Transformation im ländlichen Raum: Ein Ökodorf und seine Wirkung in der Region [1. Aufl.] 9783658312749, 9783658312756

Anne-Kathrin Schwab befasst sich mit der Entstehungsgeschichte, den Errungenschaften und den Herausforderungen des Leben

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German Pages XXV, 401 [412] Year 2020

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Transformation im ländlichen Raum: Ein Ökodorf und seine Wirkung in der Region [1. Aufl.]
 9783658312749, 9783658312756

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXV
Front Matter ....Pages 1-1
Klimawandel und gesellschaftlicher Wandel (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 3-8
Die multiple Krise (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 9-35
Energieeffizienz und Suffizienz im ländlichen Raum (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 37-52
Darstellung und Reflexion der Methode (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 53-83
Front Matter ....Pages 85-85
Fallbeschreibung und Entwicklungsgeschichte (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 87-145
Beobachtungen in der Gemeinschaft (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 147-325
Das Ökodorf in der Region (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 327-361
Diskussion mit dem Forschungsstand (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 363-376
Fazit und Ausblick (Anne-Kathrin Schwab)....Pages 377-383
Back Matter ....Pages 385-401

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Anne-Kathrin Schwab

Transformation im ländlichen Raum Ein Ökodorf und seine Wirkung in der Region

Transformation im ländlichen Raum

Anne-Kathrin Schwab

Transformation im ländlichen Raum Ein Ökodorf und seine Wirkung in der Region Mit Geleitworten von Prof. Dr. Declan Kennedy und Prof. Dr. Gustav Bergmann

Anne-Kathrin Schwab Universität Vechta Vechta, Deutschland Das vorliegende Buch wurde im Juni 2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen als Dissertation angenommen. Siegen, Univ., Diss., [2018]

ISBN 978-3-658-31274-9 ISBN 978-3-658-31275-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31275-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Für Meinen Vater, Dr. Reiner Schwab (*23. April 1955, † 15. Mai 2004) Meinen Lehrer, Prof. Dr. Trutz von Trotha (*16. September 1946; † 18. Mai 2013) und Meinen Sohn, Jaron Benneth Reynir Schael (*04.04.2015)

Danksagung Ich möchte all den Menschen danken, die mir während meiner Forschung mit so viel Offenheit und Freiwilligkeit begegnet sind, die ich interviewen und beforschen durfte, die sich mir immer freundlich, offen und herzlich gezeigt haben und ich sie sehr schätzen gelernt habe. Meiner Mutter, Ute Schwab-Reckel und ihrem Partner Manfred Bühner möchte ich danken, dass sie mich so stark unterstützt haben in den schwereren und leichteren Zeiten, die während des Schreibens dieser Arbeit auf mich zukamen. Ich danke euch für all die Hilfe, die ihr mir immer wieder entgegenbringt. Sehr herzlich danke ich Prof. Dr. Christoph Strünck, meinem Doktorvater, der mich von Anfang an in dieser Doktorarbeit begleitet und unterstützt hat. Mich in dem Vorhaben gestärkt und mir immer wieder die Freiheit geschenkt hat, diese Arbeit zu schreiben, mich außerdem immer wieder angehört und beraten hat. Ich danke von ganzen Herzen Prof. Dr. Sigrid Baringhorst, dass sie mich im Endspurt dieser Arbeit unterstützt und mir so viel herzliches Vertrauen entgegengebracht hat. Vielen Dank für die Annahme der Zweitprüfung. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Volker Wulf für das Lesen, Mut machen und Wohlwollen, sowie zahlreiche Unterstützung. Ich möchte mich außerdem bei Prof. Dr. Thomas Scheffer, Prof. Dr. Karin Schittenhelm, Prof. Dr. Thomas Klatetzki, Jochen Bonz und zahlreichen UnterstützerInnen aus den verschiedenen Kolloquien und Forschungswerkstätten bedanken. Vielen herzlichen Dank für das intensive Lesen und Kommentieren von Prof. Dr. Niko Paech, Petra Winnefeld, Claus Seibt und Jens Martignoni. Prof. Dr. Gustav Bergmann danke ich für all die Geduld, für unsere vielen philosophischen und weniger philosophischen Gespräche, für seine Freundschaft und für all die Aufs und Abs, die wir miteinander schon durch gemacht haben und uns so immer besser kennen gelernt haben.

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Danksagung 

Ganz besonders danke ich den Erzieherinnen aus der Flexiblen Kinderbetreuung und den Betreuerinnen der Krabbelstube der Uni Siegen, den Tagesmüttern, wie Gabriele Schmidt und den Erzieherinnen des Kindergartens Urspringen für ihre Leistung und Unterstützung bei der Betreuung meines Sohnes. Auch der Familie Fischer und Weinfurter möchte ich für ihre Unterstützung danken. Ohne all diese liebevollen und geduldigen Menschen hätte ich nie die Ruhe und Zeit gefunden, meine Gedanken zu sammeln, um mich zu fokussieren, mit so einem kleinen Räuber… Stefan Schael möchte ich danken, dass er die Kraft hatte, mich immer wieder frei zu lassen, um dieses Werk zu vollenden. Last but not least danke ich Steffen Emrich für den Anschub zum letzten Schliff, für seine Kompetenz, für sein Herz und seinen Verstand, für seinen langen Atem und seine Energie, Dinge zu Ende zu bringen, für all das was ich von ihm gelernt habe und lerne und all die Stunden vor dem PC. Danke.

Zum Gendern Aus Lesefreundlichkeit sind nicht in allen Fällen beide (oder alle möglichen Formen) angegeben worden, die jeweils nicht genannten Formen sind jedoch beim Lesen mitzudenken.

Zur Anonymisierung der Daten: Das hier vorliegende Werk ist eine Ethnographie. Die Forscherin hat sich in dem beschriebenen Feld mehrere Monate, mit Unterbrechungen fast drei Jahre aufgehalten. Die Dorfethnographie des vorliegenden Falles ist einzigartig und somit auch spezifisch für diesen Fall. Alle genannten Namen und Kürzel sind Pseudonyme und mit den betroffenen Personen abgesprochen. Vermutlich werden sich die Gemeinschaftsmitglieder erkennen oder es können bekannte Personen des öffentlichen Lebens aufgefunden werden. Das lässt sich bei interessierten und nachforschenden Lesern nicht vermeiden. Daten aus nicht selbst produzierten Quellen, also aus Öffentlichkeitsarbeitsmaterial oder der Gemeinde werden wie angegeben zitiert. Alle Zitate und Feldnotizen konnten von den betroffenen Personen gegengelesen werden.

Geleitwort 1 Als langjähriger Ökodorfbewohner, Permakulturalist und Mitbegründer des Global Ecovillage Networks (GEN) bin ich mit einer starken Vision und Intention in eine derartige Gemeinschaft gezogen: es muss sich etwas verändern in der Welt und wir packen es JETZT an. Abstrakt darüber reden bringt uns auch nicht weiter, wir müssen endlich etwas tun. Diese Dissertation nun betrachtet recht kritisch unser gemeinschaftliches Zusammenleben, deckt Herausforderungen und Konflikte auf, in denen wir uns selbst begegnen. Manchmal wirkt es grotesk, mit und über was wir uns auseinandersetzen. Manchmal aber auch sind wir im Kleinen mit den Problemen der Welt konfrontiert, versuchen diese zu verstehen und zu lösen. Das Leben in einem Ökodorf, in einer intentionalen Gemeinschaft ist eine Entscheidung, die viel Mut und Kraft bedarf. Politik betreiben wir täglich mit dem, was wir tun und wie wir leben. Wir sind Experten im Ausprobieren von innovativen Entscheidungsfindungsstrategien, Experten darin, über unsere Gefühle zu sprechen und Experten in vielen ökologischen Anbau- und Bautechniken. Weil wir es probieren. Wir wissen nicht, wie es richtig geht, aber wir haben eine Idee, die wir ausprobieren. Das macht uns zu Experten, zu einem Experiment und zu Experimentieren. Ich bin leidenschaftlicher Kreistänzer und schaffe durch meine Bewegung Gemeinschaft ohne Worte und ohne Konflikte. Das Miteinander geht weit über all das, was wir anvisieren hinaus. Vielleicht kann man Anne in vielen Punkten zustimmen, einige aus unserer Gemeinschaft werden ihr aber auch widersprechen. Was sie hier geleistet hat, ist ein Spiegel für uns, so wie wir alle Spiegel für uns sind und wir uns ernst nehmen mit den Reflexionen über das, was wir tun. Das ist vielleicht unsere größte Stärke… wir visionieren, planen, handeln, feiern… und reflektieren, um Dinge das nächste Mal besser zu machen. Prof. Dr. Declan Kennedy, Tänzer, Architekt, Permakulturdesigner, Lebensgärtner.

Geleitwort 2 Auf meiner Reise nach Gustonien, einem Land wo Menschen miteinander leben, sich solidarisch unterstützen, alles gemeinsam entscheiden und sich als Teil des Lebensnetzes empfinden, ein Land, in dem alle auf ihre Art mitwirken, alles ein wenig schöner und gehaltvoller hinterlassen, als sie es vorgefunden haben, wo man die Mitwelt schont und weitere Möglichkeiten entstehen lässt, wo sich alle in ihrer Eigenartigkeit gegenseitig befähigen und unterstützen, auf dieser Reise begegnete ich auch Anne Schwab. Das erste Erlebnis war im Forschungskolleg an der Uni Siegen, wo sie als Wissenschaftlerin ein Meeting mit klugen, präzisen Gedanken, mit Humor und Fröhlichkeit prägte. Bald schon sah ich sie mit ihrem Mobilab zwischen den untersuchten Ökodörfer und Communities hin und her eilen. Als versierte Ethnographin eröffnete sie mir neue Perspektiven auf die Welt. Auf einer Fahrt ins Ökodorf konnte ich viel davon erfahren, wie in diesen Gemeinschaften eine andere Lebensweise erprobt wird, wie Menschen versuchen, gemeinsam eine Welt zu erschaffen. Ich konnte auch erfahren, wie schwierig es zuweilen sein kann, immer alles mit allen zu besprechen, doch auch, wie lohnend solche deliberativen Prozesse sind. Wir erleben eine vielfältige Krise der Mitwelt. Die Erdzerstörung schreitet merklich voran, die sozialen Verwerfungen, die großen Ungerechtigkeiten und die zunehmende Ungleichheit verstärken sich gegenseitig. Es ist unschwer auszumachen, dass diese Entwicklungen etwas mit dem Ökonomiesystem zu tun haben. Insbesondere seit der autoritär- libertinären Wende um die 1970er erleben wir eine neue Dimension einer erbarmungslosen Marktgesellschaft, in der die Kapitalisierung und Ausbeutung von Natur und Mensch ein neues Ausmaß angenommen haben. Deshalb erscheint es mir so wichtig, nach Auswegen, anderen Möglichkeiten einer demokratischen Mitweltökonomie zu suchen, die eine Gesellschaft der Muße ermöglicht, ein Reich der Freiheit. Hier können Menschen eher arbeiten was und wieviel sie wirklich wirklich wollen, es entstehen, wie Donna Haraway es so schön sagt, Gefährtinnenbeziehungen zur Mitwelt. Geld und Tauschwerte werden unwichtiger. So mitten im Kapitalismus entdeckt der Mensch mit Anne Inseln der Glückseligkeit und der Sinnhaftigkeit. Es erscheint wie eine friedliche Revolte, in der Solidarität und Zuversicht entstehen, wie es Albert Camus aufgezeigt hat. Hier

XIV

Geleitwort 2 

liegt eine erkenntnisreiche und spannend zulesende Studie vor, die Einblick gewährt in eine mögliche Welt. Ach wie schön ist Gustonien. Wünsche diesem Buch große Aufmerksamkeit und freue mich auf weitere Vorhaben von und mit Anne. Prof. Dr. Gustav Bergmann, Pluraler Mitwelt-Ökonom und Universaldilettant.

Zur Einstimmung Wir befinden uns an einem Ort, der jeweils 80 Kilometer entfernt ist von zwei bekannten Großstätten in einem Bundesland eines europäischen Landes. Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele Flüchtlinge in diesen Dörfern untergebracht worden und geblieben. Es gibt ein paar Grundschulen und weiterführende Schulen in der nächsten größeren Stadt. Es ist relativ strukturschwach, die umliegenden Dörfer sind von Wegzug, Leerstand, demographischem Wandel und mangelnden Mobilitätsmöglichkeiten betroffen. Der ÖPNV ist auf den Schulbusdienst beschränkt. In einigen Dörfern gibt es Einkaufsmöglichkeiten, in anderen nicht. Viele Lokale und Handwerksbetriebe haben in den letzten Jahrzehnten geschlossen. Die Landschaft ist flach, ich sehe einige Pferdekoppeln und Kuhweiden, wenn ich mit dem laut scheppernden Dieselmotor des 20 Jahre alten Mercedes Busses durch die grasgrüne Kulturlandschaft fahre: bewirtschaftetes Land, kleine Einsiedlerhöfe aus Naturklinkersteinen, rote Ziegelsteinhäuser mit Walmdächern. Ein Mann kehrt die Straße, ich fahre zum ersten Interview in das auf einem Hügel liegende Ökodorf am Rande eines Dorfes einer Gesamtgemeinde. Der Weg zum Ökodorf ist ausgeschildert und ich treffe dort einen Vereinsvorstand, der mir von der aktuellen Situation, wie Erneuerbare Energien genutzt werden und von der Geschichte erzählt und lachend von dem Verhältnis zum Dorf. „Ja, wenn Du die fragst, dann sagen sie bestimmt: ‚Zu denen da oben auf den Berg willst Du? Die tanzen doch nackt ums Feuer‘“ – Nackt ums Feuer… dachte ich…und lernte später, dass das Schwitzhütten Ritual auf dem heiligen Hain des Ökodorfes seit Beginn einen wichtigen Raum einnimmt… und lernte noch viel darüber, wie warm und wärmend, aber auch heiß, heikel und verbrennend eine intentionale Gemeinschaft sein kann…

  Inhaltsverzeichnis

Teil I Konzeptionelle Grundlagen der Studie ..................................................... 1

  1

Klimawandel und gesellschaftlicher Wandel ............................................... 3

2

Die multiple Krise ........................................................................................ 9

3

Energieeffizienz und Suffizienz im ländlichen Raum ................................ 37

4

Darstellung und Reflexion der Methode .................................................... 53

Teil II Ethnographie und Ergebnisse der Studie ................................................ 85

  5

Fallbeschreibung und Entwicklungsgeschichte.......................................... 87

6

Beobachtungen in der Gemeinschaft........................................................ 147

7

Das Ökodorf in der Region ...................................................................... 327

8

Diskussion mit dem Forschungsstand ...................................................... 363

9

Fazit und Ausblick ................................................................................... 377

Literaturverzeichnis .......................................................................................... 385

  Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Teil I Konzeptionelle Grundlagen der Studie ..................................................... 1

1

Klimawandel und gesellschaftlicher Wandel ............................................... 3

  2

Die multiple Krise ........................................................................................ 9 2.1

Die Krise der Ökologie...................................................................... 10

2.2

Die Krise der Demokratie.................................................................. 13

2.3

Die Krise der Ökonomie.................................................................... 24

2.4

Transformation zu einer Kultur der Nachhaltigkeit........................... 29

  3

Energieeffizienz und Suffizienz im ländlichen Raum ................................ 37 3.1

Neue Gemeinschaften ....................................................................... 40

3.2

Intentionale Gemeinschaften ............................................................. 44

3.3

Ökodörfer als intentionale Gemeinschaften ...................................... 46

3.4

Nachhaltige Technologien ................................................................. 49

3.5

Vernetzung – Das globale Ökodorf-Netzwerk (GEN) ...................... 51

  4

Darstellung und Reflexion der Methode .................................................... 53 4.1

Methodisches Vorgehen bei der Datensammlung ............................. 54

4.1.1

Explorative Vorstudie und Zugang zum Feld ........................... 57

4.1.2

Die Auswahl des Forschungsfeldes .......................................... 59

4.1.3

Ethnographie: Das Leben in einem Ökodorf ............................ 61

XX

Ausführliches Inhaltsverzeichnis 

  4.2

Methodisches Vorgehen bei der Datenauswertung ........................... 64

4.2.1

Prozess und Analyse mit der Grounded Theory ....................... 67

4.2.2

Analyse mit der Dokumentarischen Methode .......................... 73

4.2.3

Grundprinzipien der Objektiven Hermeneutik ......................... 79

4.2.4

Forschungspragmatische Zusammenführung ........................... 80

Teil II Ethnographie und Ergebnisse der Studie ................................................ 85

5

Fallbeschreibung und Entwicklungsgeschichte.......................................... 87 5.1

Ein Spaziergang durch das Ökodorf .................................................. 88

5.2

Perspektiven auf die Geschichte des Lebensgartens ......................... 93

5.2.1

Transformation als leitendes Paradigma ................................... 94

5.2.2

Vision zur transzendenten Transformation ............................. 104

5.2.3

Vom Wohngarten zum eingetragenen Verein ........................ 111

5.2.4

Individualität in Gemeinschaft leben ...................................... 115

5.2.5

Interne Konflikte .................................................................... 118

5.2.6

Supervision, Mediation, Zukunftswerkstatt ............................ 121

5.2.7

Die individualisierte Gemeinschaft ........................................ 125

5.2.8

Die Gründung der Stiftung ..................................................... 129

5.2.9

30 Jahre Ökodorf .................................................................... 142

5.3

   

Grundlagen zur weiteren Beobachtung ........................................... 143

