Epen der Weltliteratur: Eine komparatistische Einführung 9783534450398, 9783534450381, 3534450396

Das Epos gilt als die Königsgattung der Literatur und wurde gar als "Bibel eines Volkes" (Hegel) gesehen. Vers

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Epen der Weltliteratur: Eine komparatistische Einführung
 9783534450398, 9783534450381, 3534450396

Table of contents :
Cover
Impressum
Inhaltsverzeichnis
1. Das Epos. Annäherungen an Merkmale und Theorie einer vielfältigen Gattung
1. Erwartungen an eine Gattung
2. Merkmale und Definitionsprobleme des Epos
3. Komparatistische Perspektive
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
2. „Der den Ursprung sah …“ – Das Gilgamesch-Epos
1. Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
3. Begründung einer Gattungstradition – Die homerischen Epen Ilias und Odyssee
1. Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Heldenbild
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
4. Romdichtung – Weltdichtung Vergils Aeneis
1. Entstehung und Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
5. Von Helden und Monstern – Das altenglische Epos Beowulf
1. Entstehung und Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
6. „Buch der Könige“ und iranisches Nationalepos Ferdousis Schahname
1. Entstehung und Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
7. Erbfolgekrieg, kosmisches Spiel und Belehrung – Das Mahabharata
1. Entstehung und Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. ‚Helle‘ und ‚dunkle‘ Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
8. Von der mittelalterlichen Rinderraub-Erzählung zum irischen Nationalepos? Die Táin Bó Cúailnge
1. Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt und Hintergrund
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
4. Heldenbild
9. Von „Riesenmännern“ und „Eisenweibern“ – Das Nibelungenlied
1. Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
10. Reconquista, Rechtsstreit und die spanischeIdentität – Der Cantar de Mio Cid
1. Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Held
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
11. Eine epische Reise durchs Jenseits – Dantes Divina Commedia
1. Entstehung und Überlieferung
2. Formale Aspekte
3. Die Reise des christlichen Helden
4. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
12. Abgesang auf die Ritterepik? Ludovico Ariostos Orlando furioso
1. Entstehung
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
13. Die Vertreibung aus dem Garten Eden im englischen puritanischen Epos des 17. Jahrhunderts – John Miltons Paradise Lost
1. Milton und das Epos
2. Formale Aspekte
3. Inhalt
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
14. Der letzte Homeride und das Epos des deutschen Bürgertums – Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea
1. Goethe und das Epos
2. Formale Aspekte
3. Inhalt und zeitgeschichtlicher Kontext
4. Helden
5. Rezeption
Literaturempfehlungen
Weitere Literatur
15. Renaissance des Epos? Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts
1. Historische Themen und mythische Bilder
2. Formale Aspekte
3. Held*innen und Erzählerfigur
4. Rezeption im Feuilleton
Primärtexte und mediale Adaptionen
Weitere Literatur
Abbildungsnachweise
Register
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Übersichtlich, fundiert, verständlich ● Ideal zur Seminar-, Referats- und Prüfungsvorbereitung ● Kommentiertes Literaturverzeichnis ●

Das Epos gilt als die Königsgattung der Literatur und wurde gar als „Bibel eines Volkes“ (Hegel) gesehen. Versatzstücke epischen Erzählens sind über viele Zeiten und Länder zu beobachten; die in den großen Epen erzählten Stoffe entfalteten eine lange Nachwirkung. Dieses Lehrbuch stellt erstmals klassische und traditions- sowie identitätsbildende Epen aus verschiedenen (nicht nur europäischen) Kulturräumen von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne gemeinsam vor, die allesamt zum zentralen Bestand der Weltliteratur zählen. Geboten wird eine umfassende Darstellung unter Beteiligung unterschiedlicher Philologien.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45039-8

Bauer / Busch · Epen der Weltliteratur

Studienwissen kompakt

Einführung Literaturwissenschaft

Einführung Literaturwissenschaft

Manuel Bauer / Nathanael Busch

Epen der Weltliteratur

Manuel Bauer, Nathanael Busch (Hg.)

Epen der Weltliteratur

Herausgegeben von Manuel Bauer, Nathanael Busch Mitarbeit: Christina Fischer, Regine T. Reck

EINFHRUNG LITERATURWISSENSCHAFT

Manuel Bauer, Nathanael Busch (Hg.)

Epen der Weltliteratur – Eine komparatistische Einfhrung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulssig. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. i 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese, Hemsbach Einbandabbildung: Heritage Images / Fine Art Images / akg-images Einbandgestaltung: Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN: 978-3-534-45039-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhltlich: eBook (PDF): 978-3-534-45038-1

Inhaltsverzeichnis 1. Das Epos. Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung von Manuel Bauer und Nathanael Busch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erwartungen an eine Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Merkmale und Definitionsprobleme des Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Komparatistische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. „Der den Ursprung sah …“. Das Gilgamesch-Epos von Nils P. Heeßel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Begrndung einer Gattungstradition. Die homerischen Epen Ilias und Odyssee von Sabine Fllinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Heldenbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Romdichtung – Weltdichtung. Vergils Aeneis von Boris Dunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung und berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Von Helden und Monstern. Das altenglische Epos Beowulf von Evelyn Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung und berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

6. „Buch der Knige“ und iranisches Nationalepos. Ferdousis Schahname von Bianca Devos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung und berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Erbfolgekrieg, kosmisches Spiel und Belehrung. Das Maha¯bha¯rata von Maximilian Mehner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung und berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. ‚Helle‘ und ‚dunkle‘ Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Von der mittelalterlichen Rinderraub-Erzhlung zum irischen Nationalepos? Die Tin B Cfflailnge von Christina Fischer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Inhalt und Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Heldenbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 9. Von „Riesenmnnern“ und „Eisenweibern“. Das Nibelungenlied von Nathanael Busch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Reconquista, Rechtsstreit und die spanische Identitt. Der Cantar de Mio Cid von Anna Isabell Wrsdrfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

11. Eine epische Reise durchs Jenseits. Dantes Divina Commedia von Paola Pacchioni-Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung und berlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Reise des christlichen Helden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12. Abgesang auf die Ritterepik? Ludovico Ariostos Orlando furioso von Olaf Mller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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13. Die Vertreibung aus dem Garten Eden im englischen puritanischen Epos des 17. Jahrhunderts John Miltons Paradise Lost von Martin Kuester. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Milton und das Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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14. Der letzte Homeride und das Epos des deutschen Brgertums Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea von Manuel Bauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Goethe und das Epos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt und zeitgeschichtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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15. Renaissance des Epos? Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts von Doren Wohlleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Themen und mythische Bilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formale Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Held*innen und Erzhlerfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rezeption im Feuilleton. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

7

1. Das Epos. Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung von Manuel Bauer und Nathanael Busch berblick

A

lle in diesem Band vorgestellten Werke werden als ‚Epen‘ bezeichnet, obwohl bei einem nheren Blick viele Unterschiede zwischen ihnen zu erkennen sind. Die Gattung ist schwer zu definieren und es ist umstritten, welche Texte zu ihr zu zhlen sind. Die Definitionsschwierigkeiten zeigen sich nicht nur bei einem einzelnen Kriterium,

sondern beruhen auf kategoriell unterschiedlichen Erwartungen an die Texte. Umstritten sind u.a. das Verhltnis des Epos zu anderen Gattungen (insbesondere dem Roman), die Gewichtung einzelner formaler Vorgaben (z.B. des Metrums) und die Frage, inwiefern die dargestellten Ereignisse auf historische Begebenheiten zurckgehen.

1. Erwartungen an eine Gattung War es eine literaturbetriebliche Banalitt oder eine unerhrte gattungspoetische Begebenheit, die sich im Oktober 2020 ereignete? Wie jedes Jahr wurde zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse vom Brsenverein des Deutschen Buchhandels der Deutsche Buchpreis verliehen, mit dem ausdrcklich der beste deutschsprachige ‚Roman‘ des Jahres prmiert wird. Diesen Preis erhielt die Autorin Anne Weber fr das Buch Annette, ein Heldinnenepos. Die Auszeichnung eines Epos als bester Roman erregte einiges Aufsehen und ist nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Sicht erstaunlich. Die Unterscheidung zwischen Epos und Roman ist normalerweise problemlos mglich, da der Roman, allgemein gesprochen, seit dem 18. Jh. das Epos als erzhlende Großform verdrngt und abgelst hat. Zwar werden bis in die Gegenwart unzhlige Epen geschrieben, aber die Gattung hat deutlich an Geltung verloren. Dass Alexander Puschkins Jewgeni Onegin (1830) als russisches Nationalepos gilt, Carl Spitteler 1919 im besonderen Hinblick auf sein Epos Olympischer Frhling der Literaturnobelpreis verliehen wurde oder J.R.R. Tolkien mit der Form der Großgedichte experimentierte, ist da kein Widerspruch. Einer breiteren Leserschaft drfte kaum ein Epos des 19., 20. oder 21. Jh. bekannt sein, dessen literarische Bedeutung derjenigen der großen Romane von z.B. Gustave Flaubert, Thomas Mann, James Joyce oder Virginia Woolf gleichkommt. In der zeitgenssischen Literatur bleibt das Epos ein unzeitgemßes Phno-

Epos als Roman?

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1. Prestige des Epos

Gattung als Ordnungskategorie

‚Epischer Weltzustand‘

Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung

men, das als „forcierte Form“ (Bremer/Elit 2020) bewusst an alte, vergessene, den meisten Leser*innen nur vom Hrensagen bekannte Traditionen anknpfen will. Die Prmierung eines sich selbst als Epos bezeichnenden Textes als jahresbester Roman wirft unausweichlich die Frage auf, was eigentlich ein Epos ist, oder genauer: was traditionell unter dieser Bezeichnung verstanden wird, welche Merkmale ein Text aufweisen muss, damit er als Epos kategorisiert wird, und welche Erwartungshaltung diese Bezeichnung aufruft. Einen Text als Epos zu konzipieren, zu deklarieren oder zu rezipieren, bedeutet, sich auf eine bestimmte literarische Tradition zu berufen oder einzulassen – und es bedeutet auch, ein betrchtliches Prestige fr den Text und die eigene Autorschaft in Anspruch zu nehmen, denn das Epos galt ber viele Jahrhunderte hinweg als „das rechte Hauptwerk und Meisterstck der ganzen Poesie“ (Gottsched 2015, 73), mithin als „die erstrebenswerteste und wichtigste aller Gattungen“ (Zymner 2013, 51). Die Gattungsbezeichnung ist an der Positionierung des Textes im literarischen Feld (Bourdieu 2001) sowie an unserer Interpretation dieses Textes beteiligt. Sie markiert eine intertextuelle Beziehung und „impliziert den Auftrag zum Vergleich mit anderen Exemplaren der Gattung“ (Baßler 2010, 47). Zwar sind Gattungen nicht schlechthin vorhanden – Literaturtheoretiker verwenden sie als Kategorisierungssammelbegriffe zur Textgruppenbildung (Hempfer 2010, 15), um das unbersichtliche Feld literarischer Phnomene zu ordnen und um hnlichkeiten sowie Unterschiede beschreibbar zu machen. Dennoch: Unter der Voraussetzung einer basalen literaturgeschichtlichen Kompetenz bilden Gattungsbegriffe, die mit ihnen verbundenen Konnotationen und die dadurch aufgerufenen Vorerfahrungen und Erwartungen den Rahmen und den Kontext des Verstndnisses sowie den Vergleichspunkt, vor dem etwaige Abweichungen und Innovationen, die ihrerseits immer auch bedeutungsrelevant sind, erst hinreichend wahrgenommen werden knnen. In durchaus problematischer Weise werden Gattungen hufig nicht nur formal, sondern auch inhaltlich oder gar durch eine spezifische Verfasstheit der dargestellten Welt und des Weltzugangs definiert. Die Gattung des Epos zeigt das in besonderer Weise, da sie von wirkmchtigen Denkern in teils zirkulrer Weise als adquater literarischer Ausdruck eines ‚epischen Weltzustands‘ (Hegel 1970, 339ff.) gedeutet wurde. In diesem ‚epischen Weltzustand‘ sei – anders als in der von Fragmentierung der Wahrnehmung, Verlust von Sinn und Einheit sowie von Isolation des Individuums gekennzeichneten Moderne – die Totalitt einer unmittelbaren, ganzheitlichen Lebenserfahrung prgend gewesen, weshalb das Epos „eine von sich aus geschlossene Lebenstotalitt“ gestalte (Lukcs 2000, 51). Das Epos wurde wiederholt im Zusammenhang einer kritisch-elegischen Gegenwartsdiagnose zum Ausdruck einer archai-

2. Merkmale und Definitionsprobleme des Epos

11

schen Harmonie verklrt; ‚epischer Weltzustand‘, ‚geschlossene Lebenstotalitt‘ und dergleichen mehr wurden gerade in ihrer vermeintlich historischen Spezifik zu ahistorisch-idealen Konstrukten und das Epos zur Chiffre fr eine unwiederbringlich verlorene literarische Mglichkeit zur Abbildung einer epistemisch geordneten und geschlossenen Welt. Der Roman hingegen, der nach bereinstimmender Auffassung „das Erbe des Epos antrat“ (Dilthey 1985, 17), wird zwar als die adquate epische Form der Moderne gesehen; die „Epope eines Zeitalters, fr das die extensive Totalitt des Lebens nicht mehr sinnfllig gegeben ist“ (Lukcs 2000, 47), kann er aber nur deswegen sein, weil er der verlorenen Lebenstotalitt und der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (ebd., 32) Rechnung trgt. Als Folge solcher geschichtsphilosophisch-spekulativen Gattungstheorien wird mit der Gattung des Epos verbunden, dass sie „Welt in anschaulicher Weise als Totalitt“ entwerfe oder dass die „epische Welt […] sich als Sinneinheit“ prsentiere (Max 1981, 75). Solche Beschreibungen (die sich bis heute in einschlgigen Handbchern wiederfinden) stehen ihrerseits in einer spezifischen, hufig nicht eigens explizierten Tradition der Theoriebildung und laufen Gefahr, den Blick auf ihren Gegenstand, zumal auf dessen historisch-phnomenologische Vielfalt, eher zu verstellen als zu erhellen.

2. Merkmale und Definitionsprobleme des Epos Die Assoziationen, die mit dem Begriff des Epos bzw. dem Epischen (auch alltagssprachlich) aufgerufen werden, liegen vordringlich in der ‚Grße‘. Dem Verfasser eines Epos, fhrt der Romantheoretiker Friedrich von Blanckenburg 1774 aus, sei „nur eine Handlung von einer gewissen Grße, von einem gewissen Umfange erlaubt“ (Blanckenburg 1965, 8). Blanckenburg benennt zwei Dimensionen von Grße. Gemeint ist zum einen die Grße der Geschichte im Sinne einer quantitativ-zeitlichen Ausdehnung des Erzhlvorgangs, was allerdings auch polemische Reaktionen hervorrief, die in der Lnge die Veranlassung zu Langeweile und „viel Schlaf“ (Herder 2000, 816) sahen. Zum anderen zielt Grße auf die soziokulturelle und identittsstiftende Relevanz des Gegenstandes, weshalb etwa Friedrich Hlderlin anmerkt, ein Epos sei „in seiner Bedeutung heroisch“ sowie „die Metapher großer Bestrebungen“ (Hlderlin 1995, 413). Viele Epen handeln von historisch einschneidenden kriegerischen Auseinandersetzungen, die wiederum von außerordentlichen Helden bestritten und geprgt werden. Das fhrt theorie- und begriffsgeschichtlich hufig zu Verengungen, ablesbar in ber Jahrhunderte gngigen Bezeichnungen wie ‚Heldengedicht‘ oder ‚carmen heroicum‘ (an Stelle des griechischen Terminus ‚epopoee‘, e´popoıa) oder der stillschweigenden Gleichsetzung von ‚Epos‘ und ‚Heldenepos‘.

‚Grße‘ der Handlung

12

1.

Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung Stichwort

Helden Im Begriff des ‚Helden‘ werden unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte gefasst. Heldinnen und Helden sind zunchst Menschen, die außergewhnliche Taten vollbringen. Bedeutungsgeschichtlich am wirkmchtigsten ist die berlagerung des Begriffs durch den antiken heros, der bei zumeist gttlicher Abstammung als „ruhmschtiger Einzelkmpfer, der immer gegen eine bermacht antritt“ (Horn 1990, 729), ber eine festgelegte Darstellung und Ikonographie verfgt. Das antike Epos hat mit der sog. ‚Aristie‘ eine spezielle Erzhltechnik fr die Verherrlichung der kmpferischen Leistung entwickelt: Der Held wird fr die Schlacht gerstet, gefhrdet sich nach großem Erfolg selbst, wird nicht selten durch gttliches Eingreifen gerettet und kommt mit schwerer Verwundung aus dem Kampf. Fr ihre Taten werden Helden von der Gemeinschaft verehrt. Zu unterscheiden von diesem spezifischen Begriff ist die allgemeine Verwendung von ‚Held‘ fr den Protagonisten einer Erzhlung.

Definitionsversuche

Abseits der allflligen Betonung der Grße und des Heroischen wurden zahllose Versuche unternommen, ein Epos nicht allein inhaltlich zu bestimmen. So ist, um exemplarisch zwei literaturwissenschaftliche Definitionen neueren Datums anzufhren, zu lesen, ein Epos sei „eine narrative Großform in Versen“, der Begriff bezeichne also „eine erzhlende Versdichtung gehobenen Anspruchs und grßeren Umfangs, meist in mehrere Teile (Gesnge, Bcher, aventiuren, cantos) untergliedert“ (Essen 2009, 204); oder: Ein Epos sei eine „Handlung erzhlende Versdichtung gehobenen Anspruchs und grßeren Umfangs“ (Martin 1993, 3). Die Strke dieser Definitionen liegt in ihrer implizierten Abgrenzung des Definiendums von anderen literarischen Phnomenen. Durch den Aspekt des Narrativen ist der zentrale Unterschied gegenber den meisten Erscheinungsformen der Lyrik, gegenber dem primr darstellenden Drama sowie gegenber theoretischen, lehrhaften oder beschreibenden Texten markiert. Durch das Merkmal des Verses wird das Epos unterschieden von Texten in Prosa. Das quantitative Merkmal des Umfangs hebt das Epos von kleineren bzw. krzeren Formen ab. Die Betonung des gehobenen Anspruchs bezieht sich nicht zuletzt auf die rhetorische Lehre von den drei Stilhhen (stilus humilis („niedriger Stil“), stilus mediocris („mittlerer Stil“), stilus gravis („erhabener“ bzw. „hoher Stil“). Das Epos ist nach den Regeln einer normativen Poetik im hohen, erhabenen Stil verfasst und befasst sich mit hohen Gegenstnden und Figuren wie einer aristokratischen Kriegerkaste, identittsbildenden militrischen Auseinandersetzungen oder dem Handeln und Hadern von Gttern und Gttinnen. Dadurch ist es von Trivial- oder Unterhaltungsliteratur, aber auch z.B. von Gattungen wie der Satire oder sonstigen Phnomenen des Komischen abgehoben, die sich im niedrigen Stil mit niederen Gegenstnden befassen.

2. Merkmale und Definitionsprobleme des Epos

Sptestens hier wird ersichtlich, dass die Redeweise vom Epos meist stillschweigend eine gattungsinterne Verengung impliziert. Selbst Untergattungen wie das Bibelepos bzw. das religise Epos, die im hohen Stil verfasst sind, werden allzu oft nur mit einem Seitenblick bedacht, Spielarten wie das komische oder satirische Epos (man denke an Alexander Popes The Rape of the Lock oder Johann Wolfgang Goethes Tierepos Reineke Fuchs) werden in einigen Definitionen allenfalls als „Sonderentwicklung“, als „Parodie der erhabenen Form durch niedere Stoffe“ gerechtfertigt (Wilpert 1969, 224). Demgegenber ist zu beachten, dass – wenn nicht sogar das Lehrepos als eigenstndige Untergattung anerkannt wird (so z.B. in der Typologie bei Maler 2002, 536ff.) – Epen hufig auch einen belehrenden Anspruch haben, indem sie religise Inhalte reproduzieren, Kosmogonien prsentieren oder Vorzeitkunde betreiben, die im nationalideologischen Sinn gedeutet wurde. Von vereinzelten Begriffsdefinitionen wird deshalb darauf hingewiesen, dass es neben dem Heldenepos als zweite Grundgestalt das Glaubens- oder Weltanschauungsepos gibt, v.a. in seiner Ausprgung als episches Lehrgedicht (Schnhaar 1994, 1330). Eine Herausforderung fr die Eposforschung stellt die Frage der Autorschaft dar. In manchen Epochen sind nahezu alle Epen nur anonym berliefert, was nicht wenige Forscherinnen und Forscher auch am Anteil Homers an den ihm zugeschriebenen Epen zweifeln ließ (Kap. 3 und 14 zur ‚homerischen Frage‘). Umstritten ist, ob die Anonymitt darauf hindeutet, dass Epen nicht von Autoren im emphatischen Sinne eines ‚Schpfers‘ stammen. Bis heute stehen sich zwei Extrempositionen gegenber. Die erste fasst ein Epos als eigenstndiges Produkt eines einzigen Dichter-Individuums auf, das den Stoff zu einem einheitlichen Werk zusammengefgt habe. Man nennt Vertreterinnen und Vertreter dieser Position daher ‚Individualisten‘ oder ‚Unitarier‘ bzw. ‚Unitaristen‘. Die zweite dagegen geht nicht mehr von einem (einzigen) Autor aus, sondern betont die Abhngigkeit des Werks von der berlieferung der Erzhlung. Sie nimmt an, dass verschiedene Einzelerzhlungen eines Stoff- oder Sagenkreises ber einen lngeren Zeitraum mndlich weitergegeben worden seien; das Epos sei schließlich aus einer Montage dieser Erzhlungen entstanden. Vertreterinnen und Vertreter dieser zweiten Position (‚Analytiker‘ oder ‚Traditionalisten‘) setzen Redakteure an die Stelle des Autors oder sehen das Epos gar „im munde des volks […] entsprossen“ (Grimm 2015, 165). Beide Positionen stimmen aber darin berein, dass Ependichter sich ihre Stoffe in der Regel nicht ausdenken. Insbesondere fr die Heldenepik hat sich daraus eine wichtige Perspektive ergeben, in der das Epos mit erinnerter Geschichte enggefhrt wird. Die Forschung diskutiert bei den einzelnen in diesem Band besprochenen Werken, ob die von ihnen erzhlten Begebenheiten auf ein historisches Ereignis zurckgehen: beispielsweise die Ilias auf die Zerstrung Trojas, das Nibelungenlied auf eine verheerende Schlacht der Burgunden, die Chanson de Roland, die ein Prtext fr Ariostos Orlando furioso ist, auf die Schlacht bei Ron-

13 Verengung des Epos-Begriffs

Autorschaft

Epos als Geschichtsschreibung

14

1.

Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung

cesvalles in der Zeit der Reconquista. Zwar werden Epen von jeher nicht zur Geschichtsschreibung gerechnet, doch sie gelten bis heute auch nicht als rein fiktionale Literatur. Sie stehen diesseits der modernen Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzhlen, sie berichten als poetische Texte historisches Wissen im Sinne eines kulturellen Gedchtnisses. Deshalb ist es wichtig, Epen nicht isoliert von ihrem historischen Umfeld wahrzunehmen. Sie werden fr eine bestimmte Zeit und deren Interessen verfasst, beruhen aber auf einer lteren Erzhltradition, die ihre Spuren im Text hinterlsst. Noch in der heutigen Rezeption erscheinen Epen zuweilen identittsstiftend, wenn ihnen eine besondere Rolle fr eine Nation oder ein Volk zugeschrieben wird. Stichwort

Kulturelles Gedchtnis und heroic age Der Begriff des ‚kulturellen Gedchtnisses‘ bezeichnet nicht die Geschichte, wie sie sich tatschlich ereignet hat oder wie sie von der Geschichtswissenschaft rekonstruiert wird, sondern zielt auf das, woran sich eine Gemeinschaft erinnert. Es handelt sich um Vergangenheit, die u.a. in Ritualen, Denkmlern oder Straßennamen lebendig gehalten wird. Das kulturelle Gedchtnis hat zwei Funktionen fr die Identitt einer Gruppe, eine formative (wer bin ich?) und eine normative (was soll ich tun?). Der Begriff ist geprgt worden vom gyptologen Jan Assmann in Anlehnung an die Werke des franzsischen Soziologen Maurice Halbwachs (Assmann 1992). Heldenepen werden mitunter als Teil des kulturellen Gedchtnisses verstanden. Sie berichten von einem lngst vergangenen Zeitalter, in dem sich Heldentaten ereigneten, von denen man noch immer zu berichten weiß. Der Anglist Hector Munro Chadwick nennt diese Zeit das heroic age; demnach sei jedem Volk ein bestimmtes Heldenzeitalter eigen, von dem in seinem ‚Nationalepos‘ berichtet werde (Chadwick 1912).

Nationalepos

Weitgehend losgelst von formalsthetischen Aspekten wurden einige der in diesem Band vorgestellten Texte im Prozess ihrer Rezeption zu ‚Nationalepen‘ erklrt. Goethe fhrt in seiner autobiographischen Schrift Dichtung und Wahrheit aus, jede Nationalliteratur msse „auf den Ereignissen der Vlker und ihrer Hirten“ beruhen, weshalb Knige in gefahrvollen kriegerischen Auseinandersetzungen zu schildern seien: „In diesem Sinne muß jede Nation, wenn sie fr irgend etwas gelten will, eine Epope besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts nthig ist“ (Goethe 1987, 104). Derlei Texte, denen die Funktion zugeschrieben wird, fr ihre jeweilige Gesellschaft die Vergangenheit zum Zwecke einer Identittsstiftung zu deuten oder zu konstruieren und bei einem besonderen sthetischen Rang vermeintliche Eigenschaften des jeweiligen ‚Volkes‘ zum Ausdruck zu bringen, gelten hufig als „die Bibel eines Volks“ (Hegel 1970, 331). Auch sah man die epische berlieferung geradezu als Unterscheidungsmerkmal der Ethnogenese, d.h. man versuchte, Vlker und Stmme anhand von Epen zu identifizieren, selbst wenn die berliefe-

3. Komparatistische Perspektive

rungslage drftig war. Das Bedrfnis nach solchen kulturellen Selbstvergewisserungen grßerer Gemeinschaften war insbesondere im 19. Jh. stark ausgeprgt, als bedeutende Epen unter spezifischen Interessen wiederentdeckt, neu interpretiert oder wie das finnische Kalevala sogar auf Basis folkloristischer berlieferung neu gedichtet wurden. Obwohl sich zahlreiche Epen einer hohen Stilebene bedienen, scheinen sie oftmals der mndlichen Dichtung nahezustehen. Man vermutet, dass ganze Epen von professionellen Sngern (Rhapsoden, Skalden o..) mndlich vorgetragen wurden, die die Erzhlungen fr den Anlass anpassten und aus dem Stegreif ausformten. Hufige formelhafte Wendungen und schematische Handlungsablufe sind Relikte einer solchen mndlichen berlieferung. Sie erklren sich nicht dadurch, dass die geschriebenen Werke Transkriptionen tatschlich vorgetragener Dichtung sind. Vielmehr war den Dichtern daran gelegen, ihren Epen den Anschein von Oralitt (und damit von Authentizitt und eines ungebrochenen berlieferungszusammenhanges) zu verleihen. Neben den genannten Merkmalen heben einige Definitionen auch die geschlossene Form der Erzhlung hervor (Maler 2002, 531), wogegen andere Theoretiker einen besonderen Reiz der epischen Erzhlung in ihrer narrativen Anachronie sehen, dass sie also hinsichtlich des Plots „in der Mitte“ anfange und „ihrem Wesen nach weder Anfang noch Ende“ (Schlegel 2015, 92) kenne. Auf hnliche Charakteristika zielt das im Briefwechsel mit Goethe geußerte (und in der Geschichte der Epostheorie etliche Male wiederholte) Diktum Friedrich Schillers, „daß die Selbststndigkeit seiner Theile einen Hauptcharakter des epischen Gedichtes ausmacht“ (Schiller/Goethe 2015, 103). Relative Einigkeit hingegen besteht in der viel gerhmten „Ruhe des Vortrags“ (Maler 2002, 531), die wiederum mit dem stetigen und fr das Epos konstitutiven „Gleichmaß“ (Staiger 1978, 61) des verwendeten Metrums (klassischer-, aber nicht notwendigerweise der Hexameter) oder der Strophenform verbunden wird. Inhaltliche Merkmale werden seltener diskutiert; genannt werden u.a. der Kampf des Helden mit einem Monster bzw. einem Drachen oder der Gang in die Unterwelt.

15

Oral Poetry

Klassische Epos-Merkmale

3. Komparatistische Perspektive Die gngigen Definitionen sind meist nur bedingt geeignet fr die Beschreibung der Diversitt und Heterogenitt der großen Epen der Weltliteratur. Wilhelm von Humboldt klagt schon 1798 ber die Schwierigkeit, die wesentlichen Merkmale der Gattung des Epos zu bestimmen, die noch dadurch wachse, „dass die vorhandenen Muster dieser Dichtungsart genau genommen so wenig mit einander gemein haben“ (Humboldt 2015, 119). Ein Mangel vieler Definitionen liegt darin begrndet, dass in der Regel ausschließlich

Heterogenitt der Epen

16

1.

Flexibler Gattungsbegriff

Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung

europische Epen die Basis der begrifflichen Bemhungen darstellen, whrend (alt-)orientalischen Vertretern der Gattung – trotz der Berhmtheit etwa des babylonischen Gilgamesch-Epos (Kap. 2) oder des indischen Sanskrit-Epos Maha¯bha¯rata (Kap. 7) – kaum nennenswerte Beachtung entgegengebracht wird. Das wiederum hat zur Folge, dass uns diese Werke in Anbetracht eines strengen Gattungsbegriffs, der nur auf wenigen klassischen, hnlich gebauten Texten beruht, hufig gewissermaßen unzureichend episch erscheinen. Es ist ein allgemeines Problem der Gattungstheorie, deskriptiv aus Vereinzeltem, als vorbildlich oder musterhaft Erachtetem allgemeine Merkmale zu abstrahieren, deren Anspruch auf Allgemeingltigkeit (und lange auch auf Normativitt) die Individualitt anderer Texte kaum je vollumfnglich entsprechen kann. Das Problem gilt vordringlich dann, wenn Autorinnen und Autoren, wie in der Moderne blich, mit dem Anspruch auf Innovation auftreten. Im Falle des Epos ist diese Schwierigkeit aber noch strker als bei den brigen Gattungen zu konstatieren, weil die gngigen Beschreibungen und Definitionen des Epos in ihrem Kern meist einem spezifischen Modell des (Helden-)Epos und dessen Ausprgung bei Homer (Kap. 3) und/oder Vergil (Kap. 4) abgewonnen sind, sodass hufig etwas als Eigenschaft des Epos beschrieben wurde, was nur bei einer geringen Zahl klassischer Werke beobachtet werden kann. Damit ist eine weitere Gefahr verbunden. Wie G rard Genette bemerkt, ist „die Langlebigkeit klassischer Formen“ – nicht zufllig nennt er die beiden aus der Antike stammenden und traditionell gattungstheoretisch hochgeschtzten Formen des Epos und der Tragdie – „kein sicheres Indiz fr Transhistorizitt“ (Genette 2020, 119). Jede Gattungsdefinition, die sich auf eine Reihe unverbrchlicher Merkmale sttzt, luft Gefahr, ahistorisch zu werden, da man „typische Formen oder Strukturen als natrlich betrachtet, deren Geschichte so wenig natrlich wie nur mglich ist, vielmehr ganz im Gegenteil lang, komplex, heterogen“ (Derrida 1994, 253). Einer ahistorisch-typologischen Auffassung, die nur solche Texte als Epen anerkennt, die einem strengen (und starren) Regelkorsett entsprechen, setzt die folgende Auswahl historische Vielfalt und begriffliche Breite entgegen. Die vorgestellten, formal und inhaltlich durchaus uneinheitlichen Epen lassen als literarische Einzelphnomene die lange, komplexe und heterogene Geschichte der Gattungsentwicklung erkennen. Sie demonstrieren zugleich eine Orientierung an grundlegenden Gattungsmerkmalen wie auch deren Weiterentwicklung und Variation bis hin zur Erweiterung und Vernderung der Gattung im Allgemeinen. Erforderlich ist ein flexibler Gattungsbegriff, der es ermglicht, einen relativ stabilen Kern notwendiger Merkmale mit der Offenheit fr alternative Merkmale zu kombinieren (Fricke 2010, 9). Die Zusammenschau der in den folgenden Einzelbeitrgen vorgestellten Epen aus unterschiedlichen Sprachund Kulturrumen sowie Epochen vermittelt einen berblick, welche Texte das Bild der Gattung besonders geprgt haben, welche gemeinsamen Merkmale sie

3. Komparatistische Perspektive

aufweisen, aber auch, wie sie sich voneinander unterscheiden und wie sich die Gestaltung eines Epos historisch entwickelt und verndert hat – auch wenn es sich nur um eine Auswahl der Epen der Weltliteratur handelt. Der aufgerufene Begriff der Weltliteratur ist allerdings, gerade weil er so gelufig ist, erluterungsbedrftig. Er umfasst zwei Ebenen. Zum einen meint Weltliteratur deskriptiv die Gesamtheit der Literatur aller Sprachen und Zeiten; zum anderen wird Weltliteratur normativ verstanden, als selten erfllter Wertmaßstab, der die Zugehrigkeit zu einem exklusiven Kanon bescheinigt. Die Weltliteratur versammelt nach diesem Verstndnis als berzeitlich besonders gelungen und wertvoll erachtete, als allgemein- und mustergltig angesehene Werke aus smtlichen Nationalliteraturen. ‚Weltliteratur‘ ist in diesem Sinne gleichsam ein Gtesigel, das Texten verliehen wird, die von hchster sthetischer Bedeutung sind und ber ihre eigene Kultur hinaus gewirkt haben oder denen eine solche Wirkung zumindest zugeschrieben oder vorausgesagt wird. Ein solcher Kanon der Weltliteratur umfasst z.B. Namen wie Sophokles, Horaz, Boccaccio, Shakespeare, Cervantes, Rousseau, Tolstoi und Kafka – schwerlich drfte sich Einspruch gegen diese Aufzhlung herausragender Vertreter der europischen Literatursprachen und deren Zugehrigkeit zur Weltliteratur erheben. Dieser Namenkatalog impliziert aber auch, dass die Redeweise von Weltliteratur hufig hinter ihrem vorgeblichen Anspruch zurckbleibt, da der Begriff in seiner gelufigen Verwendung paradoxerweise eine eurozentristische (und maskuline) Verengung transportiert. Auch die in diesem Band vorgelegte Auswahl weist einen europischen Schwerpunkt auf, indem Hhepunkte versepischen Erzhlens von Homer und Vergil ber volkssprachliche Texte des Mittelalters bis hin zu neuzeitlichen Aktualisierungen vorgestellt werden. Zugleich folgt die Auswahl (annherungsweise) dem Anspruch, tatschlich die Weltliteratur, verstanden als Gesamtheit der Literatur aller Zeiten und unterschiedlicher Kulturrume, zu reprsentieren, indem der Blick ber den europischen Raum hinaus erweitert wird. Dabei handelt es sich um Texte, die nicht allein innerhalb ihrer jeweiligen Nationalliteraturen eine besondere Resonanz und einen großen Einfluss auf literarische Entwicklungen oder das nationalkulturelle Selbstverstndnis entfaltet haben, sondern denen eine weltliterarische Geltung auch deswegen zukommt, weil sie in je unterschiedlicher Weise als besonders gelungen, als vorbildlich, als musterhafte Vertreter der Gattung Epos angesehen werden. Zurckgefhrt wird der Begriff meist auf Goethe, in dessen Sptwerk sich verstreute Bemerkungen zu einem Programm der Weltliteratur finden. Goethe dachte an eine kommende Weltliteratur, die die einzelnen Nationalliteraturen in ein produktives, von Vermittlung und Anerkennung geprgtes Austauschverhltnis bringen sollte. Er hatte dabei weniger ein sthetisches Wertniveau vor Augen, als dass unter den Literaturen und den Literaturschaffenden der unterschiedlichsten Kulturrume eine wechselseitige, nationale und damit

17

Weltliteratur

Philologie der Weltliteratur

18

1.

Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung

auch sprachliche Grenzen berschreitende Kenntnisnahme und Beeinflussung entstehen sollte. Zwar konzipierte Goethe ‚Weltliteratur‘ vornehmlich synchron, als gleichzeitige Wechselwirkung, whrend dieses Studienbuch diachron angelegt ist und Epen der Weltliteratur in historischer Abfolge vorstellt. Die transkulturelle, reziproke, intertextuelle Beeinflussung aber und der Austausch von Stoffen, erzhlerischen Verfahrensweisen sowie die ber Literatur vermittelte Kenntnis nationaler Eigenarten kann an den hier vorgestellten Epen mustergltig beobachtet werden. Will man profunde Kenntnisse der erzhlerischen Großform Epos, der damit verbundenen Tradition sowie ihrer historischen und poetologischen Entwicklungen erhalten, muss zwangslufig eine – auch in Goethes Sinne – weltliterarische Perspektive eingenommen werden, da eine Nationalliteratur allein nicht ausreicht, um den Reichtum, die Heterogenitt, aber eben auch womglich bernationale Gemeinsamkeiten und Tauschbeziehungen zu entdecken. Eine solche weltliterarische Perspektive ist auch und gerade dann geboten, wenn die vorgestellten Texte als ‚Nationalepos‘ gedeutet, tradiert und instrumentalisiert wurden. Es knnen in diesem Band nicht alle bedeutenden Epen der Weltliteratur vorgestellt werden, aber doch eine Auswahl grundlegender Texte, die fr die weltliterarische Gattungsentwicklung prgend sind und deren Facettenreichtum dazu gemahnt, das Bild der Gattung des Epos nicht an einem hufig isoliert und enthistorisiert wahrgenommenen Modell allein (ber Jahrhunderte Vergils Aeneis, seit dem 18. Jh. bis in die Gegenwart meist Homers Ilias) auszurichten. In dieser Weise betreibt dieses Studienbuch, in Anlehnung an eine berhmte Programmatik des Romanisten Erich Auerbach, „Philologie der Weltn literatur“ (Auerbach 2010). Auf einen Blick

Der Theoriediskurs um das Epos wird bestimmt durch die begriffsgeschichtliche Verengung auf die prominente Spielart des Heldenepos (insbesondere in seinen klassischen Ausprgungen bei Homer und Vergil), aber auch den fortwhrenden Bezug auf ebenfalls dominant auf Heldenepik zielende geschichtsphilosophisch-spekulative Gattungstheorien; andere Spielarten dieser narrativen Großform werden marginalisiert. Eine bloße Beschrnkung auf formale Aspekte – wie Metrum, Umfang oder Erzhlhaltung – oder auf heroisches Personal wrde zahlreiche Texte ausschließen. Aus der Frage nach der Textentstehung ist eine anhaltende Debatte darber hervorgegangen, ob Epen von einem einzigen Autor verfasst wurden oder ob ihr Inhalt, als Teil des historischen Wissens, in unterschiedlicher Gestalt ber lngeren Zeitraum vor der Niederschrift tradiert worden ist. Insbesondere wurde ihnen als ‚Nationalepen‘ eine entscheidende Funktion bei der Herausbildung von Vlkern zugeschrieben; zugleich werden sie aber auch so gelesen, als ob ihr Inhalt fr alle Menschen zu allen Zeiten bedeutsam wre. Um einerseits die Individualitt der Einzeltexte und andererseits die Heterogenitt, aber auch gattungspoetologische Gemeinsamkeiten der Epenproduktion vom alten Orient bis in die Gegenwart zu erkennen, bedarf es einer weltliterarischen Perspektive. Die Erforschung der Geschichte des Epos wird zu einer Philologie der Weltliteratur.

Weitere Literatur

Literaturempfehlungen Bauer, Manuel u.a. (Hg., 2015): Texte zur Theorie des Epos. Stuttgart. Anthologie mit grundlegenden Theoriebeitrgen zur Gattung des Epos von der Antike bis ins spte 20. Jh. Essen, Gesa von (2009): Epos. In: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe u.a. Stuttgart. S. 204–220. Informativer Handbuchartikel zur ersten Annherung an die Gattung. Nebrig, Alexander (2020): Definitionen, Geschichte und Theorien des Versepos als literarischer Gattung – ein Umriss. In: Forcierte Form. Deutschsprachige Versepik des 20. und 21. Jahrhunderts im europischen Kontext, hg. v. Kai Bremer/Stefan Elit. Stuttgart. S. 7–23. Guter berblicksartikel zu historischen Entwicklungen sowie zu Definitionen und Theorien des Epos. Zymner, Rdiger (Hg., 2010): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart/Weimar. Anspruchsvolles Handbuch zu allgemeinen Aspekten und Problemen der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie.

Weitere Literatur Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedchtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitt in frhen Hochkulturen. Mnchen. Auerbach, Erich (2010): Philologie der Weltliteratur. In: Texte zur modernen Philologie, hg. v. Kai Bremer/Uwe Wirth. Stuttgart. S. 179–197. Baßler, Moritz (2010): Autorintention und Gattung. In: Handbuch Gattungstheorie, hg. v. Rdiger Zymner. Stuttgart/Weimar. S. 47f. Blanckenburg, Friedrich von (1965): Versuch ber den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort v. Eberhard Lmmert. Stuttgart. Bourdieu, Pierre (2001): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, bers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer. Frankfurt a.M. Bremer, Kai/Elit, Stefan (Hg., 2020): Forcierte Form. Deutschsprachige Versepik des 20. und 21. Jahrhunderts im europischen Kontext. Stuttgart. Chadwick, Hector Munro (1912): The Heroic Age. Cambridge. Christians, Heiko (2004): Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750–2000). Freiburg im Breisgau. Derrida, Jacques (1994): Gestade, hg. v. Peter Engelmann. Wien. Detering, Heinrich u.a. (Hg., 2011): Nationalepen zwischen Fakten und Fiktion. Beitrge zum komparatistischen Symposium 6. bis 8. Mai 2010 Tartu. Tartu. Dilthey, Wilhelm (1985): Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hlderlin. 16. Aufl. Gttingen. Finkmann, Simone/Reitz, Christiane (Hg., 2019): Structures of epic poetry. 4 Bde. Berlin. Fricke, Harald (2010): Definitionen und Begriffsformen. In: Handbuch Gattungstheorie, hg. v. Rdiger Zymner. Stuttgart/Weimar. S. 7–10. Genette, Grard (2020): Einfhrung in den Architext. In: Gattungstheorie, hg. v. Paul Keckeis/Werner Michler. Berlin. S. 113–122. Goethe, Johann Wolfgang (1987): Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Zweiter Theil. Goethes Werke, hg. im Auftrag d. Großherzogin Sophie von Sachsen. – Weimarer Ausgabe. Bd. I.27. Mnchen (Fotomechanischer Nachdruck d. Ausgabe Weimar 1887–1919).

19

20

1.

Annherungen an Merkmale und Theorie einer vielfltigen Gattung Gottsched, Johann Christoph (2015): Von der Epopee oder dem Heldengedichte. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. Manuel Bauer u.a. Stuttgart. S. 72–80. Grimm, Jacob u. Wilhelm (2015): Sage und Epos. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. Manuel Bauer u.a. Stuttgart. S. 156–166. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Vorlesungen ber die sthetik III. Werke 15. Frankfurt a.M. Hempfer, Klaus W. (2010): Generische Allgemeinheitsgrade. In: Handbuch Gattungstheorie, hg. v. Rdiger Zymner. Stuttgart/Weimar. S. 15–19. Herder, Johann Gottfried (2000): Epopee. In: Ders.: Werke in zehn Bnden, Bd. 10. Adrastea (Auswahl), hg. v. Gnter Arnold. Frankfurt a.M. S. 808–841. Hlderlin, Friedrich (1995): [ber den Unterschied der Dichtarten]. In: Ders.: Smtliche Werke und Briefe. Bd. 2, hg. v. Gnter Mieth. 2. Aufl. Berlin. S. 413–420. Horn, Katalin (1990): Art. Held, Heldin. In: Enzyklopdie des Mrchens. Handwrterbuch zur historischen und vergleichenden Erzhlforschung, hg. v. Rolf Wilhelm Brednich u.a. Bd. 6. Berlin/New York. Sp. 721–745. Humboldt, Wilhelm von (2015): Der Begriff der Epopee. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. Manuel Bauer u.a. Stuttgart. S. 118–130. Konstan, David/Raaflaub, Kurt A. (Hg., 2010): Epic and history. Malden, MA u.a. Krauss, Charlotte/Mohnike, Thomas (Hg., 2011): Auf der Suche nach dem verlorenen Epos. Ein populres Genre des 19. Jahrhunderts/ la recherche de l’popoe perdue. Un genre polulaire de la littrature europene du XIXe si cle. Berlin. Krauss, Charlotte/Urban, Urs (Hg., 2013): Das wiedergefundene Epos. Inhalte, Formen und Funktionen epischen Erzhlens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute/L’pope retrouve. Motifs, formes et fonctions de la narration pique du dbut du XXe si cle l’poque contemporaine. Berlin. Luk cs, Georg (2000): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch ber die Formen der großen Epik. Mit dem Vorwort v. 1962. 2. Aufl. Mnchen. Maler, Anselm (2002): Epos. In: Das Fischer Lexikon Literatur, hg. v. Ulfert Ricklefs. Neuausgabe. Bd. 1. Frankfurt a.M. S. 531–570. Martin, Dieter (1993): Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin/New York. Max, Frank Rainer (1981): Das Epos. In: Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, hg. v. Otto Knrrich. Stuttgart. S. 75–87. Schiller, Friedrich/Goethe, Johann Wolfgang (2015): Briefwechsel ber epische und dramatische Dichtung. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. Manuel Bauer u.a. Stuttgart. S. 101–117. Schlegel, Friedrich (2015): ber die Homerische Poesie. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. Manuel Bauer u.a. Stuttgart. S. 91–100. Schnhaar, Rainer (1994): Epos. In: Historisches Wrterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Darmstadt. Sp. 1327–1347. Staiger, Emil (1978): Grundbegriffe der Poetik. 4. Aufl. Mnchen. Wilpert, Gero von (1969): Sachwrterbuch der Literatur. 5., verbesserte u. erweiterte Aufl. Stuttgart. Zymner, Rdiger (2013): Texttypen und Schreibweisen. In: Handbuch Literaturwissenschaft, hg. v. Thomas Anz. Bd. 1. Gegenstnde und Grundbegriffe. Sonderausgabe. Stuttgart/Weimar. S. 25–80.

2. „Der den Ursprung sah …“ Das Gilgamesch-Epos von Nils P. Heeßel berblick

D

as Gilgamesch-Epos ist eine ca. im 12. Jh. v. Chr. in Mesopotamien entstandene Erzhlung ber die Abenteuer des sumerischen Knigs Gilgamesch und dessen Suche nach Unsterblichkeit. Zusammen mit seinem Freund Enkidu zieht der ungestme und unreife Gilgamesch zum Libanon und erschlgt dort den mchtigen Wchter des Zedernwalds. Vom frhen Tod des Enkidu erschttert, sucht er den einzigen berlebenden der Sintflut, um durch ihn das

Geheimnis der Unsterblichkeit zu erlangen. Obwohl er mit seiner Suche scheitert, erlangt Gilgamesch auf diesem Weg Weisheit und erkennt, dass trotz großer eigener Taten nur die Gnade der Gtter Unsterblichkeit gewhren kann. Das auf frheren Erzhlungen beruhende, aber deutlich weiter entwickelte Epos fand im Alten Orient weite Verbreitung und gehrt seit seiner Wiederentdeckung zu den bedeutenden Epen der Weltliteratur.

ca. 29. Jh. v. Chr.

Eventuell historischer Knig Gilgamesch in Uruk/Sdirak

21. Jh. v. Chr.

Erste Fragmente mit Erzhlungen ber Gilgamesch belegt

ca. 12. Jh. v. Chr.

Entstehung des Gilgamesch-Epos (‚12-Tafel-Epos‘) des Sn-leqi-unninni (Sptere Zuschreibung aus dem 7. Jh. v. Chr.)

um 130 v. Chr.

Letzte datierte Abschrift des Gilgamesch-Epos

1872

Wiederentdeckung des Gilgamesch-Epos

1. berlieferung Die Erzhlungen um Knig Gilgamesch aus der Stadt Uruk weisen eine sehr lange und beraus komplexe Entstehungs- und berlieferungsgeschichte auf (George 2003, 3–70; Sallaberger 2008; Mittermayer 2010). Erste Textfragmente mit Gilgamesch-Erzhlungen in sumerischer Sprache sind aus dem 21. Jh. v. Chr. berliefert. Aus der ‚altbabylonischen Periode‘ (20.–17. Jh. v. Chr.) sind fnf sumerische Gilgamesch-Erzhlungen erhalten, die in zahlreichen mesopotamischen Orten wie Ur, Nippur oder Meturan auf Tontafeln berliefert wurden: Gilgamesch und Akka, Gilgamesch und Huwawa, Gilgamesch und der Himmelsstier, Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt sowie der

Komplexe berlieferung des Gilgamesch-Stoffes

22

2.

