

Ein an der sinnlichen Qualität der Stoffe geschultes und deshalb kritisches Auge ist wie ein verwöhnter Gaumen nicht so schnell mit einer billigen Täuschung, gleichsam mit optischem Fast Food abzuspeisen; das in der Architektur mitessende Auge verlangt nach einer entwickelten Kunst der Zubereitung seiner Nahrung, nämlich nach einer auf höchstem handwerklichtechnischen Niveau operierenden Kunst der Herstellung glaubwürdiger optisch und auch haptisch „schmackhafter“ Oberflächen. Die Kunst, die Augenlust durch Formen und Oberflächen zu befriedigen und auf diesem Wege auch der nachdenkenden Vernunft Beschäftigung zu geben, macht einigen Aufwand an Technik und Phantasie erforderlich, denn der 7 Moritz, Carl Philip: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente, Berlin 1793; Reprint Nördlingen 1986, S. 4

Mensch will, wie es Carl Philip Moritz am Ende des 18. Jahrhunderts einmal so treffend gesagt hat, „in einem Gebäude nicht nur mit Wohlgefallen wohnen – er will es auch mit Wohlgefallen ansehen – und“, er fügt den für die Kochkunst gleichermaßen gültigen Nachsatz hinzu, „es arbeiten für die Nahrung des Auges fast eben so viele Hände als für die Ernährung des Körpers.“7

Die Architektur als für unser Dasein lebensnotwendige und zugleich schöne Kunst ist nicht nur Augennahrung, sondern ernährt – weil sie neben dem Auge auch die anderen Sinne ganzheitlich in ihre Erfahrung einschließt – gleichsam den ganzen Körper. Die Augennahrung als „gastronomischen“ Faktor der Architektur einzufordern ist gewiss berechtigt, sofern man nicht vergisst, dass das Auge nicht isoliert existiert, sondern Organ eines noch mit weiteren vier Sinnen ausgestatteten Körpers ist. Die Architektur des Funktionalismus wollte den Gebrauchswert zur formalen Aussage erheben. Damit wurde die Zeichenfunktion als eine wesentliche Funktion der Architektur unterschlagen und ihre ästhetische Verarmung betrieben. Gegenwärtig erleben wir im Medienzeitalter eine Hegemonie des Visuellen, die in das gegenteilige Extrem ausartet. Die Architektur scheint dermaßen ins mediale Bild verliebt zu sein, dass sich die körperliche Erfahrung an der Subtanz des Bauwerks ins Virtuelle verflüchtigt und der Gebrauchswert im Gegensatz zum Sensationswert sich immer schneller verschleißender optischer Effekte mitunter gänzlich vernachlässigt wird.

57

Vitruvius Teutsch. Nemlichen des aller namhafftigsten und hocherfarnesten Römischen Architecti und Kunstreichen Werck oder Bawmeisters Marci Vitruvij Pollionis Zehen Bücher von der Architectur und künstlichen Bawen ... Erstmals verteutscht und in Truck verordnet Durch Gualtherum Hermenium Rivium Medi. & Math. Vormals in Teutsche sprach zu tranferiren noch von niemand sonst unterstanden sonder fur unmüglichen geachtet worden, Nürnberg 1548, S. LXI

Das Kochen scheint mir eine gute Schule dafür zu sein, wie man Augennahrung und die Ernährung des ganzen Körpers in ein harmonisches Verhältnis bringen kann. Architektur fängt, wie erwähnt, mit dem Feuer, dem Herd als erstem Element an. Kochen als Kunst des Zusammenfügens von Lebensmitteln zu einem nahrhaften und appetitlichen Ganzen, so ließe sich umgekehrt behaupten, ist auch als eine entwerferisch-architektonische Tätigkeit im Kleinen zu begreifen. Kann man wirklich etwas von Häuslichkeit verstehen, ohne je gekocht oder es wenigstens versucht zu haben? Weil die Architektur mit dem Feuer beginnt, kann der Architekt auch in der Küche in die Schule gehen. In ihren vier Wänden lässt sich durchaus etwas wesentlich Wirkliches lernen.

Die Moderne hat im Zeichen des Fortschritts und im Namen eines heroisch verfassten neuen Menschen aus der Küche eine Einmann-Fabrik zur Zubereitung von Nahrungsmitteln gemacht. Der Absage an die Häuslichkeit ist der Herd zum Opfer gefallen. Im Extrem wurde die Küche in die „Kochecke“ verbannt, wie zur Strafe in die Ecke gestellt. Die Resozialisierung der abgetrennten, vom Familienleben isolierten modernen Küche ist längst erfolgt. Die Rückübertragung von Funktionen, die einst der Wohnküche als Mittelpunkt des Wohnens angehörten, gehört zum gehobenen Wohnungsbau und das postmoderne Design inszeniert die Ästhetisierung und Verwohnlichung der Küche in allen Varianten. Der große Erfolg von Kochsendungen im Fernsehen beweist, dass der heimische Herd und die Küche darauf warten, als Werkstatt einer Lebenskultur des Slow Food neu entdeckt zu werden.

Die beiden Grundsätze der anspruchsvollen modernen Küche, die eigentlich schon Rumohr 1822 als Selbstverständlichkeiten formulierte, wären für den Anfang in der Baukunst und der Kochkunst schon genug, um sich ein elementares Feinschmeckertum handwerklich zu erobern. Nämlich erstens einen Sinn für die Qualität der Grundnahrungsstoffe und Frische der Produkte zu entwickeln und alles wegzulassen, was chemisch verfälscht, konserviert, falsch gezogen worden ist. Auf dem „Markt“ des Bauwesens bestehen solche Grundnahrungsstoffe sicherlich nicht aus synthetischen Produkten wie Thermohaut, Kunststoff-Fenstern etc. Zweitens würde man lernen können, sich auf die handwerkliche Verwendung des Elementaren zu beschränken und das Kochgut im Geschmack nicht durch zu starkes Braten oder Kochen, durch falsche Zutaten, Beilagen und Saucen zu verfälschen. Auf der Seite der Architektur könnte man hier vielleicht die Parallele zur Wirkung von Materialität, von tektonischem Empfinden und von unverfälschten, sprich glaubwürdigen Oberflächen ziehen. 58 Was schließlich die Zutaten und Beilagen betrifft, so ist es hier mit dem Weglassen allein auf Dauer selbstverständlich nicht getan. Die Verödung der modernen Architektur sollte auch dem letzten Modernisten darüber die Augen geöffnet haben, dass das Ornament kein „Verbrechen“ ist. Eben weil das Auge mitisst, ist es wohl richtig, einen Bau zu dekorieren. Aber man Zitiert nach Venturi, Robert; Brown, Denise Scott; Izenour, Steven: Lernen von Las Vegas, Braunschweig/ Wiesbaden 1979, S. 192 8

bedenke, dass das Ornament nicht dazu da ist, das Auge satt zu machen, wohl aber um den Geschmack zu betonen und zu verfeinern. In der Kunst der Küche wie der Kunst des Bauens gilt der bekannte Satz von August Welby Pugin: „Es ist richtig einen Bau zu dekorieren, aber man hüte sich eine Dekoration zu bauen.“8

59

Edouard Manet: Le déjeuner sur l’herbe, 1863

Fastengebote und Entgleisungen des Begehrens Anmerkungen über Architektur und Gastronomie Stanislaus von Moos

Zu den Überraschungen der großen Retrospektive der Arbeit von Herzog & de Meuron, die im Frühjahr 2004 im Schaulager der Emanuel-Hoffmann-Stiftung in Basel gezeigt worden ist, gehörte ein großes, auf einer Tischplatte präsentiertes dunkelrotes „Zuckerobjekt“. Es handelt sich um eine Wanne aus harter, glasklarer Melasse, aus der fontänenartig eine große Zahl von Stalagmiten aufsteigen, vage an Bauformen Henry van de Veldes oder an gewisse Details im nahen Goetheanum in Dornach erinnernd. Die Produktion dieses Objektes muss mit beträchtlichem Aufwand verbunden gewesen sein – die einzelnen, oft abenteuerlich fragilen Formen sind offensichtlich durch Abtropfen entstanden und erst nach dem Abkühlen in aufrechte Position gebracht worden.

Sieht man sich in der Arbeit und in den Schriften heutiger Architekten um, so ist dieses Kunstwerk aus essbarem Material – eine Hommage an die Schokoladenobjekte des Künstlers Dieter Roth, die einige Monate zuvor in demselben Museum zu 60

sehen waren – kein Einzelfall. Architekten scheinen sich immer häufiger in Grenzbereichen von Kunst und Kochkunst nach neuen Verfahren der Formgebung umzusehen, nicht zuletzt, um diese dann in die Sprache von computergesteuerten Prozessen

Herzog & de Meuron Architekten: „Zuckerobjekt“, 2004

zu übertragen – so etwa Frank O. Gehry oder Greg Lynn.1 Auch sind solche transdisziplinären Kreuzbestäubungen zwischen Gastronomie und Architektur keineswegs neu. Dafür, dass es zwischen Küche und Bauplatz, Speisezettel und Bauprojekt seit je strukturelle Verwandtschaften gibt und dass diese Verwandtschaften bestimmte Denkprozesse in Bewegung setzen oder doch Argumentationsweisen begünstigen, gibt es zahllose Belege. Zu den kunstvolleren unter ihnen gehört die folgende, vom englischen Architekten James Fergusson schon 1862 verfasste Empfehlung an seine Kollegen: „Der Prozess, der erforderlich ist, um eine Hütte, die dazu dient, einem Bildwerk Schutz zu bieten, in einen Tempel zu verwandeln oder ein Versammlungshaus in eine Kathedrale, ist dasselbe wie jener, der den gekochten Schafshals in côtelettes à l’Impériale verwandelt oder ein grilliertes Stück Geflügel in poulet à la Marengo. Das trifft in einer so essenziellen Weise zu, dass, wer etwas über die wahren Prinzipien des Architekturentwurfs lernen will, besser beraten ist, die Werke von Soyer oder Mrs. Glass zu studieren als diejenigen irgendeines Architekturtheoretikers von Vitruv bis Pugin.“ Peter Collins, dessen Buch Changing Ideals in Modern Architecture, 1750-1950 (erschienen 1964) das Zitat entnommen ist, fügt bei, es sei erstaunlich, dass kein anderer Architekturtheoretiker die „gastronomische Analogie“ für die Architekturtheorie fruchtbar gemacht habe – dies umso mehr, als der Begriff „Aesthetik“, der im 17. und 18. Jahrhundert allgemein Verbreitung fand, unmittelbar auf der Vorstellung von „Geschmack“ beruhe (englisch taste) – bzw. umso mehr, als sich die ästhetische Wahrnehmung unmittelbar von der Erfahrung des Schmeckens und des Verzehrens von Nahrung herleite.2

Der folgende Diskussionsbeitrag ist im Grunde nicht mehr als eine aufgeblasene Fußnote zu der eben zitierten Bemerkung von Collins. Wenn Collins nämlich behauptet, dass Fergusson der einzige Architekt im 19. Jahrhundert war, der sich für das Verhältnis von Architektur und Gastronomie interessierte, so wäre immerhin zu bedenken, dass demgegenüber im 20. Jahrhundert entsprechende Versuche außerordentlich gehäuft auftraten. Sicher, wie in anderen Bereichen auch, erschöpfen sich Ess-Metaphern im Architektendiskurs häufig in einer rhetorischen Funktion im Dienste der captatio benevolentiae oder des Interesse weckenden Paradoxes. Auch dienen sie darüber hinaus gern dem Zweck, bei einem für fachlich unbelastet gehaltenen Publikum Sympathie für grundsätzliche Einstellungen zu Dingen wie Funktion, Effizienz, Arbeitsleistung im Bauen

Lynn, Greg: Architectural Curvilinearity: The Folded, the Pliant, and the Supple, in: Architectural Design (special issue on "Folding in Architecture"), 1993, Nr. 3-4, S. 8; vgl. Singley, Paulette; Horwitz, Jamie: Introduction, in dies. (Hg.): Eating Architecture, Cambridge, MA/London (MIT Press), 2004, S. 5-17. Mein eigenes Interesse am Thema „Gastronomie“ geht auf die Arbeit an einer Studie zur Designgeschichte der Schweiz zurück (Industrieästhetik. Ars Helvetica, Bd. XI, Disentis, 1992, vgl. insb. S. 71-90). Wertvolle Anregung verdanke ich Paul Hugger, der mit mir an der Universität Zürich eine Lehrveranstaltung zum Thema Gastronomie durchführte (WS 1991/92). Die oben soeben erwähnte, wichtige Anthologie von Jamie Horwitz und Paulette Singley erschien erst nach dem mündlichen Vortrag des vorliegenden Textes im Kloster Eberbach und erwies sich als unentbehrlich für die Präzisierung meiner Überlegungen zum Thema. Zu meiner Beschämung entdeckte ich erst dort den bereits 1986 erstmals erschienenen wichtigen Essay von Marco Frascari: Semiotica ab Edendo. Taste in Architecture, ibid., S.191-203.

1

Collins, Peter: Changing Ideals in Modern Architecture. 1750-1950, Montreal (McGill University Press), 1965, S. 167 (Übers. des Verf.)

2

– aber auch zu Anstand, Geschmack, Überlieferung bzw. Abwechslung, Formverschleiß, Repräsentation und Spiel in der Architektur – zu wecken. Allerdings wären diese rhetorischen Nebenfunktionen der Gastronomie im Architektendiskurs gar nicht weiter erwähnenswert, würde sich in ihnen nicht eine in der Sache selbst angelegte Komplizenschaft zwischen Küche 61

und Bauplatz zu Wort melden: eine tiefer verwurzelte Analogie in der Art und Weise, wie hier und dort Natur angeeignet und verwandelt wird.

Hier wie dort, d.h. bei der Verarbeitung und beim Genuss von Nahrung wie bei der Produktion und beim Nutzen von bewohnbarem Raum, geht es um die intelligente Organisation von sinnlicher Wahrnehmung und ästhetischem Vergnügen – und in letzter Instanz auch ums blanke Überleben, um Leben und Tod. Wer nicht isst, stirbt. Wer den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert ist, ebenso.

Funktionalistische Abstinenzbeschwörung

Die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts steht über weite Strecken unter einem puritanischen, ja geradezu masochistischen Abstinenzgebot. Das scheint vielleicht an den Haaren herbeigezogen, lässt sich aber anhand einer noch so fragmentarischen Auslegeordnung von Beispielen der von ihren Ideologen ausgerufenen, stereotypen „Fastengebote“ oder doch „Mäßigungsaufrufe“ belegen. Eklektische Architekturen des 19. Jahrhunderts oder der Gegenwart sowie, pauschal, die „Postmoderne“ sind besonders beliebte Opfer funktionalistischer Abstinenzbeschwörungen. Kenneth Frampton bringt diese gewissermaßen auf den Punkt wenn er postuliert, dass es sicher zu den Aufgaben der Architekten gehöre, „lebendige Bedürfnisse“ zu bedienen, jedoch niemals die Niederungen des nur halb-bewussten „Begehrens“ (desire).3

Gerade darin aber scheint die Strategie des Historismus bestanden zu haben (und nicht nur des Historismus, doch davon später). Und wo hat sich dieser authentischer ausgelebt als gerade in den Hotelpalästen der Belle Epoque? Jacques Gubler meint in diesem Zusammenhang, es gehöre zu den Qualitäten der Hotelarchitektur des späten 19. Jahrhunderts, die Sinne zu betören, und dies mit immer neuen Effekten. Das sei im Grunde nichts anderes als das, was auch die Kochkunst bezwecke – insofern, als deren Werke das Ziel verfolgen, durch größtmögliche Abwechslung den Gaumen zu betören. Zum Beleg zeigt er einen Festkuchen, der ein Gästehaus des Hotel des Avants oberhalb von Montreux am Genfersee abbildet (die Villa Pappazoglu).4 Tatsächlich ist hier der Kurzschluss von der historistischen Architektur auf die Kochkunst gleich in zweifacher Hinsicht naheliegend, denn solche Architektur sieht nicht nur wie eine Zuckerbäckerei aus – sie ist es auch.

Frampton, Kenneth: Introduction. The Work of Architecture in the Age of Commodification, in: Saunders, William (Hg.): Commodification and Spectacle in Architecture, Minneapolis (University of Minnesota Press), 2005, S. ix-xviii

3

Gubler, Jacques: Les identités d'une région, in: werk-archithese, 1977, Nr. 6, 1977, S. 3-11

4

5 Meyer, Peter: Kochkunst und andere Künste, in: Das Werk, 1930, Nr. 7, S. 216-218

Gregotti, Vittorio: Editoriale, in: Rassegna (Minimal), 1979, Nr. 36, S. 4-7 (Übers. des Verf.) 6

1930 widmete ein anderer Architekturhistoriker, Peter Meyer, damals Redakteur der Schweizer Architekturzeitschrift Das Werk, einer im Rahmen der ZIKA in Zürich gezeigten Kochkunst-Ausstellung folgende Überlegungen: „Es scheint geradezu der Ehrgeiz der Kochkünstler dieser dekorativen Richtung zu sein, wirkliche Speisen so herzurichten, dass sie wie künstliche Attrappen aussehen, wie lackierter Gips (...) Mit bitterem Ernst, mit einer tragischen Humorlosigkeit machen sich diese Kochkünstler im sauren Schweiß ihres Angesichts an die Arbeit, ihren Speisen alles Appetitanreizende zu nehmen, sie zu denaturieren, sie vermittels Kunst unantastbar zu machen.“5 Meyers Zielscheibe sind selbstverständlich nicht wirklich die „Kochkünstler“ von 1930, sondern die Baukünstler des 19. Jahrhunderts bzw. deren Nachfahren in der Gegenwart – Architekten und Innenarchitekten also, die jenen denaturierenden Umgang mit Materialien und Formen weiterpflegen, den die Heimatschutzbewegung für die Elite zu Beginn des Jahrhunderts so effektvoll außer Kurs gesetzt hatte.

Anders (und im Wesentlichen analog) Vittorio Gregotti: Ein halbes Jahrhundert später argumentierend, setzt er die Patisserieschelte unzweideutig auf seine unmittelbaDie „Villa Pappazoglu“ als Festtagskuchen (Fotografie, Weihnachten 1903). Bei der „Villa Pappazoglu“ handelt es sich um das Gästehaus des 1898 erbauten Hotel des Avants bei Montreux

re Gegenwart an. Er wundert sich über die zunehmende formale „Komplexität“ in der neueren (in diesem Falle postmodernen) Architektur, über den Charakter der

eklektizistischen Montage, die so vielen Bauten der letzten Jahre eigentümlich sei (in einem Editorial zu einer Nummer über „Minimalismus“ in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Rassegna, Nr. 36.): „Ohne die Kunst der Patisserie beleidigen zu wollen, so muss doch gesagt werden, dass von diesen Auffassungen häufig ein unausrottbarer Tortenduft ausgeht, wie um die Glasur von Optimismus, von dem sie umgeben sind, noch zu vervollständigen ...“6 Es bleibt jedermann überlassen, darüber zu spekulieren, an welche Kollegen Gregotti gedacht haben könnte ... 62

Schon einige Zeit vor Meyer und Gregotti hatte sich Le Corbusier von Haute Cuisine und Patisserie zu besonders schrillen Pointen verführen lassen, ja im Vergleich zu der bramarbasierenden Fulminanz von Le Corbusiers diesbezüglicher Polemik kultivieren sowohl Meyer als auch Gregotti einen geradezu abgehobenen Stil. Die akademische Architektur seiner eigenen Zeit erschien ihm als eine Apotheose der Denaturierung und der unproduktiven, geisttötenden Völlerei – wofür, wie

Le Corbusier: Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme, Paris (Vincent Fréal), 1930 (Ausgabe 1969), S. 11f. (die Übersetzung dieses und aller folgenden französischen Zitate stammt vom Verf.) 7

er meint, ein gewisser Brillat-Savarin die einschlägigen Regeln aufgestellt habe (Le Corbusiers Kronbeispiel ist der 1937 fertiggestellte Völkerbundpalast in Genf, ein Bau, für den er selbst zehn Jahre zuvor einen Wett-

Rumohr, Karl Friedrich von: Geist der Kochkunst, Heidelberg (Manutius Verlag), 1994 (Erstausg. 1822) 8

bewerbsentwurf eingereicht hatte, der freilich zurückgewiesen worden war): „Wir haben ihn satt, diesen Brillat-Savarin: die Küche für diplomatische Dîners und déjeuners, wo Smoking und Uniform [à la ,Général de la Grande Armée‘] obligatorisch sind. Man nimmt Lauch, Spargeln, Kartoffeln, Rindfleisch, Butter, Gewürze, Früchte, und, als Resultat einer Wissenschaft, Michael Graves: Disneyworld, Orlando, USA, „Swans Hotel“, 1984

die ganze Bücher zutage gefördert hat, wird alles denaturiert, wird alles auf denselben Geschmack hin neu-

tralisiert. Das einzige Resultat besteht darin, dass man es fertiggebracht hat, mit den Weinen und dem stinkenden Käse die Mägen derart zu belasten, dass der Kopf nicht mehr funktionieren kann. Und das in dem Moment, wo die Geschäfte zur Sprache kommen: wo über Krieg und Frieden verhandelt wird, über Allianzen, Zölle, unzählbare Spekulationen. Wie die Schlangen verdaut man die unzählbaren, gefährlichen Kombinationen einer Welt, die in Wirklichkeit aufgehört hat, zu existieren.“

Le Corbusier und Pierre Jeanneret: Völkerbundspalast in Genf. Aufriss der Schauseite des Parlamentssaals zum See, Wettbewerbsprojekt von 1926

Und nun der Sprung in die Architektur: „Das ist genau der Punkt, an dem die Architektur angelangt ist. Die akademischen Paläste von Genf waren die unvorstellbarsten Baldachine aus rotem Plüsch und vergoldetem Seidenband, die man sich denken kann. Dieser Palast hatte eine klare Funktion: Arbeit zu erledigen zum besten Nutzen der Welt, genauso wie auch eine Mahlzeit eine klare Funktion hat: dem Organismus Nahrung zuzuführen. Wo denken Sie hin! Arbeiten, sich beeilen, klipp und

Vgl. Rével, Jean-François: BrillatSavarin ou le style aimable, in: Brillat-Savarin, Jean Anthelme: Physiologie du goût, Paris (Flammarion), 1982, S. 5-15

9

Le Corbusier: Précisions, op.cit.

klar, präzis? Und wohin dann mit der Diplomatie? Und wohin mit der kulinarischen Kunst der Architektur? (...) Hand aufs Herz:

10

dieser Geschmack der internationalen Hotelküche mit dieser Brillat-Savarin-Sauce und ihren schwerverdaulichen getrüffelten

Ein Kapitel über amerikanisches Streamline Design in Bill, Max: Form. Eine Bilanz über die Formentwicklung um die Mitte des XX. Jahrhunderts, Basel (Werner), 1952 trägt den Titel "Vom Werkzeug zum Schleckzeug" (engl.: From Making to Faking; frz. De l’outil à la sucrerie), S. 46ff.

Gänseleberpasteten, kommen nicht auch ihnen wie von selbst die Gelbsucht des Salon des Artistes Français in den Sinn?“7 Hier muss Folgendes ergänzt werden: Das Buch Physiologie des Geschmacks, verfasst von dem Juristen, Historiker und Amateur-Physiologen Brillat-Savarin, gehört zu den bedeutenden im 19. Jahrhundert erschienenen Leitfäden der Gastronomie überhaupt – zusammen mit dem berühmten, vom Kunsthistoriker Carl Friedrich von Rumohr verfassten Werk Geist der

11

Kochkunst, das die Querverbindungen zwischen Kochkunst und Bildender Kunst erstmals systematisch untersuchte.8 Und wie nicht anders zu erwarten, schießen Le Corbusiers Scheltparteien gegen Brillat-Savarin weit über das Ziel hinaus – und indem sie das tun, gewähren sie vor allem Einblick in ein stereotypes Denkschema der modernen Gastronomie-Diskussion. JeanFrançois Rével nannte es das Denkschema des Masochisten, der mit dem Argwohn wider die „zu komplizierten“ Spielregeln der klassischen Kochkunst ungefähr sämtliche Zerfallserscheinungen der modernen Zivilisation (vom Kolonialismus über den schlechten Geschmack der Bourgeoisie bis hin zur Verbürgerlichung des Proletariats usw.) zu brandmarken meint.9 Zu seinem eigenen Entwurf für das Völkerbundgebäude in Genf meint Le Corbusier: „Dieser Palast hatte eine klare Funktion: Arbeit zu erledigen zum besten Nutzen der Welt ...“ Was Wunder, wenn sich dieser „Palast“ eher am Fabrikbau orientiert als an Versailles, ergibt sich das fabrikmäßige Äußere doch zwingend aus dem Anspruch, eine Bildersprache zu finden, die der Funktion dieses „Arbeitshauses“ adäquat ist – eines Hauses, das eine unzweideutig „produktive“ Funktion hat: „Arbeiten, sich beeilen, klipp und klar, präzis ... genauso wie auch eine Mahlzeit eine klare Funktion hat: dem Organismus Nahrung zuzuführen.“10 Alles in allem: „Werkzeug“ statt „Schleckzeug“! – so hätte es Le Corbusier, hätte er auf Deutsch geschrieben, auf den Punkt bringen können. Der um einiges jüngere Max Bill hat es ihm abgenommen.11

Die Logik der „Abwechslung“

Le Corbusiers Scheltpartei gegen Brillat-Savarin ist vielleicht nicht mehr als eine ärgerliche Mixtur von puritanischem Übereifer und gastronomischem Halbwissen. Es gibt in seinen Schriften auch wesentlich brauchbarere Denkansätze zum Thema Gastronomie. Ein Beispiel ist das merkwürdige „Menü“, mit dem Le Corbusier 1924 eine Auswahl von manières de penser l'urbanisme zusammenstellte in der Form einer Auswahl von Stadtansichten. Was auf den ersten Blick wie die skizzenhafte Annäherung an eine Typologie des Urbanen erscheint, erweist sich beim genaueren Hinsehen als ein improvisierter Katalog von grafischen Darstellungsformen von Städten. In der oberen Hälfte sind zwei rasch hingeworfene „Impressionen“ gegeben (im ersten Register Pera, dann Istanbul, vom Bosporus her gesehen). Dann – in der Mitte – ein typologisches Inventar (Rom) sowie, zuunterst, die Nachzeichnung einer historischen Vedute.

63

64

Le Corbusier: „Classement et choix“. Abbildung aus L’Esprit nouveau Nr. 21. Gezeigt werden vier genres der Darstellung historischer Städte

Le Corbusier: Classement et choix, in: Esprit Nouveau, Nr. 21, wiederabgedruckt in ders.: Urbanisme, Paris (Crès), 1925, S. 57. Für eine ausführlichere Diskussion dieses „Menus“ vgl. Moos, Stanislaus von: Voyages en Zigzag, in ders. u. Arthur Rüegg (Hg.): Le Corbusier Before Le Corbusier, New Haven/London (Yale University Press), 2002, S. 22-43

12

Einige Stichworte an den Rändern dienen dazu, der „Tabelle“ den Charakter einer systematischen Darlegung zu geben. Es geht um die Korrespondenz zwischen dem „Charakter“ der jeweils gezeigten Orte und der von Fall zu Fall gewählten Darstellungsform – wörtlich: Pera: das Sägeblatt einer Stadt der Kaufleute, Piraten und Goldgräber Istanbul: die Inbrunst der Minarette, die Ruhe der flachen Kuppeln. Allah, wachsam, jedoch orientalisch-unnahbar Rom: Geometrie, die unerbittliche Ordnung, Krieg, Zivilisation, Organisation Siena: der angsterfüllte Tumult des Mittelalters. Hölle und Paradies in Einem“12 Die vier Skizzen, aus denen sich der Katalog zusammensetzt – ein eigentliches Stadt-Branding avant la lettre –, stammen aus den Jahren 1911-1914. Sie stehen für vier modi oder zeichnerische genres und sind als solche charakteristisch für das, was dem Absolventen einer Kunstschule im frühen 20. Jahrhundert auf den Weg gegeben wurde, um auf Reisen dem Umgang mit historischen Denkmälern und Landschaften gewachsen zu sein.

Was hat das alles mit Gastronomie zu tun? Beiläufig, aber unübersehbar wird der Katalog grafischer Headlines zur Kultur des

13 Le Corbusier: Urbanisme, op.cit., S. 56

Essens in Beziehung gebracht: „Genauso wie einerseits der Gaumen die Diversität eines gut zusammengestellten Menus 14

kostet, so sind andererseits unsere Augen auf wohlorganisierte Freuden eingestellt.“13 Wir haben es kapiert: In der Gastronomie komme es auf Abwechslung an – wohingegen in der Kunst und in der Architektur die „wohlorganisierten Freuden“ den Ausschlag geben. (Was die erste These anbelangt, so dürfte sie Brillat-Savarin mehr verdanken, als Le Corbusier bewusst gewesen zu sein scheint.) Es scheint also letztlich darum zu gehen, den Gegensatz zwischen der Kultur des Menüs (=variabel und vielfältig) und der Kultur der architektonischen Form (=einfach und eindeutig) zu zementieren. Doch aufgepasst: Le Corbusier wäre nicht Le Corbusier, wenn er nicht imstande wäre, gerade als Architekt auf beiden Instrumenten zu spielen – jenem der klassizistischen „Reinheit“ und jenem der variété: „Es gibt ein bestimmtes Verhältnis zwischen Qualität und Quantität, das zur Folge hat, dass die Funktionen zusammenstimmen. Man soll

Ibid., S. 56f.

Ibid., S. 58 Ausgehend von Überlegungen Colin Rowes und Bernhard Hoeslis erinnern Jamie Horwitz und Paulette Singley daran, dass Architektur und Gastronomie auch in der konkreten Entwurfspraxis Le Corbusiers unmittelbar interagieren. Im Blick auf Le Corbusiers Stillebenmalerei meinen sie: „...one might hazard the assertion that for modern architecture and urbanism the production of architecture moved from the tabletop – loaded with its scattered debris of crockery and foodstuffs – to the canvas without ever having looked at the site“ (Introduction, in: Eating Architecture, op.cit., S. 17). George Hersey folgend orten sie die Voraussetzungen dieser Analogie in der Welt des Kults. 15

das Auge nicht nur stets in derselben Richtung reiben; es ermüdet sich so. Sorgen sie für die Abwechslungen [assolements] im Spektakel, die nötig sind, damit die Promenade ohne Ermüdung und ohne Schläfrigkeit von-

Le Corbusier und Pierre Jeanneret: Villa La Roche-Jeanneret in Paris, 1924. Blick in die Halle

statten gehen kann.“14 Das Stichwort ist die promenade und das anvisierte Prinzip ist jenes der promenade architecturale als Medium einer sequenziellen Wahrnehmung von Veduten im zeitlichen Ablauf des Duchwanderns von Städten und – vor allem – einzelnen Bauten, denn: „Hinter dem Auge sitzt dieses bewegliche und großzügige, fruchtbare, phantasiereiche, logische und noble Ding: der Geist. (…) Was sie dem Auge vorsetzen werden wird einen Zustand der Freude auslösen.“15 Die flânerie des Gourmets durch die verführerischen Landschaften eines raffinierten Menüs ist, so verstanden, alles andere als grundverschieden von jener des in die Geheimnisse der Architektur und der Kunst eingeweihten Besuchers der Villa des Kunstsammlers La Roche in Paris – jenes Baus, der die Logik der promenade architecturale erstmals programmatisch ins Werk 65

setzte.

Surrealismus und Ästhetik der Konvulsion

Bis in die jüngste Vergangenheit ist Salvador Dalí als Maler ungleich intensiver wahrgenommen worden als aufgrund seiner extravaganten architektonischen Ambitionen. Gerade diese aber erweisen sich im vorliegenden Zusammenhang als ein „gefundenes Fressen“.16 Dalí unternahm nicht unbeträchtliche Anstrengungen, um von seiner Zeit (oder mindestens von seiner Fangemeinde) als der große Gegenspieler Le Corbusiers zur Kenntnis genommen zu werden, nämlich als Verkünder einer Alternative zum architektonischen Funktionalismus. In diesem Zusammenhang ist Dalís feurige Parteinahme für den Jugendstil zu verstehen und insbesondere seine „skandalöse“ Begeisterung für den katalanischen Architekten Antoni Gaudí – „skandalös“ insofern, als die funktionalistische Architektur-Avantgarde der 1920er Jahre diesen Architekten kaum anders denn als eine Entgleisung irregeleiteten künstlerischen Begehrens wahrzunehmen vermochte. Noch deutlicher als für Le Corbusier war für Dalí das „Essen“ bzw. die Gastronomie (die Wissenschaft des Bauches) der gegebene Parameter sinnlicher Erfahrung. „La beauté sera comestible ou ne sera pas“, schreibt er 1933 – eine offensichtliche Parodie von André Bretons Devise „la beauté sera convulsive.“17 Die Architektur des Jugendstils, so argumentiert er, verkörpere zugleich die konkreteste und die verrückteste Form von Hyper-Materialismus: „Eine Illustration des scheinbaren Paradoxes kann man in einem gebräuchlichen, allerdings häufig in irreführender Absicht ins Feld geführten und doch so luziden Vergleiche finden: im Vergleich eines Jugendstilgebäudes mit einer Torte, einem exhibitionistischen und ornamentalen Stück ,Konfiserie‘.“18

Es handle sich bei der Gegenüberstellung von Jugendstil und Konfiserie um einen „ebenso luziden wie intelligenten“ Vergleich: „Nicht nur deshalb, weil er den heftigen materialistischen Prosaismus der ,unmittelbaren Bedürfnisse‘ aufs Korn nimmt, auf dem die idealen Bedürfnisse beruhen, sondern deshalb, weil solcherart und höchst real und ohne Euphemismus auf den nutritiven, essbaren Charakter dieser Sorte von Häusern hingewiesen wird, die in der Tat nichts anderes sind als die ersten essbaren Häuser und so auch die ersten und einzigen erotisierbaren Häuser, deren bloßes Vorhandensein den Beweis für diese für die amouröse Vorstellung ebenso dringende wie unentbehrliche Funktion erbringt, die darin besteht, den Gegenstand des Verlangens auch wirklich essen zu können.“19 Wenn Dalí in diesen wie im Delirium geschriebenen Zeilen den, wie er selbst

16 Zum Problemfeld „Dalí und die Architektur“ vgl. u.a.: Dalí Arquitectura, Barcelona (Fundacio Caixa de Catalunya/ Fundacio Gala-Salvador Dalí), 1996; Aguer, Montse; Fanés, Félix; Lahuerta, Juan-José (Hg.): Salvador Dalí. Dream of Venus (Fundacio „La Caixa“/Fundaciò Gala Salvador Dalí) Bonet, Llorenç: Gaudí/Dalí, Sabadell (H.Kliczkowski-Onlybook), 2002, sowie Schaffner, Ingrid; Schaal, Eric: Salvador Dalí's Dream of Venus. The Surrealist Funhouse from the 1939 World's Fair, New York (Princeton Architectural Press), 1999. – Zum Spannungsfeld Le Corbusier-Dalí vgl. Lahuerta, Juan José: Decir ANTI es decir PRO. Escenas de la vanguardia en Espana, Teruel (Museo de Teruel), 1999

17 Dalí, Salvador: De la beauté terrifiante et comestible de l'architecture Modern Style, in: Minotaure, 1933, Nr. 3-4, S. 69-76.; vgl. auch Dalìs späteren Text über Hector Guimard: Cylindrical Monarchy of Guimard, in: Arts Magazine, New York 1970, Nr. 44:5, S. 42-43

18 Dalí, Salvador: De la beauté ..., op.cit.

19

Ibid.

66

„Avez-vous déjà vu l’entrée du métro de Paris“? („Haben Sie den Eingang zum Pariser Métro schon gesehen“?). Bildseite zu Salvador Dalís Aufsatz „De la beauté terrifiante et comestible de l’architecture Modern Style“ („Über die erschreckende und essbare Schönheit der Architektur des Jugendstils“), in der Zeitschrift Minotaure, 1933

Vgl. Frascari, Marco: Semiotica ab Edenso. Taste in Architecture, in Horwitz, J. u. P.S., Eating Architecture, Cambridge, MA (MIT Press), 2004, S. 191-202 (Erstpubl. 1986)

20

sagt, „heftigen materialistischen Prosaismus der ‚unmittelbaren Bedürfnisse‘“ aufs Korn nimmt, so tut er es auf dem Umweg über die Regression in den kindlichen Narzissmus – d.h. jenes Entwicklungsstadium des Kindes, wo Objekte vor allem unter dem Gesichtspunkt der Eignung zum oralen Verschlingen beurteilt werden. Hier, so wird impliziert, liegt die Wurzel des sinnlichen Vergnügens – und diese Wurzel wiederentdeckt zu haben sei Gaudìs bleibende Leistung. Darin bestehe sein Vorsprung gegenüber den Metastasen der „Sachlichkeit“.20

Nicht, dass eine psychoanalytische Deutung, wie sie Dalí hier nahe legt, andere, handgreiflichere und auch banalere Annäherungen an den „essbaren Charakter dieser Sorte von Häusern“ ausschließen würde. Etwa im Sinne der Vorstellung,

Figueres, Spanien: Teatre-Museu Salvador Dalí. Das Stadtschloss von Figueres, umgebaut und mit Rieseneiern und Brotlaiben dekoriert nach einem Projekt von Salvador Dalí, 1974

dass die „Essbarkeit“ solcher Architektur auf Möglichkeiten hinweist, solche Gegenstände auch in anderer Weise als auf dem 67

Weg der utilitären Nutzung zu „konsumieren“ – z.B. als bloßes Zeichen, unabhängig von ihrer materiellen Funktion. So wie man „Event-Architektur“ konsumiert – also zum Beispiel den gespenstischen Schießbudenzauber von Dalís eigenem Teatre Museu Dalí in Figueres mit seinen Zinnen in Gestalt von Eiern und und seiner Fassadenmusterung mittels rosettenförmiger Brotlaibe.