Ausführliches Inhaltsverzeichnis 6

XXI

Beobachtungen in der Gemeinschaft........................................................ 147 6.1

Institutionelle Kreativität ................................................................. 147

6.1.1

Organisationsformen und Rechtsformen ................................ 152

6.1.2

Nachhaltige Gründungen ........................................................ 166

6.1.3

Die Herstellung einer Ordnung ............................................... 172

6.1.4

Die Transformation der Ordnung ........................................... 181

6.1.5

Die Ordnung der Transformation ........................................... 196

6.1.6

Vorgelagerte Emotionalität und Deliberation ......................... 208

6.1.7

Der Ort des Politischen par excellence ................................... 210

6.1.8

Medien als Unterstützer demokratischer Praxis ..................... 219

6.2

Gemeinschaft als transzendente Praxis und Religion ...................... 229

6.2.1

Intentionale Gemeinschaft, Projekt oder Ökodorf? ................ 231

6.2.2

Der formale Ablauf der Vergemeinschaftung ........................ 236

6.2.3

Im lebendigen Garten - nackt um das Feuer ........................... 243

6.2.4

Eine kulturkreative Nachbarschaft ......................................... 263

6.3

Die Grenzen der Gemeinschaft ....................................................... 266

6.3.1

Egalität, Hierarchie, Individualismus, Fatalismus .................. 269

6.3.2

Individualismus und Gemeinschaftssinn ................................ 273

6.3.3

Generationenfrage und Demographie ..................................... 285

6.3.4

Geld und getrennte Ökonomie ................................................ 294

6.4

Vom Umgang mit Macht und Herrschaft ........................................ 299

6.4.1

Besitzverhältnisse und datensetzende Macht .......................... 300

6.4.2

Vermeidung von Hierarchie ................................................... 308

6.4.3

Etablierte und Außenseiter ..................................................... 323

XXII 7

Ausführliches Inhaltsverzeichnis  Das Ökodorf in der Region ...................................................................... 327

7.1

Mechanismen der Abgrenzung ........................................................ 330

7.2

Das Märchen von der Autarkie ....................................................... 334

7.2.1

Partizipation und Demographie .............................................. 336

7.2.2

Bildung: Verbindung zur Region............................................ 338

7.2.3

Angebote im strukturschwächeren Raum ............................... 343

7.3

Erneuerbare Energien, Mobilität und Kooperationen ...................... 348

7.4

Erneuerbare Energien vs. Ideologie des Ökodorfes ........................ 351

7.4.1

Fernwärme von der Chemiefabrik .......................................... 351

7.4.2

Windkraftanlagen und Ökodorfbewohner .............................. 356

7.4.3

PV Genossenschaft und Regionalwährung ............................. 359

7.4.4

Kritik an lokalen Biogasanlagen ............................................. 361

  8

Diskussion mit dem Forschungsstand ...................................................... 363 8.1

Deliberative Aushandlungen und Emotionen .................................. 363

8.2

Das Individuum in der Gemeinschaft .............................................. 368

8.3

Postwachstumsökonomie im Ökodorf? ........................................... 373

8.4

Reruralisierung ................................................................................ 375

  9

Fazit und Ausblick ................................................................................... 377

  Literaturverzeichnis .......................................................................................... 385

 

Abkürzungsverzeichnis AVe.V. Bufdi DM GBR GEN gGmbH GmbH GT LeDi LG MV NGO NSB OH PaLS WiL IPCC 100EE ZEGG

Verein für Achtsamkeit und Verständigung Bundesfreiwilligendienst Leistender Dokumentarische Methode Gesellschaft bürgerlichen Rechts Global Ecovillage Network Gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesellschaft mit beschränkter Haftung Grounded Theory Lebensmittel Distribution (kleiner Bioladen) Lebensgarten Mitglieder Versammlung Non Government Organisation Neue soziale Bewegungen Objektive Hermeneutik Permakultur Park am Lebensgarten Steyerberg Wohnen im Lebensgarten Gruppe Intergovernmental Panel on Climate Change 100% Erneuerbare Energie Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Tabelle der anvisierten und besuchten Öko- und Energiedörfer 2014 ........................... 57 Abbildung 2: Kodierparadigma nach Strauss in Strübing 2008: 28 ..................................................... 72 Abbildung 3: nach Strauss (in Strübing 2008: 15) mit eigenen Ergänzungen ..................................... 82 Abbildung 4: Aus den Unterlagen und Fotoalbum des Gründers: gestaltet 2006 ................................ 95 Abbildung 5: Aus dem Verkaufsexposé................................................................................................ 96 Abbildung 6: Siedlung 1983 aus dem Verkaufsexposé ........................................................................ 98 Abbildung 7: Flugblatt zur Gründung einer Stiftung: Phantasie und Toleranz .................................... 99 Abbildung 8: aus den Unterlagen des Stifters 1984 ............................................................................ 102 Abbildung 9: aus den Unterlagen des Stifters ..................................................................................... 133 Abbildung 10: Derzeitige Rechtsformen im L-Projekt ....................................................................... 154 Abbildung 11: Institutionen und Gruppen zur Organisation .............................................................. 173 Abbildung 12: Die soziokratische Struktur mit doppelten Verbindungen zu den verschiedenen Kreisen (Haseke 2017) ........................................................................................................................ 187 Abbildung 13: formale Wahlvorgang bei der soziokratischen Wahl einer Person, die eine verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen soll (Olbricht 2017). ...................................................... 190 Abbildung 14: Teambildungsprozesses Sommer 2016 ....................................................................... 202 Abbildung 15: Darstellung der neuen Struktur im Zuge des Teambildungsprozesses von den Organisatoren des Teambildungsprozesses......................................................................................... 204 Abbildung 16: Aufteilung der Aufgabenbereiche der Seminarbetriebsleitung in verschiedene Gruppen und Verantwortungsbereiche durch den Teambildungsprozess. ......................................... 206 Abbildung 17: Von einem ehemaligen Lebensgärtner gezeichnet ..................................................... 226 Abbildung 18: Aus den Unterlagen des Stifters .................................................................................. 245 Abbildung 19: Die vier Rationalitäten/Kulturen nach Mary Douglas zusammengefasst .................. 270 Abbildung 20: Aus den Planungsunterlagen des Architekten für eine ganzheitliche Gemeinschaft . 304 Abbildung 21: Permakulturdesign des Permakulturparks (PaLS) ...................................................... 307 Abbildung 22: Datensetzende Macht - das Wegbaggern der Hecke (Foto aus Alle-Verteiler) ......... 318 Abbildung 23: Engagement Möglichkeiten in intentionalen Gemeinschaften und darüber hinaus ... 371

Teil I Konzeptionelle Grundlagen der Studie

 

1 Klimawandel und gesellschaftlicher Wandel Der Klimawandel bedroht nicht nur die Zukunft der Menschheit, sondern auch die Zukunft des Lebens auf dem gesamten Planeten. Es scheint, als müsse in allen für die menschliche Existenz notwendigen Bereichen ein radikaler Wandel eintreten, um den Klimawandel aufzuhalten und ein lebenswertes Leben auf der Erde zu sichern. Der notwendige Wandel zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise und Energiegewinnung scheint jedoch, global gesehen, nur wenig Relevanz zu haben: das Wirtschaftswachstum wird durch die Politik und international agierende Firmen weiter vorangetrieben. Die Ausbeutung fossilen Energieträger wird nicht gestoppt; erneuerbare Energien dienen der Nachindustrialisierung des bisher strukturschwächeren Raumes. Kriege um Ressourcen und als Wirtschaftsmotor werden hingenommen. Die Frage, die in dieser Arbeit behandelt wird, zielt auf ein nachhaltiges miteinander Leben ab: wie können wir mit uns selbst, miteinander und mit unserer Umwelt „gut“ umgehen und dem Klimawandel begegnen? Die Frage, wie man dem Klimawandel entgegenwirken kann, der durch wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln verursacht wird, ist nicht nur politisch mit Blick auf gegenwärtige Institutionen und politische Akteure relevant, sondern betrifft ebenso die mikrosoziologische Ebene und die individuellen Handlungslogiken. Daher sind gerade Initiativen von unten (bottom up), die sich auf der Basis von Gemeinschaft für einen gesellschaftlichen Wandel und ökologische Nachhaltigkeit einsetzen, von soziologischem Interesse. Sie wirken als basisdemokratischer Gegenpol zu globalen hierarchisch organisierten Entscheidungsstrukturen, auf den ersten Blick vielleicht als bedeutungslose Nischen und Enklaven. Jedoch kann behauptet werden, dass sie durch ihre politischen Impulse und ihre gute Vernetzung, weit über ihre Lokalität hinaus Relevanz erreichen (vgl. u.a. Marres 2012; Schimmel 2014).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A.-K. Schwab, Transformation im ländlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31275-6_1

4

Klimawandel und gesellschaftlicher Wandel

Die vorliegende Arbeit betrachtet ein Ökodorf, das als intentionale Gemeinschaft1 beabsichtigt, die sozialen, ökologischen, ökonomischen und kulturellen Werte der Nachhaltigkeit umzusetzen (vgl. Schimmel 2014). Für diese Arbeit definiert sich ein Ökodorf als eine Gemeinschaft von innovativen und dynamischen Personen, deren Bestreben es ist, dem Klimawandel durch lokales wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln entgegen zu wirken.

Forschungsfragen Die forschungsleitende Frage, die sich für diese Arbeit stellt, lautet: wie gestalten die Menschen in einem Ökodorf das Miteinander, um dem Klimawandel durch die Dimensionen der Nachhaltigkeit – sozial, ökologisch, ökonomisch, kulturell und holistisch – (Schimmel 2014) entgegenzuwirken? Daraus ergeben sich folgende Beobachtungskategorien, die in den empirischen Kapiteln ausgearbeitet werden: Mit welchen Deutungsmustern der Individuen, bzw. Intentionen und Motivationen der Initiatoren wurde das Ökodorf gegründet? (5.2) Wie gestalten sich die Organisationsform und die politische Ordnung innerhalb dieser Sozialität? (6.1.) Was hält die Gemeinschaft im Inneren zusammen? (6.2.) Wie also wird Gemeinschaft hergestellt und wie gestalten sich die Grenzen dieser Gemeinschaft? (6.3.) Wie ist der Umgang mit Macht, Besitzverhältnissen und Ökonomie? (6.4.) Wie wirkt das Ökodorf in die Region, in der es sich angesiedelt hat? (7.) Obwohl der Beitrag die lokale Ebene fokussiert, besteht die Annahme, dass die mikrosoziologische Interaktionsordnung, wie Goffman und Knoblauch (1994: 67) ausführen, und die makrosoziologische Ebene untrennbar miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Die Arbeit hat nicht den Anspruch, anhand dieses Fallbeispiels verallgemeinerbare Aussagen über das menschliche Verhalten abzuleiten (vgl. dazu Elias et al. 2013; Goffman und

                                                             11 Eine intentionale Gemeinschaft besteht aus Menschen, die aus einer Intention und Vision heraus ein gemeinschaftliches Miteinander anstreben, und ist abzugrenzen von einer traditionellen Gemeinschaft. Weiter unten wird der Begriff noch differenzierter im Lichte der Literatur betrachtet.

Klimawandel und gesellschaftlicher Wandel

5

Dahrendorf 2016; Collins 2012). Die Arbeit ist eine analytische Auseinandersetzung und explorativ-deskriptive Studie lokaler Selbstverwaltung, basisdemokratischer Prozesse und Selbstverwirklichung. Es wird die Umsetzung von ökologischen Ideen beschrieben, um den ländlichen Raum zu gestalten und diesen mit innovativen Projekten anzureichern. Dabei wurde detailliert und innerhalb einer aufwendigen und intensiven Feldforschung beobachtet, wie genau sich Interaktion auf lokaler Ebene darstellt. Es wurde analysiert welche dahinter liegenden Weltdeutungen möglicherweise eine Rolle spielen und welche Konflikte in einem sozialökologischen Umfeld entstehen, bzw. auch in das soziale Leben von außen einwirken. Weiterhin wurde beobachtet, wie sich interne Machtbeziehungen gestalten und wie soziale, ökologische, ökonomische und kulturelle Werte zum Tragen (oder auch nicht zum Tragen) kommen. Welche Herausforderungen den Beteiligten in einem solchen intentionalen und innovativen Kontext gegenüberstehen, konnte durch die autoethnographische Arbeit nachempfunden werden und wird detailliert beschrieben. Einen besonderen Fokus erfährt dabei das Konzept der Gemeinschaft. Wie Grundmann (2006: 192) definiert, sind Gemeinschaften „unhintergehbare, weil dem Menschen wesentliche Vergesellschaftungsweise[n]“. Sie stehen in einem „mehrdimensionalen Verhältnis zur „Gesellschaft“ (ebd.). „Gemeinschaft steht Gesellschaft schon in klassischen Konzepten nicht nur gegenüber, sondern liegt als Basis sowohl jeder Individualität als auch jeder Vergesellschaftung zu Grunde.“ (ebd.). In dieser empirischen Untersuchung werden Ambivalenzen, Mischungsverhältnisse und Synergien zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft herausgearbeitet und die Komplexität des gemeinschaftlichen Zusammenlebens mit dem Evozieren eines gesellschaftlichen Wandels paradigmatisch dargestellt. Dieser Beitrag zur Gemeinschaftsforschung möchte soziale Formierungen von Beziehungspraxen sowie gesellschaftliche Gestaltungspotenziale für eine sozial-ökologische Transformation aufzeigen. In der mikrosoziologischen Analyse wird gezeigt, wie individualistische Handlungslogiken im gemeinschaftlichen Handeln zu Konflikten führen und mit Konflikt- und Streitregulierung experimentiert wird, wodurch wiederum politische Strukturen verändert werden: „Strukturen, Institutionen und Organisationsformen sind das Ergebnis und der Rahmen des Handelns von Akteuren. In diesem Zusammenhang können sie auch verändert werden, was wiederum einige Akteure bevorzugen und andere ausschließen kann. Sie bestehen dabei nicht unabhängig von ihrem gesellschaftlichen und räumlichen Kontext, vielmehr sind sie in diesen eingebettet und mit diesem

6

Klimawandel und gesellschaftlicher Wandel

verschränkt. Gleichzeitig ist dieser Kontext ebenso strukturiert und Veränderungen unterworfen, während lokale Akteure dies nur bedingt beeinflussen können. Es ist eben dieses Spannungsfeld, in dem sich Institutionen verändern und neue Organisationsformen im Energiebereich entfalten.“ (Becker et.al. 2014: 16)

Genau dieses Spannungsfeld steht im Fokus der Untersuchung: Strukturen, Institutionen und Organisationsformen, die von den Akteuren hervorgebracht und verändert werden, werden im Folgenden dokumentiert und analysiert. Gegenstand Der ländliche Raum hat sich als Forschungsfeld für diese Arbeit aus verschiedenen Gründen als geeignet herausgestellt. Der ländliche (oder industriestrukturschwächere) Raum steht verschiedenen Herausforderungen gegenüber: demographischer Wandel, Leerstand, wenig flexible öffentliche Nahverkehr Angebote, daher hauptsächlich PKW-orientierter Verkehr und ein kulturelles Unterangebot. Aufgrund der „industriellen Herstellung“ erneuerbarer Energien auf ehemals landwirtschaftlichen Nutzflächen (vgl. Becker et.al. 2014), kann von einer „Nachindustrialisierung“ des ländlichen Raumes gesprochen werden. Der ländliche Raum ist sowohl Nutznießer, als auch Ort konfligierender Interessenlagen von Energiekonzernen, die erneuerbare Energien herstellen (z.B. Windkraftanlagen, Biogasanlagen, Anbau von Agrotreibstoffen, Solarfelder) (vgl. ebd.). Weiterhin wird der ländliche Raum in seinem Innovationspotenzial und seinen Kapazitäten zur Veränderung bisher weitgehend unterschätzt (vgl. Schön 1997). Nicht nur die Herausforderungen des Klimawandels und der Energiewende, mittels welcher der Klimawandel begrenzt werden soll, sondern auch die Entwicklung des ländlichen Raumes, der demographische Wandel, Leerstand und Wegzug sind Bedingungen, mit denen sich politische Entscheidungsträger in weniger dicht besiedelten Gegenden Deutschlands auseinandersetzen müssen. Der einstige Titel dieser Arbeit „Nackt ums Feuer“ weckt gleich mehrere Assoziationen und ist aus dem Kontext der hiesigen Feldforschung gewählt. Denn zum einen werden und wurden die Ökodorfbewohner mit derartigen Beschreibungen als „Außenseiter“ von der übrigen Dorfbevölkerung marginalisiert, wie später noch beschrieben wird („die da oben aufm Berg, die tanzen doch nackt ums Feuer“). Zum anderen kann das Feuer seit je her und immer noch eng mit der Energiegewinnung und -nutzung assoziiert werden. Der Mensch zieht wichtigen

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Nutzen aus dem Feuer (Herstellung von Wärme, Warmwasser, Elektrizität etc.). Auch wenn das Feuer in der modernen Zivilisation unterschiedliche Formen annimmt, so hängen Licht, Wärme und Elektrizität noch immer eng mit dem Element des Feuers zusammen. Diese Abhängigkeit (Nacktheit) vom Feuer und künftig von einer nachhaltigen Energiegewinnung ist der eigentliche Anlass für diese Arbeit. Ein Leben ohne Feuer wäre in vielen Teilen der Erde nicht möglich und schon gar nicht ist ein Leben ohne Energie für den modernen Menschen möglich. Nicht zuletzt trifft der Titel den Kern der Arbeit: die Gemeinschaft, die einerseits wärmend und schützend auf den Einzelnen wirkt, andererseits auch brandgefährlich und verletzend sein kann. Das Individuum zeigt sich der Gemeinschaft in seiner Nacktheit und hofft auf Wärme und Zuwendung, muss sich allerdings auch vor den züngelnden Flammen des Gegenübers in Acht nehmen. So kann Gemeinschaft wärmend und brandgefährlich zugleich sein. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit gliedert sich wie folgt: Im folgenden Kapitel werden die Postwachstums- und die Grüne Wachstums (green growth) Theorie bezogen auf die drei eklatanten Krisen: den Klimawandel, die Krise der Demokratie und die Wirtschaftskrise diskutiert. Die vorliegende Studie wird damit in den wissenschaftlichen Diskurs und die politische Debatte eingebettet. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird der Forschungsstand, bezogen auf Ökodörfer und intentionale Gemeinschaften aufbereitet. In diesem Kapitel wird die Forschungsfrage mit dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand der Ökodorfforschung in Beziehung gesetzt. Kapitel Vier gibt die Herangehensweise und die Verwendung der Forschungsmethode wieder. Es wird zudem die besondere Situation der Feldforschung und der ethnographischen Forscherin im Feld reflektiert und in den Kontext der Dissertation eingeordnet. Damit wird die spezifische Perspektive der Ausarbeitung in dieser Arbeit dargelegt. Die Analysewerkzeuge und das Kodierungsverfahren der Grounded Theory nach Strauss und Corbin werden explizit und nachvollziehbar vorgestellt, sowie die Dokumentarische Methode als Werkzeug und die objektive Hermeneutik als wissenschaftstheoretische Grundlage zur Analyse von Diskussionen und Dokumenten.