Das ‚12-Tafel-Epos‘

Nachwirken und Wiederentdeckung

Das Gilgamesch-Epos

Tod des Gilgamesch. Die Handlung jeder dieser Kompositionen ist in sich geschlossen. Zur selben Zeit entsteht eine akkadische Gilgamesch-Erzhlung, die fortlaufend auf mehreren Tafeln notiert ist und den Titel ˇsutur eli ˇsarrı¯ („der alle Knige bertrifft“) trgt. Diese nur fragmentarisch erhaltene Erzhlung handelt von der Zivilisierung Enkidus durch die Liebesdienerin Schamkatum, die von Gilgamesch im Traum vorhergesehen wird, Gilgameschs und Enkidus Zusammentreffen in der Stadt Uruk und ihrer Reise zum Zedernwald sowie von der Ttung des Humbaba. In der zweiten Hlfte des 2. Jt. v. Chr. werden die Gilgamesch-Erzhlungen in Babylonien sowie in Assyrien tradiert und berarbeitet, darber hinaus aber auch in andere Regionen wie die Levante und Anatolien verbreitet und in Fremdsprachen wie Hethitisch und Hurritisch bersetzt. Im 1. Jt. v. Chr. wird der Gilgamesch-Stoff dann v.a. in einer akkadischen, zwlf Tafeln umfassenden Version dargeboten, die den Titel ˇsa nagba ¯ımuru („der den Ursprung sah“) trgt. Dieses ‚12-Tafel-Epos‘ wird heute als das Gilgamesch-Epos bezeichnet. Texte aus dem 7. Jh. v. Chr. schreiben seine Entstehung einem gewissen S n-leqi-unninni zu, ber den wir nur wissen, dass er etwa im 12. Jh. v. Chr. gelebt haben soll. Die sprlichen Informationen ber den Autor verbieten Mutmaßungen ber etwaige Intentionen. Die umfassende Erzhlung nimmt, v.a. in der ersten Hlfte, viele Elemente frherer Geschichten auf, stellt sie aber zumeist in einem anderen Licht dar; dies fllt besonders in der Darstellung des Helden selbst auf, der anders als in der altbabylonischen Version nicht als mutiger Knig gezeichnet wird, der mit seinem Diener Enkidu Heldentaten vollbringt, sondern als unreifer, sich selbst berschtzender Unruhegeist, der sich in Abenteuer strzt und diese nur mithilfe seines Freundes Enkidu berlebt. Durch dessen Tod auf die Suche nach dem ewigen Leben getrieben, findet er erst am Ende dieser Suche Weisheit und die Einsicht, dass im Angesicht des unausweichlichen Todes ein Weiterleben nur durch berlieferung der eigenen Heldentaten mglich ist. Das ‚12-Tafel-Epos‘ wurde in ganz Mesopotamien bis zum Ende der Keilschriftkultur berliefert, die letzte bekannte datierte Abschrift erfolgte im Jahr 130 v. Chr. Die im Alten Orient weit verbreiteten Erzhlungen um Gilgamesch wirkten auch nach dem Ende der Keilschriftkultur eine Zeit lang weiter (George 2003, 61f.). So werden die Namen von Gilgamesch und Humbaba im Gigantenbuch in Qumran genannt, um 200 n. Chr. schildert der rmische Autor Aelian die Geburt und das berleben eines Knigs Gilgamos und noch um 800 n. Chr. wird Gilgamesch von dem nestorianischen Schreiber Theodor Bar Konai erwhnt. Doch das Gilgamesch-Epos selbst geriet in den Zeitluften in Vergessenheit. Seine Wiederentdeckung erfolgte im Jahr 1872, als der englische Assyriologe George Smith im Britischen Museum, London, ein Fragment der 11. Tafel entzifferte und den Text als einen deutlichen Vorlufer der biblischen

2. Formale Aspekte

23

Sintfluterzhlung identifizierte. 1876 erstmals in englischer und 1891 in deutscher bersetzung verffentlicht, wurde das Epos bestndig weiter entziffert, bertragen und sehr breit rezipiert. So erfuhr es unzhlige bersetzungen in zahlreiche Sprachen.

2. Formale Aspekte Das Gilgamesch-Epos (‚12-Tafel-Epos‘) ist ein relativ fester, immer wortgleich berlieferter Text von ca. 3300 Zeilen. Seine Rekonstruktion ist ein seit 150 Jahren bestndig fortgefhrter Prozess; heute sind ca. 40% der Zeilen vollstndig und ca. 40% fragmentarisch erhalten, ca. 20% fehlen. Der akkadische, in Keilschrift geschriebene Text wurde auf zwlf Abschnitte (‚Tafeln‘) verteilt, am Ende jeder Tafel wurde die erste Zeile der folgenden Tafel zitiert (‚Stich-‘ oder ‚Fangzeile‘), darber hinaus wurden die Tafeln auch in Kolophonen durchgezhlt. Stichwort

Keilschrift und Tontafeln Die Keilschrift wurde als erste Schrift der Menschheit um 3300 v. Chr. im sdlichen Mesopotamien erfunden. Sie wurde genutzt, um Wirtschaftstransaktionen zu notieren und spter auch andere Texte in sumerischer, bald auch in akkadischer Sprache zu schreiben. Dabei benutzten die Schreiber aus Schilf zugeschnittene kleine Griffel, mit denen sie Striche in nassen Ton, den sie zu meist rechteckigen Tafeln geformt hatten, eindrckten und zu Zeichen formten. Die durch die Griffel entstehende charakteristische ‚Keilform‘ der Strichanfnge fhrte zur Namensgebung dieser Schrift. Der Name Gilgameschs erscheint im 1. Jt. v. Chr. in assyrischer Keilschrift so: Fertige Tontafeln wurden in der Sonne getrocknet und somit fest und unvernderbar oder sogar durch Brennen im Ofen fr lange Zeit haltbar gemacht. Bald entwickelten die Schreiber die Methode, sehr lange Texte auf mehrere Tontafeln zu verteilen, da aus Ton hergestellte Tafeln eine bestimmte Grße nicht berschreiten konnten, ohne unhandlich und leicht zerbrechlich zu werden. Hieraus entstand das Verfahren, den Text auf einer solchen Tafel zu standardisieren und ebenfalls als Tafel zu bezeichnen. Das Gilgamesch-Epos bestand aus zwlf Tafeln mit standardisiertem Text, die idealerweise tatschlich auch auf zwlf Tafeln aus Ton niedergeschrieben waren.

Die eigentliche Geschichte reicht von der ersten bis zur elften Tafel und wird von einer Erzhlung gerahmt, die die bereits in der Antike als gewaltig empfundene Stadtmauer von Uruk als Lebensleistung des Gilgamesch preist. In der ersten Tafel wird zudem die Fiktion geboten, der Leser solle die nun fol-

Umfang, Tafeleinteilung, Metrik

24

2.

Das Gilgamesch-Epos

Abb. 1 Sintflutbericht auf der 11. Tafel des Gilgamesch-Epos. 7. Jh. v. Chr. (London, British Museum, K.3375)

gende Geschichte auf Tafeln aus Lapislazuli lesen, die bei dieser Stadtmauer deponiert seien. Die 12. Tafel ist an die eigentliche Kernerzhlung angehngt und enthlt eine akkadische bersetzung der sumerischen Erzhlung Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt. Wie praktisch alle altorientalischen literarischen Werke ist das Epos durch das Fehlen von Reimen gekennzeichnet. Die Verse enden mit einem aus einer langen und einer kurzen Silbe bestehenden Versfuß, die Betonung liegt also auf der vorletzten Silbe. Oft, aber nicht immer, bilden zwei Doppelverse eine rhythmische Einheit. Eine regelrechte Strophengliederung gibt es nicht (Maul 2017, 13). Das Epos wird, wie im Alten Orient blich, aus der Perspektive des Allwissenden erzhlt, und die Erzhlhaltung ist durchgngig affirmativ. Inwieweit einzelne Passagen ironisch zu verstehen sein knnten, ist nicht sicher zu belegen.

3. Inhalt In das Gilgamesch-Epos sind zahlreiche verschiedene Handlungsstrnge aus frheren Erzhlungen eingewoben, sodass eine kurze Inhaltangabe nur

3. Inhalt

den groben Handlungsablauf darstellen kann (fr ausfhrlichere Inhaltsangaben Maul 2017, 24–43; Sallaberger 2008, 9–20; Zgoll 2018). In Uruk herrscht der junge und schne, jedoch ungestme Knig Gilgamesch, zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch, der mit seiner Tatkraft und Potenz die Jugend der Stadt drangsaliert. Aufgrund der Gebete der Uruker erschaffen die Gtter mit dem Wilden Enkidu ein Pendant zu Gilgamesch. Enkidu rennt mit den Tieren in der Steppe umher und wird erst durch den Geschlechtsverkehr mit Schamchat, einer Dienerin der Liebesgttin, zivilisiert und damit zum Menschen. Nachdem er Kraft und Knnen als Hirte bewiesen hat, bringt Schamchat Enkidu nach Uruk, wo er und Gilgamesch nach kurzem Krftemessen Freundschaft schließen. Nun plant Gilgamesch mit Enkidu in den Zedernwald zu ziehen, um gewaltige Bume zur Herstellung von Tempeltren zu fllen. Enkidu ist verzagt und warnt Gilgamesch vor dem mchtigen Wchter des Zedernwaldes, doch Gilgamesch tut jede Warnung ab. Nachdem die Krieger und der ltestenrat von Uruk dem Plan zugestimmt haben und die Gttin Ninsun (die Mutter Gilgameschs) Enkidu adoptiert, den Sonnengott Schamasch zur Hilfe verpflichtet und ihren Rat erteilt hat, ziehen die beiden riesenhaften Helden in wenigen Tagen zum weit entfernten Libanon. Jede Nacht trumt Gilgamesch von den Gefahren, die ihn erwarten, und ihn verlsst der Mut, der eigentlich selbst zweifelnde Enkidu richtet ihn jedoch wieder auf. Der von Leben wimmelnde Zedernwald ist eine vllig neue Erfahrung fr Gilgamesch. Schon bald treffen die beiden Helden auf Humbaba, den Wchter des Zedernwaldes, den Enkidu von frher kennt. Nach kurzem Gesprch kommt es zu einem gewaltigen Kampf, den die Helden nur mithilfe der Winde, die der Sonnengott Schamasch schickt, gewinnen knnen. Obwohl sie wissen, dass sie sich gegen die Gtter versndigen, tten sie Humbaba, schneiden seinen Kopf ab und fllen viele Zedern, mit denen sie sich auf dem Euphrat flussabwrts nach Uruk treiben lassen. Dort angekommen, weist Gilgamesch das Angebot der in ihn verliebten Gttin Ischtar, sie zu ehelichen, unter Verweis auf das schlimme Schicksal ihrer frheren Geliebten zurck. Erzrnt schickt Ischtar den zerstrerischen Himmelsstier nach Uruk, den Gilgamesch und Enkidu aber gemeinsam tten knnen. Die Helden sind auf dem Hhepunkt ihres Ruhms und berauschen sich an ihrer Macht. Enkidu bekommt schweres Fieber, nachdem er getrumt hat, dass die Gtterversammlung wegen der Ttung des Humbaba und des Himmelsstieres den Tod eines der Helden beschlossen habe und die Wahl auf Enkidu gefallen sei. Den Tod vor Augen bedauert Enkidu sein Tun, verflucht und – nach Trost durch den Sonnengott Schamasch – segnet die Liebesdienerin Schamchat, die ihn einst zivilisierte. Im Fiebertraum sieht er die Unterwelt und stirbt. Gilgamesch ist durch den Tod seines Freundes gebrochen. Seine Trauer ist unermesslich und er richtet eine prunkvolle Bestattung aus. Der Euphrat wird um-

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1.–2. Tafel

3.–4. Tafel

5.–6. Tafel

7.–8. Tafel

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2. 9.–10. Tafel

11. Tafel

12. Tafel

Das Gilgamesch-Epos

geleitet, um im Flussbett das Grabmal des Enkidu zu bauen und es nach der Rckleitung des Flusses fr immer unantastbar zu machen. Aus Trauer und Furcht vor dem Tod verlsst Gilgamesch Uruk, vernachlssigt sein Knigsamt, durchstreift die Steppe und begibt sich schließlich auf die Suche nach Uta-napischti, dem Sintflutberlebenden, um selbst zu erkennen, wie man ewig leben kann. Er gelangt zum Zwillingsberg, der den Himmel trgt und an die Unterwelt reicht. In hchster Eile durchquert Gilgamesch den Gang durch dieses Gebirge wie sonst der Sonnengott und gelangt in einen Edelsteingarten der Gtterwelt. Hier, am Rand der Welt, weist die Wirtin Siduri Gilgamesch den Weg zum Fhrmann Ur-schanabi, dessen steinerne Ruderer er – immer noch der ungestme Raufbold – sinnlos zerschlgt, wodurch er selbst von Ur-schanabi geleitet ber Wasser des Todes zu Uta-napischti staken muss. Uta-napischti mahnt ihn, als Knig fr die Menschen zu sorgen und sich um die durch die Sintflut verheerten Tempel und die kultische Verehrung der Gtter zu kmmern. Der Tod sei fr die Menschen unausweichlich. Gilgamesch mchte das Geheimnis um die Unsterblichkeit gewaltsam von Uta-napischti erzwingen, aber endlich begreift er, dass Gewalt ihn nicht weiterbringt. So offenbart ihm Uta-napischti seine Geschichte um die Sintflut und erzhlt, wie der Weisheitsgott Ea ihn gegen den Willen der Gtter warnte, er die Arche baute und so die tobende Sintflut berlebte. Nicht durch sein eigenes Verdienst leben nun seine Frau und er im Lande der Unsterblichen, sondern damit alle Gtter ihr Gesicht wahren knnen. Uta-napischti rt Gilgamesch, sechs Tage und sieben Nchte ohne Schlaf auszukommen, um der Unsterblichkeit nherzukommen. Gilgamesch schlft jedoch ein und erkennt, dass er die Unsterblichkeit nicht durch seine eigenen Taten erlangen kann. Gilgamesch will nun mit dem Fhrmann Ur-schanabi, der ihn trotz strikter Anweisung zu Uta-napischti brachte und deswegen aus den unsterblichen Landen verwiesen wird, nach Uruk zurckkehren, um endlich seinen Aufgaben als Knig – der Sorge um seine Untertanen – nachzukommen. Beim Abschied erzhlt Uta-napischti, auf Intervention seiner Frau hin, Gilgamesch vom Kraut der Verjngung. Gilgamesch holt dies Kraut aus dem Meer herauf und taucht wieder im irdischen Diesseits auf. Auf dem Rckweg nach Uruk entwendet eine Schlange das Kraut jedoch, hutet sich und verjngt sich somit – nur eine der zahlreich im Epos erscheinenden tiologien, die die Ursprnge von bemerkenswerten Naturphnomenen oder Kulturtechniken erklren. Am Ende zeigt Gilgamesch Ur-schanabi die Stadtmauer von Uruk, sein bleibendes Denkmal, mit sehr hnlichen Worten wie sie am Beginn des Epos erscheinen, wodurch sich die Rahmenerzhlung schließt. Um Gilgameschs in ein Loch gefallenes Spielzeug – dessen Bedeutung der Forschung bis heute Rtsel aufgibt – zurckzuholen, steigt Enkidu in die Unterwelt hinab und wird dort festgehalten. Auf Intervention des Weisheitsgottes Ea ffnet der Sonnengott Schamasch ein Loch, durch welches der Totengeist

4. Helden

des Enkidu wieder emporkommt. Er beantwortet Gilgameschs Fragen ber die Schicksale der Toten in der Unterwelt, wobei die Art und Weise des Todes ihr jeweiliges Los bestimmt. Bereits in frhen sumerischen Texten aus dem 27. und 26. Jh. v. Chr. wird Gilgamesch erwhnt. Die sumerische Knigsliste, eine wohl sptestens im 22. Jh. v. Chr. kompilierte Liste aller Knige und Dynastien vom Anbeginn der Zeit, verzeichnet ihn als fnften Knig der ersten Dynastie von Uruk, die die zweite Dynastie nach der Sintflut war. Obwohl zeitgenssische Quellen zu Gilgamesch bislang fehlen und es nicht ausgeschlossen ist, dass es sich um eine literarische Fiktion handelt, gehen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass es sich um einen historischen Knig aus dem 29. oder 28. Jh. v. Chr. handelt. Unklar bleibt, inwieweit die Erzhlungen um Gilgameschs Taten einen historischen Kern aufweisen.

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Historischer Hintergrund

Hauptfiguren Gilgamesch: In sumerischen Texten: Bilgames. Knig von Uruk, zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch. Befreundet sich mit Enkidu und erlebt viele Abenteuer mit ihm. Nach Enkidus Tod sucht er das ewige Leben beim sintflutberlebenden Uta-napischti und kehrt erfolglos, aber gereift nach Uruk zurck. Enkidu: Von den Gttern erschaffener Gegenpart zu Gilgamesch. Stirbt am Fieber als Strafe der Gtter fr die Ttung des Humbaba und des Himmelsstiers. Schamchat: Dienerin der Liebesgttin Ischtar. Verfhrt Enkidu, bringt ihn nach Uruk zu Gilgamesch und wird von Enkidu im Sterben verflucht und gesegnet. Humbaba: ltere Form: Huwawa. Dmonischer Wchter des Zedernwaldes, wird von Gilgamesch und Enkidu gettet. Siduri: Betreibt eine Schenke am Ende der Welt. Ratgeberin Gilgameschs. Uta-napischti: Erbauer der Arche und berlebender der Sintflut, von den Gttern mit Unsterblichkeit gesegnet.

4. Helden Das Heldenbild des Gilgamesch-Epos ist ußerst vielschichtig und seine Interpretation hngt mit der Gesamtdeutung des Epos (Zgoll 2018) eng zusammen. Ohne Zweifel liegt ein wesentlicher Schwerpunkt der Erzhlung auf der Frage nach dem Tod und dem Weiterleben nach dem Tod, die in der Suche Gilgameschs nach der Unsterblichkeit zum Ausdruck kommt. Vor diesem Hintergrund stellt das Epos die Frage, was menschliches Leben ausmacht, z.B. in der Zivilisierung des Urmenschen Enkidu durch Schamchat, die ersichtlich werden lsst, dass Menschen soziale Wesen sind. Auch in der Beleuchtung der Rolle der Freundschaft zwischen Gilgamesch und Enkidu tritt dieser Aspekt zutage; so wurde das Gilgamesch-Epos auch als „existentialistische Dichtung“

Deutung des Gilgamesch-Epos

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2.

Entwicklung zum weisen Herrscher

Enkidu

Humbaba, Schamchat, Siduri

Das Gilgamesch-Epos

(Oberhuber 1977, 21) bezeichnet. Zugleich ist das Epos ein Entwicklungsroman avant la lettre, der das coming of age des jungen, selbstbezogenen, und nur seinem Vergngen folgenden Helden zum verantwortungsvollen Knig nachverfolgt (Jacobsen 1976). Andere moderne Interpretationen betonen ebenfalls Kultivierungsprozesse im Epos, stellen jedoch den Gegensatz zwischen Natur und Kultur in den Mittelpunkt des Geschehens (Koch/Westenholz 2000) oder streichen die Rolle Gilgameschs als Kulturbringer hervor, der Techniken zur Bewltigung von Aufgaben erfindet, wie das Segel zum berqueren der Wasser des Todes (George 2003, 92–99). Gilgamesch ist somit einerseits das Bild eines altorientalischen Helden par excellence, andererseits wird er in weiten Teilen des Epos als unreif geschildert. Er treibt im Spiel, nur fr sein eigenes Vergngen, Menschen bis zur Erschpfung an, nimmt sich das ius primae noctis heraus und beschließt vollmundig Heldentaten, um auf dem Weg dorthin zu verzagen. Durchgngig wird er als sehr emotional und wenig rational geschildert, etwa in seiner bergroßen Angst vor Humbaba, seiner herablassenden und beleidigenden Zurckweisung der Avancen der Gttin Ischtar oder seiner bermßigen Trauer um den toten Enkidu. Immer ist sein Gefhl maßlos, kaum je verfgt er ber Frustrationstoleranz, immer wieder scheitert er an seinen Erwartungen und Ansprchen. Erst am Ende seiner Suche erfhrt er Einsicht und gewinnt Weisheit und Reife, die ihn befhigen, seine Aufgaben als Knig zu erfllen – erst jetzt wird sein Charakter dynamischer gezeichnet. Verglichen mit Gilgamesch bleibt Enkidu eine blasse Figur. Von den Gttern geschaffen und nicht gezeugt, ohne Nachkommen und ohne langes Leben gesegnet, ist er ein Spiegel Gilgameschs, in dem sich dessen Fehler und Erfolge betrachten lassen. Seine Gefhle und Taten beziehen sich durchgngig auf Gilgamesch und sind zumeist Reaktionen auf dessen Worte und Handlungen. Außerhalb des Gilgamesch-Epos erscheint die Figur des Enkidu nicht. Lediglich die Passagen, die rckblickend Enkidus Zeit vor dem Treffen mit Schamchat thematisieren, lassen seinen Charakter etwas lebendiger hervortreten. Sowohl Gilgamesch als auch Enkidu sind deutlich als Helden charakterisiert: Sie sind nicht nur bergroß, unglaublich stark, potent und ausdauernd, sie vollbringen auch bermenschliche Taten wie das Tten des Humbaba oder des Himmelsstiers. In einem nachsintflutlichen, heroischen Zeitalter, in dem die unsterblichen Lande noch nicht von der Menschenwelt vllig geschieden sind, formen sie in unmittelbarem Kontakt mit den Gttern durch unwiederholbare Leistungen die Welt. Der Gegner der beiden Helden, Humbaba, reprsentiert den von den Gttern beauftragten Beschtzer des Waldes und damit der Natur. Sein Streben zum Erhalt des Waldes ist legitim und steht im Einklang mit den gttlichen Absichten fr die Welt. Er ist kein außerhalb des Natrlichen stehendes Monster. Beiden Helden ist klar, dass sie sich durch den Mord an Humbaba an der

5. Rezeption

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Natur und den Gttern versndigen. Auch in diesem Aspekt beweist das Epos seine Aktualitt. Die weiblichen Figuren im Gilgamesch-Epos, insbesondere die Liebesdienerin Schamchat und die Wirtin Siduri, aber auch die Frau des Uta-napischti werden allesamt mit einem gesunden Menschenverstand gezeichnet. Sie treten als Ratgeberinnen der mnnlichen Helden auf und stoßen sie sanft in die richtige, die Handlung voranbringende Richtung oder bringen Gegenpositionen zu den Plnen der Helden zum Ausdruck. Besonders bekannt ist die Aufforderung der Schankwirtin an Gilgamesch im altbabylonischen Epos, seine sinnlose Suche nach dem ewigen Leben aufzugeben. Quelle

Rede der Schankwirtin (bersetzung Sallaberger 2008, 115)

In der altbabylonischen akkadischen Gilgamesch-Erzhlung (18.–17. Jh. v. Chr.) rt die Schankwirtin Gilgamesch: Gilgamesch, wohin eilst du? Das Leben, dem du nachrennst, das wirst du nicht finden! Als die Gtter die Menschheit schufen, da haben sie das Leben in ihrer Hand behalten. Du, Gilgamesch, gefllt sei dein Bauch, freue dich Tag und Nacht! Verbreite tglich Frhlichkeit, Tag und Nacht tanze und spiele! Deine Kleider seien gereinigt, dein Kopf gewaschen, du mit Wasser gebadet! Sieh hin auf den Sohn, der deine Hand hlt, die Frau mge sich immer an deinen Lenden erfreuen! Die Schankwirtin rt Gilgamesch, die sinnlose Suche nach dem ewigen Leben aufzugeben und sich stattdessen des Lebens zu erfreuen. Auch wenn dieser Rat hedonistisch zu verstehen ist, so steht dahinter durch die Erwhnung von Frau und Kind auch die Idee der Familiengrndung, um sich ber seine Nachkommen einen unsterblichen Namen zu machen. Bezeichnenderweise ist dieser Ratschlag im spteren ‚12-Tafel‘-Gilgamesch-Epos weggefallen: Hier steht nicht der Lebensgenuss des jungen Knigs im Vordergrund, sondern die Verantwortung als Herrscher, sich um seine Untertanen zu kmmern – und dieser Ratschlag erfolgt nicht durch die Schankwirtin, sondern durch den Uta-napischti, der die Sintflut berlebte.

5. Rezeption Der Gilgamesch-Stoff wurde seit dem 3. vorchristlichen Jt. im Alten Orient stark rezipiert und auch das gegen Ende des 2. Jt. v. Chr. verfasste Gilgamesch-Epos wurde nicht nur schriftlich tradiert, sondern wohl auch von Geschichtenerzhlern vorgetragen und drfte allen sozialen Schichten bekannt

Altorientalische Rezeption

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2. Das Gilgamesch-Epos als Weltliteratur

Abb. 2 Maßstabsgetreue Darstellung von Gilgamesch (5,5 m hoch) im Palast SargonsII. von Assyrien in Dur-Scharrukin/ Chorsabad. Relief, Ende 8. Jh. v. Chr. (Paris, Louvre, AO19862)

Das Gilgamesch-Epos

gewesen sein. Knige wie Sargon II. von Assyrien folgten dem durch das Epos geschilderten Knigsbild und sahen sich in einer besonderen Nhe zu Gilgamesch. Mit dem Untergang der altorientalischen Keilschriftkultur geriet auch das Gilgamesch-Epos in Vergessenheit. Nach seiner Wiederentdeckung und den ersten bersetzungen erfuhr das Gilgamesch-Epos eine breite Rezeption im europischen Bildungsbrgertum; so begeisterte sich etwa Rainer Maria Rilke besonders fr Gilgamesch (in einem Brief an Katharina Kippenberg, Moran 1980). Die existentiellen menschlichen Fragen, die im Gilgamesch-Epos thematisiert werden, wie das Leben in Anbetracht des Todes zu gestalten sei und wie junge Menschen ihren Platz im Leben fnden, machen das Gilgamesch-Epos zu einem Teil der Weltliteratur (kurzgefasst Sallaberger 2008, 120–123). Dieser existentialistische Charakter und das weitgehende Fehlen von Innen-/Außen-Perspektiven erklren auch, warum sich das Epos nicht gut als Nationalepos eignet und nie als soln ches angesehen wurde.

Weitere Literatur Auf einen Blick

Das Gilgamesch-Epos ist eine auf frheren Texten beruhende, ca. im 12. Jh. v. Chr. in Mesopotamien entstandene Erzhlung von rund 3300 Zeilen Lnge, die in der Antike auf zwlf Tafeln verteilt wurde. ber den Autor Sn-leqi-unninni ist außer seinem Namen nichts bekannt. Das Epos berichtet ber die Abenteuer des sumerischen Knigs Gilgamesch von Uruk, der in einem frhen heroischen Zeitalter bermenschliche Taten vollbringt. Zusammen mit seinem Freund Enkidu, den die Gtter erschufen, um dem beraus mchtigen, aber unreifen Gilgamesch einen Gegenpart zu geben, reist er in den Libanon um Bume zu fllen und ttet dort den Wchter des Zedernwalds, Humbaba. Nach vielen mhevollen und vergeblichen Reisen auf der Suche nach Unsterblichkeit kehrt er gereift nach Uruk zurck und nimmt seine Pflichten als Knig wahr. Die Erzhlung verwebt verschiedene grundlegende Fragen des Daseins: Nach dem Sinn der Sterblichkeit und der Mglichkeit, ein erflltes und sinnvolles Leben im Angesicht des sicheren Todes zu fhren; nach dem, was Menschsein ausmacht und sie von Tieren oder Gttern unterscheidet; wie bermtige junge Menschen reifen und erwachsen werden knnen; schließlich wie Kultur verfeinertes Leben ermglicht, whrend sie gleichzeitig die Natur ausbeutet. Das Epos wurde im Alten Orient ca. 1000 Jahre lang erzhlt und schriftlich tradiert; seit seiner Wiederentdeckung 1872 wird es bestndig weiter aus immer neu entdeckten Fragmenten rekonstruiert und hat seitdem die gehobene wie populre Kultur immer wieder inspiriert.

Literaturempfehlungen George, Andrew R. (2003): The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts. 2 Bde. Oxford. Grundlegende Referenzausgabe mit ausfhrlicher Einleitung. Das Gilgamesch-Epos (2017), bers. v. Stefan M. Maul. 7. Aufl. Mnchen. Wichtige deutsche bersetzung, wird hufig zitiert. Das Gilgamesch-Epos (2009), bers. v. Wolfgang Rllig nach Albert Schott u. Alfred Jeremias. Stuttgart. Neueste berarbeitung des Reclam-Klassikers, wird vielfach verwendet. Sallaberger, Walther (2008): Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition. Mnchen. Prgnante Einfhrung in die berlieferungsgeschichte des Gilgamesch-Stoffes. Al-Rawi, Farouk N. H./George, Andrew R. (2014): Back to the Cedar Forest. The Beginning and End of Tablet V of the Standard Babylonian Epic of Gilgamesˇ. In: Journal of Cuneiform Studies 66. S. 69–90. Wichtiger Beitrag zur 5. Tafel mit neuer Textrekonstruktion. Steymans, Hans Ulrich (Hg., 2010): Gilgamesch. Ikonographie eines Helden. Fribourg/Gttingen. Sammlung wichtiger Artikel zur Darstellung von Gilgamesch im Alten Orient samt Einfhrungen in die berlieferungsgeschichte des Gilgamesch-Stoffes.

Weitere Literatur Helle, Sophus (2021): Gilgamesh. A New Translation of the Ancient Epic. New Haven/London. Jacobsen, Thorkild (1976): The Treasures of Darkness. A History of Mesopotamian Religion. New Haven. Mittermayer, Catherine (2010): Gilgamesˇ im Wandel der Zeit. In: Gilgamesch. Ikonographie eines Helden, hg. v. Hans Ulrich Steymans. Fribourg/Gttingen. S. 135–164.

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32

2.

Das Gilgamesch-Epos Moran, William L. (1980): Rilke and the Gilgamesˇ Epic. In: Journal of Cuneiform Studies 32. S. 208–210. Oberhuber, Karl (Hg., 1977): Das Gilgamesch-Epos. Darmstadt. Westenholz, Aage/Koch-Westenholz, Ulla (2000): Enkidu – The Noble Savage? In: Wisdom, Gods, and Literature. Festschrift fr Wilfred G. Lambert, hg. v. Andrew R. George/Irving L. Finkel. Winona Lake. S. 437–451. Zgoll, Annette (2018): Gilgamesch. In: WiBiLex, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet. [https:// www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19604/] (Zugriff: 8. Juli 2022).

3. Begrndung einer Gattungstradition Die homerischen Epen Ilias und Odyssee von Sabine Fllinger berblick

D

ie Epen Ilias und Odyssee wurden um 700 v. Chr. im Versmaß des Hexameters schriftlich verfasst und sind von den Erzhlungen ber den Trojanischen Krieg inspiriert. Als ihr Autor gilt der griechische Dichter Homer. Beide Epen weisen einen zielgerichteten Handlungsverlauf und komplexe Erzhlstrukturen auf: Die Ilias erzhlt von den verheerenden Folgen, die der Zorn des griechischen Kmpfers Achill fr Griechen und Trojaner, aber auch fr ihn selbst hat. Die Odyssee

schildert Odysseus’ problematische Heimkehr aus Troja: seine Irrfahrten und die Kmpfe, die er auf Ithaka bestehen muss, bis er wieder mit seiner Frau Penelope vereint ist. Psychologisierung und Charakterzeichnung kennzeichnen beide Epen. Durch die kongeniale Verbindung von formaler sthetik und narrativer Weltdeutung wurden sie schon bald nach ihrer Entstehung zu den zentralen Referenztexten fr die antike und darber hinaus fr die nachantike Literatur in Europa.

ca. 1250 v. Chr.

Trojanischer Krieg (Historizitt umstritten)

750 v. Chr.

‚Nestorbecher‘ (Zeugnis fr die Existenz der Schrift)

ca. 700 v. Chr.

Entstehung der Ilias, kurz danach der Odyssee

3.–1. Jh. v. Chr.

Alexandrinische Philologen arbeiten intensiv am homerischen Text

1795

Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum

1. berlieferung Als Dichter der beiden Epen Ilias und Odyssee wird seit ca. 600 v. Chr. Homer genannt. Historisch zuverlssige Informationen ber ihn gibt es nicht. Aufgrund des ionischen Dialekts, in dem die Epen verfasst sind, vermutet man, dass er aus dem ostionischen Kolonisationsgebiet im kleinasiatischen Raum stammte. Da dies ein Gebiet ‚multikultureller‘ Vernetzung war, ist er sicher auch von vorderorientalischen Epen wie dem Gilgamesch-Epos (Kap. 2) inspiriert worden (Rollinger 2011). Die Verbreitung der Epen erfolgte durch den Vortrag von Rhapsoden. Fr die berlieferung vom 6.–4. Jh. v. Chr. spielte Athen eine zentrale Rolle. Dort wurden die Werke seit 522 v. Chr. alle vier Jahre beim Fest der Panathenen

Homer als Person

Textberlieferung

34

3.

‚Homerische Frage‘

Analytiker und Unitarier

Schriftliche Konzeption der Epen

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee

vorgetragen. Die in der Kulturmetropole Alexandria ttigen Philologen der hellenistischen Zeit (300 v. Chr. bis zur Zeit des Augustus) beschftigten sich intensiv mit dem Text der homerischen Epen und waren v.a. fr die Beseitigung von Interpolationen verantwortlich. Im Mittelalter wurden die Epen durch zahlreiche Handschriften berliefert, unter ihnen der fr die berlieferung der Ilias wichtige, aus dem 10. Jh. stammende Codex A, der durch seine Sorgfalt in der Textgestaltung und seine sthetik hervorsticht (West 2015, 35). Die erste Druckausgabe der Ilias erschien 1488 in Florenz. Von den dann folgenden Printeditionen war die auf dem Codex A beruhende Edition des Jean Baptiste Villoison von 1788 besonders wichtig (ebd., 37). Die 1930 in Oxford publizierte Ausgabe der Ilias von Thomas William Allen wurde durch die 1998/2000 bei Teubner herausgegebene von Martin West abgelst. Von Martin West stammt auch die neueste Edition der Odyssee. Bereits die alexandrinischen Philologen zweifelten daran, ob die Ilias von einem einzigen Dichter stamme. In der Neuzeit entfachte Friedrich August Wolf, im Anschluss an ltere berlegungen, diese Diskussion neu (Wolf 1795). Berhmtheit erlangte die sog. ‚Homerische Frage‘ (Kap. 1 und 14). Dieser Begriff bezeichnet die Forschung zur Entstehung von Ilias und Odyssee, v.a. die Fragen, ob 1) die Epen jeweils das Werk eines Dichters sind oder das Ergebnis einer Redaktion nach einem lngeren Prozess mndlicher Tradierung darstellen, 2) den Epen eine schriftliche Konzeption unterliegt und 3) Ilias und Odyssee von demselben Dichter stammen. Wolf ging davon aus, dass es zu Homers Zeit noch keine Schrift gegeben habe, eine Großkomposition also nicht mglich gewesen sei; die Ilias sei vielmehr mndlich tradiert und dadurch immer wieder verndert worden, bis eine Redaktion unter dem athenischen Herrscher Peisistratos erfolgt sei. Im Anschluss an Wolf entwickelte sich die Forschungsrichtung der ‚Analyse‘ (Lachmann 1847; fr die Odyssee: Kirchhoff 1879), die in Ilias und Odyssee Schichten aus unterschiedlichen Zeiten glaubte ausmachen zu knnen. Dagegen betont die ‚unitarische‘ und v.a. von Wolfgang Schadewaldt (Schadewaldt 1966) in der Mitte des 20. Jh. vertretene Richtung, basierend auf Methoden der Erzhlforschung, die Einheit der Handlung. Ihr schließen sich die Vertreter der Neoanalyse an; sie gehen davon aus, dass der Dichter bei der Handlungskonzeption ltere, mndlich tradierte epische Motive integriert hat (Kullmann 1960). Dabei knnen auch Ergebnisse der Oral Poetry nutzbar gemacht werden; diese hat durch einen Vergleich mit rezenter mndlicher Epik im slawischen Raum herausgearbeitet, dass sich die homerischen Epen fester, mndlich tradierter Elemente wie immer wiederkehrender ‚Epitheta ornantia‘ und ‚Formelverse‘ bedienen (Parry 1928). Allerdings weisen Ilias und Odyssee, im Unterschied zu den von den Forschern der Oral Poetry untersuchten mndlichen Epen, einen einheitlichen und komplexen Handlungsverlauf und eine, etwa in einer dichten Verweis-

2. Formale Aspekte

35

struktur manifeste, kompositorisch kunstvolle Struktur auf, die die Schriftbenutzung voraussetzen (Reichel 1994). Darber hinaus ist die Annahme, die Epen seien mndliche Dichtungen gewesen, die auch Wolfs These zugrunde lag, durch archologische – nach Wolf gemachte – Funde widerlegt, die den Gebrauch der Schrift in der zweiten Hlfte des 8. Jh. v. Chr. beweisen (Patzek 2003, 82). Der berwiegende Teil der Forschung vertritt darum die Meinung, dass die Epen das Produkt eines ltere Motive und Formeln integrierenden Dichters um 700 v. Chr. seien (Kullmann 1960; West 2015). Ob Ilias und Odyssee von demselben Dichter stammen, ist umstritten; die communis opinio geht davon aus, dass verschiedene Schpfer am Werk waren (Reichel 2011, 37; Zimmermann 2020, 28), wobei die Argumente – Unterschiede im Menschen- und Gtterbild und in der Erzhlstruktur – aber nicht zwingend sind.

2. Formale Aspekte Ilias und Odyssee werden nach einer erst spter erfolgten Gliederung in jeweils 24 Bcher unterteilt. Sie sind im Versmaß des Hexameters verfasst. Der in Form von Rezitationen erfolgende Vortrag der Epen war den Usancen der altgriechischen Aussprache entsprechend eine Kombination aus quantitierendem Lesen und musikalischem Akzent. Der Hexameter blieb in der ganzen griechischen und rmischen Antike das maßgebliche Versmaß des Epos, wie z.B. der griechischen Argonautika des Apollonios von Rhodos (3. Jh. v. Chr.) und der lateinischen Epen, etwa der Aeneis Vergils (1. Jh. v. Chr.; Kap. 4) und der Argonautica des Valerius Flaccus (1. Jh. n. Chr.). Dies gilt ebenso fr Epen, die Narratio mit Parnese verbinden (Hesiod, Werke und Tage, 7. Jh. v. Chr.) oder bei denen Sachinformationen im Vordergrund stehen (sog. ‚Lehrgedicht‘). Man kann sagen, dass der Hexameter das definitorische Merkmal fr das antike – griechische wie lateinische – Epos war. Stichwort

Hexameter Von der Antike bis zur Gegenwart ist der Hexameter das bedeutendste Versmaß der epischen Dichtung. Er besteht aus einer geregelten Abfolge von sechs Daktylen, d.h. aus Metren, die aus einer Lnge und zwei Krzen zusammengesetzt sind, wobei der letzte Daktylus verkrzt ist (‚katalektischer Hexameter‘). Die ersten vier Daktylen knnen jeweils durch Spondeen ersetzt werden, der fnfte nur ausnahmsweise: — | — XX — | — XX — | — XX — | —XX | —X – — XX Die griechisch-lateinische Dichtung ist quantitierend, d.h. sie arbeitet mit langen (—) und kurzen (X) Silben. Im 18. Jh. wurde der Hexameter auch ins Deutsche bertragen, wo allerdings nicht die Lnge einer Silbe ber die Prosodie entscheidet, sondern der Akzent (betont/unbetont).

Metrum, Sprache und Stil

36

3.

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee Beispiele: 1) Homer, Ilias 1,1: Me¯nı˘n a˘- | eı¯de˘ the˘- | a¯ Pe¯- | le¯ı˘a˘- | deGo¯ A˘chı˘- | le¯o˘s (e + o¯ in Pe¯-|le¯ı˘a˘-|deo¯ werden zu einem Laut verschliffen) 2) Vergil, Aeneis 1,1: A¯rma˘ vı˘-| ru¯mque˘ ca˘- | no¯, Tro¯- | ia–– e, quı¯ | prı¯mu˘s a˘- | b o¯rı¯s 3) Johann Wolfgang Goethe, Hermann und Dorothea 1,1: Hb ich den | Mrkt und die | Str-ßen doch | ne s | in-sam ge- | s hen!

Sprache, Stil

Komplexe Erzhlstruktur

Die Epen sind im ionischen Dialekt geschrieben, der dann in der Antike der maßgebliche Dialekt fr das griechische Epos wurde. Das Vokabular ist vielfltig, die Syntax eher schlicht, die Ausdrucksweise ist unpathetisch und gerade in ihrer Schlichtheit eindrucksvoll. Ein Großteil der Epen besteht aus direkter Rede, da Dialoge und Monologe eine wichtige Rolle spielen. Zusammen mit der Erzhlerstimme ergeben sich so verschiedene Mglichkeiten der Perspektivierung. Gegenber lteren Forschungen konnten Arbeiten der letzten ca. 30 Jahre berzeugend die komplexe Erzhlstruktur der beiden Epen nachweisen (De Jong 1987, 1997, 2001; Grethlein 2017): Achill bleibt auch nach seinem im 1. Buch der Ilias geschilderten Rckzug aus dem Kampf dadurch, dass er immer wieder erwhnt wird, stets prsent (Latacz 2003, 131–166). Dies gilt ebenso fr Odysseus in den ersten vier Bchern der Odyssee, in denen nicht er, sondern sein Sohn Telemachos als Handelnder im Mittelpunkt steht. Insgesamt ist die Erzhlung von Odysseus’ Rckkehr geschickt mit der von Telemachos getragenen Handlung verwoben. Unter den zahlreichen Vor- und Rckverweisen ist die Ankndigung von Patroklos’ Schicksal durch den Erzhler in der Ilias eine besonders eindrucksvolle (interne) Prolepse: Als die Griechen durch Achills Rckzug in Bedrngnis geraten und dieser es bemerkt, ruft er Patroklos zu sich, um mehr ber die Lage zu erfahren. An dieser Stelle kommentiert der Erzhler im Blick auf Patroklos (Ilias 11,604): „Das war fr ihn des Unheils Anfang“ und erzeugt damit eine bestimmte Erwartungshaltung. Aber diese wird nicht sofort eingelst, sondern der Handlungsfaden wird im 15. Buch aufgenommen und im 16. Buch weitergefhrt. Eine externe Analepse bietet Odysseus’ Erzhlung seiner Irrfahrten (Odyssee, 9.–12. Buch). Gegenber der frheren Annahme von der ‚objektiven‘ Erzhlweise Homers konnte die narratologische Forschung der letzten Jahrzehnte zeigen (De Jong 1987, 1997, 2001), dass das homerische Epos unterschiedliche Erzhlperspektiven bietet: So kann man vom „Primrerzhler“ den textinternen „Sekundrerzhler“ unterscheiden. Den ‚Primrerzhler‘ setzt Homer gleich zu Beginn des Ilias-Promiums zur Rezipientenlenkung ein, wenn er den Zorn des Achill als ‚verderblich‘ (Ilias 1,2) bezeichnet. Als Sekundrerzhler tritt Odysseus in

2. Formale Aspekte

den Bchern 9–12 der Odyssee auf. Darber hinaus kann etwas aus der Sicht eines Charakters dargestellt werden, ohne dass dies als Rede oder Gedanke der Figur markiert wre (z.B. Ilias 19,39). Die anspruchsvolle Aufgabe, gleichzeitige Geschehnisse darzustellen, lst der Dichter der homerischen Epen u.a. durch eine ‚desultorische‘ Methode, d.h. er lsst den Erzhler zwischen verschiedenen Ereignissen hin- und herspringen und markiert die Gleichzeitigkeit der erzhlten Geschehnisse durch die der Gliederung dienenden Partikeln ‚le´m (men)…de´ (de)‘ oder durch die korrespondierenden Formulierungen ‚at’ sa´q (autr/„aber“) …e’ se´qxhem (hetro¯then/„auf der anderen Seite“), ‚o’´uqa (phra/„whrend“) …s uqa (tphra/„inzwischen“)‘ (Rengakos 1995). Ein Spezifikum homerischen Erzhlens ist eine Art rumlicher Fokussierung, die eine Szene gewissermaßen heranrckt, sodass sie mit ihren konkreten Einzelheiten ein mentales Bild in den Hrer_innen und Leser_innen bewirkt, wie dies bei der ‚Mauerschau‘ der Fall ist. Ein vergleichbares Vorgehen findet sich z.B. auch bei der Schilderung von Aristien in der Ilias, also Beschreibungen von Kmpfen zweier herausragender Kmpfer, die dabei ihre Qualitten zeigen knnen, oder der Beschreibung von Alkinoos’ Palast in der Odyssee (8,81–133). Die homerischen Epen begrndeten mit der Verwendung bestimmter Elemente eine Gattungstradition. So wurden auch Promium und Musenanruf konstituierende Bestandteile. Das Promium der Ilias nennt den Zorn Achills, der das verbindende Motiv des ganzen Epos ist, gleich als erstes Wort (V. 1: me¯nin). Der Anruf der Muse soll narrative Autoritt fr die Erzhlung verbrgen. Dies wird ganz deutlich in dem zweiten Appell des Erzhlers an die Muse (Ilias 2,484–493), ihm bei der Aufzhlung der griechischen Heereskontingente (‚Schiffskatalog‘) zu helfen, da er selbst nur durch Hren davon wisse und nicht in der Lage sei, die Einzelheiten zu kennen: Das Wissen der Muse ersetzt die fehlende Autopsie. Auch im Promium der Odyssee tritt der Erzhler mit der Bitte an die Muse, von Odysseus und dessen Leiden zu singen, als Figur zurck. Quelle

Promium der Odyssee (Odyssee 1,1–10, bersetzung Schadewaldt 1958)

Der Erzhler ruft die Muse an: Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der gar viel umgetrieben wurde, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstrte. Von vielen Menschen sah er die Stdte und lernte kennen ihre Sinnesart; viel auch erlitt er Schmerzen auf dem Meer in seinem Gemte, whrend er sein Leben zu gewinnen suchte wie auch die Heimkehr der Gefhrten. Jedoch er rettete auch so nicht die Gefhrten, so sehr er es begehrte. Selber nmlich durch ihre eignen Freveltaten verdarben sie, die Toren, die die Rinder des Sohns der Hhe, Helios, verzehrten. Der aber nahm ihnen den Tag der Heimkehr. Davon – du magst beginnen, wo es sein mag – Gttin, Tochter des Zeus! Sage auch uns!

37

Promium und Musenanruf

38

3.