Das noch zu Lebzeiten Dalís gegründete und später seiner Vaterstadt zur Nutzung anvertraute Museum ist einer jener Orte der Moderne, wo sich künstlerische Ambition und populistische Unterhaltung in irrlichternder Weise die Hand reichen. Teils kolos-

Gimenez-Frontin, J.-L., TeatreMuseu Dalí, Madrid (Tisquets/Electa), 1994; 2001

sale Kunstkammer, teils kommerzieller Ausverkauf künstlerischer Kuriositäten in der Tradition von Surrealismus und

22

Symbolismus, spekuliert das Institut mit der volkstümlichen Lust auf virtuos vorgeführte Exzentrik und bietet darüber hinaus manchen gelehrten Schabernack im Grenzbereich von reaktionärer Polit-Ikonographie und künstlerischer Subversion.21 Kennern der spanischen Kulturlandschaft wird zum Beispiel die Analogie der gemusterten Schlossfassade mit der Casa de las Conchas in Salamanca nicht entgehen – und je nach Standpunkt und Vorurteil wird sie die Bezugnahme auf das Symbol des spanischen Monarchismus (speziell unter dem franchistischen Regime) entsetzen – oder aber die spöttische Transformation der royalistischen Muscheln auf der Fassade der Casa de las Conchas in Brotlaibe bzw. die Bekrönung der Schlossfassade durch gigantische leibliche Fruchtbarkeit statt reaktionäre politische Autorität beschwörende Eier entzücken. Auf Dalís eigentümliche Mythologie des Brotes einzugehen ist hier nicht der Ort. Brot ist für Dalí das Sinnbild der Ernährung schlechthin, die „heilige Speise“ – ein Ding, das auf „tyrannische Art dem Notwendigen zugehört“ und das folglich nur durch die Kunst aus der Tyrannei des Zweckdenkens befreit werden kann.22

Dalì schrieb seinen Aufsatz über den Jugendstil im Jahre 1933. Vielleicht war ihm Le Corbusiers eben erst veröffentlichte Spottrede über Brillat-Savarin nicht entgangen. In diesem Fall würde mindestens eine Anregung zu seinen surrealistischen Phantasien zur essbaren Architektur bei Le Corbusier liegen. Nur wenig später hat Dalís funktionalistisches Alter Ego die gastronomische Analogie wieder in seiner eigenen, protestantischen Weise ins Negative gekehrt, indem er (in dem Buch Quand les cathédrales étaient blanches, 1937) New York mit einem Tisch verglich, den man nach dem Essen nicht abgeräumt hat: „Man hat nach dem Essen nicht abgeräumt; man hat die Reste eines Banketts, dessen Gäste schon längst verschwunden sind, in der Unordnung liegen lassen: steif gewordene Saucen, Knochen und Gräte, Weinflecken, Brosamen und in völligem Durcheinander das schmutzige Besteck.“23

21

Dalí, Salvador: Das geheime Leben des Salvador Dalí, München (Schirmer-Mosel), 1984, S. 376; vgl. auch: Salvador Dalí 19041984, Stuttgart (Hatje), 1989, S. 88 u. 174 Le Corbusier: Quand les cathédrales étaient blanches, Paris (Plon), 1937, Ausg. Paris (Gonthier), 1965, S. 7

23

Postmoderne Recyclings surrealistischer Tischphantasien

Dalìs und Le Corbusiers frivole Essbeschwörungen haben im Architekturgespräch der neo- und spätmodernen Nachkriegszeit einem nüchterneren Vokabular Platz gemacht. Erst mit der Postmoderne sind die Konvergenzen von Kochen und Bauen und die Parallelismen des olfaktorischen und optischen Verschlingens von Natur und Künstlichkeit unter Architekten wieder zum Thema geworden.

Venturi, Robert: Süss-Sauer. Eine Methode der vergleichenden Analyse und ein Entwurfsverfahren, die manieristische Dualität einbegreifen. Plädoyer für eine „neutrale“ Architektur als Hintergrund für Ikonographie und elektronische Medien, in: archithese, Nr.6. 1995, S. 6-12

24

Für Frank Gehry wurde der Samstagskarpfen, dem seine Großmutter jeweils eine Gnadenfrist in der Badewanne eingeräumt haben soll, bevor sie ihn der Pfanne anvertraute, zu einem formalen Paradigma, ja geradezu zu einem Markenzeichen. Noch in der großen, 2004 in Genua gezeigten Europarats-Ausstellung zeigte Gehry ein riesiges Hausmodell in Gestalt eines Fischs. Robert Venturi hat eines seiner jüngeren Manifeste – 1994 veröffentlicht – mit dem Titel Sweet and Sour überschrieben und so der Menükarte (in diesem Falle der Menükarte eines chinesischen Restaurants) neuerdings zu einem Auftritt auf der Architekturbühne verholfen.24 Venturi fällt im Zusammenhang mit der Wiedereinführung der gastronomischen Metapher in die postmoderne Architekturdiskussion eine Schlüsselrolle zu. Schon ein Vierteljahrhundert vor Sweet and Sour hatte er die Imbissbude in der Form einer Ente als Beispiel genommen, um zu zeigen, wie architektonische Zeichensprachen in der Alltagswelt zustande kommen und funktionieren.

Im Lehrgebäude Robert Venturis verkörpert der duck (die Ente) die Gegenposition zum decorated shed (dekorierter Schuppen). Der duck ist der Inbegriff einer Architektur, die ihre Funktion durch ihre Form, ikonisch, verkörpert – der decorated shed demgegenüber der Inbegriff einer funktionalen Architektur der minimalen Zeichensetzung, deren Funktion lediglich grafisch, mittels eines applizierten Zeichens kenntlich gemacht wird. Man muss wissen, dass Venturis Feldzug dem „dekorierten Schuppen“ gilt; die „Ente“ steht für eine überholte Praxis der architektonischen Formprägung. Es sind mithin zwei Fakten zu notieren: einmal die Tatsache, dass ausgerechnet eine Enten-Grillbude (im Gegensatz, sagen wir, zu einer Fabrik, einem Ozeandampfer oder einem Getreidesilo) zum optischen Schlagwort der postmodernen Architekturdiskussion werden konnte. Andererseits der Umstand, dass das Schlagwort am Ende doch wieder negativ kodiert ist – ähnlich wie Bills „Schleckzeug“ und Gregottis „Patisserie“. So ist die „Ente“ am Straßenrand von Long Island, neben allen anderen polemischen Implikationen dieses 68

Exempels einer populären architecture parlante, zugleich zweierlei: ein unmissverständliches Indiz dafür, dass im Zeitalter Venturis und Gehrys die den Funktionalismus beherrschende Mythologie der protestantischen Arbeitsmoral durch eine Mythologie des Konsums und des Hedonismus abgelöst worden ist, und ein letztes Aufleuchten puritanischer Konsumschelte.

Robert Venturi: „Duck“ und „Decorated Shed“ („Ente“ und „dekorierter Schuppen“) aus Learning from Las Vegas 1972

Ähnliches gilt erst recht für die wandbildgroße, jedoch nicht minder doppelbödige Travestie von Thomas Cole’s 1820 gemaltem Dream of an architect, die das Büro Venturi, Scott Brown and Associates unlängst im Rahmen seiner großen Retrospektive in Philadelphia präsentierte (2001). Zugegeben, die Konsumschelte scheint hier weitgehend ausgeblendet. Ein Architekt, auf einem riesigen Postament ruhend, meditiert über die ihm zu Füßen liegende heroische Architekturlandschaft: eine gotische Kirche, ein klassisch griechischer und ein ägyptischer Tempel sowie, darüber aufsteigend, eine Pyramide – das versammelte Inventar erhabener Architektursprachen, dazu da, in den Monumenten des 19. Jahrhunderts zur Anwendung zu kommen. Die Venturis setzen dem feierlichen Panorama wie zum Jux einen gigantischen Dounut auf, sekundiert von einem ebensolchen, von Ketchup überquellenden, die Neonfassade des Stardust-Casinos in Las Vegas flankierenden Hot Dog. Eine Mahnung an die Architekten, den Wallungen alltäglichen Begehrens einen Platz in der Architektur zu reservieren. Und gleichzeitig ein einigermaßen erschreckendes Zeitbild.

69

Robert Venturi: Dream of an architect (Fotomontage auf der Grundlage des 1820 gemalten gleichnamigen Bildes von Thomas Cole), 2001

Kontrollinstanz „Geschmack“

Von Brillat-Savarin stammen die Worte: On devient cuisinier, mais on naît rôtissier25 („Koch kann man werden, aber als

25 Brillat-Savarin, Jean-Anthelme: Physiologie du goût, op.cit., S. 20

Rôtissier wird man geboren“). Auguste Perret übersetzte die Sentenz in die Architektensprache mit den Worten: On devient ingénieur, mais on naît architecte26 („Ingenieur kann man werden, aber als Architekt wird man geboren“). Gemeint ist in beiden Fällen, dass sich Perfektion in der jeweils niedereren Kunstform durch korrekte Berechnung erreichen lässt, in der höheren jedoch nur durch die letztlich unplanbaren Faktoren von Talent und Erfahrung. Beide, Talent und Erfahrung, sind die unverzichtbare Voraussetzung von „Geschmack“ als einer Form von Wissen, das nicht „weiß“ („a knowledge that does not know“27, wie schon James Fergusson behauptete ).

In einem theoretischen Statement der 1980er Jahre plädieren auch die Münchener Architekten Heinz Hilmer und Christoph Sattler für die Rückkehr der Architektur in den traditionellen Geltungsbereich des „Geschmacks“ – so wie er sich in der Kochkunst der vergangenen Jahrhunderte herausgebildet habe. D.h. sie meinen, das Betrachten (und Benutzen) von Architektur unterliege ähnlichen Regeln wie das Schmecken eines Gerichts und zitieren in diesem Zusammenhang Immanuel Kant: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder ein Missfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“28 Mit Immanuel Kant im

26 Zit. nach Marco Frascari: Semiotica ab Edendo, op.cit.

27

Vgl. Frascari, op.cit.

Weischedel, Wilhelm: Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Wiesbaden, 1974, S. 124. Die entsprechende Aussage von Hilmer & Sattler ist festgehalten in: Baulig, Josef Walter: Geschichte und Rezeption. Theorien und Projekte: Heinz Hilmer & Christoph Sattler, Oswald Mathias Ungers, Johannes Uhl, (Diss., unpubl.), 1986, S. 40 28

Vgl. Collins, Peter, op.cit., S. 169f.

29

Rücken setzen Hilmer & Sattler einen konservativen Akzent – nicht nur im Spektrum der neueren Architektur (man denke an ihre souverän an vormoderne Vorbilder anknüpfende Gemäldegalerie zu Berlin), sondern auch im Spektrum der heutigen

„Le goût dépravé dans les arts est de se plaire à des sujets qui révoltent les esprits bien faits; de préférer le burlesque au noble, le précieux et l’affecté au beau simple et naturel: c’est une maladie de l’esprit.“ Voltaire: Gout, in: Diderot, Denis und d’Alembert, Jean le Rond d’ (Hg.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné, Paris, o.J.

30

Wiederbelebung der Gastro-Analogie. Sie würden vermutlich auch Peter Collins beipflichten, der schrieb: „Die Qualitätsmaßstäbe der Gastronomie haben sich in zwei Jahrhunderten nicht verändert und sind unbestritten. Die Qualitätsmaßstäbe der Architektur wären ebenso unbestritten, hätten nicht Einflüsse der Romantik während zwei Jahrhunderten ihre theoretische Basis vergiftet und ihren zerstörerischen Bazillus über die ganze westliche Welt versprüht wie Phylloxera. Kein Zufall ... [so ergänzt der Kanadier Collins], dass die englische Küche so sprichwörtlich schlecht ist, denn schlechte Küche und schlechte Architektur sind die Folge derselben philosophischen Infektion.“29 Als Folge dieser romantischen Infektion sei die GastroAnalogie inzwischen außer Kurs geraten, meinte daher Collins folgern zu können. Das „Wohlgefallen“, von dem Kant sprach, hergeleitet vom Prinzip des Gaumenvergnügens und also im weiteren Sinne vom „Geschmack“, sei als architektonische Maxime in der Gegenwart irrelevant. Denn moderne Architektur orientiere sich nicht am Publikum, wolle nicht „gefallen“ – wegleitend für sie seien vielmehr inhärente Regeln einer formalen respektive konstruktiven Logik, die nur noch marginal den Regeln des „Wohlgefallens“ unterlägen.

So sah es Collins 1967. Ich hoffe gezeigt zu haben, dass sich die Situation heute, im beginnenden 21. Jahrhundert, markant geändert hat – for better or for worse. Vor uns liegen die Resultate einer langsamen Verschiebung der theoretischen Aufmerksamkeit in der Architektur von der Produktionsästhetik zur Wirkungs- und Rezeptionsästhetik – von der Frage, wie die innere Struktur von Architektur beschaffen sein muss, hin zur Frage, wie Architektur aussieht, wirkt, „schmeckt“. Im Universum des globalen Marketing zählen diese Dinge mehr als die Monumentalisierung protestantischer Arbeitsethik.

Dazu kommt freilich, dass sich in diesem Prozess auch die überlieferten Kriterien des „Wohlgefallens“ und des „Kunstschönen“ verschoben haben. Oder besser: Dass im Rahmen des heutigen Kunstbetriebes verschiedene ästhetische Parameter nebeneinander existieren. Zwar würden sich wohl heute nicht wenige Vertreter des architektonischen Mainstream mit Hilmer & Sattler gerne auf die idealistische Ästhetik Kants berufen. Wer sich andererseits an der künstlerischen Avantgarde orientiert (bzw., grosso modo, an der „romantischen“ Tradition) wird sich andererseits gerade gegen diese Überlieferung auflehnen. Er (bzw. sie) wird es etwa für aktueller und vielversprechender halten, gezielt den „schlechten“ Geschmack als ästhetische Waffe einzu70

setzen, um in der multikulturellen Massengesellschaft einerseits den „Mann von der Straße“ auf der Ebene seiner optischen Gewohnheiten „abzuholen“ und andererseits das „Wohlgefallen“ von Eliten zu erzielen, die mit den Strategien von Ironie und Slapstick vertraut sind – so, wie das Venturi mit seinem frivolen Mix von historischer Architektur und Fast Food-Ikonen tut. Kants Zeitgenosse Voltaire hätte Venturis schrille amerikanische Kommerz-Burleske zum Thema von Cole’s Dream of an architect vielleicht als geschmacklos empfunden – wenn nicht gar als geistesgestört (als une maladie de l’esprit): „Der entartete Geschmack in den Künsten hat sein Vergnügen an Gegenständen, die die gebildeten Geister entsetzen; zieht das Burleske dem Vornehmen vor, das Präziöse und Affektierte dem einfachen und natürlich Schönen: er ist eine Geisteskrankheit.“30 Und doch: Gerade das „Gestörte“ an diesem Panorama knüpft unverkennbar an eine Kunstform des 18. Jahrhunderts an: jener des capriccio.

71

Hilmer & Sattler und Albrecht Architekten: Staatliche Gemäldegalerie in Berlin, 1986-1998. Innenansicht

Die Reproduzierbarkeit des Geschmacks Ákos Moravánszky

1 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hrsg. von Reinhard Brandt (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2000), S. 157

2

ebda.

Ekuan, Kenji: The Aesthetics of the Japanese Lunchbox (Cambridge, Mass.: The MIT Press, 1998) 3

Als sich Immanuel Kant 1787 in Königsberg ein eigenes Haus kaufte, lud er seine Freunde ein, jederzeit zum Mittagstisch zu kommen. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schreibt der Philosoph neben Bemerkungen über das Schöne und das Erhabene über die Verantwortung des Gastgebers: „Es ist keine Lage, wo Sinnlichkeit und Verstand, in einem Genusse vereinigt, so lange fortgesetzt und so oft mit Wohlgefallen wiederholt werden können, – als eine gute Mahlzeit in guter Gesellschaft. (...) Der ästhetische Geschmack des Wirts zeigt sich nun in der Geschicklichkeit, allgemeingültig zu wählen; welches er aber durch seinen eigenen Sinn nicht bewerkstelligen kann.”1 Da verschiedenen Gaumen verschiedene Gerichte schmecken, muss der Gastgeber auf Mannigfaltigkeit setzen, damit „für jeden nach seinem Sinn einiges angetroffen werde; welches eine komparative Allgemeingültigkeit abgibt.”2 Diese „komparative Allgemeingültigkeit” macht eine sorgfältige Auswahl notwendig; Vernunft muss den Geschmack begleiten. Während jeder Gast der Meinung eines anderen etwas entgegen halten darf, müssen doch alle dahingehend übereinstimmen, dass sie eine gute Mahlzeit genießen und eine interessante Konversation führen. Eine Konversation, bei der in allem Einstimmigkeit herrscht, wäre langweilig, während eine Diskussion zwischen Personen, die nichts miteinander gemeinsam haben, nur in eine Kakophonie der egoistischen Positionen ausarten würde.

72

Vielleicht ist das Bento, die japanische Lunchbox mit ihren Unterteilungen, in denen sich winzige Portionen von gebratenen, gekochten und gegarten, scharfen, süßen und saueren Gerichten befinden, die bildhafte Erfüllung dieses Programms. Der japanische Industriedesigner Kenji Ekuan beschreibt das Bento als Mandala, als meditatives Bild der Welt, als eine Begegnung von Dingen aus dem Meer und dem Gebirge, als eine Landschaft, die nicht unreguliert und pittoresk wie ein englischer Garten wirkt, sondern in einem quadratischen Raster arrangiert ist. Die Form des Arrangements stellt die Verbindung zwischen den disparaten Elementen her. Sie ist streng und hierarchisch gegliedert, verkörpert eine höhere Idee einer von außen auferlegten Ordnung und fordert eine freie Interpretation des Gestalters ein.3

Es geht also darum, die Welt mit vielfältigen optischen Reizen zu füllen: Ein Auto mit Telefon, Klimaanlage, CD-Spieler, Navigationssystem und Getränkehalter folgt letztendlich der Ästhetik des japanischen Bento als „komparative Allgemeingültigkeit”, als Universalität, die sich in Verschiedenheiten manifestiert. Diese Idee am Königsberger Mittagstisch in zeitlicher Abstufung zu realisieren, war bestimmt nicht leicht und erforderte eine entsprechend lange Sequenz von Gerichten.

Die Architektur des Essens ist die räumliche und zeitliche Organisation der Rohstoffe, sie bedeutet Räume und Rituale und reicht von der Planung bis zur Ausführung, vom Gang über den Markt bis zum Servieren des Desserts. Wie der Unterschied zwischen Kants Gastmahl und dem Bento zeigt, kann das architektonische wie das gastronomische Werk nur eingebettet in ein Geflecht kultureller Konventionen, Theorien, Techniken und Ritualen verstanden werden. Über Jahrhunderte waren Architekten wie Köche bestrebt, ihr Verständnis dieser Zusammenhänge in Form von Traktaten, Anweisungen oder Rezeptsammlungen darzulegen. In beiden Fällen bedeutete dies nicht nur eine Aufzeichnung und nachträgliche Rationalisierung eines kreativen Prozesses, sondern eine konkrete Aufforderung zum Nachahmen – mit dem Versprechen, dass der Nachahmer auf neue Wege geleitet wird.

Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde es möglich, das Wissen, das früher in Zünften und auf der Baustelle, bzw. in der Küche durch verbale Erklärungen und vor allem durch Nachmachen, über eine Hierarchie von Meistern bis zu Gehilfen weitergegeben wurde, in ein schriftlich festgelegtes System klar formulierter Grundsätze zu bringen, das einem viel breiteren Publikum zugänglich wurde. Im 13.-14. Jahrhundert waren die Aufzeichnungen noch ungenau und kaum geordnet. Bento: Japanische Lunchbox

Die Rezepte waren eher Gedächtnisstützen als Instruktionen. Aus ihnen hat sich im Laufe der Zeit eine florierende Produktion

von heute etwa 20.000 neuen Kochbüchern pro Jahr mit oft Zehntausenden von Exemplaren entwickelt. Sie sind nach unterschiedlichen Prinzipien zusammengestellt, etwa nach Jahreszeiten mit ihren eigenen saisonalen Zutaten und kulinarischen Sprachen oder bis hin zu gesundheitlichen Ratschlägen.

Es überrascht nicht, dass der Buchdruck auf allen Wissensgebieten zu vergleichbaren Prozessen des Ordnens und Klassifizierens von Regeln und Erfahrungen geführt hat, deren Zweck die Weitergabe von Erfahrungen und die Ausarbeitung theoretischer Grundlagen war. Die Architektur blieb dabei keine Ausnahme, und so erklärt sich die Analogie zwischen den Bestrebungen, architektonisches wie kulinarisches Wissen zu systematisieren. Von der privaten Rezeptsammlung als geheimer Gedächtnisstütze bzw. von der von der Bauzunft gehüteten Konstruktionszeichnung einer gotischen Fiale bis zur Entstehung eines großen Buchprojekts wie Sebastiano Serlios Neun Bücher über die Architektur (1537-1551) oder Vignolas Regola delli cinque ordini d’architettura (1562) führt ein weiter Weg. Die Idee, dass man aufgrund von geschriebenen Anweisungen tatsächlich gesunde und schmackhafte Gerichte bzw. gut brauchbare und schöne Bauten ausführen kann, wurde (und wird) immer wieder in Frage gestellt. Schon die Reduktion des Reichtums der antiken Architektur auf fünf Säulenordnungen war in Serlios Augen ein Kompromiss, damit auch mittelmäßig begabte Architekten den hochgesteckten Idealen einigermaßen nahe kommen könnten. Es stand jedoch immer außer Zweifel, dass wahre Meister solche Anweisungen nicht brauchen.

Mit der mechanischen Reproduzierbarkeit werden die Parallelen zwischen Kochbüchern und Architekturtraktaten zu mehr als einer bloßen Analogie, und zwar dann, wenn die Autoren auch die räumlichen Zusammenhänge des Kochens besprechen. Neben der Systematisierung der Kochrezepte werden nun auch Fragen der allgemeinen Hauswirtschaft thematisiert und alle anderen Aufgaben, die von der Frau geleitet werden: ihr Verhältnis zu ihrem Mann und zum Dienstpersonal, die Räume des Hauses und ihre Ordnung, ihre Reinigung und ihre Instandsetzung sowie die Gesundheit der Bewohner. Demnach wird das Traktakt über Hauswirtschaft für die Frau zu einer Art Gebrauchsanweisung des Hauses, jenem Produkt des Architekten, für das die Architekturtraktate geschrieben wurden.

Betrachten wir die Traktate, die seit der Antike das Hauswesen erörtern, im Zusammenhang mit diesen Hauswirtschaftsbüchern etwas genauer. Im 5. Jahrhundert entstand der Oeconomicus von Xenophon, ein Werk, das eine strenge Zuordnung der Räume des Hauses nach Mann und Frau forderte. Auch

Titelseite des Buches Das Hauswesen nach seinem ganzen Umfange von Marie Susanne Kübler

in Leon Battista Albertis Buch Über Hauswesen (Della Famiglia), das sich auf Xenophons Überlegungen stützt, werden das Haus und seine Räume als Instrument der Disziplinierung der von Natur aus launigen Frau beschrieben, die vom Mann zur Ordnung erzogen werden muss. Noch das in zahlreichen Neuauflagen veröffent4

lichte Koch- und Haushaltsbuch von Marie Susanne Kübler Das Hauswesen nach seinem ganzen Umfange aus dem 19. Jahrhundert scheint diesem Muster zu folgen. In Form von Briefen an eine Freundin verfasst, behandelt es Themen wie Ordnung, Reinlichkeit, Sparsamkeit, aber auch den Familientisch, die Küche, die Speisekammer, Nahrungsmittelkunde, Krankenpflege etc. Die jungen Leserinnen werden sogar im Sinne der „Bildung des Geistes“ vor Gedichten von Dichtern gewarnt, die „leider meist ins Politische gerathen und hiemit nichts wahrhaft Poetisches schaffen.“5

Rohstoffe

Die Systeme der Rohstoffe, Räume und Rituale, die sowohl architektonische als auch kulinarische bzw. hauswirtschaftliche Anwendungen finden, zeigen die Konsequenzen von Grenzziehungen, Symmetrien und Asymmetrien auf. Albertis Thesen über die richtigen Grundlagen des Haushalts, die in der Familie und im Staat, im Wohnhaus und in der Stadt die räumlichen Zusammenhänge bestimmen sollen, beruhen auf dem Konzept einer Ökonomie, die im Buch bis in ihre sexuellen und

Alberti, Leon Battista: Über Hauswesen (Stuttgart, Zürich: Artemis, 1962)

4

Kübler, Marie Susanne: Das Hauswesen nach seinem ganzen Umfange dargestellt in Briefen an eine Freundin mit Beigabe eines vollständigen Kochbuches (Stuttgart: J. Engelhorn, 1867)

5

6 Lévi-Strauss, Claude: Le cru et le cuit (Paris: Librarie Plon, 1964)

symbolischen Dimensionen untersucht wird. Eine strukturalistische Betrachtung avant la lettre führt erst der Anthropologe Claude Lévi-Strauss in den 1960er Jahren bei seinen Forschungen in den Dörfern der Ureinwohner Lateinamerikas systematisch durch. Lévi-Strauss hat Speisen und deren Rohstoffe analog zur gesprochenen Sprache analysiert, da beide Produkte Elemente derselben Kultur sind. Er untersuchte, in welcher Form Begriffe wie „Symbol“ und „Metapher“ zur Analyse von Essen und Architektur angewandt werden können. Lévi-Strauss’ Arbeiten wie Das Rohe und das Gekochte (1970) zeigen die Regeln auf, die unser Alltagsleben kontrollieren.6 Rohstoffe, Technologien der Essensvorbereitung, Gewohnheiten – alle sind Bestandteile eines Systems von Bedeutungsträgern. Kommunikation findet wesentlich über das Essen statt.

7 Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung, Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu (Berlin: Dietrich Reimer Verlag), S. 45

8

Lévi-Strauss, Claude: op. cit.

Kochbücher waren von Anfang an auch Gesundheitsratgeber, mit Anweisungen zur Diät und über die Heilwirkungen der Küchenkräuter. Dabei übernehmen sie bewusst oder unbewusst die verschiedenen Verbote religiösen Ursprungs, die den Umgang mit den Rohstoffen und ihre Eignung zum Verzehr regulieren. Die amerikanische Anthropologin Mary Douglas beschrieb diese Verbote in ihrem Buch Reinheit und Gefährdung. Sie analysierte die Unterschiede zwischen gekochter und ungekochter Nahrung. Früchte und Nüsse gelten z.B. im hinduistischen Indien nur unversehrt als rein. Sobald eine Kokosnuss aufgebrochen oder eine Paradiesfeige angeschnitten ist, kann sie ein Brahmane von jemandem aus einer niederen Kaste nicht mehr annehmen. Solche Gebote werden oft mit hygienischen Gründen erklärt. Das jüdische und islamische Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch beispielsweise beruht auf der Gefahr von verdorbenem Fleisch in heissen Gegenden.7

Die Unterscheidung zwischen Nahrungsmittel und Gift scheint also eine eindeutige Trennung zu sein, die sich hinter anderen, z.B. religiösen Grenzziehungen verbirgt. Lévi-Strauss zeigt jedoch in seiner strukturalen Anthropologie, dass Nahrungsmittel und Gift für die südamerikanischen Nambikwara, die sehr erfahrene Giftmischer sind, keine sich ausschließenden Kategorien bilden.8 Die Grenzen zwischen den Kategorien der Rohstoffe des Essens sind demnach genauso flüssig wie zwischen den Werkstoffen des Bauens, trotz gegenteiliger Behauptungen vieler Architekten etwa bezüglich der Identität des Backsteines oder des Holzes, die für viele Handbücher über Konstruktionssysteme die Grundlage bildete und immer noch bildet.

9 Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Aesthetik (Bd. 1 Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860; Bd. 2 München: Friedrich Bruckmann, 1863)

Forster, Kurt W.: „Schmelzkäse oder Fondue“, in Oswald, Franz; Schüller, Nicola (Hg.), Neue Urbanität. Das Verschmelzen von Stadt und Landschaft (Zürich: gta Verlag, 2003), S. 130-146

10

In der Architektur hat der Architekt und Architekturtheoretiker Gottfried Semper ein System der Werkstoffe etabliert, in dem auch symbolische Bezüge eine wichtige Rolle spielen. Er stellte vier Kategorien von Urtechniken auf, die vier Kategorien von Materialien entsprechen. Textilkunst ist die Arbeit mit dünnen, elastischen Stoffen. Das Ergebnis ist das zweidimensionale Gewebe, das Material der ersten Raumbegrenzungen, der Wände des Hauses. Die Keramik arbeitet mit knetbaren, weichen, plastischen Massen, die erhärtet (z.B. gebrannt oder getrocknet) werden können. Tektonik ist die Zusammenfügung von harten, stabartigen Elementen in ein rigides System. Das Material der Tektonik ist ursprünglich das Holz, während die Objekte der Tektonik nicht fest mit der Erde verbunden sind. Ein wichtiges Beispiel dafür ist der Dachstuhl. Stereotomie ist letztlich die Arbeit mit schweren, harten Stoffen, die Druck gut widerstehen – also Stein oder Backstein. Maurerarbeiten, die Aufschneidung von harten Materialien in kleinere Einheiten und deren Aufschichtung gehören hierzu.9

Das Wichtigste in Sempers System ist dessen Flexibilität: Die Grenzen seiner vier Grundkategorien sind durchlässig. Ein Material kann jederzeit die Rolle eines anderen annehmen. Es geht um Nachahmung, Inszenierung und Theatralität. Eine schön gemauerte Backsteinwand kann die Rolle einer Textilbespannung spielen. Ebenso mögen heutzutage aus Plastik gepresste Schalen die Formen von Kristallglas imitieren. In der Architektur wie in der Gastronomie hat sich die moderne These der Materialgerechtheit etabliert. Die Kochbücher der Nachkriegszeit dokumentieren mit ihren falschen Rahmsuppen aus Trockenmilchpulver und Linzertorten aus Trockenerbsen und Mehl, dass Not zu Surrogaten zwingen kann. Nur so kann man entschuldigen, wenn die einzelnen Zutaten nicht ihre eigene Identität, Konsistenz und Struktur zeigen. Im Normalfall jedoch soll sich Fisch klar vom Fleisch unterscheiden. Nicht eindeutige Konsistenzen, wie Brei, Sirup, Sülzen, sind oft negativ konnotiert – ähnlich wie früher die Einstellung zu opakem Glas in der Architektur. Um das Verschmelzen von Stadt und Landschaft in der Schweiz zu diskutieren, nutzt Kurt W. Forster in einem Aufsatz die Analogie zur sämigen Konsistenz des Fondues.10 Semper hat zur Beschreibung des Formtransfers in der Architektur den Begriff Stoffwechsel verwendet, dem auch in der Küche eine große Bedeutung zukommt. Das Wort kommt aus der Chemie: Justus Liebig, der Erfinder des Fleischextrakts, Dekorative Ziegelverkleidungen aus: Pierre Chabat: La brique et la terre cuite 1920

hat es um 1840 eingeführt, um die Umwandlung, den Kreislauf der Stoffe in der Natur zu beschreiben. Es waren nicht mehr die festen Identitäten, sondern die Transformationen, die Semper interessierten. Wenn eine Backsteinmauer wie eine textile Fläche erscheint, entsteht kulturelle Erinnerung, eine zeitliche Verbindung zu einem früheren Stadium. In Sempers Theorie erfolgt Stoffwechsel in der Architektur immer in Richtung der größeren Dauerhaftigkeit: Stein oder Metall übernehmen die Rolle von kurzlebigeren Stoffen wie Textil oder Holz. Was Stoffwechsel in seinen kulinarischen und architektonischen Bedeutungen verbindet, ist sozusagen die politische Ökonomie, die Herstellung von Mehrwert. Alvar Aalto äußerte sich über Frank Lloyd

Wright in seinem Wiener Vortrag Zwischen Humanismus und Materialismus in diesem Sinne: „Ich war einmal in Milwaukee zusammen mit meinem alten Freund Frank Lloyd Wright, der dort einen Vortrag hielt und folgendermaßen begann: ‚Wissen Sie, meine Herrschaften, was ein Ziegelstein ist? Er ist eine Bagatelle, er kostet 11 Cents, er ist ein wertloses banales Ding, das aber eine besondere Eigenschaft hat. Geben Sie mir diesen Ziegelstein, und er wird sofort umgewandelt in den Wert seines Gewichtes in Gold.‘ Es war vielleicht das einzige Mal, dass ich so brutal und demonstrativ einem Publikum sagen hörte, was Architektur ist. Architektur ist, den wertlosen Stein zu einem goldenen Stein umzuwandeln.“11 Tatsächlich entstehen Architektur wie kulinarische Köstlichkeiten aus rein vernunftmäßig nie ganz erklärbaren Prozeduren der Wertvermehrung. Man muss nicht

11 Aalto, Alvar: „Zwischen Humanismus und Materialismus“, in ders., Synopsis. Malerei Architektur Skulptur (2. Aufl. Basel: Birkhäuser, 1980), S. 38

12 Brillat-Savarin, Jean-Anthelme: Physiologie des Geschmacks oder Transzendentalgastronomische Betrachtungen (Leipzig: Philipp Reclam jun., o.J.), S. 24

13

nur die Regel kennen, man braucht schnelle Entscheidungen, die auf Geschmack und Intuition gegründet sind. „On devient cuisinier, mais on nait rôtisseur“ – „Der Koch wird erzogen, der Bratkünstler geboren”, stellte Jean-Anthelme Brillat-Savarin, Autor der Physiologie des Geschmackes fest.12 „On devient ingenieur, mais on nait architecte“, erwiderte der französische Architekt Auguste Perret. Die Physiologie des Geschmackes kann bis ins letzte Detail analysiert werden, die Meisterwerke jedoch bleiben unreproduzierbar.

Kübler, op.cit., S. 7

14 Muche, Georg: „Das Versuchshaus des Bauhauses“, in Meyer, Adolf (Hg.): Ein Versuchshaus des Bauhauses in Weimar (München: Albert Langen Verlag, 1923), S. 15-16

15 Frederick, Christine: Household Engineering. Scientific Management in the Home (Chicago: American School of Home Economics, 1920)

Räume

Ordnung im Tun, Ordnung im Raum und Ordnung in der Zeit: Das sind die drei Gebote, die Marie Susanne Kübler aus den „Gesetzen einer ewigen Ordnung“ ableitete und der Hausfrau überantwortete. Die Tätigkeit des Menschen soll „durch ein System der Ordnung geregelt sein“, und ein „Geist der Ordnung“ soll dem „häuslichen Wirken der Frau einen erhöhten Werth verleihen, und Ordnung die Bahn sein, auf welcher sich die kleine Welt, in der die Frau herrscht, still und sicher fortbewegt.“13 Zur Zeit Küblers bedeutete diese Ordnung in Tun, Zeit und Raum vor allem die Überwachung der Magd, deren Zeit

16 Meyer, Erna: Der neue Haushalt – Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Hausführung (Stuttgart: Franck’sche Verlagshandlung, 1926)

17 Taut, Bruno: Die Neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin (3. Aufl. Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1925), S. 99

und Raum bis ins kleinste Detail reguliert wurden. Als die Frau für die Ordnung im Raum und in der Zeit selbst, ohne Dienstpersonal, sorgen und so neue Aufgaben übernehmen musste, wurde die Rationalisierung der Küche beschleunigt. Georg Muche schrieb im Bauhausbuch Ein Versuchshaus des Bauhauses in Weimar darüber, dass die „falsche oft zimmermäßige Einrichtung der Küche“ die Ursache für Probleme sei, „die übermäßigen Zeitverlust zur Folge haben. Die Küche soll die Arbeitsstelle, das Laboratorium der Hausfrau sein, in dem jede überflüssige räumliche Größe und jede unhandliche Anordnung 75

der Einrichtungsgegenstände zu dauernder Mehrarbeit führen. Sie muss zu einem Mechanismus, einem Instrument werden. Die Zeit sollte der Frau des Hauses zu kostbar sein, um tagaus, tagein die Mühseligkeiten der altmodischen Küchenbewirtschaftung zu ertragen.“14

Die oft verwendeten, aus dem Gebiet des Industriemanagements stammenden Begriffe Taylorismus und Fordismus fanden eine direkte Anwendung im so genannten häuslichen Taylorismus (domestic Taylorism). Die Amerikanerin Christine Frederick, Industrieberaterin und Vorreiterin der Haushaltsergonomie, analysierte zwischen 1915 und 1922 die Küchenarbeit. Sie band in ihren berühmten Experimenten den Gehilfinnen einen Faden an den Fuß, der sich nach und nach abrollte und an dem sie feststellen konnte, welche Entfernungen die Hausfrau an einem Tag zurücklegt. Das Ergebnis war ein Liniennetz kreuz und quer durch den Raum. Nach der Umgruppierung der Möbel in Arbeitszonen wurde das Muster viel einfacher.15 Ihr Buch wurde 1921 ins Deutsche übertragen, und fünf Jahre später erschien auch Erna Meyers Ratgeber Der Neue Haushalt – Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Hausführung. Die Autorin hat auch die Gestaltungsprinzipien der Küchen in der Weißenhofsiedlung ausgearbeitet, deren wohl bekanntestes Ergebnis die so genannte Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky war.16 Bruno Taut schloss sich in seinem Buch Die Neue Wohnung: Die Frau als Schöpferin (1924) zwar ebenfalls an die Unter-

Illustration aus dem Buch Household Engineering von Christine Frederick

suchungen von Christine Fredericks an, der Hauptzweck der „Erlösung der Frau“ bestand für ihn jedoch darin, sie den Zielsetzungen des neuen Bauens zu gewinnen: „Der Mann wird jetzt das Haus erst bauen können, nachdem auch sein Weg durch die Erlösung der Frau frei geworden ist. Seine Freiheit, Beweglichkeit und Bereitschaft des schon längst fertigen Weges wird eine Folge der Befreiung der Frau sein; denn jede Form der Sklaverei reißt auch den mit hinein, der äußerlich und scheinbar nicht darunter zu leiden hat.“17

Christine Frederick: Household Engineering

Arens, Egmont: Imagination for Sale, Advertising Arts (November 1931), S.22-23

Die Arbeit in der Küche wurde nicht bloß erleichtert, die neuen, anfänglich ziemlich monströsen Geräte wurden bald zu freund-

Fitch, James Marston: Architecture and the Esthetics of Plenty (New York und London: Columbia University Press, 1961)

Hauses beginnt in der Küche.

18

19

Woods Kennedy, Robert: The House and The Art of its Design (New York: Reinhold Publishing Co., 1953), S. 234-135

20

lichen Helfern, schön gestalteten Objekten und zu conversation pieces der Tischgesellschaften. Die Mechanisierung des

„Consider electric refrigerators and skyscrapers and bathroom equipment. This is where to look for the development of a genuine modernism!“, schrieb Egmont Arens 1931 einem, in der Zeitschrift Advertising Arts veröffentlichten Aufsatz Imagination for sale.18 Der Eingang in die neue Welt der modernen Architektur geht über die Kühlschranktür: Man öffnet sie und hat die ganze Pracht der Schinken, kalten Schnitten, Käse, Crèmes und Torten vor Augen. Die Berge von aufgetürmten Orangen oder Würsten gehörten bereits zu den Sehenswürdigkeiten der Weltausstellung in Chicago im Jahre 1893, bald wird die amerikanische Aesthetics of Plenty zum Architekturprogramm, die großflächige Verglasungen vor allem zu Präsentationen der Fülle braucht.19 Neue Kochbücher und Rezeptsammlungen waren damit beschäftigt, den Reichtum an neuen, exotischen Speisen und Haushaltsgeräten zu organisieren. Besonders wichtig war als Handbuch für Hausfrauen und zugleich als Programm einer modernen amerikanischen Architektur das 1953 veröffentlichte Buch The House and the Art of its Design von Robert Woods Kennedy, einem Architekten, der in den Büros von Gropius und Breuer arbeitete und ein enger Freund des Architekten William Wurster war. Kennedy warnte in seinem Buch einerseits vor den Gefahren der Rationalisierung und beschrieb die Wichtigkeit individueller Gewohnheiten, andererseits folgte er der Ordnungsdisziplin der Hauswirtschaftsbücher, indem er etwa die verschiedenen Anlässe und Orte des Essens, die Teilnehmer, die notwendigen Geräte, Bestecke und ihre Aufbewahrung präzise bestimmte und verortete.20

Die zunehmende Systematisierung des Haushalts und des Kochens als Ergebnis solcher Publikationen haben die Grundlagen der funktionellen Neuorganisation des Hauses, von der Mechanisierung des Haushalts bis zur industriellen Vorfertigung des Essens und seiner Ingredienzien, niederlegt. Diese Systematisierung wird jedoch von Ausbruchsversuchen begleitet. Trotz des modernen Klangs von take away aß man immer schon vom heimischen Herd entfernt. Die Brotzeit des Wanderers, die karge Mahlzeit des Bauern, bis zum vertikalen Menu im Henkelmann – take away kann viele Formen haben, die oft mit harter Arbeit, Krankheit und Altersschwäche verbunden sind. Andererseits zeigen die scheinbar gelungenen Ausbruchversuche wie das Grillieren im Garten, dass wir uns immer noch innerhalb eines feinen Systems befinden, das auch diese kurzen und rituAckerbau-Pavillon auf der Ausstellung in Chicago im Jahre 1893

alisierten Fluchten reguliert.