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Im fünften Kapitel beginnt die Darstellung der Analyseergebnisse der ethnographisch induktiven Forschung. In diesem Kapitel wird die Leserin zunächst mit einer literarischen Fallbeschreibung (5.1.) in das Feld hineingeführt und für einen ersten Eindruck hindurch begleitet. Der historische Abriss der Entwicklungsgeschichte des Ökodorfes (5.2.) zeigt die zu Grunde liegenden Deutungsmuster von Individuen und Satzungen. In Kapitel 5.3. werden die wichtigen Ergebnisse dieser Analyse für die weiteren Beobachtungen zusammengefasst. Kapitel Sechs gibt die ethnographischen Beobachtungen und Analysen aus dem Feld wieder. Zunächst werden die verschiedenen Organisationsformen und Institutionen beschrieben (6.1.) und in einen Zusammenhang gebracht. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie aus dem beständigen Streben nach sozial-ökologischer Transformation eine Art „Ordnung der Transformation“ entsteht. Das bedeutet, dass die Lösung von Konflikten eine Transformation mit sich bringen kann, die sich perspektivisch als eigene Ordnung der Sozialität herauskristallisiert. In Kapitel 6.2. wird beschrieben, mit welchen Mitteln, Praktiken und Ritualen eine „Gemeinschaft“ konstruiert und hergestellt wird. Kapitel 6.3. zeigt auf, wie weit diese Konstruktion Gemeinschaft reicht und an welcher Schwelle Individualismus beginnt. Darauffolgend wird in Kapitel 6.4. über Machtpositionen, Datensetzende Macht (Popitz 2009), Charisma und Vermeidung von Hierarchien und Herrschaft in der angestrebten akephalen2 Ordnung geschrieben. Im letzten empirischen Kapitel Sieben werden die Verbindungen zum Ort, die Synergien zum entstandenen Energiedorf und die kommunalund regionalpolitischen Einflüsse des Ökodorfes dargestellt. In Kapitel Acht werden die wichtigsten Befunde der empirischen Arbeit diskutiert und mit den Erkenntnissen anderer Arbeiten verglichen. Die Ergebnisse werden in den Zusammenhang der Transformationsforschung und dem Stand der Forschung zur Commonsbewegung gestellt. Im Fazit schließlich werden noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst und herausgearbeitet, was von dem Praxisbeispiel – z.B. als eine Art von Experimentierraum für sozial-ökologische Transformation – gelernt werden kann und welche der Erkenntnisse aus dieser Arbeit für weitere Forschungsarbeiten relevant sein könnten.

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Akephalie bedeutet „ohne Kopf“, bzw. Oberhaupt und ist ein Begriff aus der Ethnographie, die sich mit egalitären Jäger- und Sammlerhorden auseinandergesetzt hat. So werden zum Beispiel die San im südlichen Afrika als akephal (kopflos) bezeichnet, da sie keinen König oder Häuptling oberhalb der Horde (60-100 Personen) zugeordnet sind.

 

2 Die multiple Krise Der Klimawandel, die Klimaziele, CO2-Reduktion und Feinstaubreduzierung sind in der Wirtschaft und der Politik vielfach genutzte Begriffe, die verwendet werden, um unterschiedliche politische Ziele zu verfolgen. In der Diskussion um Postwachstum (vgl. Paech 2015, Bergmann 2015, Latouche 2015) steht der Wandel hin zu einer anderen Art des Wirtschaftens und ökologischen Handelns und so auch dem Wandel von Mentalitäten im Vordergrund. Die Debatte um grünes Wachstum und Wertschöpfung zielt darauf ab, grüne Technologien in den Vordergrund zu stellen. Grüne Technologien sollen genutzt werden, um Wachstum auch im ländlichen Raum weiter voran zu bringen und sozusagen „nachzuindustrialisieren“ (vgl. Adler, Schachtschneider 2010: 115ff.) Wie Kristof bereits (2010) verdeutlicht, befinden wir uns an einem Wendepunkt der Geschichte und die derzeitigen Krisen hängen durchaus miteinander zusammen. „Gesellschaftliche Veränderungen werden einerseits von Menschen initiiert und vorangetrieben; Menschen sind aber auch die Adressaten von Veränderungen.“ (ebd. 22) und nicht zuletzt sind die Menschen natürlich die Verursacher von Krisen und Umbrüchen. Kristof zu Folge braucht es Modelle zur Orientierung: „wie der Weg in eine nachhaltige Welt erfolgreich gestaltet werden kann.“ (ebd.: 11). Die Muster gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungsprozesse lassen sich in der westlichen Welt trotz unterschiedlicher Betrachtungsweisen wohl kaum unterscheiden. Wandlungsbedarf, Wandlungsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Zukunftsentwurf der Degrowth Bewegung ist mit einer politischen und kapitalistischen Analyse und Kritik verbunden – Wachstum und Steigerung können nicht unbegrenzt fortgesetzt werden, weder auf lokaler, noch auf internationaler Ebene (vgl. Adler und Schachtschneider 2010: 139ff.). Akzeptanz für gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen sind eine Grundbedingung für den Wandel (ebd.: 27). Es braucht Information und Kenntnis, Qualifikation, Motivation und Organisation, um den Wandel aktiv gestalten zu können. Die vorliegende Dissertation nimmt einen auf Suffizienz und Subsistenz ausgerichteten Lebensstil in einem Ökodorf in den Blick. Suffizient bedeutet hier, dass eine Verhaltensveränderung erwirkt wird, gegenüber dem auf Effizienzsteigerung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A.-K. Schwab, Transformation im ländlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31275-6_2

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und Wachstum ausgerichteten Lebensstil (vgl. Scherhorn 2008, Rosa 2016, Sachs 1993, Paech 2011). Es wird erforscht, wie lokale Praktiken der Suffizienz und Subsistenz eingeübt werden und welche mikrosoziologischen Herausforderungen sich aus diesen Praktiken ergeben. Erforscht wird also die praktische Umsetzung der Visionen einer nachhaltigen Entwicklung und einer Postwachstumsgesellschaft (vgl. Paech 2011, Bergmann 2012). Die vorliegende Arbeit setzt bei der Untersuchung des Versuchs einer Umsetzung derartiger Gesellschaftsentwürfe an. Die Vorannahme der eigentlichen Forschungsarbeit ist, dass in einem Ökodorf postwachstumsorientierte Modelle erprobt werden. In einem Experimentierfeld des sozial-ökologischen Wandels werden konkrete Beobachtungen durchgeführt (vgl. Kunze 2009).

2.1 Die Krise der Ökologie Die Frage, die sich weltweit stellt, ist: wie kann dieser für die Menschheit „existenziellen Krise“ (Scheffer 2015) der Zerstörung des gegenwärtigen Ökosystems Erde, welches für das Überleben der Menschheit notwendig ist, gegengesteuert werden? Welche Kapazitäten, Praktiken, Handlungen sind notwendig, um dieser „existenziellen Krise“ zu begegnen? Eine Antwort der deutschen Politik ist zum Beispiel die Energiewende, die aber den ländlichen Raum eher „nachindustrialisiert“, die Wertschöpfungsketten erweitert und neue Risiken mit sich bringt. Paech (2015: 7) spricht hier von dem „grünen Geldadel“, der die Energiewende entstehen ließ. Fest steht, dass dieser existentiellen Krise nur mit einem globalen Blick begegnet werden kann: „Social development is sustainable, if it achieves a progress through which future generations can live in peace, in social justice and in respect for God’s creation.” (Breitenstein 2002: 9). Breitenstein (2002) beschreibt in seinem Buch “Enterprise of Trust“, inwiefern dezentralisierte erneuerbare Energiesysteme auch einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung in Afrika leisten können. Hier geht es insbesondere um sozio-ökonomische Entwicklungen und Wirtschaftswachstum mit und durch regenerative Energiequellen. Auch Möller (2013) beschreibt diese Thematik: „Energy is an essential catalyst for socioeconomic development because safe, clean, reliable, efficient and affordable energy services

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are indespensable for poverty alleviation, improving life standards and enabling economic growth in a sustainable manner.“ (ebd.: 1). Möller zitiert hier die UN Reports: UNEP 2008 und AGECC 2010, in denen globaler Wohlstand und Prosperität im Vordergrund stehen: „Energy is at the heart of most critical economic, environmental and developmental issues facing the world today. Clean, efficient, affordable and reliable energy services are indispensable for global prosperity.” (AGECC 2010: 7). In weltweiten Studien und Projekten wird in Möller (2013) von verschiedenen Autoren gezeigt, welchen positiven Einfluss die Verfügbarkeit erneuerbarer Energiesysteme auf das Wohl der Bevölkerung, insbesondere in Entwicklungsländern, hat. Dabei geht es immer darum, Wachstum, Wertschöpfung und Wohlstand zu fördern. Es scheint, als sei die Schöpfung von Energie ein Katalysator zur Schaffung von Wohlstand und Reichtum: „Energy supply is an elementary service much needed in regions, where people have to struggle to survive, especially in the remote rural regions” (Breitenstein 2002: 11). Den einen dient „Erneuerbare Energie“ dazu, das Überleben – gerade in ländlichen Gebieten - zu sichern und Wirtschaftswachstum und Wohlstand zu fördern, anderen dient sie um das klimaschädliche CO2 einzusparen. Der Begriff Energieeffizienz deutet schon den Widerspruch der ungerechten Verteilung an: In der westlichen Welt, bzw. in Deutschland, stellt sich eine ganz andere Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, so Scheer (2011): „Kann der historisch fällige, vollständige Wechsel zur Versorgung mit erneuerbarer Energie so rechtzeitig realisiert werden, dass wir den von der konventionellen Energieversorgung verursachten Tragödien noch entkommen können?“ (Scheer 2011: 15). Mit Tragödien meint Scheer die bisherigen unumkehrbaren Umweltschäden, wie z.B. den Klimawandel und den Rückgang von Biodiversität, und deren humanitäre Folgen, die weltweit zu verzeichnen sind, was oben bereits als „existenzielle Krise“ beschrieben wurde. Die Literatur kann unterschieden werden in Theorien und Ideen des grünen Wachstums (green growth), in dem es besonders um den Ersatz der Technologien der Energieproduktion geht und in Theorien des Postwachstums, in dem ein gänzlich anderes Wirtschaftsverständnis angestrebt wird. Die Idee des Postwachstums ist nicht zuletzt aus einer Kritik an der Entwicklungspolitik in Afrika und Lateinamerika entstanden, die die Arbeit von NGOs und GOs genauer in den Blick nahm und sich auch mit alternativen Entwicklungen im Norden auseinandersetzte - sich z.B. mit den

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Auswirkungen der Wirtschaft der nördlichen Gesellschaften. Denn Entwicklungspolitik bedeutet häufig: die südlichen Länder in Wachstums- und Industriegesellschaften umzuwandeln (vgl. Latouche 2015: 91 ff.). Die Degrowth, Décroissance, Postwachstums-Bewegung stellt sich dem Wachstums- und industriellen Wertschöpfungsideal entgegen: „Latouche sieht Degrowth als ein emanzipatorisches Unterfangen, das sich dagegenstemmt, jegliches Denken durch einen auf Wachstum gebürsteten Ökonomismus zu kolonialisieren. Nur ein entsprechender Perspektivwechsel könne es ermöglichen, ökologische und soziale Plünderung zu beenden sowie die kulturelle Abhängigkeit des Südens vom Norden zu durchbrechen. “ (ebd.: 8f.). Latouche et. al. (2015) werfen die Frage auf, ob zunächst ein sozio-kultureller Wandel stattfinden muss, oder bereits auf politisch-institutioneller Ebene Bedingungen für eine sozial-ökologische Transformation geschaffen werden können Latouche spricht von den „großen Rs“: „Re-Evaluierung, Re-Konzeptualisierung, Re-Strukturierung, Re-Distribution, Re-Lokalisation, Reduktion, Recycling.“ (ebd.). Mit dem „großen R“ oder Re-… ist keine rückwärtsgewandte Denkweise oder romantisierende Verklärung der Vergangenheit gemeint, sondern im Sinne des „großen R“ der Revolution, aber auch als Reaktion auf das in der derzeitigen Gesellschaft existierende „über“ (Überangebot, Überproduktion, Überfischung, Überweidung, Überschreitung (planetarer Grenzen), Überschuldung etc.) (ebd.: 71). Als Re-evolution bezeichnet er eine Zurückeroberung und Förderung schon längst vorhandener Werte, wie: Altruismus, Kooperation, Freizeitgenuss, Ethos des Spielens und Innehaltens, Sozialleben, Fokus auf das Lokale, Selbstbestimmung, Freude am Werk und guter Arbeit, das Vernünftige, Zwischenmenschliche, Wahrheitssuchende, Gerechtigkeitssinn, Verantwortung, Respekt vor Demokratie, Freude an Vielfalt, Solidarität, Geistesleben etc., auf die sich wieder besonnen werden könnte. Mit Rekonzeptualisierung spricht er sich auch für eine Neudefinition „der Dinge“ aus, bzw. „die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen“ (ebd.: 60). Privatisierung und Aneignung von Dingen in der Vorstellungskraft des Marktes im Begriffspaar der Knappheit und des Überflusses, wird, so Latouche, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung mit der Erschöpfung und Endlichkeit diverser natürlicher Ressourcen. Restrukturierung „bedeutet, das Produktionssystem und die sozialen Beziehungen an den gesellschaftlichen Wertewandel anzupassen“

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(ebd.: 61). Der Ausweg aus dem Kapitalismus und der Umbau des Produktionssystems sollte dem Paradigmenwechsel angeglichen werden. Als Redistribution oder Umverteilung zwischen dem reichen Norden und dem ausgebeuteten Süden, zwischen Schichten, Klassen und Generationen zur Umverteilung des Reichtums, der Macht und der Konsummöglichkeiten, woraus auch der ökologische Fußabdruck resultiert. Mit Relokalisierung meint Latouche, die Produktion auf lokaler Ebene, verbrauchernah, kollektiv finanziert, den lokalen Bedürfnissen angepasst – auch in Bezug auf Politik, Kultur und Sinn des Lebens, sowie ökonomischen Entscheidungen, die lokal gefällt werden sollen. Ideen jedoch sollen alle Grenzen überschreiten können. Reduzieren bezieht Latouche in erster Linie auf den Konsum, Tourismus, Arbeitszeit – aber auch deren Diversifizierung. Arbeitssucht beschreibt er als „Drama des Produktivismus“. Er plädiert für Muße, Freude an künstlerischen, handwerklichen Tätigkeiten, Spiel, Kontemplation, Mediation, Gesprächen und dafür, das Leben zu genießen. Recycling als Wiedernutzung oder Verkompostierung oder die Möglichkeit, die hergestellten Sachgüter wieder in ihre originären Bestandteile zu zerlegen und neu zu verwenden. Als oberstes Leitprinzip beschreibt er die Konvivialität, welches er mit Frohsinn und Geselligkeit übersetzt, damit die sozialen Bindungen, das soziale Gewebe (social fabric) wiederhergestellt werden kann und das soziale Miteinander in den Vordergrund rückt. Zusammenfassend lässt sich der Ökologie-Begriff für die vorliegende Arbeit so ausdrücken: es wird angenommen, dass diese Krise durch eine Veränderung des menschlich-sozialen Handelns und Wirtschaftens bewältigt werden könnte. Die Frage, die in dieser Diskussion offenbleibt, ist, wie ein derartig reformiertes Handeln gestaltet sein könnte. Diese Frage ist Grundlage für die oben vorgestellte Forschungsfrage und soll am Forschungsgegenstand untersucht werden.