Homerische Gleichnisse

Psychologisierung

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee

In der spteren Epik wird gerade die Gestaltung des Promiums ein Ausweis fr den Umgang des Dichters mit der homerischen Tradition: So verkndet der Erzhler in Hesiods wohl etwas nach der Ilias entstandenem Epos Werke und Tage in der 1. Person Plural, seinen Gesang mit den Musen beginnen zu wollen (1,1). Davon abweichend, bringt der hellenistische Dichter Apollonios von Rhodos (3. Jh. v. Chr.) seinen Erzhler schon am Beginn in der 1. Person Singular ins Spiel und lsst ihn mit Apollon beginnen (Argonautika 1,1). Auch in Vergils Aeneis steht die selbstbewusste 1. Person Singular (1,1: cano) am Beginn, der Musenanruf folgt erst spter (1,8). Vorbildhaft fr die spteren Epen wurden auch die homerischen Gleichnisse. Sie sind ausgefhrte Vergleiche, die mitunter sehr lang sind, sodass sich die Syntax der Bildebene verselbstndigen kann (Rieks 1981, 1012). Dabei ist das tertium comparationis nicht nur ein Punkt, sondern ein „weitverzweigtes, feinversteltes Gebilde […], das den ganzen Gleichniskrper durchzieht und sich nur schwer herausprparieren ließe“ (Frnkel 1977, 2). Ein eindringliches Beispiel bietet das 22. Buch der Ilias, wo zahlreiche Gleichnisse den Charakter und das Kampfverhalten der Gegner Achill (der mit dem Sirius, mit einem Rennpferd und mit einem Lwen verglichen wird) und Hektor (den der Erzhler mit einer Schlange vor ihrer Hhle vergleicht) illustrieren. Homerische Gleichnisse geben der Sicht auf Gegenstnde, Personen und Handlungen eine Tiefendimension, indem sie die Imaginationskraft der Rezipient_innen ansprechen. Sie drcken Stimmungen und Gesinnungen aus, beleuchten Handlungen und charakterisieren Personen. Sie intensivieren, stimulieren, rtteln auf, erregen Emotionen und regen zum Nachdenken an. Dies gilt auch dann, wenn die Bildebene einen berraschenden Vergleich bietet (z.B. Odyssee 8,521–531: Vergleich von Odysseus’ Weinen mit der Klage einer Frau um ihren erschlagenen Mann). Die Resultate der narratologischen Forschung ergnzen und erweitern unter einem formalen Blickwinkel die Erkenntnisse der Homerforschung, die die psychologische Gestaltung der homerischen Epen als das Besondere dieser Gedichte ansieht. Denn „die differenzierende Charakterisierung der Personen, die nahezu alle Fa etten des Menschlichen umfaßt“ (im Blick auf die Ilias: Kullmann 2011, 112), drfte ein Grund fr den durchschlagenden Erfolg der Epen gewesen sein. Dieser beruhte wohl auf ihrer emotionalen (und im 4. Jh. v. Chr. von Platon [Der Staat III 387E–388C] als ‚unmnnlich‘ kritisierten) Wirkung. Sie ist nicht das Resultat einer oberflchlichen Affekterregung, sondern beruht auf der engen Verzahnung formaler sthetik mit der aus der Perspektive von Krieg und Leid erfolgenden Weltdeutung. Der Psychologisierung und Charakterzeichnung dient auch der große Anteil an direkter Rede in beiden Epen, der einen Aufschluss auf die Sprechenden zulsst. Geschickt fhrt Homer Motivationen vor und schafft Charaktere, die sich im Verlauf der Ilias immer weiter ausdifferenzieren, etwa wenn Achill im Schmerz ber Patroklos’

3. Inhalt

Tod Reue und Wut ber sein eigenes Verhalten empfindet (Ilias 18,79–106) und darum mit grßter Brutalitt wieder in den Kampf eingreift. Die Interaktion der Gtter mit den Menschen ist vielfltig. Immer wieder wird gezeigt, wie durch gttliches Handeln bestimmte ußere Umstnde bzw. Parameter geschaffen werden, innerhalb derer sich der Mensch bewegt. Aber es wird auch deutlich, dass und wie die Menschen gerade durch bestimmte Entscheidungen im Rahmen dieser Umstnde handeln und Verantwortung tragen (Kullmann 1992a, 1993; Schmitt 1990).

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Interaktion von Gttern und Menschen

Stichwort

Gattungskonstituierende Elemente der homerischen Epen – – – – – – – –



umfangreiche direkte Rede (Monologe, Dialoge) Interaktion von Gttern und Menschen Musenanrufe Kampfszenen und Aristien (Einzelkmpfe, bei denen sich die individuellen Kmpfer auszeichnen) Vergleiche/Gleichnisse Bildbeschreibungen (Ekphraseis, Singular: Ekphrasis): Beschreibung von Achills Schild in Ilias 18,478–617 Analepsen: externe (Odysseus’ Erzhlung von seinen Abenteuern in Odyssee 9–12) und interne Mauerschau: Nach einer Szene der Ilias benannt (3,161–244): Von der Mauer Trojas aus erklrt Helena dem trojanischen Knig Priamos, welche griechischen Kmpfer sie auf dem Schlachtfeld sehen Kataloge, z.B. der ‚Schiffskatalog‘, d.h. die Aufzhlung aller Heereskontingente der Griechen mit ihren Anfhrern und der jeweiligen Anzahl der Schiffe (Ilias 2,494–760)

3. Inhalt Ob der Trojanische Krieg, der sowohl der Erzhlung der Ilias als auch der Odyssee zugrunde liegt, historisch war, ist umstritten. Dass man die Epen als Beleg fr seine Existenz und als Quelle fr seinen Verlauf benutzen kann, ist unwahrscheinlich; die in den Epen geschilderte Gesellschaft entspricht eher der eigenen Zeit des Dichters, die er mit archaisierenden Zgen vermischt (Patzek 2003). Die Ilias erzhlt aus dem Trojanischen Krieg einen Ausschnitt, der 51 Tage umfasst. Das Thema ist der Zorn des Achill. Die Entstehung dieses Zorns und seiner Folgen ist das Leitmotiv der Handlung. Dass Homer eine durchgehende Handlung konzipiert und nicht einfach Episoden aneinandergereiht habe, rhmte Aristoteles in seiner literaturtheoretischen Abhandlung Poetik (23.1459a30–36) im 4. Jh. v. Chr.

Einheit der Ilias-Handlung

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3. Vorgeschichte: Parisurteil

Zorn des Achill

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee

Der Handlung geht eine Geschichte voraus, die das Epos selbst nicht erzhlt: Bei einem Wettstreit der Gttinnen Hera, Athena und Aphrodite entscheidet der trojanische Knigssohn Paris (der in der Ilias auch Alexandros genannt wird) fr Aphrodite, weil sie ihm die schnste Frau als Belohnung verspricht (‚Parisurteil‘). Dies ist der Grund dafr, dass Paris seinen Besuch bei dem griechischen Knig Menelaos in Sparta dafr nutzt, dessen Ehefrau Helena – die schnste Frau – mit sich nach Troja zu nehmen. Um diese Tat zu rchen und Helena wieder zurckzuholen, zieht ein großes Kontingent von Heeresverbnden aus verschiedenen griechischen Staaten unter der Anfhrung von Menelaos’ Bruder Agamemnon gegen Troja. Die Griechen belagern die Stadt, die als uneinnehmbar gilt, zehn Jahre. Diese Vorgeschichte wird bei den Rezipienten des Epos als bekannt vorausgesetzt. Das machen verschiedene Verweise in der Ilias (externe Analepsen) deutlich, wie z.B. die Anspielung auf das ‚Parisurteil‘ (Ilias 24,23–30). Auch das Ende des Trojanischen Krieges – die Einnahme Trojas mithilfe des ‚Hlzernen Pferdes‘ – ist nicht Teil der IliasHandlung. Die Ilias-Handlung setzt im zehnten Jahr der Eroberung ein. Im 1. Buch wird die Eskalation eines Streites zwischen Agamemnon, dem Anfhrer der griechischen Heereskontingente, und Achill, dem besten Kmpfer der Griechen, geschildert. Der Anlass ist Agamemnons arrogantes Verhalten: Er weist den Vater seiner Kriegsgefangenen Chryseis, den Priester Chryses, grob und herablassend zurck, als dieser ihn bittet, seine Tochter freikaufen zu knnen. Darber gert der Gott Apollon in Zorn und schickt eine Seuche in das griechische Heer. Als Agamemnon den Seher Kalchas nach der Ursache der Krankheit befragt, offenbart ihm dieser den wahren Grund. Agamemnon erklrt sich bereit, Chryseis zurckzugeben, fordert aber als Ausgleich eine andere Sklavin aus der bereits verteilten Kriegsbeute. Dieses anmaßende Verhalten erzrnt Achill, der sich auch als Sprecher des Heeres versteht, und er weist es zurck. Daraufhin fordert Agamemnon Achills Sklavin Briseis fr sich. Die in Form direkter Rede prsentierte und psychologisch berzeugend dargestellte Eskalation des Konflikts, die um die Frage von Macht, Standing und Gerechtigkeit geht, fhrt schließlich so weit, dass Achill in seinem Zorn Agamemnon erstechen will. Davon kann ihn die Gttin Athene abhalten, indem sie geschickt an seinen Drang nach Wiedergutmachung appelliert und ihm die Genugtuung vor Augen fhrt, falls er sich vom Kampf zurckzieht und die Griechen so in Bedrngnis geraten. Die Handlung ist also auf Achill fokussiert und bleibt es ber die ganze Ilias hinweg. Dies gilt selbst fr die folgenden Bcher 2–8. Denn hier findet zwar das Kampfgeschehen ohne Achill statt, aber gerade in seiner schmerzlichen Abwesenheit bleibt er im Hintergrund prsent – ein Eindruck, der durch gelegentliche Verweise auf ihn bzw. seine Absenz verstrkt wird (Ilias 2,39; 6,99; Latacz 2003, 154f.). Hektor, Sohn des trojanischen Knigs Priamos und der

3. Inhalt

beste Kmpfer der Trojaner, treibt die Griechen von den Mauern Trojas zurck zu den Schiffen. Als Agamemnon sieht, dass die Griechen in der Defensive sind, lsst er Achill durch eine Gesandtschaft bitten, sich wieder am Kampf zu beteiligen. Doch dieser lehnt ab (9. Buch). Schließlich erlaubt Achill seinem besonders geliebten Gefhrten Patroklos, in seiner – Achills – Rstung gegen die Trojaner loszugehen. Als Hektor, im Glauben, er habe Achill vor sich, Patroklos ttet, ist Achills Schmerz so bermßig, dass er den Streit mit Agamemnon beiseitelegt (19,270ff.) und in den Kampf zurckkehrt (Ende des 19. Buches). Er treibt die Troer bis zur Stadtmauer zurck, ttet Hektor im Zweikampf und schndet dessen Leiche auf grausame Weise, indem er sie um die Mauern Trojas schleift. Seinem brutalen Wten gegen die Feinde setzen die Gtter schließlich ein Ende. Zeus veranlasst Priamos, in das Lager der Griechen zu gehen und Achill um die Herausgabe der Leiche seines Sohnes zu bitten. Achill gewhrt ihm dies, und die Ilias endet mit den Leichenspielen fr Patroklos. Wie in der Ilias betrgt auch die in der Odyssee erzhlte Handlung mit 40 Tagen nur einen kleinen Ausschnitt aus der zehn Jahre whrenden Rckkehr des Protagonisten. Die Vorgeschichte wird, vergleichbar mit der Ilias, in Rckblenden integriert. Das Thema der Odyssee ist die Rckkehr des Odysseus nach Ithaka. Dieses wird, wie in der Ilias, gleich im Promium genannt und bildet das verbindende Motiv der Handlungen. Den Titelhelden treibt stets die Sehnsucht nach seiner Heimat Ithaka und seiner Frau Penelope an (1,13). Das Promium fhrt auch in die Handlung ein – die Nymphe Kalypso hlt Odysseus gegen seinen Willen bei sich fest – und gibt einen Ausblick. Zuhause warten Kmpfe auf Odysseus. Ebenso nennt es den Zorn des Meeresgottes Poseidon als Grund fr Odysseus’ Leiden. Daran knpft die Handlung an: In einem Gtterrat beschließt Zeus auf Bitten der Athene, den Gtterboten Hermes zu Kalypso zu schicken, um sie zur Freigabe des Odysseus aufzufordern. Athene selbst beschließt, nach Ithaka zu gehen und Odysseus’ Sohn Telemachos zur Auseinandersetzung mit den Freiern seiner Mutter Penelope und zur Suche nach dem Vater zu bewegen. Man kann zwei Hlften des Epos unterscheiden: die Bcher 1–12, die von den Fahrten des Odysseus handeln, und die Bcher 13–24, die Odysseus’ Kmpfe auf Ithaka und die Wiedergewinnung seines Hauses und seiner Familie zeigen. Doch die Erzhlstruktur ist raffinierter, denn mit der OdysseusHandlung verwoben ist der Handlungsstrang der um den Sohn Telemachos kreisenden Telemachie, die vom 1.–4. Buch reicht und dann im 15.–16. Buch fortgefhrt wird. Im 1. Buch lenkt der Erzhler den Blick auf Ithaka. Dort wartet Penelope seit 20 Jahren auf die Rckkehr ihres Mannes, whrend Mnner aus den besten Familien Ithakas um sie freien und sie dazu drngen, einem von ihnen das Jawort zu geben. Penelope hlt sie hin unter dem Vorwand, erst ein Leichentuch fr Odysseus’ Vater Laertes vollenden zu wollen (Odyssee

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Patroklos‘ und Hektors Tod

Odysseus‘ Rckkehr, Poseidons Zorn

Telemachie

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3. Abenteuer des Odysseus

Rckkehr nach Ithaka

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee

2,85–112), das sie aber nachts stets wieder heimlich auftrennt (‚Weblist‘). Durch Athene in der Gestalt des Mentes motiviert, begehrt Telemachos gegen die Freier seiner Mutter auf und begibt sich auf eine Reise, um Erkundigungen ber den Verbleib seines Vaters einzuholen (3. und 4. Buch). Im 5. Buch setzt die Odysseus-Handlung ein. Durch den Einsatz der Gtter gelingt es Odysseus, die Insel der Kalypso zu verlassen. Er erleidet Schiffbruch und kann sich an die Kste der Phaiaken retten, wo ihn Knig Alkinoos auf Bitten seiner Tochter Nausikaa gastfreundlich aufnimmt, ohne seine wahre Identitt zu kennen. Als der Snger Demodokos vom Fall Trojas singt, bricht Odysseus in Trnen aus und offenbart Alkinoos, wer er ist. Er erzhlt von seinen vielen Gefhrdungen und Abenteuern, die er bisher erleiden musste (9.–12. Buch), darunter auch der Begegnung mit dem Kyklopen Polyphem. Dieser schloss Odysseus mit seinen Gefhrten in seiner Hhle ein und verschlang einige von ihnen. Um sich und die anderen zu retten, machte Odysseus Polyphem betrunken und blendete ihn, indem er ihm mit einem angespitzten, glhenden lbaumpfahl das Auge ausstach. Unter die Buche von Schafen gebunden, sodass der Kyklop sie auch nicht durch Betasten erkenne konnte, gelang es ihnen, zu entkommen. Durch diese Rckblende ist auch der bereits am Beginn der Odyssee genannte Grund fr Odysseus’ Irrfahrten ausfhrlich dargestellt: Poseidons Rache fr seinen Sohn Polyphem. Weitere Abenteuer sind unter anderem der Aufenthalt bei der Zauberin Kirke, die Odysseus’ Gefhrten in Schweine verwandelte, und der Gang in die Unterwelt (Nekyia), in der Odysseus auch den Schatten des Achill trifft. Durch die Phaiaken mit allem Ntigen ausgestattet, kann Odysseus nach Ithaka reisen. Dort verwandelt ihn Athena in einen Bettler (13. Buch). Er gibt seine Identitt nur seinem treuen Schweinehirt Eumaios und dem nach Ithaka zurckgekehrten Telemachos (15. Buch; Zusammenfhrung der OdysseusHandlung und der Telemachie) zu erkennen und gelangt unerkannt in sein Haus. Dort erkennt ihn seine alte Amme Eurykleia (19. Buch) anhand einer Narbe wieder (‚Anagnorisis‘), seiner Frau Penelope gegenber aber gibt er sich als Fremder aus. Diese lsst die Freier eine Schießprobe mit Odysseus’ altem Bogen durchfhren und verspricht, den Sieger zu heiraten. Odysseus nimmt daran teil und siegt. In einem brutalen Kampf gegen die Freier gewinnt er, untersttzt nur durch Eumaios und Telemachos (22. Buch). Doch ihn, der alle berlisten kann, berlistet die eigene Frau (23. Buch). Denn Penelope befiehlt Eurykleia, das Bett des Odysseus zu verschieben, und erkennt an seiner entsetzten Reaktion – Odysseus hatte sein Bett um einen Baum gebaut, sodass es nicht verschoben werden kann –, dass vor ihr der Mann steht, auf den sie seit 20 Jahren gewartet hat. Den Schluss der Odyssee bildet die ‚Wiederkennung‘ mit seinem Vater Laertes und die Vershnung der Verwandten der getteten Freier mit Odysseus durch Athene.

3. Inhalt Hauptfiguren Achill(eus): Hauptheld der Ilias. Anfhrer des griechischen Heereskontingents der Myrmidonen. Bester Kmpfer der Griechen, versteht sich als ‚Anwalt‘ der Interessen des gesamten Heers. Hat bei all seiner physischen Strke ein verletzliches Ego. Sein Zorn ber seine Herabsetzung durch Agamemnons Verhalten und sein daraus resultierender Rckzug vom Kampf steuern die Handlung der Ilias. Agamemnon: Bruder des Menelaos und Schwager Helenas. Anfhrer der griechischen Heereskontingente. Verlangt Achills Kriegssklavin Briseis als Kompensation fr seine Kriegssklavin Chryseis, die er auf den Rat des Sehers Kalchas hin zurckgeben muss. Ist machtbewusst, arrogant und durchsetzungsfhig. Apollon: Schickt als Vergeltung fr die Beleidigung seines Priesters Chryses durch Agamemnon eine Seuche ins griechische Heer. Kmpft auf der Seite der Trojaner. Athene: Kmpft in der Ilias auf Seiten der Griechen, ist in der Odyssee Odysseus’ Schutzgttin und Frderin. Helena: Ehemalige Frau des griechischen Knigs Menelaos (aus Sparta), den sie fr Paris/Alexandros, den Sohn des trojanischen Knigs Priamos, verlassen hat. Ihr Weggang ist der Grund fr den Trojanischen Krieg. Differenzierte Figur, die es tief bereut, durch ihre Tat so ein großes Leid verursacht zu haben. Hektor: Sohn des trojanischen Knigs Priamos und Bruder des Paris/Alexandros. Bester Kmpfer der Trojaner. Ist sich seiner Verantwortung bewusst, wagt aber aus Ehrgeiz zu viel. Hera: Frau des Gttervaters Zeus; kmpft auf der Seite der Griechen; verfhrt mithilfe von Aphrodites Liebesgrtel Zeus und lenkt ihn so vom Schlachtengeschehen ab. Nausikaa: Tochter des Phaiakenknigs Alkinoos; setzt sich fr den schiffbrchigen Odysseus bei ihrem Vater ein und trgt zum Gelingen seiner Rckfahrt bei. Odysseus: Grieche aus Ithaka. Irrt nach dem zehnjhrigen Trojanischen Krieg auf der Heimfahrt zehn Jahre lang auf dem Meer als Strafe fr die Blendung des Kyklopen Polyphem umher. Kann mittels Klugheit, Einfhlungsvermgen, Argumentationskraft und rhetorischer Begabung Menschen und Gtter und Gttinnen fr sich gewinnen. Scheut aber, wenn ntig, keine Brutalitt. Patroklos: Achills liebster Gefhrte. Geht in Achills Rstung in den Kampf und wird von Hektor gettet. SeinTod motiviert Achill, wieder in den Kampf einzugreifen. Penelope: Odysseus’ Frau. Ausdauernd, verantwortungsbewusst und klug. Wartet in Ithaka auf die Rckkehr ihres Mannes und hlt in dieser Zeit die um sie freienden Mnner hin. berlistet am Schluss ihren Mann. Polyphem: Kyklop und Poseidons Sohn. Hlt Odysseus und dessen Gefhrten gefangen und frisst einenTeil von ihnen. Wird von Odysseus geblendet und berlistet. Telemachos: Odysseus’ Sohn. Lehnt sich gegen die Dominanz der Freier seiner Mutter auf, macht sich auf die Suche nach seinem Vater und kmpft mit diesem gegen die Freier. Zeus: Hchster Gott, dem sich alle Gtter und Gttinnen unterordnen mssen und der eine Art ‚neutraler Position‘ innehat.

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3.

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee

4. Heldenbild Motivation der Helden

Im antiken Epos sind die Akteure Gtter und Menschen, aber auch Heroen, d.h. Halbgtter. So ist etwa Achilleus, der Hauptheld der Ilias, der Sohn eines menschlichen Vaters, Peleus, und einer gttlichen Mutter, der Meeresgttin Thetis. Auch die Heroen agieren und fhlen wie Menschen. Im Unterschied zu manchen spteren Adaptationen und zu dem durch Hollywood-Filme vermittelten Heldenbild zeichnen die homerischen Epen Helden mit komplexen Charakteren, die auch hilflos sein knnen und weinen. Der Ruhm (klos) ist ein wichtiges Motiv fr den Einsatz im Kampf. Aber er ist kein Selbstzweck. Denn Krieg und Tod werden in den Epen nicht als etwas Positives dargestellt. Vielmehr besteht die Motivation der Helden darin, die Unvermeidlichkeit des Todes durch den Ruhm, der ihnen ein Nachleben sichert, zu kompensieren (Ilias 12,322–328). So wird „niemals […] in der Ilias der um der Gemeinschaft oder eines abstrakten Zieles willen erlittene Tod eines Helden verherrlicht, auch wenn der konkrete Einsatz fr den Vater, den Freund, den Kameraden positiv hervorgehoben wird. Der Tod selbst ist berhaupt immer furchtbar. Es gibt keinen Stolz auf einen Toten. Niemand, der in der Schlacht den Tod gefunden hat, wird nachtrglich wegen des heldischen Einsatzes seines Lebens fr die Gemeinschaft verherrlicht, so sehr ihm das Mitleid entgegenschlgt. Der Tod wird als tragisches Ereignis angesehen“ (Kullmann 1992b, 268). In den Motivationen der Helden verbinden sich Außenerwartung und eigener Anspruch. Achill folgt der ihm von seinem Vater Peleus mitgegebenen Maxime der Kompetitivitt (Ilias 11,784): „Immer der Beste sein und sich vor ˇ kkxm). anderen auszeichnen“ (aı’e`m a’ qırset´eım ja t’ peqovom eˇ llemaı a Gleichzeitig ist sein Selbstanspruch, gut fr die Gefhrten zu sorgen. Seine Frsorge vergleicht er mit der einer Vogelmutter (Ilias 9,314–327). Diesem eigenen Anspruch bei Patroklos nicht gerecht geworden zu sein und Schuld an seinem Tod zu tragen, ist der Grund fr Achills unbndige Trauer und Wut, die ihn dazu veranlassen, mit einer vorher nicht dagewesenen Brutalitt und Unerbittlichkeit wieder in das Kampfgeschehen einzugreifen. Dabei nimmt er den Kampf auf in dem Wissen, dass er dann sterben wird (Ilias 18,97–126). Aber er whlt nicht, wie es in der bereits in der Antike nach der Ilias einsetzenden und einflussreichen Traditionsbildung hieß, das Leben statt dem Tod. Vielmehr wird immer wieder deutlich, dass er das Leben liebt und gerne nach Hause zurckkehren wrde (z.B. Ilias 9,393–420). Die negative Sicht des Todes, auch des Todes auf dem Schlachtfeld, die in der Ilias deutlich wird, kommt in der Odyssee explizit zum Ausdruck. Hier begegnet Odysseus bei seinem Gang in die Unterwelt unter anderen dem Schatten des toten Achill und preist ihn wegen seines Ansehens zu Lebzeiten und wegen seiner hervorgehobenen Position unter den Toten glcklich. Aber Achill wehrt dies vehement ab und wnscht sich, lieber unter den schlechtesten Be-

5. Rezeption

dingungen leben zu knnen als – selbst in einer Vorrangstellung – tot zu sein (Odyssee 11,477–492). Der trojanische Anfhrer Hektor ist ebenfalls durch das Streben nach herausragender Leistung und durch den Wunsch, den Erwartungen anderer, der Bevlkerung Trojas, gerecht zu werden, motiviert. Aber es ist auch sein eigener Ehrgeiz, der ihn veranlasst, gegen die Bitten seiner Frau Andromache auf das Schlachtfeld zurckzukehren (Ilias 6,440–465). Auch bei ihm greifen also die Außenerwartung und das eigene Selbstbild ineinander und treiben ihn an. Anders als moderne Filmhelden weinen die homerischen Helden hufig und intensiv. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen dem Weinen von Mnnern und dem von Frauen. Motive fr diese emotionale Reaktion knnen Zorn, Angst, Verzweiflung und Trauer sein. Eindrucksvoll ist die in Form einer groß angelegten Klimax geschilderte Trauer um Patroklos’ Tod (Ilias 16–19). Sie hat ihren Hhepunkt in Achills Klage und der Angst seines Gefhrten vor einem mglichen Suizid (Ilias 18,1–35; Fllinger 2003, 2005, 2009).

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Weinen

Quelle

Achills Trauer ber Patroklos’ Tod (Ilias 18,15–25, bersetzung Schadewaldt 1975)

Antilochos (Nestors Sohn) berbringt Achill (Peleus’ Sohn), der bereits bse Vorahnungen hat, die Nachricht, dass Patroklos von Hektor gettet wurde: Whrend er dies erwog im Sinn und in dem Mute, Indessen kam zu ihm heran der Sohn des erlauchten Nestor. Heiße Trnen vergießend, und sagte die schmerzliche Botschaft: „O mir, Sohn des Peleus, des kampfgesinnten! Ja, eine sehr traurige Botschaft mußt du vernehmen – wre es doch nicht geschehen! Tot liegt Patroklos, und nun kmpfen sie um den Leichnam, Den nackten, aber die Waffen hat der helmfunkelnde Hektor!“ So sprach er, und den umhllte des Schmerzes schwarze Wolke. Und er griff mit beiden Hnden in den rußigen Staub Und schttete ihn ber das Haupt und entstellte sein liebliches Antlitz, Und auf dem nektarischen Kleid saß rings die schwarze Asche. Doch er selbst lag im Staub, der Große, groß hingestreckt, Und raufte sein Haar und entstellte es mit seinen Hnden.“

5. Rezeption Die homerischen Epen waren der Ausgangspunkt der Entstehung der antiken Literatur und damit der Literaturen des lateinischen und byzantinischen Mittelalters. Sie hatten auch entscheidenden Einfluss auf die Literatur der Neuzeit. Die Gattung des Epos entwickelte sich in steter Auseinandersetzung mit den homerischen Vorbildern. Die nachfolgenden Ependichter bernah-

Gattung Epos

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3.

Ilias Latina

Neuzeitliche Rezeption

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee

men nicht nur formale Elemente wie Promium, Kataloge, Kampf- und Gtterszenen, sondern setzten sich auch mit den homerischen Konzeptionen von Mensch, Gott und Welt auseinander. So weist der Held von Apollonios’ Argonautika zwar einige Zge homerischer Helden auf, ist aber in vielen Situationen, anders als der homerische Odysseus, berfordert und weiß sich, ohne die Untersttzung anderer, nicht zu helfen. Vergils Aeneis operiert im Rahmen einer von dem hchsten Gott Zeus gewollten Ordnung, der zufolge Aeneas’ Bestimmung die Grndung Roms ist. Im lateinischen Mittelalter Westeuropas waren Griechischkenntnisse selten, die homerischen Epen konnten nicht mehr gelesen werden. Der TrojaStoff wurde ber die Ilias Latina, die im 1. Jh. n. Chr. entstand, tradiert, einer lateinischen Kurzfassung bzw. Nacherzhlung der homerischen Ilias. Auch die romanhaft ausgeschmckten Troja-Erzhlungen des Dictys (4. Jh. n. Chr.) und des Dares (5. Jh. n. Chr.), die beide das Motiv einer Liebesverbindung Achills stark machten, vermittelten die Erzhlung von Troja und inspirierten die Entstehung hfischer Troja-Romane. Viele Vlker betrachteten sich, wie die antiken Rmer, als Nachfahren der Trojaner, u.a. die Franken, Briten und Normannen. Nachdem der griechische Originaltext dem Westen zugnglich geworden war und im Zuge der humanistischen Bestrebungen die Grundlage fr die Lektre bildete, entspann sich eine, v.a. vom 16. bis ins 18. Jh. gefhrte, Debatte ber die Frage, ob Homer oder Vergil hher zu bewerten sei (‚Homer-VergilVergleich‘). Neuzeitliche Epen, etwa La Gerusalemme liberata (1575) von Torquato Tasso, bedienten sich homerischer Elemente wie der Mauerschau. In Deutschland fhrte die Begeisterung fr das griechische Original und der Wunsch nach einer bersetzung zu den von Johann Heinrich Voß angefertigten deutschen bersetzungen (Odyssee 1781; Ilias 1793), die ihrerseits Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Literatursprache hatten. Die Odyssee wurde ab dem 17. Jh. intensiv rezipiert und regte die moderne Romanliteratur an. Einen Hhepunkt stellt der Roman Ulysses (1922) von James Joyce dar. Dass die homerischen Epen die Literatur bis in die Gegenwart faszinieren und dabei alle Genres und Medien beeinflussen, zeigen rezente Adaptationen wie Wolfgang Petersens Kinoverfilmung Troy (2004), die Romane The Song of Achilles (2011) und Circe (2018) von Madeline Miller sowie die Netflix-Serie Troy: Fall of a City (2018). Es war auch die Lektre der Ilias, die Heinrich Schliemann (1822–1890) dazu motivierte, nach den berresten der historischen Stadt zu suchen. 1870 unternahm er in der Trkei an dem Hgel Hisarlık erste Probegrabungen, ein Jahr spter erfolgte die erste offizielle Grabungskampagne. Seit Schliemanns Unternehmungen und den darauf folgenden Grabungen wird die Frage diskutiert, ob der als Troja identifizierte Ort (das trkische Hisarlık) tatschlich das n homerische Troja ist.

Literaturempfehlungen Auf einen Blick

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee entstanden um 700 v. Chr. Beide sind wohl nicht das Ergebnis einer Redaktion mndlicher Tradition, sondern schriftlich konzipierte Werke aus der Hand eines Dichters. Darauf weist die bereits von Aristoteles hervorgehobene Einheit der jeweiligen Handlung hin, die in der Ilias durch den Zorn des Achill und in der Odyssee durch das Leitmotiv der von Odysseus’ Sehnsucht nach seiner Frau und seiner Heimatinsel Ithaka getriebenen Heimkehr bewirkt werden. Hinzu kommen der – insbesondere in der Odyssee zu beobachtende – raffinierte Aufbau und die mit vielen Verweisen arbeitende komplexe Erzhlstruktur. Mit dem Versmaß des Hexameters, bestimmten Elementen wie Promium, Musenanruf, Gleichnissen und typischen Szenen wie Mauerschau, Katalog und Aristien trugen die homerischen Epen entscheidend zur Entwicklung der Gattung Epos bei. Sie wurden zu den wichtigsten Referenztexten fr diese Gattung ber die Antike hinaus und regten die Entstehung anderer antiker Gattungen wie der Tragdie und der Geschichtsschreibung an. Ihr besonderes Kennzeichen ist die Psychologisierung, die die Helden und Heldinnen – auch in ihrer Interaktion mit den Gttern und Gttinnen – als ausgeprgte Charaktere vor Augen stellt. So knnen die Epen nicht nur unter einem historischen Blickwinkel als Reflexe der in der Antike allgegenwrtigen Erfahrung von Krieg und Gefhrdung gelesen werden. Vielmehr stellen sie autonome literarische Kunstwerke dar, die auch heute noch eine existentielle Lektre ermglichen.

Literaturempfehlungen Homer (1998 bzw. 2000): Ilias, hg. v. Martin West, 2 Bde. Stuttgart/Leipzig bzw. Mnchen/Leipzig. Aktuelle Textausgabe; in diesem Beitrag zitierte Ausgabe, Einzelwrter wurden bersetzt von der Verfasserin. Homer (2017): Odyssea, hg. v. Martin L. West. Berlin/Boston. Aktuelle Textausgabe des griechischen Textes. Homer (1975): Ilias, bers. v. Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt a.M. bersetzung in freien Rhythmen; trotz mancher Altertmlichkeiten im Ausdruck eine immer noch klassische und empfehlenswerte bersetzung. Homer (1958): Odyssee, bers. v. Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt a.M. Gleichermaßen empfehlenswert wie die bersetzung der Ilias, in diesem Fall aber in Prosa. Latacz, Joachim/Bierl, Anton (Hg; 2000ff.): Homers Ilias. Gesamtkommentar (Basler Kommentar / BK). Berlin/ New York bzw. Berlin/Boston. Hervorragender, in einzelnen Bnden sukzessive erscheinender Kommentar zur Ilias, der auch den griechischen Text und eine moderne bersetzung bietet. Homer’s Iliad. The Basel Commentary. Prolegomena (2015), hg. v. S. Douglas Olson (Homer’s Iliad. The Basel Commentary, hg. v. Anton Bierl/Joachim Latacz). Berlin/Boston 2015. Die Prolegomena zum ‚Basler Kommentar‘ geben eine Einfhrung in zentrale Aspekte der homerischen Dichtung und speziell der Ilias und informieren ber aktuelle Forschungstrends. Heubeck, Albert u.a. (Hg., 1990–1992): A Commentary on Homer’s Odyssey. 3 Bde. Oxford. Weiterfhrender Kommentar zur Odyssee. Latacz, Joachim (2003): Homer. Der erste Dichter des Abendlands. 4., berarb. u. durchgehend aktualisierte Aufl. Dsseldorf/Zrich. Solide Einleitung; interpretiert die homerischen Epen im Kontext ihrer Zeit. Zimmermann, Bernhard (2020): Homers Odyssee. Dichter, Helden und Geschichte. Mnchen. Empfehlenswerte, die wesentlichen Aspekte behandelnde Einfhrung. Rengakos, Antonios/Zimmermann, Bernhard (Hg., 2011): Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar. Der Band versammelt von Spezialist_innen verfasste Beitrge, darunter auch zahlreiche zur Rezeption.

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3.

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee Reichel, Michael (2011): Epische Dichtung, 2. Homer. In: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, hg. v. Bernhard Zimmermann. Mnchen. S. 12–61. Ausfhrliche Einfhrung mit vielen Hinweisen auf die Forschungsliteratur. Fllinger, Sabine (2003): Mnnerbilder in der frhgriechischen Dichtung. In: Rollenkonstrukte in antiken Texten, hg. v. Therese Fuhrer/Samuel Zinsli. Trier. S. 24–42. Vergleich von modernem und homerischem Mnnerbild. Fllinger, Sabine (2006): Trnen und Weinen in der Dichtung des archaischen Griechenlands. In: Zeitschrift fr Semiotik 28/2–4. S. 179–195. Systematische Darstellung zum Trauerverhalten in den homerischen Epen. Grethlein, Jonas (2017): Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzhlens. Mnchen. Gelungene und schn zu lesende Darstellung.

Weitere Literatur Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch (1987), bers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart. De Jong, Irene (1987): Narrators and Focalizers. The presentation of the story in the Iliad. Amsterdam. De Jong, Irene (1997): Homer and Narratology. In: A New Companion to Homer, hg. v. Ian Morris/Barry Powell. Leiden/New York. S. 305–325. De Jong, Irene (2001): A narratological commentary on the Odyssey. Cambridge/New York. Fllinger, Sabine (2005): Geschlecht und Krperwahrnehmung in der frhgriechischen Dichtung. In: Medizin, Geschichte und Geschlecht. Krperhistorische Rekonstruktionen von Identitten und Differenzen, hg. v. Frank Stahnisch/Florian Steger. Stuttgart. S. 27–39. Fllinger, Sabine (2009): Tears and Crying in Archaic Greek Poetry. In: Tears in the Graeco-Roman World, hg. v. Thorsten Fgen. Berlin/New York. S. 17–36. Frnkel, Herrmann (1977): Die homerischen Gleichnisse. 2. unvernderte Aufl. mit einem Nachwort u. einem Literaturverzeichnis, hg. v. Ernst Heitsch. Gttingen. Kirchhoff, Adolf (1879): Die homerische Odyssee. 2. Aufl. Berlin. Kullmann, Wolfgang (1960): Die Quellen der Ilias (troischer Sagenkreis). Wiesbaden. Kullmann, Wolfgang (1992a): Gods and Men in the Iliad and the Odyssey. In: Ders.: Homerische Motive. Beitrge zur Entstehung, Eigenart und Wirkung von Ilias und Odyssee, hg. v. Roland J. Mller. Stuttgart. S. 243–263. Kullmann, Wolfgang (1992b): Das Heldenideal der Ilias und die Zeit ihres Dichters. In: Ders.: Homerische Motive. Beitrge zur Entstehung, Eigenart und Wirkung von Ilias und Odyssee, hg. v. Roland J. Mller. Stuttgart, S. 264–271. Kullmann, Wolfgang (1993): Zum Begriff der „homerischen Religion“. In: Religio Graeco-Romana. Festschrift fr Walter Ptscher, hg. v. Joachim Dalfen. Graz. S. 43–50. Kullmann, Wolfgang (2011): Ilias. In: Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Antonios Rengakos/ Bernhard Zimmermann. Stuttgart/Weimar. S. 78–119. Lachmann, Karl (1847): Betrachtungen ber Homers Ilias, mit Zustzen von M. Haupt. Berlin. Parry, Milman (1928): L’pith te traditionnelle dans Hom re. Paris. Patzek, Barbara (2003): Homer und seine Zeit. Mnchen. Platon (2000): Der Staat (Politeia), bers. u. hg. v. Karl Vretska. Bibliogr. ergnzte Ausgabe. Stuttgart. Reichel, Michael (1994): Fernbeziehungen in der Ilias. Tbingen. Rengakos, Antonios (1995): Zeit und Gleichzeitigkeit in den homerischen Epen. In: Antike und Abendland 41. S. 1–33.

Weitere Literatur Rieks, Rudolf (1981): Die Gleichnisse Vergils. In: Aufstieg und Niedergang der rmischen Welt II, 31.2. S. 1011–1110. Rollinger, Robert (2011): Altorientalische Einflsse auf die homerischen Epen. In: Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Antonios Rengakos/Bernhard Zimmermann. Stuttgart/Weimar. S. 213–227. Schadewaldt, Wolfgang (1966): Iliasstudien. 3. Aufl. Darmstadt. Schmitt, Arbogast (1990): Selbstndigkeit und Abhngigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers. Stuttgart. Ulf, Christoph (1990): Die homerische Gesellschaft. Materialien zur analytischen Beschreibung und historischen Lokalisierung. Mnchen. West, Martin (2015): History of the Text. In: Homer’s Iliad. The Basel Commentary, hg. v. Anton Bierl/Joachim Latacz: Prolegomena, hg. v. S. Douglas Olson, bers. v. Benjamin W. Millis/Sara Strack. Berlin/Boston. S. 27–38. Whrle, Georg (1999): Telemachs Reise. Vter und Shne in Ilias und Odyssee oder ein Beitrag zur Erforschung der Mnnlichkeitsideologie in der homerischen Welt. Gttingen. Wolf, Friedrich August (1795): Prolegomena ad Homerum sive de Operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi. Halle.

49

4. Romdichtung – Weltdichtung Vergils Aeneis von Boris Dunsch berblick

I

n der Aeneis wird geschildert, wie Aeneas aus dem brennenden Troja flieht, um nach gttlichem Ratschluss mit seinen Gefhrten eine neue Heimat zu suchen, die er – nach Irrfahrten im Mittelmeer und unglcklicher Liebe zu Knigin Dido von Karthago – in Italien findet. Dort kommt es zu Kmpfen mit einheimischen Vlkern

unter Fhrung des Turnus, den Aeneas schließlich ttet. Neben Ilias und Odyssee ist die Aeneis das bedeutendste Epos der Antike. Sie hat das rmische Selbstverstndnis stark beeinflusst. Ihre berzeitlichen Themen, Aussagen und Motive machen sie zu einer Weltdichtung mit reicher Nachwirkung.

70–19 v. Chr. Publius Vergilius Maro (deutsch: Vergil; lter auch: Virgil) 31 v. Chr.

Schlacht von Actium: Alleinherrschaft des Augustus

ca. 29 v. Chr. Vergil beginnt die Arbeit an der Aeneis um 19 v. Chr. Postume Verbreitung der unvollendeten Aeneis Ende 4. Jh.

lteste erhaltene Aeneis-Handschrift (Vat. Lat. 3225)

1515

Erste deutsche Aeneis-bersetzung durch Thomas Murner

1. Entstehung und berlieferung Entstehung

Antike Biographien, v.a. die sog. Sueton-Donat-Vita, schildern Vergils Arbeitsweise: Ausgehend von einem Prosa-Entwurf der Handlung (einschließlich der Stoffverteilung auf 12 Bcher), widmete er sich jeweils einzelnen Abschnitten, die er bis zu seinem Tod unterschiedlich weit ausformte. Teile des Epos hat er vor Publikum rezitiert, u.a. vor der Kaiserfamilie. Schon whrend der Entstehung wurde das Werk von anderen Dichtern, z.B. Properz (Elegien 2,34,61–66), hoch gepriesen. Entgegen Vergils Verfgung wurde die Aeneis unvollendet aus dem Nachlass herausgegeben, wohl unter Einfluss des Augustus; daher finden sich in ihr Spuren der Unabgeschlossenheit, z.T. auch grßere Widersprche (Suerbaum 2018, 113–115 mit Hinweis auf Aeneis 2,781f. und 3,88: Italien ist erst Ziel der Irrfahrten, spter weiß Aeneas dies nicht).

3. Inhalt

Als identittsstiftende Großerzhlung (nicht ‚Nationalepos‘, Cancik 2003) wurde sie alsbald Schultext; entsprechend gut, reich und meist interpolationsfrei ist ihre berlieferung, die sich auf drei grßere und einige fragmentarische antike Codices sowie viele mittelalterliche Handschriften und eine beachtliche Sekundrberlieferung, v.a. in antiken Grammatiken und Kommentaren, sttzt (von Albrecht 2007, 183–187; weniger zuversichtlich Zwierlein 2000, 8–54).

51 berlieferung

2. Formale Aspekte Das Epos zhlt fast 9900 daktylische Hexameter, davon 58 metrisch unvollstndige Halbverse, die aber bis auf einen (3,340) inhaltlich vollstndig sind. Die Erzhlhaltung ist meist gattungsblich auktorial-objektiv, doch weist sie innovative Momente einfhlsamer Subjektivitt auf, die u.a. aufscheint in Apostrophen (z.B. an Dido 4,408–411), vorausweisenden Epitheta (z.B. die „unglckselige Phnikerin“ Dido, 1,712 und hnlich fter) und Erzhlerkommentaren (z.B. zu Turnus’ Spoliierung des Pallas 10,501–505). Auch stilistisch ist Vergil oft innovativ, bisweilen khn, z.B. in Metapherngebrauch, Lautmalerei und Tempusverwendung, aber auch in metrischen Details (von Albrecht 2007, 158–168); zugleich meidet er Bombast und strebt ausgefeilte Einfachheit an. Als Kompositionsprinzip erkennt die Forschung v.a. ein dyadisches (Bcher 1–6 und 7–12) und ein triadisches Prinzip (1–4, 5–8, 9–12) in spannungsreicher Kombination, außerdem eine Zweiteilung von 1–8 und 9–12 mit einer berlappung in den zentralen Bchern 5–8 (Suerbaum 2018, 141–149). Die Zweigliederung sehen viele schon in Aeneis 1,1 angedeutet („Von Waffen und einem Mann singe ich…“), wobei die „Waffen“ auf den Ilias-(Kampf-)Teil und der „Mann“ auf den Odyssee-(Heimkehr-)Teil vorausweisen sollen; zugleich verweist Vergil auf zwei Zeitebenen, mythisches (Troja) und historisches (Rom) Geschehen (Holzberg 2006, 27f., 129f., 134–138). Gattungstypische Elemente, z.B. Musenanrufe (u.a. 1,8–11; 7,641–646; 9,77–79), Gtterapparat, Seesturm-, Traum- und Schlachtszenen tragen auch ein eigenes Geprge und zeigen einen souvernen Umgang mit den Prtexten der Aeneis aus der griechischen (v.a. Homer (Kap. 3); Apollonios von Rhodos: Argonautika) wie der lateinischen Epik (Ennius: Annales; Naevius: Bellum Poenicum), aber auch aus anderen Gattungen, v.a. der Tragdie (von Albrecht 2007, 146–149).

Metrum, Erzhlhaltung, Stil

Kompositionsprinzipien

Gattungstypische Elemente

3. Inhalt Wie Homer beginnt Vergil sein Werk mit einem Prom, das zunchst das Thema des Epos nennt (1,1); es folgen geographischer Rahmen (Troja und Ita-

1. Buch: Zorn der Gtter

52

4.

2.–3. Buch: Der Fall Trojas und die Folgen

Abb. 3 Aeneas trgt in der rechten Hand das Palladium, auf der Schulter Anchises. Tunesische Mnze, ca. 47 v. Chr. (Mnzkabinett der PhilippsUniversitt Marburg, Inv. MR247)

Vergils Aeneis

lien), Zentralmotiv (Flchtling durch Fgung des Schicksals) und Vorausverweise auf die beiden großen Werkteile (Irrfahrten/Heimkehr und Krieg). Mit der „Gewalt der Gtter“ (1,4) verlagert sich der Blick auf den Zorn der den Trojanern viel Leid bringenden Iuno, dann auf das Ziel der Grndung einer neuen Stadt (1,5–7). Schon hier, wie noch so oft in der Aeneis, werden die Zeitebenen geschichtsteleologisch miteinander verwoben. Im Musenanruf (1,8–11) stellt die Dichterpersona die Theodizeefrage: „Sind denn die Gtter so voll Zorn?“ (1,11). Aeneas erscheint vergleichsweise spt im 1. Buch, nach Prom und der Schilderung der Rachegelste Iunos. Sie befiehlt Aeolus, als die Trojaner fast schon die Gestade Italiens erreicht haben, die Winde gegen deren Flotte loszulassen. Dieser Seesturm bringt hchste Not: Die Trojaner verlieren Schiffe, viele sterben. Aeneas wird in einer epostypischen Seenotsituation schreckensstarr und in Todesgefahr prsentiert (Dunsch 2013, 45–49). Zwar schreitet Neptun ein, tadelt Aeolus fr seine Kompetenzberschreitung und beendet das Wten der Winde (whrend es in einem wichtigen homerischen Vorbild dieser Szene – Odyssee 5,282–381 – Poseidon ist, der Odysseus mit einem Sturm heimsucht). Die Trojaner werden an die Kste Afrikas verschlagen, wo Dido, die Knigin von Karthago, sie gastlich aufnimmt. Ins 1. Buch eingelegt ist eine Prophezeiung der knftigen Grße und weltgeschichtlichen Bedeutung Roms durch Iuppiter, der mit dieser Venus, die sich um ihren Sohn Aeneas sorgt, zu beruhigen sucht (1,254–296) – die erste von drei Vorausdeutungen auf die Zukunft (d.h. Vergangenheit bzw. Gegenwart aus der Perspektive von Vergils zeitgenssischem Publikum). Dort wird auch Ascanius erwhnt (1,267), Aeneas’ Sohn, der von nun an Iulus heißen solle – ein Gegenwartsbezug und zugleich eine Reverenz an den Kaiser, da sich auf Iulus die gens Iulia zurckfhrt, die Familie, zu der Iulius Csar und dessen Großneffe und Adoptivsohn Augustus gehrten. Im 2. und 3. Buch erzhlt Aeneas auf Didos Bitte in einer Rckblende das bisher Erlebte. Wie bei Homer ist die Handlung nicht durchgehend chronologisch angeordnet. Das 2. Buch handelt vom Fall Trojas, der Iliupersis, einschließlich der Geschichte vom Trojanischen Pferd, und der von den Gttern befohlenen Flucht aus der untergehenden Stadt. Der fliehende Aeneas trgt symboltrchtig seinen Vater Anchises, der die Penaten (Stadtgtter) im Arm hlt, auf dem Rcken, neben ihm sein Sohn (2,707–720) – schon vor Vergil ein beliebtes ikonographisches Motiv. Aeneas’ Frau Crusa ist es vom Schicksal bestimmt, ihn nicht zu begleiten; dies teilt sie ihm als Schatten in einer rhrenden Szene mit (2,771–795). Im 3. Buch erzhlt er

3. Inhalt

von den Irrfahrten im stlichen Mittelmeer, v.a. durchsetzt mit Motiven aus der Odyssee, besonders den ‚Apologen‘ des Odysseus (Odyssee 9–12). Gegen Ende stirbt Anchises auf Sizilien. Mit dem 4. Buch, das geradezu als Tragdie gelesen werden kann (Janka 2021, 83–90), wird die Handlung in Karthago fortgesetzt; es ist der Liebe Didos zu Aeneas gewidmet und ist das sicherlich am strksten rezipierte Buch des gesamten Epos. Von Venus mit heftigster Leidenschaft erfllt, bricht Dido den Vorsatz, ihrem verstorbenen Mann Sychaeus ber den Tod hinaus treu zu sein, und versucht, Aeneas in Karthago zu halten. Iuno, die ihre Chance sieht, die Grndung eines neuen Troja zu verhindern, verbndet sich mit Venus, um beide als Liebespaar zu verbinden. Iuppiter muss schließlich Merkur entsenden, um Aeneas an seine Aufgabe zu erinnern. Als dieser dann aufbricht und sich auch von Didos Flehen nicht umstimmen lsst, nimmt sie sich das Leben und verflucht ihn, auf die Feindschaft zwischen Rom und Karthago und indirekt auf Hannibal vorausweisend (4,607–629).