Siemens Reklame von 1927

77

Robert Woods Kennedy: The House and the Art of its Design (Titelseite), 1953

78

Frankfurter Küche der Siedlung Römerstadt, 1926, Typ A

Rituale

„Unter den verschiednen Lebensgenüssen, welche sich der Scharfsinn des Menschen zu bereiten weiß, steht, besonders bei den Männern, eine gute Mahlzeit gemeiniglich oben an. Du glaubst nicht, liebe Frida, wie viel Einfluss eine solche auf die

21

Kübler, op.cit., S. 43

22

Ebenda, S. 239

Stimmung eines Mannes haben kann, und du thust daher gut, wenn du diese Schwäche – nein, ich will es nicht so heißen, denn wie sich das Auge am Schönen, das Ohr an Melodien, der Geruchsinn an Düften erlabt, so darf sich der Gaumen auch am Wohlschmeckenden erfreuen – du thust gut, wenn du diese Neigung gehörig berücksichtigest“21 – mahnte Marie Susanne Kübler. Essen als physiologische Funktion und Essen als gesellschaftliche Umgangsform sind die zwei extremen Pole, die den Autoren von Büchern über Kochen, Haushalt und Architektur als Orientierung dienen. Robert Woods Kennedy betont die „ritualistic importance“ des Essens: „The food eaten, the way in which the table is set, the family’s manners are all highly potent symbols of class status. ‚Nice’ people have ‚refined’ table manners. The family feels that the guest will necessarily watch for the little indications of culture and refinement, while the guest feels embarrassed to have unwittingly invaded the family’s privacy. Thus dining space located where they can be viewed from the entrance are anathema for most people. They should be as private as the family feels; their atmosphere should suggest the degree of ritual which the family enjoys; and their appointments should be the most elegant.“22

Die von Kennedy angesprochene „Klasse“ ist selbstverständlich nicht mehr durch die Geburt bestimmt, sondern durch den gesellschaftlichen Erfolg, der auch an den Umgangsformen beim Tisch ablesbar ist. Die Lebensreformkultur der Jahrhundertwende, die den „natürlichen Menschen” in ihr Zentrum stellte, hat sich jedoch neben dem Kult des naturbelassenen Körpers auch mit der Kontrolle des Körpers und der Körpersprache als zivilisatorische Notwendigkeit beschäftigt. So konzentrieren sich auch die Benimmbücher der Moderne, wie etwa Berta Wittstocks Was ist richtig? Was ist falsch? Warum? auf das Essen als natürlichen, aber kulturell

79

Illustration aus Berta Wittock

geformten Prozess, wobei vor allem ästhetische Einsichten und nicht Verbote als Orientierung dienen: „Der Aesthet schaltet das Messer bei Gerichten, bei denen das Fleisch fehlt, völlig aus, und das mit vollem Recht.“23

Der französische Kulturphilosoph Roland Barthes, der die Zeichen des Alltags und ihre kulturellen Bedeutungen untersuchte, hat „sein“ Japan als Gegenstück zu der martialischen europäischen Welt des Essens mit Messer und Gabel konstruiert. In seinem Buch Das Reich der Zeichen werden die japanischen Rituale des Essens dementsprechend als Haus Gropius, Lincoln Massachusetts, 1937-1938

diametraler Gegensatz zu den europäischen analysiert. Das Essen mit Stäbchen ist für ihn keine mechanische Operation, sondern eine räumliche Kalligrafie: Die Stäbchen zeigen, wählen aus, nehmen die kleinen Happen nur mit leichtem Druck auf.24 Die heutige Popularität des Sushi-Essens zeigt die Verschiebung der Vorstellungen auch bezüglich der räumlichen Ästhetik und thermischen Symbolik des Essens von heiß zu kalt. Robert Woods Kennedy betonte 1953 noch die thermische Symbolik der Küche: „Here is heat, fire, steam, smells, usually wonderful but sometimes awful, and a mysterious chemical process which, because it is superintended by women, makes her into a sort of genie. Here is the female symbol of creative heat, which she can only regard with the greatest of awe – even as her husband regards his fireplace.“

25

Wittstock, Berta: Was ist richtig? Was ist falsch? Warum? Gesellschaftliche Umgangsformen der Gegenwart (Berlin: Die Brücke, 1931), S. 47

23

Barthes, Roland: L’empire des signes (Genf: Albert Skira, 1970)

24

25

Kennedy, op. cit., p. 222

Inzwischen ist die Küche thermisch wie ästhetisch kälter geworden, hat aber an Raum gewonnen. Mit den edlen Einbaugeräten und Designer-Objekten wie Philip Starcks Juicy Salif Zitronenpresse oder Ron Arards Chiringuito Cocktailshaker dient sie als Hintergrund zu Gesprächen und zur Aufbewahrung der Kochbuchsammlung. Populär sind jene Bildbände, die eine stimmungsvolle Präsentation von Landschaften, Bauten, und Kochrezepten anbieten. Aber schon das Blättern bietet einen synästhetischen Genuss, eine Reise durch Indien, Thailand oder Japan auf dem Sofa.

Wie das Architekturbuch verdient das neue Kochbuch seine Popularität einer Persönlichkeit, deren Aura für die Qualität der dargestellten Werke im Zeitalter ihrer mechanischen Reproduzierbarkeit steht. Früher waren diese Persönlichkeiten sogenannte Meisterköche, heute dient auch das Leben und Werk von bekannten Künstlern wie Paul Gauguin, Claude Monet oder Frida Kahlo als Erzählrahmen und Bildhintergrund für gastronomische Inszenierungen. In dem Maße, in dem die normierten Tomaten und Paprikaschoten aus niederländischen Glashäusern geschmacklich verblassen, gewinnen die Bilder an Farbe. Dabei spielt es keine Rolle, wenn die Rezepte etwas modifiziert aus älteren, weniger attraktiv gestalteten Sammlungen übernommen werden. Gekocht werden sie sowieso nicht. Woher auch würde man 1 kg Romeritos, sechs in Streifen geschnittene Nopales, 14 Guajillo Chiles und zwei Ancho Chiles nehmen, um seinen Gästen ein Revoltillo zu kochen?26 Paradoxerweise tragen gerade die exotisch klingenden Namen der unbekannten und unauffindbaren Ingredienzien zur „mexikanischen Stimmung“ bei, die zum Kauf des Buches animieren. Die Unreproduzierbarkeit der dargestellten Gerichte schafft erst die Aura des Bildes als Surrogat des Essens. Der pictorial turn, ein Begriff, mit dem der Kunsttheoretiker William J.T. Mitchell den grundlegenden Rivera, Guadalupe; Colle, MariePierre: Frida’s Fiestas. Recipes and Reminiscences of Life with Frida Kahlo (New York: Clarkson Potter, 1994)

26

Dalí, Salvador: „De la beauté terrifiante et comestible de l’architecture modern style“, in Minotaure Nr. 3-4 (Dezember 1933), S. 69-76

27

80

kulturellen Wandel unserer Zeit bezeichnete, vollzieht sich eben in allen Bereichen. Wir müssen also noch länger warten, bevor Salvador Dalís Prophezeiung in Erfüllung geht: Er beschrieb in einem Aufsatz für die surrealistische Zeitschrift Minotaure die Bauglieder von Gaudís Kathedrale Sagrada Familia wie aus zarter Kalbsleber bestehend, um dann seinen kannibalistischen Appetit auf Kunst zu deklarieren: “La beauté sera comestible ou ne sera pas.“27 „Schönheit wird entweder essbar, oder sie muss verschwinden.“ Wie diese und andere Publikationen beweisen, ist es vielmehr die Schönheit des Bildes, die über die anderen Sinne triumphiert.

81

Picknick-Korb aus den 1950er Jahren

Sinnhafte Architektur in einer globalisierten Welt Gion Caminada

Wenn ich entwerfe, beschäftigen mich gleichzeitig die Probleme dieser Welt. Mit meiner Architektur versuche ich, einen Beitrag zu leisten, diesen Problemen zu begegnen. Bauen bedeutet für mich eine Lebensweise. Ich habe kleine Dinge gebaut, eine Telefonkabine, eine Totenstube, derzeit entwerfe ich eine öffentliche Toilette und vor allem Wohnhäuser, allerlei, was die Menschen so brauchen zum Leben. Mit Schönheit hat das zunächst nichts zu tun. Einem Bauern kann ich nicht vermitteln, dass er einen schönen Stall bauen soll. Wenn der Stall aber gut funktioniert, dann darf er auch schön sein. Das heißt, Architektur muss eine Aufgabe lösen. Ich erkläre meine Bauten nicht mit komplizierten Theoriegebilden oder willkürlichen künstlerischen Inspirationen. Das ist mir ein bisschen zu wenig. Ich glaube vielmehr, dass Architektur, die immer aus einer Idee entspringt, eine Totalität von Ereignissen umfasst, in der eine Sinnhaftigkeit erkennbar ist. Ich baue, um einer realen Aufgabe eine bauliche Gestalt zu verleihen. Kürzlich habe ich mit einem Denkmalpfleger über ein neues Baugesetz diskutiert. Er sagte, im Gesetz müsse verankert werden, dass Bauen eine bestimmte Mindestqualität besitzen muss. Wie aber soll man Qualität „an sich“ bauen? Architektur muss zuerst eine Funktion erfüllen, einen Sinn ergeben. Dieser steht vor der Qualität. Das war schon immer so. Wenn ein Bau zweckvoll ist, entsteht Qualität. Er bedingt die Qualität. Ein guter Entwurf verkörpert eine Totalität aller Ereignisse und beinhaltet auch die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Es muss etwas entstehen können, das Telefonhäuschen in Vrin, 1997

nicht schon im Voraus bestimmt war. Damit Geschichten entstehen können, baue ich Häuser für die Ewigkeit.

82

Bergdorf Vrin, Graubünden

83

Totenstube in Vrin, 2002. Symbolisch, physisch und atmosphärisch zwischen der Alltagswelt des Dorfes und dem sakralen Bereich mit Friedhof und Kirche gelegen: gespiegelt auch im weißen Holzanstrich

84

Treppenaufgang in der Totenstube

Eingang zur Totenstube

Ecklösung des Strickbaus der Totenstube

85

Betrachten wir das Beispiel der Totenstube, die ich in Vrin gebaut habe. Hier galt es, eine Form für den Umgang mit dem Tod zu finden. Der Tod ist im Leben eigentlich immer präsent. Die Medien berichten ständig über Ereignisse des Todes. Dennoch ist unsere Gesellschaft gekennzeichnet von seiner Verdrängung. Die stiva da morts thematisiert diese Verdrängung. Und sie konkretisiert das Thema des Trauerns. Trauern können die Toten nicht. So steht die Totenstube sichtbar außerhalb des Vriner Friedhofs im profanen Bereich – dort, wo für viele die Grenzlinie zwischen Leben und Tod verläuft. Trauern ist ambivalent und beinhaltet immer ein Weinen und ein Lachen, bzw. eine Freude am Leben. Ich habe mit den Vrinern lange diskutiert, was es heißt zu Trauern. Damit etwas entsteht, muss ich auch provozieren. Der Standort der Totenstube war den Vrinern nicht so wichtig. Für sie bedeutete es aber eine Provokation, als ich sie fragte, ob sie sich vorstellen könnten, in der Totenstube Kaffee zu trinken. Früher hat man während der Aufbahrung Witze erzählt. Das hat den Toten wenig geschadet, aber den Überlebenden geholfen, über den Tod hinwegzukommen. Die dreiteilige Raumgliederung mit Stube, Küche und Gang – eine typische Haustypologie – schafft einen profanen Ort für ein häusliches Trauern um die Toten. Heute haben die Vriner Freude an ihrer Totenstube, denn sie funktioniert. Sie haben sich von der architektonischen Idee verführen lassen.

Was mich in unserer heutigen Zeit zutiefst beschäftigt, ist die Nivellierung, die durch die Raum-Zeit-Differenzen entsteht. In unserer globalisierten Welt wird Lebensraum immer kleiner. Wie können wir ihn vergrößern? Ich denke, indem wir etwas gegen das Einheitsdenken unternehmen, gegen die Nivellierung der Werte, gegen die Zerstörung der Vielfalt. In unserer Welt kann der Mensch fast keine grundsätzlich neuen Erfahrungen mehr machen. Mit meinen Studenten an der ETH Zürich arbeite ich an einem Projekt mit dem Titel „Das Bild hinter dem Bild“. Im Gegensatz zu der Studie des ETH-Studio Basel mit Roger Diener, Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Marcel Meili und Christian Schmid schauen wir uns dabei die Schweiz nicht wie auf einer Landkarte von oben an, was letztendlich einer Vernichtung der Vielfalt gleichkommt, sondern von innen. Was lässt sich von innen aktivieren, wo sind die Ressourcen? Wie können ursprüngliche Orte beispielsweise des Bergells eine Chance haben? Die Kräfte von innen sind stark. Man kann nicht einfach von oben verordnen, wohin sie sich bewegen sollen. Unser Ansatz ist die Stärkung der Peripherie. In der aktuellen Planungskultur-Debatte ist Identität zu einem Schlüsselbegriff geworden. Identität ist eine Frage von inneren Strukturen und Differenzen. Das heißt, die Unterschiede wie auch die Grenzen zwischen dem Urbanen und der Peripherie müssen klar gezogen sein. Gleichzeitig bedarf es einer besseren Vernetzung zwischen Zentrum und Peripherie. Und wenn unser Ziel ein Land der Vielfalt ist, das im internationalen Standortwettkampf bestehen kann, bedeutet dies ein besseres Verständnis dessen, was die Bilder ausmachen, die wir beispielsweise von einem Appenzeller oder Bergeller Haus in uns tragen. An den unterschiedlichen Orten, seien es Vrin oder Dörfer im Appenzell, haben sich über Jahrhunderte gewisse bauliche Traditionen entwickelt, die die Bilder haben entstehen lassen. Nur, das Bild, das wir sehen, ist vielleicht gar nicht primär. Das Appenzeller Haus gibt es nicht. Was aber hat sein Bild generiert, aus was ist es entstanden, was für Kriterien, was für Eigenschaften waren bedeutend, dass es so entstanden ist? Wenn man diese Bilder hinter den Bildern begreifen lernt, dann weiß man auch, wie man bauliche Tradition weiterdenken muss. Dann kann Vielfalt, Neues in der Tradition entstehen, ohne eine bildhafte, oberflächliche Reproduktionen zu sein. Der Mensch sehnt sich nach dieser Vielfalt. Auch beim Kochen geht es darum, der Nivellierung des Geschmacks entgegenzuwirken. Wie viele unterschiedliche, köstliche, regionale Rezepte es doch gibt!

86

Totenstube, Grundrisse und Schnitt

Totenstube in Vrin

Mädcheninternat „Unterhaus“, Teil des Klosters Disentis, 2004

Ich baue derzeit ein Haus im Appenzeller Land auf einem Hügel. Die Geschichte seines Zustandekommens verdeutlicht meine Gedanken: Es gab bereits einen planenden Architekten, der an diesem Ort ein mit Aluminium verkleidetes Haus bauen wollte. Am Ort war laut Baugesetz aber Holz vorgeschrieben. Die Gemeinde wollte ihm keine Baugenehmigung erteilen. Das Verwaltungsgericht aber gab ihm Recht, denn der Architekt beabsichtigte, die Aluminiumverkleidung mit Holzfarbe anzustreichen. Damit wurde es zu einem Holzhaus. Das aber bedeutet: Für diesen Architekten gibt es das Bild vom Appenzeller Haus. Seine Typologie und ihre Veränderung interessieren ihn nicht. Er wollte das Bild des Appenzeller Hauses hinüberretten – egal mit welchen Mitteln. Meine Herangehensweise ist eine andere: Für mich geht es um die Frage, was ist das Essenzielle an einem Appenzeller Haus, was ist seine Grundidee. Innerhalb der ihm üblichen Konstruktionsweise habe ich versucht, eine neue Lebensform zu integrieren. Wie lässt sich eine heutige Lebensform mit der Appenzeller Typologie vereinbaren? Ich denke, die Typologie ist das Gegenteil vom Modell; ein Modell kann man nicht ändern, sonst ist es keines mehr. Die Typologie aber, die Informationen von allerlei Lebensgewohnheiten, Konstruktionsmethoden, Geometrien etc. aufnimmt, ist wandelbar. Was keine wandelbaren Kernelemente sind, ist genau beschreibbar. Typologie ist so ungenau wie ein überliefertes Kochrezept. Die Differenzierungen, die Feinheiten, sie sind es, die anrühren, verführen, schmecken. Die Wiederholung beispielsweise ist für mich etwas Phantastisches. Wenn man eine Herde Schafe anschaut, die durch die Hochebene der Greina zieht, 200 Stück Rücken an Rücken unter den darüber hinwegziehenden Wolken: Es gibt nichts Bewegenderes. Unsere modernen Städte empfinde ich aufgrund ihrer optischen Vielfalt – und damit widerspreche ich mich keineswegs, wenn ich andererseits eine regionale Vielfalt proklamiere – als äußerst langweilig. Der große Reiz der alten italienischen Städte liegt in der variationsreichen Wiederholung typologischer Grundmuster.

3

1

89 0 Erdgeschoss

1:200

1.Obergeschoss

1:200

Grundrisse

Fensterdetail

Innerer Betonkern mit Treppe und Aufenthaltsecken

3.Obergeschoss

1:200

90

Wohnhaus Segmüller, Vignon, 2002

Beim Entwerfen denke ich relativ schnell an eine Konstruktion. Man muss ja nicht nur die Zutaten haben, sondern auch wissen, wie man sie vermischt und mit welchen Geräten. Wenn man eine Konstruktion erwägt, dann denkt man zwangsläufig an ein Material. Wenn Konstruktion und Material früh mit in den Entwurfsprozess einbezogen werden, dann nimmt beides Einfluss auf die Idee des Raumes. Das Wechselspiel zwischen Verkleidung und Konstruktion interessiert mich sehr. Wo fängt das eine an, wo hört das andere auf? Hier wurzelt auch mein besonderes Interesse am traditionellen Strickbau. Dieses Aufeinanderschichten von Hölzern funktioniert am besten mit kompakten Zellen. Deshalb hat man früher einfach Zellen aneinandergereiht. Das traditionelle Strickbau-Haus weist immer eine Kombination von Küche und Kammer auf, wobei der Küche eine zentrale Bedeutung zukommt. Für mich stellte sich die Frage, wie der Typus des Strickbau-Hauses neu verwendet werden kann, sodass er den modernen Lebensbedürfnissen entspricht. Zunächst habe ich die Flure etwas breiter gemacht. Dann kam ich zu einer anderen Entwurfsmethodik. Ich begann, Raumzellen zu setzen und sie mit Wänden zu umspannen. Das heißt, ich habe beim Entwerfen mit Räumen gearbeitet, nicht mit Wänden. Letztendlich hat es mich zur Erfahrung geführt, dass man beim Strickbau die Konstruktion auch stark modulieren kann und nicht unbedingt in Vertikalen und Horizontalen denken muss. So habe ich mehr und mehr Teile aus dem Baukörper herausgeschnitten, ihn sozusagen ausgehöhlt. Das hat neue, spannende Raumerlebnisse generiert. Bei meinen jüngsten Strickbauten interessiert mich das Prinzip der Masse. Keine andere Holzkonstruktion hat so eine dichte Masse wie der Strickbau. Das sieht man schon an der äußeren Erscheinung der Totenstube. Es scheint, als sei das hölzerne Gebäude genauso massiv gebaut wie die gemauerte Kirche.

Traditioneller Strickbau

a

b

91

c

d

e

Haus Kübler-Beckel, Fürstenaubruck, Grundriss Erdgeschoss

Typologische Entwicklung Die strukturelle Eigenschaft des Strickbaus bedeutet, dass Wände von relativ geringer Länge (traditionell maximal die Länge eines Balkens – abhängig von der Größe der Bäume) jeweils über aussteifende Eckverbindungen stabilisiert werden. Damit ist die räumliche Grundeinheit die Raumzelle: Siehe die traditionellen Haustypen mit ihrer rationalen Aufteilung der Bauvolumen. Aufgrund der relativ hohen Steifigkeit können aber auch andere, freiere Grundrissdispositionen verwendet werden – zumal die Wände der verschiedenen Etagen nicht zwingend genau übereinander stehen müssen. a Traditionelle Haustypen b-d Von der Haus- zur Stricktypologie e Plastische Kraft der Strickbauweise

Will man die Stärkung der Peripherie bewusst leben und fördern, gehört dazu eine sinnvolle Unterstützung lokaler Handwerksund Verarbeitungsbetriebe, d.h. die Erhaltung von Arbeitsplätzen und handwerklicher Fähigkeiten. Bei der Totenstube und vielen anderen Bauten in und um Vrin habe ich Tannenholz als Baumaterial verwendet, das vor Ort geschlagen, zugeschnitten und verarbeitet werden konnte. Dieser reproduzierbare Rohstoff kostet fast nichts. Dafür darf seine Verarbeitung dann etwas teurer sein. Ich hätte auch ein „besseres“ Holz wie beispielsweise Lärchenholz wählen können. Aber dann wäre die Wertschöpfung nicht so hoch gewesen. Und gerade um diese Wertschöpfung, die an geringe Materialkosten gebunden ist, geht es mir. Die Aufwertung erfolgt durch die besondere Art der Behandlung. Das ist beim Kochen genauso, wenn man etwas Schmackhaftes mit vor Ort gefertigten Zutaten selbst kocht, anstatt eine weit gereiste Konservenbüchse mit einem Fertiggericht aufzumachen. Die Strategie, das einheimische, kostengünstige Material durch einen hohen Grad an Bearbeitung in einen höheren Zustand zu versetzen, bedeutet auch für die Bauleute eine sinnhafte, planerische und handwerkliche Herausforderung. So wird Baukultur geschaffen.

92

93

Baugruppe Sut Vitg unterhalb des Dorfkerns von Vrin, 1998. Die drei neuen Wirtschaftsbauten (eine Metzgerei mit Schlachthaus und zwei Stallscheunen) gehören mit zum Konzept der Stärkung der lokalen Wirtschaft. Für die Metzgerei entwickelte Caminada einen besonders „luftigen“ Strick mit einer besonderen grafischen Zeichnung.

Der Esser und seine Ahnen Andreas Hartmann

Eine Frau erinnert sich an ein wöchentliches Familienritual um die Zubereitung des Apfelpfannkuchens, den es zu ihrer Kindheit immer dienstags gab. Da kamen die Großeltern, um auf das Mädchen aufzupassen: „Meine Oma stand in der Küche und rührte den Teig an, in einer großen gelben Steingutschüssel. Mein Opa saß währenddessen mit mir am Esstisch, erzählte Geschichten und schnitt die Apfelscheiben, eine für mich – eine für den Pfannkuchen. Rund um den Apfel herum wurden die Scheiben abgeschnitten, so dass am Ende immer der exakt geschnittene Apfelwürfelknust übrig blieb, den ich dann weiter abnagte. Ich erinnere mich genau an diese geraden Flächen des Apfelknustes, in die ich meine Zahnmuster biss. Dann wurden die Apfelscheiben in den noch nassen Teig gelegt, und er wurde trocken und fester und schloss die Apfelscheiben ein, 94

achteckige, sechseckige, viereckige und fast runde Apfelscheiben, die wie Flicken auf dem Teig schwammen. Als meine Oma nicht mehr kommen konnte, hat mein Opa die Pfannkuchen alleine gemacht. Als später auch mein Opa gestorben war, hat mein Vater das Apfelpfannkuchenmachen übernommen. Für mich ist klar, dass beim Apfelpfannkuchenmachen die Äpfel genauso geschnitten werden müssen, wie mein Opa es gemacht hat. Und ich glaube, wenn meine Kinder mich später nach meinen Großeltern fragen werden, werde ich als erstes von diesem Dienstagsbild erzählen und von der Art, wie Apfelpfannkuchen richtig gemacht werden müssen.“

Wenn wir essen, dann sitzen unsere Ahnen mit am Tisch. Nicht nur in Familienritualen sind sie noch präsent, auch in den Geschmäckern und Gerüchen selbst ist dies der Fall. Wie Geschmack und Geruch sich zu einer untrüglichen Daseins- und Herkunftsgewissheit verdichten, berichtete eine andere Frau in Form einer kleinen Kartoffelgeschichte: „Zwiebeln, Eier, Wurst und Kräuter lagen schon fein gehackt und gewürfelt in der Schüssel, als ich meine Großmutter bat, mir eine Kartoffel, die sie gerade gepellt hatte, abzugeben. Dann nahm sie das Küchenmesser, schnitt ein Stück der Kartoffel ab, schnitzte eine winzige Ecke Butter von der Kante des Butterstücks, stippte diese in das Salzfass und strich beides auf der Kartoffel ab. Nun schob sie mir, die schmelzende Butter obenauf balancierend, alles mit der Hand in den Mund. Der Geruch ihrer Hände vermischte sich mit dem Geschmack der Kartoffel – bei jeder weiteren Fütterung sog ich zunächst den Duft ein und begann dann erst zu kauen, dieser Wohlgeschmack beinhaltete das Beste, was die Welt für mich bereithielt. Die Mixtur von Geruch, Geschmack und Situation löste ein unvergleichliches Gefühl von Geborgenheit und Wärme aus. Seit dieser Zeit, bis zu dem Tode meiner Großmutter – ich war immerhin 22 Jahre alt –, ließ ich mich an Kartoffelsalattagen mit dieser Kombination füttern; und immer war da dieses Gefühl …“

Unsere Ahnen sitzen unauffällig und diskret mit am Tisch, wie ein fernes Echo bei jedem Bissen. Denn was wir schmecken und was uns schmeckt, ist immer zum Teil auch das Ergebnis der Verinnerlichung von kulturellen Vorprägungen mit Hilfe kulinarischer Erziehungsrituale am Familientisch. Und das, was sich in uns einschrieb damals, als wir Kinder waren, wird uns zeitlebens begleiten und wir werden es, gewollt oder ungewollt, in mehr oder weniger abgewandelter Form weitergeben an die nächste Generation. Auch bei unseren Eltern verhielt sich das so, sie waren einst ebenfalls Kinder, die an den Mittagstischen unserer Großeltern saßen, die ihrerseits von ihren eigenen Eltern in ein kulinarisches Weltbild hineinsozialisiert wurden. Und so weiter. Es wäre unzutreffend, sich diesen Tradierungsvorgang als eine starre Weitergabe vorzustellen. Vielmehr handelt es sich

dabei um einen äußerst beweglichen Kommunikationsvorgang, der für vielerlei Neuerungen und Umwertungen offen ist; allerdings nicht für alles und nicht beliebig, sondern immer im Rahmen tief verankerter kultureller Muster, die sich nicht einfach nach Gusto aufkündigen lassen. Dass trotz aller Veränderungen des kulinarischen Universums und der allgemeinen Geschmacksvorlieben die Autorität der Vorfahren fortdauert, zeigt sich etwa an den von Ekelvorstellungen begleiteten Speisevermeidungen von z.B. Ratten, Insekten oder Hunden, die in unserer kulturellen Sphäre über viele Generationen hinweg stabil fortbestehen.

Beim Festmahl sind die Vorfahren häufig ebenfalls zugegen, und zwar in Gestalt gemeinsam geteilter Erinnerungen. Wo das Gruppengedächtnis, die kommunizierte Erinnerung, aktiv ist, kann die Ahnenreihe freilich nicht allzu lang sein. Im unmittelbaren Austausch der Erfahrungen und Erzählungen leuchtet die Gemeinschaftserinnerung zwischen den Generationen einen Zeitkegel von etwa 80 bis 100 Jahren aus, die Erinnerungsgrenze bildet das biblische Säkulum. In der familiären Tischgemeinschaft hören Kinder möglicherweise gerade noch von ihren Urgroßeltern oder Ururgroßeltern erzählen, dahinter verschwindet die Zeitzeugenschaft und man befindet sich endgültig auf dem Hoheitsgebiet der Familienlegende und der Genealogie.

Nichtsdestotrotz bilden gerade festliche Mahlzeiten die Rahmung für kollektive Erinnerung und kollektives Gedenken. Nicht nur in den Tischreden finden wir regelmäßig einen Passus, der die Abwesenden symbolisch mit einschließt, die räumlich Abwesenden genauso wie die zeitlich Abwesenden, die Verstorbenen. Auch die Tischgespräche kreisen häufig um verflossene Feste und lange zurückliegende gemeinsame Mähler, sie lassen Zeiten wieder lebendig werden, in denen die Alten noch am Leben waren. Beim Essen redet man immer wieder mit Leidenschaft über ein anderes Essen und vor allem auch über die Menschen, die damals mit dabei waren. Doch mit dem Reden und Erzählen allein ist es nicht getan: Hinzu kommt die Erinnerung, die sich den Gegenständen wie eine Patina anverwandelt hat, etwa einem silbernen Serviettenring, einem abgewetzten Kochlöffel, einem altmodischen Weinglas oder Essbesteck usw. Auch sie sind Medien der Verständigung und Vergewisserung und können die virtuelle Anwesenheit der Abwesenden und der Verstorbenen im kommunikativen Gedächtnis der Tischgemeinschaft verbürgen. Plastizität erlangt dieses Gruppengedächtnis durch Anschaulichkeit, wenn sich die Erinnerungsgegenstände etwa mit Geschichten verknüpfen, die dann weitere Geschichten nach sich ziehen, bis schließlich ein lebendiges Erinnerungsbild entsteht, das die erinnerte Person förmlich zum Greifen nahe rückt – eine vitale Erscheinung, eine kollektive Erzählgeburt, eine Erzähl-Wiedergeburt.

Speise und Trank, Geschmack und Geruch sind auf eine besondere Weise dazu prädestiniert, das Gedächtnis zu stimulieren. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass Essen und Trinken durch und durch sozial-kommunikative Akte darstellen, dass bei jeder Mahlzeit gewissermaßen all jene versammelt sind, die dazu beigetragen haben, dem Verzehr von Nahrung jenen Bedeutungsreichtum zu verleihen, der über die bloße Funktion der Kalorienzufuhr hinausgeht. Weiterhin hat dies aber auch damit zu tun, dass Geschmacks- und Geruchssinn ihre Signale unmittelbar in jenes Hirnareal senden, das für die Bildung von Emotionen maßgeblich ist. Und in der Tat ist es auffällig, dass die im kulinarischen Akt repräsentierten Erinnerungen fast durchweg affektiv aufgeladen und mit einem starken atmosphärischen Gehalt versehen sind. Die Menschen, die wir mit Hilfe kulinarischer Trägersubstanzen auf den Plan rufen, treten kaum je als neutrale Wesen ins Gedächtnis. Und ebenso wenig neutral sind die Räume, die Wohnungen und Häuser, die Küchen, Keller und Speicher, die Gärten, Straßenecken, Bäckerläden, Klassenzimmer oder welche Räume auch immer, die wir mit einem bestimmten charakteristischen Geruch oder Geschmack assoziieren. Auch ihnen haftet der Nimbus des Vertrauten, des verlorenen Paradieses oder vergangener Schrecken an, auch sie sind in ein unverwechselbares Licht getaucht, das etwas grundlegend anderes bedeutet als bloß Beleuchtung. Ein Löffel Reispudding, auf eine bestimmte Weise abgeschmeckt, reicht z.B. einer befragten Seniorin aus, um ihre längst verstorbenen, innig geliebten Jugendfreundinnen wieder im festlich-freundlichen Lichterglanz einer weihnachtlich geschmückten Kindheitswohnung um sich zu versammeln und die Einsamkeit des Alters abzuschütteln.

Die Leuchtkraft der Erinnerung kann also ein Ausmaß erlangen, bei dem die Zeit gleichsam gelöscht erscheint. Dann geht man auf Zeitreise, kehrt zurück zu den eigenen Kinderkörpergefühlen, zu den Anfängen. Man erlebt die Vergangenheit als Gegenwart, und zugleich sind die Menschen von einst im Heute realsinnlich repräsentiert, wieder gegenwärtig. Sie tanzen nicht einfach nur als Bilder vor unseren Augen, sondern sie sind wirklich da, physisch anwesend. Ihr Dasein erscheint weniger als Erinnerung denn als Realpräsenz. Zwei Typen der Hervorbringung dieses Effektes lassen sich hierbei unterscheiden. Das ist zum Ersten die sogenannte mémoire involontaire, die unwillkürliche Erinnerung also, welche die Vergangenheit unbeabsichtigt und quasi überfallartig in die Gegenwart holt. Zum Zweiten ist das die mémoire volontaire, die diese Zeitreisen mit Hilfe eines ausgestalteten rituellen Programms gezielt induziert.

95

In der Sphäre des Privaten kann dies z.B. nach dem Muster der folgenden beiden Beispiele ablaufen: „Ich bin weiblich, Jahrgang 1922. Wenn ich ein trockenes Rundstück esse und trinke dazu kalte Milch oder Kakao – aus einem weißen EmailleBecher – dann denke ich an das Strandbad Maakendamm am Köhlbrand, Zeit: 1932/33 … Ich habe mir extra einen weißen Emaille-Becher gekauft. Und wenn ich dann ein Brötchen habe, schwelge ich in Erinnerung an die Ferien am Maakendamm.“ Und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit: „… hinter mir zog ich einen Bollerwagen und hoffte, am Zaun einen Soldaten zu treffen, der bereit wäre, mir seine Wäsche zu geben. Es war ein dunkelschwarzer GI. Er gab mir seine Uniform, seine Unterhemden und seine Unterhosen und schrieb mir seinen Namen auf. Ich weiß noch heute: Er hieß Abraham. Am nächsten Tag brachte ich alles zurück. Meine Mutter hatte die Sachen mit der Hand gewaschen und wunderbar gebügelt. Es gab wirklich Kaugummis, und es gab Schokolade, und es gab Zigaretten und eine Büchse Leberwurst. Noch nie in meinem Leben – so dachte ich – hatte ich so etwas Gutes gegessen. Es war wie im Schlaraffenland. Oh, was war ich glücklich! Wenn ich heute in schlechter Stimmung bin, dann gehe ich zum Metzger und hole mir ein viertel Pfund Leberwurst, die esse ich, dann fühle ich mich wie damals, und dann geht es mir wieder gut.“

Noch einmal: Das Faszinosum der kulinarischen Zeitmaschine liegt in der Realpräsenz der Vergangenheit, im Erleben ihrer wirklichen, echten Wiederkehr. Diese Wiederkehr ist repräsentiert als unmittelbare Sinneserfahrung, als Körpergefühl. Damit verbunden ist ein Moment der wundersamen Selbstverzauberung, bei der sich chronologisch voneinander getrennte Zeiten wider alle mathematisch-physikalische Logik ineinanderschieben, ein Phänomen, das den Erklärungsprämissen der Alltagsvernunft entzogen ist. Indem so die Vergangenheit in Gestalt realer Wahrnehmungsleiber aus Fleisch und Blut in das Bewusstsein eintritt, macht sie sich zugleich zum lebendigen Memento über den Aufbau der Welt. Es sei hier dahingestellt, ob bei diesem Effekt ein universelles Schema vorliegt, das der menschlichen Natur eingeboren ist; vielleicht aber kann man doch vorsichtig von einer allgemeinen Disposition sprechen, von einem anthropologisch gegebenen Möglichkeitsrahmen, der die realsinnliche Vergegenwärtigung von Vergangenheit mit Hilfe kulinarischer Erfahrungen erlaubt. Dieser Möglichkeitsrahmen nun findet eine Fülle kulturspezifischer Ausgestaltungen, in denen sich ganz verschiedene Glaubensvorstellungen artikulieren können, was aber nichts daran ändert, dass diese Ausgestaltungen über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg Nahrung, Ritus und Gedächtnis miteinander in Beziehung bringen und dabei die kosmologische Ordnung und das Weltverhältnis des Menschen durch Riten der Wiederkehr erneuern. 96 Zwei miteinander strukturverwandte aber kulturell einander ganz fern stehende Ritualkomplexe seien deshalb kurz angesprochen. In ihnen beiden ist die Kategorie des Ahnen – im Sinne eines Abstammungsverhältnisses – als Nahrung konzeptualisiert. Zunächst einige Bemerkungen zum Abendmahl. Dieser Ritus steht im Zentrum der christlichen Religionsausübung, er ist zugleich kirchlicher Gründungsakt, Heilsgewissheit und Mysterium des Glaubens. Auf den sogenannten Abendmahlsstreit, der die Durchführung des Ritus und die Bedeutung seiner einzelnen Elemente betrifft, gehe ich nicht näher ein. Nur so viel: Die liturgische und exegetische Kodierung dieses Schlüsselrituals ist offensichtlich nicht ohne dramatische Konsequenzen aufzukündigen, ja mit jeder noch so geringen Veränderung steht tendenziell die Gesamtheit der Glaubensgewissheit in Frage. Deshalb fällt der ökumenische Kompromiss ja anscheinend so schwer. Und in der Tat besteht die Funktion von Ritualen ja nicht in erster Linie darin, flexibel zu sein, sondern darin, kulturelle und kosmologische Identitäts- und Bestandssicherung zu betreiben, geistiges Überlieferungsgut durch die Zeit zu tragen und ständig aufs Neue zu regenerieren. Selbstverständlich wandeln sich Rituale, aber Wandel ist nicht ihre Kernbotschaft, sondern Kontinuität, Abstammungsbezug.

Im Abendmahlsritus ist dieser genealogische, gemeinschaftsbildende Bezug als Zukunftsauftrag und Erlösungsversprechen konzeptualisiert. Zwar operieren die verschiedenen Varianten der Feier durchweg mit den Kategorien der Speise, des rituellen Mahls, der Erinnerung und der Vergegenwärtigung, Dissens herrscht aber über die Frage, wie diese Kategorien jeweils ins Spiel zu bringen sind: Ob man – wie bei den Reformierten – Brot und Wein als Symbole des Leibes Christi anzusehen hat oder – wie bei den Lutheranern und Katholiken – als physische Gegenwart des Erlösers; auf welche Weise – im letzteren Falle – das Mysterium der Wandlung vonstatten geht und ob es ein geweihter Priester und damit ein spiritueller Abkömmling der Apostel sein muss, der in persona Christi die Einsetzungsworte sprechen darf; ob der Leib in einerlei oder in zweierlei Gestalt zu reichen ist; ob das Abendmahl nur eine Gedächtnis- und gemeindliche Dankesfeier ist oder darüber hinaus auch Opferritus und Erlösungsakt.

Einige Bibelstellen: „Und indem sie aßen“, heißt es im Markus-Evangelium, „nahm Jesus das Brot, danket und brachs und gabs ihnen und sprach: ,Nehmet, esset, das ist mein Leib.‘ Und nahm den Kelch und danket und gab ihnen den. Und sie tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: ,Das ist mein Blut des neuen Testaments, das für euch vergossen wird.‘“ Nach Lukas und Paulus sprach Jesus außerdem: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“, und Paulus zitiert den Heiland zusätzlich mit

Giotto di Bondone: Das letzte Abendmahl, 1305

den Worten: „Denn so oft ihr von diesem Brot esset und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen bis dass er kommt.“ Das in den Einsetzungsworten enthaltene kannibalistische Skandalon kommt in Johannes’ Bericht von der wundersamen Speisung offen zur Sprache: „,Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt.’ Da zankten die Juden untereinander und sprachen: ‚Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben.’ Jesus sprach zu ihnen: ‚Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschen Sohns und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben. Und ich werde ihn am jüngsten Tage auferwecken. Denn mein Fleisch ist die rechte Speise und mein Blut der rechte Trank. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.‘ Und die Jünger, die diese Worte hörten, sprachen: ,Das ist eine harte Rede. Wer kann sie hören?‘“

Jenes Abendmahlsverständnis, das vom Mysterium der Transsubstantiation ausgeht, trägt das anfangs schon erwähnte Phänomen der Realpräsenz in die Stofflichkeit der Speise selbst hinein. Die im rituellen Mahl erwirkte Erinnerung ist zugleich eine Staunen erregende Form der Repräsentation, ein unmittelbar leibliches Wieder-Gegenwärtigmachen des Gekreuzigten. Diese Repräsentation versteht sich als Gabe, die den ersten Kirchenstifter durch die Jahrhunderte hinweg ununterbrochen mit seiner heutigen Gemeinde verbindet und zugleich das durch den Menschen entweihte Schöpfungswerk Gottes mit der Erlösung der Welt. Insofern ist die Abendmahlsgabe essenzieller Bestandteil eines Austauschsystems, das auf die Wiederherstellung der kosmologischen Ordnung zielt, auf die Ankunft des Reichs Gottes und auf die Vollendung des Kreises der Geschichte.