2.2 Die Krise der Demokratie Die Frage inwiefern und ob demokratische Praxis mit einem nachhaltigen wirtschaftlichen Handeln zusammenhängt ist nicht leicht zu beantworten. Schaut man in die jüngere Geschichte der Demokratisierung von Staaten scheint sogar das Gegenteil der Fall: Gerade die demokratischen Gesellschaften im Zuge damit verbundener sozialer Emanzipationsprozesse scheinen die ökologisch ruinösesten Lebensstile zu kultivieren, die historisch je auftraten. In diesem Kapitel wird daher

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versucht, einen nachhaltigen Demokratiebegriff herzuleiten und diesen zu begründen, der eng mit dem Begriff der deliberativen Demokratie und einer emanzipierten und reflektierten Öffentlichkeit zusammenhängt. Historisch betrachtet basieren die parlamentarischen Demokratien auf emanzipierten Monarchien und Ständegesellschaften, aus denen sich gerade in den urbanen Gesellschaften eine individualisierte Bürgerschaft entwickelt hat (vgl. Plessner 2016). Emanzipation aus tradierten Rollenverständnissen und urbaner Individualismus scheinen somit die Grundsteine für die modernen Demokratien gelegt zu haben, die in ihrem Aufbau von Parlamenten, Kammern, Räten und Ländervertretern noch stark an feudalistische Strukturen erinnern und in Hierarchien eingeflochten sind. Nicht zuletzt sind Staaten Player und Akteure im kapitalistischen Wirtschaftssystem, in welchem Kriege, Ressourcen- (und somit auch Energie-)gewinnung, Landbesitz und Vorherrschaft gravierende Rollen spielen. Die gegenseitige Abhängigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems ist offensichtlich, so Mitchel (2013): So lange die fossilen Energieträger den Weltmarkt regieren, würde auch das politische System damit einhergehen und die Demokratie darunter leiden: „The term ‚democracy‘ can have two kinds of meaning. It can refer to ways of making effective claims for a more just and egalitarian common world. Or it can refer to a mode of governing population that employs popular consent as a means of limiting claims for greater equality and justice by dividing up the common world.” (ebd.: 9). Diese zwei unterschiedlichen Wege durch und mit Demokratie können also zum einen die Welt verbinden und egalitärer gestalten oder sie zum anderen trennen in abgegrenzte Einheiten. Er verbindet das auf fossilen Kraftstoffen basierende Wirtschaftssystem und die daraus resultierende Ordnung mit der Art wie Nationalstaaten regiert werden. Er eröffnet provokativ mit der Frage, ob die bisherigen demokratischen Nationalstaaten sogar auf der Erzeugung von Kohlenstoff basieren (also Akteure im System der Ressourcenausbeutung sind). Mit seinem Buch „Carbon Democracy“ zeigt er die Verbindungen zwischen Wirtschaft, Wirtschaftswachstum und Staat und somit auch die Verbindungen zu den althergebrachten fossilen Energiequellen: „The management of economic growth provided new kinds of reason and modes of regulation to govern carbon democracy.“ (ebd.: 9). Er plädieret dafür, diese sozio-ökonomischen Zusammenhänge der „Carbon Democracy“ zu überwinden und eine gemeinschaftliche Zukunft zu gestalten. Er stellt einen Zusammenhang her zwischen hierarchisch geleiteten Energiekonzernen und hierarchisch geleiteten Regierungen, die durch eine Dezentralisierung der

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Energiegewinnung, wie durch basisdemokratische dezentrale Einheiten aufzulösen wäre. Seine Kritik richtet sich an die hierarchischen, dezentral gesteuerten nationalen Einheiten und befürwortet eine „bottom up Demokratie“ und einer ebenfalls „bottom up Energieproduktion“. Die Art und Weise, wie (Energie) produziert wird, hängt ihm zu Folge direkt mit der Art und Weise der Einflussnahme der Individuen, bzw. mit der Art der Regierung zusammen. Die Frage, die dem in dieser Arbeit verwendeten Demokratiebegriff zu Grunde liegt ist: Wie würde sich ein demokratisches System entfalten, in welches Menschen egalitär ihre Meinungen einbringen können und es nicht mehr auf Ausbeutung von (auch menschlichen) Ressourcen basiert? Ein politisches System, welches auf Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Frieden basiert? Nach Bergmann und Daub (2015) stellen „Demokratische Gesellschaftsformen und demokratisches Verhalten […] eine global beispielgebende Kulturentwicklung hin zu mehr Menschlichkeit und Achtsamkeit dar, wenn sie konsequent weiterentwickelt, mit wahrhaft demokratischem Leben gefüllt und man ihren drohenden Zerfall gerade in westlichen Gesellschaften aufhält.“ (Bergmann und Daub 2015: 58). Dahl spricht von einer Revolution, während die alten Formen der Herrschaft an Boden verlieren. Ihm zu Folge wurden Demokratien noch nie vollständig eingerichtet: „Das Paradoxe ist allerdings […], daß Demokratie [..] eine potenziell revolutionäre Doktrin darstellt, weil sie nie voll eingerichtet worden ist.“ (1975: 8). Seiner Meinung zu Folge ist das bestehende System nicht ausreichend demokratisch organisiert und enthält zu viele hierarchische Elemente. In diesem Kontext spielt die Herstellung von Energie wiederum eine Rolle, denn die Herstellung erneuerbarer Energien und eine nachhaltige Lebensweise hängen eng mit Partizipation, Verantwortung für lokale wie auch globale Probleme und somit einem intensiven politischen Aushandlungs- und Entscheidungsfindungsprozess zusammen (vgl. Eigner-Thiel 2005). Eine lösungsorientierte Antwort auf diese Problematik wäre laut Latouche eine „ökologische Demokratie“ (Latouche et al. 2015: 73). Als Beispiel nennt er die „Utopie“ des „Öko-Kommunalismus“ von Murray Bookchin. Eine ökologische Gesellschaft aus einer Gemeinde vieler kleiner Gemeinden, eine Kommune aus Kommunen, die noch kleiner sind und „sich in vollkommener Harmonie mit dem Ökosystem befinden“ (Bookchin 1980 in Latouche 2015: 73). Allmende, Selbstorganisation von Bioregionen, definiert

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er als zusammenhängende räumliche Einheit, die als geographisches, soziales, historisches Gebilde im städtischen wie im ländlichen Raum realisierbar wäre. Ein Netzwerk mit vielen Zentren und Polen, eine Ökopolis (Magnaghi in Latouche 2015: 73). Ziel dieser Kleinstkommunen sei es, mit der Fähigkeit zum ökologischen Selbsterhalt „die externe Misswirtschaft und den Energieverbrauch zu reduzieren.“ (Bonora 2006 in ebd.). In einem etwas anders gelagerten Beispiel macht Graeber (2009; Graeber und Deeg 2013) deutlich, wie sich diese lokalen Entscheidungsprozesse während Aktionen, politischen Demonstrationen zu einer politischen Bewegung konstituieren und beschreibt die Erfolge und Herausforderungen konsensorientierter Entscheidungsfindung ethnographisch. Als Beispiel für demokratische Protestkulturen eröffnet Graeber (2013) Einblicke in das partizipative und demokratische Handeln während der globalisierungskritischen Periode der Occupy-Bewegung. Als sogenannter „Native“ der Bewegung erzählt er aus der Innenperspektive über das anarchistische Handeln, Konsensfinden und „Fingerwedeln“ (vgl. ebd.: 10). Als anarchistischer Anthropologe ist sein Demokratiebegriff geprägt durch die Möglichkeit von Menschen, die demonstrierend ihre Meinung zeigen, geltend machen, gehört werden sollen und in den politischen Willensbildungsprozess mit einbezogen werden. Für Graeber sind direkte Aktionen, also „ein Vorgehen, bei dem man für sich selbst in der Weise handelt, dass man das Problem, mit dem man konfrontiert ist, direkt angeht, ohne die Vermittlung durch Politiker oder Bürokraten“ (ebd.: 17). Sie „zielen darauf ab, dass wir unsere Ziele durch unser eigenes Handeln und nicht durch das Handeln anderer erreichen.“ (ebd.: 18). Seit den 1960ern ist dieses Handeln als „Politik der ersten Person“ bekannt. Ziel dabei ist, dass sich Menschen selbst ermächtigen, im Gegensatz zu der indirekten Einflussnahme durch Wahlen, Lobbying, Medien, Gewerkschaften etc.. Seiner Meinung nach halten die diversen Institutionen die Menschen davon ab, selbst aktiv zu werden und ins Handeln zu kommen. An dieser Stelle ist sein Aktionsbegriff eng mit seinem Demokratiebegriff verwandt, der auf die direkte Einflussnahme der Individuen referiert (vgl. ebd.: 58). Er setzt sich mit den Fragen auseinander, wie zum Beispiel der mediale Informationsfluss „in Strukturen kollektiver Entscheidungsfindung überführt werden“ (ebd.) kann und „wie und auf welcher Ebene […] Strukturen kollektiver Entscheidungsfindung erforderlich [sind]?“. Dieser Demokratiebegriff basiert auf der Tradition der Volkssouveränität. Sein Begriff der „Direkten Demokratie“ basiert

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nicht auf etwaigen Wahlmomenten, die von Bürgern und Bürgerinnen eines Nationalstaates lediglich mit Ja oder Nein beantwortet werden können, sondern auf einer aktiven, aktionsorientierten, engagierten und für ihren Willen und ihre Bedürfnisse eintretenden Bürgerschaft, die sich nicht allein an den gegebenen Institutionen orientiert. Seine Beobachtungen basieren auf der kurzen Zeitspanne, in denen die Aktivisten sich zu einer temporären Gemeinschaft zwecks einer politischen Forderung zusammengefunden und stark in die Öffentlichkeit gewirkt haben. Sie passen insofern in den Kontext der vorliegenden Arbeit, da die Beobachtungen auf Entscheidungsfindungsprozessen, Konfliktlösungsstrategien, moderierten Treffen einer Gemeinschaft basieren, die sich zwecks der Forderung einer nachhaltigen, ökologischen Gesellschaft formiert hat. Der Einfluss der Gemeinschaft in der vorliegenden Forschung ist subtiler politisch, als jener der OccupyAktivisten in einer urbanen Öffentlichkeit. Sie versuchen ein gelebtes Modell der Nachhaltigkeit darzustellen. Sie gehen davon aus, dass gelebte Praktiken der lokalen Selbstorganisation, die auf Dauer gestellt werden, an sich eine Wirkung auf das politische System haben (vgl. hierzu Marres 2012). In seiner Arbeit ermöglicht Graeber die Insider-Rolle herausragende Einblicke in politische Einstellungen und Vorgehen der Aktivisten und stellt diese in sich differenziert dar. Die vorliegende Dissertation schließt an einige seiner Überlegungen an und beschreibt eine Gruppe von Aktivisten, die ihr Handeln als Lebensmodell begreifen, das kapitalistische und politische System durch beispielhafte Lebensweisen kritisieren und ihre „Demonstration“ durch lokale Selbstorganisation und lokale Selbstverwaltung dauerhaft etablieren. Marres (2013) betrachtet hingegen die demokratische Praxis von ökologischen Kleinstsiedlungen und bezeichnet sie in ihrem Wirken auf das bestehende politische System als „materielle Partizipation“. Sie stellt in ihrem Werk „Material Participation“ einen Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten politischer Partizipation und den nicht menschlichen Objekten ihrer Umgebung her. Dazu hat sie ökologische Vorzeigesiedlungen untersucht und festgestellt, dass diese nicht nur als Instrument „materieller Demokratie“ genutzt werden, damit nämlich der politische Wille auf einer materiellen Ebene ausgedrückt wird, sondern „it actually helps to transform domestic settings into a site of public participation, technological innovation, social and environmental change, sometimes all at the same time. In other words, eco-homes facilitate […] as a material politics of co-articulation“

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(Marres 2012: 116). Sie behauptet, allein durch das Herstellen und Leben in ökologisch nachhaltigen Gebäuden (ökologischen Beispielhäusern) wird eine politische Aussage getroffen und so ein Beitrag zur politischen Willensbildung gezeigt. Als Ko-artikulierung bezeichnet sie die Beeinflussung der Politik durch den Kontext. Die ökologischen Beispielhäuser zeigen als Nebeneffekt Partizipation, Innovation und Wandel, außerdem beweisen sie die normative Handlung (vgl. Marres 2012: 117). Das Empirische ist in diesem Falle keine neutrale Basis, denn es wird hier Partizipation, Innovation und sozialer Wandel koartikuliert. Es ist normatives Handeln, Subjekte zu beeinflussen, Informationen zu bewerten und somit auch zu regieren. Laut Marres werden unterschiedliche Verbindungen zwischen Partizipation, Innovation und sozialem Wandel geschaffen (vgl. ebd.: 118). In ökologischen Beispielhäusern (Ecoshowhomes) oder Beispielsiedlungen, so wie die in dieser Arbeit beforschten Öko-Siedlungen, werden Idealtypen geschaffen, die den politischen Diskurs beeinflussen. So wird Architektur, ebenso wie Bilder oder Texte, die Ideen und Werte transportieren, ebenfalls Mittel zur Werbung/Einfluss/Aussage und zum Wandel von Konzepten (vgl. ebd.: 119). Durch ein Leben in einem derartigen architektonischen Umfeld wird ein experimenteller und somit politischer Umgang mit Bauwerken sichtbar. Die Bauwerke und Gebäude werden durch Ideen und Renovierung re-kombiniert und ergeben mit den normativen Herausforderung Materialien, Technologien, Akteuren, Orten und Konzepten ein transformiertes architektonisches Gesamtbild (vgl. ebd.: 120). Dieser experimentelle Rahmen öffnet einen Raum für politisches Handeln durch das Zusammenfügen von Materialien, Pflanzen, Technologien, Akteuren, Orten mit und durch demokratische Konzepte. Diese Konzepte im sozial ökologischen Wohnungsbau ersuchen dem Klimawandel entgegenzuwirken und erproben in manchen Fällen auch Konstruktionen gemeinsamer Wirtschaft. Das Experimentieren mit Architektur und Gebäuden drückt sich in der Experimentierfreudigkeit der Akteure innerhalb demokratischer Möglichkeiten aus: “The ecoshowhome, then, can be understood as a device for performing the comprehensive kind of change that is involved in the re-ordering of social, material, technical, economic, political-and-so-on relations. Ecohomes are configured as devices for technological change, the transformation of lifestyle, the democratization of environmental governance, the exploration of alternative culture and so on.” (ebd.: 124f.)

Nach Marres sind also „ökologische Beispielhäuser“, und so kann man auch Ökosiedlungen auffassen (Gorz und Moldenhauer 2011), Anzeiger für eine bestimmte

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Art des Wandels, welcher in einer Neuordnung der sozialen, materiellen, technischen, ökonomischen und politischen Beziehungen involviert ist. Sie zeigen technologischen Wandel, eine Transformation der Lebensstile, eine Demokratisierung des Regierens und das Ausprobieren einer alternativen Kultur. Auch Smith (2009) untersuchte “demokratische Innovationen”: „A thriving democratic polity will entail a range of different modes of citizen engagement, from formal, institutionalized channels through to informal, independent forms of confrontational activity – incumbent and critical democracy.” (ebd.: 3). Er stellt in seinem Buch institutionelle Möglichkeiten vor, um Bürgerpartizipation (citizen participation) zu ermöglichen – gerade für jene geschwächte oder marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die in einer repräsentativen Mehrheitsdemokratie zu wenig Stimme erhalten. Er argumentiert, dass das Vertrauen in Politiker, Parteien und politische Institutionen geschwächt ist und somit auch das politische Interesse und die Wahlbeteiligung zurückgehen. Damit begründet er die Notwendigkeit, demokratische Innovationen zu erforschen. In seinen Augen müssten die Ideale der deliberativen und der direkten Demokratie miteinander vereint werden und somit ihre Defizite ausgeglichen werden (vgl. ebd.: 11). Er sucht nach einer Antwort, auf welche Weise demokratische Partizipation institutionalisiert werden könnte. Die Parameter, bzw. demokratiepolitische Gütekriterien sind: „inclusiveness, popular control, considered judgement and transparency“ (ebd.: 12), erweitert durch Effizienz und Übertragbarkeit. Beobachtungen über Bürgerpartizipation finden auf lokaler Ebene statt, so wie zum Beispiel Stadtteiltreffen, Nachbarschaftsorganisationen oder Gewerkschaften, wobei Politik an sich auf anderen hierarchischen Ebenen gemacht wird (ebd.: 20), außerdem sei das Ideal der „gleichen Partizipation“ noch nicht gelöst: Partizipation korreliert positiv mit Einkommen, sozialer Stellung und Bildung. Als Beispiele demokratischer Innovationen betrachtet er Sekundärliteratur über „Town Meetings“, „mini publics with random selections“, etc. also „kleine Öffentlichkeiten“ mit zufällig ausgewählten Personen, direkte Demokratie durch allgemeine Wahlbeteiligung und E-Demokratie und misst diese an den oben aufgeführten Gütekriterien. Als Mini-Publics bezeichnet er eine geloste Gruppe von 160 Menschen eines Landes, die sich ein Jahr mit einem Thema auseinandersetzen und hierfür ein Stipendium erhalten. Seinen Einschätzungen zu Folge: „mini publics can be seen as a way of reinvigorating interest in the democratic credentials of this recruitment technique“ (ebd.: 109). Auch aus der Sicht

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der deliberativen Demokratie-Vertreter würden „kleine Öffentlichkeiten“, also zufällig ausgewählte Bürger aller gesellschaftlicher Schichten, den freien und fairen Austausch unter Bürgern verstärken und motivieren (vgl. ebd.: 109f.). Allerdings bliebe die Herausforderung bestehen, ob sie den politischen Prozess in irgendeiner Weise beeinflussen oder ob Menschen, die daran (noch) nicht partizipieren, ihre Rechte wahrnehmen können oder überhaupt davon wissen. In seinen Betrachtungen sind Mini-Publics Nischenerscheinungen. Die vorliegende Arbeit schließt insofern an die Ideen von Smith an, da sie eine Art „intentionale“ Mini-Public auf der lokalen Ebene empirisch untersucht und deren regionalpolitischen Einfluss betrachtet. Über die Sekundärliteraturbetrachtung von Smith hinaus können sich herauskristallisierende Gütekriterien (Inklusivität, Kontrolle durch das Volk, überlegte Entscheidungsfindung, Transparenz, Effizienz und Übertragbarkeit) mit Blick auf diesen Forschungsstand auch auf das vorliegende Beispiel angewendet werden. Hoffmann-Axthelm (2004: 12) spricht über Lokale Demokratie und Selbstverwaltung von einem „nicht unrealistischen Teilprozeß (sic!) innerhalb der anstehenden Anpassung der öffentlichen Exekutivfunktion an eine Welt, in der nicht mehr politische Programme die Führungsgröße bilden, sondern die wirtschaftlichen Präferenzen der vielen Einzelnen.“ Er verbindet die Partizipation auf der lokalen Ebene direkt mit den wirtschaftlichen Grundlagen der jeweiligen Bürger und stellt somit das Wirtschaftssystem und das politische System in ein direkt miteinander verwobenes Lokales, das er als Einschränkung bezeichnet, „die das Alles noch erlaubt.“ (ebd.: 14). Statt einer Abschaffung oder einer Revolution gegenüber der repräsentativen Demokratie spricht Hoffmann-Axthelm von deren Entlastung, bzw. einer Ergänzung: „Lokalität ist diejenige Einschränkung, die die Möglichkeit horizontaler Gesellschaftsbeziehungen noch einmal ins Auge zu fassen erlaubt. In dieser Einschränkung steckt der ganze historische Lernprozeß: von der gefährdeten Akephalität segmentärer – selbstverständlich damit zugleich lokaler – Gesellschaften, zu einer lokalen begrenzten Horizontalität jenseits der unaufhaltsamen Parabel staatlich-herrschaftlicher Zentralisierung. Eine Horizontalität, die nunmehr, als Segment angelehnt an die Nichtabschaffbarkeit des Lokalen, wieder möglich ist. Möglich aufgrund der Trennung der beiden Geschichten: des Übergangs der hinter uns liegenden Zentralisierungsgeschichte in die neue der globalen Netze, und, zugleich, der Freistellung eines Restbereichs, in welchem die andere Geschichte des Widerstands der Dinge, jenseits des Todes, zu neuen Leben kommen mag.“ (ebd.)