53

4. Buch: Dido und Aeneas

Abb. 4 Tod der Dido, Aeneis 4,663. Ausschnitt aus Vergilius Vaticanus, um 400 (Bibliotheca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 3225, fol. 41r)

Im 5. Buch verschlgt ein Sturm die Trojaner wieder nach Sizilien, wo sie Leichenspiele fr Anchises abhalten (wichtiges Vorbild sind die Leichenspiele fr Patroklos in Ilias 23,257–897), in deren Rahmen verschiedene Wettkmpfe stattfinden. Iuno versucht indessen wieder, den Trojanern zu schaden. Sie beauftragt die Gtterbotin Iris, in Gestalt einer Trojanerin die brigen Frauen anzustacheln, die Schiffe der Flotte in Brand zu stecken; so soll Aeneas gezwungen werden, auf Sizilien zu siedeln. Ein Teil der Schiffe wird gerettet, und

5. Buch: Die Trojaner in Sizilien

54

4.

6. Buch: Aeneas in der Unterwelt

Vergils Aeneis

auf einen dem verzweifelten Aeneas im Traum erteilten Rat seines Vaters Anchises lassen die Trojaner einen Teil der ihren, v.a. viele Frauen, zurck, um eine Siedlung zu grnden – einer von vielen Momenten im ersten Aeneis-Teil, in denen sich die Trojaner schrittweise von ihrer Vergangenheit lsen. Die restliche Flotte steuert Italien an. Im 6. Buch landet Aeneas in Italien und steigt, begleitet von der Seherin Sibylla, in die Unterwelt hinab (Vorbild ist v.a. das 11. Buch der Odyssee), wo er u.a. den Schatten Didos und seines Vaters begegnet. Er bittet Dido um Verzeihung, die er nicht erhlt (6,467–471), was man durchaus als Kommentar des Erzhlers zu Aeneas’ frherem Verhalten lesen kann (so z.B. Gall 2006, 61). Anchises zeigt ihm die Zukunft: Dies ist die zweite Vorausdeutung, die ‚Heldenschau‘ (6,752–853), in der Aeneas knftige große Rmer erblickt (im Zentrum steht hierbei die Verehrung des Augustus als Kriegsheld und Friedensbringer) und die in einer Bestimmung der historischen Aufgabe Roms gipfelt (6,847–853). Quelle

Die historische Aufgabe Roms (6,847–853, bersetzung Dunsch)

Excudent alii spirantia mollius aera (credo equidem), vivos ducent de marmore vultus, orabunt causas melius caelique meatus describent radio et surgentia sidera dicent: tu regere imperio populos, Romane, memento (hae tibi erunt artes) pacique imponere morem, parcere subiectis et debellare superbos. Andere werden lebensnahe Statuen aus Erz geschmeidiger formen (glaub’ ich jedenfalls), lebendige Gesichter aus Marmor gestalten, besser Gerichtsreden halten und des Himmels Bahnen mit dem Zeichenstab beschreiben und der Gestirne Aufgang vorhersagen: Du aber, Rmer, sei bedacht, mit deiner Herrschaft Vlker zu lenken (darin wird dein Knnen liegen) und dem Frieden Ordnung zu verleihen, Unterworfene zu schonen und Widerstndige durch Krieg zu vernichten.

7.–8. Buch: Landung in Latium

Mit dem 7. Buch beginnt der zweite große Teil des Epos. Der bergang ist formal durch einen weiteren Musenanruf markiert (7,37–45). Die Flotte landet in Latium. Nach ersten freundlichen Begegnungen kommt es zu langen Kmpfen zwischen den Neuankmmlingen und den einheimischen Latinern, die mit den Rutulern, einem Volk an der Kste von Latium, unter Turnus verbndet sind. Kampfpreis ist die Ehe mit Lavinia, der zuvor bereits dem Turnus versprochenen Tochter des Knigs der Latiner, Latinus, der sich, anders als seine Frau Amata, die unter dem Einfluss der Furie Allecto die Latiner zum Krieg treibt, vergebens neutral verhlt. Im 8. Buch sucht Aeneas Knig Euander auf, einen Gastfreund seines Vaters, der ber die griechischen Arkader, Feinde des

3. Inhalt

Turnus, im Gebiet des spteren Rom herrscht, um militrische Hilfe zu erbitten; Anfhrer der Hilfstruppen wird Pallas, Euanders Sohn. Dass Euander und Aeneas, als Grieche und Trojaner ehemalige Feinde, sich verbnden, ist ein Symbol der neuen Zeit. Euander rt, sich mit den Etruskern zusammenzutun, die sich von der Herrschaft des grausamen Mezentius befreit haben. In einer Art Stadtfhrung erfhrt Aeneas von der Vorgeschichte des Landes und, in berblendung der Zeitebenen, von noch zu Vergils Zeit bedeutenden Erinnerungsorten Roms (8,306–68). In der Zwischenzeit erschafft Vulcanus fr Aeneas Rstung und Schild von großer Pracht. Die Beschreibung des Schildes, dessen Verzierungen Szenen und bedeutende, fr Aeneas selbst freilich ganz unbekannte Personen aus Roms Zukunft darstellen, ist die dritte Vorausdeutung (8,626–731); wichtigstes formales Vorbild fr diese Schildbeschreibung ist das Bildprogramm auf dem Schild Achills, den diesem seine Mutter Thetis gibt (Ilias 18,478–608 und 19,2–18). Im Zentrum des 9. Buchs steht Turnus. Es schildert seinen berfall auf das Schiffslager der Trojaner in Abwesenheit des Aeneas; hierzu wurde er durch Iris auf Geheiß Iunos angeregt. Turnus gelingt es, die Schiffe der Trojaner anzuznden; doch verwandelt Iuppiter sie in Nymphen und schafft so ein den Trojanern gnstiges Vorzeichen. Ein trojanisches Freundespaar, Nisus und Euryalus, schleicht sich aus dem umzingelten Lager, um Aeneas zu benachrichtigen; doch auf dem Weg greifen sie, von Beutegier und Ruhmsucht berkommen, schlafende Feinde an, werden dadurch bemerkt und schließlich gettet – trotz der positiven Aspekte der Freundschaftsbewhrung ist ihr Schicksal auch eine implizite Kritik an berkommener Heldenepik. Bei einem erneuten Angriff des Turnus auf das Lager fallen viele Trojaner. Das 10. Buch beginnt mit einer Versammlung der Gtter; da diese sich nicht ber eine Beendigung der Kmpfe einigen knnen, lsst Iuppiter dem Krieg weiter freien Lauf (10,113: „Das Schicksal wird seinen Weg finden“). Dieser vorlufige Rckzug Iuppiters, also der Ordnung, auf der Ebene der Gtter wird auf der Ebene der Menschen durch Unordnung und eine Kette von leidvollen Ereignissen gespiegelt. Aeneas kehrt mit den Hilfstruppen unter Pallas zu den Trojanern zurck. Im Kampf ttet Turnus Pallas, nicht ohne ihn zu verspotten und dem Toten den Waffengrtel abzunehmen. Dies lst eine Rachearistie des Aeneas aus, also eine – in antikem Sinne – heldenhafte kriegerische Großtat, in deren Verlauf er u.a. Mezentius und dessen Sohn Lausus ttet, die Verbndete der Rutuler sind. Das 11. Buch, an vielen Stellen aus dem Blickwinkel der Italiker erzhlt, bringt v.a. einen Waffenstillstand der kriegsmden Parteien, die ihre Toten bestatten; dann flammt der Kampf erneut auf. Eine wichtige Figur ist die Amazone Camilla, die mit ihrem Frauenheer auf Seiten des Turnus und der Latiner kmpft, aber schließlich durch einen Pfeilschuss aus dem Hinterhalt fllt. Im 12. Buch vereinbaren Aeneas und Turnus zunchst einen Zweikampf, wie er

55

9.–10. Buch: Angriff des Turnus, Versammlung der Gtter

11.–12. Buch: Aeneas’ Zweikampf mit Turnus

56

4.

Vergils Aeneis

bereits im 11. Buch vorgeschlagen worden war, um den Konflikt zu beenden; doch die Rutuler brechen unter Einfluss Iunos den Vertrag. Am Ende des Buches ttet Aeneas den wehrlos am Boden liegenden Gegner. Es ist unklar, ob Vergil diese Form des offenen Endes absichtlich konzipiert hat. Mit Turnus ist zwar das Haupthindernis der Ansiedlung der Trojaner beseitigt, aber der unmittelbar anschließende Verlauf der Geschichte bleibt unerzhlt, was 1427 den Humanisten Maffeo Vegio zur Abfassung eines 13. Buches bewog, in dem u.a. die Heirat von Aeneas und Lavinia geschildert wird. Hauptfiguren Aeneas: Trojanerfrst und Halbgott, Sohn des Anchises und der Venus. Flieht mit gttlichem Auftrag zur Neugrndung der Stadt aus Troja, erreicht nach Irrfahrten Karthago, wo er Didos Liebe enttuscht, und schließlich Italien, wo er nach harten Kmpfen gegen einheimische Vlker den Sieg erringt. Dido: Knigin von Karthago. Unglcklich in den von ihr gastlich aufgenommenen Aeneas verliebt, ttet sie sich bei dessen Abreise. Turnus: Knig der Rutuler, eines Volkes in Latium. Kmpft mit Verbndeten wie der amazonenhaften Volskerprinzessin Camilla und dem Etruskerknig Mezentius gegen die Trojaner. Verlobter Lavinias, der Tochter des Knigs Latinus, bevor dieser sie Aeneas zur Heirat anbietet. Wird von Aeneas gettet. Iuno: Gattin ihres Bruders Iuppiter, Hauptfeindin des Aeneas und der Trojaner. Versucht, die Grndung Roms zu verhindern, bevor sie sich schließlich umstimmen lsst.

4. Helden Ambivalenz des Protagonisten

Homerische Helden?

Eine klare Heldengestalt ist in der Aeneis schwer auszumachen. Das Epos ist zwar nach Aeneas benannt, der neunmal als heros bezeichnet wird (zuerst 4,447); doch ist seine Figur durchaus ambivalent. Oft wird er pius (fromm, gewissenhaft, pflichttreu, nach Cicero, De inventione 2,66 v.a. gegenber Vaterland und Familie) genannt (so z.B. seine Selbstcharakteristik in 1,377f.; vgl. schon 1,10); doch verhlt er sich nicht immer entsprechend. berdies deutet Vergil wiederholt auf Mythenvarianten hin, in denen Aeneas sogar als Verrter Trojas an die Griechen beschrieben wird (auffllig z.B. die Ambiguitt 2,6); Dido bezeichnet sein Verhalten als impia facta (4,596), ‚gewissenlose Handlungen‘ (Casali 1999), und scheint anzudeuten (4,597–599), geahnt zu haben, dass er in seinen Erzhlungen gelogen haben knnte (Bartsch 2020, xxxvi–viii). Tatschlich mag es besser sein, Aeneas als „Fhrungsfigur“ (Schauer 2007, 33) und nicht als Held zu bezeichnen. In gewisser Weise ist Turnus, der Antagonist des Aeneas, eher als – im homerischen Sinne – konventioneller Held zu bezeichnen (zu Ennius’ Einfluss

5. Rezeption

Goldschmidt 2013, 180–191); Vergil lsst ihn sich selbst mit Achill vergleichen (9,742 und 6, 89, aber auch z.B. 7,371f.). Sein z.T. negativ zu wertendes Verhalten ist zumindest partiell durch gttliche Einwirkung zu erklren: Auf Junos Geheiß stachelt die Furie Allecto ihn, wie zuvor Knigin Amata, zum Krieg an (7,406–474). Am ehesten wie ein homerischer Held verhlt sich Aeneas nach der Ttung des Pallas durch Turnus, die eine Rachearistie auslst (10,513–604); da diese aber durch die Affekte ira (Zorn) und furor (Raserei) motiviert wird, bleibt sie affektethisch fragwrdig (Schmit-Neuerburg 1999, 195). Auch die Ttung des Turnus durch Aeneas wurde in dieser Hinsicht oft diskutiert. Zunchst zgert er, ihn zu tten. Nach einem Wortwechsel mit dem am Boden liegenden, um Schonung bittenden Feind hlt Aeneas zunchst inne und rollt mit den Augen (12,939). Dann aber – Vergil beschreibt diese Szene aus Identifikation stiftender Innenperspektive – fllt sein Blick auf dessen Wehrgehnge, das Turnus spottend dem getteten Pallas abgenommen hat (10,490–509, mit Vorausdeutung auf Turnus’ Ende). Darauf ruft er Turnus zu, es sei Pallas, der ihn nun opfere (12,947–949); erst dann erschlgt er ihn. Die komplexeste der vielen bemerkenswerten Frauenfiguren ist Dido, deren Schicksal tragisch-heroische Zge trgt: Sie verliebt sich unter gttlichem Einfluss (Venus, Iuno) trotz Treueversprechen zu ihrem toten Mann in Aeneas, der ihre Hilfe und Zuwendung gern annimmt, und gttlicher Einfluss zerstrt ihre Beziehung (Iuppiter) – so leidet sie unschuldig-schuldig und letztlich unverdient. Ihr Selbstmord wurde schon in der Antike als mutig und tugendhaft gedeutet; sie ist eine „tragische Heroine“ (Krummen 2004). Ihre Verfluchung der Nachkommen des Aeneas ist ein Vaticinium ex eventu, eine Vorausdeutung Vergils auf die Punischen Kriege. Sie ist fr Frauen in der Antike eine beliebte Identifikationsfigur (Juvenal, Satiren 6,434f.). Ihre Darstellung bei Vergil verdankt sich verschiedensten Einflssen, literarischen (z.B. Kalypso, Medea) ebenso wie historischen (z.B. Kleopatra), wie schon frh bemerkt wurde (Macrobius, Saturnalien 5,17,4f.; Suerbaum 2018, 211–236). Die Gestalt der Lavinia, obgleich die angestrebte Heirat mit ihr Symbol des Ziels ist, sich in Italien anzusiedeln, und damit auch Ursache des Krieges (11,480), bleibt berraschend marginal. Es ist nicht eindeutig, wen sie liebt; sie errtet allerdings, als sie hrt, dass sie mit Aeneas verheiratet werden knnte statt mit ihrem Verlobten Turnus, was dieser als Zeichen ihrer Liebe deutet (einfhlsam und dezent beschrieben: 12,63–71). Von einer Liebe des Aeneas zu ihr ist nie die Rede.

57

Didos tragischheroisches Schicksal

5. Rezeption Mit der unmittelbar zum Klassiker avancierenden Aeneis gelang es Vergil, die bisher wirkmchtigste Großerzhlung ber die Identitt der Rmer, En-

Rmische Identitt

58

4.

Mittelalter und Frhe Neuzeit

Aeneis als Weltdichtung

Homer vs. Vergil

Vergils Aeneis

nius’ Annales, abzulsen. Schon Ovid galt sie als berhmteste Dichtung Roms (Ars amatoria 3,338); seine Metamorphosen sind vielfltig von ihr beeinflusst (am deutlichsten: Metamorphosen 13,623–14,608; Dpp 1991). Beliebtheit und Verbreitung spiegeln sich aber auch z.B. in pompejanischen Graffiti mit Aeneis-Zitaten. Die Hauptvertreter des kaiserzeitlichen Epos (Silius Italicus, Lukan, Valerius Flaccus, Statius) bleiben der Wirkung der Aeneis verpflichtet, z.T. durch bewusste Absetzung von ihr. Auch die christliche Epik (z.B. Iuvencus, Sedulius, Avitus) ist von ihr beeinflusst; Proba verfasst im 4. Jh. ein VergilCento. In der sptantiken Schule hat noch Augustinus ber das Schicksal Didos geweint (Confessiones 1,13,20–22); das Aeneis-Prom wird von Priscian (6. Jh.) zur Erklrung der lateinischen Grammatik genutzt (von Albrecht 2007, 190). In Mittelalter und Frher Neuzeit wurde die Aeneis hoch geschtzt. Die Karolingerzeit gilt geradezu als aetas Vergiliana, die ihn fest als Schulautor etablierte. Vergils Einfluss auf die mittellateinische Epik war erheblich, so z.B. auf den Waltharius, auf die Alexandreis des Walter von Chtillon, ebenso auf die neulateinische, z.B. Petrarcas Africa und Marco Girolamo Vidas Christias, aber insbesondere auch auf die Entstehung der nationalsprachlichen Großdichtungen, namentlich auf Dantes Divina Commedia (Kap. 11), Ariosts Orlando furioso (Kap. 12) und z.B. im 16. Jh. auch auf Os Lusadas des Lus de Cames, im 17. Jh. u.a. auf John Miltons Paradise Lost (Kap. 13). In diachroner Dimension ist die Aeneis Weltdichtung im quantitativen Sinne: weit verbreitet, intensiv rezipiert, adaptiert und imitiert sowie in viele Sprachen bersetzt (z.B. 1984 erste Gesamtbersetzung ins Chinesische: Liu 2018). Auf die europischen Nationalliteraturen hat sie stark gewirkt (von Albrecht 2007, 189–196; Smith 2011, 183–192). Darber hinaus ist sie, wie die homerischen Epen, Weltdichtung im qualitativen Sinne: Sie lsst Lektren zu, die Auskunft ber den seelischen und geistigen Zustand von Menschen nicht nur der damaligen Welt geben. Die individuellen und berindividuellen Identifikationsangebote, die dem Publikum mit den Figuren und Konstellationen der Aeneis gemacht werden, haben, insbesondere durch ihre christliche und platonisierende Rezeption, die europische Kultur bis hin zur modernen Psychoanalyse immer wieder zur Beschftigung mit ihr angeregt (Bellamy 1992, 54–81). In der Antike und wieder seit der Renaissance hat man die Leistungen Homers und Vergils verglichen und ist zu verschiedenen Bewertungen gekommen – die einen stellen das ‚Originalgenie‘ (ingenium) Homers ber den ‚Epigonen‘ Vergil, die anderen ziehen Vergils Kunst (ars) dem ‚archaischen‘ Homer vor (Weiß 2017). In der heutigen Zeit ist das Interesse an der Aeneis geringer als das an Ilias und Odyssee, was sich auch an der weniger umfangreichen Rezeption der Aeneis in Kunst, Musik und Film der Moderne niederschlgt n (Smith 2011, 192–198).

Weitere Literatur Auf einen Blick

Die Aeneis erzhlt, wie Aeneas im gttlichen Auftrag mit seinen Gefhrten aus dem untergehenden Troja flieht, nach vielen Irrfahrten und einem Aufenthalt bei Knigin Dido von Karthago Italien erreicht und nach heftigen Kmpfen die Grundlagen des spteren Rom schafft, auf dessen große Zukunft mehrfach explizit verwiesen wird. Vergil zeigt dabei, welche Erwartungen er in Augustus als Hoffnungstrger einer neuen Zeit setzt. Die Aeneis schließt, was die Handlung angeht, an den Trojanischen Sagenkreis an; doch bildet ihr Sujet, anders als bei Ilias und Odyssee, ein Grndungsmythos. Als Romdichtung und als Weltdichtung hat sie stark auf die Literatur spterer Epochen gewirkt.

Literaturempfehlungen Publius Vergilius Maro (2019): Aeneis, hg. v. Gian Biagio Conte. 2. Aufl. Berlin/Boston. Aktuelle, in Details nicht unumstrittene kritische Textausgabe; im vorliegenden Beitrag zitierte Ausgabe mit leichten nderungen; bersetzung Dunsch. Vergil (2012): Aeneis. Lateinisch/Deutsch, bers. u. hg. v. Edith u. Gerhard Binder. Stuttgart. Oft benutztes Standardwerk mit hilfreichem Anmerkungsteil; zuerst in sechs Bnden 1994–2005 erschienen. Vergil (2020): Aeneis, bers. v. Volker Ebersbach. Stuttgart. Bewhrte, gut lesbare Prosabersetzung; zuerst 1982 erschienen. Vergil (2020): The Aeneid, bers. v. Shadi Bartsch. London. Aktuelle, zugleich beste englische bersetzung mit wertvoller Einleitung. Gall, Dorothee (2006): Die Literatur in der Zeit des Augustus. Darmstadt. Gute Einfhrung in die Epoche. Holzberg, Niklas (2006): Vergil. Der Dichter und sein Werk. Mnchen. Gut zugngliche Einfhrung. Janka, Markus (2021): Vergils Aeneis. Dichter, Werk und Wirkung. Mnchen. Konziser berblick, der eigene Akzente setzt. Suerbaum, Werner (2018): Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart. Durchgesehene und bibliograph. ergnzte Ausg. Stuttgart. Bewhrtes Standardwerk; zuerst 1999 erschienen. Von Albrecht, Michael (2007): Vergil. Bucolica, Georgica, Aeneis. Eine Einfhrung. 2. Aufl. Heidelberg. Detailreiche und nuancierte Synthese.

Weitere Literatur Aurelius Augustinus (2009): Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch, hg. v. Kurt Flasch. Stuttgart. Bellamy, Eliszabeth J. (1992): Translations of Power. Narcissism and the Unconscious in Epic History. Ithaca, New York. Cancik, Hubert (2003): Myth-Historie. Zu Literarisierung historischer Vorgnge und Personen im antiken Epos. In: Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, hg. v. Barbara Aland u.a. Tbingen. S. 1–18. Casali, Sergio (1999): Facta impia (Virgil, Aeneid 4.596–9). In: The Classical Quarterly 49. S. 203–211. Dpp, Siegmar (1991): Vergilrezeption in der ovidischen Aeneis. In: Rheinisches Museum fr Philologie 134. S. 327–346.

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60

4.

Vergils Aeneis Dunsch, Boris (2013): Describe nunc tempestatem. Shipwreck and Sea Storm Type Scenes in Ancient Literature. In: Shipwreck in Art and Literature, hg. v. Carl Thompson. New York/London. S. 42–59. Goldschmidt, Nora (2013): Shaggy Crowns. Ennius’ Annales and Virgil’s Aeneid. Oxford. Homer (2001): Ilias. Griechisch/Deutsch, bers. v. Hans Rup. 11. Aufl. Dsseldorf/Zrich. Homer (2010): Odyssee. Griechisch/Deutsch, hg. v. Roland Hampe. Stuttgart. Liu, Jinyu (2018): Virgil in Chinese. In: Virgil and His Translators, hg. v. Susanna Braund/Zara Torlone. Oxford. S. 224–236. Krummen, Eveline (2004): Dido als Mnade und tragische Heroine. Dionysische Thematik und Tragdientradition in Vergils Didoerzhlung. In: Poetica 36. S. 25–69. Macrobius (2011): Saturnalia. Books 3–5, hg. v. Robert A. Kaster. Cambridge, Mass./London. P. Ovidius Naso (2013): Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart. P. Ovidius Naso (2016): Ars amatoria. Lateinisch/Deutsch, hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart. Sextus Propertius (1993): Smtliche Gedichte. Lateinisch/Deutsch, hg. v. Burkhard Mojsisch u.a. Stuttgart. Schauer, Markus (2007): Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit. Mnchen. Schmit-Neuerburg, Tilman (1999): Vergils neis und die antike Homerexegese. Untersuchungen zum Einfluß ethischer und kritischer Homerrezeption auf imitatio und aemulatio Vergils. Berlin/New York. Smith, R. Alden (2012): Vergil. Dichter der Rmer. Darmstadt. Weiß, Philipp (2017): Homer und Vergil im Vergleich. Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine sthetik. Tbingen. Zwierlein, Otto (2000): Antike Revisionen des Vergil und Ovid. Wiesbaden.

Boris Dunsch ist nach den letzten Korrekturen an seinem Beitrag unerwartet verstorben. Die Herausgeber*innen und die weiteren Beitrger*innen dieses Bandes trauern um einen geschtzten Kollegen.

5. Von Helden und Monstern Das altenglische Epos Beowulf von Evelyn Koch berblick

D

er Beowulf ist das einzige fast vollstndig erhaltene altenglische Epos. Es erzhlt die Geschichte des Gautenkriegers Beowulf whrend der sog. Vlkerwanderungszeit im 6. Jh., der die Dnen von den Monstern Grendel und Grendels Mutter befreit und spter Knig der Gauten wird. Am Ende seiner Herrschaft wird Beowulf von einem Drachen tdlich verletzt, wodurch

sein Gautenland feindlichen Angriffen schutzlos ausgesetzt und dem Untergang geweiht ist. Zentrale Motive des Epos sind u.a. der Umgang mit dem frhmittelalterlichen Ehrenkodex sowie die moralische Abgrenzung zwischen Menschen und Monstern. Der Beowulf wurde im 19. Jh. wiederentdeckt und fand im 20. Jh. in zahlreichen Adaptionen Eingang in die Populrkultur.

6. Jh.

Sog. Vlkerwanderungszeit; Besiedlung der ehemaligen Provinz Britannia durch Angeln, Sachsen und Jten; Erwhnung Hygelacs als Gautenknig

um 1000

Entstehung der Beowulf-Handschrift

16.–17. Jh.

Beowulf-Handschrift im Besitz von Laurence Nowell und Sir Robert Cotton Beowulf-Handschrift bersteht das Feuer in Ashburnham House Grmur J nsson Thorkelin publiziert die erste Druckausgabe Erste vollstndige bersetzung ins Englische durch John Mitchell Kemble

1731 1815 1837

1. Entstehung und berlieferung Der Beowulf ist das einzige fast vollstndig erhaltene lngere Epos in altenglischer Sprache und nur in einer Handschrift berliefert. Der Titel Beowulf wurde dem Text erst im 19. Jh. gegeben, das Epos selbst wurde wie im Mittelalter blich titellos berliefert. Entstanden ist der Text im frhen Mittelalter im Gebiet des heutigen Englands, das zu jener Zeit aus mehreren angelschsischen Knigreichen bestand, die im 9. Jh. z.T. von den Wikingern erobert wurden. Unter der Vorherrschaft von Wessex entstand 927 ein vereintes englisches Knigreich, das 1016–1035 skandinavisch regiert wurde. Das BeowulfManuskript wurde um das Jahr 1000 von zwei Schreibern von einer nicht

Entstehung

62

5.

berlieferung

Das altenglische Epos Beowulf

mehr existierenden Handschrift abgeschrieben. Wer den Beowulf ursprnglich in der vorliegenden Form verfasst hat, ist unbekannt, ebenso wie die Entstehungszeit. Zu dieser Frage wurden seit dem 19. Jh. verschiedene Theorien in der Forschung diskutiert. Whrend Gelehrte des 19. und der ersten Hlfte des 20. Jh. einen Entstehungszeitraum zwischen dem 7. und 9. Jh. favorisierten, wird von der neueren Forschung u.a. auch ein spterer Zeitpunkt im 10. Jh. diskutiert (Chase 1997). Das Beowulf-Manuskript weist eine bewegte Geschichte auf. Im 16. Jh. befand es sich im Besitz des Gelehrten Laurence Nowell – weshalb die Handschrift auch manchmal Nowell-Codex genannt wird –, der es wohl aus einer aufgelsten Klosterbibliothek erhalten hat. Spter fand sich das Manuskript in der umfangreichen Handschriftensammlung von Sir Robert Cotton (1570–1631) wieder. Im 18. Jh. wurde es bei einem Feuer in Ashburnham House in Westminster fast vernichtet, konnte jedoch gerettet werden, wenn auch mit angesengten Seitenrndern. Der Codex ging 1753 zunchst in den Besitz des British Museums ber, heute befindet er sich in den Bestnden der British Library. 1787 fertigte der islndische Gelehrte Grmur J nsson Thorkelin in London Abschriften der Handschrift an, die wiederum nur knapp einem Feuer in Kopenhagen entgingen. Diese Abschriften sowie die 1815 verffentlichte erste Druckversion des Beowulf durch Thorkelin erwiesen sich in den folgenden Jahren als weitere Quellen bedeutsam, da durch die fortwhrende Zersetzung der angesengten Seitenrnder der Handschrift einige Wrter am Rand heute nicht mehr lesbar sind (Staver 2005, 9–12).

2. Formale Aspekte Einteilung

Alliteration und Variation

Das Epos ist in 43 Abschnitte untergliedert und umfasst 3182 Langzeilen. Jede Langzeile wird wiederum in zwei Halbzeilen eingeteilt, die mindestens vier Silben haben, wovon jeweils zwei Silben betont sind. Damit zeichnet sich die altenglische Dichtung durch einen Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben aus. Die Halbzeilen werden durch Alliterationen verbunden, d.h. die erste betonte Silbe in der zweiten Halbzeile alliteriert mit einer oder zwei betonten Silben in der ersten Halbzeile (Scragg 2013, 53f.). Die Verwendung des Stabreims macht den Gebrauch von Variationen und Umschreibungen unumgnglich, wenn das alliterierende Versmaß durchgngig eingehalten werden soll. Beispielweise werden die Wrter cempa, hæle— oder guma aus dem Wortfeld ‚Krieger‘ variiert und bieten dadurch die Mglichkeit, neue Stabreime zu bilden (Brady 1983, 200). Eine andere Technik der Wortumschreibung sind die sog. Kenningar, die ein Wort in einer rtselhnlichen Metapher wiedergeben.

2. Formale Aspekte

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Stichwort

Kenning Der Begriff Kenning (Pl. Kenningar) ist abgeleitet vom altnordischen Wort kenna und bedeutet u.a. „(er)kennen“. Ein Kenning ist eine Metapher, die in Form eines Kompositums einen bestimmten Begriff umschreibt und dabei oft die Merkmale eines kleinen Rtsels aufweist. Im Beowulf gibt es zahlreiche Kenningar, mit denen sich einerseits neue Alliterationen bilden lassen und die andererseits auch die Eigenschaften des umschriebenen Begriffs nher erlutern. So finden sich im Beowulf die hronrad (V. 10), die „Walstraße“, als Umschreibung fr das Meer, sowie der wegflota (V. 1907), der „Wellengleiter“, als Synonym fr ein Schiff, das gleichzeitig dessen Schnelligkeit und Wendigkeit deutlich macht. Das Monster Grendel wird u.a. charakterisiert als hearmscaša (V. 766), als Bsewicht, der Leid und Unglck bringt, sowie als mearcstapa (V. 103), also als „Markwanderer“ bzw. „Grenzgnger“, was seine Rolle als Ausgestoßener aus der Gemeinschaft der Menschen deutlich macht. Hrothgars Gemahlin Wealhtheow wiederum wird als freo— uwebbe (V. 1942), als „Friedensweberin“, bezeichnet, womit ihre politische Funktion sichtbar wird, weil sie durch ihre Heirat Frieden zwischen zwei Verbnden gestiftet hat. Auch der Name Beowulf selbst ist ein Kenning und bedeutet „Bienenwolf“ – eine kreative Umschreibung fr einen Bren – und verweist auf Beowulfs bermenschliche Strke.

Neben Stabreimen werden auch Binnenreime verwendet wie z.B. hond ond rond (V. 656) sowie verschiedene Wortspiele (Orchard 2003, 66f.). Ebenfalls kennzeichnend fr den Stil ist die Verwendung von Wiederholungen, nicht nur in Form von Wortklngen wie bei den Alliterationen, sondern auch in Gestalt wiederkehrender Formeln, die eine ursprnglich mndliche berlieferung nahelegen. Diese Formeln machen aber auch thematische Bezge deutlich. So wird z.B. durch dieses Stilmittel herausgestellt, dass Hrothgar 50 Jahre als Knig regiert, bevor Grendel seine Herrschaft bedroht. Genauso regiert Grendels Mutter 50 Jahre in ihrem Sumpf, bevor Beowulf ihre Herrschaft beendet. Schließlich regiert auch Beowulf 50 Jahre, bevor der Drache seiner Herrschaft ein Ende setzt (ebd., 64). Wiederholungen und Variationen strukturieren das Epos stilistisch sowie inhaltlich, indem sie verschiedene Elemente des Textes vergleichen und kontrastieren (ebd., 57f.). Diese Struktur spiegelt sich auch auf der inhaltlichen Ebene wider. Beispielsweise beginnt und endet der Beowulf mit einem Begrbnis. Der Einschub zu Sigemunds Kampf mit dem Drachen lsst Beowulfs Begegnung mit einem Drachen bereits erahnen, ebenso wie Hildeburhs Schicksal im Einschub der Finnsburg-Episode bereits Wealhtheows Zukunft andeutet (ebd., 91f.). Die Erzhlperspektive wechselt zwischen einer allwissenden, kommentierenden Erzhlerstimme und direkten Reden einzelner Figuren wie z.B. Beowulf und Hrothgar. Die Erzhlstimme erlutert insbesondere christlich-religise Aspekte und greift teils auch kommentierend in direkte Reden ein. Die

Wiederkehrende Formeln

Erzhlperspektive

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5.

Das altenglische Epos Beowulf

Erzhlung ist immer wieder durch Einschbe und Anspielungen auf andere Narrative und Figuren durchsetzt. Dies erzeugt eine strukturelle Tiefe des Textes, indem Kontraste zum Hauptnarrativ gesetzt und Vorausdeutungen der noch folgenden Handlung angeboten werden, auch ber den eigentlichen Text hinaus (ebd., 92).

3. Inhalt Schauplatz

Kampf mit Grendel

Kampf mit Grendels Mutter

Das Epos spielt im Skandinavien des 6. Jh., wahrscheinlich um 515 bis 570, zur Zeit der sog. Vlkerwanderung. Die Datierung ergibt sich aus der Erwhnung der historischen Person Hygelacs in der Historia Francorum des Kirchenschriftstellers Gregor von Tours (Staver 2005, 2); auch wird der Gautenknig im Liber Monstrorum genannt. Der Beowulf besteht aus zwei Teilen, der erste Teil erzhlt Beowulfs Abenteuer in Dnemark als junger Mann (V. 1–1913), der zweite Teil spielt 50 Jahre spter und berichtet von Beowulfs Kampf mit dem Drachen (V. 1914–3182). Die Hauptfiguren stammen aus dem Gebiet des heutigen Dnemarks und Schwedens. Der Beowulf beginnt mit dem Aufstieg Scyld Scefings zum Knig der Dnen. Nach der Beschreibung von Scylds Schiffsbestattung springt die Handlung zu seinem Nachfahren Knig Hrothgar, dessen Met-Halle Heorot („Hirschburg“) seit Jahren von dem menschenfressenden Monster Grendel heimgesucht wird. Grendel lebt mit seiner Mutter in den benachbarten Smpfen und fhlt sich vom Lrm der feiernden Dnen gestrt. Niemand vermag es, Grendel zu besiegen. Diese Kunde erreicht auch Beowulf, einen jungen Gautenkrieger – die Gauten waren ein in Sdschweden siedelnder Verband – und Gefolgsmann Knig Hygelacs. Beowulf macht sich mit seinen Kriegern auf den Weg zu Hrothgar und bietet seine Hilfe an. Er bekommt seine Chance, sich als Held zu bewhren, und bernachtet mit seinem Gefolge in der heimgesuchten Met-Halle, wo er schließlich Grendel unbewaffnet im Kampf besiegt, indem er ihm einen Arm abreißt. Die Dnen feiern Beowulf und whnen sich sicher. Bei anschließenden Feierlichkeiten wird Beowulf reich belohnt und die Geschichte des Drachentters Sigemund wird vorgetragen, die bereits eine Vorahnung der noch folgenden Geschichte erweckt. Dieser Einschub zeigt auch eine Parallele zum Nibelungenlied (Kap. 9), in dem Sigemund allerdings der Vater des Drachentters Siegfried ist. In weiteren Einschben werden der Fall des Dnenknigs Heremod sowie die aus einer blutigen Fehde zwischen Dnen und Friesen resultierende Schlacht um Finnsburg als warnende Beispiele vorgetragen. Grendels Mutter nimmt blutige Rache fr ihren Sohn. Sie berfllt die nichts ahnenden Dnen in Heorot und entfhrt und ttet Hrothgars Berater Æschere. Beowulf kndigt daraufhin an, auch Grendels Mutter zu besiegen. Zusammen mit den Dnen macht sich Beowulf auf den Weg in die Moore, wo

3. Inhalt

Grendels Mutter unter Wasser in einer Halle lebt, die eine Art Spiegelbild zu Heorot darstellt. Bewaffnet mit dem Schwert Hrunting taucht Beowulf ab in den See und besiegt diverse Seemonster, bevor es zum Kampf mit Grendels Mutter kommt, die sich als wesentlich kampferprobter als Grendel erweist. Das Schwert Hrunting stellt sich jedoch als wirkungslos heraus, und Beowulf kann Grendels Mutter letztlich nur mithilfe einer anderen, mit bernatrlichen Krften ausgestatteten Waffe besiegen. Als Beweis fr seine Heldentaten nimmt Beowulf den abgetrennten Kopf von Grendels Leichnam mit, rekapituliert sein Abenteuer, wird abermals reich belohnt und kehrt ins Gautenland zurck. Da Hygelacs Linie mit seinem Tod erlischt, wird Beowulf schließlich Knig der Gauten. 50 Jahre vergehen, in denen Frieden und Sicherheit herrschen. Eines Tages jedoch findet ein entlaufener Sklave die Hhle eines Drachen und stiehlt einen Kelch. Sobald der Drache, der eiferschtig den Schatz eines untergegangenen Verbandes htet, bemerkt, dass ihm ein Teil des Schatzes fehlt, berfllt er die umliegenden Drfer und verbrennt Huser und Menschen. Beowulf will dem Drachen Einhalt gebieten und beschließt, ihm im Zweikampf zu begegnen. Der Drache ist jedoch das mchtigste Monster, dem sich Beowulf stellen muss, selbst er hat keine Chance, es allein zu bezwingen (zu den Phasen des Kampfs Honegger 2019, 84–93). Trotz Beowulfs Anweisung, dem Kampf fern zu bleiben, kommt ihm sein junger Gefolgsmann Wiglaf zu Hilfe, und gemeinsam besiegen sie den Drachen. Getrbt wird dieser Sieg von der tdlichen Wunde, die Beowulf durch den Drachen davontrgt. Nach Beowulfs Bestattung endet das Epos mit der dsteren Aussicht, dass das von ihm hinterlassene Knigreich fortan den Angriffen benachbarter Verbnde ausgeliefert und dem Untergang geweiht sein wird. Hauptfiguren Beowulf: Gautenkrieger und Neffe des Gautenknigs Hygelac, den er spter als Knig beerbt. Vereint die Strke von 30 Mnnern, zeichnet sich durch seinen Heldenmut und durch seine Großzgigkeit aus. Besiegt nacheinander Grendel, Grendels Mutter und einen Drachen, dessen Gift ihn schließlich ttet. Hrothgar: Alternder Dnenknig, dessen zuvor erfolgreiche Herrschaft durch die Angriffe Grendels geschwcht wird, was Beowulfs Hilfe ntig macht. Grendel: Menschenfressendes Monster von berragender Grße, das sowohl trollartige als auch geisterhafte Zge hat und abgeschieden von den Menschen mit seiner Mutter im Sumpf lebt. berfllt Heorot regelmßig, wird von Beowulf tdlich verwundet. Grendels Mutter: Bleibt namenlos im Text. Lebt mit ihrem Sohn Grendel in einer Halle unter den Smpfen. Rcht ihren Sohn mit einem berfall auf die Dnen und wird von Beowulf gettet. Wiglaf: Verwandter Beowulfs, der ihm im Kampf gegen den Drachen zur Seite steht und von Beowulf vor dessen Tod zum Erben erklrt wird.

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Kampf mit dem Drachen

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5.

Das altenglische Epos Beowulf

4. Helden Ehrenkodex

Eines der zentralen Motive des Beowulfs ist der Ehrenkodex frhmittelalterlicher Krieger. Darin wird das Leben als Kampf gegen ein unausweichliches Schicksal (wyrd) gesehen. Einzig der Nachruhm bzw. Ruf (lof) berdauert das Leben eines Kriegers; indem ein Held sich zu Lebzeiten um seinen Ruhm bemht, kann er ‚unsterblich‘ werden. Erwerben lsst sich dieser Ruhm durch Mut im Kampf sowie heroische Taten (Irving 1997, 180). Das erklrt Beowulfs Motivation, nach Dnemark berzusetzen und den Kampf mit Grendel aufzunehmen, denn dadurch bietet sich ihm eine Chance, lof zu erwerben. Aus diesem Grund rhmt sich Beowulf seiner Taten ausfhrlich vor anderen. Nicht zufllig wird Beowulf in der letzten Zeile des Epos als „manna […] lof-geornost“ (V. 3182) beschrieben, als jemand, der am meisten auf lof aus war. Dass man einerseits ein unausweichliches Schicksal akzeptiert, aber andererseits sein Bestes gibt, um Nachruhm zu erwerben, mag heutigen Lesern paradox erscheinen. Es gehrt jedoch zu diesem Ehrenkodex, dass man immer bestrebt ist, das Richtige zu tun und sein Bestes zu geben, egal wie ausweglos die Lage erscheinen mag. Das wird besonders im Kampf Beowulfs und Wiglafs gegen den Drachen deutlich. Daneben zeichnet sich ein Held im Rahmen dieses Ehrenkodex auch durch Mut sowie Loyalitt gegenber seinen Gefolgsleuten und Herren aus (Magennis 2010, 88f.). Dies wird an der Charakterentwicklung Beowulfs deutlich. Die Erzhlung von Beowulfs Taten vor Grendel lsst vermuten, dass er noch als jugendlicher Heißsporn gehandelt hat, als er sich z.B. auf ein tagelanges Wettschwimmen im Meer mit seinem Jugendfreund Breca einließ, bei dem sie beide ihr Leben unntig riskieren. Im Kampf mit Grendel und dessen Mutter hingegen zeigt Beowulf nicht nur Mut, sondern bernimmt auch Verantwortung fr andere. Im Kampf mit dem Drachen an seinem Lebensende wird schließlich ein heroisches Dilemma deutlich: Will Beowulf allein gegen den Drachen kmpfen, um seine Gefolgsleute zu schtzen, oder will er allein lof erwerben, obwohl es unwahrscheinlich ist, ein Monster dieses Ausmaßes allein zu besiegen? Die Einhaltung des Ehrenkodex ist schließlich auch etwas, das einen Helden von Monstern wie Grendel unterscheidet. Beowulf und Grendel hneln sich in manchen Aspekten: Sie sind beide berdurchschnittlich stark und werden an unterschiedlichen Stellen als aglæca bezeichnet, was in diesem Kontext sowohl als „Schurke“ als auch als „formidabler Kmpfer“ bersetzt werden kann (Kuhn 2018, 216f.). Anders aber als Grendel und dessen Mutter kmpft Beowulf immer fair – da Grendel ohne Waffen kmpft, tut Beowulf dies auch. Und whrend Grendel und seine Mutter ausgestoßen von der menschlichen Gemeinschaft ohne soziales Netz leben, ist Beowulf durch Einhaltung des Ehrenkodex fest in die soziale Gemeinschaft eingebunden und bernimmt auch Verantwortung fr diese.

5. Rezeption

Fr seine Heldentaten wird Beowulf von Knig Hrothgar mit Schtzen belohnt. Knige werden im Altenglischen, und insbesondere im Beowulf, u.a. als beaggifa („Ringgeber“) bezeichnet. Dieses Kenning spielt auf das Ideal des freigebigen Knigs an, der seine Gefolgsleute fr ihre Heldentaten auszeichnet und großzgig mit seinen Schtzen umgeht, auch wenn diese Gaben eher einen symbolischen als einen materiellen Wert haben. Vielmehr weisen sie als Whrung des Heldentums den sozialen Status des Beschenkten aus. Ohnehin ist die Frage, was einen guten Knig ausmacht, ein zentrales Thema im Beowulf. So denkt Hrothgar darber nach und der Einschub zum Fall des Dnenknigs Heremod gibt ein Beispiel eines schlechten Knigs. Gier und das Unvermgen, die Gefolgsleute fr ihre Loyalitt und Taten zu beschenken, werden besonders als negative Eigenschaften hervorgehoben (Staver 2005, 80f.). Auch der Drache verkrpert menschliche Gier (Tolkien 2006, 17), indem er eiferschtig seinen Schatz htet und nicht einmal einen Teil davon entbehren kann. Helden werden im Beowulf folglich durch Kontraste konstruiert. Sie entstehen in Abgrenzung zu Monstern und schlechten Vorbildern, genau wie gute Knige im Vergleich zu schlechten Knigen hervorgehoben werden.

67 Knigtum

5. Rezeption Durch die erste Druckausgabe Anfang des 19. Jh. sowie die erste vollstndige bersetzung ins moderne Englisch 1837 durch John Mitchell Kemble wurde der Beowulf wiederentdeckt und zunchst einem gelehrten Publikum zugnglich gemacht. Die Gelehrten jener Zeit interessierten sich v.a. aus linguistischer Perspektive fr die altenglische Sprache des Textes, bemhten sich um die Identifikation vermeintlich vorchristlicher Elemente sowie historischer Hintergrnde und zogen Analogien zu anderen Legenden und Sagen (Staver 2005, 12f.). Der Versuch, vorchristliche Elemente im Beowulf zu finden, spiegelte dabei eher den durch nationale Ideen genhrten Wunsch nach einer ungebrochenen Verbindung zu einer ‚heldenhaften‘ Vergangenheit wider. Erst die 1895 von William Morris verffentlichte bersetzung unter dem Titel The Tale of Beowulf Done out of the Old English Tongue sollte den Text einem breiteren Publikum zugnglich machen. Die Verffentlichung war allerdings weder von kommerziellem Erfolg begleitet noch fand die umstndliche, knstlich archaisierende Sprache, der Morris sich bediente, Anklang unter den Kritikern.

Wiederentdeckung

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5.

Das altenglische Epos Beowulf Quelle

Die Anfangszeilen des Epos Hwæt we¯ Ga¯r-Dena in gea¯r-dagum e¯od-cyninga rym gefru¯non, hu¯ a¯ æ elingas ellen fremedon. Oft Scyld Sce¯fing scea ena re¯atum, monegum mæ ¯ g um meodo-setla ofte¯ah (V. 1–5). Inzwischen existieren zahlreiche Beowulf-bersetzungen, die oft unterschiedliche Interpretationen des Textes zum Ausdruck bringen. Fast wortwrtlich bersetzt Benjamin Slade im Jahr 2006: Listen! We –of the Spear-Danes in the days of yore, of those clan-kings– heard of their glory. how those nobles performed courageous deeds. Often Scyld, Scef’s son, from enemy hosts from many peoples seized mead-benches. Seamus Heaney bersetzt diese Zeilen im Jahr 2000 folgendermaßen: So. The Spear-Danes in days gone by and the kings who ruled them had courage and greatness. We have heard of those princes’ heroic campaigns There was Shield Sheafson, scourge of many tribes, A wrecker of mead-benches, rampaging among foes. Bei Maria Dahvana Headley lauten die ersten Zeilen im Jahr 2020 wie folgt: Bro! Tell me we still know how to speak of kings! In the old days, Everyone knew what men were: brave, bold, glory-bound. Only stories now, but I’ll sound the Spear-Danes’ song, hoarded for hungry times. Their first father was a foundling: Scyld Scefing. He spent his youth fists up, browbeating every barstool-brother. Allein diese drei Beispiele zeigen, wie unterschiedlich man den „wordhord onleac“ (V. 258), also aus dem „Wortschatz schpfen“ kann.