In der Enzyklika Ecclesia de Eucharistia vom 17. April 2003 hat Johannes Paul II. diese Dynamik von Gabe und Gegengabe mit geradezu ethnologischer Präzision benannt. „Dies – schreibt er – ist das mysterium fidei, das in der Eucharistie gegenwärtig wird: Die Welt, die aus den Händen des Schöpfergottes hervorgegangen ist, kehrt als von Christus erlöste Welt zu Gott zurück.“ Dieses Telos erfüllt sich durch das Opfer des Menschensohnes, das seinerseits eine Gabe an den Vater war, die dieser ihm in Gestalt des ewigen Lebens in der Auferstehung zurückschenkte. Durch die immerwährende Vergegenwärtigung dieser Gabe im Abendmahl stiftete Jesus Christus „eine geheimnisvolle ‚Gleichzeitigkeit’ zwischen jenem [ersten] Triduum [des Ostermysteriums] und dem Gang aller Jahrhunderte.“ 98 Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht mir hier nicht um eine Abwägung theologischer Fragen, sondern um die ethnologische Betrachtung des Strukturzusammenhangs von rituellem Mahl, Repräsentation der Vergangenheit und Kosmologie. Beim Abendmahl zeigt sich, dass dieser Zusammenhang aus einer Konstellation des Gabentausches hervorgeht, welcher der kosmologischen Bestimmung der Geschichtserfüllung dient und damit zugleich auch sozioreligiöse Richtwerte schafft, etwa insofern, als die Kirche sich ihrerseits als Leib begreift, der sich Gott im Himmel hingibt. Es braucht kaum eigens hervorgehoben zu werden, dass der rituelle Komplex des Abendmahls unmittelbar auch in architektonische Programme eingebunden ist, stellt doch der erste Abendmahlssaal das Urbild sämtlicher eucharistischer Mnemotope dar, als die wir Altar- und Kirchenbauten grundsätzlich anzusprechen haben. Darauf insistiert die päpstliche Enzyklika ebenfalls mit großem Nachdruck.

Das zweite Beispiel führt uns in den Nordosten Thailands, in ein Hüttendorf unweit der kambodschanischen Grenze. Hier konnte ich ein Ritual dokumentieren, das ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, eine Assoziation von Speisung, Erinnerung und Kosmologie herstellt. Erinnerung ereignet sich hier im eigentlichen Wortsinne als Einverleibung. In der gesamten Region Nordostthailands herrscht ein ausgeprägter Geisterglaube, in diesem speziellen Ritual bitten die Frauen jene Ahnen zu Besuch, die als Kulturbringerinnen zu mythiThailändisches Ritual: Assoziation von Speisung, Erinnerung und Kosmologie

schen Vorzeiten gelebt haben. Zu den hervorragenden Kulturtechniken,

welche die Frauen von diesen Ahnen in ununterbrochener genealogischer Überlieferung erlernt haben, gehört der Gesamtkomplex der Webkunst: die Zucht der Seidenraupen, das Haspeln der Seide, die Farbherstellung und die Ikatfärbung, das Wissen um die Webmuster usw. Das Ritual selbst ist ein Ekstaseritual, in dessen Verlauf die Ahnin leibhaftig in die Körper eintritt. Daraufhin tanzen die in ihre eigenen Ahnen transformierten und in Seide gekleideten Frauen bis in die Morgenstunden auf einem Zeremonialplatz um ein Podest herum. Bei der Vorbereitung des Festes helfen alle mit. Die Kinder, die Jugend, die

Männer, die Frauen. An das Podest in der Mitte des Zeremonialgeviertes wird eine Zeremonalleiter gelehnt, über welche die Ahnen nach Beginn des Rituals hinabsteigen. Opfergaben werden drapiert, Speisen gerichtet. Eine Art von Positionsleuchte zeigt den Ahnen den Weg. Hier stehen dann später auch Opferspeisen, wie überhaupt die ganze Zeit über das Küchenfeuer brennt, wo Huhn, Suppe und anderes zubereitet werden. Mit Blumen, Früchten und Süßigkeiten dekorierte Schnüre umspannen das Geviert. Im Laufe der Nacht „schießen“ die inkarnierten Ahnen diese Früchte mit Hilfe von Zeremonialwaffen, woraufhin sie die Erfindung der Jagd, der Landwirtschaft und des Handels noch einmal durchleben.

Mit Beginn des eigentlichen Trancerituals setzt Musik ein. Die Ahnen werden zunächst herbeigerufen und mit Speisen bewirtet. Über das Podest und die Zeremonialleiter gelangen sie in Wasserschöpfbehälter, die nach genauer Vorschrift mit Blumen und Kerzen geschmückt sind. Von dort treten sie, oft epilepsieartige Konvulsionen verursachend, in die Körper der Frauen, welche die Schöpfnäpfe mit ihren Händen umfassen, ein und inkarnieren sich in ihnen. Nun nehmen die Frauen die Identität ihrer Ahnin an und gewanden sich in Seide. Eine zwölfjährige Initiandin etwa, deren Ekstase ich auch im Video festhalten konnte, veränderte ihr Gebaren während der gesamten Zeit des Inkarnationsrituals von Grund auf. In ihrer körperlichen Hülle wohnte nun ihre Ahnin Dschampi (Blumenname). In der Gestalt der Zwölfjährigen erkannten während dieses „Besuchs“ auch die anderen Ritualteilnehmer ganz real die wiedergekehrte Ahnin und begrüßten freudig eine 84jährige, hochverehrte Meisterin, die vor vielen tausend Jahren lebte. Gemeinsam mit den anderen Frauen tanzte auch das Mädchen/Dschampi die ganze Nacht über. Der Tanz währte bis in die Morgenstunden, eingebettet in diverse rituelle Verrichtungen, zu denen an zentraler Position die Speisung der Ahnen gehörte.

Dem Selbstverständnis der Ritualteilnehmer nach waren es nicht die Frauen der heutigen Zeit, welche das rituelle Mahl verzehrten, sondern eben deren Stammmütter, die am kommenden Morgen wieder aus den Körpern fuhren, um zu ihren Heimstätten zurückzukehren. Von der rechten Speise, von der korrekten Erfüllung des Opferversprechens hängt es ab, ob die Ahnin zu Besuch kommt, um für ein weiteres Jahr die genealogische Kontinuität und mit dieser die Ordnung der Dinge zu sichern. Auch hier – wie in der oben skizzierten Sphäre des Privaten und in ganz anderer Wendung im Ritualkomplex des Abendmahls – schieben sich Vergangenheit und Gegenwart ineinander, auch hier ist das rituelle Mahl der Vermittler; auch hier ist eine Art von Kontrakt im Spiel, bei dem es um nichts Geringeres geht als um den Bau der Welt sowie den Fortbestand der Kultur und der Geschichte: einer Geschichte, in der die Gleichzeitigkeit von Anfang und Ende mitgedacht ist. Der Esser und seine Ahnen, sie sind im erweiterten, sozioreligiös-rituellen Kontext eingebunden in kosmologische Ordnungen – und alles spricht dafür, dass auch die kulinarische Kosmologie der Moderne sich in überlieferten Bindungen bewegt.

Thailändisches Ritual: Opferspeisen

99

Herd und Heim Orte der Speisezubereitung im Wandel der Zeit Peter Davey

1 Vitruv: De Architectura, Buch II, Kapitel 1. Marcus Vitruvius Pollios Buch ist das einzige Architekturtraktat, das aus klassischer Zeit überlebt hat.

Alles begann mit dem Feuer. Vitruv glaubte, dass wir die Sprache und damit die Zivilisation dem Feuer zu verdanken haben.1 Tatsächlich ist keine menschliche Zivilisation je völlig ohne Feuer ausgekommen, egal unter welchen klimatischen Bedingungen. Feuer ist die Basis für Wärme, Verteidigung, Licht und natürlich für das Kochen und die Konservierung von Nahrungsmitteln. Kein Wunder also, dass einer der meistverehrtesten Altäre im römischen Forum der Tempel der Vesta war – eine runde, steinerne Abstraktion einer primitiven Hütte, fokussiert auf ein zentrales Feuer, das von sechs aristokratischen Jungfrauen bewacht wird. Würde das Feuer ausgehen, würde ein Unheil den Staat ereilen und auch jede Familie, die in einer

100

der Lehm beworfenen Flechtwerkhütten im Wald lebt.

In den meisten Kulturen blieb das Feuer das Zentrum des sozialen und familiären Lebens und der Mittelpunkt des Wohnhauses. Von den Wikingerhütten im Norden, in denen einzigartige, in den Fußboden eingelegte, aus Stein gehauene Röhren frische Luft ins Innere führten, ohne den Raum abzukühlen, bis zu den Trulli, den bienenstockförmigen Steinhütten aus Apulien in Süditalien war das zentrale Feuer die Basis für das Essen, für Licht, Wärme und Gesellschaft. In den Städten des Römischen Reiches und im Nahen Osten entwickelte sich allmählich eine komplexe Form der Speisenzubereitung. In Pompeji und vergleichbaren Städten lebten die Armen in sogenannten insulae, dichtgedrängten mehrgeschossigen Wohnblöcken in denen die einzelnen Wohnungen keine Küche hatten. Wenn überhaupt, kochten die Einwohner zu Hause wahrscheinlich auf kleinen, tragbaren Kohleöfen2, die auch zur Beheizung des Raumes

Ähnliche Vorrichtungen, die zwecks besserer Luftzufuhr perforiert sind und mit speziellen, zylindrisch-geformten Briketts aus komprimierter Kohle gefeuert werden, finden in China heute immer noch eine häufige Verwendung. 2

dienten. Brot kam vom Bäcker, dessen Ofen mit einem innen liegenden Feuer beheizt wurde. War der Ofen glühend heiß, räumte man die Glut aus. Mit größter Wahrscheinlichkeit brachten die Menschen ihre eigenen Speisen – seien es Fladen, Kuchen oder Braten –, um sie im Ofen des Bäckers backen zu lassen. Das blieb in vielen europäischen Ländern bis weit ins 20. Jahrhundert so. Die Armen müssen auch häufig die Garküchen in Beschlag genommen haben, die es im Erdgeschoss der insulae gab. Die Speisen wurden hier in großen Töpfen, die in zur Straße zugePompeji: Garküche an einer Straße: In die runden Öffnungen wurden Kochgeräte gestellt

wandten Steintresen eingelassen waren, gekocht und warmgehalten. Man konnte die Speisen vor Ort essen oder mit nach oben nehmen.

Das Leben der Reichen gestaltete sich ganz anders. Hier bereiteten Sklaven die Speisen zu. Kochherde waren in den Häusern üblich. Diese bestanden aus Plattformen aus Ziegelsteinen oder Lehm, auf denen Kohle oder Holz in einem Gitter, bestehend aus miteinander verbundenen Abteilungen, verbrannt wurde. Töpfe wurden in Löchern in der Plattform oder oben drauf erhitzt

– genauso wie in den Garküchen. Oft befanden sich die Öfen in separaten Räumen. So entwickelte sich die häusliche Küche,

Vitruv: De Architectura, Buch VI, Kapitel 4-6

3

die von Anfang an mit Reichtum und Privilegien assoziiert werden muss. Kaum jemanden interessierte es damals, wie die Oliver, Paul (Hg.): Encyclopedia of Vernacular Architecture of the World, Band 1, S. 341-432

4

Küchen aussahen, denn obwohl Sklaven als Besitztum ihrer Meister sicherlich wertvoller waren als Küchenherde, erhielten sie doch von den meisten ihrer Besitzer nicht mehr Mitgefühl als ein lebloser Haufen Backstein. Auch Vitruv gibt praktisch keine Hinweise, wie eine Küche organisiert oder positioniert werden sollte, obwohl er einiges über die Proportionierung und Orientierung von Esszimmern zu sagen hatte.3

In Backsteinhäusern begann man, den Herd an eine Wand zu setzen. So wanderte das Feuer vom Zentrum des Raumes an den Rand. Offensichtlich wurde der Kamin im 13. Jahrhundert in Norditalien entwickelt.4 Vorher stieg der Rauch einfach im Raum auf und entschwand über den Dachstuhl. Zunächst baute man Kamine aus Holz, Flechtwerk oder Korb, die wie Hüte über der Feuerstelle saßen – natürlich eine sehr feuergefährliche Angelegenheit. Sofern das Material vorhanden war oder die Besitzer reich genug waren, wurden Kamine deshalb aus Stein, später aus Backstein gebaut. Abgesehen von der vordergründigen Möglichkeit, Rauch abzuführen, besaßen Kamine viele weitere Vorteile. Allmählich entstanden die unterschiedlichsten Formen der Raumbeheizung wie auch der Kochstellen. Bei ausgetüftelteren Formen konnte die Feuerstärke mit Ventilen im Abzug reguliert werden, und so entstanden in Mittel- und Nordeuropa viele Formen von Herden. In Nordchina und Mittelasien erfand man neben diesen Öfen Schlafplattformen über dem Heißluftsystem.

In kalten, moderierten und mediterranen Gegenden fungierte die massive Herd- und Kaminkonstruktion als Wärmespeicher. Aus den seitlich angeordneten Bänken neben dem häuslichen Hauptfeuer wurde oft eine richtige Kaminecke, ein höhlenartiger Platz, an den sich die Familie zu den kältesten Zeiten zurückzog. Im Sommer sorgten Kamine für genügend Ventilation. Fleisch und Fisch konservierte man, indem man sie zum Räuchern in den Abzug hängte, und Brotbacköfen wurden manchmal direkt in die gemauerte Wand hinein gebaut. Große Schlösser und Klöster hatten üblicherweise separate Küchen, die häufig einen oktogonalen Grundriss aufwiesen. Ein hohes Dach sorgte für Ventilation. Herde und riesige Feuerstellen, die zu unterschiedlichen Kochzwecken verwendet wurden, baute man in die Wand. Zum Braten gab es Spieße, die entweder von einem „halb gerösteten Kind“ oder einem „halb gar gekochten“ Hund auf einer Tretmühle gedreht wurden. 101

In heißen Gegenden befanden sich Feuerstellen oft in separaten Konstruktionen vom eigentlichen Haupthaus getrennt. Es liegt auf der Hand, dass in den Tropen eine große, zentrale Quelle künstlicher Hitze höchst unerwünscht ist. Deshalb befanden sich die Kochstellen normalerweise im Freien, manchmal in separaten, eher dürftigen Konstruktionen. Diese Tradition kam von Indien ins australische Hinterland, wo sie bis in die jüngste Gegenwart gepflegt wurde,5 weil sie nicht nur die Hitzequelle von den Wohnräumen fernhält, sondern auch, weil so das Risiko einer Feuersbrunst und die Invasion von Ungeziefer reduziert werden kann. In Gebieten mit hohen jährlichen Temperaturschwankungen, wanderte der Ort des Kochens je nach Jahreszeit von einer Stelle zur anderen. In Baltistan, Kaschmir, variiert er zwischen einem hochisolierten, fensterlosen Winterzimmer, das oftmals unter der Erde gelegen oder von Futter umgeben ist, bis hin zu einem offenen Platz in einer Ecke auf der Veranda im Sommer.6 Außer in den größten Häusern gab es keine separaten Küchen. Gekocht wurde normalerweise im Hauptwohnraum über einem offenen Feuer mit Spießen oder in großen und kleinen Kesseln, die mit Stahlständern oder höhenverstellbaren Feueraufzügen getragen und in oder aus dem Feuer geschwenkt werden konnten, um die Hitze zu variieren. Aufbewahrt wurden die Speisen oft in gut ventilierten Anbauten oder separaten Hütten.

Leitungswasser. Plinius der Jüngere beklagte als einzigen Nachteil seiner wunderbaren Villa in Laurentum auf dem Lande,

Bis zur Abschaffung der Sklaverei war sie auch in den amerikanischen Südstaaten üblich.

dass diese kein fließendes Wasser besaß,7 aber es gab zahlreiche Quellen oder Brunnen, aus denen die Sklaven

6

Abgesehen vom Feuer ist das Wasser das andere notwendige Element zum Kochen. Zu römischen Zeiten besaßen die Reichen

Wassergefäße füllen konnten. Im 1. und 2. Jahrhundert hatten die Reichen neben den Wasserleitungen auch Wasserbecken, die mit Regenwasser von den Dächern ihrer Villen gespeist wurden. Diese Impluvien fungierten als unmittelbare häusliche Wasserquelle. Ähnliche Systeme gab es in den Burgen und Palästen der Reichen bis nach der Renaissance. Doch nach dem Kollaps der römischen Technik bis ins 18. Jahrhundert hinein (als hier und da Leitungen nach römischem Vorbild aus hohlen Baumstämmen gelegt wurden),8 wurde das Wasser fast ausschließlich in Eimern oder Krügen in die Küche getragen. Die weniger Reichen hatten Wassertonnen, die das Wasser vom Dach neben der Kochstelle sammelten. Die Ärmsten mussten sich mit häufig weiten Strecken zum Wasserholen von der nächsten öffentlichen Quelle begnügen: einem Brunnen, einer Zisterne, einer Quelle oder einem Fluss. Viele Menschen machen das heute noch so.

Der Buchdruck und der Respekt vor klassischen Ordnungen der Renaissance-Architekten (im Gegensatz zu der als gewollt funktionale Grobheit angesehenen Gotik) brachten eine Reihe von sehr einflussreichen Text- und Musterbüchern über

5

Ebda., S. 440-445

Plinius der Jüngere, Brief XXIII (an Gallus). Plinius’ Beschreibung der Villa bei Ostia ist die detaillierteste atmosphärische Beschreibung häuslichen Lebens und der Architektur in der klassischen Periode.

7

Meistens aus Ulmenholz, manchmal mit Blei ausgelegt und mit Bleileitungen an die einzelnen Häuser angeschlossen. Es gibt die Theorie, dass das Römische Reich wegen mentaler Degeneration aufgrund von Bleivergiftungen durch das Wasser zerfallen sei. Konventionelle ökonomische Erklärungen scheinen glaubwürdiger.

8

9 Sebastiano Serlio: Tutte l’Opere d’Architettura et Prospetiva, übersetzt von Vaughn Hart und Peter Hicks. Yale, London 2001, Band II, S.12

Palladianismus war im 17. Jahrhundert sehr beliebt und stand im Konkurrenzkampf mit diversen Formen des Barock. In England und seinen nordamerikanischen Kolonien, gab es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Revival.

10

Palladio, Andrea: Die vier Bücher zur Architektur. Buch II, Kapitel 2. Nach der Ausgabe Venedig 1570, I Quattro Libri Dell’Architettura. Andreas Beyer und Ulrich Schütte (Hg.). Verlag für Architektur Artemis, Zürich 1983, S.114

11

Architektur im 16. Jahrhundert hervor. Buch VI von Sebastiano Serlio’s Tutte l’Opere d’Architettura et Prospetiva, das in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geschrieben wurde, zeigt ideale Entwürfe für Haushalte aller Klassen. Sein großartiger Katalog beginnt mit „dem Haus für den armen Bauern“, das in seiner einfachsten Form aus einem Familienwohnraum (mit Feuerstelle) und einem Stall besteht, beides unter demselben Dach. Etwas reichere Bauern wurden angeregt, einen Portikus vor ihre Hütte zu bauen, und zwar mit einem Backhaus auf der einen und einem Keller auf der anderen Seite – zumal in wärmeren Ländern die Aufbewahrung der Nahrungsmittel und die Zubereitung der Speisen außerhalb vom Haupthaus stattfand. Dabei handelte es sich um eine horizontale Trennung. In Häusern für die Reicheren empfahl Serlio normalerweise eine vertikale Trennung. „Es war immer meine Meinung“, schrieb er, „dass Häuser (...) über den Erdboden erhoben werden sollen. Damit erhält das Haus ein großartigeres Erscheinungsbild, die Räume im Erdboden sind gesund und gleichzeitig hat es den Vorteil der unterirdischen Räume, in denen die Arbeitsräume der Dienstboten untergebracht werden können (...), der Keller, das Esszimmer der Dienstboten, die Küche, der Vorratsraum und andere ähnliche Orte.“9 Die Küche wurde zwar als ein separater Raum definiert, aber zumindest teilweise unter die Erde verbannt, womit die Gefahr einer Feuersbrunst in den darübergelegenen Stockwerken vermindert werden konnte. In Hinblick auf Tageslicht und frische Luft waren die Dienstboten jedoch völlig von den Launen der Herrschaft und ihres Architekten abhängig: Die Fenstergröße und -form hing allein von der Komposition der Fassade ab. In Serlios Entwürfen für Stadthäuser der Reichen verschwinden die Küche und die Arbeitsräume ganz und gar. Sie wurden von Wendeltreppen (im poché) ersetzt, welche die Küche mit den camerini oder retrocamere verband, von wo aus das Gastmahl in der eigentlichen camera serviert wurde.

Serlios Traktat wurde zwar nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht, es beeinflusste aber zweifellos das bedeutendste Architekturtraktat aller Zeiten, Andrea Palladios Quattro Libri dell’Architettura, das 1570 gedruckt wurde. Mit den vier Büchern wollte der Architekt aus Vincenza seine 102

eigenen Entwürfe und Theorien publizieren. Im Gegensatz zu Serlios Traktat handelt es sich dabei nicht um unterschiedliche ideale Entwurfsmöglichkeiten für alle gesellschaftlichen Schichten. Über die nächsten zwei Jahrhunderte10, als in weiten Teilen Nordeuropas und Amerikas der Palladianismus Mode wurde, bestimmten Palladios Entwürfe das Leben der meisten Dienstboten. Der Architekt glaubte, dass „wir beim Bauen die hauptsächlichen und ansehnlichsten Gebäudeteile offen und die weniger schönen an den unseren Augen am verborgensten liegenden Stellen Abbildung aus Andrea Palladios Vier Bücher der Architektur, 1570: die Küche liegt im Sousterrain

anordnen sollten, damit so alle Hässlichkeiten des Hauses und all jene Dinge, die einen in Verlegenheit bringen und

die die schönen Teile hässlich machen würden, untergebracht werden können. Deshalb lobe ich es, dass an der tiefsten Stelle eines Gebäudes, die ich immer etwas unter die Erde lege, nämlich die Keller, die Holzmagazine, die Vorratskammern, die Küchen, die Stuben, die Waschküchen, die Öfen und dergleichen mehr, was zum alltäglichen Gebrauch zählt, angelegt werden.“11 Mit einem Streich verbannte Palladio ganze Generationen von Dienstboten zu einer höhlenartigen Existenz. Ausnahmen gab es in Städten, insbesondere in Venedig, wo Kellergeschosse unmöglich waren. Hier befanden sich die Küchen häufig unterm Dach, um die Gefahr einer Feuersbrunst zu minimieren.

In den Niederlanden, wo hohe Wasserstände Keller wie in Venedig unpraktikabel machten, zeigen Genremaler aus dem 17. Jahrhundert wie Pieter de Hooch Küchen und Orte der Essenszubereitung im Erdgeschoss eines bürgerlichen Stadthauses oder in außen gelegenen Bauten in den Innenhöfen. Aber in englischen städtischen Reihenhäusern, die wenig später populär wurden, befanden sich die Küchen fast ausschließlich im Souterrain. Das Los der Dienerschaft wurde nur durch kleine, tiefliegende Höfe zwischen der Straße und dem Haus gemildert. Sie speisten Küchen und Dienstbotenzimmer wenigstens mit ein wenig Tageslicht und Frischluft. In den Mietskasernen in Schottland und Kontinentaleuropa konnten die Kochgelegenheiten so primitiv sein wie in den insulae von Pompeji. Doch wie immer hing die Versorgung vom Reichtum der Bewohner und von der Entwicklung der Kochkunst und der Heizungstechnik ab.

Mehr als andere Teile des Hauses veränderten sich die Küchen mit den technologischen Entwicklungen, die in der Renaissance

12 Leonardo da Vinci erfand eine Version davon.

begannen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein blieben offene Holzfeuer für viele Küchen die einzige Heizquelle fürs Kochen. Doch vielerorts wurde der Prozess des Fleischbratens allmählich mechanisiert. Menschen- und Hundedrehkraft ersetzte man entweder mit einem Uhrwerkmechanismus oder mit einem smoke-jack, einem Wetterhahn, der von der durch den Kamin aufsteigenden Zugluft durch Konvektion gedreht wird.12 Ende des 18. Jahrhunderts tauchten viele neue Erfindungen für Kochapparate auf, insbesondere in England, wo sich die industrielle Revolution ankündigte. Thomas Robinson patentierte 1780 eine der ersten Eisenküchen. Ihr eiserner Feuerrost war in die Backsteinmauer der Feuerstelle eingebaut. Daneben gab

13 Benjamin Thompson, in Amerika geboren, blieb England treu. Er verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Bayern (wo er Graf des Heiligen Römischen Reiches wurde). Seine Abhandlungen über ökonomische und effiziente Kamine und Küchenöfen wurden um 1790 publiziert.

es einen Ofen und eine bewegliche Metallplatte, die horizontal über dem Rost bewegt werden konnte, um die Feuergröße zu regulieren. Graf Rumford13 erfand in den 1790er Jahren einen Kochherd, bestehend aus einer Backsteinkonstruktion mit einem langen Steinabschluss. Ganz ähnlich wie in Pompeji konnten hier Kochgeräte in Öffnungen gestellt werden. Unter jeder Öffnung gab es ein eigenes Feuer, das jeweils individuell reguliert werden konnte, indem der Luftzug durch die Aschetür variiert wurde. Für manche geht die moderne Küche auf Rumfords Erfindung zurück, mit der erstmals unterschiedliche Gerichte zu unterschiedlichen Temperaturen gleichzeitig gekocht werden konnten. Aus den wunderbaren Braten der großen Häuser wurde allmählich eine Vielzahl verhältnismäßig schnell gekochter, geschmorter oder gebratener Speisen.

Abgesehen von den allerärmsten Haushalten fanden sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts in praktisch jedem Haushalt Weiterentwicklungen der Robinsonschen und Rumfordschen Ideen. Mit den nun massenhaft produzierten Küchenherden konnte ein einziges Feuer gleichzeitig für diverse Tätigkeiten eingesetzt werden: zum Backen, zum Schmoren (in Metalltöpfen auf einer heißen Platte) und zur Herstellung des Warmwassers. Auf der heißen Platte konnten Eisen zum Bügeln erhitzt werden und selbstverständlich heizte das Feuer auch den Raum. Besondere Modelle hatten zwei Öfen, deren Temperatur

Wolfgang Heimbach: Kücheninterieur, 1648

Marjorie und C.H.B.Quennell History of Everyday Things in England, 1918: a clockwork turnspit aus dem 17. Jahrhundert

John Nash: Prince Regent’s Küche im Royal Pavilion in Brighton, 1826

mit Rauchabzügen und Luftklappen unabhängig voneinander reguliert werden konnte. Es ließen sich zwar diverse Grillvorrichtungen hinzufügen, doch muss das Grillen inzwischen bedeutend weniger attraktiv und schmackhaft geworden sein. Denn in den industrialisierten Ländern setzte man mittlerweile (zumindest in den Städten) Kohle als universelles Heizmittel ein.

Beeton, Isabella: Beetons’s Book of Household Management, S.O. Beeton, London, 1861, S. 25

14

Isabella Beeton, deren Buch über das Management des Haushaltes, zuerst 1861 publiziert, zur Haushalts-Bibel der aufsteigenden britischen Bourgeoisie wurde, argumentierte, dass die Küche „das wichtige Laboratorium jeden Haushaltes“ ist, auf dem die Gesundheit des Haushaltes basiert. Sie legte fünf Prinzipien für den Entwurf einer Küche fest: „1. Bequeme Aufteilung der Elemente, bei großzügigen Dimensionen. 2. Ausgezeichnete Lichtverhältnisse, gute Deckenhöhe und gute Ventilation. 3. Bequemer Zugang, ohne durch das Haus laufen zu müssen. 4. Weit genug entfernt von den Haupträumen gelegen, damit die Familienmitglieder (...) nicht die Küchengerüche wahrnehmen müssen. 5. Reichlich Heizkraft und Wasser, so nahe wie möglich am Abfluss, Speisekammer und Vorratsraum, damit sie mit dem kleinstmöglichen Aufwand erreichbar sind.“14 Wie schon in zahlreichen Häusern der Reichen begann die Küche auch in den bürgerlichen Häusern aus dem Keller aufzutauchen. Die Küche, die John Nash für den Prince Regent im Pavillon von Brighton (1816-1818) entwarf, war ein großer, luftiger, heller Raum mit einer Eisenkonstruktion, deren schlanke, die Dachkonstruktion tragende Stützen mit kupfernen Kapitellen in Form von Palmenblättern versehen waren. Große kupferne Hauben dienten auf der einen Seite der Küche als Abzug für Rauch

Kochherd abgbildet in Isabella Beetons Haushaltsbuch

und Hitze über dem Bratherd und auf der anderen Seite der Küche als Abzug über der Kochplatte, die von einem separaten Feuer gespeist wurde und nach dem Rumford-Prinzip funktionierte.

Küchen befanden sich oft weit entfernt von den Speise- und Frühstückszimmern. In seinem Buch The English Gentleman’s House (1864) zeigte Robert Kerr Grundrisse für Familien unterschiedlichen Einkommens. An ihnen lässt sich ablesen, dass die

Kerr, Robert: The English Gentleman’s House, John Murray, London 1864, S. 228

15

Küche desto weiter vom Familientisch entfernt lag, je reicher eine Familie war. In großen Häusern gab es separate Zirkulationssysteme, über die die Dienstboten das Essen kaum wahrnehmbar durch das Haus zu kleinen Anrichtezimmern tragen konnten. Diese kleinen Räume waren mit Warmhaltevorrichtungen versehen, damit das Essen heiß auf den Tisch kam.

Kerr propagierte Dachlaternen für große Küchen. Für kleinere sah er zumindest ein großes Fenster vor, das nach „Norden oder Osten, nie nach Süden oder Westen“ ausgerichtet sein sollte, damit die Küche kühl bliebe und „erstens die unangenehme Hitze des Feuers nicht unnötig verstärkt würde und zweitens die Luft rein bliebe“15. Kerrs ideale Küche bestand aus einem großen Küchenherd, vor dem eine Bratvorrichtung aufgestellt werden konnte, mit der das Fleisch wie zu uralten Zeiten an Spießen gebraten werden konnte. Der Herd bestand aus einem Boiler, einem Ofen und einer warmen Platte. Der Wasserdampf oder das warme Wasser vom Boiler konnte zu Warmhaltetischen und Servierschränken geleitet werden sowie als Abwaschwasser in den Ausguss. Kleinere Herde wurden mit Kohle geheizt. Alle Apparaturen standen an den Wänden und ein großer Arbeitstisch in der Mitte der Küche. Ein geräumiger Küchenschrank beherbergte das Geschirr und Besteck in unmittelbarer Nähe zum Wärmespeicher. Die Teller wurden durch eine nahegelegene Durchreiche in der Wand den Dienstmädchen und Lakaien gereicht, die am Tisch bedienten.

Robert Kerr: Idealplan einer Küche Mitte des 19. Jahrhunderts aus The English Gentleman’s House, 1864

105

F.W. Schindler: Erste vollelektrische Küche, Weltausstellung Chicago, 1893

Vgl. zum Beispiel Parker, Barry und Unwin, Raymond: The Art of Building a Home, Longmans Green, London 1091, Tafel 12

Um die Jahrhundertwende und am anderen Ende

Der erste elektrische Kochherd wurde auf der Weltausstellung in Chicago von 1893 gezeigt. Elektrizität wurde jedoch bis in die 1930er Jahre hinein nicht sehr verbreitet verwendet.

Wohnungen und kleine Häuser für die Armen, die

16

der sozialen Leiter entwickelten sozial engagierte Architekten wie Barry Parker und Raymond Unwin

17

manchmal kleine Küchen aufwiesen, in der Regel aber die Kochherde im Hauptwohnraum hatten, manchmal mit einer Kaminecke um sie herumge-

Beeton, Isabella: The Book of Household Management. Ward, Lock, London 1898, S.55

baut.16 Zu dieser Zeit wurde das Kochen mit Gas in

Parker und Unwin: siehe oben, S. 104

Einige der ersten Gaskocher wurden auf der großen

18

reichen und bürgerlichen Häusern immer üblicher.

19

Ausstellung von 1851 gezeigt,17 und bis zum Ende 20

Ebda., S. 105 Parker und Unwin The Art of Building a Home, 1901. Der Aufenthaltsraum eines Handwerkers mit Kaminecke

des Jahrhunderts hatte auch die kleinste Stadt ein eigenes Stadtwerk, das Kohlegas zunächst für die

Straßenbeleuchtung und die Beleuchtung in den Häusern lieferte. Die Ausgabe von Frau Beetons Buch aus dem Jahre 1898 (es erschien regelmäßig eine Neuauflage) wies darauf hin, dass Gasgesellschaften Gasherde für eine kleine jährliche Miete bereitstellen würden. Wie die Kohleherde waren auch die Gasherde zunächst aus Gusseisen mit polierten Edelstahlgriffen und Edelstahlscharnieren. „Es gibt viele Gründe, um ein Kochen mit Gas zu empfehlen“, verkündete Frau Beetons Nachfolgerherausgeber „vor allem wegen seiner Sauberkeit und der Schnelligkeit, mit der das Feuer angezündet und ausgemacht werden kann – Eigenschaften, die einer ökonomischen Anwendung dienen. (...) Dem muss entgegengehalten werden, dass im Winter das Feuer von morgens bis abends gehalten werden muss und dass ein Gasofen nicht so wohlgefällig anzuschauen ist wie ein gewöhnlicher Küchenherd oder Küchenofen mit festem Brennstoff, der in der Feuerbox oder dem Kamin brennt.“18

Es ist undenkbar, sich vorzustellen, dass Parker und Unwin einen Kamin um einen Gasherd herum entwerfen. Dennoch waren es die Gasöfen – und später die elektrischen Öfen –, die die Küchen des 20. Jahrhunderts veränderten. Durch das Trennen der Wärmequelle für das Kochen von jener des Heizens konnte man die Küchen selbst in den einfachsten Haushalten von den Wohnräumen trennen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dies zur Grundrissnorm, obwohl die Behausungen so ökono106

misch wie möglich geplant wurden.

Eine Möglichkeit, um die Kosten der einzelnen Wohnungen zu reduzieren, bestand darin, eine eigene Küche ganz wegzulassen und stattdessen zentralisierte Küchen einzurichten. In den 1890er Jahren entwarf Barry Parker mehrere solcher Anlagen. Ihr Grundriss basierte zum Teil auf den Hofanlagen der alten Universitätsinstitute, die ihrerseits auf Klosteranlagen zurückzuführen waren. Parker drängte darauf, dass die wenig genutzten Vorderzimmer der Handwerkerhäuser zu einem Gemeinschaftraum zusammengefügt würden. „Diesem Gemeinschaftsraum könnte man einen Waschraum anschließen (...), womit der sperrige Waschkessel und die Mangel aus der Wohnung herauskommen. (...) Das Wachstum der Kooperative bringt bald das gemeinschaftliche Backhaus und die Gemeinschaftsküche mit sich. Von hier aus zu der Zubereitung von Speisen und ihrer Ausgabe in einem Gemeinschaftraum ist nur noch eine Frage der Zeit. (...) Anstatt dreißig oder vierzig Hausfrauen, die dreißig oder vierzig kleine Abendessen kochen, ebenso viele Öfen anzünden, dreimal so viele Töpfe benutzen und sie hinterher alle wieder abwaschen, könnten zwei oder drei von ihnen als Köche eingesetzt werden (...) für bessere und billigere Mahlzeiten.“19 Parker argumentierte weiter, dass die „Vorteile einer zentralisierten Küche auch von den bürgerlichen Klassen geschätzt werden könnten und zwar in Anlagen, bei denen Häusergruppen so angelegt sind, dass sie direkten Zugang zu einer zentralen Einrichtung haben, die Mahlzeiten ausgibt und sie je nach Wunsch entweder in einem gemeinschaftlichen Speisesaal serviert oder direkt im privaten Haus.“20

Das Konzept der kommunalen Küche, die einen ganzen Wohnblock oder ein Apartmenthotel bedient, wurde in vielen europäischen und amerikanischen Städten vor dem Ersten Weltkrieg aufgegriffen. Später wurde das kommunale Kochen eingehendst in der Sowjetunion untersucht. Lenin verdammte die häusliche Sklaverei der Frau in der traditionellen Familie. Tatsächlich gab es in den 1920er Jahren zahlreiche Ideen für eine neue Organisation der Gesellschaft, ohne der bürgerlichen Familie als ihrer Grundlage. Einer dieser Vorschläge organisierte die Menschen nach Alter anstatt nach Verwandtschaft. Alle Konzepte schlugen fehl, doch bis zum Ende des Jahrzehnts gab es einige architektonische Experimente für eine ideale, kollektive Gesellschaft. Das bekannteste Gebäude ist das „Dom Narkomfin“ am Moskauer Fluss, das von einer Gruppe von Architekten entworfen wurde, die von Moisei Ginsberg und Ignaty Milnis im Auftrag der Arbeiter des Finanz-Kommissariats des Volkes angeführt wurde. Dieses Gebäude sollte 50 zwei- und dreigeschossige Wohnungen in einer Hochhausscheibe aufnehmen, mit einem Sportraum, einem Solarium, einer Bibliothek und einer Kantine, die von professionellen Köchen zubereitetes Essen aus einer kommunalen

Küche anbot. Dom Narkomfin war als Prototyp für neue Wohnformen für die ganze Sowjetunion gedacht. Doch als es 1932 fertiggestellt worden war, wurden gerade die hohen, strengen Prinzipien des Bolschewismus durch Stalins sozialistischen Realismus ersetzt, der den traditionellen Familienstrukturen mehr Raum gab. Die Bewohner wechselten von Beamten in gehobene Parteimitglieder. Das kommunale Kochen scheint kaum funktioniert zu haben, wenn überhaupt. Narkomfin wurde als sowjetisches Modell begraben. Stattdessen wurde das Gebäude ziemlich schnell in einen Wohnblock mit Wohnungen für reiche Bourgeois umgebaut.21

Oder aus unseren Zeiten Martha Stewart – allerdings landete Frederick nie im Gefängnis.

22

Doch das Ideal kommunalen Kochens starb nicht aus. Sven Markelius beispielsweise griff es mit seinem „Kollektivhus“ in Stockholm Mitte der 1930er Jahre auf. Von den Bewohnern angestellte Personen erledigten hier das Kochen und Waschen, die Reinigung und Kinderbetreuung. Die Wohnungen besaßen winzige Kochnischen, die von Essensaufzügen aus der kommunalen Küche bedient wurden. Obwohl die meisten dieser sozialen Experimente versagten oder radikal verändert wurden (vielleicht wegen des inzwischen reichlichen Angebots an Fertiggerichten aus dem Supermarkt in den reichen Ländern), lebt das Ideal der kommunalen Küche hier und dort weiter, besonders in Skandinavien, wo in den 1980er und 1990er Jahren bemerkenswerte kooperative Siedlungen in Flachbauweise von Tegnestuen Vandkunsten und anderen gebaut wurden. Wie lange solche Arrangements den Idealismus der ersten Generation überleben werden, bleibt abzuwarten.