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Das Lokale sei entmachtet und würde dadurch eine postpolitische Mächtigkeit entfalten können. Lokale Selbstverwaltung hieße „ein bestimmtes Maß an Macht dauerhaft und anerkannt an der Basis unterzubringen“ (ebd.: 15), das nicht gleich bei Konfliktfällen durch nächsthöherstehende Instanzen einkassierbar ist. Er stellt historische Modelle vor, wie die direkte Demokratie, Gemeinwohl, Kommunale Autonomie, von der Möglichkeit der Integration in den Sozialstaat und von nichtverstaatlichten Inseln der Gegenwart und sieht übergreifende Institutionen, wie zum Beispiel die Europäische Union als Chance zur Etablierung lokaler Selbstverwaltung: „Brüssel ist die Bedingung der Möglichkeit“ (ebd.: 73), so sein Statement. In seinem Vorschlag sind Ökonomie und politisches System direkt mit Selbstverantwortung und Selbstreflexion verwoben: „Die Individuen sollen zu ihrem Recht auf Mitentscheidung, Verantwortung und Informiertheit kommen, und sie sollen gleichzeitig für die Kosten der von ihnen beanspruchten bzw. ausgelösten Leistungen verantwortlich sein.“ (ebd.: 76). Das normative Werk kann als Modell angesehen werden, als Vorschlag für eine mögliche Gestaltung lokaler Selbstverwaltung. Welche Möglichkeiten und welche Grenzen dieses Modell beinhaltet kann allerdings erst in der Praxis ermessen werden. Fasst man die eben ausgeführten Argumente zusammen, so wird in dieser Arbeit von einem aktiven, Wirksamkeit- und Handlungsermächtigenden Demokratiebegriff gesprochen, der den Austausch auf lokaler Ebene befördert und somit nachhaltige Handlungen und lokale Energieproduktion in Gang setzt. Direkte Aktionen und Herstellung von Artefakten sind in diesen erweiterten Begriff deliberativer Argumentation mit inbegriffen und sollen im Folgenden noch weiter spezifiziert werden.

Deliberative Demokratie in der lokalen Selbstverwaltung Die Arbeit wird aufgefasst als ein Beitrag zur praktischen Erforschung der deliberativen demokratischen Praxis in der lokalen Selbstverwaltung. Die Aushandlungspraktiken innerhalb der Formate im Ökodorf entsprechen den Grundregeln der deliberativen Demokratie: „In der deliberativen Demokratie werden Gesetze in Outcome-orientierten Diskursen eruiert, deren Deliberativität von der Erfüllung normativer Voraussetzungen abhängt, zum Beispiel: Statusgleichheit,

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Herrschaftsgleichheit, Beteiligungsmöglichkeit aller Anwesenden oder Orientierung am Gemeinwohl.“ (Schmidtke 2017; Bächtiger & Steiner 2005: 156. Vgl. Goodin 2005; Goodin & Niemeyer 2003; Mansbridge et al. 2010: 67 und 2012.; Bobbio 2010: 15f.)

Es werden in Diskussionen, wie weiter unten der empirische Teil zeigen wird, immer wieder Konsens- oder Konsent-basierte Entscheidungen gefällt, ohne dass eine Parteilichkeit eine Rolle spielen würde: „Die Deliberation ist die Erzeugung eines kollektiven Willens durch Äußerung und Austausch von Argumenten, die sich an Kriterien der Validität und Unparteilichkeit messen lassen müssen. Die argumentative Diskussion (‚arguing‘) dient dem Zweck, individuelle Präferenzen nicht nur zu summieren und abzugleichen, sondern zu erläutern, zu überprüfen und im Zuge der Debatte – zumindest potentiell – auch zu verändern und weiterzuentwickeln. […] Im Ideal zeichnet sich ein deliberatives Entscheidungsverfahren dadurch aus, dass Diskussionen frei, egalitär, rational und konsensorientiert verlaufen. Sie zielen darauf ab, Gründe und Argumente zu finden, die zumindest prinzipiell für alle Beteiligten akzeptabel sind.“ (Schmidte 2017; Hurrelmann et al. 2002: 545f.; vgl. hierzu auch Habermas 2005: 384. Bartels 2013: 478; Thompson 2008: 501; Stromer‐Galley 2007: 6; Cohen 1997: 74f.)

Es gibt ein klares Regulatorium, welche Art der Interaktion als deliberative demokratische Praxis anzusehen ist. “The deliberation should, ideally, be open to all those affected by the decision. The participants should have equal opportunity to influence the process, have equal resources, and be protected by basic rights. The process of “reason-giving” is required and central. In that process, participants should treat one another with mutual respect and equal concern. They should listen to one another and give reasons to one another that they think the others can comprehend and accept. They should aim at finding fair terms of cooperation among free and equal persons. They should speak truthfully. The criterion that most clearly distinguishes deliberative from non-deliberative mechanisms within democratic decision is that in the regulative ideal, coercive power should be absent from the purely deliberative mechanisms. Participants should not try to change others’ behavior through the threat of sanction or the use of force.” (Mansbridge und James Bohman, Simone Chambers, David Estlund, Andreas Follesdal, Archon Fung, Christina Lafont, Bernard Manin, José Luis Martì 2010: 65)

Mansbridge (2010) argumentieren weiter, dass ein deliberativer Aushandlungsprozess nicht zwangsläufig in Konsens, jedoch in einer Klärung eines Konfliktes oder der Strukturierung einer Uneinigkeit bestehe (vgl. ebd.: 68). Sie gehen davon aus, dass Selbstinteresse und Konflikt zwischen Interessen der Aushandelnden wichtig ist für die deliberative Demokratie. Die Beobachtungen auf der lokalen Ebene lassen sich an diese Betrachtung der deliberativen Aushandlungspraxis sehr gut anschließen und beobachten weiter, dass Emotionen in Aushandlungsprozessen eine wichtige Rolle spielen und diese beachtet werden müssen.

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Hurrelmann et al. (2002: 547) gehen von den Kriterien der Zugangsfreiheit, Nichtbehinderung, Sachzentrierung, Argumentativität, Aufmerksamkeitssicherung, Zurückhaltungsverbot und Reaktionsgebot aus, die als Bedingungen und Anforderungen für die Praxis der kollektiven Entscheidungsfindung gewährleistet sein müssen. Ihrer Argumentation zu Folge bieten nur reale Versammlungen und nicht Internetforen die Möglichkeiten und Bedingungen für einen deliberativen Austausch der Argumente. Fuchs-Goldschmidt (2008) argumentiert, dass die deliberative Praxis, also das Konsensprinzip des kommunikativen Handelns im Meinungs- und Willensbildungsprozess nicht in die Prozeduralität der Politik übertragen ließe, denn dieses sei durch die Prozeduralität des ökonomischen Systems und der Macht bestimmten Prozeduralität des politischen Systems selbst bestimmt (vgl. ebd.). Ob und inwiefern die konsensuellen Ergebnisse aus dem erforschten Praxisbeispiel in die Prozeduralität des politischen Systems einfließen, erscheint in diesem Kontext irrelevant. Die Beobachtungen zielen darauf ab, wie die deliberative Praxis auf lokaler Ebene ermöglicht werden kann und die Menschen in einen partizipativen Austausch miteinander gebracht werden können. Inwiefern und wie die Ergebnisse der konsensuellen Praxis regionale und staatliche Instanzen erreichen können, muss in einer anderen Arbeit diskutiert werden Wie Kahane et.al. (2010) schreiben, ist deliberative Demokratie “at this early stage in its development, institutionally underdescribed“ (ebd.: 6). Welche Art von Institutionen kommen für eine deliberative Praxis in Frage? Hierfür bietet diese Dissertation einige institutionelle Experimente und Praktiken an, die einen Austausch von Argumenten und einen Willensbildungsprozess ermöglichen. Ein Ökodorf kann insofern mehr als ein Lehr- und Lernfeld für demokratische Praktiken angesehen werden. Die vorliegende Forschung kann als eine empirische Grundlage für die kreative institutionelle Weiterentwicklung der ideal und theoretisch gehaltenen Vorschläge angesehen werden: „beyond a certain point, progress on foundational philosophical issues cannot be achieved without attending more concrete questions of institutitonal realization and implementation.“ (ebd.: 7). Mit der Annahme, dass Demokratie immer auch Konflikte, ob der pluralistischen Meinungen, beinhaltet, sollte dies ein zentrales Thema für die weitere Forschung von Möglichkeiten der Etablierung deliberativer Demokratiemodelle sein. Die Arbeit vermittelt

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mikrosoziologische Eindrücke darüber, was bei der Durchführung von deliberativen demokratischen Praktiken geschieht. „One of the central aspirations of deliberative democracy is to provide a legitimate normative basis for collectively binding democratic decisions” (Valadez 2010: 155). Kollektiv getragene demokratische Entscheidungen auf der Basis von überlegten Aushandlungsprozessen sind also Teil der Beobachtungen im vorliegenden Fallbeispiel. Die Frage, die sich daraus resultierend für die vorliegend Forschung ergibt ist: wie gehen die Bewohner des Ökodorfes ihre deliberativen Aushandlungsprozesse an? Welche Methoden und Formate wenden sie für das Gelingen der Kommunikation an und welche Herausforderungen und Konflikte ergeben sich daraus für das Zusammenleben? Ob und inwiefern eine Veränderung der politischen Strukturen und der Praxis auch eine Veränderung des Ökonomischen Systems erfolgt ist fraglich. Welche Veränderungen für eine nachhaltige Gesellschaft in der Ökonomie notwendig wären, wird das folgende Kapitel betrachten.

2.3 Die Krise der Ökonomie Wie in den vorangehenden Kapiteln schon deutlich wurde, bedingen sich das ökonomische, politische und ökologische System gegenseitig und haben zu den ökologischen Schäden geführt, welche den Klimawandel vorantreiben. Die auf Wachstum basierenden Ideen des kapitalistischen Systems konfligieren mit den Ideen der Suffizienz- und Subsistenzwirtschaft. Scheer (2011), der das sogenannte „green growth“ befürwortet, weist auf die konfligierenden Interessen gegenwärtiger globaler und lokaler Energiekonzerne hin. Die Fragen, die er bezogen auf die Energieproduktion stellt, streben ein grünes Wachstum an: Was bedeutet es auf Nukleare- und fossile Energieträger zu verzichten? Warum gestaltet sich der Wandel so zäh und langwierig? Laut ihm handeln die Regierungen der führenden Industrienationen ambivalent – einerseits fördern sie erneuerbare Energien, investieren aber ebenso in herkömmliche Energieträger, wie Kohle, Öl, Atomtechnologie etc. und das auf sehr aufwendige und ressourcenverbrauchende Art und Weise (vgl. ebd.: 16ff.). Er spricht in seinem vorherigen Werk von mentalen Hürden: „Warum gibt es bisher keine politischen Initiativen, die die erneuerbaren Energien

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auch wirtschaftlich ebenso ambitioniert und konkret als Zukunftsprojekt vorantreiben, wie es für den Bau von Eisenbahnen, der Raumfahrt, der Atomtechnologie und erst jüngst der Infrastrukturen für die Informationstechnologie möglich war?“ (Scheer 2005: 20). Er fragt nach den Akteuren und Handlungslogiken, die für und gegen die Erneuerbaren Energien stehen, um den Wandel (der nachhaltigen Energiegewinnung) entschieden zu beschleunigen. Latouche (2015) hingegen spricht von einem ethnozentrischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, verbunden mit einem Kolonialismus, in dem sogar Begriffe, wie „Nachhaltigkeit“ benutzt und für bestimmte Zwecke gebraucht werden (vgl. 27ff.). Er unterscheidet die beiden Begriffe „Entwicklung“ und „wirtschaftliche Entwicklung“, die in der Entwicklungspolitik programmatisch vermischt werden. Dagegen hält er den Begriff „Degrowth“, der aus der Postwachstumsbewegung kommt und auf Autonomie und Sparsamkeit basiert: „Degrowth […] [bedeutet], dass wir uns vom Ziel des exponentiellen Wachstums verabschieden müssen, da dieses Ziel nur für die Profitgier der Kapitaleigner steht – mit verheerenden Folgen für die Umwelt und damit auch für die Menschheit. Die Gesellschaft wird im Interesse des Produktionsprozesses zu einem Instrument oder Mittel reduziert, und die Menschen selbst werden zum Abfallprodukt des Systems deklariert, das sie am liebsten als nutzlos und überflüssig ansehen will.“ (Latouche et al. 2015: 24)

Die Wurzel des Problems sei, so Latouche, ein logischer Fehlschluss, nämlich, dass „die Umwandlung von Energie in ihre verschiedenen Formen (Wärme, Bewegung etc.) nicht völlig reversibel ist.“ (ebd.: 32). Dieses Phänomen, Entropie genannt, „kann nicht ohne Auswirkungen auf die Wirtschaft bleiben, die auf diesen Umwandlungen beruht.“ (ebd.). Im derzeitigen Wirtschaftssystem wird die Entropie, also die Unumkehrbarkeit der Umwandlung von Energie in Materie vernachlässigt und es mit Blick auf die Herstellung von Energie keine ökologischen Grenzen für Wirtschaftswachstum zu geben scheint. Der entropische Prozess entfaltet sich „in einer Biosphäre, deren Abläufe zeitlich nicht umkehrbar sind.“ (ebd.: 34). Dem unendlichen Wachstum in einer endlichen Welt kann also nur entgegnet werden, wenn und insofern die Grenzen ökologischer Systeme im Rahmen von wirtschaftlichem Handeln mitgedacht werden, in einer sogenannten „Bioökonomie“ (Georgescu-Roegen in ebd.).

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„Der Zusammenbruch der traditionellen Ordnung bedeutete nicht, daß wir uns in einem Vakuum befinden. Es wäre nicht das erste mal (sic!) in der Geschichte, daß Notlösungen den Keim großer und dauerhafter Einrichtungen in sich haben.“ (Polanyi 1977: 309).