1936 verffentlichte J.R.R. Tolkien in seiner Funktion als Professor fr Altenglisch den Aufsatz The Monster and the Critics, in dem erstmals den literarischen Motiven grßere Aufmerksamkeit geschenkt wurde (Tolkien 2006). Als Schriftsteller bernahm Tolkien insofern Motive aus dem Beowulf in The Hobbit (1937), als der Drache Smaug an den Beowulf-Drachen angelehnt ist. Ebenso sind die Kultur und der Schauplatz der Rohirrim in The Lord of the Rings (1954/55) vom Beowulf inspiriert. In dieser adaptierten Form wurden die fantastischen Elemente des Beowulf in der zweiten Hlfte des 20. Jh. einem grßeren Publikum zugnglich gemacht. Seit den 1960er Jahren erschienen weitere literarische Adaptionen wie z.B. die Kinderbuchversion von Rosemary Sutcliff, Beowulf. Dragonslayer (1961), und John Gardners Grendel (1971), das die Geschichte aus der Sicht des Monsters wiedergibt. Auch eine Reihe von neueren bersetzungen wie z.B. die der Schriftsteller Seamus Heaney (1999) oder Maria Dahvana Headley (2020) erschlossen ein neues Publikum. Neben

Literaturempfehlungen

zahlreichen Comic- gab es besonders seit den spten 1990er Jahren mehrere Film-Adaptionen, die sich aber oft nur frei an den Originaltext anlehnen und vielfach Plot-Elemente hinzuerfinden (Clark 2020). Zur Manifestierung einer nationalen englischen Identitt eignet sich der Beowulf nicht. Zwar ist der Text auf Altenglisch verfasst, aber die Handlung spielt in Skandinavien und die handelnden Personen sind entweder Dnen, Gauten oder Schweden. Auch haben die Figuren des Epos, das zur Zeit der sog. Vlkerwanderung spielt, noch keinen Bezug zum Konzept eines Nationalstaats. Jedoch hat dies Gelehrte des 19. Jh. nicht abgehalten, den Beowulf wahlweise aufgrund der Sprache als englisches oder aufgrund des Schauplatzes als dnisches bzw. germanisches Nationalepos fr sich zu reklamieren, Thorkelins BeowulfAusgabe entstand z.B. aus diesem Motiv (Liuzza 2000, 12). Im 20. Jh. rckte die Forschung von der Idee ab. Ferner werden verschiedene Theorien diskutiert, ob ein altenglisches Epos, das in Skandinavien angesieldet ist, als Nationalepos fungieren kann. Einerseits werden Bezge zu den Vorfahren der Angelsachsen in Dnemark angenommen (Murray 1997), andererseits knnte der Beowulf auch unter der Herrschaft der Wikinger in England entstanden sein, was die Ben zge zu Skandinavien ebenfalls erklren knnte (Staver 2005, 8). Auf einen Blick

Das Manuskript des Beowulf wurde Ende des 18. Jh. wiederentdeckt und erstmals im 19. Jh. gedruckt. So wurde es zunchst einem gelehrten Publikum zugnglich gemacht, bevor der Beowulf im 20. Jh. besonders durch indirekte Adaptionen J.R.R. Tolkiens Eingang in die Populrkultur fand und in vielen weiteren Formen oft frei adaptiert wurde. Der Beowulf ist in Versform verfasst und verwendet Stilmittel wie Alliterationen, Variationen (insbesondere Kenningar) sowie wiederkehrende Formeln, die einen ursprnglich mndlichen Vortrag nahelegen. Das Epos handelt vom zunchst jungen Gautenkrieger Beowulf, der die dnische Met-Halle Heorot von den Monstern Grendel und Grendels Mutter befreit, wodurch er Heldenruhm erwirbt und von Knig Hrothgar reich beschenkt wird. Die Handlung macht die Bedeutung des frhmittelalterlichen Ehrenkodex deutlich, der Streben nach Nachruhm sowie Großzgigkeit gegenber den eigenen Gefolgsleuten zum Kern hat. Die Monster bilden den negativen Kontrast zu dieser durch einen Verhaltenskodex strukturierten Gemeinschaft. Als alternder Knig muss Beowulf an seinem Lebensende gegen einen Drachen kmpfen, der ihn tdlich verwundet und damit Beowulfs Gauten dem Untergang weiht. Zwar gab es im 19. Jh. Versuche, den Beowulf als englisches Nationalepos zu vereinnahmen, aber aufgrund des nicht-englischen Schauplatzes eignet sich der Text dazu nur sehr bedingt.

Literaturempfehlungen Beowulf. A New Verse Translation. Bilingual Edition (2000), bers. v. Seamus Heaney. New York/London. Empfehlenswerte zweisprachige Ausgabe (Altenglisch/Englisch) der bersetzung des Nobelpreistrgers Seamus Heaney, der die poetische Form in der bersetzung beibehlt.

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Nationalfrage

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5.

Das altenglische Epos Beowulf Beowulf. Das angelschsische Heldenlied (2013), bers. v. Johannes Frey. Stuttgart. Deutsche bersetzung in Versform. Beowulf. A New Translation (2020), bers. v. Maria Dahvana Headley. New York. Eine der neuesten bersetzungen ins Englische, in freier Versform, die die Umgangssprache geschickt integriert und die weiblichen Figuren mehr in den Vordergrund stellt. Beowulf. Diacritically Marked Text and Facing Translation (2006), bers. v. Benjamin Slade. In: Beowulf on Steorarume [https://heorot.dk/beo-intro-rede.html] (Zugriff: 8. Juli 2022). Eine fast wortwrtliche bersetzung mit Originaltext. Ideal zu Studienzwecken. Staver, Ruth Johnston (2005): A Companion to Beowulf. Westport. Leserfreundliche Einfhrung, die keine Vorkenntnisse voraussetzt. Orchard, Andy (2003): A Critical Companion to Beowulf. Rochester, New York. Eine tiefergehende Einfhrung mit umfangreicher Bibliografie. Bjork, Robert E./John D. Niles (Hg., 1997): A Beowulf Handbook. Exeter. Umfassendes und detailliertes Handbuch, das u.a. auch die Forschungsgeschichte bersichtlich darstellt.

Weitere Literatur Brady, Caroline (1983): ‚Warriors‘ in Beowulf. An Analysis of the Nominal Compounds and an Evaluation of the Poet’s Use of Them. In: Anglo-Saxon England 11. S. 199–246. Chance, Jane (1986): Woman as Hero in Old English Literature. Syracuse, NY. Chase, Colin (Hg., 1997): The Dating of Beowulf. Toronto. Clark, David (Hg., 2020): Beowulf in Contemporary Culture. Newcastle upon Tyne. Damico, Helen (1984): Beowulf’s Wealhtheow and the Valkyrie Tradition. Madison. Honegger, Thomas (2019): Introducing the Medieval Dragon. Cardiff. Irving, Edward B. (1997): Christian and Pagan Elements. In: A Beowulf Handbook, hg. v. Robert E. Bjork/John D. Niles. Lincoln. S. 175–192. Kuhn, Sherman M. (2018): Old English Aglæ¯ca – Middle Irish Oclacw. In: Linguistic Method. Essays in Honor of Herbert Penzl, hg. v. Gerald F. Carr/Irmengard Rauch. Berlin/Boston. S. 213–230. Liuzza, Roy M. (2000): Introduction. In: Beowulf. A New Verse Translation, hg. v. Roy M. Liuzza. Peterborough, Ontario. S. 11–48. Magennis, Hugh (2010): Germanic Legend and Old English Heroic Poetry. In: A Companion to Medieval Poetry, hg. v. Corinne Saunders. Malden. S. 85–100. Murray, Alexander Callander (1997): Beowulf, the Danish Invasions, and Royal Genealogy. In: The Dating of Beowulf, hg. v. Colin Chase. Toronto. S. 101–111. Remein, Daniel C./Erica Weaver (Hg., 2019): Dating Beowulf. Studies in Intimacy. Manchester. Scragg, Donald (2013): The Nature of Old English Verse. In: The Cambridge Companion to Old English Literature, hg. v. Malcolm Godden/Michael Lapidge. Cambridge. S. 50–65. Tolkien, J. R. R. (2006): Beowulf. The Monsters and the Critics. In: The Monsters and the Critics and Other Essays, hg. v. Christopher Tolkien. London. S. 5–48.

6. „Buch der Knige“ und iranisches Nationalepos Ferdousis Schahname von Bianca Devos berblick

A

bu ’l-Qasem Ferdousis Schahname („Buch der Knige“) beschreibt in ca. 50 000 Doppelversen die iranische Geschichte und Kultur von der Erschaffung der Welt bis zur Ankunft des Islams im 7. Jh. n. Chr. Der Text ist eine Chronik des iranischen Knigtums und gleichzeitig das wichtigste Heldenepos der persischen Literatur. Es entstand Ende des 10. Jh., einer Zeit der persischen Renaissance im Osten des islamischen

Reichs. Ferdousi trug mit seinem Werk dazu bei, das Persische als Literatursprache zu etablieren und die vorislamischen Mythen und Legenden vor dem Vergessen zu bewahren. ber Jahrhunderte in prachtvollen Manuskripten und mndlichen Erzhlungen weitergegeben, gilt das Schahname als das Nationalepos Irans und wirkt darber hinaus in der gesamten persophonen Welt bis heute identittsstiftend.

642

Schlacht bei Nehavand; islamische Eroberung Irans durch die Araber

940

Geburt Ferdousis

998

Thronbesteigung des Ghaznaviden Sultan Mahmud

1010

Fertigstellung des Schahnames

1217

Entstehung des ‚Florenz-Manuskripts‘

1934

Tausendjahrfeier Ferdousis in Iran

1. Entstehung und berlieferung Das Schahname gilt als Hhepunkt der persischen Literatur und zugleich als Meisterwerk der Weltliteratur. Der Dichter Abu ’l-Qasem Ferdousi (940–1019/20) aus dem nordostiranischen Tus arbeitete mehr als 30 Jahre an diesem monumentalen Versepos, das die Geschichte der iranischen Knige vom Anfang der Welt bis zum Tod des letzten Sasanidenherrschers, Yazdegerds III., infolge der Niederlage gegen die muslimischen Araber im 7. Jh. n. Chr. erzhlt. Im Jahr 1010 n. Chr. – mehr als dreihundert Jahre nach der islamischen Eroberung Irans – beendete Ferdousi sein Werk und hielt darin die Geschichte des iranischen Knigtums ebenso fest wie die vorislamischen Mythen und Legenden seines Volkes. Gleichzeitig schuf er mit dem

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6. Entstehungskontext

Biographie des Dichters

Quellen

Handschriften

Ferdousis Schahname

Schahname die Grundlage dafr, dass sich das nach der Islamisierung Irans zugunsten des Arabischen zurckgedrngte Persische als islamische Literatursprache etablieren konnte. Das Schahname entstand zu einer Zeit, als die persische Sprache und Kultur im Osten des islamischen Reichs eine Renaissance erlebten. Seit dem 9. Jh. regierten lokale Frsten an der Peripherie des riesigen Abbasidenreichs faktisch autonom und nur noch nominell als Stellvertreter des Kalifen in Bagdad. Ihrer Emanzipation verliehen sie insbesondere durch Kulturpatronage Ausdruck. So auch die Samaniden, zu deren Herrschaftszeit Ferdousi sein Werk begann. In dieser entscheidenden Phase des Wiedererwachens iranischer Kultur versammelte er im Schahname Mythen, Vorstellungen und Figuren aus der alten iranischen Religion, dem Zoroastrismus. Islamisches kommt kaum vor. Dennoch richtet sich das Schahname an ein muslimisches Publikum und enthlt daher nichts, was nicht mit dem Islam vereinbar wre. In den folgenden Jahrhunderten faszinierte und begeisterte das Epos Herrscher und Volk gleichermaßen; es genießt bis heute große Beliebtheit in der gesamten persophonen Welt. Der vollstndige Name des Dichters ist ebenso unsicher wie seine genauen Lebensdaten. Er stammte aus einer Familie der alten iranischen Aristokratie (dehqan), die nach dem Zusammenbruch des Sasanidenreichs ihre frhere privilegierte Stellung weitgehend eingebßt hatte, als mittlerweile muslimischer Landadel jedoch auf ihren Besitzungen die vorislamische Tradition bewahrt hatte. Ferdousi gehrte nicht zu den Hofdichtern, die als Panegyriker das dichterische Geschehen an den Frstenhfen dominierten. Dennoch war er auf der Suche nach herrscherlicher Patronage und Anerkennung. Als er sein Werk beendet hatte, hatte sich die politische Landschaft verndert und die iranischen Samaniden waren von den aus trkischen Militrsklaven hervorgegangenen Ghaznaviden abgelst worden. Ferdousi widmete daher sein Werk dem neuen Herrscher Sultan Mahmud, der es ihm jedoch nur mit einem Bruchteil der vereinbarten Summe entlohnte. Gekrnkt verschenkte der Dichter seinen Lohn und verfasste ein Schmhgedicht ber den Sultan. So besagen es zumindest die Legenden, die sich bald um das Leben des Dichters bildeten. Fr das Schahname bediente sich Ferdousi verschiedener Quellen. Er konnte aus einer reichen Tradition der altiranischen Knigsberlieferungen schpfen und ließ zudem Heldenerzhlungen aus einer auf ostiranische Sagen zurckgehenden berlieferung, dem sog. Sistan-Zyklus, einfließen. Neben mndlichen Quellen griff er auf schriftliche Vorlagen zurck. Unter samanidischer Frderung war eine rege historiographische Ttigkeit entstanden, die auch ‚Knigsbcher‘ in Prosa sowie in Versform umfasste. Aus einem solchen Versepos, das aufgrund der Ermordung seines Schpfers, des Dichters Daqiqi, unvollendet blieb, bernahm Ferdousi etwa 1000 Verse. Auch wenn das Schahname im Laufe der Jahrhunderte außerordentliche Beliebtheit genoss, so finden sich aus den ersten zwei Jahrhunderten nach sei-

2. Formale Aspekte

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nem Entstehen nur verstreute Hinweise auf seine Existenz. Die frhesten erhaltenen Handschriften stammen aus dem 13. Jh.: das erst in den 1970er Jahren entdeckte ‚Florenz-Manuskript‘, das auf das Jahr 1217 datiert wird und lediglich Bruchstcke des Werks umfasst, und die erste vollstndige Fassung aus dem Jahr 1276, die sich heute in der British Library in London befindet (Melville 2011, 11–14). Es existieren Hunderte von teils prachtvoll illustrierten Manuskripten, deren Text und Anzahl von Versen jedoch aufgrund von nderungen und Interpolationen der Schreiber stark variieren.

2. Formale Aspekte Mit seinen mehr als 50 000 Doppelversen gilt das Schahname als eines der lngsten Gedichte eines einzelnen Dichters. Grundstzlich als Chronik der iranischen Knige verstanden, folgt die Struktur des Schahname in modernen Editionen der Herrschaftsabfolge von 50 Knigen, denen Abschnitte von sehr unterschiedlicher Lnge gewidmet sind. Darin eingefgt sind von den Herrschern unabhngige Erzhlungen in zahlreichen Episoden. Da die gewaltige Stoffmenge durch Kompilation verschiedener Quellen entstand, ist sie inhaltlich nicht frei von Widersprchen. So haben einzelne Teile des Werks unterschiedlichen Charakter, aber auch die Darstellung einzelner Figuren kann in sich selbst ambivalent erscheinen.

Einteilung

Stichwort

Persische Metrik Die vorherrschende Form des Epos in der klassischen persischen Literatur ist die der Verserzhlung. Sie umfasst erzhlerische Gedichte mit legendrem und heroischem Inhalt in Form des masnavis. Dessen Reimschema verbindet die Verse durch einen Reim, der sich mit jedem neuen Doppelvers (beit) ndert (aa, bb, cc). Dadurch eignet sich die Gedichtform des masnavis besonders gut fr lange epische Gedichte. Aufgrund arabischer Einflsse in der frhen Entwicklung des Neupersischen sind seine Metren quantitativ, also durch die Anzahl und Lnge der Silben bestimmt. Das fr die Epik charakteristische Metrum motaqareb ist sehr rhythmisch und erleichtert den mndlichen Vortrag. Darin umfasst jeder Halbvers (mesra‘) elf Silben, gegliedert in drei Versfße mit den Silben kurz – lang – lang und einen abschließenden Versfuß mit den Silben kurz – lang: X——|X——|X——|X— X——|X——|X——|X— Das Schahname ist das prominenteste Beispiel der persischen Versepik.

Im durchgngig gleichbleibenden Metrum motaqareb verfasst, ist das Schahname durch seine einfache Sprache gekennzeichnet. Als großes Verdienst Ferdousis gilt es, den umfangreichen arabischen Wortschatz, der nach der arabischen Eroberung Eingang ins Neupersische gefunden hatte, auf ein

Versmaß, Sprache, Stil

74

6.

Ferdousis Schahname

Minimum reduziert und mit dieser Kunstsprache eine wichtige Grundlage fr das berleben des Persischen geschaffen zu haben. Die einfache Diktion sowie die repetitiven, formelhaften Elemente erleichtern das Memorieren langer Textpassagen. Mit seinem schlichten Duktus beweist Ferdousi sein dichterisches Knnen. Es gelingt ihm, in einfachen, kurzen Stzen komplexe Charaktere realistisch zu zeichnen oder Schlachten lebhaft zu schildern, ohne dabei auf die fr das Epos typischen bertreibungen zu verzichten. Metaphern setzt er sparsam ein, die Ereignisse schildert er so, dass die Handlung zgig voranschreitet. Dramatische Effekte erzeugt er oft durch Dialoge, die durchaus argumentativen Charakter haben. Im Gegensatz dazu stehen die im Werk ebenfalls enthaltenen langen, moralisch-lehrreichen Passagen, insbesondere in den Briefen und Reden. Wortreich ausgefhrt enthalten sie viele Parabeln und moralische Leitsprche. Neben Naturbeschreibungen, v.a. von Sonnenaufgngen, sind auch philosophische berlegungen recht zahlreich. Bisweilen zeigen diese subjektiven Reflexionen, die zu einer wichtigen Quelle bei der Rekonstruktion der Dichterbiographie wurden, beachtliche lyrische Qualitten Ferdousis, etwa in der Elegie auf den Tod seines Sohns. Daneben beweist er auch in den Liebesepisoden sein Talent als Lyriker (Nldeke 1920, 63–66). Das Schahname ist formal betrachtet also kein Heldenepos in Reinform, sondern vereint amourse, lehrhaft-erbauliche, tragische und mystische Elemente mit den heroischen.

3. Inhalt Aufbau

Das mythische Zeitalter

In der Prambel preist Ferdousi Gott und dessen Weisheit, den Propheten Mohammad sowie den ghaznavidischen Herrscher und potenziellen Patron Sultan Mahmud und verweist auch auf die von ihm verwendeten Quellen, darunter die Verse Daqiqis. Die anschließende Erzhlung wird in einen mythischen, einen heroischen und einen (quasi-)historischen Teil gegliedert, wobei diese Einteilung rein inhaltlichen Aspekten folgt und sich als weitgehend akzeptierte Konvention etabliert hat. Der erste und krzeste Teil erzhlt die mythische Urzeit der Menschheit entsprechend der zoroastrischen Kosmogonie; islamische Vorstellungen spielen keine Rolle. In dem sich gleich zu Beginn entspinnenden Kampf zwischen Gut und Bse ist das bernatrliche vorherrschend und es tauchen zahlreiche Gestalten aus dem heiligen Buch der Zoroastrier, dem Avesta, auf. So auch Gayumart, der erste Knig der Welt und Begrnder der Pischdadian-Dynastie, dessen Sohn Siyamak von Ahriman, dem Teufel, gettet wird. Den Kampf gegen die Dmonen (div) setzt Gayumarts Enkel Huschang als zweiter Knig fort. Er entdeckt auch das Feuer. Der bedeutendste Herrscher des mythischen Zeitalters ist Jamschid, der whrend seiner 700-jhrigen Herrschaft den Menschen zivilisatorische und kulturelle Fertigkeiten vermittelt, letztlich aber auf-

3. Inhalt

grund seiner Hybris den ererbten gttlichen Gnadenglanz (farr) und damit seine Herrschaftslegitimitt verliert und gestrzt wird. Es folgt die tausend Jahre dauernde, grausame Fremdherrschaft Zahhaks, eines arabischstmmigen Usurpators, der sich einst mit Ahriman verbndete. Aus seinen Schultern wachsen zwei Schlangen, deren Hunger nach Menschenhirn tglich zwei iranischen Jnglingen das Leben kostet. Infolge eines vom Schmied Kaveh initiierten Volksaufstands besiegt Fereidun, ein Spross der frheren Knigsfamilie, Zahhak und kettet ihn im hchsten Berg Irans, dem erloschenen Vulkan Damavand, fest. Fereidun herrscht weise und gerecht ber die Welt, teilt sein Reich aber unter seinen drei Shnen auf: Salm bekommt den Westen, d.h. Griechenland und Byzanz, zugewiesen, Tur den Osten, also Zentralasien und China, genannt Turan. Dem jngsten Sohn Iraj fllt der begehrteste Teil in der Mitte zu, nmlich Iran, was zum Neid der Brder fhrt, die ihn tten. Die aus dem Brudermord resultierende Feindschaft zwischen Iran und Turan wird eines der bestimmenden Themen der nachfolgenden Erzhlungen. Iran erlebt eine lange und gerechte Herrschaft unter Knig Manuchehr, Irajs Enkel. Hier wird der bergang zum heroischen Teil des Schahname gesehen, da whrend seiner Herrschaft erstmals die Frsten von Sistan auftreten, einer im Sdwesten des heutigen Afghanistans verorteten Region. Dem dortigen quasi-autonomen Herrscherhaus der Nariman entstammen die Helden, die den iranischen Knigen in den folgenden Jahrhunderten als loyale Beschtzer zur Seite stehen. Gleichzeitig werden mit der Einfhrung dieses zweiten Machtzentrums die Geschichten komplexer und bringen wiederkehrende Spannungen im Verhltnis der Helden zu den Knigen zum Ausdruck (Davis 2011, 25f.). Zunchst tritt der Held Sam auf. Als sein Sohn Zal mit weißen Haaren zur Welt kommt, setzt er das Kind in den Bergen aus, wo es von dem sagenhaften Vogel Simorgh entdeckt und großgezogen wird. Zal heiratet Rudabe, eine Knigstocher aus Kabul, die den gemeinsamen Sohn Rostam zur Welt bringt. Rostam ist der herausragende Held im Schahname. Seine berhmtesten Heldentaten ereignen sich whrend der Herrschaftszeit der KayanidenDynastie. Deren prominenteste Herrscher sind Kay Kavus, Kay Khosrou und Lohrasp, unter dem der Prophet Zarathustra erstmals auftritt. Geprgt ist der heroische Teil von Beschreibungen von Kampf, Jagd und Gelage. In die epischen Kampfbeschreibungen der Auseinandersetzungen mit dem Erzfeind Turan und dessen Knig Afrasyab eingebettet finden sich auch Liebesgeschichten, wie die des iranischen Helden Bizhan und der turanischen Prinzessin Manizhe. Die Unabhngigkeit Sistans endet, als der kayanidische Knig Bahman seinen von Rostam getteten Vater Esfandiyar rcht, indem er seinerseits Rostams Sohn Faramarz ttet. Rostam selbst war bereits zuvor einer tdlichen Intrige seines Halbbruders Schaghad zum Opfer gefallen. Im dritten Teil lassen sich den Figuren und Ereignissen oft historische Entsprechungen zuordnen. Beginnend mit der Geschichte Alexanders, der verklrt

75

Das heroische Zeitalter

Das historische Zeitalter

76

6.

Ferdousis Schahname

als halbiranischer Knigssohn namens Eskandar wunderwirkend und weise das Reich unter seine Herrschaft bringt, werden den vom 3. Jh. v. Chr. bis ins 3. Jh. n. Chr. herrschenden Arsakiden nur wenige Verse gewidmet. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Sasanidenknige, etwa Bahram Gur (reg. 420/21–438/39) und seine Abenteuer oder Khosrou Anuschirvan (reg. 531–579) als Prototyp des gerechten Herrschers. Auch der Ton in diesem immerhin ein Drittel des Werks umfassenden Teil ndert sich. Die epische Erzhlhaltung der vorangegangenen Teile wird nun weitgehend abgelst von lehrhaften Reden, gefhlsbetonten, teils amsanten Erzhlungen mit pathetischen Elementen und detaillierten Beschreibungen. So findet sich hier auch die berhmte Liebesgeschichte von Khosrou und Schirin. Das tragische Ende des persischen Reichs findet seinen Ausdruck im elegischen Brief des iranischen Kommandeurs an seinen Bruder, dem er – kurz vor der vernichtenden Niederlage gegen die muslimischen Araber – die Schrecken der bevorstehenden neuen Herrschaft prophezeit. Hauptfiguren Rostam: Frst aus Sistan, grßter Held des Schahname. Von riesenhafter Statur und außergewhnlicher Strke dient er whrend seines unnatrlich langen Lebens sieben iranischen Knigen. Gewappnet mit einer wundersam schtzenden ‚Rstung‘ aus Leopardenfell, meisterhaft im Beherrschen von Wurfseil und Keule. Nutzt die List, wo schiere Kraft nicht ausreicht, um den Gegner zu bezwingen. Ttet unwissentlich seinen Sohn Sohrab auf dem Schlachtfeld. Esfandiyar: Sohn des iranischen Knigs Goschtasp und einer Prinzessin aus Rum (Byzanz). Muss – in Analogie zu Rostam – sieben Heldentaten vollbringen. Glhender Anhnger der neu verkndeten Religion Zarathustras. Tragisches Ende im Kampf gegen Rostam. Siyavasch: Sohn des iranischen Knigs Kavus. Schtzling Rostams, im Gegensatz zu ihm aber ein in sich gekehrter Held, oft zweifelnd und zgernd. Widersteht den Verfhrungsversuchen seiner Stiefmutter Sudabe, wird von ihr daraufhin der Vergewaltigung bezichtigt, besteht aber die Feuerprobe zum Beweis seiner Unschuld. Geht nach dem Zerwrfnis mit dem Vater ins Exil nach Turan, wo er einen tragischen Tod findet. Verkrpert das iranische Ideal des unschuldig Getteten. Bahram Chubin: Sasanidischer Kommandeur und großer Patriot, rebelliert gegen Knig Hormozd und dessen Nachfolger Khosrou Parviz und beansprucht die Herrschaft fr sich. Bruder von Gordiye, einer amazonenhaft erscheinenden Frau mit kmpferischem Geist. Psychologisch komplex und genau gezeichnet. Lsst sich einer historischen Person der Sasanidenzeit zuordnen.

4. Helden Heldenfiguren

Angesichts des gewaltigen Umfangs berrascht es nicht, dass das Schahname von zahlreichen Helden berichtet. Sie dominieren das heroische Zeitalter und treten dagegen in den weniger heldenepisch geprgten Teilen in den

5. Rezeption

Hintergrund. Die Heldenerzhlungen sind gekennzeichnet durch den fortwhrenden Kampf zwischen Gut und Bse, oft in Form der Auseinandersetzungen zwischen Iran und Turan, weshalb das Epos spannend erscheint. Zwar bevlkern bernatrliche Wesen, allen voran Dmonen, das Schahname, doch seine Helden sind Menschen, die trotz ihrer bermenschlichen Krfte natrlichen Bedrfnissen wie Hunger, Durst und Mdigkeit unterworfen sind. Der grßte Held des Schahname ist Rostam, dem der Dichter eine eingehende Charakterisierung zukommen lsst. Der bestndige Zweiklang von Kampf und Gelage (razm-o bazm) durchzieht als Motiv nicht nur die Geschichten ber ihn, sondern als quasi ‚ritterliches‘ Ideal auch die anderen Heldensagen. Rostam gilt als iranischer Held par excellence. Sein Charakter ist durchaus ambivalent: Einerseits zeigt er sich loyal, aufrichtig und vernnftig, andererseits eigenntzig, hinterlistig und cholerisch. Diese charakterliche Komplexitt mit ihren archaischen Elementen ist bei Rostam ber seine auslndische Mutter und deren Abstammung vom dmonischen Zahhak bereits genealogisch angelegt und wird auf verschiedene, teils sehr alte Erzhltraditionen zurckgefhrt, die Ferdousi in diesem Helden vereint (Davis 2006, 56f.). Das Verhltnis zwischen Knigen und den ihnen dienenden Helden ist nicht frei von Konflikten. Daneben kehrt in den Heldenerzhlungen das Motiv der Vater-Sohn-Beziehung wieder, so auch in drei der bekanntesten und tragischsten Geschichten des Schahname: Rostam ttet unwissentlich seinen eigenen Sohn Sohrab auf dem Schlachtfeld, der vermeintlich unbesiegbare Held und Kronprinz Esfandiyar bezahlt seinen bedingungslosen Gehorsam gegenber seinem bswilligen Vater mit dem Leben, und Prinz Siyavasch verlsst enttuscht ber das mangelnde Vertrauen seines Vaters den iranischen Hof und findet durch Intrigen seinen Tod im turanischen Exil. Ferdousi stellt seine Heldenfiguren selten stereotyp dar, sondern zeichnet sie psychologisch differenziert und realistisch, wodurch er ihnen eine eigene, vielschichtige Persnlichkeit verleiht. Solche Innenansichten entwickelt der Dichter insbesondere dort, wo die Helden sprechen. Er fhlt mit ihnen, bringt ihnen Sympathien entgegen und beweint ihren Tod. Die emotionale Intensitt seiner Beschreibung lsst auch den Leser am Schicksal der Helden Anteil nehmen.

77

Rostam

Vater-SohnBeziehung

Konstruktion der Helden

5. Rezeption ber die Jahrhunderte wurde das Schahname nicht nur im gesamten iranischen Kulturraum (d.h. neben Iran v.a. in Afghanistan, Tadschikistan und weiteren zentralasiatischen Gebieten), sondern darber hinaus weltweit rezipiert. Da es kein reines Epos ist, ist auch seine Rezeption bis in die Gegenwart vielfltig. Seine Geschichten und einzigartige poetische Sprache inspirierten

Imitationen

78

6.

Ferdousis Schahname

nachfolgende Dichter, Stoffe des Schahnames in eigenen Werken, gleichsam als Spin-offs, zu bearbeiten. So entstand ein ganzer Kreis von Epen zu den Abenteuern verschiedener Mitglieder aus Sistans Heldenfamilie, beispielweise das Borzuname zu Borzu, Sohn von Sohrab und somit Enkel Rostams. ber Imitationen des Schahname hinaus entwickelten sich daraus bald neue Genres, weg vom Heldenepos hin etwa zu einer Epik, deren Sujet die Liebe ist. Abb. 5 Sadiqi Beg, Zal und Rudabe. Shahnama of Ismail II, Qazvin 1576 (Kopenhagen, Davids Samling, Inv. no. 99/2006)

5. Rezeption

Als Chronik des iranischen Knigtums gepaart mit ethisch-didaktisch Elementen in der Tradition persischer Weisheits- und Frstenspiegelliteratur bot sich das Schahname fr die hfische Kunstpatronage an. Insbesondere Herrscher nicht-iranischer Herkunft ließen zur eigenen Legitimierung prachtvolle Handschriften anfertigen, oft versehen mit erlesenen Miniaturmalereien (van den Berg/Melville 2018, 2f.). Dem timuridischen Prinzen Baysonghor oder dem Safaviden Schah Tahmasb sind herausragende Beispiele solch prchtig illustrierter Manuskripte zu verdanken. Daneben war es die mndliche Weitergabe der professionellen Geschichtenerzhler (naqqal) in den Kaffeehusern, die die Abenteuer der Helden des Schahname fest in der iranischen Folklore verankerte. Als Sammlung iranischer Kultur und vorislamischer Mythen kam dem Schahname mit dem aufkommenden Nationalismus in der Moderne die Rolle des Nationalepos zu. So hielt der Pahlavistaat unter Reza Schah im Jahr 1934 die Jahrtausendfeier des (damals so angenommenen) Geburtstags Ferdousis ab. Dieses Großereignis regte die akademische Auseinandersetzung mit dem Werk weiter an und resultierte in wichtigen wissenschaftlichen Publikationen. Gleichzeitig wurde das Schahname nicht mehr als nationale Historiographie, sondern als literarisches Werk begriffen und durch ein westliches, wissenschaftsbasiertes Geschichtsnarrativ ersetzt (Ansari 2012, 104f.). In Iran sind die Geschichten und Helden des Schahname auch heute noch omniprsent. Es findet sich kaum jemand, der keine Verse daraus zitieren kann; viele Sinnsprche haben zudem als Sprichwrter Eingang in den Alltag gefunden. Die Geschichten des Schahname werden in Kinderbchern reich illustriert und in einfacher Prosa neuen Generationen nacherzhlt. So entfaltet das Schahname seine starke identittsstiftende Wirkung auch heute noch in Iran und darber hinaus in der iranischen Diaspora, wo kreative Adaptionen im Bereich der Unterhaltungskultur teils beachtliche Erfolge feiern konnten. Der Fokus der modernen Rezeption liegt dabei nahezu ausschließlich auf den Anfangsteilen, d.h. den Mythen und Heldensagen. Der auf zahlreichen internationalen Festivals ausgezeichnete Animationsfilm The Last Fiction (2018) von Ashkan Rahgozar etwa erzhlt die Geschichte um Zahhak und ging 2020 als erster iranischer Beitrag im Bereich Animation ins Rennen um den Oscar. Neben dem Film entstanden Rahgozars erfolgreiche Graphic Novels, darunter die vierbndige Serie Jamshid. Ebenfalls weltweit erfolgreich ist die Adaption der Geschichte von Zal und Rudabe als modernes Schattenspiel vom Filmemacher und Graphiker Hamid Rahmanian (Feathers of Fire, 2016), der in den n USA lebt und vorwiegend ein westliches Publikum anspricht.

79 Illustrierte Manuskripte

Nationalepos

Moderne Unterhaltungskultur

80

6.

Ferdousis Schahname Auf einen Blick

Indem Ferdousi alte iranische Legenden und Mythen in einfacher poetischer Sprache meisterhaft prsentierte, bewahrte er einen wichtigen Teil vorislamischer Kultur bis in die islamische Zeit hinein. Ihm kommt zudem das Verdienst zu, das berleben der Sprache in einer kritischen Phase des bergangs vom Mittel- ins Neupersische gegenber der Dominanz des Arabischen gesichert zu haben. Aus schriftlichen und mndlichen Quellen trug er eine immense Stoffflle in einem Werk zusammen, das nicht nur Heldenepos ist, sondern unterschiedliche Facetten aufweist. Neben heroischen Geschichten vereint es amourse, tragische, ethisch-didaktische und historiographische Elemente. Das Schahname gilt auch deshalb als ein Hhepunkt der persischen Literaturgeschichte, weil es nachfolgende Dichter inspirierte, die dann neue Genres entwickelten. In den 50 000 Doppelversen taucht eine Vielzahl von Figuren auf. Von allein 50 Herrschern berichtet das Schahname in seiner Funktion als Chronik des iranischen Knigtums. Daneben dominieren zahlreiche Helden die Erzhlung. Insbesondere die Charaktere der Hauptfiguren zeichnet der Dichter einfhlsam und mit Voranschreiten des Gedichts auch zunehmend komplex. Der Vielschichtigkeit des Werks entspricht die Vielfalt seiner Rezeption: als Heldenepos mit unterhaltendem Charakter, als ethisch-moralisches Handbuch nicht nur fr Herrscher, als Geschichtsschreibung oder als nationale Identifikationsepik. Sie wandelte sich im Laufe der Zeit und war und ist je nach Rezipientenkreis unterschiedlich. Noch heute ist das Schahname ein lebendiger Teil der iranischen Kultur und Identitt.

Literaturempfehlungen Abu ’l-Qasem Ferdousi (1988–2008): Shahname, hg. v. Djalal Khaleghi-Motlaq. New York. Heute die Standardedition des Schahname in acht Bnden, hat die sog. Moskau-Edition von E. Berthels (1960–1971) abgelst. Abu ’l-Qasem Ferdousi (2016): Shahnameh. The Persian Book of Kings, bers. v. Dick Davis. New York. Exzellente bersetzung ins Englische, Prosa gemischt mit Versen. Abu ’l-Qasem Ferdousi: Schahname. Das Buch der Knige (2018), hg. v. Nosratollah Rastegar, bers. v. Robert Adam Pollak. 4 Bde. Berlin. Erste deutsche Versbersetzung des historischen Teils des Schahnames, ergnzt die unvollstndigen Versbersetzungen Adolf Friedrich Graf Schacks und Friedrich Rckerts aus dem 19. Jh. Nldeke, Theodor (1920): Das iranische Nationalepos. Berlin. Ausfhrliche Darstellung des Werks; Nldekes Ausfhrungen besitzen noch heute weitgehend Gltigkeit. Davis, Dick (2006): Epic & Sedition. The Case of Ferdowsi’s Shahnameh. Washington, DC. Arbeitet die Hauptthemen und Motive des Werks heraus und interpretiert sie. Dabashi, Hamid (2019): The Shahnameh. The Persian Epic as World Literature. New York. Als Einfhrung fr nicht-iranische Leserinnen und Leser konzipiert, bespricht das Werk vor dem Hintergrund des Konzepts von Weltliteratur. Khaleghi-Motlagh, Djalal (1999): Ferdowsi, Abu ’l-Qa¯sem. i. Life. In: Encyclopaedia Iranica IX, Fasc. 5. S. 514–523 [https://www.iranicaonline.org/articles/ferdowsi-i] (Zugriff: 8. Juli 2022). berblicksartikel, bietet ber die Biographie des Dichters hinaus eine konzise Einfhrung in das Schahname als literarisches Werk.

Weitere Literatur

Weitere Literatur Ansari, Ali (2012): The Politics of Nationalism in Modern Iran. Cambridge. Brgel, Johann C. (1990): Die persische Epik. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 5: Orientalisches Mittelalter, hg. v. Klaus von See u.a. Wiebelsheim. S. 301–318. Davis, Dick (2011): The ‚Shahnameh‘ as World Literature. In: Epic of the Persian Kings. The Art of Ferdowsi’s Shahnameh, hg. v. Barbara Brend/Charles P. Melville. London. S. 23–30. Hanaway, William L. (1988): Epic Poetry. In: Persian Literature, hg. v. Ehsan Yarshater. Albany. S. 96–108. Melville, Charles P. (2011): The ‚Shahnameh‘ in Historical Context. In: Epic of the Persian Kings. The Art of Ferdowsi’s Shahnameh, hg. v. Barbara Brend/Charles P. Melville. London. S. 3–15. Van den Berg, Gabrielle/Melville, Charles P. (Hg., 2018): The Reception of the Shahnama. Leiden/Boston.

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7. Erbfolgekrieg, kosmisches Spiel und Belehrung Das Maha¯bha¯rata von Maximilian Mehner berblick

A

ls Maha¯bha¯rata ließe sich der Stoff der „großen [Erzhlung] von den Nachfahren Bharatas“ bezeichnen, der bis in die Gegenwart immer wieder gattungs-, sprachund medienbergreifend bearbeitet wurde. In dieser Breite erfreut er sich besonders auf dem indischen Subkontinent, aber auch in Teilen Sdostasiens großer Popularitt. Es ist daher keine geringe Einschrnkung, wenn sich diese Einfhrung auf den Sanskrit-Text gleichen Namens konzentriert; gleichwohl ist sie sinnvoll, da dieser nicht nur als – hufig mittelbare – Quelle jener Bearbeitungen gelten kann, sondern die Grundlage zur Erforschung der Entstehungs- und berlieferungsgeschichte des Stoffes bildet. Dieses

Maha¯bha¯rata zhlt die westliche Forschung aufgrund seiner Entstehungszeit, Sprache und Rezeption zusammen mit dem Ra¯ma¯yana zu den Sanskrit-Epen, whrend die ˙ einheimische Systematik die beiden Werke je verschiedenen Gattungen zuordnet. Die Haupthandlung des Maha¯bha¯rata, die von zwei ineinander verschachtelten Erzhlsituationen gerahmt und von zahlreichen Exkursen unterbrochen wird, entwickelt sich am Erbfolgekonflikt zwischen Pa¯ndavas und ˙˙ Kauravas. Dieser gipfelt in einer 18 Tage whrenden Schlacht, an der alle Vlker der dem Epos bekannten Welt teilnehmen; daraus folgt nicht nur der Untergang der Dynastie, sondern das Ende einer Epoche.

ca. 600–400 v. Chr. Erste Hinweise auf Titel des Epos und Namen der Protagonisten 1./2. Jh.

Entstehung des ‚Spitzer-Manuskripts‘ mit Liste der Bcher (parvan)

ca. 1000

Teilweise oder vollstndige bersetzung ins Altjavanische

12./13. Jh.

Entstehung der ltesten von der kritischen Edition benutzten Handschrift

ca. 1585

bersetzung ins Persische unter dem Mogul-Herrscher Akbar (1556–1605)

1933–1972

Veranstaltung der ersten kritischen Edition

1. Entstehung und berlieferung Entstehung

Die Entstehungsgeschichte des Maha¯bha¯rata ist mit erheblichen Unsicherheiten behaftet, da oft nicht sicher zu entscheiden ist, ob sich hinter scheinbar archaischen Elementen berreste lterer Vorlufer oder bloße An-

2. Formale Aspekte

spielungen auf im kulturellen Gedchtnis durch Gesellschaftsordnung und Ritual verankerte Bezugspunkte verbergen. Die Entstehung des Textes ist daher Gegenstand zahlreicher Streitschriften. Die frhesten, externen Hinweise sind vage Namen: Zwei sptvedische Texte (um 600 v. Chr.) erwhnen ein Bha¯rata und ein Maha¯bha¯rata, die handschriftlich nicht erhalten sind; der Grammatiker Pa¯nini (etwa 400 v. Chr.) lehrt die Wortbildung der Namen dreier Protago˙ nisten und des Titels. Erst in den nachchristlichen Jahrhunderten findet sich im sog. ‚Spitzer-Manuskript‘ aus Zentralasien eine Art Inhaltsverzeichnis, das den bekannten Text umreißt. Die textinterne Evidenz zur Datierung sttzt sich v.a. auf ideengeschichtliche Anknpfungspunkte und Innovationen, Kulturtechniken wie Schrift, Genealogien und Vlkernamen. Diese hat Witzel (2005) in einer umfassenden Bestandsaufnahme zusammengestellt und konstatiert, dass der Text die historischen Entwicklungen bis etwa 150 v. Chr. dokumentiere. Er und die meisten anderen Forscher schließen daraus und aus dem teils inkonsistenten Aufbau, dass die Haupthandlung auf eine mindestens bis ins 4. vorchristliche Jh. zurckreichende, mndliche berlieferung von herrschaftsnahen Barden zurckgehe, die eine schriftliche Fixierung und mehrere mit mythologischen und didaktischen Exkursen anreichernde Redaktionen aus dem brahmanischen Milieu erfahren habe; danach habe das Werk nur noch geringe Zustze erhalten. In den Jahren 1933–1972 veranstaltete das Bhandarkar Oriental Research Institute in Pune eine kritische Ausgabe des Maha¯bha¯rata und des Harivam´sa, ˙ grßtenteils auf Grundlage von Handschriften aus dem 16. Jh. und aus spterer Zeit, die aus allen indischen Schriftkreisen ausgewhlt wurden. Die gelehrten Einschtzungen zum Status dieses Textes gehen weit auseinander: Produziert die Edition einen ahistorischen Hybridtext oder belegt sie, dass es einen gemeinsamen Archetyp gegeben hat? Obwohl sich an der Systematik der Erschließung berechtigte Kritik ben lsst, liefert die kritische Edition bis heute die beste Textgrundlage zur Erforschung des Maha¯bha¯rata. Erst durch die globale Verfgbarkeit des Epos wurden differenziertere Debatten ber die Entstehungsgeschichte mglich.

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Edition

2. Formale Aspekte Das Maha¯bha¯rata firmiert mit 160 000 Vers- und 1100 Prosazeilen der kritischen Ausgabe als lngste epische Dichtung des Altertums, zu denen die Tradition auch den Anhang Harivam´sa mit etwa 32 000 Verszeilen rechnet. ˙ Zum Vergleich: Das Ra¯ma¯yana, die zweite epische Sanskritdichtung, hat etwa ˙ 50 000 Verszeilen und wird im Maha¯bha¯rata als Untererzhlung zusammengefasst; Homers Ilias und Odyssee haben zusammen ca. 28 000 Verszeilen von durchschnittlich etwas geringerer Silbenzahl.

Umfang

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7. Sprache

Aufbau

Gattung

Das Maha¯bha¯rata

Sprachlich kann das sog. ‚Epische‘ Sanskrit des Maha¯bha¯rata und Ra¯ma¯yana eine gewisse Eigenstndigkeit beanspruchen. Die meisten Abwei˙ chungen von der vom Grammatiker Pa¯nini beschriebenen Sprache sind me˙ trisch motiviert; die fr das Klassische Sanskrit normativ geltende Formenbildung und Phonologie wird oft zugunsten der festgelegten Anzahl und Abfolge von kurzen und langen Silben (quantitierendes Versprinzip) verndert. Whrend einige Archaismen aus der lteren Sprache, dem formenreicheren Vedisch, gebraucht werden, folgt die Mehrzahl der Vernderungen den analogischen und sprachkonomischen Prinzipien, die sich im bergang von alt- zu den mittelindoarischen Sprachen beobachten lassen. Stilistisch zeichnet sich das Epische Sanskrit durch die außerhalb der Strophen angekndigten Sprecher und die hufige Verwendung von Anredeformen (Vokative wie bha¯rata „Nachkomme Bharatas!“ oder kaunteya „Sohn Kuntı¯s!“) aus. Das Epos erweckt den Eindruck, einer breiten Bevlkerungsschicht zugnglich zu sein, passend zu seinen Ursprngen und seiner stofflichen Verankerung im hfischen Milieu der Herrscherkaste (ksatriya) und seiner Verwendung als didak˙ tisches Werk fr die vom Veda-Studium Ausgeschlossenen, nmlich die niedrigste Kaste (s´u¯dra) und Frauen. Der Text des Maha¯bha¯rata verteilt sich sehr ungleichmßig ber seine 18 „Knoten“ (parvan) – ursprnglich bezogen auf die Segmente bildenden Verdickungen von Rohrpflanzen – genannten Bcher. Eingefhrt werden die Geschehnisse von zwei Rahmenerzhlungen, die zugleich auch metatextuelle Funktionen erfllen: Im ersten Rahmen gibt der Barde Ugras´ravas den brahmanischen Einsiedlern des Naimisa-Waldes whrend eines 12-jhrigen Opfers ˙ mehrere Zusammenfassungen des Epos (1,1–2), welche die Einteilung in Bcher und auch die als mndlich inszenierte berlieferung thematisieren: Demnach habe er die Erzhlung von Vais´ampa¯yana und dieser wiederum von ˙ Vya¯sa gehrt. Daran schließen sich etliche mythologische Exkurse an, die von der Frhzeit der Schpfung bis zu den berweltlichen Verwicklungen der letzten im Epos beschriebenen Generation reichen. Schließlich fordert das Oberhaupt der Einsiedler, S´aunaka, den Barden auf, die Geschichte noch einmal so zu erzhlen, wie er sie in den Pausen des Schlangenopfers Janamejayas von Vais´ampa¯yana gehrt habe – dies bildet den zweiten Rahmen. Von da an (1,55) ˙ tritt Vais´ampa¯yana als Erzhler auf. ˙ Im ersten Rahmen wird das Werk in die Tradition der mythologischen Erzhlungen (1,1.204: a¯khya¯na sowie der in 1,2.135 synonym dazu gebrauchte itiha¯sa) gestellt, die zusammen mit den alten Legendensammlungen (pura¯na) ˙ als frderlich fr die vedische Offenbarung gepriesen werden. Dass eine Sammlung solcher Erzhlungen aus alten Zeiten die vier vedischen Hymnensammlungen als „fnfter Veda“ (1,57.74) komplettiere, ist bereits aus lteren Quellen bekannt: Die vedischen Hymnen als mythologische Erzhlungen auszudeuten, war eine frhe Form der Veda-Exegese (aitiha¯sika). In einigen vedi-

3. Inhalt

85

schen Opferhandlungen sind Zeiten fr solche Erzhlungen vorgeschrieben, woran die Rahmenerzhlungen des Epos anknpfen, um sich in die Tradition dieses lteren itiha¯sa zu stellen. Spteren Heuristiken gilt das Maha¯bha¯rata als Musterbeispiel dieser Gattung, die in bersetzungen nicht selten einen Beigeschmack von Geschichtsschreibung erhlt. Dies trifft jedoch nur in sehr eingeschrnktem Sinne zu: Eine historische Dimension erhlt das Maha¯bha¯rata durch die zahlreichen Genealogien und Anklnge an die Lehre der zyklischen vier Zeitalter; dabei werden die geschilderten Ereignisse prophetisch warnend an den Beginn des kali-yuga („schlechtesten Zeitalters“) gerckt. Beide historisierenden Tendenzen sollten sich in den darauf aufbauenden Pura¯nas weiter ˙ ausdifferenzieren und durch die pan-indische Popularitt des Epos Einzug in den Wissenskanon finden. Fr unsere Begriffe ist itiha¯sa eher als ‚mythologische Chronik‘ zu fassen. Tatschlich bildet das Maha¯bha¯rata zusammen mit den Pura¯nas, die ebenfalls eine vedische Gattung namentlich beerben, die ˙ wichtigste Quelle zum Studium der hinduistischen Mythologie.

3. Inhalt Die Haupthandlung des Epos spielt im Doab, dem Schwemmland zwischen der Yamuna¯ und dem Ganges im nrdlichen Indien. Ihr Gegenstand ist der verworrene Erbfolgekonflikt zweier verfeindeter Familienclans, den Pa¯ndavas und den Kauravas. Dieser gipfelt in einer 18 Tage whrenden ˙˙ Schlacht, an der Vlker aus dem ganzen Subkontinent teilnehmen und in deren Zuge so viele Krieger fallen, dass nur ein Nebenzweig der Pa¯ndavas dynas˙˙ tisch bestehen bleibt. Die sorgfltig zeitgenssisch-politische und buddhistische Bezge meidende Fiktion spielt in einer lngst vergangenen, dem vedischen Opferzyklus folgenden Gesellschaft. Diese Inszenierung dient jedoch eher als nostalgische Reminiszenz, whrend neue weltanschauliche Ideale, allem voran dharma und bhakti („Gottesliebe“) beschworen werden.