Für Christine Frederick, das amerikanische Pendant zu Mrs. Beeton zu Beginn des 20. Jahrhunderts, verfehlten 22

alle diese kommunalen Arrangements das Ziel aufstrebender, bürgerlicher Amerikanerinnen, die ein Zuhause in einem Einfamilienhaus suchten. Frederick war eine eifrige Verfechterin der Zeit- und Bewegungsstudien von Frederick Taylor als Grundwerkzeug des wissenschaftlichen Managements. Nach diesem Organisationskonzept für industrielle Prozesse wurden die Bewegungen der Arbeiter gemessen und rationalisiert, um den Arbeits- und Christine Frederick: Bewegungsstudien in der Küche

Vgl. zum Beispiel Buchli, Victor: An Archaeology of Socialism: Ethnoarchaelogical Research at a Constructivist Housing Complex in Moscow, Center for Slavic and East European Studies, University of California, Berkeley Newsletter, Frühjahr 1998, S. 3-17

21

Zeitaufwand der Fließbandproduktion zu verkürzen.23 Christine Frederick und ihre gesellschaftliche Klasse sah

sich geplagt vom Dienstbotenproblem, was aber nicht heißt, dass sie selber keiner Arbeit nachgingen. Frederick notierte, dass „ich normalerweise nach dem Abendessen 48 Teile Geschirr wasche, 22 Silberbestecke und 10 Töpfe und Kochutensilien.“24 Unter Anwendung taylorscher Vorstellungen stellte sie das ursprünglich rechts vom Ausguss stehende Abtropfgestell nach links, veränderte die Höhe der Abwaschschüssel und konnte damit die Abwaschzeit nach dem Abendessen von 45 auf 30 Minuten reduzieren.25

Vergleichbar genaue Analysen der Hausarbeit versprachen große Verbesserungen in der Produktivität der Dienstboten. Die Kritik an Taylors Methoden deckte ihre Unmenschlichkeit auf und – übertragen auf die häusliche Szene – die Degradierung der Dienstboten zu lebendigen Teilen einer effizienten Wohnmaschine. Frederick war sich dieser Kritik durchaus bewusst und setzte sich deshalb für die Bezahlung von Überstunden ein, für zwei freie halbe Tage pro Woche (oder einen ganzen Sonntag) und für zwei Wochen Ferien nach einem Jahr treuem Dienst. Bei dem elfstündigen Arbeitstag zu acht Cents pro Stunde war eine derartige Großzügigkeit sehr von Nöten. (Mögen diese Konditionen knausrig anmuten, so bedeutete der Lohn doch ein Viertel des Gehaltes eines gelernten jungen Mannes.)

1926 verlieh Margarete Schütte-Lihotzky, eine der ersten österreichischen Architektinnen, den tayloristischen Prinzipien einen klaren architektonischen Ausdruck, und zwar für Menschen, die viel ärmer waren als jene, für die Frederick schrieb. Frederick glaubte, dass die unteren Klassen ihr eigenes Haus recht einfach organisieren konnten, weil sie keine Etikette wahren müssten. Schütte-Lihotzky hingegen meinte, dass die Arbeiterklasse die kontroversen Vorteile des Taylorismus verdient hätten. Ihre Frankfurter Küche plante sie für die Bewohner des ausgezeichneten sozialen Wohnungsbaus der Weimarer Republik. Ihr Entwurf beruhte auf zahlreichen Studien zur Minimierung der Bewegungsabläufe, die zum Zubereiten, Kochen und Abwaschen benötigt werden. Die Küche hatte einen rechteckigen Grundriss (3,4 m x 1,9 m), wurde von der Schmalseite begangen und hatte ein Fenster auf der anderen Seite des Raumes. Auf beiden Seiten gab es Arbeitsflächen. Von der Tür aus gesehen befand sich links der Herd und rechts das Spülbecken. Ein Schiebetürchen als Durchreiche neben dem Herd verband die Küche mit dem Wohnzimmer und ein Bügelbrett ließ sich von der Wand herunterklappen. Es gab keinen Kühlschrank, aber auf der rechten Seite reichlich Platz zur Lagerung von Nahrungsmitteln. Ein Hocker war die einzige Sitzgelegenheit.

Taylor kam aus der Stahlbranche und hatte Erfahrungen über die Zusammenarbeit mit der Bethlehem Iron Company gesammelt. Henry Ford adoptierte später Taylors Prinzipien, die beiden helfen sollten: den Arbeitern zur Erleichterung ihrer Tätigkeit und dem Management zur schnelleren Erledigung der Arbeit mit weniger Personal. Tatsächlich unterstützten sie vor allem das Management – insbesondere, nachdem sie von Taylors Nachfolgern angewandt wurden.

23

Ladies Home Journal, September 1912, S. 70. Ob sie dies tatsächlich auch tat, bleibt dahingestellt, denn sie war Herausgeberin von Ladies Home Journal und eine erfolgreiche Geschäftsfrau, mit Interessen an der Werbung von Haushaltsgeräten. Ihre gesammelten Zeitschriftenartikel wurden 1926 als The New Housekeeping, Efficiency Studies in House Management veröffentlicht.

24

Nach einigen Studien publizierte sie eine Tabelle mit Angaben zur optimierten Arbeitshöhe für Frauen – basierend auf ihrer Körpergröße.

25

Für die ganz Reichen war das Kühlhalten im Sommer schon seit der Renaissance möglich, und zwar mit Eis, das in gut isolierten, unterirdischen Räumen aufbewahrt wurde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde Eis aus dem hohen Norden importiert, das man auf der Straße kaufen konnte.

26

Über 10.000 dieser standardisierten, vorgefertigten Typ-1-Küchen wurden für Ernst Mays Römerberg-Siedlung produziert. Doch schon bald tauchten Probleme auf. Die Benutzer mussten angeleitet werden, wie sie ihre Küche zu verwenden hatten. Außerdem konnte sich niemand anderes neben dem Koch in der Küche aufhalten. Zu einer Zeit, in der das Kochen fast ausschließlich von Frauen erledigt wurde, bedeutete dies letztendlich die Trennung von Mutter und Kind, von Frau und Mann. Hausfrauen erhielten zwangsläufig ihren dienenden Status zurück, von dem sie Lenin gerade befreien wollte. Spätere Versionen der Küche waren größer, erlaubten zwei Personen, zusammen zu arbeiten und hatten einen zentralen Tisch. Doch Typ 1 hat für immer die minimale Größe einer individuellen Küche definiert und wurde zum Prototypen zahlreicher Variationen. Seit den 1920er Jahren haben neue Materialien, neue, arbeitssparende Maschinen und neue technische Entwicklungen (insbesondere die Möglichkeit der Kühlung und des Einfrierens26 sowie die Mikrowelle und die Spülmaschine) die Kochgewohnheiten radikal verändert. In den meisten entwickelten Volkswirtschaften haben diese Maschinen jene Funktionen übernommen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in bürgerlichen Häusern von Dienstboten erledigt wurden. Und sie haben die Rituale der Speisenzubereitung und des Verzehrs verändert. Heute kann jedes Familienmitglied ein unterschiedliches Fertiggericht zu unterschiedlichen Zeiten essen. Doch nur wenige Innovationen hatten wirklich Einfluss auf die Organisation der häuslichen Küche. Diese ist entweder eine Variante der Frankfurter Küche oder eine Variante der Wohnküche einfacher Häuser, oder sie ist eine Kombination von beiden.

Praktisch alle Küchenschränke sind heute vorfabriziert. Damit hat sich aber die grundlegende Planung nicht groß verändert, auch wenn zahllose Erscheinungsformen möglich sind. Aber es gibt ein paar Ausnahmen, wie die amerikanische Frühstücksbar, die in den 1940er Jahren entstand und von kommerziellen Schnellrestaurants herrührt. Sie ermöglicht den schnellen Verzehr von Speisen, entweder im Stehen oder auf Barhockern sitzend. Zugleich lässt sie sich als Trennung zwischen dem Speisenzubereitungsbereich und dem Bereich des Verzehrs einsetzen. Als eine weitere wesentliche Hasso Gehrmann: Erste vollautomatische Küche „Elektra-Technovision“, Prototyp, 1970

Innovation mag man die Verwendung von elektrisch ventilierten

Abzugshauben betrachten, mit denen das Feuer wieder ins Zentrum des Raumes zurückkehrt, an jenen Ort, an dem es sich vor so langer Zeit zuerst befand und wo man es immer noch in kommerziellen und kommunalen Küchen antrifft. In Zukunft sind fast vollständig automatisierte Küchen denkbar. Es ist nicht schwer, sich Mechanismen vorzustellen, die in Kombination mit Tiefkühltruhe und Mikrowelle rasch per Knopfdruck und Fernbedienung eine große Auswahl an Fertigmenüs kochen. Diese Mechanismen mögen nicht größer als ein Schrank sein. Das Feuer, oder besser gesagt das Heizsystem könnte unsichtbar, Gerüche unauffällig und der Arbeitsaufwand vernachlässigbar sein. Derartige Szenarien lassen sich einfach herstellen, doch nach Jahrtausenden häuslichen Kochens bezweifle ich, dass sie wirklich Fuß fassen werden, zumindest nicht als einzige Quelle der Speisenzubereitung. Denn ihnen fehlen die vielfältigen sozialen, sinnlichen und vielseitigen Qualitäten, die schon seit so langer Zeit die Küche zum Zentrum des Hauses gemacht haben.

109

Werner Sobek: Haus Sobek „R128“, Stuttgart, 1999-2000, Küchenebene

Vom Pot au feu zum Processed Food Das Restaurant als Ort der Moderne Wilhelm Klauser

Amuse Gueule

1 Kempinski (1997): Kempinski Hotel Bristol Berlin (Hg.): Kudamm No. 27; München

1250 kg Fleisch, 400 kg Fisch, 150 kg Hummer, 100 kg Kaviar, 30.000 Krebse, 20.000 Austern und 18.000 Brötchen: 1913 wurden diese Mengen jeden Tag an das bekannte Berliner Weltstadtrestaurant Kempinski in der Leipziger Straße geliefert, das damit 10.000 Gäste bewirtete.1

Entree 110

Ein Restaurant ist zunächst eine Frage der Technik und der Logistik. Nur wenn die besten und neuesten Technologien eingesetzt werden, kann es sich auf dem Markt behaupten. Ein Restaurant ist damit Avantgarde. Es ist aber nicht nur technische, sondern auch konzeptionelle Avantgarde, denn mit seinem Aufkommen entstand ein Absatz- und Organisationskonzept, das es in dieser Form noch nicht gab und das sich bis heute kontinuierlich weiterentwickelt hat. Und es ist gesellschaftliche Avantgarde, da es mit dem neuen Absatzkonzept bestehende soziale und genealogische Grenzen aufgelöst hat. Das Restaurant ist der große Gleichmacher: Es eröffnet weiten Schichten den Zugang zu neuen Erfahrungen, die jahrhundertelang nur dem Adel vorbehalten waren. Es ist eine bürgerliche Einrichtung, die sich nach der französischen Revolution entwickelt hat und sich heute, gemäß der neuen gesellschaftlichen Vielfältigkeit, in unzähligen Varianten manifestiert, dabei aber niemals seine Grunddisposition aufgibt: Ein Restaurant ist ein Ort, an dem ein Gast ein Gericht seiner Wahl aus einer Speisekarte – gegen einen im Voraus festgelegten Betrag – zu sich nehmen kann.

Plat 2 Paczensky, Gert von; Dünnebier, Anna (1999): Kulturgeschichte des Essens und Trinkens; Orbis Verlag; München; S. 138

Symons, Michael: A History of Cooks and Cooking; University of Illinois Press: Urbana IL; S. 289-293

Der Begriff des Restaurants wurzelt im Französischen. Der Überlieferung nach entstand er in Paris. 1765 nannte ein Suppenkoch namens Boulanger die Suppen, die er in seiner Garküche verkaufte „Restaurants“. Er schrieb ihnen besondere, stärkende (= restauratif) Wirkung zu, denn er bot in seiner Garküche außer einer Suppe auch noch gekochte Hammel-

3

füße mit weißer Soße an. Damit überschritt er die geltenden Gesetze für die in Zünften organisierten Garküchen: Einem Suppenverkäufer war es nach den Regeln der Zunft der Traiteure nicht gestattet, ragouts zu verkaufen. Boulanger zog vor Gericht, da er seine Hammelfüße nicht in der Soße kochte und seine restaurants somit auch keine ragouts waren. Er siegte, konnte sie uneingeschränkt weiter verkaufen und brachte ein entsprechendes Schild über seinem Laden an.2

Das Konzept des Restaurants entwickelte sich aber erst, als die Köche und Servierer der Adelsfamilien während der französischen Revolution ihre Stellung verloren und sich selbstständig machen mussten, als nach der Revolution die Abgeordneten aus allen Ecken des Landes nach Paris kamen und als Kundschaft entdeckt wurden, und als die Englische Mode, in den Taverns auch zu essen, die französische Hauptstadt erreichte.3 Bereits 1782 hatte Antoine Beauvilliers das erste Luxusrestaurant in Paris eröffnet, die Grand Taverne de Londres. Er führte die bemerkenswerte Neuerung ein, die in seinem Restaurant erhält-

Raymond Mc Grath: Fisher’s Restaurant, London, 1933, Perspektive

4 Larousse Gastronomique (2001) Clarkson Potter; New York; S. 978

lichen Gerichte auf einer Liste aufzuführen und sie seinen Kunden in individuellen Portionen an kleinen Tischen zu servieren. Bisher hatten sich alle Gäste am Tisch des Gastgebers, häufig sicherlich auch zusammen mit ihm, aus einem großen Topf bedient.4 Der Gast wurde bei Beauvilliers nun individuell betreut, und er hatte die Wahl.

Sichtbar wird hier der Umbruch zu einer kommerziellen Gastlichkeit, die sich in einem sehr genau regulierten Verhältnis von Gast und Wirt darstellt. Die „offene Gastung“, die nur von exponierten Berufsgruppen wie Bräuern oder Metzgern (häufig im Nebenerwerb) ausgeübt werden durfte, und damit verbunden auch das starre System von Gilden und Zünften verloren an Bedeutung. Insbesondere in ihnen hatten sich weitgehend regulierte Umgebungen abgebildet, die sowohl für Anbieter als auch für Nutzer mit exklusiven Rechten verbunden waren und letztendlich feudale Strukturen widerspiegelten. Unzählige Imbissbuden und Garküchen versorgten daneben eine Bevölkerung, die sich weder eigene Küchen noch das dazu notwendige Brennmaterial leisten konnte. Eine darüber hinausgehende, organisierte Verköstigung oder Beherbergung hatte vor allem staatstragende Funktion gehabt und war der Allgemeinheit nicht zugänglich. Zwar reichen einige Wurzeln des Restaurants, wie jene der Gaststättenkultur überhaupt, bis in die römische Zeit und in das Mittelalter zurück. Diese Wurzeln veranschaulichen aber besonders deutlich über das eigentliche Gastwesen hinausgehende, organisatorische und infrastrukturelle Aspekte, die im Restaurant keine Bedeutung mehr haben.

Entlang der Römerstraßen gab es während der Kaiserzeit im Abstand einer Gasthaus Locanda Cardinello, Isola di Madesimo, erbaut 1722

Tagesreise sogenannte mansiones, Transitgasthäuser, in denen die Boten oder Entscheider des Reiches auf ihren Reisen unterkommen konnten und

versorgt wurden. Damit konnten sich die Straßen des römischen Reichs zu einem frühen „Informationsnetz“ entwickeln, das das Funktionieren des Staates sicherte. Mit der Etablierung der Pfalzen wurde dieses System einige hundert Jahre später rea112

nimiert. Damals musste ein umherziehender Hofstaat oftmals über Monate hinweg untergebracht und verköstigt werden. Das Netz der Pfalzen wurde durch „Gastungen“ ergänzt, in denen geistlichen und weltlichen Lehnsherren eine Unterbringung des Hofs abverlangt wurde. Später richtete die Kirche in Klöstern die Hospitäler ein, die eine Unterbringung für Wallfahrer oder Kreuzritter anboten. Alle diese Einrichtungen waren jedoch exklusive Räume, die nur bestimmten Akteuren vorbehalten waren und zu denen ein offener Zugang nicht möglich war.

Als Bautypus und eigenständige Organisation ist das Restaurant erst in Folge der fortschreitenden Verstädterung, der zunehmenden Mobilität und des Übergangs zur modernen freien Marktwirtschaft entstanden. Es konnten sich neue Geschäftsmodelle entfalten und genealogische oder religiöse Regeln verloren an Bedeutung. Eine vielfältige Nivellierung des Angebots war dabei selbstverständlich.

Café Florian, Venedig

Café Florian, Venedig: Interieur aus dem 19. Jahrhundert

1804 wurden in Paris bereits über 500 Häuser gezählt, in denen vielfältige Menüs genossen werden konnten. Damals diversifizierte sich die Küche. Die Gastronomiekritik etablierte sich als eigenständige literarische Gattung und trug zur Verbreitung der neuen Idee bei. Fast gleichzeitig sorgten die Eroberungszüge Napoleons dafür, dass in Europa über Jahrzehnte hinaus das Idealbild des Restaurants, die Vorstellung vom „Essen“ generell, französisch geprägt war. Dabei ging es selbstverständlich nicht nur um den Export, sondern auch um die Integration neuer Ansätze: Erst nach dem Feldzug gegen Russland fand beispiels-

Benjamin, Walter (1983): Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts; in: Benjamin, Walter; Das Passagenwerk, 1. Band; Suhrkamp Verlag; Frankfurt am Main; S. 53

5

Bourdieu, Paul (1982): Die feinen Unterschiede; Suhrkamp Verlag; Frankfurt am Main; S. 300

6

weise das Bistro in Frankreich eine neue Heimat. Die Soldaten brachten das russische Schnellrestaurant in die französische Hauptstadt, in der sich mit der Stabilisierung der Verhältnisse nach der Revolution und mit dem Erwerb der Kolonien in Afrika und Indochina nach 1830 eine große wirtschaftliche Dynamik entfaltete.

In einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbruchperiode kulminierten im Restaurant wie auch in anderen neuen Angeboten bald die Idealvorstellungen der modernen Zeit. Neben die kulinarischen Genüsse traten der Service, die Dekoration und das Interieur. Das Restaurant war ein Gesamterlebnis, das gleichberechtigt neben den Inszenierungen des Theaters, den Illusionswelten der Panoramen, den Waren im Kaufhaus oder den neuen technischen Welten der Eisenbahn stand. „Unter Louis Philippe betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz“, stellte Walter Benjamin fest. „Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zur Arbeitsstätte (…). Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden.“5 Die offene Feuerstelle, der Blick in die Küche und in die Mechanismen der Bewirtung wurde verstellt. Der Gastraum trat als spektakuläre Oberfläche in den Vordergrund. Innenräume aus dieser Zeit erinnern einerseits an Theaterdekorationen. Dass andererseits aber auch neue Materialien wie das Gusseisen zum Einsatz kamen, verdeutlicht, dass das Restaurant weniger als ein introvertierter und konservativer Rückzugs113

raum wahrgenommen wurde, sondern sehr bewusst in der Gegenwart verankert ist. Von den einfachen Arbeitern über die Vorarbeiter, selbstständigen Handwerker und Kleinhändler bis zu den Unternehmern in Industrie und Handel lockerten sich tendenziell die ökonomischen Fesseln, ohne dass sich dieses die Entscheidungen in Bezug auf Nahrungskonsum leitende Grundprinzip änderte: „Der Gegensatz beider Extreme findet nun seinen Ausdruck im Armen und im (Neu-)Reichen, im ,Essen‘ und im

Restaurant in Istanbul

,Fressen‘.“6 Es gibt viele Restaurants. Ob sie gut oder schlecht sind, ist eine Frage der individuellen kulturellen und damit häufig auch finanziellen Grundausstattung des Gasts. In jedem Fall gilt: Das Auge isst mit. Die Inszenierung der Nahrungsaufnahme wurde zu einem Erlebnis. Noch heute werden in französischen Restaurants den Damen die Plätze auf den Bänken zugewiesen, die den Blick in den Gastraum erlauben und auf die gleichzeitig der Blick der anderen Gäste fällt.

Teuterberg, Hans-Jürgen (2004): Von der alten Schankwirtschaft zum feinen Restaurant. Streifzüge durch die Geschichte der deutschen Gaststättenkultur; in: May, Herbert; Schilz, Andrea (2004): Gasthäuser, Geschichte und Kultur; S. 27-54

7

Das Großstadtrestaurant prägte seit dem 19. Jahrhundert verstärkt das Bild der Städte. Ursprünglich gebunden an eine Vielfalt

8

kleinstaatlicher Regulierungen, dauerte es in Deutschland bis zum Entstehen der modernen Nationalstaaten, um ihm den end-

9

gültigen Durchbruch zu verschaffen. In einer Phase des Hochliberalismus nach 1870 als Folge eines wirtschaftlichen Booms, als die Gesetze des Norddeutschen Bundes auf das ganze Deutsche Reich ausgeweitet wurden, vervielfachte sich die Zahl der Schankwirtschaften, der Gasthöfe und der Restaurants in Deutschland. Zwischen 1869 und 1877 vermehrten sie sich in Preußen um 31 %, in Bayern um 36 %, in Sachsen um 35 %, in Württemberg um 44 % und in Baden um 28 %.7

In der Zunahme der Betriebsgrößen, die in den Statistiken der Städte in den folgenden Jahren nachzuvollziehen sind, lässt sich zeitgleich eine kontinuierliche Professionalisierung und Rationalisierung des Konzepts ablesen. So ging in Hamburg zwischen 1882 und 1925, trotz starken Bevölkerungswachstums, die Zahl der „Ein-Mann-Betriebe“ um 33 % zurück, während sich die Zahl der Betriebe mit mehr als fünf Angestellten fast verdreifachte. Insgesamt nahm die Bedeutung des Gastgewerbes im Verhältnis zu den übrigen Gewerben ständig zu: Hatte es 1882 hinsichtlich Beschäftigten und Betrieben in Hamburg noch an sechster Stelle gelegen, so nahm es 1907 bereits den dritten Platz ein.8

ebda.

Lummel, Peter (2004); Erlebnisgastronomie um 1900 – Das „Haus Vaterland“ in Berlin; in: May, Herbert; Schilz, Andrea (2004): Gasthäuser, Geschichte und Kultur; Michael Imhof Verlag; Petersberg

Neben den Theatern und an den Bahnhöfen entstanden Hotels, die Unternehmer an den neuen Infrastrukturen errichteten, weil sie hohe Renditen versprachen. Das Restaurant wurde an diesen Orten zu einem unverzichtbaren Bestandteil eines neuen, sich zunehmend individualisierenden Lebensstils umgedeutet, zu einer möglichen Strategie der Selbstfindung, die außerordentliche Blüten trieb. Speiseangebote und gesellschaftliches Ereignis wurden um Varieté-, Musik- oder Theaterdarbietungen erweitert. Das „Haus Vaterland“ in Berlin bot seit 1928 am Potsdamer Platz, in unmittelbarer Nähe zum Anhalter Bahnhof, auch während der Inflation und der Wirtschaftskrise eine der größten gastronomischen Sensationen Europas. Neben einem Großcafé für 2500 Personen und einem hochmodernem Ufa-Kino verteilte sich über vier Stockwerke eine spektakuläre Restaurantlandschaft. „Die Gäste erwartete eine künstlerische, kulinarische, musikalische und imaginäre Reise um die Welt. Hierfür wurden zum Teil bis zu sechs Meter tiefe, in ihrer technischen Umsetzung herausragende Rundpanoramen gebaut, die den Gästen in verschiedenen Einzelrestaurants die Illusion vermittelten, in dem jeweiligen Landeskontext zu speisen.“9 Der außerordentliche Aufwand, der die Voraussetzung für die Realisierung und den Betrieb solcher Gastronomielandschaften ist, brauchte nicht nur entsprechende Finanzierungs- und Betreibermodelle, immer häufiger unter Beteiligung von Banken und Investoren, sondern auch eine entsprechende Kundenstruktur, die sich nur in den Metropolen entwickeln konnte. An dieser Grunddisposition hat sich bis heute nichts geändert. Moderne Restaurants entstehen vornehmlich in Städten.

Dessert

Voraussetzung für die Professionalisierung der Gastlichkeit waren technologischer Fortschritt und eine damit notwendige Arbeitsteilung. Wie auch in anderen Bereichen haben neue Organisationsformen das Restaurant überformt, denn im Restaurant mussten Arbeitsabläufe so organisiert und die Beschaffung von Lebensmitteln so kalkuliert werden, dass eine Abgabe zu Festpreisen möglich wurde. Improvisation war fehl am Platz. Das Restaurant war auf ausgebildetes Personal angewiesen. Nicht nur der Dienst am Herd oder der Service im Gastraum brauchte besondere Kenntnisse, sondern auch die Aufstellung der Speisepläne, das Rechnungswesen oder die Beschaffung verlangten Fachleute. Vorschub leistete eine technische Ausstattung, die eine unerlässliche Voraussetzung für das Restaurant wurde, das auf eine erfolgreiche Reproduzierbarkeit seines Angebots angewiesen ist. Das Unikat hatte in dieser Umgebung nur einen begrenzten Wert. 114 Eine Erfindung von Benjamin Thompson, später Reichsgraf von Rumford, war eine unerlässliche Voraussetzung. Der eigenwillige Amerikaner umgab am Ende des 18. Jahrhunderts das offene Feuer mit einer doppelwandigen Ziegelfassung, durch die der Rauch zu einem zentralen Kamin abgeführt wurde, und unterteilte es in verschiedene, voneinander getrennte Feuerstellen. Jede Feuerstelle konnte, mit Regulierung des Luftzugs durch die Aschentür, individuell eingestellt werden, und über jede dieser Feuerstellen konnten, in runden Ausschnitten, Töpfe gesetzt werden. Die Hitze wurde durch diese Erfindung dorthin geleitet, wo sie tatsächlich gebraucht wurde, und durch das Verschieben der Töpfe auf der Herdplatte konnten unterschiedliche Temperaturstufen für das Kochen ausgenutzt werden. Im Grundriss hufeisenförmig angelegt, wurden die Brennstoffe ökonomisch genutzt und die Hitze ließ sich kontrollieren. Damit gab es die Möglichkeit, ein Gericht in annähernd identischer Qualität mehrfach herzustellen.

Aber erst der Gasherd, der Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurde, und ab 1900 der Elektroherd schufen die Voraussetzungen, um große Mengen zu kochen und auch den gestiegenen Hygieneanforderungen gerecht zu werden. Die Industrie entwickelte neues Kochgeschirr, und um 1900 wurde in den USA die Geschirrspülmaschine erfunden. Die Betriebsgrößen wuchsen mit den technischen Verbesserungen. Sie machten es möglich, weitgehend gefährdungsarm Speisen in große Mengen zu erzeugen. Die Konserve erlaubte die Lagerhaltung und erste Kühlschränke waren verfügbar. Zwischen 1852 und 1870 errichtete Victor Baltard die gusseisernen Markthallen im Zentrum von Paris, als die hygienischen Verhältnisse untragbar und eine übergreifende Strukturierung des Markts unumgänglich geworden waren. Der mehrstufige Zwischenhandel war entstanden und mit ihm eine Veredelungsindustrie. Es entwickelten sich Dimensionen, die ungleich raumgreifender und umfassender gedacht werden mussten und die jenseits des Herdes schon ansetzten. Wenige Jahrzehnte nach ihrer Erfindung überholten Restaurants umsatzmäßig die traditionellen Nahrungsmittelgewerbe. Die Veredelung des Produkts versprach also in jeder Hinsicht eine phantastische Wertschöpfung, auf die sich neue Traditionen gründen ließen. In den Hauptstädten des 19. Jahrhunderts entwickelten sich mit dem Restaurant Räume, in denen sich eine gesellschaftliche Neuausrichtung mit innovativen Techniken überlagerte.

115

Essbesteck aus Das Kunsthandwerk. Sammlung mustergültiger kunstgewerblicher Gegenstände aller Zeiten, Stuttgart, 1874

Rundherd-Küche im Kurfürstenkeller, Berlin, 1926

Digestif 116

Das Restaurant ist dabei immer am Puls der Zeit gewesen. Es hatte mit seinem Erfolg Neuerungen ermöglicht und zugleich selbige begierig aufgenommen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Es ist gleichgültig, ob die Tische mit Damastdecken drapiert werden, ob die Teller einen goldenen Rand haben, oder ob in einem amerikanischen Schnellrestaurant eine Tüte mit Fritten und ein Getränk im Pappbecher über die Theke geschoben werden: In seiner „militärischen“ Organisation gibt es keinen Platz für Sozialromantik. Die Küchenbrigade arbeitet mit der Präzision eines Uhrwerks. Ein Restaurant ist ein Unternehmen, und damit aufs engste mit der Industrialisierung verbunden. Wer in einem Restaurant des 20. Jahrhunderts lediglich eine Fortentwicklung des ländlichen Gasthauses sieht, einen Ort des sozialen Austauschs mit angeschlossener Kegelbahn und Tanzboden, der irrt.

Das Wachstum eines Restaurants stieß an Grenzen. Der Gastronom war geographisch begrenzt. In diesem Zusammenhang erwies sich eine Auslagerung bestimmter Arbeitsabläufe an vorgelagerte Zulieferbetriebe als eine praktikable Lösung. Die Restaurants diversifizierten sich. 1927 betrieben die Gebrüder Aschinger in Berlin 27 Stehbierhallen, in denen kleine Gerichte schnell zu verzehren waren. Um die Versorgung zu sichern, integrierten sie eigene Zuliefer- und Produktionsbetriebe in das Imperium. Über 11 Millionen Brötchen wurden täglich von der eigenen Bäckerei an die eigenen Häuser ausgeliefert.

Vergleichbare Formen einer vertikalen Integration und eine damit mögliche Standardisierung bildeten die Voraussetzung für die nächste durchschlagende konzeptionelle und bislang letzte Überformung, die das Restaurant durchlief und mit der es sich in der Form, in der es bisher existiert hatte, gewissermaßen auflöst. In einem Schnellrestaurant ist nicht die Geschwindigkeit der „Abfütterung“ die tatsächliche Sensation, sondern die grenzenlose Vervielfältigung, die Perfektion eines Systems, die es erlaubt, die Kosten zu reduzieren. Wachstum wurde durch eine Multiplikation identisch konzipierter Standorte erreicht, an denen identische Menüs ausgegeben werden. Eine reduzierte Gewinnspanne bei kostengünstigen Gerichten wird dabei durch einen entsprechend höheren Umsatz ausgeglichen.

Das Schnellrestaurant löst die klare Trennung zwischen dem Gastraum und der Küche auf. Das fortentwickelte Geschäftsmodell verlangt einen anderen Raum. Die Wege sind verkürzt, die Effizienz gesteigert, der Umsatz erhöht. Aber es ist nicht nur das, was den Erfolg ausmacht. In den Schnellrestaurants wird der Blick auf das System freigegeben: Der Blick in die Produktion ist unverzichtbarer Bestandteil eines Marketingkonzepts! Dass diese durchgreifende Umstellung im Grundriss durch den Gast bewusst oder unbewusst akzeptiert wird, zeigt den Vertrauensvorschuss, den das System genießt. Dem Gast wird dadurch ein Höchstmaß an Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit gegeben. Er weiß, was er bekommt – aber er weiß auch, was er will. Der Gast ist längst ein Kunde, der ungeachtet seines sozialen Status die Stärken und Schwächen des Systems souverän überblickt und sie zu seinem Vorteil ausnutzt.

Die mechanistische Ausgestaltung der Systeme, wie sie in der Schnellgastronomie notwendig ist, zwingt zu einer inhaltlichen und gestalterischen „Abmagerungskur“, bei der letztendlich das Restaurant überflüssig wird, denn es handelt sich um eine Entwicklung, an deren Ende folgerichtig das processed food steht. Fertiggerichte haben längst die Regale der Supermärkte erobert. Die Mahlzeiten können von Kunden in Sekundenschnelle selbst zubereitet werden. Sie verfügen heute über eigene technische Ausstattungen, die häufig den Ausstattungen der Restaurants in nichts nachstehen.

Das

Verschwinden

von

sozialem

Austausch und gemeinschaftlichem Erlebnis, die das Restaurant über die reine Sättigung hinausgehend geboten hat, muss dabei hingenommen werden.

One for the Road …

Das, was unter dem Oberbegriff convenience oder Fast Food in einen weitgehend ausgereizten Markt gedrückt wird, sucht die Wünsche eines Kunden zu befriedigen, die bereits bekannt sind. Das Angebot kann ihn deshalb nicht mehr erstaunen. Der Gast wird in solchen Entwicklungen nicht nur der Inszenierung beraubt, sondern insbesondere auch der Möglichkeit, sich selbst angesichts des Unbekannten darzustellen. Das Restaurant bietet nicht nur die Unterhaltung, sondern ist auch die Bühne für den Besucher. Die Wahl

Peter Döllmann: Restaurant Mosh Mosh in Frankfurt am Main, 2005

bestimmter Gerichte durch einen Gast, das Studium einer Weinkarte oder der Umgang mit dem Personal sind Inszenierungen in genau dem gleichen Maß wie das gebrochene Deutsch der Bedienung in einem italienischen Restaurant. Blumengestecke oder Innenarchitektur bieten einen gemeinsamen Rahmen. Angesichts einer zunehmenden Weltläufigkeit des Gastes werden die Umgebungen allerdings komplexer werden und damit auch exklusiver. Die umfassende Designlösung zeichnet sich ab, die den eigentlich simplen Vorgang der Nahrungsaufnahme in einem bislang ungekannten Maß orchestriert und erweitert.

Linguistisch betrachtet war der Gast ursprünglich ein Fremder. Der lateinische Begriff hostis wie auch das Griechische xenos bedeuten je nach Kontext „Fremder“, „Kriegsfeind“, oder „Gast“.10 Der Gast ist damit potenziell ein Unbekannter, der von außen in eine eigentlich geschlossene Umgebung eindringt und sich behaupten muss. Es liegt damit nahe, das Restaurant als einen Ort der Fremden und auch des Überraschenden zu bezeichnen. Und in diesem „Fremden“ liegen fraglos die Ansätze, in denen sich heute eine avantgardistische Gastronomie entwickelt. Mit dieser Betrachtung sind keineswegs die vielfältigen ethnischen Spielarten des Restaurants gemeint, die allgegenwärtig sind. Der Dönerspieß, der sich träge vor einer Flamme dreht, befriedigt das Bedürfnis des Kunden nach dem Fremden, ohne wegweisende Lösungen zu bieten. Er ist eine Form des Orientalismus in

10 Schilz, Andrea (2004): Frühe Gastlichkeit in Worten und Fakten; in: May, Herbert; Schilz, Andrea (2004): Gasthäuser, Geschichte und Kultur; Michael Imhof Verlag; Petersberg; S. 13-26

Zeiten des Charterflugs. Logistische und gestalterische Intelligenz braucht er nicht, und das germanische Gegenstück in Form der Currywurst steht ihm in seiner klaren Grunddisposition in nichts nach. Es ist anzunehmen, dass auch die Sushi-Bar diesen Weg nehmen wird: Der Imbiss bevorzugt eine eindimensionale Lösung, die sich in ihrer Einsilbigkeit im umstandslosen Verzicht auf Besteck reflektiert.

Das Restaurant der Zukunft hingegen wird Lösungen finden, indem es sich mit einem kulinarischen, programmatischen und räumlichen Eklektizismus an eine gesamtkulturelle Großwetterlage anpasst. Eine Vielfalt hybrider Lösungen zeichnet sich ab, in denen sich die unterschiedlichsten Interessen überlagern. Restaurants ziehen in Schlachthöfe oder entdecken aufgelassene Industriehallen. Köche wandeln sich zu Schriftstellern und Fernsehstars, das Menü wird Accessoire von Mode oder Autohäusern. Konsum ist eine symbolische Alltagspraxis, die nach entsprechenden Räumen und Attraktionen verlangt und auch vor einem Restaurant nicht Halt macht. Wie keine andere Einrichtung sonst bietet es Spielraum für Neuerungen. Der Gast und Kunde besucht es nicht nur aus Notwendigkeit, sondern auch und vor allem wegen der damit verbundenen Vorstellungen und Ideale. Das Interesse am Anderen und am Selbst nimmt rituelle Züge an, die gestalterisch überformt werden. Komplexe Marketingstrategien inszenieren neue Finanzierungsmodelle für Restaurants mit der gleichen Sorgfalt wie ein Menü, ein Interieur, die Musik und den Internetauftritt. Neben der Garderobe befindet sich folgerichtig ein Merchandising-Store. Über den dauerhaften Bestand der Neuerungen entscheidet letztendlich die Qualität. In einem Restaurant hat der Kunde schließlich die Wahl.

118

Imbissbude im Frankfurter Osthafen

119

Diner in Atlanta

Die Globalisierung des Geschmacks Udo Pollmer

Die Globalisierung hat bekanntlich auch unsere Küche erfasst; nicht nur die Markenartikel von Coca-Cola oder McDonald’s schmecken überall ähnlich, die Speisekarten in New York, München oder Hongkong gleichen sich genauso wie die Kleidung im Straßenbild an. Eine „Globalisierung des Geschmacks” bedeutet jedoch mehr als nur die Verwendung der gleichen Aromen. 120

Denn genau das funktioniert in den meisten Fällen nicht – noch nicht.

Nach wie vor sind die Geschmäcker verschieden. Es hat schon gute Gründe, wenn ein Schweizer Lebensmittelkonzern, der in Westafrika eine leckere Fertigsuppe mit “Ratte” anbietet, in seiner Heimat auch in absehbarer Zukunft die preiswerten Tütchen lieber mit Rind befüllt. Viele Produkte funktionieren in anderen Kulturen erst nach einer geschmacklichen Überarbeitung. Der Verzicht auf die Schärfe war bei vielen asiatischen Gerichten die Voraussetzung für ihren Erfolg in Europa. Doch oftmals scheitern Produkte schon ein paar Dörfer weiter – wegen scheinbar belangloser Unterschiede. So geschehen in Deutschland vor gut einem Jahrzehnt: Nachdem die erste Flut von West-Produkten in den neuen Supermärkten abgeebbt war, verlangte die Kundschaft wieder nach Senf, Ketchup oder Gurken mit “Ostgeschmack”.

Bis heute sind die Märkte der Fertigprodukte vielfach Regionalmärkte geblieben, auch wenn sie von Global Players bedient werden. Allein für den Geschmack von Erdbeeren halten einschlägige Firmen inzwischen bis zu 200 verschiedene Aromamixturen bereit, nicht zuletzt weil die Erdbeere in Tokio anders wahrgenommen wird als in Tutzing. Die feinen Unterschiede vermeintlich identischer Produkte stellen die Unternehmen vor erhebliche Probleme. Selbst der Geschmack von aus unserer Sicht austauschbaren Fertigwürzen von Firmen wie “Maggi” oder “Knorr” wird in Frankreich völlig anders beurteilt als in Deutschland. Es ist keine Frage des Markenauftritts, sondern ganz eindeutig sensorischer Details, die der Kunde akzeptiert oder ablehnt.