Polany betrachtet die große Transformation historisch im Hinblick auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch die Industrialisierung im 19. Und 20. Jahrhundert. Er kritisiert die Herausbildung von Marktwirtschaften und ihre Verflechtung mit den Nationalstaaten sowie der Wechselwirkungen, die er als „Marktgesellschaft“ beschreibt. Latouche (2015: 77ff.) verweist als Antwort auf diese Problemstellungen auf die lokale Autonomie, die sich einerseits in einer lokalen Nahrungsmittelproduktion mit einem erhöhten Fleischverzicht darstellt und zum anderen auf die Energieautonomie, die nach Latouche durchaus von Autarkie zu unterscheiden sei. Es sei notwendig, dezentralisierte Gesellschaften zu verwirklichen, angepasst mit dem Potenzial, eine oder mehrere Formen erneuerbarer Energie lokal zu entwickeln und zu verwenden. Seiner Ansicht nach sollte zudem der lokale Handel gefördert werden, wie auch die Geldpolitik lokalisiert werden; er schlägt z.B. „bioregionale Währungen“ vor. Weniger Transporte, transparente Produktionsabläufe, Anreize nachhaltiger Produktion und nachhaltigen Konsums, Reduzierung der Abhängigkeit von Kapitalflüssen und mehr Sicherheit in vielerlei Hinsicht seien die Vorteile einer Regionalisierung der Ökonomie. Zudem würde dies die natürliche Umwelt als Basis der Wirtschaft schützen und einen demokratischeren Zugang sichern, Arbeitslosigkeit verringern, soziale Teilnahme und Integration stärken, Solidarität fördern, , Gesundheit fördern und in den reichen Ländern mit der Vorgabe eines maßvolleren Lebensstils auch noch den Stress reduzieren (vgl. ebd.: 80ff.). Gorz und Moldenhauer (2011) plädieren für radikalere Schritte, in ihrer Monographie für eine politische Ökologie schlagen sie „Auswege aus dem Kapitalismus“ vor: „Ausgehend von der Kritik des Kapitalismus gelangt man also unweigerlich zur politischen Ökologie, die, zusammen mit der unverlässlichen kritischen Theorie die Bedürfnisse, ihrerseits dazu führt, die Kritik des Kapitalismus zu vertiefen und zu radikalisieren. Ich würde also nicht sagen, dass es eine Moral der Ökologie gibt, sondern vielmehr, dass die ethische Forderung nach Emanzipation des Subjekts die theoretische und praktische Kritik des Kapitalismus impliziert, von der die politische Ökologie eine wesentliche Dimension ist. […] Die Ökologie hat nur dann ihre volle kritische und ethische Kraft, wenn die Verwüstungen der Erde, die Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens als die Folgen einer bestimmten Produktionsweise verstanden werden; und wenn verstanden wird, dass die

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Produktionsweise die Maximierung der Erträge verlangt und zu Techniken greift, die dem biologischen Gleichgewicht Gewalt antun.“ (ebd.: 10f.)

Wie Ivan Illich (2013) unterscheidet er zwischen „offenen“ und „verriegelten“ Technologien, die Interaktion und Kooperation zwischen Menschen entweder begünstigen oder begrenzen. Als Beispiel für eine verriegelte Technologie nennt er Atomkraft. Andre Gorz spricht von einer „Krise des Kapitalismus“, die sowohl makroökonomisch, als auch mikroökomisch sichtbar wäre: „Die „ökologische Umstrukturierung“ kann die Krise des Systems nur verschärfen. Es ist unmöglich, eine Klimakatastrophe zu verhindern, ohne radikal mit den Methoden und der ökonomischen Logik zu brechen, die seit hundertfünfzig Jahren zu dieser Katastrophe führen. […] Der Wachstumsrückgang ist also ein Überlebensgebot. Es setzt jedoch eine andere Ökonomie, einen anderen Lebensstil, eine andere Zivilisation, andere gesellschaftliche Verhältnisse voraus.“ (ebd.: 20)

Auch er spricht von einer „Bewusstseinsänderung“ um einen zivilisierten Ausweg aus dem Kapitalismus zu ermöglichen, der bereits begonnen habe. Laut ihm gäbe es dann „viel mehr Kompetenzen, Talente und Kreativität […], als die kapitalistische Ökonomie verwenden kann.“ (ebd.: 29). Ein relevanter Aspekt ist für ihn die Interaktion, Kommunikation und Kooperation: „Als Wissenschaft zeigt die Ökologie die Zivilisation in ihrer Interaktion mit dem irdischen Ökosystem, also mit dem, was die natürliche Grundlage, den nicht (re-)produzierbaren Kontext der menschlichen Tätigkeit bildet.“ (ebd.: 31). Regenerierbarkeit und Reorganisation durch die Diversität und Komplexität des Öko-systems werden durch Techniken der Rationalisierung und Beherrschung beschädigt. Seiner Ansicht nach ist der Unterschied zwischen einer Politik des Umweltschutzes und einer politischen Ökologie die Tatsache, dass im ersteren die Umwelt „gemanagt“ werden soll: z.B. mit ihr schonend umgegangen werden soll, damit ihre Fähigkeit der Selbstregeneration bewahrt bleibt, „ohne dass sich die Mentalität, das Wertesystem, die Motivationen und die ökonomischen Interessen der gesellschaftlichen Akteure […] ändern müssen.“ (ebd.: 33). Die ökologische Bewegung ist für ihn eine politischkulturelle Bewegung, die Naturschutz als einen Schutz ihrer Lebenswelt begreift: „Der Widerstand gegen diese Zerstörung der Fähigkeit, für sich selbst sorgen, anders gesagt der existenziellen Autonomie der Individuen und Gruppen oder Gemeinden, steht am Ursprung spezifischer Teile der ökologischen Bewegung: Netzwerke gegenseitiger Hilfe für Kranke, Bewegungen zugunsten alternativer Medizinen, Bewegungen für das Recht auf Abtreibung, Bewegung für das Recht, „in Würde“ zu sterben, Bewegungen zum Schutz der Sprachen, Kulturen und Regionen usw. Die tiefe Motivation ist immer, die „Lebenswelt“ zu schützen: vor der Herrschaft der Experten, vor der Quanti-

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fizierung und der monetären Bewertung, vor der Ersetzung der Autonomie- und Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen durch Beziehungen des Markts, der Klientel, der Abhängigkeit.“ (Gorz und Moldenhauer 2011: 38)

Mit der Idee der Selbstbegrenzung spricht er ein Gefüge einer gelebten Solidarität und Sozialität an, bestehend aus Netzwerken gegenseitiger Hilfe, dem Austausch von Dienstleistungen, informellen Kooperationen, neuen Denkansätzen in Architektur und Städteplanung, dem Verhältnis zwischen Stadt und Land und zwischen Lebens- und Arbeitswelt: „Die Wirtschaftstätigkeit hat nur dann Sinn, wenn sie etwas anderem dient als sich selbst.“ (ebd.: 50). Auch Gorz plädiert für Schrumpfung, weniger Produktion, Sharing und Recycling. Nur durch eine Schrumpfung des Wachstums können wir der ökologischen Krise begegnen. Ihm zu Folge nähert sich der Kapitalismus seiner inneren Grenze an: „Im Herzen des Kapitalismus zeichnet sich eine andere Ökonomie ab, die das Verhältnis zwischen der Produktion von Handelsreichtümern und der Produktion von menschlichem Reichtum umkehrt.“ (ebd.: 119). Als Definition für eine nachhaltige Ökonomie kann für diese Arbeit festgehalten werden, dass es nicht ausreicht, die Strategien des grünen Wachstums anzuwenden, also die Technologien der Energieproduktion auszutauschen ohne an dem System der Energieproduktion und der Ressourcen(-über)-nutzung etwas zu verändern. Das bestehende ökonomische System basierend auf der kapitalistischen Grundlage der Mehrwertgenerierung und des Wachstums stößt an die „globalen Grenzen des Wachstums“ (Meadows 2000, 2010), wie schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts festgestellt werden konnte. Dennoch wurde bisher wenig verändert. Die Gestaltung einer „Degrowth Gesellschaft“ wird von verschiedenen Autoren vorgeschlagen und propagiert. Es bleibt jedoch die Frage offen, wie diese gestaltet werden kann und wie Menschen innerhalb einer derartigen auf Suffizienz und Subsistenz basierenden Gesellschaft miteinander interagieren und Konflikte, bzw. Widersprüche lösen könnte. Die Dimension der Kultur, in der die Menschen wie selbstverständlich „nachhaltig denken und handeln“, scheint eine Lösung mancher Autoren zu sein.

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2.4 Transformation zu einer Kultur der Nachhaltigkeit Die Ausführungen der vorangehenden Kapitel verdeutlichen, dass der Klimawandel nicht eindimensional betrachtet werden kann, sondern sich auf alle Bereiche des menschlichen (Zusammen-)Lebens bezieht. Es kann nicht zwischen wirtschaftlichem Handeln und gesellschaftlichem Handeln und Strukturen unterschieden werden, da diese sich direkt bedingen und miteinander einhergehen. Der Ausweg scheint die Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft oder hin zu einer „Kultur der Nachhaltigkeit“ (vgl. Parodi et al. 2010). Die beiden Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Transformation“ sollen im Folgenden für diese Arbeit konzeptualisiert und kontextualisiert werden. Duxbury verwendet den Begriff der „Nachhaltigkeit“ im Sinne von Verantwortung für die Natur und die Umwelt, für ökonomischen Wohlstand und Gesundheit, Soziale Gleichberechtigung, kulturelle Vielfalt und Vitalität (vgl. Hawkes 2001 in Duxbury 2013). Wie Duxbury (2013: 14ff.) ebenfalls ausführt, spielen Kunst und Kultur, Schönheit und Einheit mit der Identität der Menschen und des Ortes eine gravierende Rolle für ein nachhaltiges Zusammenleben. Häufig werden drei Säulen der Nachhaltigkeit genannt: Soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit. Gaia Education und GEN (Global Ecovillage Network) fügen eine weitere Dimension hinzu, die entweder Spiritualität oder Welthaltung, Weltsicht oder Wertekodex etc. genannt wird. Die Weltsicht oder die Werte sind mit der sozialen und kulturellen Dimension von Nachhaltigkeit verwandt, GEN definiert dies wie folgt: „Bei aller Vielfalt der Ökodörfer gibt es in ihrer Kultur und Weltanschauung einen gemeinsamen Wert: Respekt vor dem Leben. Verantwortung und aktiver Einsatz für die Erde und all ihre Bewohner sind die Basis einer Kultur der Nachhaltigkeit. Diese Ethik ist kultur- und religionsübergreifend.“ (Schimmel 2014: 4)

Hier wird also deutlich, dass Verantwortung und Respekt die zu Grunde liegenden Werte für eine Kultur der Nachhaltigkeit darstellen. Wagner definiert mit “Research in Community” (RIC) das sogenannte Rad der Nachhaltigkeit: „The challenge of a culture of sustainability is to bring human needs and lifestyles in alignment with the system requirements of sustainable development.” (Wagner 2012: 62)

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Die drei Ebenen: die Bedürfnisse des Systems bezeichnen die Ziele und Forderungen des Systems, die Ebene der menschlichen Bedürfnisse bezeichnet die individuellen und sozial geteilten menschlichen Bedürfnisse, Lebensbedingungen für eine Lebensqualität. Die Ebene der Implementierung stellt die mittlere Ebene dar. Die Ebene der Implementierung wird sowohl in RIC, als auch in dieser Arbeit im Besonderen untersucht: die sozialen Strukturen und das Zusammenleben der Menschen, die technischen und physischen Transformationen, Kunst und Ästhetik, Werte und Normen und deren kollektive Repräsentation, Bildung und Wissen, institutionelle und politische Ebene. Sie gehen davon aus, dass nachhaltige Entwicklung nicht nur in abstrakten Zielen festgehalten werden kann, sondern sich in den täglichen Routinen widerspiegeln muss (vgl. ebd.: 67). Das globale Ökodorfnetzwerk (GEN) betont in diesem Zusammenhang, dass es neben den drei Dimensionen des politischen/sozialen, ökonomischen und ökologischen noch eine besondere individuelle Grundhaltung braucht, welche die Nachhaltigkeit lebendig macht. Auch Stahmer (2010): 59ff. plädiert für eine zusätzliche Dimension der kulturellen Nachhaltigkeit Das globale Ökodorfnetzwerk (GEN) betont im Zusammenhang mit einer Kultur der Nachhaltigkeit, dass es neben den drei Dimensionen: des politischen/sozialen, ökonomischen und ökologischen noch eine individuelle Grundhaltung braucht, welche die Nachhaltigkeit lebendig macht, diese individuelle Grundhaltung kann auch mit „Kultur“ bezeichnet werden. Um diese Ziele zu erreichen, ist ein holistischer Ansatz notwendig, der die vier Dimensionen integriert. Auch Stahmer (2010: 59ff). plädiert für eine zusätzliche Dimension der kulturellen Nachhaltigkeit: „[…] unsere Kultur in ihrer Rolle als Vermittlerin von Phantasiewelten [ist] […] ein Indikator für Nicht-Nachhaltigkeit […], der Begriff kulturelle Nachhaltigkeit gäbe hier keinen Sinn. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir derartige Kulturthemen bei Diskussionen der Nachhaltigkeit außen vorlassen sollten. Ganz im Gegenteil sollte der politische und ökonomische Einfluss auf die Phantasiewelt der Bevölkerung sehr aufmerksam verfolgt werden. Gerade diese Einflussnahme könnte nämlich einer der Haupthindernisse bei der Realisierung einer nachhaltigen Gesellschaft werden.“ (Stahmer 2010: 67)

Anhand dieses Zitates wird deutlich, dass Nachhaltigkeit fest im Bewusstsein der Menschen verankert sein, und nicht nur durch politische Instrumente adressiert werden sollte. Nachhaltiges Handeln geschieht durch Individuen. Dies bestätigt auch die Strategie zur nachhaltigen Entwicklung der Bundesregierung (2002):

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„Es geht darum, für jedermann, jetzt und in der Zukunft, eine gute Lebensqualität zu erhalten und wo möglich zu verbessern. Jeder soll die Möglichkeit haben, sein Leben in die Hand zu nehmen, zu lernen und zu arbeiten, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und eingebettet in ein Netz sozialer Beziehungen in einer gesunden und sicheren Umwelt zu leben. Der Mensch mit seinen Möglichkeiten und seiner Verantwortung steht im Mittelpunkt.“ (Nachhaltigkeitsstrategie Deutschland 2002)

Verantwortung, individuelle Möglichkeiten und Lebensqualität stehen im Vordergrund. Weitere Dimensionen der Nachhaltigkeit für Deutschland definiert die Bundesregierung in ihrem Bericht: Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt, internationale Verantwortung. Doch die Umsetzung dieser Strategien kann, zumindest zu einem großen Teil, nur auf lokaler Ebene stattfinden und daher bleibt die Frage offen, wie dies politisch durch- und umgesetzt werden kann. Die Neuauflage der Nachhaltigkeitsstrategie ergänzt und erweitert den Bericht und bezieht sich auf die Ziele der Agenda 2030, in der es darum geht, Hunger und Armut zu reduzieren und Gleichheit zu schaffen. Ziele sind es, den Planeten durch nachhaltige Produktion, Bewirtschaftung und Konsum zu schützen „und umgehende Maßnahmen [zu ergreifen] gegen den Klimawandel, damit die Erde die Bedürfnisse der heutigen und kommenden Generationen decken kann.“ (Präambel Agenda 2030). Damit setzt die „Agenda 2030“ auch für die deutsche Politik den wichtigsten internationalen Impuls seit der Erstauflage der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie im Jahr 2002. Die Bundesregierung hat sich vielfach zur ambitionierten nationalen Umsetzung dieser Agenda bekannt. „Die Weltgemeinschaft hat sich mit der „Agenda 2030“ für die kommenden 15 Jahre also viel vorgenommen. Die Bundesregierung verpflichtet sich zu einer ehrgeizigen Umsetzung dieser Agenda. Denn auch in Deutschland sind wir an einigen Stellen noch zu weit von einem nachhaltigen Leben, Wirtschaften und Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen entfernt.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel, Regierungserklärung 24. September 2015“ (Die Bundesregierung 2016). Es werden in dem Bericht die gleichen Dimensionen behandelt, wie im Bericht von 2002 und eine Strategie aus der Idee erarbeitet: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“, so die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommission“ 1987)“ (Die Bundesregierung 2016)

Der weltweiten Situation zu Folge, dass vor der Mitte des Jahres die Ressourcen für das gesamte Jahr bereits aufgebraucht wären, um ein nachhaltiges Leben für

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alle Menschen zu gewährleisten und dass in diesem Jahr (2017) der Wasserstand im März so niedrig war, wie er normalerweise im August ist, hapert es an der Umsetzung nachhaltiger Lebensweise in Deutschland. Es braucht also eine Veränderung, die auf verschiedenen Ebenen stattfinden muss. Diese Veränderung hin zu einer nachhaltigen Lebensweise wird allgemeinhin mit Transformation oder Transition beschrieben, was im Folgenden definiert werden soll. Transformation und Transition ist keine Erfindung der Nachhaltigkeits-, Umweltund Klimabewegung. Obwohl in diesem Kontext eine Veränderung beständig eingefordert wird. Polany kontextualisiert „The Great Transformation“ historisch mit der Entwicklung der Industrialisierung in den westlichen Ländern und bezieht sich dabei insbesondere auf England: „Soll der Industrialismus nicht zur Auslöschung der Menschheit führen, dann muß er den Erfordernissen der menschlichen Natur untergeordnet werden. Die eigentliche Kritik an der Marktgesellschaft besteht nicht darin, daß sie auf ökonomische Prinzipien beruhte – in gewissem Sinne muß jegliche Gesellschaft darauf beruhen -, sondern daß ihre Wirtschaft auf dem Eigeninteresse beruhte. Eine solche Organisation des Wirtschaftslebens ist völlig unnatürlich und im rein empirischen Sinn außergewöhnlich.“ (Polanyi 1977: 307)

Die Transformation hin zur Industriegesellschaft hat im 19. Jahrhundert begonnen. In dieser relativ kurzen Spanne der Menschheitsgeschichte wurde ein relativ großer Teil der irdischen Ressourcen verbraucht und somit das Klima verändert. Daher benötigt es eine Transformation hin zu einer anderen Wirtschafts- und Lebensweise, die dem gegenwärtigen industriellen, individualistischen und egoistischen Wirtschaftshandeln gegenübersteht: “It is clear there is no starting point of the “Great Transformation,” in the sense of an Archimediean point from which the “new world” is created, but rather change is essential – in many places and very different ways. These changes affect each individual and the society as a whole, creating the context and conditions for each person.” (Wagner 2012: 62)