Stichwort

Dharma Als Konzept, das soziale, religise und juristische Domnen in einzigartiger Weise umfasst, ist dharma einer der am schwersten zu bersetzenden Begriffe der indischen Geistesgeschichte. Zwar lassen sich fr die konkrete, kontextbezogene Verwendung oft gute Annherungen wie „Ordnung“, „Verdienst“ oder „Gesetz“ finden, aber stets ist sein identittsstiftender Charakter mitzudenken: Das durch Geburt erworbene Mandat fr die Realisierung des dharma unterscheidet den Hindu vom Fremden. Die systematische Ausweitung des dharma in den klassischen Lehrbchern der Brahmanen fllt etwa in die Entstehungszeit der Epen. Beide lassen sich als Versuch lesen, die Schlsselposition der brahmanischen Kaste und damit das Ka-

Plot

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7.

Das Maha¯bha¯rata stensystem berhaupt unter den vernderten Bedingungen imperialer Staatsgebilde und religiser Konkurrenz (Buddhismus und Jainismus) zu sichern. Als legitime Quellen dieses klassischen dharma gelten die vedische Offenbarung (s´ruti), die traditionelle berlieferung (smrti) und das Verhalten der Guten und Gelehrten, wo ˙ direkte Anweisungen fehlen (wobei ‚gut‘ und ‚gelehrt‘ nach den Maßstben der erstgenannten Quellen aufzufassen sind). Darin deutet sich schon das Nebeneinander transzendentaler und empirischer Charakteristika an: Der dharma brgt fr die Richtigkeit der Lebensfhrung, als wre er eine bergeordnete moralische Richtlinie. Er muss aber, um nicht verloren zu gehen, von zu ihm Berechtigten – und nur von diesen – in die Welt gebracht werden, als sei er eine flchtige Konvention. Das System der Kasten und Lebensstufen (varna-a¯s´rama-dharma) bildet dafr das ˙ multivalenten Katalog kasten-, geGrundgerst, innerhalb dessen es gilt, einen schlechts-, alters-, sippen- und ortsspezifischer Regeln sowie weniger gewichtige allgemeingltige Werte und Lizenzen fr Notflle auszulegen.

1. Buch: Erbkonflikt

2.–10. Buch: Krieg

Innerhalb der genannten Rahmenerzhlungen berichtet das „Buch von den Anfngen“ (1. Buch) zunchst die Familiengeschichte der Protagonisten: Bhı¯sma, der erste berlebende Sohn von S´amtanu und der Flussgttin Gan˙ga¯ ˙ ˙ verzichtet zugunsten der Wahlfrau seines Vaters – der von Fischern adoptierten Satyavatı¯ – auf seine Stammhalterschaft und Nachkommen. Da aber auch deren Shne ohne Nachkommen bleiben, zeugt der voreheliche Sohn Satyavatı¯s, Vya¯sa, diese stellvertretend mit den Frauen des verstorbenen Stammhalters Vicitravı¯rya. Der erste Sohn, Dhrtara¯stra, wird blind geboren, was ihn als ˙ ˙˙ Regent disqualifiziert, sodass der jngere Pa¯ndu ihn vertritt. Ungeklrt bleibt ˙˙ jedoch die weitere Erbfolge: Dhrtara¯stra hat 100 Shne – sie werden die Kaura˙ ˙˙ vas genannt –, deren erster Duryodhana ist. Pa¯ndu darf sich wegen eines ˙˙ Fluchs nicht geschlechtlich vergngen, doch seine Hauptfrau Kuntı¯ empfngt kraft eines Zauberspruchs von den Gttern Yudhisthira, Bhı¯ma und Arjuna ˙˙ und erlaubt auch der Nebenfrau Ma¯drı¯, auf diese Weise die Zwillinge Nakula und Sahadeva zu zeugen. Alle fnf heißen nach ihrem rechtlichen Vater Pa¯n˙ davas („Nachfahren Pa¯ndus“). Nach dem Tod Pa¯ndus verbringen die Shne ˙ ˙˙ ˙˙ beider Vter, also die Kauravas und die Pa¯ndavas, ihre Kindheit und Jugend ˙˙ am Hofe Dhrtara¯stras. Doch ihre Rivalitt eskaliert. Duryodhana will die Pa¯n˙ ˙˙ ˙ davas und Kuntı¯ mitsamt einem eigens dafr errichteten Palast in der Provinz ˙ verbrennen, diesen gelingt jedoch die Flucht. Spter nehmen sie inkognito am Wettstreit zur Gattenwahl Draupadı¯s teil, die schließlich alle fnf Protagonisten heiratet. Durch Vermittlung Bhı¯smas erhalten sie als Zugestndnis die ˙ unkultivierte Hlfte des Reichs und grnden dort ihre eigene Hauptstadt Indraprastha, die prchtig gedeiht. Im „Buch von der Versammlungshalle“ (2. Buch) verspielt Yudhisthira ˙˙ zweimal seine ganze Habe im Wrfelspiel gegen Duryodhana. Die Pa¯ndavas ˙˙ mssen 12 Jahre ins „Waldexil“ (3. Buch), wo sie verschiedenste Abenteuer erleben, und danach ein Jahr vogelfrei verbringen, welches sie beim „Aufenthalt

3. Inhalt

am Hofe Vira¯tas“ (4. Buch) unter falscher Identitt bestreiten. Danach suchen ˙ im „Buch von den Kriegsvorbereitungen“ (5. Buch) beide Parteien Verbndete in der ganzen dem Epos bekannten Welt. Krsna fungiert als letzter Friedens˙˙ ˙ vermittler der Pa¯ndavas, scheitert jedoch. Von den Kampfhandlungen auf dem ˙˙ Schlachtfeld Kuruksetra berichten die Bcher 6–9. Die Kauravas erleiden eine ˙ vernichtende Niederlage; Duryodhana stirbt am letzten Tag nach einem Keulenduell mit Bhı¯ma. Rachschtig ermorden die drei brig gebliebenen Kaurava-Krieger bei einem „nchtlichen berfall“ (10. Buch) fast alle im gegnerischen Lager Schlafenden. Darunter sind auch die Shne Draupadı¯s, sodass als Stammhalter der Pa¯ndavas nur Pariksit bleiben wird, der noch ungeborene ˙ ˙˙ Sohn des im Kampf gefallenen Abhimanyu.

Abb. 6 Genealogie der Bha¯ratas, Abbildung in hherer Auflsung online, siehe Abbilungsnachweis im Anhang

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7. 11.–14. Buch: Trauer

15.–18. Buch: Ende

Das Maha¯bha¯rata

Die folgenden Bcher verarbeiten die Schrecken des Krieges. Das „Buch der Frauen“ (11. Buch) beinhaltet deren Totenklage und die letzten Riten fr die Gefallenen. Yudhisthira wird zum Herrscher geweiht, kehrt aber nach Ku˙˙ ruksetra zurck, wo ihn im „Buch vom Seelenfrieden“ (12. Buch) und dem ˙ „der nachtrglichen Unterweisung“ (13. Buch) der von Pfeilen durchbohrte Bhı¯sma ausfhrlich im dharma belehrt, bis dieser zum selbst gewhlten Zeit˙ punkt stirbt. Der Ritus „vom Pferdeopfer“ (14. Buch) dient sodann untypischerweise nicht der Besiegelung der Oberherrschaft, sondern der Shne der im Krieg begangenen Untaten. Im „Buch vom Besuch in der Einsiedelei“ (15. Buch) zieht nach 15 Jahren am Hofe Yudhisthiras die ltere Generation – darunter Dhrtara¯stra und Kuntı¯ – ˙˙ ˙ ˙˙ zum Sterben in den Wald. Der Familienclan Krsnas lscht sich weitere 22 Jahre ˙˙ ˙ spter gegenseitig nach einem Gelage beim „Keulenkampf“ aus (16. Buch). Darauf gehen auch die Pa¯ndavas mit Draupadı¯ im „Buch vom großen Aufbruch“ ˙˙ (17. Buch) dem Tod entgegen und erreichen schließlich beim „Aufstieg in den Himmel“ (18. Buch) die himmlischen Gefilde. Hauptfiguren Yudhisthira: Gezeugt von Kuntı¯ mit dem Gott Dharma als Stammhalter Pa¯ndus. ˙˙ ˙˙ Fr seine Wahrhaftigkeit berhmt, die ihm nicht nur im Wrfelspiel zum Verhngnis wird. Bhı¯ma: Gezeugt von Kuntı¯ mit dem Windgott Va¯yu. Er ist fr seine ungeheure Strke gefrchtet und fr seine Fhigkeit, Unmengen essen zu knnen, bekannt. Arjuna: Gezeugt von Kuntı¯ mit dem Himmelsherrscher Indra. Er ist fr sein beidhndiges Geschick im Bogenschießen berhmt, mit Krsna befreundet und ver˙˙ ˙ schwgert. Nakula und Sahadeva: Gezeugt von Ma¯drı¯, der Nebenfrau Pa¯ndus, mit den gtt˙˙ lichen Heiler-Zwillingen As´vin. Ihre Mutter folgt dem nach Beischlaf mit ihr verstorbenen Pa¯ndu auf den Scheiterhaufen, woraufhin auch sie in die Obhut Kuntı¯s gelangen. ˙ ˙ Duryodhana: Von Ga¯ndha¯rı¯, der Frau Dhrtara¯stras, nach zwei Jahren Schwanger˙ Diesen ˙˙ schaft in einem Fleischklumpen abgetrieben. teilt Vya¯sa in 101 Embryonen, welche in mit Butterschmalz gefllten Tpfen ausreifen. Kommt aus dem zuerst geffneten Topf, aber erst nach der Geburt Yudhisthiras. Es wurde prophezeit, ˙˙ dass er den Untergang der Bha¯ratas herbeifhren werde, sollte er nicht verstoßen werden.

4. ‚Helle‘ und ‚dunkle‘ Helden Exkurse

Die Kenntnis der Haupthandlung ist zwar fr die Einordnung aller anderen Elemente unerlsslich und wird vom Werk selbst vorausgesetzt, wie die ankndigenden Zusammenfassungen in der Rahmenhandlung illustrieren; diese

4. ‚Helle‘ und ‚dunkle‘ Helden

tritt aber ber weite Passagen hinter eingeschobene Reflexionen, thematische und narrative Exkurse zurck, sodass die Lese- respektive Hrerfahrung des Maha¯bha¯rata wesentlich vereinzelter, aber auch verwickelter ausfllt: Immerzu wird auf andere Geschichten verwiesen, immerzu werden changierende Identifikationsfolien kosmischen Ausmaßes fr das vermeintlich irdische Geschehen herangezogen, sodass schließlich jeder menschliche Akteur mit der unsichtbaren Welt ber Inkarnationen, Flche und Segnungen verbunden ist und einer hheren Notwendigkeit folgt, gerade so, als spiele er nur eine Rolle. Auch diese Spannung zwischen vordergrndiger, menschlicher Initiative (paurusa) und hintergrndiger, schicksalhafter Vorbestimmung (daiva) inkar˙ niert sich gewissermaßen in den Protagonisten: Die ‚hellen‘ Pa¯ndavas – ihr Va˙˙ ter de jure hieß Pa¯ndu, „der Bleiche“ – zaudern oft angesichts des eskalieren˙˙ den Konflikts und der herben Schicksalsschlge, mssen aber handeln. Die Zwecklosigkeit dieses Handelns zeigt sich am Ausgang des Krieges: Obwohl die Pa¯ndavas formal siegreich sind, mssen zur Legitimierung eines seit Vor˙˙ zeiten uneindeutigen Erbanspruchs nahezu alle sterben, die diesen einst bedeutsam machten. Melancholische Sehnsucht nach Weltabkehr (nivrtti) be˙ gleitet den Weg der Helden ebenso wie hoffnungsvolle Weltzuwendung (pravrtti), vor und nach der Katastrophe. ˙ Wiederholt greifen drei ‚dunkle‘ Agenten in Schlsselszenen der Handlung ein: Vya¯sa, wrtlich „Arrangeur“, gilt als Kompilator der Veden und Autor des Maha¯bha¯rata. Seine Geburt auf einer Insel des Yamuna¯-Flusses, weswegen er Krsna-dvaipa¯yana („der schwarze Insulaner“) heißt, ist einer der ˙˙ ˙ „Anfnge“ (1. Buch) des Werks. Als Seher begleitet er die Handlung: Mittels Levirat zeugt er die Elterngeneration der Protagonisten, wodurch er die dynastischen Ambitionen seiner Mutter Satyavatı¯ realisiert und zugleich die Saat des Konflikts streut, und er ist gottgleich noch beim Schlangenopfer seines fnf Generationen entfernten Nachkommens Janamejaya gegenwrtig, wo sein Werk von seinem Schler Vais´ampa¯yana vorgetragen wird. Der andere Krsna, ˙˙ ˙ ˙ nach seinem Vater auch Va¯sudeva genannt, offenbart sich in der Bhagavadgı¯ta¯ als gttlicher Strippenzieher hinter dem Geschehen. Nach der Schlacht belebt er Pariksit, den tot geborenen Sohn Abhimanyus, und garantiert damit ˙ hnlich wie Vya¯sa das Fortbestehen der Dynastie. Seine Vorgeschichte wird im Anhang Harivam´sa erzhlt. ˙ Stichwort

Bhagavad-gı¯ta¯ Dieser ber 700 Strophen umfassende Dialog des zweifelnden Arjuna mit dem als sein Wagenlenker beteiligten Krsna (6,23–6,40) geht der Schlacht unmittelbar vo˙ ˙ Formation gegenberstehenden Heeren ermuraus. Zwischen den sich bereits˙in tigt Krsna seinen Freund zum Kampf, wofr er Abrisse sptvedischer und spterer ˙˙ ˙ Philosopheme bemht; eine wichtige Rolle spielen dabei die Heuristiken des

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Tatkraft

Schicksalskraft

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7.

Das Maha¯bha¯rata Sa¯mkhya und auf die Herrscherkaste zugeschnittene Abwgungen verschiedener ˙ Heilswege. Das Lehrgedicht kulminiert in einer Art kosmologisch-monotheistischen Epiphanie (6,33), in der sich Krsna als alles verschlingende Zeit manifestiert. ˙ ˙ ˙ ¯ta¯ hat sie zum Exerzierfeld v.a. veda¯ntiDie zentrale Bedeutung der Bhagavad-gı scher Theologien gemacht und ein ganzes Genre inspiriert. Die Tatsache, dass sie durch die von Charles Wilkins 1785 verffentlichte bersetzung als einer der ersten Sanskrittexte breit in der englischsprachigen Welt rezipiert wurde, hat ihr teils einen berzogenen Alleinvertretungsstatus in der westlichen Wahrnehmung des Hinduismus eingerumt.

Draupadı¯ schließlich, die aus einem vedischen Erdaltar nach dem eigentlich beabsichtigten Ergebnis des Opfers hervorkam, wird ebenfalls Krsna¯ („die ˙˙ ˙ Schwarze“) genannt. Ihre die Erbfolge weiter zu verwssern drohende Ehe mit allen fnf Pa¯ndavas wird von Vya¯sa bei einer Begegnung mit diesen in einer An˙˙ deutung vorweggenommen und von Krsna Va¯sudeva bei seinem ersten Auftritt ˙˙ ˙ in der Haupthandlung eingefdelt. Diese Konstellation, deren Rechtmßigkeit mehrfach in Zweifel gezogen wird, gibt Anlass zu allerlei Errterungen, hat aber auch weitreichende Folgen fr die Handlung. Weil Yudhisthira beim ersten ˙˙ Wrfelspiel zum Schluss auch sie einsetzt und verliert, wird sie beinahe in der Versammlungshalle gewaltsam entkleidet, worauf Bhı¯ma blutige Rache an den Kauravas schwrt. Das prophezeite Ende der Bha¯ratas bahnt sich an.

5. Rezeption Religionsgeschichte

Frhe bersetzungen und Kommentare

Das Maha¯bha¯rata kann seine zentrale Stellung als allen Kasten zugnglicher dharma-Lehrtext und Enzyklopdie bis in die Gegenwart behaupten, wenngleich es aufgrund seines apokalyptischen Inhalts als unheilvoller Text gilt; damit gibt es ein komplexeres Rezeptionsbild ab als das unverzagt heroische Ra¯ma¯yana. Eine herausragende Rolle spielt das Maha¯bha¯rata in der Reli˙ gionsgeschichte des Hinduismus; so gilt den Anhngern Visnus durch die ˙˙ Identifikation Krsnas mit diesem Hochgott die Bhagavad-gı¯ta¯ als heiliger Text. ˙˙ ˙ Die Pura¯nas haben schließlich das im Epos enthaltene mythologische Material ˙ zu Theologien verschiedener Richtungen weiterentwickelt. Im dravidischen Sprachraum wurde das Maha¯bha¯rata wegen der grßeren sprachlichen Distanz ab etwa dem 8. Jh. in Volkssprachen bersetzt. Die bertragung in neuindoarische Sprachen setzte erst im 14. Jh. ein. Teils sind solche bersetzungen die frhesten Zeugnisse einer literarischen Verwendung der jeweiligen Sprache. Von der Bedeutsamkeit des Epos zeugen insbesondere die Prosa-bersetzung ins Altjavanische um 1000 und die prestigetrchtige persische bersetzung unter Akbar um 1585. Zur Konservierung und Einbettung in den philosophisch-theologischen Diskurs spielten Sanskrit-Kommentare

5. Rezeption

zum ganzen Epos oder Teilen davon eine wichtige Rolle. Sukthankar nennt 1944 eine stattliche Auswahl von 22 solcher Kommentare. Einer der Bekanntesten und wegen seines frhen Drucks in der Vulgata-Ausgabe von Bombay (ab 1863) einflussreichsten ist der des Nı¯lakantha (17. Jh.). ˙˙ Fr die klassische Sanskrit-Literatur war das Maha¯bha¯rata v.a. thematisch prgend. Wenn es gleich zu Beginn proklamiert, dass es keine Erzhlung gebe, die nicht auf diesem Epos beruhe (1,2.235ff.), ist bemerkenswert, in welchem Maße sich diese bertreibung bewahrheiten sollte: Die Poetologie schreibt nmlich die Stoffe der Epen als Thema fr die Kunstdichtung vor. Tatschlich beruht diese wie auch viele Sanskrit-Dramen und Mischformen aus Prosa und Lyrik auf Einzelepisoden der Sanskrit-Epen; beispielhaft seien hier das S´is´upa¯lavadha des Ma¯gha (7. Jh.) oder das Schauspiel Abhija¯nas´akuntala des Ka¯lida¯sa (um 400) genannt. Maha¯bha¯rata-Tanztheater, szenische Lesungen und mitunter mehrtgige Festivals sind bis heute in ganz Indien beliebt. Regional haben sich auch volksreligise Kulte der vergttlichten Protagonisten etabliert. So gibt es in Sdindien Hunderte der Draupadı¯ gewidmete Tempel. Eine breite indische Rezeption erfahren melodramatische Verfilmungen, wie die 267 Episoden umfassende Serie von Swastik Productions, die 2013/14 ausgestrahlt wurde. Herausragend fr die internationale Wahrnehmung ist das neunstndige Theaterstck von Peter Brook, das 1985 beim Festival d’Avignon uraufgefhrt wurde. Brook inszenierte die Haupthandlung des Epos bewusst kulturbergreifend, ohne dessen indische Wurzeln zu verbergen. Das Stck wurde 1989 gekrzt als Serie und schließlich n auch als Film unter dem Titel The Mahabharata verffentlicht. Auf einen Blick

Das Sanskrit-Maha¯bha¯rata nimmt eine vermittelnde Rolle zwischen der vedischen und der klassischhinduistischen Geistesgeschichte ein und hat letztere wie kein zweites Werk geprgt. Auf enzyklopdische Weise konserviert es Anknpfungspunkte an die mittel- und sptvedische, etwa ein Millennium zurckliegende Zeit und entwirft damit eine große kulturelle Kontinuitt, wenngleich der Aufbau zahlreiche Bruchstellen aufzeigt, die mit spannungsreicher Enigmatik zu einem komplexen System von Bezugspunkten ausgebaut wurden. Nicht zuletzt die gewaltige Flle panegyrischen, mythologischen und didaktischen Materials macht es zur mit Abstand lngsten erhaltenen epischen Dichtung des Altertums; sein Potenzial fr historische und literaturwissenschaftliche Fragestellungen ist immens. Der Stoff des Epos blieb bis in die Gegenwart fr einen Zeitraum von cum grano salis 1600 Jahren als zentrale Bildungs- und Unterhaltungsfiktion in ganz Indien relevant. Die Grße dieser kulturellen Leistung ist angesichts des Umfangs kaum zu berschtzen und zeugt ihrerseits von einer großen Kontinuitt, die sich freilich von der im Werk inszenierten unterscheidet. Auf Hindi und in anderen neuindoarischen Sprachen ist die Eigenbezeichnung Indiens Bha¯rat, was auf die im Epos beschriebenen Nachkommen des Stammvaters Bharata zurckgeht. Insofern kann man das Maha¯bha¯rata durchaus als indisches Nationalepos bezeichnen.

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Sanskrit-Literatur

Feste, Kulte und Massenmedien

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7.

Das Maha¯bha¯rata

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Weitere Literatur Fitzgerald, James L. (1991): India’s Fifth Veda. The Maha¯bha¯rata’s Presentation of Itself. In: Essays on the Maha¯bha¯rata, hg. v. Arvind Sharma. Leiden u.a. S. 150–170. Fitzgerald, James L. (2010): No Contest between Memory and Invention. The Invention of the Pa¯ndava Heroes ˙˙ of the Maha¯bha¯rata. In: Epic and History, hg. v. David Konstan/Kurt A. Raaflaub. Oxford. S. 103–121. Grnendahl, Reinhold (1993): Zur Klassifizierung von Maha¯bha¯rata-Handschriften. In: Studien zur Indologie und Buddhismuskunde, hg. v. dems. u.a. Bonn. S. 101–130. Halbfass, Wilhelm (1988): Dharma in the Self-Understanding of Traditional Hinduism. In: India and Europe. An Essay in Philosophical Understanding. Albany. S. 310–333. Hanneder, Jrgen (2017): To edit or not to edit. New Delhi. Malinar, Angelika (2007): The Bhagavadgı¯ta¯. Doctrines and Contexts. Cambridge. Oberlies, Thomas (2003): A Grammar of Epic Sanskrit. Berlin. Olivelle, Patrick (Hg., 2009): Dharma. Studies in Its Semantic, Cultural, and Religious History. Delhi. Sukthankar, Vishnu Sitaram (1944): Critical studies in the Maha¯bha¯rata. Bombay.

8. Von der mittelalterlichen RinderraubErzhlung zum irischen Nationalepos? Die Tin B Cfflailnge von Christina Fischer berblick

D

ie T in B Cfflailnge („Der Rinderraub von Cooley“) erzhlt von der Auseinandersetzung zwischen den irischen Knigreichen Connacht und Ulster. Streitobjekt ist der prchtige Bulle Donn Cuailnge, der auf Veranlassung der Connachter Knigin aus Ulster entfhrt werden soll. Nur Cffl Chulainn, dessen Kampffhigkeit außergewhnlich ist, kann Ulster verteidigen, alle ande-

ren Krieger sind durch eine Krankheit kampfunfhig. Die erste Handschrift der T in stammt aus dem frhen 12. Jh., die Erzhlung entstand jedoch vermutlich schon im 7./8. Jh. Vom Mittelalter bis in das 19. Jh. hinein fand eine kontinuierliche handschriftliche berlieferung statt. Seit dem spten 19. Jh. wird der Protagonist Cffl Chulainn als Nationalheld angesehen.

um Christi Geburt

Im Text implizierte Datierung der Handlung

um 400

Christianisierung Irlands

7./8. Jh.

Entstehung einer Ur-T in?

1106/1130

lteste erhaltene Handschrift der Rezension I in Lebor na hUidre („Buch der dunklen Kuh“)

1160

lteste erhaltene Handschrift der Rezension II in Lebor Laignech („Buch von Leinster“)

sptes 19. Jh.

Gaelic Revival: Wiederbelebung der irischen Sprache und Kultur

1905

Erste deutsche bersetzung

1916

Osteraufstand: Cffl Chulainn wird Sinnbild der irischen Unabhngigkeitskmpfer

1. berlieferung Die Tin B Cfflailnge ist das Kernstck des sog. ‚Ulsterzyklus‘. Die mehr als 80 Erzhlungen dieses Zyklus befassen sich mit Ereignissen und Personen der irischen Provinz Ulster und der vier anderen Provinzen Irlands. Sie wurden zwischen dem 12. und 15. Jh. niedergeschrieben; allerdings ist ihre Datie-

Datierung

94

8.

Handschriften

Die T in B Cfflailnge

rung, wie auch die der Tin selbst, problematisch, denn die berlieferten Handschriften beruhen auf lteren Vorlagen. Die Entwicklungsgeschichte der Tin kann nicht zweifelsfrei rekonstruiert werden; bereits in Dichtungen aus vermutlich dem 7. bzw. 8. Jh. (Conailla Medb mchura und Verba Scthaige) finden sich Hinweise auf die Ereignisse des Rinderraubes (Schrijver 2016, 47;  hUiginn 1992, 59–61). Mit mehr als 80 Handschriften aus dem 12.–19. Jh. ist die Tin weit verbreitet. Die fr die Forschung wichtigsten Fassungen werden als Rezension I und II bezeichnet, die in Handschriften aus dem 12. Jh. enthalten sind. Bei Rezension I geht die Forschung von einer Kompilation zweier Fassungen des 9. Jh. aus. Rezension II modernisiert den Text der ersten Rezension und ergnzt ihn um weitere Episoden. Beide Rezensionen sind in mittelirischer Sprache verfasst, enthalten aber auch altirische Formen. Diese erklren sich entweder als Relikte einer frheren Textstufe oder als bewusste Archaisierung des mittelirischen Werks ( hUiginn 1992, 34). Die erste wissenschaftliche Edition mit einer deutschen bersetzung wurde 1905 von Ernst Windisch verffentlicht.

2. Formale Aspekte Stil

Struktur und Lnge

Der Text besteht, bis auf einige Verspassagen, aus Prosa. Die Kombination von Prosa und Vers wird als Prosimetrum bezeichnet und findet sich hufig in irischen Erzhlungen. Neben einigen Gedichten mit silbenzhlenden Metren sind die Verspassagen in rosc verfasst, einem reimlosen, alliterierenden Vers, der dem Text einen archaischen Duktus verleiht. Die Struktur ist episodenhaft und wirkt, v.a. in Rezension I, zuweilen unzusammenhngend. Die Bearbeiter von Rezension II vereinheitlichten, ergnzten und modernisierten den Text, wodurch die Tin zu einem kohrenten Gesamtwerk wird. Der Zuwachs an Episoden sowie die Wiederholung von Themen und Motiven werden hufig als Merkmale mndlicher Tradierung angesehen (Schrijver 2016, 45;  hUiginn 1992, 32). Mit mehr als 4000 Zeilen weist die Tin eine fr die irische Literatur enorme Lnge auf, die sich durch die Verwendung mehrerer Konstruktionselemente erklrt: 1. Formelhafte Passagen und Namenlisten; 2. Retardierende Einschbe, wie z.B. der Bericht ber die Knabentaten des Protagonisten Cffl Chulainn; 3. Erklrungen von Ortsnamen (Dindsenchas). Stichwort

Dindsenchas Dindsenchas sind formelhafte Prosa- oder Versstcke, die eine historische Fundierung von Ortsnamen bieten (Schlter 2014). Sie verknpfen die Erzhlung der Tin untrennbar mit der Geographie Irlands. hUiginn (1992) teilt die dindsenchas

2. Formale Aspekte

95

der Tin in zwei Typen ein: Diejenigen des ersten Typus beschrnken sich auf das Gebiet des Vormarsches der Armee in Cfflailnge, die Ortsnamen des zweiten verteilen sich auf weite Teile Irlands im Kontext der Kmpfe der beiden Bullen Donn Cfflailnge und Finnbennach: „Er [Donn Cfflailnge] erhob darauf seinen Kopf, so dass die Schulterbltter (lethe) des Findbennach daselbst von ihm fielen. Daher kommt es, dass er Sruthair Finnlethe genannt wird. Er kam vorwrts zum Rande von th Mr, und er liess die Hfte (lfflan) des Findbennach dort zurck, so dass davon th lfflain kommt. Er kam vorwrts nach Osten zu in das Gebiet von Meath nach th troimm, so dass er dort die Leber (tromm) des Findbennach zurckliess. Er erhob seinen Kopf… und schttelte den Findbennach von sich ber Irland. Er warf seine Hinterschenkel (lrac) von sich nach Port lrge. Er warf sein Rippenstck (clathach) fort bis nach Dublind, das th clath genannt wird. […] Sie [die Leute] sahen die Stirn des Dond von Cfflalnge auf sich zu kommen. ‚Die Stirn (taul) des Stieres auf uns zu!‘ sagten sie. Davon kommt Taul Tairb von da an bis jetzt“ (Windisch 1905, 904–906).

Unter den volkssprachigen Erzhlungen des mittelalterlichen Irlands nimmt die Tin B Cfflailnge in der Forschung eine zentrale Stellung ein. Sie wird vor allem in der lteren Forschung unkritisch als Epos gesehen, das wie Homers Ilias (Kap. 3) in einer heroischen Vorzeit angesiedelt sei (Miles 2011, 145f.). Gemß neueren berlegungen wurde von mittelalterlichen irischen Gelehrten der Kampf des kleineren Troja gegen das bermchtige Griechenland als eine Parallele fr vorgeschichtliche Auseinandersetzungen zwischen der Provinz Ulster und den anderen Provinzen Irlands betrachtet (Poppe/Schlter 2011, 135). Die (anonymen) Autoren der Tin konnten zwar nicht direkt auf die homerische Dichtung zugreifen, aber der Troja-Stoff war dank der Verbreitung durch die Ilias Latina wie auch durch De Excidio Troiae historia des Dares Phrygius bekannt (Clarke 2021, 3; Poppe/Schlter 2011, 135). Auch Vergils Aeneis (Kap. 4) wird als Vorbild erwogen (Edel 2011, 25). Epentypische Motive und Techniken sind z.B. die im Krieg mndende Rivalitt zweier ungleicher Gegner, die Darstellung exorbitanter Helden oder die Technik der Mauerschau. Die Tin lsst sich schwerlich einer Gattung zuordnen – die Form des Prosimetrums, die stilistische Uneinheitlichkeit der verschiedenen Rezensionen wie auch die formale und handlungslogische Unstetigkeit des Textes verleihen ihr einen eigentmlichen Charakter, den Doris Edel treffend als „off the mainstream“ bezeichnet (Edel 2011), jedoch „nhert [sie] sich durch ihren Inhalt, ihre Lnge und zentrale Stellung im Ulsterzyklus der gebruchlichen Vorstellung des Epos“ (Edel 2004, 128). Die Tin greift einen grßeren Erzhlzusammenhang auf, was daran zu erkennen ist, dass fr das Verstndnis die Kenntnis weiterer Erzhlungen des Ulsterzyklus notwendig ist. Die Abbildung der politischen Situation Irlands ber die antiken Vorbilder, die große Verbreitung der Handschriften ber die Jahrhunderte wie auch die Wiederbelebung der Tin im 19./20. Jh. im Zuge eines politischen und kulturellen Nationalismus macht

Gattungsfrage

96

8.

Die T in B Cfflailnge

sie – zumindest – zum „nearest approach to a great epic that Ireland has produced“ (Kinsella 2002, vii).

3. Inhalt und Hintergrund Historischer Hintergrund

Vorgeschichten

Zeitlich angesiedelt ist die Handlung der Tin im 1. Jh. n. Chr. Das Hauptthema der Tin, der Rinderraub, hat durchaus eine historische Dimension, da Viehraub bis zum 17. Jh. als bliche Kriegsform zur Herrschaftserhaltung instrumentalisiert wurde. Irland war im Frhmittelalter in fnf Provinzen (ciced – ‚Fnftel‘) bzw. Kleinknigreiche aufgeteilt, die immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen miteinander gerieten, wodurch sich die Strukturen und Grenzen dieser Knigreiche fortlaufend vernderten. Die Provinz Ulster hatte die Rolle des politischen Antagonisten gegenber den anderen vier (Edel 2004, 130). Von diesen Rivalitten wird unter anderem in den remscla („Vorgeschichten“) erzhlt. Sie sind selbstndig berliefert und erklren Hintergrnde der Figuren und Ereignisse der Tin. Durch sie wird z.B. erlutert, weshalb die Ulsterkrieger zu Beginn der Kmpfe Schwche zeigen (in der Erzhlung Nonden Ulad) und warum sich einige Ulsterkrieger im Exil in Connacht befinden (Longas mac nUislenn). Stichwort

Kopfkissengesprch Rezension II beginnt mit einem Prolog, dem sog. ‚Kopfkissengesprch‘: „Einstmals (traf es sich) fr Ailill und Medb, als ihnen ihr knigliches Lager in der Burg Cruachan von Connacht bereitet war, dass sich das Gesprch auf dem Kopfkissen zwischen ihnen zutrug“ (Windisch 1905, 1). Im gemeinsamen Ehebett vergleicht das Connachter Knigspaar seine Reichtmer. Knigin Medb stellt fest, dass Ailill ein Rind mehr besitzt, den fruchtbaren Bullen Finnbennach. Um ihren Reichtum mit dem ihres Ehemanns gleichzusetzen, beschließt sie – nachdem Verhandlungen mit seinem Besitzer erfolglos bleiben –, den Bullen Donn Cuailnge aus Ulster zu rauben. Diese Episode erklrt die Ursache des Rinderraubs. Es ist darber hinaus ein prominentes Beispiel fr den Zuwachs an Episoden: In Rezension I fehlt der erklrende Prolog.

Der Rinderraub

Fergus mac R ich, der Ziehvater Cffl Chulainns, ist einer der Ulster-Exilanten, die Medb bei der Aufstellung einer Armee untersttzt. Die Krieger machen sich auf den Weg nach Ulster, um den Donn Cuailnge zu erbeuten. Die Mnner von Ulster sind durch die Schwche (ces nonden), die sie Monate daran hindert zu kmpfen, stark eingeschrnkt. Die einzige Person, die Ulster verteidigen kann, ist der 17-jhrige Cffl Chulainn. Er fhrt nach gescheiterten

3. Inhalt und Hintergrund

Verhandlungen Einzelkmpfe gegen die vorrckende Connachter Armee, verwickelt sie in einen monatelang andauernden Krieg und verzgert so eine Entscheidung. Immer wieder trifft Cffl Chulainn dabei auf bernatrliche Figuren, wie etwa die Schlachtengttin Morrgan. Sie bietet ihm vor einem Kampf in Form einer schnen jungen Frau ihre Liebe an, die er aber verschmht. Daraufhin offenbart sie sich und mischt sich in den nchsten Kampf ein, zuerst in Form eines Aals, der ihn in der Furt zum Stolpern bringt, dann als Wolf und zuletzt als Frse an der Spitze der Herde. Dennoch verwundet Cffl Chulainn sie jedes Mal. Nach dem Kampf gegen Morrgan werden die Einzelkmpfe fortgesetzt. Als Fergus mac R ich geschickt wird, um gegen ihn zu kmpfen, willigt Cffl Chulainn ein, sich zurckzuziehen, unter der Bedingung, dass Fergus beim nchsten Treffen nachgebe. Es kommt zu einem dreitgigen Duell zwischen dem Helden und seinem Ziehbruder und besten Freund Ferdiad. Cffl Chulainn gewinnt und ttet Ferdiad. Schließlich finden die geschwchten Ulsterkrieger nacheinander zu ihrer Strke zurck und die letzte Schlacht beginnt. Cffl Chulainn muss sich von seinen Wunden erholen. Schließlich tritt er wieder in den Kampf ein und trifft auf Fergus, der sein zuvor gegebenes Versprechen einhlt. Dieser zieht seine Streitkrfte vom Feld ab. Connachts Verbndete geraten in Bedrngnis und Medb muss sich zurckziehen. Sie schafft es jedoch, Donn Cuailnge nach Connacht zu bringen, wo der Stier gegen Finnbhennach kmpft und ihn ttet. Selbst schwer verwundet, wandert er durch Irland, bevor er schließlich nach Hause zurckkehrt und vor Erschpfung stirbt. Medb wird als einflussreiche, machthungrige Knigin dargestellt, Ailill dagegen als vorsichtiger und kluger Ratgeber; diese Rollenverteilung ist in der irischen Literatur unblich. Medbs dominantes, kompromissloses und oftmals aggressives Streben nach Macht lsst sie als eine ambivalente Frauenfigur im literarhistorischen Kontext der Tin erscheinen. Die Forschung diskutiert kontrovers Interpretationen von Medb als mythologische Herrschaftsfigur, feministische Auslegungen im Sinne eines revolutionren Aufbruchs wie auch die Rolle der intriganten Frau, die ihr Volk durch ihr Handeln ins Unheil fhrt (Kelly 1992, 78f.; Koch 2006, 1282). Episoden wie der Kampf mit Morrgan zeigen, wie prsent eine vorchristliche bernatrliche Parallelwelt in der mittelalterlichen irischen Literatur war, die hier durch Morrgan, aber auch durch Cffl Chulainns gttlichen Vater Lug mac Etnenn oder die Schlachtengttin N main reprsentiert wird. Die christlichen Autoren verbanden eine konstruierte heidnische Vergangenheit mit ihrer christlichen Gegenwart. So findet man neben der Existenz vorchristlicher Gttinnen und Gtter auch die Synchronisation von Chonchobars Todesjahr mit dem Jesu Christi. Die Erzhlung stellt ein heroisches Zeitalter Irlands vor. Die Schilderung von Streitwagen als bevorzugtes Transportmittel im Kampf und die Praxis der

97

Geschlechterverhltnisse

Gttliches Eingreifen

Streitwagen und Kopfkult

98

8.

Die T in B Cfflailnge

Enthauptung des Gegners mit anschließender Prsentation des Kopfes wurden in der Forschung mit Kampftraditionen der Festlandkelten in Verbindung gebracht, die griechische Historiker des spten Hellenismus wie Poseidonius und Diodor beschrieben. Solche ethnographischen Befunde fhrten bis in die 1950er und -60er Jahre zu der Annahme, dass die Tin einer mndlichen Tradition des 4. Jh. entsprungen sein msse, die auf ein noch frheres Zeitalter referiere. Kenneth Jackson postulierte 1964 das Zusammenspiel dieser teils vorchristlichen (auch eisenzeitlichen) Motive als „Window on the Iron Age“ (Jackson 1964). Mittlerweile besteht dagegen Konsens in der Forschung, dass solche Motive des Textes die Vorstellung christlicher Autoren von einer vorchristlichen irischen Gesellschaft zeigen (Schrijver 2016, 45f.). Hauptfiguren Cffl Chulainn: Der jugendliche Held. Bestreitet einen Großteil der Kmpfe allein. Hat bermenschliche Krfte, die er zuweilen nicht kontrollieren kann. Donn Cuailnge: Der braune Bulle von Ulster, um den gekmpft wird. Ttet am Ende den weißen Bullen Findbhennach von Connacht. Stirbt bei seiner Rckkehr nach Ulster. Medb und Ailill: Knigspaar von Connacht. Schickt seine Armee los, um den Bullen von Ulster in seinen Besitz zu bringen. Fergus mac Roich: Ehemaliger Ulsterkrieger, der in Connacht bei Ailill und Medb Exil findet, fr sie kmpft, sich jedoch nach wie vor mit Ulster und seinem Waffenbruder Cffl Chulainn verbunden fhlt. Ferdiad: Connachter Krieger und Cffl Chulainns Ziehbruder. Gilt als unverwundbar. Wird in einem Zweikampf von seinem Bruder gettet. Morrgan: Schlachtendmonin, die Cffl Chulainn am Kampf hindern soll.

4. Heldenbild Heldenbiographie

Cffl Chulainns Lebensgeschichte ist nicht in einer zusammenhngenden heroischen Biographie berliefert, auch die Tin liefert nur Bruchstcke, sondern sie wurde in vielen Einzelerzhlungen aus Handschriften unterschiedlicher Datierung erstmals im 19. Jh. zusammengefhrt (Bock 2011, 50f.). Der Protagonist, der seit Anfang des 20. Jh. von Forscher*innen oft als der ‚irische Achill‘ bezeichnet wird (z.B. Dillon 1948), erfllt einige maßgebliche Kriterien eines epischen Helden. Seine Zeugung und Geburt stehen unter gttlichen Vorzeichen – Lug, eine bernatrliche Figur der mittelalterlichen irischen Literatur, wird als mglicher Vater genannt. Cffl Chulainns außergewhnliche kriegerische Fhigkeiten, sein unbedingtes Streben nach Ruhm und sein frher Tod sind Elemente einer typischen Heldenbiographie. In der Tin selbst wird ber die Jugend des Helden berichtet, sie gibt mit den „Knabentaten“

4. Heldenbild

(macgnmrada) auch einen Rckblick auf seine Kindheit. Darin wird u.a. erklrt, wie der siebenjhrige S tanta zu seinem Namen Cffl Chulainn („Hund des Culann“) kommt. Er wird als außergewhnlich starker, wilder und zuweilen zorniger Knabe beschrieben, der seine Krfte oftmals nicht beherrschen kann, wenn er etwa beim Ballspiel 50 Jungen mit seinen Fusten ttet. Cffl Chulainn ist mit vielerlei Gaben ausgestattet: Scharfsinn, Hellsicht, Schnheit, Waghalsigkeit. Zudem weist sein ußeres auf bermenschliches hin. Er hat sieben Pupillen, sieben Zehen und sieben Finger an jeder Hand und berdies dreifarbiges Haar. Vom Druiden Cathbad wird ihm ein ruhmreiches Leben und ein ewigwhrendes Andenken an seine Taten prophezeit. Bemerkenswert ist die immense Gewaltbereitschaft und eine damit einhergehende bermenschliche „Wutverzerrung“ (rastrad) Cffl Chulainns. Es braucht immerhin einigen Aufwand, um Cffl Chulainn wieder zu beruhigen: Es mssen fr ihn drei Fsser mit kaltem Wasser bereitgehalten und 150 Frauen mit entblßtem Oberkrper entgegengeschickt werden.

99

Exorbitanz und Wutverzerrung

Quelle

Cffl Chulainns Wutverzerrung (Windisch 1905, 166–168)

„Wir kennen ihn, diesen Wagenfahrer“, sagte Chonchobar, „(es ist) der kleine Sohn meiner Schwester, der nach dem Rand des Grenzgebietes gegangen ist, er hat seine Hnde in Blut getaucht und hat nicht genug vom Kampf, und wenn er nicht abgewartet wird, werden alle jungen Mnner von Emain durch ihn fallen!“ Und der Beschluss, der von ihnen gefasst wurde, war dieser: die Weiber hinaus zu lassen dem Knaben entgegen, nmlich die dreimal fnfzig Weiber, zehn und siebenmal zwanzig freche rothnackte Weiber alle auf einmal, und Scandlach ihre Fhrerin an ihrer Spitze, um fr ihn ihre Nacktheit und ihr[e] Schaam zu zeigen. Die jungen Weiber kamen alle heraus und zeigten ihm alle ihre Nacktheit und ihre Schaam. Der Knabe verbirgt sein Gesicht vor ihnen und richtete seinen Blick auf den Wagen, damit er die Nacktheit oder Schaam der Weiber nicht she. Da wurde der kleine Knabe aus dem Wagen gehoben. Er wurde in drei Fsser mit kaltem Wasser gebracht um seine Wuth abzukhlen. Und das erste Fass, in das der kleine Knabe gethan wurde, er sprengte es aus seinen Brettern und seinen Reifen, wie ein Nussknacken um ihn herum. Das zweite Fass, es kochte fausthoch ber. Das dritte Fass, der Eine hielte es aus und der Andere hielte es nicht aus. Da ging die Wuth des Knaben zurck, und es wurde ihm seine Kleidung angelegt.

Gewaltsame Auseinandersetzungen sind nicht außergewhnlich in heldenepischen Texten. Dennoch lsst der jugendliche Protagonist manches Mal daran zweifeln, ob er ausschließlich zum Wohle seiner Gemeinschaft derart jhzornig und unkontrolliert kmpft (Erni 2013, 53f.). Fr fer („Wahrheit der/ von Mnnern“) – der Ehrenkodex, der im Text selbst als fairer und ausgewogener Kampf definiert wird – wird nicht konsequent befolgt. Cffl Chulainn ist im Besitz eines grausamen, tdlichen Speers mit Widerhaken, die sich im Krper-

Ehrenkodex?

100

8.

Die T in B Cfflailnge

innern auffalten. Der Speer (ge bulga) kommt nur unter Wasser, wo man ihn nicht sehen kann, zum Einsatz. Diese Waffe stellt einen Verstoß gegen den Ehrenkodex dar (Pettit 2015, 26). Fr einen epischen Helden kann Cffl Chulainn als idealtypisch angesehen werden, aber vorbildlich ist er nicht. Die Kontrolle seiner herausragenden kriegerischen Fhigkeiten, die er zuweilen unkontrolliert und unredlich einsetzt, ist eine Gratwanderung zwischen Exorbitanz und Exzess, die im Text selbst angedeutet wird, wenn Cffl Chulainn seinen unkontrollierbaren Zorn gegen seine eigene Gemeinschaft richtet (Erni 2013, 53f.).

5. Rezeption Celtic Revival

Moderne Rezeption

Mit Standish O’Gradys zweibndiger History of Ireland (1878/80) erreichte die Tin das gesellschaftliche Bewusstsein der Iren im Zusammenhang eines erstarkenden Nationalismus. Die Revolutionre des Osteraufstands von 1916 vereinnahmten Cffl Chulainn und mit ihm die Tin als Projektionsflche fr ihre politischen Interessen und machten ihn zum Nationalhelden. Sein Kampf gegen eine feindliche bermacht und seine Todesbereitschaft wurden idealisiert. Ebenfalls politisch geprgt waren die Bewegungen des Gaelic Revival und der Irish Literary Renaissance, in deren Zentrum anglo-irische Autor*innen wie William Butler Yeats (1865–1939) und Lady Augusta Gregory (1852–1932) standen. Ihr Ziel war es, die irische Sprache und die irische Kultur wiederzubeleben. Mit der Verffentlichung von Lady Gregorys Cuchulainn of Muirtheimne (1902) wurden die Erzhlungen um Cffl Chulainn erstmals einem breiteren Publikum zugnglich gemacht. Yeats verarbeitete die Figur Cffl Chulainns u.a. in den Einaktern Four Plays for Dancers (1921) und setzte damit bewusst ein politisches Zeichen im Kampf um Unabhngigkeit und der Erhaltung der eigenen Kultur. Einzelmotive und Protagonisten erfreuen sich auch in den letzten Jahrzehnten internationaler Popularitt. Sie sind in zahlreichen mehr oder weniger originellen Nacherzhlungen und kreativen Bearbeitungen wiederzufinden, wie etwa La Geste de Chuchulainn (2006) von Marie-Line Balzamont, Der Hund des Culann (2003) von Manfred Bckl, The Prize in the Game (2002) von Jo Walton oder das Kinderbuch Das magische Licht (2002) von Gabrielle Alioth. Videospiele bieten sich besonders fr die Aufnahme des mittelalterlichen irischen Settings und den Helden Cffl Chulainn an, z.B. ist er wie Achill als Gottheit („Hound of Ulster“) in SMITE vertreten. Auch die anglo-irische Folk-Punk-Band The Pogues singt noch vom Sickbed of Cffl Chulainn. 2004 produzierte die US-amerikanische Gruppe The Decemberists ein 18-mintiges Musikvideo, das die Tin knstlerisch stilisiert nacherzhlt. Die Tin bietet dem erstarkenden Interesse an Mittelalterrezeption in Form von Fantasy ber

Weitere Literatur

vielfltige Medien ein breites Spektrum an Mglichkeiten: Vermeintlich keltisch-mythische Elemente wie spezielle Kampfszenen, Figuren wie etwa Druiden und insbesondere der Held Cffl Chulainn finden sich in zahlreichen und n vielfltigen Szenarien der Bcher- und Spielewelt. Auf einen Blick

Die T in B Cfflailnge, deren erste erhaltene Niederschrift auf den Anfang des 12. Jh. datiert wird, aber deutlich frher entstanden sein drfte, wurde aus zahlreichen Episoden zu einem Gesamtwerk zusammengestellt und liegt in unterschiedlichen Fassungen vor. Die Archaismen des Textes reprsentieren die Vorstellung des christlichen Autors von einer vorchristlichen irischen Gesellschaft. Die T in B Cfflailnge wird in der modernen Forschung sowohl als das Nationalepos Irlands bezeichnet als auch als solches kritisch hinterfragt, da sie durch manche Gattungsmerkmale, der spteren Vereinnahmung Cffl Chulainns als Nationalheld und der relativ konstanten Popularitt sich einerseits im Bereich des heldenepischen Erzhlens ansiedelt, sich aber andererseits durch ihre individuellen narratologischen Charakteristika nicht an Gattungskonventionen anpasst.