Wie nachhaltig einmal Erlerntes Wahrnehmung und Vorlieben der Kundschaft bestimmen, zeigt die ernüchternde Erfahrung eines Herstellers von Softdrinks. Er wollte sein Sortiment um ein wasserklares "Kristall-Cola" erweitern. Da der Hauptbestandteil von Cola schlicht Wasser ist, und den übrigen Zutaten keine Farbe zueigen ist, genügte es, auf den Farbstoff E 150 zu verzichten. 30 erfahrene Testschmecker des Konzerns durften die farblose Cola probieren. Aber nur zwei von ihnen erkannten den Colageschmack. Über die Hälfte konnte den Geschmack nicht einmal richtig beschreiben, sechs Personen glaubten, eine bekannte Zitronenlimo vor sich zu haben. Als in einem zweiten Durchgang ausdrücklich gefragt wurde, ob es sich “um ein Colagetränk” handele, bestritten dies immer noch zwei Drittel. Später, auf dem Markt, kauften es die Kunden einmal und nie wieder. Es schmeckte ihnen einfach nicht! Selbst minimale Abweichungen vom Standardreiz können den Absatz schon erheblich beeinträchtigen.

Dennoch: Die Globalisierung ist trotz Neophobie und gelegentlicher Pleiten nicht aufzuhalten. Die Unternehmen lassen nichts unversucht, um den Geschmack des Kunden zu domestizieren. Die dafür zuständige Fachwissenschaft, die Psychophysik, bemüht sich seit Jahren, die “Verzehrslust” – und damit den Absatz – zu steuern. Aromenhersteller bieten längst nicht nur ein paar Bratendüfte für Fertiggerichtfabrikanten oder Rieslingnoten für Weinpanscher an, sondern komplette Geschmacksmodule zum Zwecke des „Geschmacks-Tunings". Psychophysiker in aller Welt erforschen systematisch die Essinstinkte des Menschen, studieren die Reaktionen seiner Geschmacksnerven und spüren seinem Gefühlsleben beim Essen nach. Auf dieser Grundlage wird Mayonnaise aromatisiert, das Schmelzverhalten von Schokolade am Gaumen eingestellt oder das Knuspern von Chips optimiert.

Die Erfolge stellten sich überall dort ein, wo die biologischen Gesetzmäßigkeiten, die Physiologie des Körpers richtig eingeschätzt wurde. Ein klassisches Beispiel ist Knabbergebäck. Wer eine Tüte Chips öffnet, kann oftmals nicht aufhören, bis die Packung leer ist. Ihre Wirkung entfalten die Chips vorzugsweise vor dem Fernseher. Das hat einen einfachen Grund: Chips bieten ein Ventil für Aggressionen, die zum psychologischen Interieur mancher Sendungen gehören. Schon folgt die nächste Kauphase: Das inzwischen bröckelige Material wird weich und breiig. Nachgiebig schmiegt es sich an den Gaumen, ohne an den Zähnen zu kleben. Damit ist die Aufgabe des Chips erfüllt. Der Esser darf sich entspannen, seinem Gaumen mit weicher Masse Streicheleinheiten verpassen und beruhigt herunterschlucken.

Allerdings braucht man dafür jede Menge Speichel, denn so ein Chip ist salzig und hat eine große, trockene Oberfläche. Nun schlägt die Stunde der Aromen. Mit 2-Methoxy-3-äthylpyrazin wird aus einem profanen Chip ein Geschmackserlebnis. Dieser Stoff riecht intensiv nach frischen Bratkartoffeln. In vorsichtiger Dosierung verleiht er den Scheibchen einen feinen, abgerundeten Kartoffelgeschmack. Für die typische Chipsnote sorgt 2-Äthyl-3,6-dimethylpyrazin. Ein billiger Geschmacksverstärker wie Glutamat intensiviert die Wirkung der teuren Aromen und regt seinerseits den Speichel an. Nicht zu vergessen ist die Geräuschkulisse im Mund und die damit verbundenen Kiefervibrationen. Knusprigkeit gilt als aktives, aggressives Charakteristikum, das stimuliert und zum Weiteressen anspornt. Gleichermaßen zum Verzehr trägt der Tatbestand bei, dass ein Chip nur wenig wiegt. Angesichts der bereits verzehrten Menge spielt es keine Rolle, ob der nächste federleichte Chip noch gegessen wird oder nicht. Das erschwert der Kundschaft das Aufhören.

Für die Lebensmittelindustrie ist die Erforschung der Verbraucherreaktionen das A und 0. Da wird nicht nur die Geräuschkulisse von Chips und die Elastizität von Kaugummis gemessen, sondern auch die Sämigkeit von Soßen erforscht, die Flockigkeit von Instantkartoffelbrei, die Feuchtigkeit von Kuchen oder die Cremigkeit von Speiseeis. Selbst simple Produkte wie Salzkartoffeln werden auf Brüchigkeit, Härte, Deformierbarkeit, Kohäsivität, Gummihaftigkeit, Kaubarkeit, Schwer- und Druckkraft untersucht.

Sushi von Tengelmann

Ein globales Erfolgsprodukt ist zweifellos auch der Hamburger. Zu seinem Erfolg trägt bei, dass er mit den Fingern gegessen wird. Denn dann kann man dabei nicht gegen irgendwelche Essetikette verstoßen, egal in welcher Kultur man sich bewegt. Zweitens muss niemand das Besteck abspülen und drittens können es die Gäste auch nicht klauen. Im Mittelpunkt des psychophysikalischen Hamburger-Designs steht die Gurkenscheibe. Knackig muss sie sein, damit der Kunde auch hört, wenn er hineinbeißt. Für das richtige Gefühl auf der Zunge wird sie vorher mit den erforderlichen Geschmackszutaten wie Salz und Säure imprägniert. Der ideale Salzgehalt beträgt mindestens 2,2 %, ihr Durchmesser liegt zwischen 3 und 5 cm, die Scheibenstärke wird nach Angaben des Marktführers tunlichst auf exakt 3 mm eingestellt – damit das mouthfeel beim Reinbeißen stimmt. Dabei wird dann die süßsaure, speichelziehende Soße freigesetzt. Damit sie nicht ins Brötchen suppt, toastet man die Schnittflächen an. Dadurch steigt dem Esser ein milder, leicht süßlicher Röst- und Bratgeruch in die Nase.

Wozu der ganze Aufwand? Er zielt – so wie vorher auch beim Chip – auf unseren Speichelfluss. Hinter dem unscheinbaren Wort verbirgt sich ein Schlüssel zum Verständnis unseres Appetits. Wenn uns das Wasser im Mund zusammenläuft, müssen wir einfach weiteressen. Deshalb fühlen sich viele unmittelbar nach einer solchen Mahlzeit nicht richtig satt. Schuld trägt nicht das "Weißmehl-Brötchen", die softroll, sondern unser Speichelfluss. Wenn er versiegt, dann stellt sich auch Sättigung ein. Die

Steuerung unseres Speichels kann jeder selbst nachprüfen: Man verzehre die softroll seines Lieblings-Hamburgers pur, ohne jegliche Soßenreste. Die Masse ballt sich im Mund zu einem speichelzehrenden Klumpen und der Mund wird trocken. Das genaue Gegenteil passiert bei der Soße. Sie lockt neuen Speichel. Für sich allein genossen, schmeckt sie widerlich penetrant. Im Hamburger ist das Grundprinzip allen erfolgreichen Food Designs realisiert: mehr Speichel erzeugen als verbrauchen.

Doch gegen viele kulturelle bzw. biologische Unterschiede nützt auch keine Psychophysik: Während ein Franzose mit Appetit auf einen überreifen Camembert reagiert, verspüren viele Chinesen eher einen Würgreiz. Für sie ist Käse nichts anderes als ein verfaultes, schimmliges Kuhsekret. Aus genetischen Gründen vertragen viele Asiaten keine Milch. Ihr Verdauungstrakt streikt, wenn er Milchzucker bekommt. Selbst die europäisch orientierten Amerikaner haben mit den kulinarischen Usancen der Franzosen ihre Schwierigkeiten: Im Zweiten Weltkrieg zerstörten sie regelmäßig Käsereien, weil sie so stark nach verwesenden Leichen rochen ... Unsere Geschmacksvorlieben sind also zum Leidwesen der Betriebswirte nicht beliebig manipulierbar. Allerdings steigt die Chance, wenn man von Kindesbeinen an mit Fertigprodukten ernährt wird. In der Schweinemast wird dieser Effekt längst genutzt. Man weiß, dass Tiere das Futter bevorzugen, das die Aromastoffe ihrer ersten Nahrung enthält. In der Ferkelerzeugung bekommen manchmal sogar die Sauen ein Aromapräparat, das in ihre Milch übergeht. Gibt man das gleiche Aroma zum Ferkelfutter, lassen sich die Jungen früher entwöhnen und die Sauen früher wieder decken. Wenn es gelingt, Tiere von Geburt an, zum Beispiel junge Hunde mit einem speziellen Welpenfutter, auf das Aromamuster eines Herstellers zu prägen, besteht die berechtigte Aussicht auf Dackel mit "Markentreue". Auch unserer Babykost wurde viele Jahre synthetisches Vanillin zur Geschmacksabrundung zugesetzt – zu wenig, um nach Vanille zu schmecken, aber genug, um unterschwellig wahrgenommen zu werden. Eine Untersuchung hat bestätigt, dass Erwachsene, die einst die Flasche bekommen haben, vanillinhaltige Produkte viermal häufiger bevorzugen als Gestillte.

Was Hänschen einmal gelernt hat, verlernt Hans nimmermehr. So führte der Massenkonsum von Apfelsaftgetränken durch Kinder bereits dazu, dass Fertigprodukte mit "Apfel" nicht mehr nach Apfel schmecken dürfen, sondern nach dem deutlich anderen Apfelsaftaroma. Um Futterprägung handelt es sich auch, wenn Kinder frische Milch ablehnen, weil sie den Kochgeschmack der H-Milch erwarten. Die Einführung neuer Aromen entscheidet heute nicht nur über Produkterfolg oder -pleite, sondern auch darüber, ob Jugendliche frische Äpfel überhaupt noch mögen können. Wenn Kaugummifabrikanten bestimmen, wie "Frucht" schmeckt, und wenn Ketchupabfüller das Tomatenaroma definieren, darf sich niemand wundern, wenn die Appelle, auch mal frisches Obst zu essen, nicht fruchten wollen.

Auch wenn die Globalisierung des Geschmacks auf lange Sicht unvermeidlich ist, so findet sie ihre Grenzen auch in Zukunft dort, wo unseren Speisen physiologische Effekte zukommen, die regional bedeutsam sind. So entfalten beispielsweise Chillies eine kühlende Wirkung auf den Körper (sie senken die Kerntemperatur) – weshalb dieses Gewürz in heißen Klimaten in großer Menge verzehrt wird. In kühleren Gegenden nutzt man lieber den leicht wärmenden Effekt von Senf.

Bisher hat sich der Wunsch der Hersteller nach einer Globalisierung nur sehr bedingt erfüllt. Auf lange Sicht dürfte sich die Säuglingskost als Türöffner erweisen. Wie der „Fall“ Vanillin zeigt, können auch unterschwellige Geschmackskomponenten nachhaltig die Speisevorlieben im Erwachsenenalter beeinflussen. Gleichzeitig geht natürlich mit dem wachsenden Angebot an Fertigprodukten die Fähigkeit zur Selbstzubereitung verloren, und damit auch die geschmacklichen Vorbilder früherer Generationen. Wenn die Tomatensoße aus Mutters Küche nicht genauso schmeckt wie industrieller Ketchup, ist eine Selbstzubereitung im Haushalt aus der Sicht der nächsten Generation überflüssig. Vielleicht benötigt die Menschheit eines nicht allzu fernen Tages keine Küchen mehr, weil sie des Geschmacks handwerklich zubereiteter Speisen entwöhnt ist.

123

Über das Wesentliche in der Architektur Claudio Silvestrin

Im Bauen wie im Kochen verbergen sich die elementaren Dinge des Lebens. Mit meiner Architektur strebe ich danach, diesem den Dingen verborgenen Wesentlichen auf die Spur zu kommen und den eigentlichen, ursprünglichen Werten des Lebens architektonisch Ausdruck zu verleihen. Das Ursprüngliche im Bauen – wie im Kochen – sehe ich in einem „Weniger“. Diesen Gedanken des „Weniger“ möchte ich zunächst architektonisch genauer umschreiben, bevor ich den Zusammenhang zwischen meiner Architektur und dem Kochen herstelle. Architektonischen Raum denke ich als Leere, als Luftmasse, als Tiefe, als Stille, als ein Etwas, ohne das es keinen Horizont gibt: Raum gleich spatium, gleich extensio, als Ausdehnung in alle Richtungen. Die Erzeugung von architektonischem Raum bedeutet für mich im Heideggerschen Sinne einen Ort schaffen, Panetteria Princi in Mailand, 2003-2004, Grundriss

Verorten (placing) und Ordnen (ordering), um den offenen Raum zu belassen. Offener, freier Raum erst gibt der Erscheinung

124

ihrem Ort und damit die Möglichkeit für Beziehung untereinander. Das Prinzip des mittelalterlichen Klosters ist für mich

der Dinge und der Menschen Präsenz. Angemessenes Verorten (measured placing) verleiht den Dingen die Zugehörigkeit zu

vorbildhaft. In ihm schaffen Wände einen perfekten, geschlossenen Raum. Wenn wir ein Kloster betreten, spüren wir unweigerlich die Intensität dieses Raumes.

Wie schon für Adolf Loos hat das Ornament und die Dekoration auf der Suche nach dem Elementaren keinen Platz, denn sie verstellen den Blick auf das Zeitlose, immer Gültige. Für mich drückt sich Zeitgenossenschaft und Zeitlosigkeit gleichermaßen in Ruhe, Einfachheit und Stille aus, nicht in den Aufgeregtheiten und dem immer nach Neuem Heischenden unserer Zeit. Ich interessiere mich nicht für Moden, schon gar nicht für das Modische. Damit ist mein Interesse an Oberflächen und Fassaden ein anderes als das vieler Zeitgenossen. Mir geht es mehr um das Metaphysische des Raumes. Zum Raum, d.h. zur Luft, gesellen sich die anderen, wesentlichen Elemente des Lebens: das Wasser, das Feuer und die Erde. Meine Architektur sucht diese Elemente durch eine klare, strenge, geometrische Ordnung und mit der Kraft der rhythmischen Wiederholung – man mag sie deshalb im Klassischen einordnen – zu verbinden.

Die Materialien, die ich für die Erzeugung des Raumes verwende, sind immer so gewählt, dass sie diesen in seiner Zurückhaltung, in seiner Einfachheit stärken. Das heißt, die Hülle ist nie eine demonstrative Besonderheit, sondern allein die Umschließung der Leere. In diesem Sinne erklärt sich die reduzierte Palette fein aufeinander abgestimmter Materialien, die ich bei den jeweiligen Projekten verwende. Es mag wie ein Paradoxon klingen, aber mit einem Minimum an architektonischen Mitteln wird Raum erst wirklich sichtbar. Das Material, welches ich am häufigsten verwende, ist Stein. Ich liebe beispielsweise den Granit, denn als Material drückt er Erdverbundenheit, Natürlichkeit, Ursprünglichkeit aus. Und um diesen Ausdruck geht es mir. Zwar wird der Stein von Menschenhand bearbeitet – entweder roh behauen, geschliffen oder poliert – und erhält damit unterschiedliche sensorische Qualitäten, doch wird er nicht künstlich erzeugt. Nie käme ich auf die Idee, künstliche Materialien wie Plastik zu benutzen. Plastik kommt in der Natur nicht vor und kann erst durch von Menschenhand ausgelöste chemische Prozesse hergestellt werden. Ebenso sind mir alle künstlichen Schutzschichten, die heute auf natürliche Materialien aufgetragen werden, zuwider. Sie überdecken die Haptik des Materials. Wenn ich einen Holzboden wähle, dann immer unversiegelt. Auch Farben betrachte ich nicht als abstraktes Gestaltungselement, sondern als naturgegebenes Material. Wie das Material „natürlich“ ist, so sind es auch die Farben, die ich verwende. Schaut man genau hin, ist die Natur voll von Farben. Indem ich mich an das Elementare, an das von der Natur Gegebene, an grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten halte, vollzieht meine

Architektur keinen Bruch mit Geschichte und Tradition, wie es die Moderne so häufig getan hat. Vielmehr reflektiert sie in ihrer Zeitgenossenschaft immer auch unser kollektives, unbewusstes Gedächtnis. Wenn jemand meine Architektur als palladianisch bezeichnet, ist das für mich ein Kompliment – auch wenn meine Architektur damit von vielen als altmodisch abgetan wird. Das Altmodische im Kochen aber – um eine Parallele zu ziehen – beginnt gerade wieder, modern zu werden.

Vielleicht lässt sich meine Architektur am besten mit der traditionellen italienischen Küche vergleichen. Sie lebt von der Güte der naturgegebenen Zutaten. Es ist eine Küche ohne viel Sahne und ungesundes Fett, ohne Ornament und Dekoration. Es ist eine einfache, aber schmackhafte Küche, bei der es sehr auf das Detail ankommt. Wenn eine Speise aus ganz einfachen Dingen gemacht ist, dann muss sie perfekt zubereitet sein. Kocht man beispielsweise ein Risotto, dann kann man nicht einfach sagen, dass es in zwölf oder 25 Minuten fertig ist. Vielleicht braucht es ja 16 Minuten. Diese Beachtung der Details ist für die Köstlichkeit einer Speise genauso bedeutsam, wie sie auch in meiner Architektur entscheidend ist. Erst die Präzision erlaubt Perfektion. Ebenso wie die italienische Küche auf natürlichen Zutaten basiert, ist auch meine Architektur aus natürlichen Bäcker beim nächtlichen Backen in der Panetteria

Elementen zusammengefügt und betont die ureigene Schönheit der Materialien. Ein einfacher Teller mit Tagliatelle – aus den

besten Eiern und dem besten Mehl hergestellt – al dente gekocht, mit Olivenöl extra vergine und Parmesankäse gereicht, kann wunderbar schmecken. Um in der Einfachheit etwas Einmaliges zu schaffen, bedarf es nicht nur ausgezeichneter Zutaten, sondern auch deren harmonischer Zusammenfügung. Auch in meiner Architektur versuche ich immer, ein Gleichgewicht unter den Elementen zu finden – ein Gleichgewicht ohne Disharmonie zwischen den Materialien oder den vertikalen und horizontalen Elementen, ein Gleichgewicht zwischen Leichtigkeit und Schwere, zwischen Leere und Masse, zwischen Licht und Schatten. Es ist eine Frage der proportionalen Verhältnisse.

Panetteria Princi: Backstube, Verkaufsraum und Ort des Verzehrs zugleich

125

An der Panetteria Princi in Mailand lässt sich meine Haltung beispielhaft ablesen – zumal Architektur und Speisenzubereitung hier in direktem Zusammenhang stehen. In diesem Projekt verschmelzen die Elemente des Lebens – das Wasser, die Luft, das Feuer und die Erde, die das Kochen und Backen ebenso bestimmen wie die Architektur – für mich auf besonders sinnhafte Weise. Im Prinzip besteht die Panetteria aus einem einzigen, großen, klar gegliederten Raum, in dem alle Tätigkeiten, die zur Herstellung von Brot und anderen Backwaren bis hin zum Verkauf und Verzehr notwendig sind, gleichzeitig stattfinden. Strenge Geometrie paart sich mit warmer Farbigkeit und der Sinnlichkeit der Materialien: rauer Porphyr als Fußboden, raue Steinblöcke als Tresen und zu Stehtischen geformt, erdfarbene Messingpaneele als Wandverkleidung, das Feuer zum Backen – von überall her sichtbar als Fixpunkt inszeniert – und selbstverständlich Holz, dort, wo geknetet und gebacken wird. Der Backvorgang als elementare Tätigkeit des Ursprünglichen, der sonst im Verborgenen stattfindet, ist bewusst in den Vordergrund gerückt, räumlich überhöht. Er findet hinter großen Glasscheiben statt, von außen wie von innen wahrnehmbar. Die Trennung zwischen Herstellung und Verkauf ist aufgehoben. Beides findet in demselben Raum, auf derselben Bühne statt. So wie alle Tätigkeiten räumlich miteinander verknüpft sind, so beziehen sich auch die Materialien eng aufeinander.

Was mich an diesem Projekt so besonders begeistert, ist, dass dieser Raum für alle funktioniert – trotz oder gar wegen seiner geometrischen Strenge und Reduktion. Hier teilen sich Menschen aller gesellschaftlichen Schichten den Raum. Es ist ein demokratischer Raum, in dem sich jedermann wohlfühlt. Rückbesinnung auf das Wesentliche, Verbundenheit mit dem Ursprünglichen ist nicht das Privileg einiger weniger. Vielmehr vermag es dem Menschen wie immer schon Halt und Ruhe zu spenden.

126

Das Feuer als wesentliches Element der Backstube

Präsentation der Backware in der Panetteria Princi

Die Speisenfolge Ein dramaturgisch aufgebautes Gefüge Onno Faller

Eine traditionelle Speisenfolge entspricht strengen, tradierten Mustern und Vorstellungen. Neben der sozialen Stellung, den historisch gegebenen Voraussetzungen und den individuellen kochtechnischen Bedingungen sind alle Bestandteile der Gänge immer auch in Zusammenhang mit der Infrastruktur der Küche zu sehen. Heute ist zwar selbst in traditionsorientierten Familien die Handarbeit zunehmend durch Maschinen und die offene Flamme durch Strahlungswärme, elektromagnetische Felder oder ähnliches ersetzt worden. Das Wesen der traditionellen Speisenfolge in seinem Ablauf und in seiner Dramaturgie jedoch wurde durch neue Erfindungen nicht verletzt. Zu besonderen Anlässen wie Kommunion, Hochzeit und Firmung hält man eben gerne am altbekannten Geschmack fest. Da die Speisenfolge einer genauen Vorstellung vom Ganzen und Richtigen entspricht, sorgt sie maßgeblich für die runde Gestaltung eines traditionellen Festes, das man gerne wie schon immer feiert.

Betrachtet man Festtags- und Sonntagsgerichte unter dem Aspekt der zeitlichen Anordnung der Speisen und dem Verhältnis 128

der Zutaten aller Speisen zueinander, zeigt sich, dass eine Familie auf ein Grundrepertoire von Gerichten zurückgreift, die bei den unterschiedlichen Anlässen zu immer wieder neuen Speisenfolgen zusammengestellt werden. Das aber heißt, dass eine Speisenfolge das „essbare Merkmal“ einer Familie definiert.

Was ist eine Speisenfolge?

Streng genommen bedeutet bereits ein Bissen Butterbrot und ein Schluck Wasser eine in sich abgeschlossene Speisenfolge. Hier besteht sie allein aus zwei Elementen, die vom Esser selbst rhythmisiert und damit zu einer Folge von Einzelereignissen unterschiedlicher Wirkung wird: zwei Bissen ein Schluck, zwei Bissen ein Schluck, zwei Bissen zwei Schluck, ein Schluck zwei Bissen usw. Eine Speisenfolge aus vielen Elementen kann zu einer sehr komplexen szenischen Welt werden, in der das eine aus dem anderen entsteht, in der jeder Teil einen formalen und inhaltlichen Bezug zum anderen hat, in der Unmögliches möglich wird. Sie hat eine Einleitung, Höhepunkte, Variationen und einen Schluss.

Jeder Gang einer schlüssigen Speisefolge stellt ein in sich abgeschlossenes System oder Ereignis dar, das sich auf die gesamte Speisenfolge bezieht. Je mehr Speisen gereicht werden, umso mehr Bezüge lassen sich herstellen. Bei stark verdichteten Speisefolgen müssen die Speisen bestimmte Eigenschaften besitzen, um das physikalisch-geschmackliche Funktionieren zu gewährleisten. Gerichte, die eine einförmige Struktur aufweisen, bei der jeder Bissen gleich ist, wie zum Beispiel bei gebundenen Suppen, Mus oder Brei, fordern nachfolgend ein anderes Munderlebnis, um den Esser zu befriedigen. Eintöpfe hingegen, bei denen die Inhaltsstoffe nebeneinander liegen, wie etwa Karotten und Fleisch, Speck oder Kartoffeln können allein mit Brot gegessen werden, ohne dass ein Gefühl von Unbefriedigtsein oder Hunger nachfolgt. Der Mund und die Nase bekommen bei einer solchen Speise viel zu tun, müssen die einzelnen, nebeneinander vorkommenden Zutaten untersuchen, bevor sie geschluckt werden; es wird gekaut, sortiert, gehört und verglichen. In einer funktionierenden Speisenfolge sind diese Kau- und Esserlebnisse so aufeinander abgestimmt, dass sich ein dramatischer Verlauf mit Steigerungen und Höhepunkten ergibt.

129

Die Tafel des Grafen von Salm

Die Tafel des Grafen von Salm: Die runde Tafel ermöglichte eine Gesellschaft ohne strenge Rangordnung und ohne großes Zeremoniell. Wer gerne trinkt, hatte eine Flasche Wein im Kühler gleich neben seinem Stuhl stehen. Als Speise wurde ein ganzes Tier zu Tische gereicht.

Jede Speise innerhalb einer Speisenfolge hat jedoch auch eine feststehende Funktion innerhalb einer Kultur, denn Speisen sind neben vielem anderen gebunden an mythologische und religiöse Vorstellungen sowie an soziologische Gesetzmäßigkeiten. Über den Nährwert hinaus vermitteln sie symbolisierte Botschaften. Fleisch beispielsweise hat über seine Ernährungsfunktion hinaus eine gesellschaftliche Bedeutung. Lange Zeit diente es fast ausschließlich als Speise der Mächtigen und Reichen. Selbst als sich die Verfügbarkeit im 19. Jahrhundert durch moderne Produktionsformen veränderte und es für alle da war, änderte sich dieser Status innerhalb der Zutatenhierarchien von Speisen nicht. Noch heute steht Fleisch für Kraft und Stärke, drückt den Status der Gastgeber aus, muss als Höhepunkt der Speisenfolge auftreten.

Unsere heutige Form von Speisenfolgen hat sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Festtagsspeisen vor dieser Zeit wurden zwar auch in verschiedenen Gängen serviert, jeder Gang enthielt jedoch eine Vielzahl an Speisen. Von dieser Vielzahl aß man jeweils nur eine Auswahl, die nicht völlig frei getroffen werden durfte. Jeder Esser wusste genau, was ihm standesgemäß „Zustand“ oder was wichtig für seine Gesundheit war. Im Unterschied zu den heutigen Speisenfolgen wurden salzige und süße, kalte und warme Speisen und – was sehr wichtig war – Repräsentanten aller Garmethoden wie gebraten, gekocht, gedünstet usw. gleichzeitig gereicht. Heute ist die einzelne Speise und ihre Reihenfolge im zeitlichen Ablauf vorgegeben. Meist geht warm vor kalt und salzig vor süß. Alle am Essen beteiligten Personen verzehren zur selben Zeit dasselbe Gericht und sind somit sozial gleichgestellt.

Wie in der Kunst, der Architektur oder der Musik kommen bei einer Speisenfolge dramaturgisch gesehen alle Möglichkeiten künstlerischer Wirkung eines in der Zeit und im Raum ablaufenden Ereignisses zum Tragen. Wenn Architekten wie Andrea Palladio mit der Illusions130

malerei von Veronese sich gegen die physikalischen Grenzen von Raum und Zeit, Schwerkraft und Masse Grundriss von Palmanova

erhoben haben, schafften sich die Köche derselben Zeit in Anlehnung an die Bildhauerei ebenfalls ein Bild von

der Welt, das über die physikalischen Möglichkeiten der Schöpfung hinausging. Während die Architekten die ideale Stadt und den idealen Grundriss schufen, bauten die Köche das ideale (essbare) Tier. Sie befreiten es von seinen Knochen und setzten es mit bildhauerischen Mitteln wieder zum kompletten Tier zusammen. So erfuhr der damalige Esser paradiesische Zustände bereits auf Erden. Er brauchte sich nur noch mühelos eine Scheibe Fleisch abzuschneiden. Der sich seiner selbst bewusste Mensch der Renaissance ging sogar noch darüber hinaus. Er modellierte aus Hasenfleisch Löwen, stellte Rieseneier von gefürchteten Ungeheuern her oder brachte künstliche Fettpolster unter Geflügelhäute.

Künstlerische Mittel beim Speisenbau

An formgebenden Mitteln bedienen sich die Köche der Wiederholung, des Gegensatzes, der Variation, der Modulation, die je nach Bedarf innerhalb eines Gerichtes oder einer ganzen Speisenfolge eingesetzt werden. Sie sind die Grundbausteine jeder Speisefolgendramaturgie und definieren Einleitung, Höhepunkt und Ausklang.

Die Auswahl der Zutaten gibt das thematische Material der Speisen vor. Es kann nach streng inhaltlichen Gesichtspunkten wie nach der Nahrungssorte (Fleisch im Gegensatz zu Getreide) ausgesucht sein oder nach regionalen Themen wie Meer, Hochgebirge, Wald oder Feld. Auch das Alter der Speise und der Erntezeitpunkt ist formgebend: konserviertes Material (getrocknet, geräuchert, eingemacht, gepökelt) im Gegensatz zu frischem. Hierbei steht der zeitliche Aspekt im Vordergrund. Er verweist auf die Jahreszeit oder auf die Vergänglichkeit des Lebens. Selbst technische Errungenschaften wie das Feuer lassen sich über Speisen vermitteln. Diese Themen werden oft über die Konsistenz eingeführt. Suppen als Einleitung eignen Pastetenform aus dem Kochbuch von Conrad Hagger Neues Salzbürgisches Kochbuch, Augsburg 1714: das ideale (essbare) Tier

sich hervorragend, um die Hauptthemen anzukündigen (Fleisch, Getreide oder Gemüse oder alles zusammen). Sie machen neugierig und verlangen nach mehr. Peu à peu wird durch die Anordnung der Esserlebnisse die Spannung so gesteigert, bis an einem bestimmten Punkt alles kulminiert. Dies kann das mit der Suppe angekündigte Fleisch – jetzt als knuspriger Braten –

sein oder alle bereits in anderer Form vorgestellten Zutaten in einem Ragout vereint. Der Schluss, meist in Form eines Desserts, vollendet die Speisenfolge durch einen neuen, süßen Aspekt und erinnert in großzügiger Manier durch eine Wiederholung von der einen oder anderen Zutat – jetzt in einem anderen geschmacklichen Umfeld – an das im Mund erlebte Spektakel.

Beispiel für eine klassische Speisenfolge für Festtage aus dem süddeutschen Raum

Klare Wildbrühe Fasan mit Linsen und Spätzle Klare Wildsülze mit Ackersalat und Brot Griesschnitten mit eingemachten Kirschen

Entstanden sein dürfte diese Speisenfolge im 19. Jahrhundert. Sie ist typisch für eine relativ eng organisierte Lebensgemeinschaft eines Dorfes, die im Verband der Familie, der Kirchengemeinde und des Kirchenjahres aufgehoben lebt. Am Beispiel dieser Speisenfolge lässt sich zeigen, dass jede einzelne Speise innerhalb der kombinierten Gerichte keineswegs willkürlich zusammengestellt ist. Vielmehr hat sie eine durchstrukturierte, schlüssige Form.

Die gewählten Zutaten stellen das Fundament der Speisenfolge dar, beschreiben die „Erkennungsmelodie“ der Landschaft und die Weltsicht der Erfinder dieser Speisenfolge. Allem „Material“ ist gemeinsam, dass es direkt aus der Umgebung eines süddeutschen Bauernhofes stammt. Der Fasan ist die einzige Wild-Zutat, jedoch auch er kommt aus einer kultivierten Situation, denn für die Jagd wird er hinter Zäunen, vor seinen natürlichen Feinden geschützt, gehegt.

131

Schema der Speisenfolge

132

Partitur der Speisenfolge

Das Hauptinteresse dieser Speisenfolge gilt dem Fasan. Er taucht als einzige Fleischsorte in drei von vier Gängen auf. In vergleichbaren Speisenfolgen, in denen Rind- oder Schweinefleisch verwendet wird, findet sich oft noch eine weitere Fleischsorte oder ein Fisch. Dass dem Fasan kein weiteres Lebewesen an die Seite gestellt wird, er sogar in drei Facetten gezeigt wird, unterstreicht seinen Status in der Zutatenhierarchie. Als Wildgeflügel war er seit dem Wildbann im ausgehenden Mittelalter nur dem Adel vorbehalten. Auf Wilderei stand die Todesstrafe. Selbst die industrielle Revolution, die diese Strukturen aufbrach, konnte der Bedeutung von Wild in Speisenfolgen nichts anhaben. Im Gegenteil, seit 1850 findet man in bürgerlichen Kochbüchern vermehrt Rezepte über die Zubereitung von Wildgerichten.

Der Fasan wird zusammen mit Aromaspendern wie Karotten, Sellerie und Wurzelpetersilie, Lorbeerblättern, Wacholderbeeren und Pfefferkörnern ganz langsam in einem großen Topf mit viel Wasser, ein wenig Essig unter geringer Hitzezufuhr mehrere Stunden lang gar gekocht. Die Aromaten sind mengenmäßig so zusammengestellt, dass sie am Ende nicht einzeln herausschmeckbar sind. Über Nacht bleibt das Tier in der Brühe stehen und überträgt somit noch länger sein intensives Aroma auf die Essenz.

Ein Teil der Brühe wird am anderen Tag von allen festen Stoffen befreit und geklärt, mit etwas Zitronenschale und Salz abgeschmeckt. So kann sie als vollständige Speise mit Brot gegessen werden. Der andere Teil der Brühe wird mit der abgelösten Haut des Fasans, seinen Füßen, seinem Kopf, seiner Leber und seinem Magen zwei bis drei Stunden weiter gekocht und mehrmals geklärt. Danach wird die Brühe kühl gestellt. Durch das stützende, fleischige Gewebe des Fasans erstarrt sie langsam zur Sulz.

Durch diese Art der Zubereitung wird der Fasanengeschmack auf drei Speisen verteilt, die jede für sich eine eigene Konsistenz, eine eigene Geschmacksrichtung und ein eigenes Erlebnis im Mund erzeugt.

Die Spanne reicht von Einleitung

Höhepunkt I

Höhepunkt II

Fasanenbrühe

Fasanenfleisch

Fasanensulz

heiß/flüssig

heiß/fest

kalt/glibberig

salzig

salzig

salzig/sauer

Jeder dieser drei thematisch vom Fasan bestimmten Phasen werden die restlichen Zutaten zugeordnet, allen voran das Getreide als Spätzle und Brot.

Spätzle

Brot

heiß/fest

kalt/luftig

Die Dramaturgie der Speisenfolge

Einleitung Die Speisenfolge beginnt mit einem Suppenteller, in dem kalte Spätzle liegen. Über sie gießt man die sehr heiße, klare Fasanenbrühe. Eingenommen wird nur die Flüssigkeit, die Spätzle isst man nicht. Sie sollen im Teller zuerst nur den Fasanengeschmack annehmen und heiß werden. Gleich zu Beginn werden also die beiden Hauptthemen der Speisenfolge vorgestellt, der Fasan und der Weizen: der Fasan in flüssiger Form, aber dennoch geschmacklich unverkennbar, der Weizen in Form fester Spätzle, jedoch zunächst nur für die Augen erlebbar. Von hungrigen Gästen verlangt diese Konzeption eine starke Selbstbeherrschung, eine Geisteshaltung, die an besonderen Feiertagen wie der Kommunion eingefordert wird und Ausdruck einer religiös motivierten Kultur ist. Neben den Hauptthemen wird aber auch der Schauplatz – der Tisch – mitsamt dem „Bühnenbild“ vorgestellt. Er ist festlich geschmückt, oft in Farben, die zum jeweiligen Ereignis passen, durchaus auch liturgischen Vorgaben gehorchend. Der Teller spielt in dieser Speisenfolge eine herausragende Rolle, denn er wird nicht wie in bürgerlichen Haushalten nach jedem Gang ausgetauscht. Vielmehr wird er immer wieder mit der nächsten Speise gefüllt. Dieser Brauch ist ein Relikt aus der bäuerlichen Kultur, bei der entweder Mulden im Holztisch oder eine einzige Schüssel als

133

Teller dienten, wenn nicht gar die Pfanne oder der Topf selbst in der Mitte des Tisches stand, aus dem alle gemeinsam aßen. Die Kultur des „Teller-Beibehaltens“ ist stark vom Aussterben bedroht, da solche Feste heutzutage meist in Gasthäusern stattfinden, die aufgrund hygienischer Verordnungen einen solchen Brauch nicht mehr zulassen können.

Höhepunkt I Im zweiten Teil der Speisenfolge hat der Hauptdarsteller, der Fasan, seinen großen Auftritt. Nicht zerlegt, sondern als ganzes Tier kommt er auf den Tisch, allerdings befreit von nicht essbaren Bestandteilen (wie Federn, Kopf, Füßen, Haut). Das Auge sieht in ihm noch das Tier mit zwei Flügeln zum Flattern, kräftigen Beinen zum Rennen und einer zarten Brust, die niemals die Flügel über längere Zeit bewegen musste. Die Zunge jedoch erfährt den anderen Aspekt des Lebens – den Tod – in Form des haut goût. Diese zwei Extreme – Leben und Tod, vermittelt durch den Körper des Fasans – befinden sich mitten auf dem Tisch im Zentrum der Festgesellschaft und zugleich im Zentrum der Speisenfolge.

Künstlerische Neuerungen vollziehen sich bei allen Kunstgattungen Schritt für Schritt, denn sie unterliegen immer einer evolutionären Entwicklung. Ebenso treten in der Kochkunst Neuerungen schrittweise auf. So erfährt der in der bürgerlich-bäuerlichen Mischkultur neu hinzugekommene Fasan in der Speisenfolge als Besonderheit letztendlich eine alltägliche Behandlung, wie sie üblicherweise einem altbekannten Schweinebauch zuteil wird.

Die Linsen als Beilage – immer reichlich vorhanden und durch ihre breiige Konsistenz das Gefühl des Sattwerdens vermittelnd – und die bereits im Teller liegenden, mit Fasanengeschmack durchtränkten Spätzle sind heiß. Es handelt sich um ein „richtiges“ Essen, bei dem körperlicher Einsatz (durch ordentliches Kauen) gefordert ist. Dieser Gang ist Abbild einer noch handwerklich-körperlich arbeitenden Gesellschaft, bereits mit Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Schichten.

Höhepunkt II Zweiter Höhepunkt der Speisenfolge ist eine weitere Metamorphose des Fasans. Seine Essenz tritt jetzt als Sulz auf, kalt und glatt. Sie zerschmilzt fast auf der Zunge und wird zusammen mit dem säuerlich angemachten Ackersalat, der stark gekaut werden muss, sowie dem luftigen Brot gegessen. Der Fasan zeigt sich hier von einer völlig neuen Seite: stark konzentriert ohne 134

sich geschmacklich in den Vordergrund zu drängen. Er dient als Würze und „Bühne“ für eine völlig neue und als einzige frische Zutat, dem Ackersalat. Dieser symbolisiert Jugend und Frische. Der Geschmack des Todes ist durch die niedere Temperatur und die glatte Oberfläche der Sulz stark zurückgenommen. Aus dem festen, lebendigen Fleisch des Fasans ist ein kalter, glatter, beweglicher Organismus geworden, aus den alten, getrockneten Ackerlinsen ein frischer junger Ackersalat. Auch dieser Gang lebt vom Kauen, vom Arbeiten mit den Zähnen und der Zunge, vom Zusammenstellen der drei Komponenten, denn jeder Esser entscheidet selbst, wie viel Sulz er im Verhältnis zum Ackersalat im Mund haben möchte, ob das Brot gleichzeitig dazukommt oder, separat gegessen, als Neutralisator vor dem nächsten Bissen dient.