Quilley zeigt auf, dass die Transition, wie sie insbesondere von Rob Hopkins (Hopkins und Wessling 2014) im „Transition Handbook“ propagiert wird, nicht nur positive Seiten hat, sondern durchaus auch kritisch zu betrachten ist: “Transition does not pertain to a pre-existing, established community. It is rather an attempt to use self-conscious community-making as a response to systemic crisis – a perceived crisis of civilization.” (Quilley 2015: 205). Was bedeutet genau Transition oder Transformation, welche Deutungen werden dieser „Veränderung“ in

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diesem Diskurs gegeben? Quilley stellt die Vorannahmen der Transitionsbewegung heraus: „Small is beautyfull and inevitably“ (Quilley 2015: 205) aufgrund des „peak oil“ und des bevorstehenden Klimawandels scheint die Re-Lokalisierung die unausweichliche Antwort auf die bevorstehenden Katastrophen, obwohl, so argumentiert Quilley mit Elias (1979 in Quilley 2015: 205f.), sich die menschlichen Überlebenseinheiten von politischen, kulturellen und ökonomischen Leben seit 1000 Jahren nur vergrößert haben. Er kristallisiert folgende Deutungsmuster als dominant in der Transitionbewegung heraus: (1) Die menschliche Entwicklung, mit der wachsenden Nutzung von Energie und Rohstoffen, dominiert zunehmend mehr Ökosysteme. (2) Mehr Komplexität in der Gesellschaft kostet die ökologische Zerstörung, Artensterben und einen Verlust an Komplexität der Natur. (3) Modernisierung und Globalisierung haben Bevölkerungswachstum zur Folge, technologische Innovationen, ökonomisches Wachstum und höheren Konsum pro Person. (4) Die Größe der globalen Ökonomie ist nicht nachhaltig und ein Kollaps der globalen Gesellschaft ist unaufhaltbar. (5) Persönliches, familiäres und gemeinschaftliches Bestehen bzw. Widerstandsfähigkeit (resilience) gegenüber diesen Krisen ist am ehesten erreichbar durch das Entstehen ökonomischer, kultureller, sozialer und ökologischer Bande in ortsgebundenen Gemeinschaften (vgl. ebd.: 203). Sein Argument gegen diese re-lokalisierten Kleinstgemeinschaften ist die zivile Sicherheit und das persönliche Recht, welches durch die drei Gewalten der Nationalstaaten gesichert ist und in und zwischen diesen kleinen lokalisierten Gemeinschaften nicht mehr gesichert werden kann. Er führt aus, dass eine Rückbewegung in eine Clan- und Familiengesellschaft in Kleinkriegen ausarten könnte, wenn Ressourcen knapp werden. Insbesondere für die USA, als „bewaffnete Gesellschaft“, sieht er diese Entwicklung als großes Risiko an. Im gleichen Band argumentiert der Herausgeber (Böhm und Zareen Pervez Bharucha and Jules Pretty 2015: 240ff.), dass diese Verbindung mit Natur und Land unausweichlich für die bevorstehenden Herausforderungen der Adaption an die neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen sein wird: „For emerging ecocultures, too, reconnection to nature and the land is of utmost importance. […] By restoring soils, creating access to land and building community with children’s well-being at its heart, Lynedoch [ein Ökodorf in Südafrika, Stellenbosch] has helped to heal deep social and environmental wounds.” (ebd.: 241).

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Die multiple Krise

Die Möglichkeit, sogar Wunden aus dem kulturellen Gedächtnis von Völkern und Nationen durch diese bewusste Verbindung mit der Natur zu heilen, wird weiter ausgeführt: “Equally, almost all sustainability initiatives in developed countries – whether they are ecovillages […], Transition Town movements […] or community supported agriculture projects – aim to re-establish people’s connection to the land and nature. It is precisely these links that promise to restore not only the health of ecosystems but also the health and well-being of people and communities.” (ebd.)

Der gelungene Vergleich in dem Buch zwischen traditionellen Ökokulturen und neu entstehenden Ökokulturen zeigt die Bedeutung des alten, kulturellen Wissens auf, die Ehrung der Alten und deren Erfahrungen und traditionellen Wissensbestand, entgegen der Entfremdung durch den modernen, industrialisierten, von Massenkonsum getriebenen kapitalistischen Materialismus, um in eine nachhaltige, resiliente Zukunft der Menschheit und aller Lebewesen auf dem Planeten Erde zu gelangen: “Emerging ecocultures are also trying to recreate the connections, norms and knowledges that sustain social-ecological well-being in more traditional lifestyles. These efforts often arise from a deep sense of loss: loss of meaning, well-being, tradition and resilience. For this reason, it is an explicit strategy amongst Transition Town initiatives and other emerging ecocultures to reconnect to, and bring alive again traditional knowledge, skills and crafts.” (ebd.: 242)

Traditionelles Wissen, Handwerk und Kunsthandwerk, basierend auf der menschlichen Arbeitskraft spielen auch bei Andreas (2015) eine wichtige Rolle, indem er eine “Kultur der Nachhaltigkeit” und die Identitätsbildung von Ökodorfbewohnern im Ökodorf Sieben Linden untersucht. Hier wird ein Augenmerk auf den Modellcharakter von Ökodörfern gelegt und ihrer Vorreiter-Rolle als Pioniere für eine nachhaltige Form der Gesellschaft durch lokale Gemeinschaften, die progressiv und reflexiv ein „Richtiges im Falschen“ anstreben: „Schaffe ein Modell für das Neue und mache das Bestehende obsolet“ (Fuller 2014 auf der Konferenz GEN Europe, in Andreas 2015: 154). Eine kritische Perspektive, ob und inwiefern Ökodörfer als Modelle für nachhaltige Lebensformen gelten können, wird auch bei Andreas (2015) in den Blick genommen. Nichts desto trotz basiert die Konstruktion ihrer Selbst in den Augen der Bewohner und Aktivisten auf dem Bild eines Pioniers und Vorreiters oder auf dem Konzept eines Experimentierraumes, Modelles etc. und wie Andreas schreibt: „Schließlich ist die Vision der Nachhaltigkeit letztendlich nur als Transformation der Gesamtgesellschaft sinnvoll“ (ebd.:

Transformation zu einer Kultur der Nachhaltigkeit

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156). Ökodörfer haben also einen Bildungsauftrag, sie sind der mahnende Zeigefinger. Die Bewohner sind engagierte Aktivisten, die nicht auf den Straßen demonstrieren, sondern aktiv etwas in ihrem Lebensumfeld verändern wollen, bzw. mit verschiedenen Artefakten und Praktiken experimentieren. Wirtschaftliche Basis sind häufig Seminarbetriebe, die Selbstfindungsseminare, Gemeinschaftsbildungsseminare, Permakulturdesignkurse oder diverse spirituelle Körpertherapeutische Praktiken anbieten. Häufig auf der Basis der Erfahrungen und des Wissens der Bewohner selbst – „Transformationswissen“, wie Kunze (2009) es bezeichnet. Für die Erfüllung des didaktischen Prinzips, so Andreas, werden Gäste benötigt: „Die gesellschaftliche Bedeutung eines Ökodorfes entsteht im Spiel von Identität und Differenz. Sie nähren sich und andere aus ihrer Erfahrbarkeit und erfüllen auf diese Weise ihren selbstgewählten Bildungsauftrag.“ (Andreas 2015: 158). Die Intention von Ökodörfern zur Transformation der Gesellschaft als Modell- oder Forschungsprojekt untersucht Andreas mit dem Ergebnis: „Wir wollten eigentlich zum Mond, aber am Ende kommen Teflonpfannen für alle heraus.“ (ebd.: 170). Das bedeutet so viel, wie Nebenbei-Erfindungen werden adaptierbar, wie Komposttoiletten, Kommunikationsstrategien und vieles mehr, aber werden (oder müssen) alle die Reise zum Mond oder das revolutionäre und konsequente Leben in einem Ökodorf antreten? Die vorliegende Arbeit versucht weitere Aspekte aufzuzeigen, die Ökodörfer leisten und die im Kontext einer Veränderung auf dem Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft nutzbar gemacht werden können. Hierbei werden besonders auch die Vorteile für ländliche und strukturschwache Räume herausgearbeitet.

3 Energieeffizienz und Suffizienz im ländlichen Raum Gerade der traditionelle ländliche Raum war bislang deutlich von der Einheit des Lebens geprägt: Arbeit, Kultur, Kommunikation, Vergnügen, Bedürfnisbefriedigung, persönliches Leben werden im Rahmen einer sozialen Gemeinschaft ermöglicht. Im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung haben sich gesellschaftliche Veränderungen ergeben, Individualisierung und ein Energie-intensiver Lebensstil in jeglichen Bereichen hat eine Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und somit weltweit drohenden Klimawandels zur Folge. Gorz (2011) formuliert dies wie folgt: „Die Anordnung im Raum setzt die Desintegration des Menschen fort, die mit der Arbeitsteilung in der Fabrik begonnen hatte. Sie schneidet das Individuum in kleine Scheiben, sie schneidet seine Zeit, sein Leben in gut voneinander getrennte Abschnitte, damit man in jedem von ihnen einen wehrlos den Händlern ausgelieferter passiver Konsument ist und damit man nie auf den Gedanken kommt, dass Arbeit, Kultur, Kommunikation, Vergnügen, Bedürfnisbefriedigung und persönliches Leben ein und dasselbe sein können und müssen: die Einheit eines Lebens, gestützt vom sozialen Gewebe einer Gemeinde.“ (Gorz 2011: 64)

Energiedörfer oder Ökodörfer scheinen eine praktische, lokale Antwort auf die existenzielle Frage: Wie können wir dem Klimawandel begegnen? In dieser Arbeit wird der Fokus auf den ökologischen und nachhaltigen Wandel, insbesondere in weniger dicht besiedelten Räumen in Deutschland gelegt. Die ökologischen und nachhaltigen Bewegungen im urbanen Raum, sowie Forschungen und Ansätze dazu, die u.a. urbanes Wohnen nachhaltiger und ressourcenschonender gestalten (vgl. Hausen 2013; Condon 2010; Omer 2015; Duany und Coyle 2011), entstehen unter anderen Bedingungen und Voraussetzungen. Der weniger dicht besiedelte Raum wird als möglicher Experimentierraum nicht nur unterschätzt, sondern ist zudem deutlich weniger beforscht. Gegenwärtige Forschungsarbeiten konzentrieren sich häufig auf Transformation und Transitionsmöglichkeiten in Metropolen und Ballungszentren. Demographischer Wandel und Strukturwandel betreffen den ländlichen Raum jedoch im besonderen Maße. Daher ist es von großer Bedeutung, Innovations- und Entwicklungspotenziale im ländlichen Raumaufzuzeigen, welche zur Adressierung der Folgen des demographischen Wandels und des Klimawandels benötigt werden. Sowohl ein Energiedorf, als auch ein Ökodorf sind Beispiele für das Innovationspotenzial des ländlichen Raumes. Häufig sind die Unterschiede zwischen Ökodorf und Energiedorf nicht bekannt, jedoch kann festge-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A.-K. Schwab, Transformation im ländlichen Raum, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31275-6_3

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halten werden: In der praktischen Umsetzung und auch im wissenschaftlichen Diskurs unterscheiden sich Energie- und Ökodörfer stark. Selbst die Art der Involvierung der Forscher und der normativen und werteneutralen Ausrichtung der Beschreibung der Forschungsfelder können voneinander unterschieden werden. Allgemeine Definitionen für Energiedörfer gibt es nicht, sehr wohl aber für Bioenergiedörfer: „Ein Bioenergiedorf ist eine Siedlung, deren Bedarf an Strom und Wärme zu mindestens 50% aus regional erzeugter Bioenergie gedeckt wird. Die Bürger des Bioenergiedorfes werden in die Entscheidungsprozesse mit eingebunden und tragen die Idee dadurch aktiv mit. Gewonnen wird die Energie durch entsprechende Bioenergieanlagen, die sich teilweise im Eigentum der Wärmekunden oder der Landwirte vor Ort befinden. Die von den Energieanlagen genutzte Biomasse stammt aus der unmittelbaren Umgebung […]. Um weitere Energieeinsparungen zu treffen, werden zudem neueste Technologien weitestgehend umgesetzt. Darüber hinaus kann die Erzeugung von Wärme und Strom aus Biomasse durch andere erneuerbare Energien ergänzt werden.“ (Lexikon der Nachhaltigkeit 2017)

Ein Energiedorf basiert auf einem Konglomerat erneuerbarer Energietechnologien. In vielen Fällen existiert zum Beispiel eine Biogasanalage oder andere auf Biomasse basierenden Energietechnologien, aber auch viele andere erneuerbare Energieträger. Es sind also traditionelle Dörfer, in denen innerhalb eines partizipativen Prozesses zwischen lokalen Eliten und einer engagierten Zivilbevölkerung, diverse erneuerbare Energietechnologien etabliert werden. Ökodörfer hingegen sind „intentionale Gemeinschaften“ (Kunze 2005), das heißt, Menschen haben eine neue Gemeinschaft gegründet, sind bewusst an einem bestimmten Ort zusammengekommen, um eine neuartige, nachhaltige Lebensweise zu erproben. Das Lexikon der Nachhaltigkeit unterscheidet Ökosiedlungen und Ökodörfer und definiert Ökodörfer wie folgt: „Ökodörfer versuchen [im Vergleich zu Ökosiedlungen] auch das Arbeiten zu integrieren. Je nach Interessen und Fähigkeiten der Ökodorf-BewohnerInnen gibt es in Ökodörfern neben den Wohnstätten auch Büros, Produktionsstätten, Dienstleistungsbetriebe etc.. Durch die Bündelung der Energie an einem Ort entsteht ein Netzwerk synergetischer Wechselwirkungen in Form lebendiger Gemeinschaften. Daneben bieten Ökodorfer, ohne eine bestimmte Richtung vorzugeben, Raum für die Entwicklung der individuellen sowie der gemeinschaftlichen Spiritualität.“ (Lexikon der Nachhaltigkeit)

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Insider-Perspektiven haben eine sehr ambitionierte Definition von Ökodörfern: „Ecovillages are the newest and most potent kind of intentional community, and in the vanguard of the environmental movement that is sweeping the world, I believe they unite two profound truths: that human life is at its best in small, supportive, healthy communities, and that the only sustainable path for humanity is in the recovery and refinement of traditional community life.” (Rosenthal in Dawson 2006)

Im Vergleich zu Energiedörfern kennzeichnet das Leben in einem Ökodorf einen umfassenden Wandel des Lebensstils und einen beständigen Prozess der Aushandlung von gemeinschaftlichen und individuellen Interessen. Aus diesem Grund wurde sich im Verlauf der Forschung immer stärker auf die Interaktionen und Praktiken im Ökodorf konzentriert und der Vergleichshorizont des Energiedorfes nur am Rande und im Kontext der Synergien in dieser Forschung berücksichtigt. Kapitel Sieben beschäftigt sich mit den Wirkmechanismen und Einflussfaktoren des Ökodorfes auf seine nahe Umgebung und Region, in der ein Energiedorf auch durch die facettenreichen erneuerbaren Energieprojekte des Ökodorfs entstanden ist. Die weiteren Ausführungen werden das Ökodorf als intentionale Gemeinschaft in den Mittelpunkt rücken. „Das Idol dieses Zeitalters ist die Gemeinschaft. Wie zum Ausgleich für die Härte und die Schalheit unseres Lebens hat die Idee alle Süße bis zur Süßlichkeit, alle Zartheit bis zur Kraftlosigkeit, alle Nachgiebigkeit bis zur Würdelosigkeit in sich verdichtet.“ (Plessner 2016: 28)

Plessner kritisiert in seinem Werk: „Grenzen der Gemeinschaft“ den sozialen Radikalismus bezogen auf neuere Gemeinschaftsbildung. Die 1923 entstandene Schrift – kurz nach dem 1. Weltkrieg - hatte einen warnenden Unterton und betont die Vorteile der städtischen, unabhängigen Bürgerschaft. Plessner richtet sich somit gegen das politische Gemeinschaftsprinzip als allgemein geltend und bejaht das Ethos der Gesellschaft. Verschiedene Facetten des Lebens in einer intentionalen Gemeinschaft werden in der vorliegenden Arbeit mikrosoziologisch herausgearbeitet. Vision und Ziel der Ökodorfbewegung ist jedoch nicht lediglich die Gemeinschaft, obgleich jene im Zentrum steht, sondern die Möglichkeit eines nachhaltigen Lebens auf der Erde: “Eco-Villages are human scale, full-featured communities, both urban and rural, that are integrated harmlessly into the natural environment and can successfully continue into the indefinite future.” (Robert Gilman, Eco-Village Report in Conrad 1996: 7)