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101

102

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9. Von „Riesenmnnern“ und „Eisenweibern“ Das Nibelungenlied von Nathanael Busch berblick

D

as Nibelungenlied erzhlt die verwickelte Geschichte von der Ermordung Siegfrieds durch den burgundischen Dienstmann Hagen von Tronje und der anschließenden Rache durch seine Gemahlin Kriemhild, der Schwester der burgundischen Knige, die zu einer verheerenden Schlacht und dem Tod zahlreicher Helden fhrt. Die

um 1200 entstandene Erzhlung geht auf ltere Ereignisse zurck und war im Mittelalter ausgesprochen populr. Bekannt ist der Text heute v.a., weil ihm der Status eines Nationalepos der Deutschen zugeschrieben wird. Er ist kaum zu trennen von seiner Rezeptionsgeschichte, die in nationalistischer Vereinnahmung gipfelte.

5.–7. Jh.

Historische Ereignisse der Nibelungensage

um 1200

Entstehung des Nibelungenliedes

nach 1500

Ende der mittelalterlichen berlieferung

1755

Wiederentdeckung und Beginn der modernen Rezeption

1876

Urauffhrung des vollstndigen Ring-Zyklus Richard Wagners im Bayreuther Festspielhaus

1. berlieferung Wie andere Heldenepen geht auch das Nibelungenlied auf einen historischen Kern zurck, der weit vor der Abfassung anzusetzen ist. Die Nibelungensage nimmt verschiedene Ereignisse der sog. Vlkerwanderungszeit auf: die vernichtende Schlacht von rmischen gegen burgundische Soldaten; die Machtentfaltung Attilas; die militrischen Erfolge Theoderichs des Großen (Reichert 2017, 478–488). In den Jahrhunderten bis zur Abfassung wurde von diesen Ereignissen berwiegend mndlich erzhlt. Das Nibelungenlied, wie es uns heute vorliegt, ist vermutlich um 1200 in oder um Passau entstanden. In ihm finden sich verschiedene Sagenkreise montiert, die zuvor wohl unabhngig voneinander erzhlt wurden. Wann und unter welchen Umstnden sie zusammengefhrt wurden, ist Gegenstand einer Forschungskontroverse, die

Autorschaft

104

9.

berlieferung und Entdeckung

Klage und Edda

Das Nibelungenlied

nicht abschließend entschieden werden kann, weil ltere Zeugnisse darber keinen Aufschluss geben. Den Konventionen der Gattung folgend, nennt sich der Autor nicht. Vergeblich wurde er mit zahlreichen Dichtern identifiziert (u.a. mit den Minnesngern Walther von der Vogelweide und Bligger von Steinach oder gar mit dem fiktiven Heinrich von Ofterdingen). Weil der Text bald nach der ersten Niederschrift in einer berarbeitung umgedeutet wurde, ist vorgeschlagen worden, eine „Nibelungenwerkstatt“ anstelle einer einzigen Autorpersnlichkeit anzunehmen (Bumke 1996, 590–594). In den Jahrhunderten nach der Entstehung war das Nibelungenlied ausgesprochen beliebt; man hat Kenntnis von 36 Handschriften und einer niederlndischen Bearbeitung. Die Vorrangstellung der drei bedeutendsten Handschriften, die noch im 13. Jh. entstanden sind und mit den Siglen A, B und C bezeichnet werden, hat in der Forschungsgeschichte zu großen Debatten gefhrt. Heute gilt B als die verlsslichste Handschrift und C als eine frhe Bearbeitung von B; ob A, die eine verkrzte Fassung bietet, zeitlich vorangeht, bleibt umstritten. Zuletzt wurde das Epos im Ambraser Heldenbuch des Kaisers Maximilian bald nach 1500 abgeschrieben. Erst nach einer knapp 250 Jahre anhaltenden berlieferungslcke, in der der Stoff weitgehend unbekannt war, wurde im Jahr 1755 eine Handschrift des Nibelungenliedes entdeckt und im Jahr 1784 erstmals wieder vollstndig ediert. In der Mehrzahl der Handschriften folgt auf das Ende des Nibelungenliedes ein weiterer Text, der unter dem Titel Nibelungenklage bekannt ist. Er erzhlt die Ereignisse, die auf das Ende des Epos folgen. Die Klage deutet eine Zukunft nach dem Untergang an und versucht, die wirren Ereignisse, die mit schicksalhafter Notwendigkeit zu einem sinnlosen Tod fhren, in einen deutenden Zusammenhang zu stellen; die Schuld an der Katastrophe sei dem blen Charakter einzelner Figuren zu geben. Die frhere Forschung ignorierte die Klage weitgehend, weil sie fr eine sptere Zutat gehalten wurde, die sich nicht zuletzt formal stark vom Nibelungenlied unterscheidet. Heute hlt man es durchaus fr mglich, dass sie wie die Handschrift C vom Autor oder der ‚Werkstatt‘ selbst stammen knnte. ber den Text des Nibelungenliedes hinaus wurde die Nibelungensage auch in Nordeuropa literarisch und bildknstlerisch verarbeitet (Reichert 2003), am bekanntesten in den Texten der Edda. Es wird kontrovers diskutiert, in welchem Verhltnis die nordischen Fassungen zum Nibelungenlied stehen, auch weil sie jnger sind als das deutschsprachige Epos. Keinesfalls bieten sie, wie es die frhere Forschung verschiedentlich postulierte, eine ursprngliche oder gar ‚germanische‘ Version der Nibelungen.

2. Formale Aspekte

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2. Formale Aspekte Anders als die lateinischen Epen des Mittelalters wurde das Nibelungenlied nicht im Hexameter, sondern in einer eigenen Strophenform abgefasst. Diese besteht aus vier paarweise reimenden Langzeilen; in der vierten Langzeile entsteht durch eine zustzliche Hebung eine Schlusskadenz, deren Beschwerung der letzten Zeile besonderen Nachdruck verleiht und die Strophe in sich geschlossen erscheinen lsst. Man hat sich diese Strophen gesungen vorzustellen, die zugehrige Melodie ist allerdings nicht berliefert. Wie andere Epen auch ist das Nibelungenlied in grßere Abschnitte eingeteilt – insgesamt sind es 39 –, die in den Handschriften mit dem mittelhochdeutschen Wort ventiure („Bericht von einem Ereignis“) bezeichnet sind. Durch diese Einteilung erscheint das Nibelungenlied episodenhaft aufgebaut. Das Nibelungenlied ist in einem eingngigen Stil verfasst, fr den mindestens die folgenden drei Merkmale charakteristisch sind: 1. Als Produkt der hochmittelalterlichen, hfischen Kultur entspricht das Epos dem Geschmack der Zeit, wie er u.a. auch in Antiken- und Artusromanen zum Ausdruck gebracht wurde. So ist die aus anderen Quellen bekannte Jugendgeschichte Siegfrieds mitsamt Drachenjagd und Nibelungenschatz weitgehend ausgespart bzw. nur knapp nacherzhlt und durch Berichte ber eine vorbildliche Prinzenerziehung am Hof ersetzt. Fortlaufend wird neben der Handlung großer Reichtum imaginiert oder reprsentative Pracht dargestellt, z.B. in Form von Kleiderbeschreibungen. In der lteren Forschung wurden solche ‚Schneiderstrophen‘ abgewertet, weil sie fr eine sptere Zutat des ursprnglichen heroischen Gedichts gehalten wurden. Inzwischen ist man vom Versuch der Rekonstruktion von Vorstufen abgekommen und liest das Nibelungenlied als genuines Erzeugnis der hfischen Literatur. Wer den Text verfasste und ihn rezipierte, verwandte grßte Mhe darauf, den vorfindlichen Stoff zu entmythisieren und das stndische Selbstbewusstsein zum Ausdruck zu bringen. 2. Im Text finden sich Merkmale, die charakteristisch fr mndliche Erzhlungen sind. Dazu zhlen etwa gelegentliche formelhafte Wendungen, stereotype Figurenzeichnungen, Ansprache eines kollektiven Publikums oder ‚mndlich‘ erscheinende Satzkonstruktionen. Diese Merkmale sind nicht das Ergebnis der schriftlichen Aufzeichnung eines mndlichen Vortrags, sondern die ‚inszenierte‘ Mndlichkeit des schriftlichen Textes war darauf angelegt, eine Sprache eigener Prgung hervorzubringen (Curschmann 1979). 3. Im Nibelungenlied gibt es zahlreiche wiedererkennbare Szenen wie etwa der Streit der Kniginnen auf der Treppe des Wormser Doms, Siegfrieds Ermordung an der Quelle, die Nibelungen in der brennenden Halle oder die Hortforderung zum Schluss des Textes. In wenigen kompakten Versen gelingt es dem Nibelungendichter, Orte und die darin befindlichen Gruppen plastisch erscheinen zu lassen und ganze Szenerien zu erschaffen. Es ist anzunehmen,

Nibelungenstrophe und ventiuren

Hfisierung

Pseudomndlichkeit

Schaubildtechnik

106

9. Brche

Das Nibelungenlied

dass auch er auf besonders einprgsame Bilder der Erzhltradition zurckgreifen konnte (Heinzle 2005, 79). Ein weiteres Charakteristikum des Textes sind Brche in der Handlungslogik. Beispielsweise fordert Kriemhild im zweiten Teil unvershnlich Hagens Tod, doch als sie ihn in ihrer Gewalt hat, verlangt sie von ihm lediglich den Nibelungenschatz im Tausch fr sein Leben, als ob sie die Rache vergessen htte. Solche Brche durchziehen die Handlung; sie stellen kein Kennzeichen mangelnder sthetischer Qualitt dar, sondern erklren sich aus der Tradition des Stoffes. Sie mgen aus einer modernen Perspektive unlogisch oder unmotiviert erscheinen und die Lektre erschweren, doch gehren sie integral zum Text und seiner Zeit. Wie bei anderen Epen teilt sich die Forschung angesichts der logischen Brche in Traditionalisten und Individualisten (Kap. 1 und Lienert 2003, 92f.). Die Forschung kann sich nicht darauf verstndigen, ob der Text in sich bzw. aus seiner Zeit geschlossen deutbar ist oder ob zu seinem Verstndnis weitere Zeugnisse der Sage herangezogen werden mssen. Es bleibt fraglich, ob die Brche sich bloß einer modernen Logik entziehen oder ob der Autor des Nibelungenliedes auf bestimmte Bilder und Gesten nicht verzichten konnte, weil sie in der Sagentradition beraus bekannt waren.

3. Inhalt 1.–6. ventiure: Siegfried in Worms

Die Handlung setzt mit der Ankunft Siegfrieds am Hof der Burgunden zu Worms ein. Nur der welterfahrene Hagen von Tronje erkennt in ihm jenen berhmten Helden, der im Drachenblut gebadet und den sagenhaften Nibelungenhort mitsamt dem Mantel, der unsichtbar macht (die sog. Tarnkappe), erbeutet habe. Siegfried schließt mit Knig Gunther eine Vereinbarung: Er darf dessen Schwester Kriemhild heiraten, wenn er Gunther hilft, die außergewhnlich starke Brnhild von Island als Braut zu gewinnen. Das ist ein gefhrliches Vorhaben, denn wer sie im Wettkampf nicht besiegt, verliert seinen Kopf. Stichwort

Die Programmstrophe „Uns ist in alten maeren wunders vil geseit von heleden lobebaeren, von grzer arebeit, von freuden und hchgezten, von weinen unde klagen, von kener recken strten muget ir n wunder hoeren sagen.“ „Uns ist in alten Geschichten viel Staunenswertes gesagt / von ruhmwrdigen Helden, von großer Mhsal (im Kampf), / von Freuden und Festen, von Weinen und Klagen, / vom Kmpfen khner Helden knnt ihr jetzt Staunenswertes sagen hren“ (Nibelungenlied, Kommentar zu 1).

3. Inhalt

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Der Textanfang in den meisten Ausgaben gibt in konzentrierter Form an, worum es in der folgenden Erzhlung geht, und suggeriert zugleich eine Gemeinschaft von Erzhler und Publikum. Wie in der Heldendichtung blich nimmt der Erzhler an, dass die folgende Geschichte aus der ‚Vorzeit‘ dem Publikum bekannt ist. Das, was erzhlt wird, hat sich vor langer Zeit ereignet, es sind keine Geschichten von, sondern Geschichten fr heute. Es ist die „Erinnerung an Akteure in einer außerordentlichen Situation“ (Schulze 2002, 672). Doch fngt mit der ersten Strophe wirklich das Nibelungenlied an? Die bedeutende Handschrift B, die sich heute in der Stiftsbibliothek St. Gallen befindet, kennt diese Zeilen nicht, sondern beginnt direkt mit der zweiten Strophe („Es war einmal in Burgund. Da wuchs eine Prinzessin heran, die war die Schnste weit und breit, Kriemhild genannt. Sie wurde eine schne Frau. Deshalb mußten viele Helden sterben“). Es ist nicht eindeutig, ob die Programmstrophe eine sptere Zutat ist.

In Island lsst Siegfried Brnhild glauben, er sei ein Vasall Gunthers, obschon beide rechtlich gleichgestellt sind. Gunther fordert Brnhild heraus und gewinnt, weil Siegfried ihm mit dem Tarnmantel hilft. Die Gesellschaft kehrt mit der eroberten Brnhild nach Worms zurck, man feiert Doppelhochzeit. Doch Brnhild ist fassungslos darber, dass ihre Schwgerin Kriemhild den vermeintlichen Untertan Siegfried geheiratet hat. Sie bricht vor aller Augen in Trnen aus und verweigert Gunther die Hochzeitsnacht. Am nchsten Tag bittet Gunther Siegfried um Hilfe. Wieder kommt der Tarnmantel zum Einsatz: In der Nacht schleicht sich Siegfried in das knigliche Schlafgemach und ringt Brnhild mit Mhe und Not nieder, bis Gunther sie vergewaltigt hat. Brnhild verliert durch die Entjungferung ihre Strke; Siegfried und Kriemhild ziehen nach Xanten. Als Siegfried und Kriemhild Jahre spter nach Worms zurckkehren, streiten Kriemhild und Brnhild ber den Vorrang ihrer Gatten. Der Streit eskaliert in aller ffentlichkeit vor dem Wormser Dom – in einer der bekanntesten Szenen des Werks. Noch vor Kriemhild will Brnhild die Kirche betreten, weil sie sich hhergestellt glaubt, doch Kriemhild streitet ihre Forderung ab. Nicht Gunther, so behauptet sie, sondern Siegfried habe sie entjungfert; Brnhild sei bloß die Nebenfrau ihres Gemahls. Triumphierend zieht sie in den Dom ein, Brnhild ist ffentlich gedemtigt und weint. Hagen ist entschlossen, die Schmhung seiner Knigin beim nchsten Jagdausflug zu rchen. Mit einer List gelingt es ihm, Kriemhild das Geheimnis ber die einzige Stelle zu entlocken, an der Siegfried verwundbar ist. Damals beim Bad im Drachenblut fiel ein kleines Lindenblatt zwischen seine Schulterbltter. Als sich Siegfried nun bei der Jagd ber eine Quelle beugt, rammt ihm Hagen einen Speer in die verwundbare Stelle. Siegfried schlgt noch todwund strker als jeder andere um sich und stirbt seinen Heldentod außerhalb des Schlachtfeldes. Zu Hause behauptet man, Ruber htten ihn erschlagen, doch

7.–11. ventiure: Brnhild

12.–14. ventiure: Streit der Kniginnen

15.–19. ventiure: Siegfrieds Ermordung

108

9.

20.–27. ventiure: Einladung an den Etzelhof

28.–39. ventiure: Eskalation

Das Nibelungenlied

die Wunden der Leiche beginnen wieder zu bluten, als Hagen an die Totenbahre tritt, und geben dadurch den Mrder zu erkennen. Kriemhild bleibt jahrelang als Witwe in Worms und spricht weder mit Gunther noch mit Hagen. Der aber erkennt die Gefahr, die ihr Reichtum darstellt, raubt ihr den Nibelungenhort und versenkt ihn im Rhein. Die Handlung setzt einige Jahre spter wieder ein. Knig Etzel (der auf den historischen Attila zurckgeht) schickt seine Boten, die fr ihn um die Hand der Witwe Kriemhild anhalten. Diese heiratet ihn und bekommt einen weiteren Sohn. Nach 13 Jahren ldt sie ihre Verwandten an den Hof Knig Etzels. Die Burgunden, die rtselhafterweise auf einmal ‚Nibelungen‘ genannt werden, brechen zu einer langen Reise in den Osten auf. Sobald sie am Hof Etzels eintreffen, kommt es zur offenen Anklage. Noch vor der offiziellen Begrßung durch den Gastgeber will Kriemhild Hagen tten lassen, der sich seinerseits offen zum Mord bekennt. Tags darauf befiehlt Kriemhild, 9000 Knappen und 12 Ritter zu tten, whrend sich die Knige beim Festmahl in Etzels Halle befinden. Als sie vom Blutbad erfahren, fhrt Hagen eine Eskalation herbei. Er enthauptet den Sohn von Etzel und Kriemhild. Damit sind die Burgunden außer Recht gesetzt. Etzel und seine Leute ziehen sich aus der Halle zurck. In immer neuen Angriffswellen sterben unzhlige Hunnen, bis Kriemhild das Gebude, in dem sich ihre Verwandten befinden, in Brand setzen lsst. Die Burgunden leiden unter der Hitze und lschen ihren Durst mit dem Blut der Getteten. Erst der allen berlegene Held Dietrich von Bern (historisches Vorbild: Theoderich der Große) kann sie gefangen nehmen. Er holt die letzten berlebenden aus dem Inferno und es kommt zum Showdown, bei dem Kriemhild von Hagen den Nibelungenhort zurckfordert. Als er sich weigert, zu sagen, wo sich der Schatz befindet, erschlgt sie ihn mit Siegfrieds Schwert Balmung und wird ihrerseits von Hildebrand, einem Untergebenen Dietrichs, gettet. Hauptfiguren Gunther/Gernot/Giselher: Knige der Burgunden mit Sitz in Worms. Fr die Handlung zweitrangig. Kriemhild: Schwester der Burgundenknige, die erst Siegfried und spter als Witwe Etzel heiratet. Ldt die Burgunden auf Etzels Burg ein, um die Ermordung Siegfrieds zu rchen. Brnhild: Unermesslich starke Knigin von Island. Heiratet Gunther, nachdem dieser sie mit Siegfrieds Hilfe im Wettkampf besiegt hat. Hagen von Tronje: Verwandter, Vasall und Berater der Burgunden. Ttet Siegfried und wird dadurch Gegenspieler Kriemhilds in der zweiten Hlfte des Epos. Siegfried: Knig aus Xanten, Besitzer des Nibelungenschatzes und des Schwertes Balmung. Nach einem Bad im Drachenblut unverwundbar. Heiratet Kriemhild und wird von Hagen gettet.

5. Rezeption

109

4. Helden Das Wort helt ist im Deutschen schon frh mit der einfachen Bedeutung „Mann“ belegt und fllt dann im Nibelungenlied mit der lateinischen Verwendung von heros zusammen. Der einzelne Kmpfer sticht aus der Masse heraus und wird fr seine Taten bewundert (Schulze 2002, 670). Deshalb besteht fast die ganze Wormser Hofgesellschaft – und nicht nur sie – aus den „besten Helden […], von denen je berichtet wurde“ (8,3). Jeder einzelne wird fortlaufend beschrieben als „ein Mann von großer Kraft und Khnheit“ (9,4) oder „ein hervorragender Held“ (11,3): Hagen von Tronje, Marschall Dankwart, Truchsess Ortwin von Metz, die Markgrafen Gere und Eckewart, Volker von Alzey, Rumolt der Kchenmeister, Sindolt der Mundschenk und Honolt der Kmmerer. Die Heldenhaftigkeit der Figuren besteht in ihrer Exorbitanz, d.h. sie werden als vorbildlich und berragend dargestellt. Fr die Konstruktion der Heldenhaftigkeit ist zentral, dass kaum Einblick in die Motivation der Figuren gegeben wird. Man hat von „Eisen-Mnnern“ und „Riesen-Weibern“ gesprochen, die „von ihrer Wortkargheit, ihrer wortlos in sich gedrngten Tiefe, ihrer Schroffheit“ leben (Vischer 1920, 456). Das macht den Text mehrdeutig, weil die Figuren handeln, ohne dass der Grund dafr ersichtlich wre; sie erscheinen schwer greifbar und rtselhaft. Die Handlung bekommt dadurch den Charakter des Unabwendbaren. Von Beginn an lsst der Text keinen Zweifel daran, dass zuletzt „viele Helden sterben“ mssen (2,4); der Ausgang der Geschichte ist durch solche Vorausdeutungen zwar bekannt – wie es in der Epostheorie als Merkmal zahlreicher Epen beschrieben wird –, spannend ist also nicht, ob, sondern wie die Verwicklungen zuletzt in einer Katastrophe mnden.

Exorbitanz

Figur und Handlung

5. Rezeption Bald nach der Wiederentdeckung stellten bedeutende Gelehrte des 18. Jh. das Nibelungenlied in die Nhe der Ilias (Kap. 2), das heißt, sie beurteilten den mittelalterlichen Text aus dem Lichte eines lteren Werks, das sich sthetisch, formal und inhaltlich von ihm unterscheidet, schufen aber zugleich die Voraussetzung fr die vergleichende Betrachtung mit anderen Heldenepen. In der Folge begann eine einzigartige Aufstiegsgeschichte, die das Nibelungenlied zum bekanntesten deutschsprachigen Werk des Mittelalters gemacht hat. Der Rang zeigt sich unter anderem darin, dass Bildknstler, Filmschaffende, Komponisten und Literaten den Gegenstand bis heute immer wieder aufgreifen (einen berblick bietet Miedema 2011, 121–138). Der Nibelungenstoff ist mit ber 150 Stcken der meist dramatisierte der deutschen Literatur, mehrfach

Adaptionen

110

9.

Identitt

Isolation

Das Nibelungenlied

wurde er fr die Oper umgesetzt oder in groß angelegten Filmen adaptiert. Die drei bekanntesten Werke sind Friedrich Hebbels Dramentrilogie Die Nibelungen (1861), Richard Wagners Opernzyklus Der Ring des Nibelungen (erste vollstndige Auffhrung 1876 zur Erffnung des Bayreuther Festspielhauses) und Fritz Langs Stummfilmzweiteiler Die Nibelungen (1924). Wagner muss als der bekannteste von ihnen angesehen werden; er wurde zum Referenzpunkt fr Generationen von Knstlern. ber diese drei bekanntesten hinaus gab es unzhlige Nacherzhlungen unter dem Titel ‚deutscher Heldensagen‘, die den Stoff untrennbar mit der nordischen berlieferung vermischten. Der jngste Versuch einer großangelegten Vermarktung zeigt sich seit 2002 bei den Wormser Festspielen, die nach Bayreuther Vorbild alljhrlich einen Kristallisationspunkt der Nibelungenbegeisterung bieten. Auch wenn das Nibelungenlied bekannt ist und im Kulturellen Gedchtnis der Deutschen verankert wurde, verlief die Stilisierung zum Nationalepos seit dem 19. Jh. nie unproblematisch, denn man tat und tut sich schwer damit, den Text fr die Gegenwart anzueignen: Die Figuren erscheinen unzugnglich, der Stil fremd, die Handlung sinnlos. Angesichts der blutrnstigen Geschehnisse, in deren Zuge „sich auf Etzel Gemetzel reimt“ (Wilbrandt 1919, 309), entwickelte sich geradezu ein antinibelungischer Reflex. Trotz dieser Widerstnde hat sich eine faszinierende wie erschreckende Rezeptionsgeschichte entwickelt, die man nicht umgehen kann, wenn man sich mit den Nibelungen beschftigt. Genannt seien drei Aspekte der Wirkungsgeschichte. 1. Die literarische Aneignung ist von der außerliterarischen kaum zu trennen, weil die Nibelungen als Vorzeitkunde aufgefasst werden. Bereits im Jahr 1758 sieht Gotthold Ephraim Lessing darin Zge, die „von dem kriegerischen Geiste zeugen, der unsere Vorfahren zu einer Nation von Helden machte“ (zitiert nach Heinzle 2005, 115). Man sucht nach großen Taten in der Vergangenheit des eigenen Volkes und findet sie z.B. im Nibelungenlied. Heutige Deutsche werden mit angeblichen Germanen gleichgesetzt, man erkennt in den Nibelungen seine Vorfahren. Diese einfache Gleichung, die letztlich auf die Tacitus-Rezeption der Humanisten zurckgeht, bestimmt die Geschichte des Nibelungenliedes in den letzten 250 Jahren. Wie sehr Mythologie und Historie sich dabei in einer unbestimmten Vorgeschichte der Nation auflsen, zeigt sich in einem Satz Jacob Grimms aus dem Jahr 1814: „[W]ir wrden nicht ber das geschichtliche im Nibelungenliede, sondern ber das Nibelungische in der altdeutschen geschichte geschrieben haben“ (Grimm 1869, 91). Diese bertragung ist eine Konstante, sei es in der Ausstattung der Opern Richard Wagners mit ‚germanischen‘ Accessoires oder der Widmung von Fritz Langs monumentalem Stummfilm: „Dem deutschen Volke zu eigen“. 2. Die populre wie die frhe wissenschaftliche Interpretation des Nibelungenliedes neigen dazu, „Einzelbeobachtungen, die z.T. zutreffen knnen, zu verabsolutieren“ (Lienert 2003, 91). Die Konstruktion des Textes untersttzt

5. Rezeption

111

solche Isolationen durch die genannten Brche (siehe oben 2) und die fehlende psychologische Ausgestaltung der Figuren (4). Auch durch die oben (2) genannte ‚Schaubildtechnik‘ werden wirkmchtige Bilder produziert, die losgelst aus ihrem Kontext fortbestehen, ja sich sogar gegenseitig widersprechen knnen, wie es bei den Vorstellungen des ‚Dolchstoßes‘ und der ‚Nibelungentreue‘ der Fall ist. Stichwort

Dolchstoßlegende und Nibelungentreue Die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes verluft in sich nicht einheitlich oder gar rational, wie man am Beispiel zweier wirkmchtiger Begriffe sieht. Gegen Ende des 1. Weltkrieges kam der Irrglaube auf, die deutsche Armee sei nicht militrisch unterlegen gewesen, sondern durch angebliche Verrter aus den eigenen Reihen (z.B. Sozialdemokraten) zu Fall gebracht worden, was als ‚Dolchstoßlegende‘ unheilvoll in den politischen Diskurs eingefhrt wurde. Das Bild des hinterrcks Erdolchten verband sich auf unbestimmte Weise mit Hagens Speerwurf, man identifizierte sich also mit Siegfried, whrend Hagen negativ besetzt wurde. Das Gegenteil, also Identifikation mit Hagen, zeigt das Wort von der ‚Nibelungentreue‘, das wohl Reichskanzler von Blow 1909 geprgt hat. Spter bezog es sich v.a. auf das Bild der Burgunden bei der Nachtwache und in der brennenden Halle. Am markantesten findet sich die Beschwrung der Nibelungentreue in der Rede, die Hermann Gring am 30. Januar 1943 anlsslich der Schlacht von Stalingrad hielt: „Wir kennen ein gewaltiges Heldenlied von einem Kampf ohnegleichen, es heißt ‚Der Kampf der Nibelungen‘. Auch sie standen in einer Halle voll Feuer und Brand, lschten den Durst mit dem eigenen Blut, aber sie kmpften bis zum Letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, dass dort trotz allem Deutschlands Sieg errungen worden ist“ (zitiert nach Miedema 2011, 127). Dem sinnlosen Sterben in Stalingrad sollte durch diese zynischen Worte eine historische Sinnhaftigkeit gegeben werden. In der gleichzeitigen Lebendigkeit beider Begriffe zeigt sich die Widersprchlichkeit der Nibelungenrezeption, denn Hagen wird durch das Herausreißen einzelner Bilder zugleich als Verrter und treuester Vasall, als abschreckend und vorbildlich verstanden.

3. Die neuzeitliche Rezeption unterstellt dem Stoff eine gedankliche Tiefe, die die mittelalterlichen Zeugnisse nicht aufweisen. Reformulierungen neigen zu einem schweren, bedeutungsschwangeren Stil. Dster, bedrohlich und erhaben mssen die Nibelungen erscheinen – oder aber die Erwartungshaltung wird, wie es in jngster Zeit hufiger geschieht, komisch gebrochen. Zugrunde liegt ein Zirkelschluss: Der Text wird als Nationalepos aufgefasst, weil er auch heute noch etwas zu sagen habe, und als Nationalepos muss er auch heute noch etwas zu sagen haben. Dagegen werden im Nibelungenlied die katastrophalen Ereignisse genauso wie die Figuren zwar als herausragend konstruiert, doch die n moderne Zuschreibung von Bedeutsamkeit ist dem Epos fremd.

Tiefe

112

9.

Das Nibelungenlied Auf einen Blick

Das um 1200 entstandene Nibelungenlied ist ein Erzeugnis der hfischen Literatur, das hnlichkeiten mit zeitgenssischen Romanen aufweist. Es verarbeitet historische Ereignisse, die in verschiedenen, sich z.T. widersprechenden Fassungen derselben Sagentradition wiedergefunden werden knnen. Der besondere Textstatus als heroische Dichtung, die traditionelle Erzhlungen aufnimmt und fr ein hfisches Publikum neu erzhlt, bestimmt die Faktur des Liedes, zugleich erschwert er die Lektre. Insbesondere die einfache, bildgewaltige Sprache des Dichters ist die Grundlage fr die Indienstnahme und produktive Rezeption der letzten Jahrhunderte.

Literaturempfehlungen Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen (2013), hg. u. bers. v. Joachim Heinzle. Berlin. Neueste Ausgabe mit bersetzung und ausfhrlichem Kommentar. Auch als Taschenbuch erhltlich. Miedema, Nine R. (2011): Einfhrung in das „Nibelungenlied“. Darmstadt. Kompakte Einfhrung, die das Werk vorstellt und es in seiner Epoche verortet; mit Ausblick zur Rezeptionsgeschichte und der Verwendung im Schulunterricht. Kragl, Florian (Hg., 2012): Nibelungenlied und Nibelungensage. Kommentierte Bibliographie 1945–2010. Berlin/Boston. Die annotierte Zusammenstellung gibt kurze Zusammenfassungen von ca. 3000 Forschungstiteln aus 66 Jahren (ohne Rezeption). Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen berlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters [https://handschriftencensus.de/werke/271] (Zugriff: 8. Juli 2022). Aktuelle Zusammenstellung smtlicher Handschriften und Fragmente. Reichert, Hermann (2003): Die Nibelungensage im mittelalterlichen Skandinavien. In: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. v. Joachim Heinzle u.a. Wiesbaden. S. 29–88. berblick ber die nordische berlieferung in Literatur und Bildkunst. Die Rezeption des Nibelungenliedes, hg. v. Gunter E. Grimm u.a. [http://www.nibelungenrezeption.de/] (Zugriff: 8. Juli 2022). Umfassendes Fachportal der Universitt Duisburg-Essen zum Fortleben des Nibelungenliedes in Kunst, Musik, Film und Literatur seit dem Mittelalter.

Weitere Literatur Bumke, Joachim (1996): Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur berlieferungsgeschichte und Textkritik der hfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin/New York. Curschmann, Michael (1979): Nibelungenlied und Nibelungenklage. ber Mndlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven, hg. v. Christoph Cormeau. Stuttgart. S. 85–119. Grimm, Jacob (1869): Kleinere Schriften, 4. Bd.: Recensionen und vermischte Aufstze. 1. Teil. Berlin. Heinzle, Joachim (2005): Die Nibelungen. Lied und Sage. Darmstadt. Lienert, Elisabeth (2003): Perspektiven der Deutung des Nibelungenliedes. In: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. v. Joachim Heinzle u.a. Wiesbaden. S. 91–112.

Weitere Literatur Reichert Hermann (Hg., 2017): Das Nibelungenlied. Text und Einfhrung, nach der St. Galler Handschrift. Berlin/Boston. Schulze, Ursula (2002): Siegfried – ein Heldenleben? Zur Figurenkonstitution im ‚Nibelungenlied‘. In: Literarische Leben. Rollenentwrfe in der Literatur des Hoch- und Sptmittelalters. Festschrift fr Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. v. Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer. Tbingen. S. 669–689. Vischer, Friedrich Theodor (1920): Vorschlag zu einer Oper. In: Kritische Gnge, 2. Bd., hg. v. Robert Vischer. 2. Aufl. Mnchen. S. 451–478. Wilbrandt, Robert (1919): Sozialismus. Jena.

113

10. Reconquista, Rechtsstreit und die spanische Identitt Der Cantar de Mio Cid von Anna Isabell Wrsdrfer berblick

W

ie viele Nationalhelden tut sich der Cid alias Rodrigo Daz de Vivar (gest. 1099) in einer kriegerischen Episode der Geschichte, in diesem Fall der Rckeroberung muslimisch kontrollierter Landesteile Spaniens durch die Heere christlicher Anfhrer im Mittelalter, hervor. Angelehnt an diese Ereignisse ist der Cantar de Mio Cid um 1200 entstanden. In drei Teilen erzhlt das Epos von der Verbannung des Helden durch

den Knig und beider Ausshnung, seinen kriegerischen Kampagnen in den maurischen Gebieten samt der bedeutenden Wiedereinnahme Valencias und seinem Rechtsstreit mit den Infanten von Carri n. Die im Cantar betriebene Stilisierung des Cid als idealer Vasall und Krieger prgt sein Bild innerhalb des spanischen Identittsdiskurses, das in nachmittelalterlicher Zeit nicht nur literarisch kontrovers diskutiert wird.

um 1050

Geburt des historischen Cid

1089

(Zweite) Verbannung durch Alfonso VI.

1094

Rckeroberung Valencias durch den Cid

Pfingsttag 1099

Tod des historischen Cid

um 1200

Entstehung des Cantars de Mio Cid

1. Hlfte 14. Jh.

Entstehung der einzigen berlieferten Handschrift, heute Biblioteca Nacional de Espa a

1779

Erste moderne Edition des Cantars durch Tom s Antonio S nchez

1. berlieferung Traditionalisten vs. Individualisten

Wie fr frhkulturelle Literatur im Allgemeinen nicht unblich, liegen viele Aspekte der Werkentstehung auch des spanischen Cid-Epos noch immer im Dunkeln bzw. lassen sich heute auf Basis der sprlichen zur Verfgung stehenden Informationen nicht eindeutig erhellen. So hngt schon die moderne

1. berlieferung

Bezeichnung des titellos tradierten Textes als Cantar oder als Poema del Cid von Ursprungsfragen ab, die die beiden sich herauskristallisierenden Schulen, deren Tendenzen sich ebenfalls in der franzsischen Diskussion um die Chansons de geste wiederfinden, jeweils unterschiedlich beantworten: Gehen die Traditionalisten (auch unter dem Namen Oralisten bekannt) von einer zunchst durch juglares, Spielleute, vorgenommenen mndlichen – und zwar genauer: gesungenen – berlieferung aus, der erst spter eine Verschriftlichung folgte, pldieren die Individualisten fr eine originr schriftliche Komposition durch einen virtuosen Einzeldichter (Kap. 1). So diametral-gegenstzlich, wie die zwei Positionen in der lteren Forschung mitunter vertreten wurden, sind sie tatschlich nicht, erscheint es aus Sicht der aktuellen Forschung doch durchaus denkbar, dass sich die zuAbb. 7 Erste Blattseite des Cantars de mio Cid. 1. Hlfte 14. Jh. nchst orale Verbreitung mit der anschlie(Madrid, Biblioteca Nacional de Espaa, VITR/7/17, fol. 1r) ßend knstlerischen Ausgestaltung der Niederschrift kombinieren lsst. Whrend der frhe Cid-Spezialist Ram n Men ndez Pidal (1869–1968) Per Abbat und die noch eine Fixierung des Cantars de Mio Cid um das Jahr 1140 annahm, datiert Handschrift die Forschung den Text heute aufgrund inhaltlicher Details auf die Wende des 12. zum 13. Jh. (Lomax 1977, 81). Aus dieser Zeit, genauer: aus dem Jahr 1207, stammt auch eine (heute verlorene) Abschrift des Textes durch einen nicht nher identifizierten Per Abbat, der seinen Namen im Explicit, den Schlussversen des Cantars, nennt. Dass es sich bei diesem nicht um den Autor des Werks, wie von einigen Forschenden zunchst angenommen, sondern um den Kopisten handelt, wird anhand der typisch-feststehenden Formulierung hergeleitet und inzwischen allgemein anerkannt. Eine auf Basis des Abbat-Textes angefertigte Kopie aus der ersten Hlfte des 14. Jh. ist die einzige und nahezu vollstndig erhaltene Handschrift des Cantars de Mio Cid, die heute in der Biblioteca Nacional de Espaa in Madrid aufbewahrt wird. Die hchstens 50 Verse des ersten verlorenen Blattes knnen mithilfe einer zeitnah entstandenen Chronik, die den Cid-Text in aufgelster Prosa integrierte, inhaltlich rekonstruiert werden. Es handelt sich dabei um die von Alfonso X. in Auftrag gegebene Estoria de Espa a. 1779 – und damit einige Jahre bzw. Jahrzehnte vor den ersten bedeutenden Editionen von deutschen und franzsischen Heldenepen – legt Toms Antonio Snchez die erste moderne Edition des Cantars vor.

115

116

10.

Der Cantar de Mio Cid

2. Formale Aspekte Anisosyllabische Struktur

Cantar de gesta

Performanz

Der Cantar de Mio Cid besteht aus 3735 anisosyllabischen, d.h. ungleich langen Versen, die sich aus jeweils zwei durch Zsur getrennten, in sich ebenso unregelmßigen Halbversen zusammensetzen. Mehrheitlich besitzen die Verse 14–16 Silben, knnen zuweilen jedoch auch minimal nur neun oder aber maximal bis zu 20 Silben umfassen. Die Versenden sind durch ein- oder zweisilbige Assonanzen (vokalische Halbreime) lautlich strukturiert, durch deren jeweiligen Wechsel sich Versgruppen zu tiradas, im Deutschen „Laissen“, formen lassen. Diese rudimentr-strophenfrmige Einteilung – die meist mit inhaltlichen Einheiten bereinstimmt – entstammt allerdings nicht der mittelalterlichen berlieferung, sondern ist eine Zutat moderner Textphilologie. Eng verknpft mit der metrischen Form ist die Gattungsbestimmung. Der Cid-Text zhlt zum epischen Subgenre des Cantars de gesta, das nicht wenige Strukturmerkmale mit der franzsischen Gattungsvariante, der Chanson de geste, teilt. Die Tatsache, dass in Spanien außer dem Cantar de Mio Cid nur zwei andere (zeitlich sptere) cantares – der Cantar de Rodrigo, auch: Mocedades de Rodrigo, um die Jugend des Cid, und ein Cantar de Roncesvalles ber den auch im Chanson de Roland verarbeiteten Tod des franzsischen Epenhelden (Kap. 12) – fragmentarisch berliefert wurden (Bayo 2005, 20), stellt die generische Klassifikation vor Herausforderungen. Selbiges gilt umso mehr aufgrund der Tatsache, dass weitere Gattungsvertreter – wie der Cantar de los siete Infantes de Lara ber eine Familienfehde und der Cantar de Sancho II mit der Vorgeschichte zur Cid-Handlung – nur ber nachtrgliche Prosaumarbeitungen rekonstruierbar sind. Die syllabischen Irregularitten und formelhaften Wendungen sprechen fr einen mndlichen Vortrag des Cantars in Form einer epischen Kantillation, d.h. nach einer Art Sprechgesang, bei dem (der liturgischen Kantillation gleich) ein sonst gesprochener Text in feierlich-gehobener Weise intoniert wird (Fernndez/del Bro 2004, 32ff.). Auch die im mittelalterlichen Text nicht graphisch, aber lexikalisch markierten Einschnitte (V. 1086 und V. 2277), die in modernen Editionen zur regulren Gliederung des Cantars in drei etwa gleichgroße Gesnge gefhrt haben, werden als Hinweis auf Vortragseinheiten gewertet, also auf eine zweimalig nach Pausen fortgesetzte mndliche Darbietung. Neue Anstze haben die formale Gattungsbestimmung um inhaltliche Aspekte ergnzt und neben der heroischen Abenteuerhandlung die Bedeutung karnevalesker und sentimentaler Elemente als Besonderheit hervorgehoben (Thomas 2005, 99f.), die das Cid-Epos fr seine Zuhrerschaft zur abwechslungsreichen Unterhaltung macht.

3. Inhalt

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3. Inhalt Der Cantar de Mio Cid folgt in seinen drei Gesngenmakrostrukturell dem Lebensweg des historischen Rodrigo Daz de Vivar (ca. 1050–1099) ab seiner Verbannung durch den kastilischen Knig Alfonso VI., etabliert deren Herr-Vasall-Verhltnis (Clark 2009, 1) demnach von Beginn an als zentrale Achse des Textes. Der erste Gesang setzt mit dem Bruch zwischen beiden ein, der – so ist der kurze fehlende Einstieg zu rekonstruieren – aufgrund einer Verleumdung des Cid vonseiten des Grafen Garca Ord ez zustande kam. Der Verstoßene lsst seine Ehefrau Doa Jimena und die beiden Tchter Doa Elvira und Doa Sol im Kloster San Pedro de Cardea zurck. Er verlsst Kastilien mit einigen Mnnern, u.a. dem getreuen lvar Fez, genannt Minaya („mein Bruder“). In den maurischen Gebieten der Iberischen Halbinsel unternimmt er immer umfangreichere Beutezge und macht dabei seinen Beinamen ‚Cid‘ (arabisch fr „mein Herr“) und ‚Campeador‘ (spanisch fr „Kmpfer“) alle Ehre. Seine militrischen Aktionen kulminieren in der Rckeroberung Valencias zu Beginn des zweiten Gesangs. Durch geschickte, sich mit jedem Sieg steigernde Schenk-Diplomatie (LaRubia-Prado 2008, 284ff.), bei der Minaya die Botenrolle zukommt, gelingt dem Cid die Ausshnung mit Alfonso. Dieser verheiratet die Tchter des Cid, nachdem er zuvor schon einer Wiedervereinigung der Familie in Valencia zugestimmt hatte, als Ehrerweis mit den Infanten von Carri n, zwei leonesischen Hochadeligen. Im dritten Gesang entpuppen sich diese nicht nur bei einem Vorfall mit dem entlaufenen Lwen des Cid, sondern auch in einem weiteren Gefecht gegen eine herannahende Maurenarmee als Feiglinge. Da sie sich fr den daraus resultierenden Spott rchen wollen, binden sie ihre Ehefrauen auf der Rckreise in ihre Heimat im Eichenwald von Corpes an Bumen fest und lassen sie nach dem Auspeitschen bewusstlos zurck. Der beim Knig Gerechtigkeit fordernde Cid erlangt bei der juristischen Verhandlung der Sache auf dem Hoftag in

Verbannung und Vershnung, Entehrung und rechtliche Rehabilitation

Abb. 8 Die Tchter des Cid, Doa Elvira und Doa Sol, werden im Wald von Corpes nach dem Auspeitschen an Bumen gefesselt zurckgelassen. lgemlde von Ignacio Pinazo, 1879 (Valencia, Museo de Bellas Artes)

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10.

Die historische Reconquista

Der Cantar de Mio Cid

Toledo, die durch ein dreifaches Gerichtsduell in Carri n beschlossen wird, den eindeutigen Sieg und somit die Rehabilitation seiner Familienehre, die noch dazu durch die Wiederverheiratung der Tchter mit den Prinzen von Navarra und Arag n gesteigert wird. Wie sich im Plot des Cid-Epos zeigt, entspricht der formal angenommenen Dreiteilung demnach in inhaltlicher Logik eine Zweiteilung, bei der der Held jeweils eine ansteigende Handlungskurve aus ihm widerfahrenden Unrecht und umso glnzenderer Anerkennung durchluft. Wie die Forschung immer wieder hervorhebt, zeichnet sich die erste der beiden inhaltlichen Einheiten, die die Reconquista, die etappenweise Rckeroberung der seit 711 maurisch besetzten Gebiete Spaniens durch die Christen (bis 1492), in der Phase des spten 11. Jh. zum Thema macht, durch eine vergleichsweise hohe Geschichtstreue aus. Diese wird etwa im Kontrast zur franzsischen Chanson de Roland und den italienischen Ritterepen (Kap. 12), gemeinhin mit dem geringen zeitlichen Abstand der Niederschrift zu den historischen Ereignissen begrndet. Das von einer vom damals alltglichen Kontakt der verschiedenen Konfessionen geprgten Grenzmentalitt (Montaner 2007, 8) zeugende Epos zeichnet die militrische Kampagne des historischen Rodrigo Daz in bemerkenswerter geographischer Przision, unter Nennung zahlreicher Ortsnamen der wiedergewonnenen Orte und Gebiete, nach. Werden die beiden geschichtlich belegten Verbannungen des Cid (1081 und 1089) im Werk zu einer einzigen kondensiert, stellt die Belagerung und Einnahme Valencias (1094) das fr die Reconquista richtungsweisende Ereignis des Textes dar. Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass der zwischenzeitliche Eintritt des Cid in maurische Dienste vom Cantar verschwiegen wird. Obwohl die Reconquista-Thematik im Werk zentral ist, steht der Kreuzzugsgedanke nicht im Vordergrund: Der Cid erobert nicht vornehmlich aus religisen Motiven, wenngleich der Glaube fr ihn von Bedeutung ist, sondern zur Steigerung seines materiellen Gewinns. Zugleich bildet der Cantar de Mio Cid die religise Vielfalt der Zeit auf der Iberischen Halbinsel – reprsentiert durch Christen, Juden und Muslime – adquat ab. Allerdings differenziert er im Verhltnis der Spanier zu letzteren zwischen der convivencia mit den mudjares, d.h. dem friedlichen Zusammenleben mit in christlichem Gebiet lebenden Mauren, und den kriegerischen Auseinandersetzungen mit nordafrikanischen Angreifern, den Almoraviden (Tyutina 2012, 191–195). Quelle

Die Rckeroberung Valencias (Tirada 74, bersetzung Millet 2013, 133)

Es gingen die Ausrufer, wisset, berall hin. Im Vorgeschmack der Beute will niemand es aufschieben:

3. Inhalt

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Zahlreiches Kriegsvolk schließt sich ihm aus der guten Christenheit an. Es wchst an Reichtum Mio Cid, der von Bivar; als Mio Cid alles Volk beisammen sah, wurde er zufrieden. Mio Cid Herr Rodrigo wollte es nicht hinauszgern: Er begab sich nach Valencia und ließ sich neben ihr nieder, fest belagert sie Mio Cid, da gab es keine List, er hindert sie daran, hinauszugehen, und er hindert sie daran, hineinzugehen. Es ertnen die Nachrichten ber ihn bis berallhin; es kommen mehr Leute zu Mio Cid, wisset, als von ihm fortgehen. Er setzte eine Frist, falls man ihnen zu Hilfe kommen wolle. Neun volle Monate, wisset, lagert er bei ihr, als der zehnte kam, mussten sie sie ihm bergeben. Groß ist die Freude, die durch diese Gegend zieht, als Mio Cid Valencia gewann und in die Stadt einzog. Die vorher zu Fuß gingen, werden zu Reitern; das Gold und das Silber – wer knnte es fr euch zhlen? Alle waren reich, so viele da auch sind. Mio Cid Herr Rodrigo ließ den fnften Teil zurcklegen, an Mnzgut fallen ihm dreißigtausend Mark zu, und die brigen Gter – wer knnte sie zhlen? Froh war der Campeador, mit allen denen, die er bei sich hat, als sein oberstes Zeichen auf der Spitze der Festung stand.