Ausklang Das Ende der Speisenfolge ist wie eine Zugabe. Bevor die Nachspeise kommt, wird der Tisch abgeräumt, die Tischdecke gefegt. Eigentlich ist das Mahl vorbei, aber dem Gaumen fehlt noch etwas. Noch einmal tritt der Weizen, eines der Hauptthemen der Speisenfolge, auf, jetzt in kalter, fest-glibberiger Konsistenz: der Grießschnitte. Die dazu gereichten, eingemachten Kirschen bringen eine weitere Jahreszeit in die Speisenfolge. Zugleich evoziert der mit rotem Kirschsaft getränkte Griesbrei Erinnerungen an satte, sorgenfreie Kindertage.

Heute ist eine solche Speisenfolge noch vereinzelt zu finden, etwa für den Anlass einer Firmung, Kommunion oder Goldenen Hochzeit. Derartige Traditionen sind aber zunehmend vom Aussterben bedroht.

135

FLEISCH/GEFLÜGEL/FASAN/GANZES TIER Fasane stammen ursprünglich aus Asien, wurden aber schon vor vielen Jahrhunderten als Jagdwild in Mitteleuropa eingebürgert. In Volieren gezüchtete Fasane sind fett und fad. Damit der Fasan schmeckt, muss er einige Zeit in Feld und Flur gelebt haben und geschossen sein. Als Beute ist er Sinnbild des Jägers und Sammlers. Je nach geschmacklichen Vorlieben lässt man ihn vor der Zubereitung eine Zeit lang abhängen, damit sich sein haut goût entwickeln kann – ein Geschmack, der an den Tod des Tieres erinnert. Funktion in der Speisenfolge: Der Fasan ist zweifelsohne die kostbarste Zutat der Speisenfolge. Als Tier des Waldrandes und der Flur bewohnt er einen Lebensraum, der nicht in das Hoheitsgebiet der bäuerlichen Kultur fällt – ein exotischer Gast mit dem man sich an einem Festtag schmückt. In der Speisenfolge kommt er deshalb nicht nur einmal, sondern gleich in drei Variationen vor – Variationen, die innerhalb der Speisenevolution zu einem feststehenden Begriff geworden sind: als klare Brühe, als Siedfleisch und als Sülze. Ökonomisch betrachtet, holen diese drei Gerichte quantitativ am meisten aus dem Tier. Als Ganzes gesotten, wird der Fasan erst am Tisch zerlegt. So durchlebt die Festgesellschaft symbolisch den Akt der Jagd und des Schlachtens. Das Verteilen der Stücke rückt den Gastgeber als solchen in den Mittelpunkt. An keiner anderen Stelle der Speisenfolge wird noch einmal ein Tierkörper gegessen. Man kann den Fasan als erstes Hauptthema der Speisenfolge bezeichnen. Geschichtlicher Hintergrund: Seit dem Mittelalter sind alle Nahrungsmittel mit ihren zugehörigen Zubereitungsweisen den einzelnen Ständen zugeordnet. Der mitteleuropäische Speisenbau basiert auf Fleisch, Vegetarismus spielt hier in der Speisenevolution nur eine untergeordnete Rolle. Fasane werden seit dem 8. Jahrhundert in Gehegen gezüchtet. Bis zum 19. Jahrhundert war ihr Fleisch nur dem Adel vorbehalten. Auch heute noch werden die meisten Fasane künstlich erbrütet, großgezogen und dann für die Jagd freigelassen.

HÜLSENFRUCHT BZW. GEMÜSE/LINSEN Linsen gehören zur ältesten Kulturpflanze der Menschheit. Sie wurden schon vor 10.000 Jahren von den Ägyptern angebaut. In Mitteleuropa, auf den trockenen, warmen Muschelkalkböden in Württemberg, Thüringen, Hessen und Franken, wo andere Kulturarten keine hohen Erträge liefern, hat sich der

136

Linsenanbau noch bis Ende des Zweiten Weltkrieges in geringem Umfang gehalten. Sie bildeten in der bäuerlichen Gesellschaft vor allem in der kalten Jahreszeit als Soße, Brei oder Eintopf neben dem Getreide die Nahrungsgrundlage. Linsen werden getrocknet aufbewahrt und sind Ausdruck einer sesshaften Gesellschaft. Funktion in der Speisenfolge: Geschmacklich vermitteln die Linsen zwischen den Spätzle und dem Fasan. Ihre saftige, weiche Konsistenz lässt sowohl die festen Spätzle als auch das etwas trockene Wildfleisch leichter kauen und schlucken. Als alltägliche Elemente bilden Linsen und Spätzle eine bekannte und vor allem bewährte Plattform, auf der sich der „Exote“ präsentieren lässt. Sie geben eine geschmackliche Sicherheit und sorgen dafür, dass jeder satt wird. Die Linsen treten nur an einer Stelle der Speisenfolge auf. Geschichtlicher Hintergrund: Linsen waren in Ägypten und im vorderen Orient wesentlicher Bestandteil der Ernährung. Sie wurden selbst den Toten als Speise mitgegeben, wie Darstellungen und Grabfunde aus der Zeit von 1990-1780 v. Chr. beweisen. Auch die Bibel gibt über die große Bedeutung der Linse als Nahrungsmittel der alten Hebräer Auskunft: Esau verkaufte sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht, Adam aß nach Abels Tod Linsen, bei Abrahams Totenmahl wurden Linsen gegessen. Hebräer und Moslems aßen sie zum Gedenken an Abrahams Gastfreundschaft und Tod. Auch heute noch sind Linsengerichte in manchen Gegenden eine Trauerspeise.

GETREIDE/WEIZEN/AUSZUGSMEHL Der Weizen ist wie die Linse eine der ältesten Kulturpflanzen und wird seit der Jungsteinzeit angebaut. Aus den drei Arten Einkorn, Emmer und Dinkel wurden die heute bekannten Unterarten Saatweizen und Hartweizen gezüchtet. Weizen ist heute als wichtigste Getreideart das bedeutendste Brotgetreide und auf der ganzen Welt verbreitet. Er gedeiht am besten im mittleren, warmen Klima auf feuchten, lehmhaltigen Böden und ist das ganze Jahr über verfügbar. Funktion in der Speisenfolge: Ihm kommt die Rolle des Beständigen, Verlässlichen zu. Tatsächlich bildet das Getreide in unserem Kulturkreis das Fundament der Ernährung. Man kann ihn deshalb auch als das zweite Hauptelement der Speisenfolge bezeichnen. Er kommt in jedem Gang vor – in Form und Konsistenz verschieden – je nachdem, welche Bedeutung der Gang einnimmt und welchen Stellenwert der Weizen im Verhältnis zu den anderen Zutaten hat. In der ersten Hälfte der Speisenfolge zeigt er sich als fester Körper (Spätzle), der, dem Fleisch in nichts nachstehend, den Zähnen Widerstand bietet: eine Art Kräftemessen der beiden Hauptthemen. Beide, Fleisch und Getreide, dominieren den mitteleuropäischen Speisenbau. Interessant ist die Tatsache, dass die Spätzle in fleischarmen Gegenden oder in fleischlosen Gerichten allgemein fester hergestellt werden. Völlig anders gibt sich der Weizen im dritten Gang: Zurückhaltend, luftig und leicht lässt er dem in Form einer Sülze verfeinerten Geschmack des Fleisches und dem frischen Salat den Vortritt. Unzählig verwandelbar, wird er zum Abschluss in Verbindung mit Milch als weicher Brei serviert. In jedem Teil der Speisenfolge kommt der Weizen vor – mal im Vordergrund, mal im Hintergrund, mal als Hauptdarsteller oder als Statist.

Geschichtlicher Hintergrund: Auch der Weizen war in der vorindustriellen Zeit in Europa hohen Herren und Damen vorbehalten. Weißbrot mit seiner feinen Struktur und weißen Farbe gab es nur für Menschen mit feinen Tätigkeiten. Menschen, die grobe Arbeit verrichteten, aßen grobes, von der Oberflächenbeschaffenheit raues Essen. Heute würde eine traditionell orientierte Familie niemals ein Roggenbrot oder Vollkornprodukte anstelle des Weizens an einem Festtag verwenden. Das weiße Brot gilt immer noch als das feinere.

EIER/GANZE HÜHNEREIER Für das Kochen ist das Ei von entscheidender Bedeutung – in Mitteleuropa sogar fast unentbehrlich. Es besitzt eine feste Größe und dient für viele Rezepte als Mengenmaß auch der anderen Zutaten. Das Ei ist die wandlungsfähigste Zutat in der Küche: in rohem Zustand flüssig, durch Hitze fest. Es lässt sich in jede gewünschte Form bringen und beeinflusst und verändert unterschiedliche Speisen in ihrer Konsistenz. Funktion in der Speisenfolge: Eier kommen in der Speisenfolge nur einmal im Spätzleteig vor. Optisch sind sie als solche nur an der leichten Gelbfärbung der Spätzle wahrnehmbar, und auch geschmacklich dominieren sie die Speise nicht, dem Kau- und Beißsinn jedoch verraten sie ihre Präsenz, indem sie den Spätzle die richtige Konsistenz geben. Das Mengenverhältnis der Eier zum Mehl bestimmt, wie bissfest die Spätzle werden. Der hohe Eieranteil im Spätzleteig ist kein Ausdruck von Wohlstand, sondern zeigt das Bestreben, das Getreide mit dem Fleisch im Mund annähernd gleichzustellen. Geschichtlicher Hintergrund: Vor etwa 5000 Jahren wurde in Südostasien das Haushuhn aus dem wilden Bankiva-Huhn gezüchtet. Die Römer brachten domestizierte Hühner nach West- und Mitteleuropa. Im Mittelalter nahmen sich vor allem die Mönche der Kultur der Hühnerhaltung an. Karl der Große verbreitete um 800 das Huhn per Gesetz unter den Bauern. So zählt es seit Jahrhunderten zum typischen Bauernhof-Inventar und ist bis heute wichtiger Fleisch- und Eierlieferant.

MILCH/KUHMILCH Milch ist die Nahrung für das Kälbchen. In den letzten Jahrzehnten hat sie bei einem Großteil der europäischen Bevölkerung durch Umwandlung zu künstlich entfetteten Pulvern die menschliche Muttermilch ersetzt. Ganz frisch wird sie in der Küche hauptsächlich für süße Speisen oder Breie verwendet. Besonders Kinderspeisen werden gerne mit Milch gekocht. Milch wird deshalb immer mit Kindheit in Verbindung gebracht. Die Verfügbarkeit von Kuhmilch setzt Weideflächen bzw. Futteranbau voraus. Funktion in der Speisenfolge: Ihrem Image als Kinderspeise wird sie auch in der Speisenfolge gerecht. Zusammen mit dem Weizen zu einem ganz leicht gesüßten Brei verkocht, aber kalt serviert, markiert sie den Schluss der Speisenfolge mit einem völlig neuen Geschmacks- und Kauerlebnis ohne Anstrengung.

SALAT BZW. GEMÜSE/ACKERSALAT Der gemeine Feldsalat ist eigentlich ein einjähriges Wildkraut, anzutreffen auf Äckern und an Wegrändern, aber auch kultiviert im Hausgarten. Funktion in der Speisenfolge: Der Ackersalat ist die einzige rohe Zutat der Speisenfolge. Um seine knackige Eigenschaft nicht zu verlieren, muss er gleich nach der Ernte geputzt und sofort nach dem Anmachen gegessen werden. Er übernimmt zwei Funktionen: Er symbolisiert die Jugend und damit das Bewusstsein der Vergänglichkeit und zeigt die aktuelle Jahreszeit an, in der die Speisenfolge gegessen wird. Ackersalat wird von Anfang Oktober bis Ostern geerntet. Die Speisenfolge gehört also zur kalten Jahreszeit. In bäuerlichen Haushalten war der Ackersalat oft das einzige Gemüse, das während dieser Periode zur Verfügung stand.

OBST/STEINFRUCHT/KIRSCHEN Sauerkirschen – bereits im Frühsommer reif – werden mit Zucker und Luftabschluss bis zu zwei, drei Jahre haltbar gemacht, wobei ihre Farbe jährlich dunkler wird. Funktion in der Speisenfolge: Die Kirschen bringen gedanklich die Bilder der Erinnerung an den Hochsommer in die Speisenfolge und fügen als letzten landschaftlichen Bereich die Streuobstwiese oder den Obstgarten hinzu. Geschmacklich erzeugen sie eine Spannung zwischen dem sanften (Baby-)Brei und dem fruchtigen, aromatischen Sauer-Süßen. Geschichtlicher Hintergrund: Die Konservierung von Lebensmitteln ist Sinnbild der Sesshaftigkeit des Menschen. Möglichst lange im Jahr frisches Obst vorzuhalten gehörte teilweise zur standeswürdigen Reputation. Tiefkühltruhen und die heute gegebene Verfügbarkeit fast aller Lebensmittel über das ganze Jahr hinweg haben dazu beigetragen, dass das Geschmackserlebnis von mit Zucker Eingemachtem allmählich verschwindet.

137

Slow Food Carlo Petrini

Ende der 1980er Jahre gründete eine Gruppe inspirierter Gastronomen in der kleinen piemonteser Ortschaft Bra eine Bewegung, die sich für den Schutz und das Recht auf Genuss einsetzt. Das Slow-Food-Manifest ist von der Kritik an der 138

Geschwindigkeit unserer seelenlosen Welt der Maschinen und Schwerindustrie gekennzeichnet. Die junge Gruppe aus Bra setzt den zeitgenössischen Lebensmodellen eine neue Lebensphilosophie entgegen, die darauf abzielt, dass der Mensch sich wieder langsamere Lebensstile mit gutem Essen bei netter Gesellschaft aneignet. Slow Food bedeutet ein Akt der Rebellion gegen eine Zivilisation, die, gegründet auf den sterilen Konzepten der Produktivität, der Quantität und des Massenkonsums, Gewohnheiten, Traditionen, Lebensweisen und letztendlich die Umwelt zerstört.

Die Antwort auf diese Themen war eine sich langsam verbreitende Bewegung, die mit den ihr innewohnenden politischen, sozialen und ökonomischen Themen schließlich Millionen von Menschen erreicht hat. Tatsächlich lässt sich 20 Jahre später feststellen, dass die Bewegung mit all ihren diversen Aspekten dazu beigetragen hat, die ursprüngliche geniale Idee zu konsolidieren, dass eine lebenswerte Zukunft nur möglich ist, sofern sie dem Nachhaltigkeitsprinzip entspricht und für jedermann Freude bringend ist.

Wir wissen inzwischen, dass die Nachhaltigkeit die einzig tragbare Antwort auf die komplexe, systemische und kontroverse Welt von heute ist. Es mag einfach sein, Konzepte zu vertreten, die mit der Zeit Allgemeingut geworden, wenn nicht sogar missbraucht worden sind, denkt man an die Grünen, die den Gedanken der Nachhaltigkeit seit bald 30 Jahren mit wenig Erfolg proklamieren. Schwieriger wird es, jene virtuosen Mechanismen in Gang zu setzen, welche Ideen in Realität verwandeln und sie gleichzeitig mit immer neuem Leben speisen. Diese Bezüge herzustellen und ein sich selbst befruchtendes, wachsendes Wissen als Basis für neue Impulse und tragfähige Projekte weiterzutragen ist heute die Aufgabe von Slow Food. Für ein besseres Verständnis lohnt es sich, einige Etappen des Werdegangs von Slow Food ins Gedächtnis zu rufen.

Die Geschichte von Slow Food beginnt mit der heftig diskutierten Eröffnung des ersten Restaurants der McDonald’s-Kette in Rom an der Piazza di Spagna in den 1980er Jahren. An einem der schönsten Orte Italiens, Vorzeigestück unseres Landes in der ganzen Welt, wurde es zum Symbol des Eindringens einer fremden Kultur, Überbringer einer nivellierenden und produktionsfördernden Haltung. Die Piazza di Spagna und die Idee des Schönen, die von den Treppen und den umliegenden histori-

schen Palästen ausgeht, wurden von Schaufenstern und vergoldeten Ms vergewaltigt, von denen ein ominöser Gestank von ungesundem Frittiertem herzloser Speisen ausströmt. Der gute Geschmack, die Freude am Schönen waren von der bedrückenden Präsenz des großen, gelben Ms bedroht, dem Symbol der Kette. Die Gründer von Slow Food wollten nicht vor einer scheinbar unausweichlichen Gegebenheit resignieren. Vielmehr versuchten sie, den Menschen nahe zu bringen, dass der Reichtum Italiens und der Welt in der Kultur und den örtlichen, über Jahrhunderte gewachsenen Traditionen begründet liegt. Ausgehend von Vorstellungen, die zunächst nichts mit Nahrungsmitteln zu tun hatten, stützte sich die Bewegung auf einen ebenso einfachen wie vergessenen Gedankengang: dass unser Essen Kultur ist. Eine lebendige Kultur aber wird von den Regeln des Geschmacks, in Harmonie mit den Jahreszeiten, bestimmt, sie entspricht der vielschichtigen Unterschiedlichkeit des Territoriums und verändert sich mit den geschichtlichen Ereignissen. Es bedurfte wenig, dass dieser Gedanke sich weit verbreitete; im Jahre 1986 entstand die italienische Vereinigung und bereits 1989 richtete sich Slow Food mit einem Kongress in Paris international aus.

Die ersten Jahre dienten dazu, Persönlichkeiten und Studenten der Gastronomie zu mobilisieren, die damals kaum beachtet wurden. Es ging darum, Produzenten aufzuspüren, die mit Herz und Seele ihre Produkte herstellten. Diese Produkte wurden später Gegenstand von Degustationen, sie wurden auf Märkten und Messen präsentiert und in Zeitungsartikeln und Buchpublikationen vorgestellt. Dies alles, um der Öffentlichkeit die Idee einer notwendigen Vielfalt anstelle der Gleichförmigkeit nahe zu bringen, um die Bedeutung des Details gegenüber dem schnellen Verzehr eines Mahles in einem sterilen Lokal klar zu machen und um aufzuzeigen, wie wichtig es ist, einen Käse und seine Herkunft, die verschiedenen Stadien seiner Herstellung und die Orte, in denen er gereift ist, zu kennen.

Später bildeten sich die ersten Initiativen für eine Erziehung des Geschmacks, und zwar für Erwachsene und für Kinder. Dazu gesellten sich Veranstaltungen, auf denen man Lebensmittelraritäten finden konnte. Es entstand ferner das Projekt der „Arche des Geschmacks“. Bildlich gesprochen haben wir auf der rettenden Arche alle jene Produkte aufgenommen, die vor dem Aussterben bedroht waren, bedrängt von einer Wirtschaft, die für sie keinen Platz ließ: Käse, Würste, Gemüse, Früchte, Fleischsorten. Es wurden historische Untersuchungen durchgeführt, Fischer, Viehzüchter und Bauern interviewt, welche diese rar gewordenen Produkte hatten überleben lassen, und sie wurden fotografisch dokumentiert. Darüber hinaus bemühte Slow Food sich darum, die Produzenten gemeinsam mit Tierärzten und Landwirten zu einer Vereinigung zusammenzuschließen, Produktionsrichtlinien aufzustellen, eigens entwickelte wirtschaftliche Strategien auszuarbeiten und effiziente Allianzen herzustellen: So entstanden die Slow-Food-Vorsitze, Bollwerke der Biodiversität.

Über gastronomische Produkte und Traditionen hinaus bedeutete die kulturelle Revolution der internationalen Vereinigung sozusagen den Übergang vom Teller auf das Feld. Der Genuss einer Speise impliziert ein Wissen, aber auch eine Geisteshaltung sowie besondere und unwiederbringliche Erlebnisse. Alles ist Teil unseres Lebens. Einen tiefgekühlten Fisch im fünften Stockwerk eines Gebäudes zu essen ist eben etwas ganz anderes, als ihn am Meeresufer nach regionalen Gewohnheiten zubereitet und gewissermaßen unter den Augen des Fischers zu verzehren. Es geht um eine ganzheitliche Qualität der Nahrungsmittel. Marvin Harris prägte den weisen Spruch, „gut zum Essen, gut zum Denken“. In den Worten des Bauerndichters Wendell Berry bedeutet dies: „Essen ist ein bäuerlicher Akt.“ Konkret wird für Slow Food das Essen damit zu einem politischen Akt, der diejenigen auszeichnet, die für eine nachhaltige Entwicklung, die Erhaltung der Landschaft, die Wahrung der Traditionen, die Verteidigung der Umwelt sowie für Biodiversität, für den Respekt vor Identität und für soziale Gerechtigkeit eintreten.

In der Speise vereint sich die gesamte Welt. Es vereint sich in ihr unsere über Jahrhunderte entwickelte Zivilisation, die heute in ihrer Vielfalt von der Industrialisierung ernsthaft bedroht ist. Jede Speise muss die umfassende Qualität eines Produktes enthalten. Was aber heißt Qualität eines Lebensmittels? Für Slow Food ist ein Lebensmittel von guter Qualität, sofern es drei Kategorien erfüllt: es muss gut, sauber und gerecht sein. Dabei ist jede der drei Kategorien gleich wichtig, keine von ihnen darf fehlen. Gut heißt in diesem Zusammenhang wertvoll, vom biologischen wie vom sinnlichen Standpunkt her gesehen. Sauber bedeutet nachhaltig, das heißt, ein Produkt muss mit Techniken hergestellt sein, welche die Ökosysteme und Böden nicht gefährden, welche die Biodiversität respektieren und die ein gesundes Lebensmittel erzeugen. Daneben gibt es auch eine soziale Nachhaltigkeit, die beachtet werden muss. Diesen Aspekt beinhaltet das dritte Element „gerecht“. Nahrung muss

139

ethisch nachhaltig sein. Die Methoden der Herstellung dürfen keine Ausbeutung der beteiligten Produzierenden bedeuten. Es braucht angemessene Preise, und zwar angemessen nicht nur für die Konsumenten, sondern auch für die tatsächlich Produzierenden, deren Überleben von der Herstellung abhängt und die für ihre Arbeit eine sozial und ökonomisch gesehen angemessene Belohnung erhalten sollen.

Gut, sauber und gerecht: drei an sich einfache Kategorien. Allerdings mögen sie die Auswahl wirklich qualitätsvoller Produkte stark einschränken. Dennoch sollte die Nahrung unbedingt diesen drei Kategorien gerecht werden. So gesehen wird die Gastronomie zu einer ganzheitlichen Wissenschaft, welche Landwirtschaft, Ökonomie, politische und soziale Wissenschaften, Anthropologie, Ingenieurskunst etc. mit einschließt. Dementsprechend wird die Nahrung zur Synthese von Wissenschaft und Tradition. Im Namen der neu definierten Qualität, die dem guten Geschmack, der sozialen Gerechtigkeit und der Umwelt gerecht wird, formt sich die Basis für eine umfassende Qualität, deren Kriterien sich auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Aspekte übertragen lassen – als Motor eines Lebensstils, der Traditionelles wie alte musikalische Weisen, Tänze oder Dialekte wieder aufnimmt. Tatsächlich spricht man von slow life, von einer Lebenshaltung slow, wenn man etwas bezeichnen will, dass nicht folkloristisch ist, sondern der Folklore entsprechend aus dem Volke kommt, im Sinne der Kultur des Volkes, des Volkswissens. Das Wissen des Volkes, das über Jahrhunderte des Ausprobierens, des Experimentierens und des konzeptionellen Erprobens gereift ist, steht an der Basis einer neuen Kultur, die eng mit der Realität der Dinge verbunden ist. Slow Food heute ist verantwortungsvolle Praktik, nämlich die Wiedergewinnung des Guten vergangener Zeiten sowie eine sinnvolle Haltung gegenüber den modernen Wissenschaften, die nicht vergessen darf, dem Menschen zu Diensten zu stehen. In diesem Sinn ist slow eine adäquate Haltung gegenüber den Dingen der Welt, deren Ressourcen notwendigerweise erhaltenswert sind, hat sie doch zu tun mit der Wirtschaft, der internationalen Zusammenarbeit und der territorialen Projektierung.

Slow Food setzt sich für den kleinen Maßstab ein, für die menschliche Dimension, für den Dialog und für Verpflichtungen, für die Qualität der Dinge. Slow Food steht für Rationalität und Schlichtheit, ohne zu vergessen, dass Seriosität nicht Traurigkeit bedeutet. Mit den Worten des italienischen Sängers Vinicio Capossela: „Die Langsamkeit ist aristokratisch und die Nobilität ist obligatorisch“. Der gute Geschmack ist all dies: Wie man lebt, wo man lebt und warum man lebt. 140

Sandro Botticelli: Das Hochzeitsfest, 1483

141

Besuch im Le Manoir oder ein kulinarisch-architektonisches Gesamtkunstwerk Petra Hagen Hodgson

Ein schnurgerader, steinerner Weg, üppig mit Lavendel gesäumt, führt uns eingehüllt in betörenden Duft zum stattlichen englischen Landhaus aus dem 15. Jahrhundert, dem Restaurant und Hotel Le Manoir aux Quat' Saisons, etwas außerhalb von Oxford gelegen. Raymond Blanc, der Hausherr, begrüßt uns herzlich in seinem winzigen, unscheinbaren Büro unter dem Dach des Anbaus, den man als solchen erst auf den zweiten Blick erkennt. Denn in seiner architektonischen Sprache ist er eng an das Bestehende angelehnt. Fast zwei Stunden redet Raymond Blanc enthusiastisch von seiner Kindheit in einem kleinen Dorf bei Besançon, seinem Werdegang, seiner Vision, seinem Haus. Ganz nebenbei erklärt sich damit die Entstehung seines Lebenswerkes: das idyllische Gesamtkunstwerk Le Manoir.

„Bei uns zu Hause war der Tisch das Herz des Hauses, das Zentrum der Familie. Hier wurde geredet, gegessen, gestritten, gelacht. Sonntags waren wir immer bis zu 15 Personen. Wir Kinder durften nicht aufstehen, mussten bei den langen 142

Diskussionen über Politik und Religion dabei sein, warteten sehnsüchtig auf die Krönung des köstlichen Mahls, auf die mousse au chocolat.“ Raymonds Großmutter besaß einen großen Garten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten. Sie war in der Gegend für ihre selbst destillierten Liköre bekannt, kochte gut und erfindungsreich, seine Mutter auch. Der Uhrmacher-Vater lehrte ihm Präzision und Beharrlichkeit. Eigenhändig baute der Vater das Haus für die Familie. Nebenbei war er ein passionierter Hobbygärtner. Der Sohn musste immer zur Hand gehen. Er lernte, Beton zu mischen, Holzbalken fürs Dach zu sägen, den Garten umzugraben, zu wässern, zu ernten. Aus den nahegelegenen Wäldern der kargen Landschaft – der Landschaft, mit der Le Corbusier aufgewachsen ist – brachten sie die Früchte der Jahreszeiten nach Hause, fischten Bachforellen, fingen Frösche und sammelten Schnecken. Einen Kühlschrank hatte die Familie nicht. Die Frauen kochten ein. Im Keller reihten sich die Gläser voll köstlicher Verheißung. Der junge Raymond lernte eine tiefe Verbundenheit mit der Natur, den Jahreszeiten und den essenziellen Dingen des Lebens. Später wurde er in die Welt rationalen Gemüse- und Obstgarten des Le Manoir

Denkens geworfen, machte sein Abitur und landete

todunglücklich auf der Technischen Hochschule von Besançon. Im Alter von 20 Jahren suchte der junge Mann nach seiner Bestimmung: „Mathematisches Denken war nicht meine Sache, aber ich wusste: Jeder von uns hat ein Talent, meines musste ich nur finden. Egal, was ich tue, Hauptsache, ich mache es mit ganzer Seele.“ Er probierte alles Mögliche, auf das Kochen kam er durch Zufall. Auf der Place de Victor Hugo mitten in Besançon befindet sich das Restaurant Palais de la bière. Diese Bühne menschlicher Gemeinschaftlichkeit zog Raymond magisch an. Hier, unter Bäumen auf dem Stadtplatz und im intimeren Innern bei Kerzenschein, tat sich das romantische Bild französischen öffentlichen Lebens auf. Monatelang wusch Raymond Blanc im Palais de la bière die Gläser ab und polierte sie, bis sie glänzten, erlernte den Umgang mit Gästen und arbeitete sich zum Demi Chef de rang hoch. Nachts kochte er für seine Freunde, mehrmals die Woche. Das war seine eigentliche Schule. „Sein Handwerk zu können“, sagt Raymond Blanc heute, „ist Voraussetzung für alles. Ideen und Kreativität allein genügen

Das prächtige Landhaus Great Milton Manor

nicht. Man braucht eine Struktur, ein solides Fundament, eine Basis, auch wenn ihr Erlernen oft sehr langweilig ist.“ Nach England verschlug es ihn, um die Sprache zu lernen. Hier durfte er im Restaurant Rose Revived in Newbridge an den Kochherd und schärfte seinen Geschmack. Sein erstes eigenes Restaurant machte er 1977 in Oxford neben einem Geschäft für Damenunterwäsche und einem Secondhand-Laden der Heilsarmee auf. Innerhalb kürzester Zeit wurde es weit bekannt und bekam den ersten Michelin-Stern, dann den zweiten. Fünf Jahre später kaufte er, mit finanzieller Hilfe von Freunden, das etwas verwahrloste Landhaus Great Milton Manor. Mit unerbittlicher Zielstrebigkeit, Sinn für Handwerklichkeit und einer ausgesprochenen Freude, für andere Menschen da zu sein, Gastfreundschaft zu leben, baute er das Haus vor allem in Zusammenarbeit mit der Innenarchitektin Emily Todhunter zu einem der führenden Hotels und Restaurants ganz Englands auf.

Immer ist Raymond Blanc seine kulinarische Erinnerung aus der Kindheit zum Maßstab seiner eigenen Kochkunst geblieben, auch wenn er heute auf einer anderen Ebene kocht. „Die Kochkunst meiner Mutter basiert auf der Frische der Zutaten. Sie besteht aus einer einfachen, bekömmlichen Küche mit einem klar strukturierten Geschmack. Oft wird der Fehler begangen, die alltägliche Küche mit der haute cuisine zu vergleichen. Beide Küchen können hervorragend sein – ein guter Koch vorausgesetzt. Beide sind aber ebenso wenig vergleichbar wie Agatha Christie mit Oscar Wilde, die Rolling Stones mit Hector Berlioz, die Architektur eines einfachen Wohnhauses mit der einer Kathedrale. Die handwerklich gefertigte Alltagsküche bietet einen direkten, einfachen Genuss. Haute cuisine bedeutet mit feinster Handwerklichkeit, großem Talent und kühner Imagination entstandene, kulinarische Raffinesse. Sie erlangt scheinbare Einfachheit durch Komplexität, Harmonie durch Polarität und Freiheit in der Einschränkung. Selbstverständlich ist für sie genauso wie für jegliche Kochkunst die ausgezeichnete Qualität des verwendeten Materials absolute Voraussetzung.“ Durch die massiv einsetzende Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion nach 1945 konnten in England viele Bauernhöfe der scharfen Konkurrenz nicht standhalten und mussten ihre Produktion aufgeben. Raymond Blanc unternahm in den 1980er Jahren oft vergebliche Bemühungen, die rechten Zutaten für seine Küche zu finden.

Er besann sich auf den Nutzgarten seiner Großmutter und baute die 30 Morgen Land, die zu seinem Landsitz gehörten, zu einem großen, nach organisch-biologischen Prinzipien gehaltenen Gemüse- und Obstgarten aus. Inzwischen liefert dieser mit mehr als 90 verschiedenen Gemüsesorten und 70 Kräuterarten während acht Monaten im Jahr alle im Restaurant verwendeten pflanzlichen Zutaten. „Zuerst jedoch musste ich die apathische Einstellung der Gärtner ändern, bevor ich den Garten aufbauen konnte.“ Nach Jahren der Rationalisierung, Standardisierung und einer erschreckenden Reduzierung der Sortenvielfalt von Frischeprodukten glaubt Raymond Blanc heute an eine allmähliche Rückbesinnung auf grundlegende Werte. Er meint, dass die Menschen inzwischen genug haben von geschmacklosen Paprikas, unreifen Birnen, verseuchten Eiern und fad

143

schmeckendem Fleisch aus der Massentierhaltung. Er ist sich sicher, dass die alarmierende Verfettung der Gesellschaft, die Skandale um BSE und andere Zivilisationskrankheiten im Zusammenhang mit Fehlernährung allmählich wieder ein wachsendes Bewusstsein für qualitätsvolle, gesunde und zugleich schmackhafte Nahrung schärfen werden. Das zeigen allein schon die zunehmenden Reportagen über kulinarische Themen in Presse und Fernsehen. Für Blanc steht es außer Frage, dass eine „Fermentierung“ in alle soziale Schichten stattfinden wird. Längerfristig sieht er die Wiedergeburt lokaler Produktion kommen, die nicht mehr am shareholder value orientiert ist, sondern den Wünschen der kritisch-informierten Konsumenten entspricht. Blanc, der von der entscheidenden Bedeutung einer guten Erziehung fest überzeugt ist, finanziert ein NachwuchsStipendium, schreibt preisgekrönte Kochbücher und hat im Le Manoir eine Kochschule aufgebaut. Der moderne Mensch möchte keine elaborierten, reichgeschmückten Torten mehr bauen. Es fehlt ihm die Zeit, um komplizierte Füllungen für Pilze herzustellen. Schwere Saucen und überladene geschmackliche Stofflichkeit mag er nicht essen. In Blancs Schule geht es deshalb um grundlegende Handwerkskunst, Materialkunde, das Gespür für reine Geschmacksrichtungen, Einfachheit, Zeitmanagement, Organisation, gesunde Lebensweise. Sind die einzelnen Speisen eines Menus gut aufeinander abgestimmt, sind sie nicht nur kulinarisch schmackhaft, sondern zugleich auch gut bekömmlich.

Der Sorge um den negativen Einfluss der Globalisierung im Hinblick auf eine weltweite Nivellierung des Geschmacks und einen Verlust an traditionsgebundener, regionaler Küche steht er gelassen gegenüber. Wenn Blanc Zitronengras in seiner Küche verwendet, das er in seinem Garten angepflanzt hat, dann empfindet er das als Inspiration, als Erforschung unentdeckter Welten. Einst war die Gedeckter Tisch mit Vorspeise im Le Manoir

144

Kartoffel für Europäer eine exotische Frucht, der heute allgegenwärtige Pfeffer ein fremdes Gewürz. Voraussetzung ist die Verwurzelung

in der eigenen Tradition, das Zu-Hause-Sein in der eigenen Kultur. Auch wenn Blanc Cardamonsamen, Chillischoten, Ingwer oder Turmeric verwendet, bleibt Le Manoir doch ganz französisch. Gewürze wie Kräuter aromatisieren eine Speise. Sie sollten nach Blanc mit Bedacht verwendet werden, damit sie nicht plötzlich den Geschmack überdecken, den sie eigentlich verstärken wollten. „Kochen“, sagt Raymond Blanc, „folgt zwar Regeln und Maßverhältnissen, es ist jedoch keine Wissenschaft, sondern eine Mischung aus Erfahrung, Intuition und Kreativität.“ Die strengen Regeln eines Escoffier schafften Konformität. Gegen sie wandte sich die Nouvelle Cuisine, für die eine Scheibe Kiwi auf jedem Teller „Leichtigkeit“ und „Originalität“ symbolisierte. Die Nouvelle Cuisine degradierte das Kochen aber von einer Kunst des Geschmacks zu einer Kunst für das Auge. „Wie die moderne Architektur hat die Nouvelle Cuisine die Wurzeln vom Baum getrennt. Dabei hätte sie den Baum nur trimmen müssen, um besser wachsen zu können.“

145

Gewürze auf dem Gewürzmarkt in Istanbul

Architektur backen Ian Ritchie

Wir sind weder Roboter noch Halb-Roboter. Wir sind Menschen. Wir haben Sinne. Doch wenige Architekten scheinen bewusst mit ihnen zu entwerfen – abgesehen vom Sehsinn, vom Klang und, bis zu einem gewissen Grad, vom Tastsinn. Dabei sollte die ästhetische Dimension alle unsere Sinne mit einschließen – nicht nur die klassischen fünf, sondern auch ein Gefühl für die Mechanismen der Balance und für innere Sensoren wie den Druck. Indem wir Dinge erkennen, die uns gefallen, bringen wir mehrere Sinne zugleich ins Spiel. Eine Speise kann visuelle Freude bereiten, aber wir müssen auch die Textur spüren, das Aroma schmecken, die Temperatur fühlen und vor allen Dingen den Geruch in der Nase haben, um sie voll genießen zu können – oder auch nicht. Beraubt man den Menschen seines Geruchssinns, verliert er das Interesse am Essen.

Wissen, handwerkliches Können und Verstand sind wesentliche Vorraussetzungen für die Imagination von Bauwerken. Für mich spiegelt das Aufkommen der Nouvelle Cuisine mit ihren leichten, eleganten und einfachen Speisen die Entwicklung einer architektonischen Richtung, die sich um einen minimalistischen, konstruktiven Ausdruck von Druck und Spannung und der einzelnen, die Bauwerke bestimmenden Bauteile bemüht – folglich verstanden als stilistischer Ausdruck von Technologie. Der Bruch mit der Tradition auf vielen Gebieten unserer Kultur – Theater, Musik, Malerei, Bildhauerei, Schriftstellerei, Kochkunst – hat uns heute einen reichen Pluralismus beschert. Die utopischen Träume aus dem 20. Jahrhundert mögen zwar tot sein, 146

doch sicher nicht das Bedürfnis, das Zeitgeschehen zu erkunden und nach besseren Lösungen für eine breitere Bevölkerungsschicht zu suchen. Wir erfreuen uns heute einer weitreichenden Freiheit im kreativen und persönlichen Ausdruck. Nach traditionellen ästhetischen Kriterien beurteilt ist keiner besser als der andere. Das heißt aber nicht, dass eine Ausdrucksform unsere Sinne mehr begeistern kann als eine andere. Jedoch kann dies sehr oberflächlich sein, insofern als uns etwas in einer eher egoistischen Weise mehr oder weniger amüsiert oder gefällt.

In meinem konzeptionellen Denken war ich immer offen für eine Synthese von Kunst, Wissenschaft, Technik, Landschaft und Wirtschaftlichkeit, gekoppelt an ein Umweltbewusstsein und einen Sinn für Soziales. Seit zwei Jahrzehnten suche ich nach Möglichkeiten in der Architektur, um den Verbrauch an Energie bei der Herstellung von Produkten zu reduzieren. Auf der Suche nach weniger energieintensiven Herstellungsmethoden arbeite ich eng mit der Industrie zusammen. Mein Architekturbüro forscht ständig nach neuen Lösungen für eine Verbesserung des bauphysikalischen Verhaltens von Gebäuden verbunden mit einer geringeren Abhängigkeit von einer komplizierten Haustechnik. Wir entwerfen stets mit der Absicht, dass unsere Gebäude von der Umgebung profitieren und positiv zum städtischen wie auch landschaftlichen Kontext beitragen. Derzeit bin ich auch auf der Suche nach neuen Lösungen, um den Unterhalt von Gebäuden entscheidend zu senken. Das hat mich dazu geführt, natürlich alternde und zerfallende Materialien mit einer langen Lebensdauer zu verwenden. Diese schließen gehauenen, nicht maschinell hergestellten Stein (Gabione), natürlich oxidierten Stahl (Cort-ten®) und Terrasson Cultural Greenhouse, Terrasson-la-Villedieu, 1992

gewebtes Drahtgeflecht ein, um den Materialverbrauch zu

verringern. Zudem verwende ich andere Materialien, die uns bisher qualitativ als nicht architekturwürdig genug erschienen, wie das nachhaltig wiederverwendbare Sperrholz. Wir verwenden gerne Materialien, die weniger industriell bearbeitet sind, weil damit der Energieverbrauch bei der Verarbeitung, die Kosten und der Unterhalt verringert werden können – wie beispielsweise beim Terrasson Cultural Greenhouse von 1992. Die Idee, den Produktionsaufwand von Architektur zu verringern, gefällt

mir. Mein Ziel, neue Wege für die Architektur zu finden sowie bessere Lösungen im weitesten Sinne, lässt mich immer wieder neue Kombinationen von Materialien und Herstellungstechniken ausprobieren. Alle diese Vorstellungen und Zutaten müssen letztendlich an größeren wirtschaftlichen Zusammenhängen, an Fragen der Effizienz und an den ästhetischen Werten der Gesellschaft, in der wir Architektur „herstellen“, gemessen werden. Das wirft für mich die Frage auf, in welcher Weise eine bestimmte Gesellschaft oder die globale Gesellschaft sich wohl entwickeln wird? Kochen als Analogie unterstützt die historische Vorstellung von Örtlichkeit – von Ort und Region. Eine Beziehung zwischen Architektur und Kochen kann deshalb hergestellt werden, weil beide sich aus der lokalen Kultur heraus entwickelt haben und diese zugleich bestimmen. Jedoch seitdem die Eisenbahn den meisten Menschen zur Verfügung steht, hat sich deren Ortssinn unermesslich verändert. Hieraus mag wohl die Tendenz in der heutigen Architektur erwachsen sein, in Selbstdarstellung (und unterschiedlichen Richtungen) zu schwelgen – ohne Bezug zu einer Region oder einem bestimmten Ort.