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Laut Gilman im Report über die Konferenz: „Eco-Villages and Sustainable Communities“ in Findhorn 1995, ist es anvisiert, dass Ökodörfer die natürliche Umgebung nicht stören und bis in alle Ewigkeiten das Leben der Menschen auf der Erde sichern – so die Idealvorstellung. Die Vision ist also Frieden und nachhaltiges Leben auf dem Planeten: „We need a vision of how humanity can work and live together with each other and the planet that can bring a sense of hope and inspiration to find a way of the next century.“ (ebd.). Die Vision und das lebende Beispiel, Vorbild und Modell für ein menschliches Zusammenleben im nächsten Jahrhundert möchten die AktivistInnen und BewohnerInnen von Ökodörfern sein. Zukunftsorientiert und wertebasiert im Einklang mit der Natur ist das Ziel der Ökodorfbewegung (vgl. ebd.). Die Forschung zu Ökodörfern, sogenannten „intentionale Gemeinschaften“ (Kunze 2009), ist eine junge und sehr vernetzte Forschung mit Akteuren und mit Bewohnern, Gestaltern und AktivistInnen von Ökodörfern selbst (vgl. Litfin 2014, Kunze 2009, Andreas 2015). Die Forschungen über Gemeinschaften und Ökodörfer kommen in der Regel von Forschern, die davon überzeugt sind, dass dies der richtige Weg für ein zukunftsfähiges Leben sei: „For some time now, I’ve been looking for a new way to make sense of this unfolding environmental mega-crisis.“ (Litfin 2014: 3). Litfin (2014) besuchte 14 Ökodörfer weltweit, um die Frage zu beantworten: „How then shall we live?“ (ebd.: 16). „Ökodörfer, wie Sieben Linden versuchen exemplarisch das Zusammenspiel der von ihnen als bedeutsam erachteten Qualitäten zu kultivieren. Ihre Attraktivität und >Ausstrahlungskraft< wirkt insbesondere in der sinnlich erleb- und gestaltbaren Alltagspraxis […].“ (Andreas 2015: 146)

3.1 Neue Gemeinschaften In der Soziologie wird der Begriff „Gemeinschaft“ durch Klassiker wie Tönnies und Weber geprägt. Tönnies unterscheidet hier dichotom soziale Beziehungen anhand Charakterisierungen des Sozialen, an deren Polen zum einen Gemeinschaft und zum anderen Gesellschaft als Idealtypen steht. Relevante Begriffe sind hier der der Gemeinschaft zu Grunde liegende Wesenswillen und der durch gesellschaftliches Handeln geprägte Kürwillen (Tönnies 1991: 73, 84f.). Der Wesenswille ist mit dem Wesen des Handelnden in Einklang. Er gründet sich in der Vergangenheit, ist tradiert, ererbt und begleitet mit dem Gefühl des Handelnden – je

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nachdem, wonach ihm zumute ist (vgl. Dierschke 2006: 77f.). Beziehungen auf der Grundlage des Wesenswillens sind daher organisch gewachsene, lebendige Beziehungen, die gemeinsam auf eine Vergangenheit zurückblicken. Die Menschen, die in Beziehungen leben, die durch den Wesenswillen geprägt sind, haben ein gemeinsam geteiltes Verständnis von ihren Handlungen. Der Kürwille wiederum ist die Grundlage eines auf einen bestimmten Zweck gerichteten Handelns mit bestimmten Mitteln und ist auf die Zukunft gerichtet: Mit Bedacht, Beschluss und Begriff werden Projekte, Pläne und Ziele verfolgt (vgl. Tönnies 1991: 172f.). Die Beziehungen basieren auf einer Handlungslogik, die auf Austauschverhältnissen aufbaut. Gesellschaftliche Beziehungen beruhen laut Tönnies (1991: 34) auf Leistung und Gegenleistung. Das Beziehungsgeflecht einer Gesellschaft kann als ideell und mechanisch beschrieben werden (Tönnies 1991: 3). Gemeinschaft basiert also auf gemeinsam geteilten Sinnvorstellungen, gesellschaftliche Beziehungen „auf dem Wunsch, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das jedoch mittels der eigenen Ressourcen nicht erreicht werden kann.“ (Dierschke 2006:78). Im Bereich der sozialen Bewegungen erfährt der Begriff der Gemeinschaft eine Renaissance (vgl. Schlüter et al. 1990). Weber und Tönnies beschreiben in ihren Vergesellschaftungstendenzen traditioneller Gemeinschaften den Übergang von einer bäuerlichen hin zu einer modernen, industriellen Gesellschaft. Auch hier werden Gemeinschaften schon als zentraler Teil der Gesellschaft modelliert. Weber (2006: 328 ff.) definiert als „urwüchsige ökonomische Versorgungsgemeinschaft die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Die ökonomische Hausgemeinschaft ist daher die für ihn relevante Gemeinschaftsform, da ihre Grundlage wieder ökonomischer Art ist: „Hausgemeinschaft bedeutet ökonomisch und persönlich in ihrer „reinen“ – wie schon bemerkt, vielleicht nicht immer „primitiven“ – Ausprägung: Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs- und Verbrauchsgemeinschaft der Alltagsgüter (Hauskommunismus) nach innen in ungebrochener Einheit auf der Basis einer streng persönlichen Pietätsbeziehung.“ (Weber 2006: 332). Die Grundlage der Gemeinschaft ist bei Weber also ökonomischer Natur. Andersartig sind die postindustriellen Vergemeinschaftungsprozesse zu betrachten, die sich aus einer individualistischen Ursprungsgesellschaft heraus entwickeln, mit den Bedürfnissen und Visionen eines nachhaltigen Lebensstils. Grundmann (2006: 9) beschreibt „Gemeinschaftlichkeit als soziales Phänomen durch das

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Zusammenleben von Individuen […], das sich „unterhalb“ formalrechtlicher Kriterien der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe vollzieht.“ „Gemeinschaften sind es, die jenseits individueller Handlungsinteressen eine gemeinsame Lebenspraxis konstituieren. Sie setzen eine gewollte Zusammenkunft individueller Akteure und den Willen nach einer gemeinsamen Lebenspraxis und Lebensführung voraus. Mehr noch: Sie lassen sich nicht anhand formaler Kriterien der Mitgliedschaft bestimmen, sondern lediglich durch das konkrete Handeln individueller Akteure im Hinblick auf ein gemeinsames Handlungsziel.“ (ebd.).

Im konvivialistischen Manifest (Les Convivialistes et al. 2014) wird eine „neue Kunst des Zusammenlebens, die mit dem Primat der Ökonomie bricht und sich auf eine gemeinsame Menschheit und auf den Wert der Individualität zugleich beruft“, diskutiert. Zahlreiche namenhafte Autoren diskutieren unter dem Synonym der „Les Conviviales“, wie ein derartiges Zusammenleben gestaltet sein könnte: „Auf theoretischer Ebene strebt der Konvivialismus eine Synthese verschiedener einflussreicher politischer Ideologien an: eine Synthese von Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus.“ (ebd.: 24f.). Es wird sich hier auf die „Gabe“ im Sinne von Marcel Mauss bezogen, das reziproke Geben und Nehmen, welches nicht utilitaristischen und unentgeltlichen Prinzipien folgt. Mit dem konivialistischen Manifest widersprechen sie dem Model des „homo oeconomicus“ und der, in den Wirtschaftswissenschaften immer noch geltenden Modell der Rational Choice Theory, indem sie postulieren: „Menschen interessieren sich nicht nur für sich selbst, sie sind auch an anderen interessiert, sie können sich spontan und empathisch für andere einsetzen.“ (ebd. 25). „Gemeinschaft ist eine Haltung der Verbundenheit mit anderen Menschen und mit dem Leben selbst. Die Fähigkeit, die Welt auch mit den Augen des anderen zu sehen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Respekt, Kompromissbereitschaft, Mitgefühl und Vertrauen – den Grundlagen von Gemeinschaftsbildung. In der Kraft gemeinschaftlichen Handelns ist es möglich, füreinander da zu sein, Menschen in schweren Lebenssituationen zu unterstützen, neue Lebens- und Arbeitsmodelle zu entwickeln, Verantwortung für die Gesellschaft und die Welt zu tragen.“ (Paul in Clauss und Tente 2015).

Clauss beschreibt neben der Verantwortung für sich selbst, für andere Menschen auch eine Verantwortung für die Gesellschaft und die Welt, welche dem Leben innerhalb einer Gemeinschaft inhärent ist. „Gemeinschaft“ wird hier also nicht im reinen Bezug zur Ökonomie verstanden, wie Weber sie betrachtete, sondern als soziale und politische Wertegemeinschaft, in der auf Affinität beruhende Versorgungsleistungen inbegriffen sind.

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„Die neue Wir-Kultur“ (Brühl 2015: 14f.) differenziert zwischen den verschiedenen neuen „Wir“-Bewegungen, von Co-Working Spaces, über sharing economy, collaborate consumption, Künstlerinitiativen, Umsonstläden, Kleidertauschparties etc. Dabei werden Ökodörfer als „Inseln des alternativen Lebens“ oder auch „Privatopias oder Gated Communities“ bezeichnet und befinden sich an der Spitze des Grades an Vergemeinschaftung und dem individuellen Engagement. In der anschaulich gestalteten Kurzdoku werden solche Bewegungen als Trend und als Massenbewegung dargestellt, der Titel: „Wie Gemeinschaft zum treibenden Faktor einer künftigen Wirtschaft wird“ und der Verlag (Zukunftsinstitut) verdeutlichen das sich damit selbst verstärkende und darauf fokussierende Anliegen. Peck (2007) spricht von einem „Weg der authentischen Gemeinschaftsbildung“. In diesem Buch wird deutlich, dass eine Gemeinschaft nicht selbstverständlich aus einem Zusammenschluss von ein paar Menschen entsteht, sondern dass es einen Bewusstseinsprozess und eine innere Arbeit bedeutet, ein Ideal und einen Weg darstellt, der sich mit Spiritualität und Religionen verbinden lässt: „Echte Gemeinschaft zeichnet sich immer durch Integration (=Einschließlichkeit) aus. Sie schließt Menschen ein, die sich unterscheiden durch Geschlecht, Alter, Religion, Kultur, Weltanschauung, Lebensstil und unterschiedliche Entwicklungsstufen. Es entsteht ein Ganzes, das größer – besser – ist als die Summe seiner Teile.“ (Peck 2007: 199).

Peck kritisiert das Prinzip der Nationalstaatlichkeit, das seiner Meinung nach mit dem Individualismus einhergeht, als veraltet und plädiert für die Gründung kleiner nachhaltiger Gemeinschaften. Er zieht eine direkte Verbindung zwischen der Bildung von Gemeinschaften und Frieden (Peck 1990) und sieht die Fähigkeit, in Gemeinschaft zu leben, als die Entwicklung eines höheren Selbst und eines individuellen Entwicklungsprozesses. Er spezialisiert seinen Gemeinschaftsbegriff folgendermaßen und gibt zunächst die wage Definition: „Gemeinschaft ist mehr, als die Summe ihrer Teile, ihrer einzelnen Mitglieder“. Er spricht von einem mystischen Etwas, das die Menschen in Gemeinschaften verbindet: „Wollen wir es richtig anwenden [das Konzept Gemeinschaft], müssen wir es auf Gruppen von Personen beschränken, die gelernt haben, ehrlich miteinander zu kommunizieren, deren Beziehungen tiefer gehen als die Masken des Gefasstseins, und die sich ernsthaft dazu verpflichten, „gemeinsam zu feiern, zu trauern, sich aneinander zu freuen, die Lage der anderen zu teilen.“ (Peck 2007: 60).

Für Peck ist der Gemeinschaftsbegriff prozessual, wie die Herstellung eines Edelsteines aus einem Stein. Es ist ein Idealzustand und eine Gruppe muss durch viele

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individuelle und gemeinschaftliche Prozesse, um diesen Idealzustand zu erreichen (vgl. ebd.). In der individuellen Transformation und der Transformation der Gruppe wird auch die Transformation der Gesellschaft an sich begriffen. Diese Art von „Gemeinschaft“ hat also schon in der Literatur immer etwas auf die Zukunft Ausgerichtetes, Ideales und ist nicht per se vorhanden, sobald Menschen aufeinandertreffen. Vielmehr stellen sie einen gesellschaftlichen Gegenentwurf dar, der im Folgenden noch weiter ausdifferenziert werden soll

3.2 Intentionale Gemeinschaften Der Gegenentwurf des individualistischen Kapitalisten in der entfremdeten Gesellschaft scheint ein Mensch innerhalb einer „alternativen progressiven Gegenvergemeinschaftung“, wie Strang (1990: 90f.) diesen spezifischen Typus von Gemeinschaft beschreibt, welcher sich aus einer Gesellschaftskritik heraus entwickelt und Alternativen dazu entwirft. Strang beschreibt diese als „Neue Soziale Bewegungen“ (NSB). Hier werden andere Formen des Wohnens und Arbeitens entwickelt, die der Entfremdung, der Außenlenkung und Vereinzelung entgegenwirken sollen (ebd. in Kunze 2009). Strang definiert weitere Typen, wie die „Pseudo-Vergemeinschaftung“, ein folgenloser Adressenaustausch, „komplementäre Vergemeinschaftung“ bei Freundschaften, „arrangierte Vergemeinschaftung“, wie z.B. Vereine oder eben diese „Gegenvergemeinschaftungen“ und darin die „romantisch regressive Variante“ und die „alternativ progressive Variante“. Letzterer Typus erfährt in der vorliegenden Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit. Kunze (2009) spricht von „Transformationswissen“, welches aus den herrschenden Gesellschaftsstrukturen heraus entsteht und in diesen alternativ-progressiven Gemeinschaften zum Tragen kommt, entwickelt wird, durch Netzwerke weitergegeben wird und zu einem nachhaltigen Leben führen soll. Sie spricht von einer „sozial-ökologischen Transformation“, die innerhalb dieser alternativ-progressiven Gegenvergemeinschaftung wirksam wird. Intentionale Gemeinschaften bezeichnen sich selbst und werden von Forschern als „soziale Experimente“ oder „soziale Innovationen“ bezeichnet (vgl. Kunze 2009). Sie werden zusammengeführt und zusammen gehalten von einer gemeinsam geteilten Vision (vgl. Metcalf 2012: 27). Als intentionale Gemeinschaft definiert Bill Metcalf:

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“Five or more people, drawn from more than one family or kinship group, who have voluntarily come together for the purpose of ameliorating perceived social problems and inadequacies. They seek to live beyond the bounds of mainstream society by adopting a consciously devised and usually well thoughtout social and cultural alternative. In the pursuit of their goals, they share significant aspects of their lives together. Participants are characterized by “we-consciousness,” seeing themselves as a continuing group, separate from and in many ways better than the society from which they emerged.” (Metcalf 2012: 21)

So definiert Christian (2003: xvii), ein “Wegweiser” oder Ratgeber für Menschen, die eine Gemeinschaft gründen und aufbauen möchten: „A residential or landbased intentional community is a group of people who have chosen to live with or near enough to each other to carry out their shared lifestyle or common purpose together.” Der gemeinsame Lebensstil umfasst aber weitaus mehr, als zum Beispiel Wohngemeinschaften von Studierenden, die den Zweck haben, einen gemeinsamen Haushalt aus Kostengründen und des gemeinsamen Partymachens, Spaß Habens und des Studierens halber: „Community is not just about living together, but about the reasons for doing so. „A group of people who have chosen to live together with a common purpose, working cooperatively to create a lifestyle that reflects their shared core values” (non-profit Fellowship in ebd.). Der Idealismus, einen besseren Weg zu gehen, als der Rest der eigenen kulturellen Gesellschaft, ist ein wichtiges und im Allgemeinen intentionale Gemeinschaften verbindendes Element. Aber das Leben in einer intentionalen Gemeinschaft stellt auch eine immerwährende Herausforderung für die BewohnerInnen von Ökodörfern dar, so Litfin (2014: 6): „Group living of any kind requieres a commitment of something higher than the fixtures and plumbing of life.“ Die gemeinsam geteilte Vision ist also durchaus konflikthaft. Gerade dies versuchen diese intentionalen Gemeinschaften zu lösen. Shenker (1986) kam in seinen Forschungen über intentionale Gemeinschaften zu folgendem Ergebnis: “Indeed, if there is one single answer it is this: that those communities which do persist themselves realize, perhaps unconsciously, that there is no simple formula; that life is complex; that ideological needs are one thing and organizational or individual needs are another, and that very often one can do without the other very well; but equally that they can support and reinforce each other, and that their particular ideologies have it within them to do so; that ideological consistency and social changer are not necessarily antithetical; and that communal adherence and individualism need to be in conflict.” (Shenker 1986: 8)

Er erforschte drei Formen von intentionalen Gemeinschaften dahingehend, wie sie ihr Fortbestehen meistern. Seine Definition von intentionalen Gemeinschaften ist wie folgt:

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“Intentional communities have emerged as a result of a number of people consciously and purposefully coalescing as a group in order to realize a set of aims […]. They attempt to create an entire way of life, hence, unlike organizations or social movements, they are intentional communities […] they are characterized by face-to-face relations and they embrace communalism as an ethical end in itself.” (Shenker 1986: 10)

Einen ethischen Selbstzweck verfolgend, versuchen intentionale Gemeinschaften nachhaltig zu handeln und nachhaltig zu bestehen. Hierbei spielen ökologische Themen durchaus eine Rolle. Im Global Eco Village Network (GEN) erfährt die moderne Bewegung der intentionalen Gemeinschaften die Bezeichnung Ökodorf. Dieses soll ebenfalls im Folgenden für diese Arbeit definiert werden.

3.3 Ökodörfer als intentionale Gemeinschaften Es wird in Ökodörfern eine nachhaltige Lebensweise angestrebt. Ein Ökodorf ist Metcalf zu Folge: “An intentional community where environmental sustainability is sought, along with social justice, equality, peace and so forth.” (Metclaf 2012). Die gemeinsam geteilte Vision einer intentionalen Gemeinschaft, die sich als Ökodorf bezeichnet, sind also ein nachhaltiger Lebensstil und weniger Energie- und Ressourcenverbrauch. Wagner (2012) beschreibt, dass in Ökodörfern ein neues Bild von Gemeinschaft zu Grunde liegt: Es handle sich nicht um „uniforme Gleichmachung, sondern um individuelles Eingehen auf Stärken und Schwächen der Einzelnen, auch im Sinne einer >Einheit in der Vielfalt