Gibt es eine Synthese von Wissenschaft und Ethik, gekoppelt an das menschliche Bedürfnis nach uneigennützigem Selbstausdruck, die zu einem neuen Paradigma in der Architektur und im Städtebau führen könnte? Damit würde es jener oberflächlichen und egoistischen Architektur entgegenstehen, die es meiner Meinung nach heute zuhauf gibt. Ein intelligenter, unprätentiöser und sozial orientierter architektonischer Ausdruck, der wunderbare und geistig erhebende Bauwerke zu erzeugen vermag, sollte in der Lage sein, die Aufsehen erregenden architektonischen und ingenieurmäßigen Gymnastikübungen auszuschalten. Hierin liegt eine echte Herausforderung angesichts eines unstillbaren Hungers nach dem „Neuen“, dem „Anderen“ und dem „Außergewöhnlichen“, der das derzeitige architektonische Geschehen ebenso beherrscht wie die Wirtschaft – meiner Ansicht nach eine überholte Vorstellung von Fortschritt aus der sogenannten entwickelten Welt. In diesem Zusammenhang habe ich mir ein paar grundlegende Fragen überlegt, in Bezug darauf, was wohl die wichtigen „Zutaten“ guter Architektur in Zukunft sein könnten. Dreien möchte ich in diesem kurzen Essay nachgehen.

147

1. Wie formt unser intellektuelles Erbe unsere Handlungsweisen?

Ich glaube, dass unser derzeitiges Unbehagen, mit offensichtlichen Widersprüchen leben zu müssen, in der unglücklichen Trennung zwischen Körper und Seele, zwischen Geist und Materie im westlichen Denken begründet liegt, d.h. in einem homo sapiens der einen Weg finden muss, um einen aus dem Fahrwasser geratenen homo faber und homo consumeris zu zähmen. Anstatt uns mit der Natur eins zu fühlen, haben wir uns seit den alten Griechen dahingehend entwickelt, dass der Mensch sich gänzlich über die Natur gestellt hat. Diese unglückselige Trennung zeigt sich bezeichnenderweise in dem Versuch des Bauhauses, Schönheit und Vernunft, Kunst und Technologie, Freiheit und Notwendigkeit miteinander zu integrieren. In anderen Gesellschaftsformen gab es keine derartige Trennung. Der Buddhismus oder der Taoismus beispielsweise kennen sie nicht. Ihre Denkart integriert das zyklische Wesen von Veränderungen, etwas, das der Westen meiner Meinung nach vermehrt in seiner Lebensweise verinnerlichen sollte und somit auch im architektonischen Denken.

Technologische Innovation war immer die treibende Kraft hinter jeder Entwicklung. Der Spruch aus den 1960er Jahren, „Technologie ist die Antwort, was war die Frage?“, mutierte in den 1990er Jahren zu „Architektur ist die Antwort, was war die Frage?“. Meiner Meinung nach tut uns eine derartige Vereinfachung keinen Gefallen. Eine Architektur, die sich um die Verbesserung der Umwelt und um unser Wohlergehen bemüht, ist ein komplexeres Unterfangen. Es geht dabei nicht um Stile oder Moden oder um eine mimetische Architektur, die neueste, in der Natur vorgefundene Muster nachahmt, sondern darum, das Beste aus den verfügbaren Ressourcen zu machen. Diese Ressourcen – Menschen, Land, Wasser, Luft, Materialien, Licht und Energie – sind die wesentlichen Elemente der zukünftigen Architektur. Sie intelligenter zu nutzen – umweltverträglich, sozial und ästhetisch – sollte meiner Meinung nach dazu dienen, eine zivilisiertere Welt zu schaffen.

Der Kontext dieser Ressourcen variiert. Der Anthropologe Stanley Diamond betrachtet die Zivilisation als ein System in innerem Disequilibrium; Technologie, Ideologie oder soziale Organisation sind seiner Auffassung nach immer miteinander im Widerspruch. Dies trägt zur Idee von Fortschritt bei. Gerade deshalb ist es so eine Herausforderung, eine bessere Zukunft zu entwerfen. Zugleich stellt diese Vorstellung zur Debatte, wie wir die enormen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, verwenden – die Volkswirtschaft, die als Mittel betrachtet werden sollte, die Ressourcen der Erde besser zu managen, anstatt sie als ein mechanistisches Mittel zur Ausnutzung einzusetzen; die Politik und die Richtung, in die sie die Gesellschaft (vermehrt als eine globale zu verstehen) drängen kann, und schließlich die Technologie in ihrer wahren Bedeutung und ihrem eigentlichen Wert.

Das Paradigma, auf das ich mich beziehe, ist demnach mehr als ein bloßer architektonischer Stil und mehr als eine übliche Vorstellung von nachhaltigem Bauen. Mit diesem Paradigma sollte im Blick behalten werden, dass unsere Welt heute schon unvorstellbar urbanisiert ist, dass in ihr Geld mehr zählt als Menschen und es in ihr keine wirklich überzeugende Vorstellung einer für alle gleichermaßen gültige Humanität gibt. Für uns, die wir in ökonomisch starken nachindustriellen Gesellschaften leben, ruft das neue Paradigma nach einem fundamentalen Wandel im Denken, im Umgang miteinander und in der Art und Weise, wie wir Dinge entwerfen und herstellen. So wie wir handeln, so entsteht Kultur. Unsere Welt wird immer dichtNatural History Museum, Ecology Gallery, London, 1989

gedrängter. Um unsere Städte bewohnbar zu erhalten, muss der Architekt die indirek-

ten und versteckten Dimensionen (Licht, Klang, Gerüche etc.) besser verstehen lernen und mit in den Entwurf einbeziehen. Die zukünftige Qualität unseres Lebens hängt entscheidend von diesen versteckten Dimensionen ab, gekoppelt mit jenen die sichtbar sind. Wir müssen unsere Städte auf der Mikro-Ebene richtig planen.

1989 haben wir die Ecology Gallery im Londoner Natural History Museum entworfen. Dies war das erste Mal, dass ich bewusst versucht habe, andere Bereiche als nur das Sehen und den Schall anzusprechen und giftige Materialien zu vermeiden. Die kristallinen, weißen Glaswände suggerieren eine sehr zerbrechliche Umwelt. Die Scheiben wurden so aufgehängt, dass eine Resonanz entsteht, wenn man sie anklopft. Der Boden des Eingangs wurde mit weichem, wieder verwertetem Gummi ausgelegt. Jede Brücke hat eine andere taktile Oberfläche – eine Wiederspiegelung der menschheitsgeschichtlichen Manipulation von Materialien wie Holz, Metall und Glas. Ein doppelläufiges Kirschholzgeländer ist das einzige verbindende Element. Seine haptische Oberfläche ist nach den Dimensionen der Hand und des Unterarms geformt.

2. Wie denken wir heute?

Unser individuelles und kollektives Denken ist eingezwängt zwischen einem moralischen Umfeld voll bürokratischer Regeln und Verordnungen, die uns vorschreiben, wie wir zu handeln (und zu entwerfen) haben, und einem moralischen Vakuum, in das internationale Vereinigungen an Stelle unseres Gewissens treten und uns lediglich die Einbezahlung einer gelegentlichen Spende in eine Sammelbox oder einen Briefumschlag für Amnesty International oder Greenpeace abverlangen. Ironischerweise sind wir heute für unser Leben weniger verantwortlich als früher. Im Westen sind wir das Produkt unseres eigenen wirtschaftlichen Denkens geworden, bis zu dem Punkt, dass man wirtschaftlichen Vorteil daraus ziehen kann, unverantwortlich zu handeln, dass man sich nicht um andere oder die Umwelt zu kümmern braucht, dass das meiste Geld von denen verdient wird, die uns unterhalten, oder von denen, die am besten spekulieren. Der Niedergang der einzigen lebenslangen Beziehung – der Familie – paart sich mit einer zunehmend vertraglich geregelten und prozesssüchtigen sozialen Welt. Das Leben ist anstrengend und die meisten Menschen können ihre Lebensweise weder wählen noch steuern. All dies führt zu Entfremdung und Vereinsamung. Nicht im Sinne, dass es keine Menschen um uns herum gäbe, sondern in dem Sinne, dass wir mehr sind als nur ein paar mit Blut gefüllte Adern, die von Knochen und Haut zusammengehalten werden. Wir sind Gefäße, die einen Lebensgeist beinhalten, aus dem sich für uns ein Sinn des Lebens erklärt, ein Lebenssinn, der uns ein Gefühl für den Reichtum des Lebens, ein Gefühl von Bedeutung und von Wert vermittelt. Wie also können wir uns neu orientieren, um voranzuschreiten, und wie kann die Architektur dazu beitragen?

3. Wie handeln wir als Entwerfer?

Ich glaube, dass es für die Architektur entscheidend ist, wie wir Architekten ausgebildet werden. Lassen wir die Zutaten für einen Moment beiseite. Die 149

meisten Architekten werden heute als reine Entwerfer über das design-critSystem (regelmäßige Entwurfsbesprechungen, bei denen die Studenten ihre Entwürfe vor den Professoren und Mitstudenten präsentieren und verteidigen müssen) ausgebildet. Hierbei wird meiner Meinung nach allzu oft eine egoi-

Stockley Business Park, London, 1988

stische, aggressive Haltung und eine defensive Pose bei Architekten entwickelt, ja geschürt. Anstatt sich ein genaues Wissen über den sozialen Kontext, über Materialien, Konstruktionstechniken, die Verwendung des Lichtes, kurz über das, was Architektur ausmacht, anzueignen und anstatt ein Gefühl für einen gemeinsamen Weg zu entwickeln – kurz, das Entdecken, Aufbauen und Zusammenfügen zu lernen, isoliert der design-crit den Einzelnen mehr und mehr in eine konkurrenzbetonte, unkooperative Meister-Gehilfe-Beziehung. Es braucht Jahre, um sie wieder loszuwerden. Aber nur dann kann echter Respekt für andere entwickelt werden, einschließlich dem Respekt für den Wert einer Gemeinschaft, für die der Architekt die gebaute Umwelt schafft. Neben anderen Architekten zu arbeiten ist etwas anderes, als mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ich bin überzeugt davon, dass wir unser Können viel intelligenter einsetzen müssen, als unsere Welt mit egoistischen Architekturen zu verschandeln, die sich weder um ihr Umfeld und ihren Einfluss auf die Umwelt, noch um die wahren Bedürfnisse der Menschen kümmert. Als Entwerfer sollte uns bewusst sein, dass wir eine moralische Verpflichtung viel mehr Menschen gegenüber haben, als nur gegenüber unserem Zahlmeister, einschließlich der Verpflichtung für das langfristige Wohlergehen unserer Umwelt.

Ein Großteil der Architektur wird heute allein für das Auge entworfen. Unseren anderen Sinnen schenken wir viel zu wenig Beachtung – ebenso unserem intellektuellen Bewusstsein für soziale und ökologische Verantwortung. Licht ist das Material der Architektur, mit dem wir am besten entwerfen können und durch das wir am besten die Natur des Raumes, die Beschaffenheit von Oberflächen, die Stofflichkeit, Farben und Formen wahrnehmen können. Normalerweise bestimmt eine Aussicht oder eine Notwendigkeit die Anordnung eines Fensters oder einer Öffnung, durch die dann das Licht in den Raum eindringt, und nicht in erster Linie die Suche nach Licht, das den Raum mit Energie durchströmt und Atmosphäre erzeugt. Ich glaube, dass die Geschichte der Architektur die Geschichte der Art und Weise ist, wie das Licht in ein Bauwerk eindringt und Formen sichtbar werden lässt. Und ich glaube, dass ein unterschiedliches kulturelles Empfinden gegenüber der Wahrnehmung von Licht zentral für Unterschiede in der architektonischen Formgebung ist. Die Frage nach dem Licht, wie es in den Raum einfällt, diesen formt und durch Schatten verändert, wird Architekten immer interessieren. So entsteht ein Zu-Hause-Sein.

Es ist diese Qualität der Zutaten und die Art und Weise ihrer Zubereitung und ihres Zusammenfügens, die das Kochen und die Architektur zu großartiger Kunst werden lässt. Denken, Schreiben oder das Entwerfen von Architektur beginnen und enden immer mit den möglichen Atmosphären, die man schaffen möchte – egal, ob sie als Teil der Stadt von außen empfunden werden oder von innen. Meine Architektur beginnt mit den Räumen, die ich in meinem Geist entwickle. Sie ist ebenso sehr aus Reflexionen, Träumen und Vorstellungen entsprungen, als aus dem Versuch, die besten visuellen Formen für meine Bauherren mit meinen Augen zu erschaffen.

Kupfer: Ein besseres Verständnis der Prozesse von der Gewinnung bis zur fertigen Kupferrolle unterstützt die Findung neuer ästhetischer Ausdrucksformen, welche die unterschiedlichen Qualitäten der Kupferionen ausnutzen, die mit der Zeit entladen, wenn der Kupfer unpatiniert, patiniert oder mit Anti-Graffitti-Mitteln behandelt wird, und wie diese Ionen sich mit den angrenzenden mineralischen Oberflächen „verzahnen“. Eine andere Form der Verwendung findet Kupfer in Phosphorbronzedrahtgeflechten. Mit diesen Drahtgeflechten wird weniger Material verwendet und die Architektur erhält weiche, haptische Qualitäten.

Stahl: Wenn Stahl natürlich oxidieren kann, wie beim Cor-ten®-Stahl, ist er zunächst grell rötlich-gelb, um langsam in ein sattes Rot überzugehen. Es ist ein Stahl, der nicht glänzend und hart erscheint, sondern eine visuelle Weichheit besitzt und praktisch keine Unterhaltsmaßnahmen beansprucht. 150 Edelstahl: Durch das Kugelstrahl-Oberflächenverfahren entsteht eine dauerhaftere und resistentere Oberfläche, und deren reflektierende Eigenschaften verändern sich. Dadurch reagiert die Oberfläche gut auf sich verändernde Lichtverhältnisse.

Metall: Die meisten Metallgebäude, die ich kenne, sind nicht so entworfen, dass der Tastsinn mitberücksichtigt worden ist, und auch nie so, dass man sich gegen das Gebäude lehnen kann. Die Ästhetik der maschinell gefertigten, kontrollierten Linie muss nicht unbedingt das einzige Resultat industriell hergestellter Metallprodukte sein. Im Plymouth Theatre Royal Production Centre haben wir Gebäude mit einer weichen, metallenen Regenschutzhaut entworfen. Herstellungsprozesse können uns weiche und weniger kontrollierte Oberflächen liefern. Materialien zu wählen, die von den Umwelteinflüssen verändert werden, ist eine ästhetische Entscheidung, die nicht nur die äußere Erscheinung des Bauwerks berücksichtigt, sondern quasi zu einer Metapher des Entwerfens mit statt gegen die Natur wird; eine Metapher dafür, dass sich langsam die Einstellung unserer unmittelbaren Vergangenheit zu ändern beginnt, nämlich dass alles, was wir kreiert haben, auch erhalten werden muss.

Gabionen: Gabionen sind in Käfige eingesperrte Steine. Sie vermitteln ein Gefühl von Nicht-Linearität. Es ist eine nicht repetitive Form von Steinen, eine Ansammlung individueller Fragmente der gleichen geologischen Zeitspanne, die durch ein Drahtgeflecht zusammengehalten wird. Das Drahtgeflecht selbst hat ein Muster, mit dem die Steine in Kontrast stehen. Es ist strukturiert aber willkürlich zugleich. Keine zwei Käfige gleichen visuell einander. Die frühesten bekannten Gabionskonstruktionen wurden zur Befestigung der Nilufer vor fast 7000 Jahren verwendet. Das Gabionensystem hat sich von aus Schilfrohr geflochtenen Körben bis hin zu konstruierten, aus Drahtgeflecht hergestellten Käfigen entwickelt. Der anhaltende Reiz der Gabionen liegt in der ihnen innewohnenden Flexibilität. Gabionskonstruktionen geben zwar den Erdverschiebungen nach, behalten jedoch ihre Effizienz bei und verlieren nicht ihre statischen Eigenschaften. Sie reagieren völlig anders als steife oder halbsteife Tragkonstruktionen, die schon bei kleinsten Veränderungen im Fundament katastrophal versagen können. Die Effizienz von Gabionskonstruktionen steigt mit dem Alter, anstatt sich zu verringern. Gabionskonstruktionen sind ein Produkt des Entwerfens mit der Natur.

151

Bermondsey U-Bahnstation Ventilationsschacht, London, 1998

Crystal Palace Concert Platform, London, 1996

Plymouth Theatre Royal, 1997

Centro de Arte Reina Sofia, Madrid, 1989

London Regatta Centre Club- and Boathouse, 1993

Biografien

Renate Breuß, geb. 1956 in Hohenems, Österreich. Freischaffende Kunst- und Kulturhistorikerin; seit 1999 Lehrbeauftragte für Kultur und Design an der Fachhochschule Vorarlberg, Studiengang Mediengestaltung; Seminar- und Vortragstätigkeit mit zahlreichen Veröffentlichungen zu alltagskulturellen Themen; zu ihren Publikationen gehören Franz Reznicek. Bauten und Projekte der Moderne, Innsbruck 1995; Das Maß im Kochen, Innsbruck 1999; Die Entwicklung der Küche in der Architektur, in: Brennpunkt Küche: planen, ausstatten, nutzen, Feldkirch 2001; eigen + sinnig. Der Werkraum Bregenzerwald als Modell für ein neues Handwerk, München 2005.

Gion Caminada, geb. 1957 in Vrin, Schweiz. Ausbildung zum Bauschreiner; Besuch der Kunstgewerbeschule; Nachdiplom152

studium Architektur an der ETH Zürich; eigenes Architekturbüro in Vrin; seit 1998 Assistenzprofessor und Dozent für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich; zahlreiche Bauten vor allem in Vrin, u.a. eine Totenstube, Ställe, Gemeindebauten, Wohnhäuser; diverse Auszeichnungen, u.a. Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden 1994 und 2001 und der internationale Architekturpreis Sexten Kultur 2006; Ausstellungen, u.a. Cul zuffel e l’aura dado im Kunsthaus Chur 2006.

Peter Davey, geb. 1940 in Cleckheaton/Yorkshire, Großbritannien. Architekturkritiker und Historiker; 1980-2005 Redakteur der Londoner Architekturzeitschrift The Architectural Review. Zahlreiche Publikationen, u.a. Architecture of the Arts and Crafts Movement, London 1980; Heikkinen & Komonen, 1994; Arts and Crafts Architecture, London 1995; Peter Zumthor, Copenhagen 1998; Engineering for a Finite Planet. Sustainable Solutions by Buro Happold, Basel, Berlin, Boston 2007; zahlreiche Beiträge in internationalen Architekturpublikationen.

Barbara Ettinger-Brinckmann, geb. 1950 in Oberbruch-Grebben, Deutschland. Architektin; 1974-1975 Wissenschaftliche Mitarbeiterin Städtebauliches Institut Universität Stuttgart; 1975-1977 freie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Gesamthochschule Kassel, Mitarbeiterin am Amt für Denkmalpflege Stadt Kassel; 1977-1980 Mitarbeiterin im Büro für Bedarfsplanung/Arbeitsgruppe Nutzungsforschung, Kassel; seit 1980 freischaffende Architektin, 1980-1992 Partnerin im Büro für Bedarfsplanung/Arbeitsgruppe Nutzungsforschung mit Prof. Peter Jokusch und Manfred Hegger (bis 1989), Kassel; seit 1993 Büro ANP – Architektur und Nutzungsplanung, Kassel, seit 1994 Partnerschaft mit Michael Bergholter; 1997-2002 Vorsitzende der BDA-Gruppe Kassel, Mitglied des BDA-Landesvorstands; Initiatorin und seit 1998 Vorsitzende des Kasseler Architekturzentrums im Kulturbahnhof; 2000-2004 Vizepräsidentin der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen; seit 2004 Präsidentin der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen.

Onno Faller, geb. 1965 in Karlsruhe, Deutschland. 1989-1995 Studium von Film und Kochen als Kunstgattung bei Professor Peter Kubelka, Hochschule für Bildende Künste Städelschule Frankfurt am Main; seit 2001 freie Speisenkuratorin und Köchin; 1999-2001 Lehrbeauftragte an der Städelschule und Leiterin der Kochwerkstatt; Lehraufträge zum Thema Kochen als Kunstgattung an der FH Mainz, der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich 2003, der Jan van Eyk Akademie Maastricht 2003-2004; 2002 Gründung der Kochwerkstatt, Gesellschaft für Kochen als Kunstgattung; seither zahlreiche Vorträge, Ausstellungen und Kochveranstaltungen, Forschungsarbeiten und Seminare zum Thema Kochen als Kunstgattung.

Annette Gigon, geb. 1959 in Herisau, Schweiz. 1984 Diplom ETH Zürich, 1984-1989; Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros, daneben 1987-1989 eigenes Büro; seit 1989 gemeinsames Büro mit Mike Guyer; 2001-2002 Gastdozentin an der EPF Lausanne; zahlreiche Bauten u.a. Kirchner Museum, Davos; Erweiterung des Kunstmuseums, Winterthur; Erweiterung und Renovation Sammlung Oskar Reinhart, Winterthur; Museum Carl Liner, Appenzell; Archäologisches Museum und Park in Bramsche-Kalkriese Osnabrück; Museum Albers/Honegger, Mouans-Sartoux, Frankreich; derzeitige Projekte u.a. Umbau Kunstmuseum Basel; Bürohochhaus Prime-Tower, Zürich; Neubauten für das Verkehrshaus der Schweiz, Luzern; neben zahlreichen Ausstellungsbeiträgen Einzelausstellungen, u.a. Werkstoff, Architekturgalerie Luzern 1993; gebaut nicht gebaut, architektur forum Zürich, Dezember 2004-Februar 2005; zahlreiche Preise u.a. Fritz-Schumacher-Preis der Alfred Toepfer Stiftung 2002; wichtige Publikationen über Gigon/Guyer Architekten: Gigon Guyer Architekten/Arbeiten 1989-2000, Sulgen 2000; Annette Gigon Mike Guyer 1989-2000, Madrid 2000.

Andreas Hartmann, geb. 1952 in Freiburg im Breisgau, Deutschland. Seit 1998 Professor für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität Münster; Promotion 1984 mit der Arbeit Freiburg 1900. Zum städtischen Selbstbewusstsein der Jahrhundertwende, Habilitation 1998 mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Arbeit zum Verhältnis von Kulturforschung und Gedächtnisanalyse. Neben einer Vielzahl an Arbeiten unterschiedlicher kultur- und ideengeschichtlicher Thematik diverse empirische Untersuchungen, u.a. Grenzgeschichten. Berichte aus dem deutschen Niemandsland (gemeinsam mit Sabine Künsting 1990) und Zungenglück und Gaumenqualen. Geschmackserinnerungen 1994; seit einigen Jahren bilden die soziokosmologischen Austauschprozesse im Zeitalter der Globalisierung einen zusätzlichen Schwerpunkt; Forschungen und Aufbau des Living-Silk-Projektes in Nordost-Thailand.

Petra Hagen Hodgson, geb. 1957 in Palo Alto, CA, USA. Aufgewachsen in Varese, Italien; Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich; 1987-1990 Lehrbeauftragte für Geschichte der Architektur an der University of Hong Kong und 1990-1994 diverse Lehraufträge an der Hochschule für Gestaltung in Zürich; seit 1995 freie Architekturkritikerin, zahlreiche Veröffentlichungen, Buchpublikationen u.a. Städtebau im Kreuzverhör. Max Frisch zum Städtebau der fünfziger Jahre, Baden 1986; Korrespondentin der Schweizer Architekturzeitschrift Werk, Bauen und Wohnen; Architekturfotografin; Public Relations; seit 2000 Beraterin der Akademie der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen; Konzeption und Leitung von internationalen Symposien.

Wilhelm Klauser, geb. 1961 in Stuttgart, Deutschland. Studium der Architektur in Stuttgart und Paris; Promotion in Berlin; von 1992 bis 1998 in Tokio, dann bis 2003 in Paris; seither in Berlin; Architekt und Autor; Publikationen zu Architektur und Stadt im In- und Ausland; Lehraufträge u.a. in Japan, Frankreich und Deutschland; 2003 Gründung von InitialDesign – InD; arbeitet in Berlin und in Paris.

153

Peter Kubelka, geb. 1934 in Wien, Österreich. Künstler und Theoretiker; Arbeit mit Film, Kochen, Musik, Architektur; Kommunikation einer nicht wortgebundenen Weltanschauung durch Veranstaltungen mit Beispielen zum Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken; Musikstudium; Avantgardefilmmacher seit 1952; ab 1957 Metrische Filme; 1964 Mitbegründer und Direktor des Österreichischen Filmmuseums; 1966 Film Unsere Afrikareise; seit 1966 Lehrtätigkeit in den USA; 1970 Mitbegründer der Anthology Filmarchives in New York; Entwurf und Realisierung eines Idealkinos: The Invisible Cinema; seit 1978 an der Hochschule für Bildende Künste Städelschule in Frankfurt am Main, wo seit 1980 zum erstenmal an einer Kunsthochschule das Kochen als vollgültige künstlerische Disziplin anerkannt und gelehrt wird; 1979-1999 Professor für Film und Kochen als Kunstgattung an der Städelschule. Seither weltweit Veranstaltungen, die ganzheitlich alle kulturellen Erscheinungen einschließen.

Stanislaus von Moos, geb. 1940 in Luzern, Schweiz. Kunsthistoriker; 1983-2005 Professor für moderne Kunst an der Universität Zürich; unterrichtet seit 2005 an der Accademia di architettura, Mendrisio, Schweiz; Verfasser von zahlreichen Büchern, u.a. Le Corbusier, Elemente einer Synthese, Frauenfeld 1968 und Cambridge, MA 1978ff; Turm und Bollwerk, Zürich 1974; Venturi, Scott Brown & Associates. Buildings and Projects, New York, München 1987, 2. Band New York 1999; Industrieästhetik, Disentis 1992; Fernand Léger: La Ville. Zeitdruck, Großstadt, Wahrnehmung, Frankfurt am Main 1999; Le Corbusier Before Le Corbusier (hrsg.mit Arthur Rüegg), New Haven, London 2001; Nicht Disneyland. Aufsätze über Modernität und Nostalgie, Zürich 2004.

Ákos Moravánszky, geb. 1950 in Székesfehérvár, Ungarn. Seit 1996 Professor für Architekturtheorie am Institut gta der ETH Zürich; 1989-1991 Research Associate am Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica und 19911996 Visiting Professor am Massachusetts Institute of Technology; 2003-2004 Visiting Professor an der Universität für angewandte Kunst in Budapest als Szent-Györgyi Fellow; zu seinen zahlreichen Publikationen gehören Die Erneuerung der Baukunst: Wege zur Moderne in Mitteleuropa, Salzburg 1988; Competing Visions: Aesthetic Invention and Social Imagination in Central European Architecture, 1867-1918, Cambridge, Mass. 1998; Räumlinge: Valentin Bearth & Andrea Deplazes, Luzern 1999; Architekturtheorie im 20. Jahrhundert: Eine kritische Anthologie, Wien, New York 2003. 154

Paul von Naredi-Rainer, geb. 1950 in Knittelfeld, Österreich. Seit 1988 ordentlicher Professor für Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck; von 1976 bis 1988 Leiter des Rheinischen Bildarchivs (Museen der Stadt Köln); zu seinen wichtigsten Buchpublikationen gehören Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 1982, 7.Aufl. 2001; Salomos Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer, Köln 1994; Entwurfsatlas Museumsbau, Basel, Berlin, Boston 2004.

Fritz Neumeyer, geb. 1946 in Bahrdorf bei Helmstedt, Deutschland. Seit 1993 Professor für Architekturtheorie an der Technischen Universität Berlin; 1992 John Labatoot Professor for Architecture and Urbanism, Princeton University; 19891992 Professor für Baugeschichte an der Universität Dortmund; Gastprofessuren am Southern California Institute of Architecture, Santa Monica; der Graduate School of Design, Harvard University; an der Architekturfakultät der Universität Leuven; am Institut d´Humanitats de Barcelona und der Universidad de Navarra, Pamplona; 1988-89 Research Fellow am Getty Center for the History of Arts and the Humanities, Santa Monica; zu den wichtigsten Buchveröffentlichungen gehören Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin 1986; Friedrich Gilly 1772-1800. Essays on Architecture, Santa Monica 1994; Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen, Berlin 2001; Quellentexte zur Architekturtheorie, München 2002.

Carlo Petrini, geb. 1949 in Bra/Piemont, Italien. Journalist; lebt und arbeitet in Bra; Gründer und Präsident der internationalen Slow-Food-Bewegung; Organisator und Schirmherr von zahlreichen Gastronomieveranstaltungen wie Cheese, Salone del Gusto oder Terra Madre; Herausgeber des Verlages Slow Food Editore, der mit Büchern wie Vini d’Italia bekannt wurde; weitere Buchpublikationen in anderen Verlagen wie Le ragioni del gusto, Laterza 2001; Buono, pulito e giusto. Principi di nuova gastronomia, Enaudi 2005; Unterstützer von Produzenten in Entwicklungsländern; Initiator der ersten Hochschule des guten Geschmacks, der Università del gusto; zahlreiche Preise für journalistische Tätigkeiten, u.a. für die Zeitschrift Slow, Messaggero di Gusto e Cultura, den Utne Reader Alternative Press Award 2001, den australischen Preis Jacob’s Creek Gold Ladle 2003; 2000 Gewinner des Preises Communicator of the Year Trophy der International Wine and Spirit Competition, den Premio Sicco Mansholt für ein neues nachhaltiges Landwirtschaftsmodell; 2003 Ehrendoktor für kulturelle Anthropologie der Universität Istituto Universitario Suor Orsola Benincasa von Neapel; 2004 Eckart Witzigmann Preis der Deutschen Akademie für Kulinaristik.

Udo Pollmer, geb. 1954 in Himmelpforten, Deutschland. Lebensmittelchemiker, Publizist und Unternehmensberater. 19911999 Lehrbeauftragter an der FH Fulda; seit 1995 Wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften e.V. (EU.L.E.). Zahlreiche Publikationen in Printmedien und Sendungen in Hörfunk und TV; Bücher u.a.: Iß und stirb – Chemie in unserer Nahrung, Köln 1982 (mit E. Kapfelsperger); Prost Mahlzeit – Krank durch gesunde Ernährung, Köln 1994 (mit A. Fock, U. Gonder, K. Haug); Liebe geht durch die Nase – Was unser Verhalten beeinflusst und lenkt, Köln 1997 (mit A. Fock, U. Gonder, K. Haug); Lexikon der populären Ernährungsirrtümer, Frankfurt am Main 2001 (mit S. Warmuth); Lexikon der Fitness-Irrtümer, Frankfurt am Main 2003 (mit G. Frank, S. Warmuth); Esst endlich normal!, München 2005; Food Design: Panschen erlaubt, Stuttgart 2006 (mit M. Niehaus).

Ian Ritchie, geb. 1947 in Hove, Großbritannien. Architekturbüro Ian Ritchie Architects in London und Mitbegründer der Firma Rice Francis Ritchie für Design- und Ingenieurberatung in Paris; Gastprofessuren in Wien, Moskau und Leeds und an der Architectural Association in London, Royal Academy of Arts Professor of Architecture in London; zahlreiche Bauten in ganz Europa u.a. Reina Sofia Museum für Moderne Kunst, Madrid; Glashalle der Leipziger Messe; Skulpturenhöfe und Pyramiden im Louvre, Paris; La Villette Cité des Sciences, Paris; Jubilee U-Bahn Station Bearmondsey, London; Regatta Centre, London; The Spire, Dublin; Royal Shakespeare Courtyard Theatre; Publikationen u.a. Connected Architecture, Ian Ritchie, Berlin, London 1994; The biggest glass palace in the world, Ian Ritchie & Ingerid Helsing Almaas, New York 1997; Alessandro Rocca: Ian Ritchie, Technoecologia, Milano 1998; Plymouth Theatre Royal Production Centre, London 2003; The Spire London 2004; The RSC Courtyard Theatre London 2006, The Leipzig Book of Drawings London 2006; zahlreiche nationale und internationale Preise und Ausstellungen.

Claudio Silvestrin, geb. 1954 in Zürich, Schweiz. Studium bei A.G. Fronzoni und an der Architectural Association in London; seit 1989 eigenes Architekturbüro in London; sein gestalterisches und architektonisches Werk umfasst die Gestaltung von Dingen des täglichen Lebens, kommerzielle und private Innenraumgestaltungen, Kunstgalerien und Museen, sowie private Einfamilienhäuser und Einfamilienhäuser für Projektentwickler; derzeit planen Claudio Silvestrin Architects eine 40.000 m2 große Anlage in Cearà in Brasilien mit Hotel, Wellness-Center und Villen; Bauherren sind u.a. Giorgio Armani, illycaffé, Anish Kapoor, Calvin Klein, Fondazione Sandretto Re Rebaudengo, Kanye West; Publikation: Franco Bertoni, Claudio Silvestrin Basel, Boston, Berlin 1999.

Rolf Toyka, geboren 1950 in Krefeld, Deutschland. Dipl.-Ing. Architekt; Architekturstudium an der TU Braunschweig und der ETH Zürich; Tätigkeit als Architekt in verschiedenen Architekturbüros; fünf Jahre Stadtbaumeister in Geestacht bei Hamburg; Lehraufträge an diversen Hochschulen in den Fachbereichen Architektur/Innenarchitektur (insgesamt acht Jahre); seit 1987 Leiter der Akademie der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen; Herausgeber/Autor zahlreicher Buchveröffentlichungen; Mitwirkung in verschiedenen Beiräten, u.a. Beirat für Städtebau und Architektur der Landeshauptstadt Wiesbaden.

155

Abbildungsnachweis Rolf Toyka/Barbara Ettinger-Brinckmann: Vorwort S. 6 Petra Hagen Hodgson S. 7 Jean-Luc Valentin, Architekturbüro Jo Franzke Petra Hagen Hodgson: Einleitung Alle Abbildungen: Petra Hagen Hodgson Peter Kubelka: Architektur und Speisenbau S. 16 VG Bild-Kunst, Bonn 2006, Foto: Petra Hagen Hodgson Alle weiteren: Petra Hagen Hodgson Paul von Naredi-Rainer: Maß und Zahl in der Architektur S. 23 (c) FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2006 Alle weiteren: Archiv des Autors Renate Breuß: Das rechte Maß im Kochen S. 30 60.215 – bpk Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Scala S. 31 Bruno Klomfar S. 32 Kunstgeschichtliches Institut Universität Frankfurt am Main S. 35 Petra Hagen Hodgson S. 37 Archiv der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen, aus: C.H. Baer: Moderne Bauformen. Monatshefte für Architektur und Raumkunst, Stuttgart 1919

156

Annette Gigon: Werkstoffe, Farbstoffe S. 38, 40, 42, 44, 45 Heinrich Helfenstein S. 39 Arazebra Fotographie Helbling & Kupferschmid S. 41 oben und rechts unten: Petra Hagen Hodgson; links unten: Gaston Wicky S. 43 oben Heinrich Helfenstein; unten Harald F. Müller S. 46, 47 Petra Hagen Hodgson S. 49 Serge Demailly Fritz Neumeyer: Der heimische Herd S. 57 Archiv des Autors S. 58 51.483 – bpk Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Paris, Musée d'Orsay / RMN / Foto: Gerard Le Gall / Hervé Lewandowski Alle weiteren: Petra Hagen Hodgson Stanislaus von Moos: Fastengebote und Entgleisungen des Begehrens S. 63-65 (c) FLC / VG Bild-Kunst, Bonn 2006, Vorlagen: Archiv des Autors S. 69 Venturi Scott Brown and Associates S. 71 Stefan Müller Alle weiteren: Archiv des Autors Ákos Moravánszky: Die Reproduzierbarkeit des Geschmacks S. 72 Nicolas Hodgson S. 70 Siemens AG S. 78 Stuttgarter Gesellschaft für Kunst und Denkmalpflege e.V., Foto: Franz J. Much S. 81 Nicolas Hodgson Alle weiteren: Archiv des Autors Gion Caminada: Sinnhafte Architektur in einer globalisierten Welt Alle Abbildungen: Lucia Degonda Andreas Hartmann: Der Esser und seine Ahnen S. 97 Alinari 2006 / Artothek Alle weiteren: Archiv des Autors

Peter Davey: Heim und Herd S. 100 Leo C. Curran S. 103 Germanisches Nationalmuseum S. 104 The Royal Pavilion, Libraries & Museums, Brighton & Hove S. 105, 108 Elektra Bregenz AG S. 109 Roland Halbe Alle weiteren: Archiv des Autors Wilhelm Klauser: Vom Pot au feu zum Processed Food S. 111 RIBA Library Drawings Collection S. 115 Archiv der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen S. 116 Siemens AG S. 117 MoshMosh AG, Foto: Stefan Minx Alle weiteren: Petra Hagen Hodgson Udo Pollmer: Die Globalisierung des Geschmacks Alle Abbildungen: Petra Hagen Hodgson Claudio Silvestrin: Über das Wesentliche in der Architektur Alle Abbildungen: Matteo Piazza Onno Faller: Die Speisenfolge S. 129 Rathaus von Raon l’Étape S. 130 oben Archiv Petra Hagen Hodgson S. 130 unten Archiv Onno Faller S. 131 Schema Onno Faller Alle weiteren: Petra Hagen Hodgson Carlo Petrini: Slow Food S. 141 Bridgeman Berlin Alle weiteren: Petra Hagen Hodgson Petra Hagen Hodgson: Besuch im Le Manoir oder ein kulinarisch-architektonisches Gesamtkunstwerk Alle Abbildungen: Petra Hagen Hodgson Ian Ritchie: Architektur backen S. 148 Natural History Museum S. 151 oben rechts Ian Ritchie Alle weiteren Abbildungen: Jocelyne van den Bossche, Ian Ritchie Architects Ltd. S. 157 Petra Hagen Hodgson Wir haben uns intensiv bemüht, die Rechte für die einzelnen Abbildungen zu verfolgen und zu wahren. Sollte es trotzdem zu unbeabsichtigten Versäumnissen gekommen sein, entschuldigen wir uns bei Fotografen, Organisationen, Architekten und Enwerfern im Voraus und würden uns freuen, die passende Anerkennung in einer folgenden Ausgabe einzusetzen.

157