Bei aller historischen Faktennhe zur außenpolitischen Problematik weist das Cid-Epos insbesondere in der zweiten inhaltlichen Einheit ber den Ehrkonflikt mit den Infanten von Carri n, einem innenpolitischen Thema, zahlreiche literarische Anreicherungen und Stilisierungen auf; die gesamte Handlung um die scheiternde erste Ehe von Doa Elvira und Doa Sol (in Wirklichkeit hießen die Tchter Mara und Cristina) ist frei erfunden. Einige Forschende haben in der Konfrontation des Cid, einem Kastilier, und seinen beiden leonesischen Schwiegershnen den internen Kampf um die Vorherrschaft innerhalb des Knigreichs Castilla y Le n versinnbildlicht gesehen. Dem Streit, der auf einem ebenfalls erdichteten Hoftag zu Toledo gelst wird, wohnt allerdings noch eine weitere Dimension inne: Bei der Auseinandersetzung der beiden Parteien prallen nicht nur die Reprsentanten zweier Landesteile, sondern auch der Cid als Kleinadeliger mit zwei dem Hochadel entstammenden Vertretern aufeinander, sodass sich hier mit Tugend- und Blutsadel die beiden grundstzlich antagonistischen Adelslager des Mittelalters gegenberstehen. Whrend letzteres sein Ansehen aus Tradition und elitrer Familienzugehrigkeit ableitet, sttzt der Cid seine soziale Anerkennung entscheidend auf gesellschafts- und knigsdienliche Taten. Indem der Cantar seinen Protagonisten also als untadeligen Helden inszeniert, das Verdienst des Cid unzweifelhaft ber die Geburt der Infanten von Carri n stellt, positioniert er sich eindeutig im Sinne einer Allianz zwischen Knigtum und niederem Rittertum bzw. Tugendadel auf Seiten jener, die sozialen Aufstieg durch Leis-

Stilisierung

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10.

Der Cantar de Mio Cid

tung propagieren (und ist insofern der Ideologie des franzsischen roman courtois nicht unhnlich). Nicht zuletzt zhlt in den Bereich literarischer Stilisierung auch die berhhung des Cid als treuer Vasall – eine Qualitt, die den historischen Tatsachen in ihrer hier dargestellten Eindeutigkeit nicht gerecht wird. Hauptfiguren Rodrigo Daz de Vivar: Trgt die Beinamen ‚Cid‘, arabisch fr „mein Herr“, und ‚Campeador‘, spanisch fr „Kmpfer“. Spanischer Nationalheld whrend der Reconquista, Angehriger des kastilischen Kleinadels. Fhrt nach der Verbannung Feldzge im Maurenland an, erobert Valencia und shnt sich mit dem Knig aus. Wird durch die Infanten von Carrin entehrt und siegt im Rechtsstreit. Alfonso VI.: Knig von Kastilien und Len. Verbannt den Cid nach Verleumdung durch Garca Ordez. Erlangt mit stufenweiser Wiederannherung des Cid den Status des gerechten Herrschers zurck. Fernando und Diego Gonzlez: Infanten von Carrin, Angehrige des leonesischen Hochadels. Heiraten aus Prestigegrnden die Tchter des Cid, erweisen sich als Feiglinge und werden verspottet. Rchen sich durch Schndung ihrer Ehefrauen am Cid und verlieren im Gerichtsduell. Doa Elvira und Doa Sol: Tchter des Cid und Doa Jimenas. Bleiben nach der Verbannung zunchst im Kloster und werden whrend der Ausshnung mit der Mutter nach Valencia geholt. Heiraten die Infanten von Carrin, werden von diesen aus Rache im Wald von Corpes ausgepeitscht und bewusstlos zurckgelassen. lvar Fez: Genannt ‚Minaya‘, d.h. „mein Bruder“. Verwandter, Vasall und treuer Begleiter des Cid. Zeichnet sich im Kampf gegen die Mauren aus. berbringt dem Knig als rechte Hand des Cid wiederholt Geschenke aus der Kriegsbeute.

4. Held Der Cid als „Warlord“

Geht es um die Bestimmung des Heldenbildes im Cantar de Mio Cid, ist zunchst die besondere Kriegsfhrung des Protagonisten in den Blick zu nehmen. Der Cid beginnt seine Kampagne durch kleinere kriegerische Ausflle bzw. Razzien im Grenzgebiet mitsamt einer berschaubaren Zahl getreuer Mnner, die mit zunehmenden Erfolgen und weiterem Vordringen ins Feindesland stetig ansteigt. Sein hoher Grad an Autonomie und deren direkte Anbindung an den charismatischen Anfhrer ohne ausgeprgte Hierarchie oder Truppenordnung lassen den Cid als einen mustergltigen „Warlord“ erscheinen (Harney 2015, 289), der seinen Einflussbereich eigeninitiativ und nomadisch umherziehend immer weiter vergrßert. Dabei erweist er sich als tapferer und furchtloser Krieger, der keinem (Zwei-)Kampf mit den Mauren aus dem Weg geht. Die Beute teilt er gerecht unter seinen Mitstreitern auf, wobei er ein Fnftel von dieser rechtskonform fr sich beansprucht.

5. Rezeption

Entgegen den oftmals in smtlichen Facetten ins bermenschliche gesteigerten Eigenschaften manch anderer Epenhelden bewahrt sich der Cid des Cantars (anders als jener der Mocedades) die mesura, die Mßigung. So bt er etwa nach der Schndung seiner Tchter keine nach mittelalterlichem Verstndnis der Tat geziemende Blutrache an den Infanten von Carri n, sondern appelliert als ergebener Untertan an den Gerechtigkeitssinn Alfonsos, seines Herrn, und besttigt damit sowohl das juristische System des Reichs als auch seine Loyalitt gegenber dem Knig. berhaupt ist das gesamte Handeln des Cid auf seiner unerschtterlichen Vasallentreue aufgebaut, die sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er Knig Alfonso selbst als in Ungnade Gefallener stets freimtig einen großzgigen Anteil am erbeuteten Kriegsgewinn zukommen lsst. Im Cantar erkennt der Cid die Autoritt seines Herrschers zu jeder Zeit unumstßlich an. Die Persnlichkeit des Helden ist im Cid-Epos facettenreich dargestellt und wird in mehreren Rollen beleuchtet. So prsentiert er sich einerseits als unschlagbarer Heerfhrer, dessen Wert sich auch an seiner Schlachtausstattung erkennen lsst: Die im Feld gewonnenen Schwerter Colada und Tiz n sowie das außergewhnliche Schlachtross Babieca sind Schlsselelemente seiner kriegerischen Identitt (Boix Jovan 2011, 43), die den Cid auch visuell vor allen anderen auszeichnen. Andererseits tritt er mehrfach als nahbarer Ehemann und Vater in Erscheinung, der Trnen beim Abschied von Doa Jimena und den Tchtern vergießt und sie ebenso emotional in Valencia empfngt. Auch bei der gemeinsamen Belustigung mit seinen Mnnern ber die feigen Infanten von Carri n fhrt der Text den Cid mit einer sehr menschlichen Facette vor Augen und fgt dem mehrdimensionalen Charakterbild einen weiteren Zug hinzu.

121 Mesura und Vasallentreue

Kriegsheld und liebendes Familienoberhaupt

5. Rezeption Der Cid ist zweifelsohne einer der bekanntesten Helden des spanischen Mittelalters. Neben dem Cantar liefern die um 1300 entstandenen Mocedades de Rodrigo Teil 1 der Biographie des in seinen Jugendtagen rebellisch und arrogant auftretenden Protagonisten. Darber hinaus ist der Cid in mittelalterlichen refundiciones (Prosaauflsungen), Romanzen und Motiven innerhalb anderer Haupttexte prsent. ber die Verbreitung des Cantars de Mio Cid ist allerdings festgestellt worden, dass dieser in seiner Zeit nur bei einem vergleichsweise kleinen Personenkreis und fr eine relativ kurze Spanne von weniger als 50 Jahren populr war – ganz im Gegensatz etwa zum hochbekannten Cantar de Sancho II, dessen Einfluss sich auch auf andere Werke nachweisen lsst (Vaquero 2005, 227). Dessen ungeachtet bt der Cid seit dem Ende des Mittelalters nicht nur auf die spanische Literatur und Kultur eine immense Breitenwirkung aus.

Verbreitung im Mittelalter

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10. Der Cid-Stoff im Wandel der Zeit

Der Cantar de Mio Cid

Der Cid-Stoff findet in nachmittelalterlicher Zeit (Frenzel 2005, 158ff.) zu Beginn des 17. Jh. mit Guill n de Castros Comedia Las mocedades del Cid (1618), die den Franzosen Pierre Corneille zu dessen wirkmchtiger Tragikomdie Le Cid (1636) inspirierte, Eingang ins Theater. In beiden Fllen erweist sich die im Cantar ausgeblendete Jugend des Helden mit der (turbulenten) verquickten Ehr- und Liebeshandlung um Doa Jimena als Bearbeitungsgrundlage. In Spanien verstrken sich die literarischen Auseinandersetzungen mit dem ‚Nationalstoff‘ insbesondere whrend der an der eigenen mittelalterlichen Vergangenheit und dem christlichen Erbe interessierten Romantik (in die sich bereits in Deutschland Johann Gottfried Herders Nachdichtung einordnet), etwa mit Juan Eugenio Hartzenbuschs La jura en Santa Gadea (1844) und Jos Zorrillas La leyenda del Cid (1882). In einer Phase der durch Verlust der letzten spanischen Kolonien ausgelsten kollektiven Identittskrise dient der Cid den Autoren der 1898er-Generation als ‚Nationalheld‘. In diesen Kontext sind auch die Anfnge der Cid-Forschung Men ndez Pidals einzuordnen. Wurde der Cid whrend des Brgerkriegs und der Franco-Diktatur von nationalistischen Krften ideologisch stark vereinnahmt, sind seitdem etwa mit Antonio Galas Anillos para una dama (1974) auch kritische und metaliterarische Tendenzen auszumachen. Zudem wurde der Stoff auch fr Kino und TV adaptiert, wie z.B. im US-Historienfilm El Cid (1961) des Regisseurs Anthony Mann mit Charlton Heston in der Hauptrolle und der Episode Tiempo de leyenda (2016) der erfolgreichen spanischen Zeitreise-Serie El ministerio del n tiempo. Auf einen Blick

Beim altspanischen Cantar de Mio Cid um den historischen Rodrigo Daz de Vivar handelt es sich um einen Vertreter der nationalen Epenvariante Cantar de gesta. Um 1200 entstanden, liegt der Cantar heute in einer einzigen, auf die Abschrift des Kopisten Abbat zurckgehende Handschrift aus dem 14. Jh. vor. Das aus 3735 anisosyllabischen, assonierenden, von modernen Editoren zu tiradas geordneten Versen bestehende Epos untergliedert sich in drei Gesnge: Nach ungerechter Verbannung durch Knig Alfonso sichert sich der Cid in den maurischen Gebieten der Iberischen Halbinsel durch stufenweise gesteigerte Beute- und Kriegszge seinen Lebensunterhalt. So gelingt ihm die – historisch fr 1094 belegte – Rckeroberung Valencias und die mittels Schenk-Diplomatie erwirkte Ausshnung mit Alfonso, der die Cid-Tchter – dies ist eine literarische Zutat – mit den Infanten von Carri n verheiratet. Als diese ihre Ehefrauen schnden, kommt es zum Rechtsstreit auf dem (fiktiven) Hoftag zu Toledo, den der Cid gewinnt. Entgegen den historischen Fakten, die belegen, dass Rodrigo Daz zeitweise fr die Mauren kmpfte, erweist sich der epische Cid als nach dem Prinzip der mesura handelnder Krieger und loyaler Vasall. Nach dem Mittelalter entstehen auf Basis des Cantars sowie weiterer Epen- und Romanzenbearbeitungen moderne Stoffinterpretationen, die den Nationalhelden nach den historischen und ideologischen Gegebenheiten ihrer Zeit gestalten und derart auf verschiedene Weise am spanischen Identittsdiskurs mitwirken.

Weitere Literatur

Literaturempfehlungen Cantar de mio Cid (2011). Edici n, estudio y notas de Alberto Montaner, con un ensayo de Francisco Rico. Madrid. Nach der lange Zeit maßgeblichen Ausgabe von Ram n Menndez Pidal (1908) mittlerweile in der Hispanistik etablierte Edition. Cantar de Mio Cid. Das Lied von Mio Cid (2013). Altspanisch/Deutsch, bers. u. hg. v. Victor Millet/Alberto Montaner. Stuttgart. Zweisprachige Ausgabe auf Basis der Montaner-Edition samt Kommentarteil, geeignet sowohl fr ein interessiertes Laienpublikum als auch zum Einstieg fr eine akademische Leserschaft; in diesem Beitrag zitierte Ausgabe. Deyermond, Alan (1987): El „Cantar de Mio Cid“ y la pica medieval espaola. Barcelona. Fundierte Arbeit zur Einordnung des Texts in den grßeren mittelalterlichen Gattungskontext. Menndez Pidal, Ram n (1929): La Espaa del Cid. Madrid. [Deutsche Ausgabe: Menndez Pidal, Ram n (1936): Das Spanien des Cid, bers. aus dem Spanischen v. Gerda Henning/Margarethe Marx. Mnchen]. Frhe, aber noch immer als Standardwerk geltende Studie ber den historischen Cid. Mit dem Bewusstsein ihres historischen Entstehungskontexts noch immer lesenswerte Untersuchung. Rodiek, Christoph (1990): Sujet – Kontext – Gattung. Die internationale Cid-Rezeption. Berlin/New York. Detaillierte komparatistische Stoffstudie von den Anfngen bis ins 20. Jh., bercksichtigt neben der spanischen insbesondere die deutsche und franzsische Rezeption.

Weitere Literatur Bayo, Juan Carlos (2005): On the Nature of the Cantar de Mio Cid and its Place in Hispanic Medieval Epic. In: La Cor nica 33/2. S. 13–27. Boix Jovan, Alfonso (2011): Las armas y montura del hroe. Poder e identidad en el Cantar de Mio Cid. In: Ciberletras. Revista de crtica literaria y de cultura. Journal of Literary Criticism and Culture 25. S. 26–46. Clark, Zoila (2009): El rey y el vasallo hroe en el poema de Mo Cid. In: Espculo. Revista de estudios literarios 42. S. 1–7. Fern ndez, Guillermo/del Bro, Clara (2004): Sobre la mtrica del Cantar de Mio Cid. Mfflsica y pica: La cantilaci n de las gestas. In: Lemir 8. S. 1–37. Frenzel, Elisabeth (2005): Cid. In: Dies.: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Lngsschnitte. 10. Aufl. Stuttgart. S. 156–160. Harney, Michael P. (2015): Warlordism in the Cantar de Mio Cid. In: Si sai encor moult bon estoire, chanon moult bone et anciene. Studies in the Text and Context of Old French Narrative in Honour of Joseph J. Duggan, hg. v. Sophie Marnette u.a. Oxford. S. 283–304. LaRubia-Prado, Francisco (2008): Gift-Giving Diplomacy. The Role of the Horse in the Cantar de Mio Cid. In: La Cor nica 37/1. S. 275–299. Lomax, Derek W. (1977): The Date of the „Poema de Mio Cid“. In: „Mio Cid“ Studies, hg. v. Alan D. Deyermond. London. S. 73–81. Montaner, Alberto (2007): Un canto de frontera (geopoltica y geopotica del Cantar de Mio Cid). In: nsula 731. S. 8–11. Thomas, Michael D. (2005): Rethinking the Genre Question. The Cantar de Mio Cid as Heroic Epic, Carnival and Sentimental Melodrama. In: La Cor nica 34/1. S. 99–122.

123

124

10.

Der Cantar de Mio Cid Tyutina, Svetlana V. (2012): Cantar de Mio Cid. Creation of the Founding Paradigm of Hispanic Orientalism. In: Peripheral Transmodernities. South-to-South Intercultural Dialogues between the Luso-Hispanic World and „the Orient“, hg. v. Ignacio L pez-Calvo. Newcastle upon Tyne. S. 178–196. Vaquero, Mercedes (2005): The Poema de Mio Cid and the Canon of the Spanish Epic. In: La Cor nica 33/2. S. 209–230.

11. Eine epische Reise durchs Jenseits Dantes Divina Commedia von Paola Pacchioni-Becker berblick

D

ie Divina Commedia („Gttliche Komdie“) erzhlt in drei Teilen die Reise in die Jenseitsreiche Inferno („Hlle“), Purgatorio („Fegefeuer“) und Paradiso („Paradies“). Die Reise misst sich an zwei Vorbildern: dem Abstieg des Aeneas in die Unterwelt in Vergils Aeneis (Kap. 4) und der Entrckung des Apostels Paulus ins Paradies. Dante entwirft einen vom Himmel auserwhlten Reisenden, der der Menschheit durch sein poema sacro

den Weg zum ewigen Seelenheil weisen soll und zugleich durch den Bericht in der ersten Person Wahrhaftigkeit und Objektivitt fr sich beansprucht. Die episodischen Begegnungen mit Geschpfen der klassischen und biblischen Mythologie sowie mit Sndern und Frommen, Helden, Knstlern, Philosophen und Theologen verweben sich zu einer Geschichte der Menschheit, die in die Ewigkeit des Jenseits projiziert wird.

1265

Dante Alighieri wird in Florenz geboren

1292–1295

Niederschrift seines Jugendwerks Vita nuova

Karwoche 1300

Fiktiver Beginn der Jenseitsreise

1302

Verbannung Dantes aus Florenz

ca. 1306–1321

Niederschrift der Commedia

1321

Tod und Beisetzung in Ravenna

1472

Erste Druckausgabe der Commedia in Foligno

1. Entstehung und berlieferung Wir wissen nicht genau, wann Dante die Commedia schrieb. In seinem Jugendwerk Vita nuova (1292–1295) kndigte er an, knftig „in wrdigerer Weise“ von seiner Geliebten Beatrice zu berichten (Vita Nuova 42). Dass es sich dabei aber bereits um die Commedia handelt, ist nur eine, wenn auch verlockende, Hypothese. Es gibt Quellen bereits des 14. Jh., die annehmen, die Commedia sei noch in Florenz gedichtet worden. Diese Quellen deuten die Existenz eines lateinischen Werks mit einem Paradies-Thema an, aber sie liefern keine Informationen zur Entstehung der Commedia.

Quellen zur Entstehung

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11. Datierung

Boccaccio als Vermittler

Druckausgaben

Dantes Divina Commedia

Der erste Gesang zirkulierte schon vor 1313/14, das Purgatorio gelangte ein oder zwei Jahre spter an die ffentlichkeit. Das Paradiso wurde wohl gegen 1316 begonnen, war aber vollstndig erst nach Dantes Tod verbreitet. Zwischen dem Abschluss der Vita nuova und der Niederschrift der Commedia lagen bewegte Jahre. Dante nahm am konfliktreichen politischen Leben von Florenz teil (1295–1301), was mehrfach in der Commedia thematisiert wird, und schließlich musste er sich 1302 in ein politisch motiviertes Exil begeben. Es sind keine eigenhndigen Abschriften der Commedia berliefert, nicht einmal Exemplare aus Dantes Lebzeiten. Bald nach seinem Tod kam es zu einer enormen Verbreitung des Werks, von dem heute ber 800 Handschriften bekannt sind, die zumeist aus dem 15. Jh. stammen. Erheblich zum Ruhm Dantes beigetragen hat Giovanni Boccaccio als Biograph, Kommentator und Kopist. Ihm verdanken wir eine Abschrift des Epos, die er an Francesco Petrarca geschickt hat. Dieser Codex war sowohl die Vorlage fr die von Pietro Bembo besorgte Ausgabe, die 1502 bei dem Drucker Aldo Manuzio mit dem Titel Terze Rime di Dante erschien. Auf Boccaccio geht auch das Adjektiv divina („gttlich“) zurck, das er allerdings nur auf das Paradiso bezog. In der 1555 bei Giolito in Venedig erschienenen Ausgabe von Ludovico Dolce wurde es fr den gesamten Text verwendet. Bis zum 18. Jh. erschien das Werk unter diversen Titeln wie Comedia/Comed a, Dante, La visione etc. (Cachey 2018, 79–94). 1472 wurde in Foligno die editio princeps gedruckt, auf die Ausgaben in Venedig und Mantua folgten. Die erste kritische Ausgabe erschien erst 1862 und wurde durch den deutschen Philologen Karl Witte besorgt (deutsche bersetzung 1865). In den Jahren 1966/67 erschien Giorgio Petrocchis Ausgabe der Commedia secondo l’antica vulgata, jedoch auf der Basis der Handschriften aus der Zeit vor Boccaccios Eingriff (vor 1355). Diese Entscheidung Petrocchis wurde zwar in den darauffolgenden Jahren kritisiert, doch seine Edition bleibt bis heute die Referenzausgabe.

2. Formale Aspekte Triadischer Aufbau und Erzhlhaltung

Die dreiteilige Struktur von Dantes Jenseits – drei Reiche, deren Untergliederungen jeweils wiederum auf der Zahl drei basieren – erstreckt sich auch auf die Architektur des Epos: drei Teile mit jeweils 33 Gesngen (plus einem Einleitungsgesang beim Inferno), jeder Gesang ist in kettengereimten Terzinen verfasst (ABA BAB CBC DCD usw.). Jeder Vers ist ein Elfsilbler. Die Kontinuitt zwischen den drei Teilen wird durch einen Musenanruf zu Beginn des Inferno, des Purgatorio und des Paradiso unterstrichen. Jeder der drei Teile endet mit der Epipher stelle („Gestirn“). Die Erzhlung in der ersten Person ist geteilt

2. Formale Aspekte

in ein erlebendes Ich oder agens (wie es in Dantes Brief an Cangrande della Scala [Epistola 13] heißt), das die Reise performativ vollzieht, und in ein erzhlendes Ich, das die Reise des Agens, aber auch die schwierige Entstehung des Werks erzhlt. Die Erfahrung des Agens stellt dessen Vorgeschichte dar (Stierle 2021, 97–112). Im Rckgriff auf Horaz unterscheidet Dante in seinem Traktat De vulgari eloquentia drei Stile: den tragischen, den komischen und den elegischen. Die Stilwahl hnge jeweils vom Gegenstand ab. Das Komische erfordere einen vulgrsprachlichen Ausdruck, der „bald auf mittlerem, bald auf niedrigem Niveau“ (De vulgari eloquentia 2,4,6) sei. Dieser Stil entspricht aber nur zu einem geringen Teil dem der Commedia, die vielmehr alle sprachlichen Register umfasst und diese den verschiedensten kommunikativen Erfordernissen anzupassen vermag. Der mittelalterliche Begriff der commedia hat nichts mit der antiken Komdie zu tun. Dante schreibt ber den Gegenstand der Gattung: „Zwar beginnt die Komdie mit irgendeiner groben Sache, aber deren Stoff wird glcklich zu Ende gebracht“ (Epistola 13, 29). Dantes Reise in der Commedia „aus dem Menschlichen zum Gttlichen, aus der Zeit in die Ewigkeit“ (Paradiso 31,37f.) beginnt mit der gefhrlichen Situation, in der sich ein verirrter Wanderer im Wald befindet, und findet ihr Ziel im Anblick Gottes. Dementsprechend heißt es in dem Teil der Epistel, der die Commedia vorstellt: „Titel des Buches ist: Es beginnt die ‚Comedia des Dante Alagheri‘“ (13,28). Die Zuschreibung dieses Teils des Briefes zu Dante wird jedoch immer noch kontrovers diskutiert. Laut Boccaccio waren schon die ersten Kommentatoren verwundert ber diesen Titel eines Werks, dessen Gegenstand der Weg zum Gttlichen sei. Dante bezeichnet sein Werk als „questa comeda“ (Inferno 16,128) und dann als „mia comeda“ (21,2); mit dem Ausdruck „sacrato poema“ (Paradiso 23,62) und „poema sacro“ (25,1) greift er gar eine Bezeichnung auf, die schon der sptantike Autor Macrobius fr Vergils Aeneis benutzt hatte (Saturnalien 1,24,13). Diese Bezeichnung entspricht der Funktion, die der Dichter seinem Epos, „an das Himmel und Erde Hand angelegt haben“ (Paradiso 25,1f.), verleihen wollte, nmlich eine Anleitung auf dem Weg zum Seelenheil zu sein. Im Convivio („Gastmahl“, 4,6,3–5) unterscheidet Dante zwischen dem autore („Autor“, abgeleitet aus dem in Vergessenheit geratenen Verb auieo) als legatore („Verbinder“, der Harmonien aus einzelnen Tnen erzeugt) und dem autore als „Person, die es wert ist, dass man ihr glaubt und gehorcht“. In der Commedia erscheint dieser Unterschied eingeebnet: Indem er sein Werk vollendet hat, ist der Autor dank einer Autoritt, die ihm direkt von Gott verliehen wird, aber auch und nicht zuletzt durch das poetische Niveau, das er mit seinem Epos erreicht hat, zur autoritade geworden.

127

Stilwahl

Gattungsbezeichnung

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11.

Dantes Divina Commedia

Abb. 9 Darstellung von Inferno, Purgatorio und Paradiso. Druck, ca. 1865 (Michelangelo Caetani: Figura Universale Della Divina Commedia)

3. Die Reise des christlichen Helden Anlass

Die Reise beginnt in der Karwoche des Jahres 1300 (z.B. Inferno 21,112–114), also zwei Jahre vor Dantes Exil. Diese Vordatierung erlaubt es dem Erzhler, bereits geschehene Ereignisse in Form von Prophezeiungen als zuknftige darzustellen, darunter die Vertreibung aus Florenz (z.B. Paradiso 17,55–96). Das Epos beginnt in medias res: „Auf der Hlfte des Weges unseres

3. Die Reise des christlichen Helden

Lebens fand ich mich in einem finsteren Wald wieder, denn der gerade Weg war verloren“ (Inferno 1,1). Wenn nach biblischer Ansicht (Boccaccio verweist auf Psalm 89) das menschliche Leben 70 Jahre dauert, msste der Agens – wie der im Jahr 1265 geborene Autor – 35 Jahre alt sein. Am Textanfang wird das Seelenheil durch einen von der Sonne erleuchteten Hgel reprsentiert, den der Erzhler vor sich sieht, nachdem er mhsam aus dem finsteren Wald herausgekommen ist (Inferno 1,13–21). Der Aufstieg zum Gipfel wird ihm aber von drei wilden Tieren versperrt – einem Luchs, einem Panther und einer Wlfin –, die allegorisch fr Wollust, Hochmut und Habgier stehen. Ein Schatten kommt dem verzweifelten Dante zu Hilfe und stellt sich vor: „Geboren wurde ich unter Julius, wenn auch spt, und gelebt habe ich in Rom unter Augustus, dem guten, zur Zeit der falschen, lgnerischen Gtter. Dichter war ich, und ich habe von jenem gerechten Sohn des Anchises gesungen, der von Troja kam, nachdem das stolze Ilion niedergebrannt war“ (Inferno 1,70–75). Der Agens erkennt in ihm sofort Vergil, seinen einzigen maestro des bello stile. Zur Erlsung fhre kein direkter Weg, erlutert Vergil: Um den Gipfel des Berges zu erklimmen, msse der Agens das Reich der Verzweiflung der Seelen durchqueren, die in alle Ewigkeit fr ihre Snden bestraft werden (das Inferno, „Hlle“), dann durch das Reich der Hoffnung, in dem die Strafen nicht ewig dauern (das Purgatorio, „Fegefeuer“), um endlich ins himmlische Paradies zu gelangen: „[W]er auf den rechten Weg kommen will, muss durch seine Verfehlungen hindurch“ (Wehle 2017, 19). Nachdem er ber den Verlauf der Reise informiert worden ist, wird der Agens vom Zweifel gepackt, ob er einer Mission gewachsen ist, die die Vorhersehung vor ihm nur zwei Menschen anvertraut hatte: Aeneas (dem Begrnder des rmischen Reiches, in dem Jesus geboren werden sollte) und Paulus (dem von Gott zur Verbreitung des christlichen Glaubens Auserwhlten): „Aber ich, weshalb soll ich hierherkommen? Und wer erlaubt mir das? Ich bin doch nicht Aeneas, nicht Paulus“ (Inferno 2,31–33). Vergil bleibt die Antwort auf die erste Frage schuldig, beantwortet aber die zweite: Die Reise entsprche dem Willen der Jungfrau Maria, der heiligen Lucia und der geliebten Beatrice; deren Erwhnung gengt Dante, um die Reise zu beginnen. Der Eintritt in die Vorhlle ist als intertextueller Dialog mit dem sechsten Gesang der Aeneis gestaltet, in dem ebenfalls der Acheron berquert und der Fhrmann Charon besnftigt werden muss. Im Danteschen Inferno erstreckt sich jenseits des Acheron der Limbus; dort befinden sich, neben den vor der Taufe gestorbenen Kindern, die Seelen der großen Geister der Antike – Schriftsteller und Philosophen –, die keine Strafen erdulden mssen, aber als NichtChristen unter der tragischen Gewissheit leiden, niemals ins Paradies zu gelangen. Wie selbstverstndlich bewegt sich der Agens innerhalb der Gruppe der großen Dichter der Antike: neben Homer, Horaz, Ovid, Lukan und Vergil ist er der sechste „unter so viel Sinn“ (Inferno 4,102).

129

Vergil

Epische Intertextualitt

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11. Odysseus

Dantes Divina Commedia

Im Jenseits bei Dante werden viele biblische und mythologische Gestalten zu neuem Leben erweckt: monstrse Geschpfe (Minos, Cerberus, Geryon, Nimrod) und Helden der klassischen Antike, wie Odysseus (Ulisse). Aus dem Inneren der Flamme, die fr betrgerische Ratgeber vorgesehen ist, erzhlt Odysseus, wie er am Ende seiner Irrfahrt den Tod fand. Anders als in Homers Odyssee (Kap. 3) kehrt er nicht heim, sondern nimmt, von unstillbarer Abenteuerlust getrieben, mit seinen Gefhrten Kurs Richtung Westen, der Sonne nach. Die Mannschaft erreicht Gibraltar, die Grenze der bekannten Welt, wo die Sulen des Herkules die Menschen zur Umkehr mahnen. Doch Odysseus fordert seine Kameraden auf, nicht Halt zu machen, sondern die unbekannte Welt zu erkunden. Das Streben nach Wissen liege in der Natur des Menschen, ja, mache den Sinn der Existenz aus. Entschlossen fahren sie weiter und erleiden Schiffbruch wie Aeneas zu Beginn seiner Reise. Es bleibt unklar, ob sich Dante bewusst vom klassischen Stoff distanzieren wollte. Was ihm, der die Odyssee nicht kennen konnte, durch mittelalterliche Quellen von Homers Werk bekannt war, lsst sich nicht rekonstruieren. Mit Sicherheit lsst sich aber sagen, dass die tragisch endende Reise des griechischen Helden hier zur Gestaltung eines negativen Vorbilds dient, das der Reise des christlichen Helden, die von Gott bestimmt wurde, gegenbersteht. Quelle

Gesang des Odysseus (Inferno 26,85–120, bersetzung Khler 2021, 120f.)

Da begann das hhere Horn der uralten Flamme zu knistern und zu schwanken, als ob ihm der Wind zusetzte; / […] und endlich stieß sie die Stimme hervor und sagte: „Als damals / ich von Circe schied, die mich ber ein Jahr lang an sich gebunden hatte, dort an der Stelle, die Aeneas spter Gaeta nennen sollte, / konnte weder die Zrtlichkeit fr den Sohn noch die Ehrfurcht fr den alten Vater noch die Penelope geschuldete Gattenliebe, die sie glcklich machen sollte, / den Drang besiegen, den ich in mir sprte, die Welt zu erkunden, wie auch die Fehler der Menschen und was sie wert sind. / So machte ich mich denn auf und fuhr hinaus aufs hohe, offene Meer, nur mit einem Schiff und der geringen Schar von Gefhrten, die mich nicht verlassen hatten. / […] Ich und die Gefhrten, wir waren alt und mde, als wir zu jener engen Mndung gelangten, an der Herkules seine Warnmale gesetzt hat, / darber solle der Mensch nicht hinausfahren. […] ‚Ihr Brder‘, sagte ich, ‚durch hunderttausend Gefahren seid ihr nach Westen gelangt, wollt nun bitte der so kurzen Wachzeit / unserer Sinne, die uns noch verbleibt, die Erfahrung nicht verweigern, wie hinter der Sonne die Welt ohne Menschen aussieht. / Bedenkt den Samen, den ihr in euch tragt: Geschaffen wart ihr nicht, damit ihr lebtet wie die Tiere, vielmehr um Tugend und Erkenntnis anzustreben.‘“

Purgatorio

Nach der schrecklichen Begegnung mit Satan kehren Dante und Vergil – durch eine lange enge Hhle, die den Mittelpunkt der Erde mit der sdlichen Hemisphre verbindet – an die Erdoberflche zurck. Sie befinden sich jetzt vor dem Berg des Purgatoriums, dem Ort der Begegnung mit Persnlichkei-

3. Die Reise des christlichen Helden

ten des zeitgenssischen Kunst- und Kulturbetriebs: vom Musiker Casella (Purgatorio 2,76–123) ber den Buchmaler Oderisi da Gubbio (11,73–117) bis zu Dichtern wie Bonagiunta (24,34–63), den der Erzhler eine Geschichte der Poesie in der Volkssprache skizzieren lsst. Auf deren Hhepunkt sieht er Dante als Autor von Ihr Frauen, denen Liebessinn verliehen, einer Canzone aus der Vita nuova (19), die aus einer mystischen Eingebung entsteht: „[V]on da an, sage ich, sprach meine Zunge, als ob sie sich von selbst bewege“ (Vita nuova 19). hnlich begrndet Dante seine berlegenheit ber die Dichter seiner Zeit in der Commedia: „Wenn Amor mir Atem gibt, dann stelle ich mich darauf ein, und wie er es mir innerlich vorsagt, so mchte ich es ausdrcken“ (Purgatorio 24,52–54). Er beansprucht eine mystische Inspiration, deren gttlicher Ursprung leicht zu erkennen ist. Im Purgatorio begegnet Dante einem weiteren Vertreter des klassischen Epos, dem Rmer Statius, der fr sein Epos Thebais ber den Krieg der Sieben gegen Theben bekannt ist und der im Fegefeuer fr seine Verschwendungssucht bestraft wird. Er berichtet, dass er sich zum Christentum bekehren lassen habe, weil er durch die vergilische Prophezeiung aus der vierten Ekloge erleuchtet worden sei. Die Kernbotschaft der Ekloge, nmlich die bevorstehende Ankunft des Sohns Gottes, habe selbst ihr Autor, der Heide Vergil, nicht verstanden, meint Statius: „Du hast gehandelt wie einer, der in der Nacht geht und die Fackel hinter sich trgt, von der er selbst nichts hat, doch die die Menschen nach ihm erleuchtet“ (22,67–69). Wegen seiner Blindheit ist Vergil dazu verurteilt, wieder in den Limbus zurckzukehren, sobald Beatrice erscheinen wird, whrend Statius auf dem Weg zur ewigen Erlsung voranschreitet. Auf dem Gipfel des Purgatorium-Berges beginnt das irdische Paradies, „ppig dichte Gotteswaldung“ (28,2), das den genauen Gegensatz zum „finsteren Wald“ des Textanfangs bildet. Dort werden Dante und Vergil von einer schnen jungen Frau erwartet, von der wir nur den Namen erfahren: Matelda. Sie leitet die beiden bei der Durchfhrung des Reinigungsritus im Wasser des Lethe-Flusses, der in intertextuellem Bezug zur Lethe bei Vergil steht (Aeneis 6,703–715), sich davon aber auch unterscheidet, weil sein Wasser nicht das irdische Leben, sondern die Ursnde Adams und Evas vergessen lsst. Das irdische Paradies ist nicht nur der Ort der Reinigung, sondern auch der Ort, an dem Beatrice erscheint. Die bereits aus der Vita nuova bekannte Figur kehrt als selige Gestalt zurck und betraut den Dichter mit einer Mission: ihre Worte genau so aufzuschreiben, wie sie diese geußert habe, um sie den Lebenden getreu wiederzugeben. Dieser Auftrag stellt eine Legitimation fr die Niederschrift dar und beantwortet die Frage Dantes an Vergil: „Aber ich, weshalb soll ich hierher kommen?“ (Inferno 2,31). Nachdem Dante seinen Durst mit dem Wasser des zweiten Paradiesflusses, des Euno, gestillt hat, der die Erinnerung an das Gute zurckbringt (ein Anklang an die fons Aonius oder Aganippe, die heilige Quelle der Musen auf dem Helikon, die poetische

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Beatrice

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11. Paradiso

Dantes Divina Commedia

Inspiration verleiht, Bellomo 2001, 511), ist er nunmehr „rein und bereit, emporzusteigen zu den Sternen“ (Purgatorio 33,145). Unter der Fhrung Beatrices betritt Dante das Paradies; im 21. Gesang tritt an ihre Stelle der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (p1153), einer der bedeutendsten Theologen des Mittelalters, der in seinem mystischen Traktat De diligendo Deo („ber Gottesliebe“) den Weg gezeigt hat, auf dem man zu Gott gelangt. Zuletzt steht der Agens allein vor Gott. Anders als in der Paulus-Geschichte und trotz der hufigen Verwendung des Wortes visione, mit dem die außerweltliche Erfahrung bezeichnet wird, betont der Erzhler die krperliche Dimension der Erfahrung des Agens. Er nimmt Mdigkeit und Erschpfung wahr, schlft ein oder fllt ohnmchtig zu Boden. Whrend der Reise durchluft Dante eine breite Vielfalt von psychischen Zustnden: Verzweiflung, Freude, Schrecken, Furcht, Wut, Mitleid, Heiterkeit oder Ekstase, die mit Trnen der Furcht, des Mitleids, der Rhrung, aber auch mit Lcheln ausgedrckt werden. Hauptfiguren Dante: Protagonist und Erzhler der Jenseitsreise. Vor der Reise ein bekannter Dichter und Begrnder einer neuen Poetik, befindet sich aber in einer Situation tiefer Verzweiflung. Whrend seiner Jenseitsreise wird er mit der Mission betraut, mit seinem Werk zur Erlsung der ganzen Menschheit beizutragen. Vergil: Verfasser der Aeneis, Dantes Fhrer bis zum irdischen Paradies und sein Lehrer als Dichter. Beatrice: Dantes zweite Fhrerin auf der Reise und im Jugendwerk Vita nuova genannt, wo sie in jugendlichem Alter stirbt. Begleitet ihn in der Commedia vom irdischen ins himmlische Paradies. Odysseus: Wird bestraft fr seine trgerischen Ratschlge, darunter der zum trojanischen Pferd. Anders als in der Odyssee (Kap. 3) fhrt seine Reise ber die Sulen des Herkules hinaus, wo er bei einem Schiffbruch den Tod findet. Bernhard von Clairvaux: Mittelalterlicher Theologe, der letzte Fhrer Dantes. Geleitet ihn durchs himmlische Paradies.

4. Rezeption Vater des Vaterlands und der italienischen Sprache

Dantes Epos war außergewhnlich breit und frh in ganz Italien sowie in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten verbreitet; darber hinaus entstand eine Vielzahl an Kommentaren und Auslegungen (Shaw 2018, 229–244). Allerdings wurde Dantes Erfolg in Italien ber Jahrhunderte negativ von Pietro Bembos Urteil im frhen 16. Jh. beeinflusst. Bembo, Gelehrter und Dichter, warf der Commedia eine unangemessene Ausdrucksfreiheit vor und empfahl als Vorbild die Dichtung Petrarcas. In den Kanon der großen Dichter, der bis dahin Francesco Petrarca, Ludovico Ariosto und Torquato Tasso umfasste,

4. Rezeption

wurde Dante erst nach der Franzsischen Revolution aufgenommen (Dionisotti 1967, 256), als auch in Italien der Literatur eine politische Funktion zugeschrieben wurde. Ein Beispiel dafr ist die Antrittsvorlesung Dell’origine e dell’ufficio della letteratura („ber die Entstehung und Aufgabe der Literatur“), die der Dichter Ugo Foscolo, selbst politischer Exilant, 1809 an der Universitt Pavia gehalten hat. Im Jahr 1818 schrieb Giacomo Leopardi zwei politische Kanzonen, All’Italia und Sopra il monumento di Dante („ber das Dante-Denkmal“; gemeint ist Dantes Kenotaph in der Kirche Santa Croce in Florenz, dem Pantheon der italienischen Geistesgrßen). Die Kanzonen wurden 1819 zusammen verffentlicht. Der Name des Dichters, als exul immeritus („unverdient Vertriebener“) gesehen, verschmolz auf diese Weise mit der Klage um das von der Fremdherrschaft unterdrckte Land, und Dantes Exil wurde zum Ausdruck der jahrhundertlangen Unterwerfung Italiens unter auslndische Machthaber. Mit dem Aufstieg Dantes zum italienischen Nationaldichter ging die Ablsung Petrarcas aus seiner Funktion als Grndervater der italienischen literarischen Tradition einher (Quondam 2004, 49). Zum 600. Geburtstag Dantes 1865, kurz nach der staatlichen Einheit Italiens (1861), wurde in Florenz in der Mitte der Piazza Santa Croce ein neues Denkmal errichtet, das den Dichter in stolzverchtlicherHaltung und mit seiner Commedia in der Hand zeigt. Der DanteKult war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr auf seine Geburtsstadt beschrnkt. In ganz Italien gab es populre Feiern, die Dantes als Vater des Vaterlands und der italienischen Sprache gedachten. Zum 700. Todestag 2021 zeigte eine internationale Flut von Publikationen und kulturellen Initiativen fr ein breites Publikum ein lebhaftes Interesse an Dantes Werk, insbesondere an der Commedia. Die Vielfalt der Formen, in denen dieses Interesse sich im Lauf der Jahrhunderte trotz oder gerade wegen der Komplexitt der Commedia gezeigt hat – Nacherzhlungen, erklrende Videos, Comics, Spiele –, zeigt auch die stndige Herausforderung, einen direkten Zugang zum Text zu finden, und die Schwierigkeit, die Distanz zu einer sthetik und einer Weltsicht zu berwinden, die sich so sehr von unseren unn terscheiden. Auf einen Blick

Die Niederschrift fllt wahrscheinlich in die Jahre zwischen 1306–1321, aber es gibt keine genauen Informationen ber die Entstehung der Commedia. Sie erzhlt in der ersten Person die Reise des Pilgers und die schwierige Entstehungsgeschichte des poema sacro. Die triadische Konstruktion des Danteschen Jenseits (drei Jenseitsreiche) erstreckt sich auch auf die Makro- (drei Teile) und Mikrostruktur des Epos (Strophen mit jeweils drei Elfsilblern). Im Gegensatz zur Tradition des Epos bezieht sich der Titel Commedia weder auf die Handlung noch auf den Namen des Protagonisten. Der Gegenstand, wenn man ihn als den Weg zum Gttlichen versteht, und auch der Stil des Werks stehen im Gegensatz zum Titel, der auf der Grundlage der Gattungszugehrigkeit gewhlt worden ist, da die Handlung mit einer negativen Situation beginnt und zu positivem Ausgang gelangt. Der christli-

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134

11.

Dantes Divina Commedia

che Autor begibt sich in einen konkurrierenden Dialog mit den zitierten Modellen. Im Gegensatz zum heidnischen Helden reist der christliche Held durch das einzig wahre eschatologische Universum zur einzig wahren Gottheit; im Vergleich zum Apostel Paulus erfolgt seine Reise in einer ausdrcklich krperlichen Dimension. Trotz des unmittelbaren Erfolgs der Commedia wird Dante erst gegen Ende des 18. Jh. Bestandteil des nationalen Kanons, wird dann aber zum Vater der italienischen Sprache und der italienischen Nation (und zu einem der bedeutendsten Dichter der Weltliteratur) erklrt.

Literaturempfehlungen Alighieri, Dante (2016): Commedia, hg. v. Giorgio Inglese. Rom. Nach Petrocchis Text, jedoch unter Bercksichtigung der aktuellsten Beitrge von Paolo Trovato und Federico Sanguineti. Alighieri, Dante (2021): Die gttliche Komdie. In Prosa bers. v. Hartmut Khler. Stuttgart. Dicht am Original und dennoch gemß dem heutigen Sprachgebrauch. Flasch, Kurt (2015): Einladung Dante zu lesen. Frankfurt a.M. Eine Einleitung zu Dantes Hauptwerk, Dantes Sprache, Philosophie und Konzeption der Politik. Maier, Franziska (2021): Besuch in der Hlle. Dantes Gttliche Komdie. Biographie eines Jahrtausendbuchs. Mnchen. 700 Jahre Rezeptionsgeschichte auf ca. 200 Seiten. Stierle, Karlheinz (2014): Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt. Mnchen. Monographie ber Dantes Weg zur Commedia.

Weitere Literatur bersetzungen der Divina Commedia nach Khler. bersetzungen briger Dante-Texte im Fließtext stammen von der Verfasserin. Alighieri, Dante (1995): Convivio, hg. v. Franca Brambilla Ageno. Florenz. Alighieri, Dante (2012): De vulgari eloquentia, hg. v. Enrico Fenzi. Rom. Alighieri, Dante (2015): Vita nuova. In: Ders.: Nuova edizione Commentata delle opere di Dante Bd. 1. Rom. Alighieri, Dante (2016): Epistole. In: Ders.: Nuova edizione Commentata delle opere di Dante. Bd. 5. Rom. Barolini, Teodolinda (1992): The Undivine Comedy. Detheologizing Dante. Princeton. Bellomo, Saverio (2001): Canto XXXIII. In: Lectura Dantis Turicensis. Purgatorio, hg. v. Georges Gntert/Michelangelo Picone. Florenz. S. 503–515. Bellomo, Saverio (2004): Il sorriso di Ilaro e la prima redazione in latino della ‚Commedia‘. In: Studi sul Boccaccio 32. S. 201–235. Boccaccio, Giovanni (1995): Trattatello in laude di Dante. Mailand. Cachey, Theodore, J. (2018): Title, Genre, Metaliterary Aspects. In: The Cambridge Companion to Dante’s ‚Commedia‘, hg. v. Zygmunt Baran´ski/Simon Gilson. Cambridge. S. 79–94. Casadei, Alberto (2009): Il titolo della ‚Commedia‘ e l’Epistola a Cangrande. In: Allegoria 60. S. 167–181. Casadei, Alberto (2011): Considerazioni sull’epistola di Ilaro. In: Dante. Rivista internazionale di studi su Dante Alighieri 8. S. 11–22.

Weitere Literatur Dionisotti, Carlo (1967): Varia fortuna di Dante. In: Ders.: Geografia e storia della letteratura italiana. Turin. S. 255–303. Macrobius (2011): Saturnalia. Books 1–2, hg. v. Robert A. Kaster. Cambridge, Mass./London. Padoan, Giorgio (1993): Il progetto di poema paradisiaco. ‚Vita Nuova‘, XLII (e l’epistola di Ilaro). In: Il lungo cammino del poema sacro, hg. v. Giorgio Padoan. Florenz. S. 5–23. Quaglio, Antonio (1982): La commedia. In: Dante. Commedia. Inferno, hg. v. Emilio Pasquini/Antonio Quaglio. Mailand. S. XLVIII–CLIV. Quondam, Amedeo (2004): Petrarca, l’italiano dimenticato. Mailand. Santagata, Marco (2011): L’io e il mondo. Un’interpretazione di Dante. Bologna. Santagata, Marco (2013): Sulla genesi fiorentina della Commedia. In: Arzan . Cahiers de littrature mdivale italienne 16–17. S. 181–198. Shaw, Prue (2018): Transmission History. In: The Cambridge Companion to Dante’s ‚Commedia‘, hg. v. Zygmunt Baran´ski/Simon Gilson. Cambridge. S. 229–244. Stierle, Karlheinz (2021): Das Ende ist der Anfang. Rekursive Erzhlstruktur bei Boethius, Dante und Proust. In: Ders.: Dante-Studien. Heidelberg. S. 97–112. Vergilius, Publius Maro (2015): Aeneis, hg. u. bers. v. Niklas Holzberg. Berlin/Boston. Wehle, Winfried (2017): Der Wald. ber Bild und Sinn in der ‚Divina Commedia‘. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 92. S. 9–49.

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12. Abgesang auf die Ritterepik? Ludovico Ariostos Orlando furioso von Olaf Mller berblick

D

er 1516 verffentlichte Orlando furioso („Der rasende Roland“) vereint das Personal der Karls- und der Artusepik, verwirrt aber mehrere Erzhlstrnge in einem hochkomischen Abgesang auf die Ritterepik. Der Text nimmt das Sujet der bedeutenden altfranzsischen Chanson de Roland auf, das in Italien ab dem frhen 15. Jh. in mndlicher Form, vermischt mit anderen Stoffen, als populre ffentliche und hfische Unterhaltung verbreitet war. Ariosto schließt dort

778

an, wo Matteo Boiardo 1494 sein komisches Epos Innamoramento de Orlando („Der sich verliebende Roland“) abgebrochen hat, und steigert die Verliebtheit Rolands bis zu einem wahnhaften Rasen aus enttuschter Liebe. Kontinuierlich berarbeitete Ariosto das Werk und verffentlichte 1532 die endgltige Fassung. Der Orlando furioso regte seit der ersten Fassung von 1516 bis ins 18. Jh. eine Flle an literarischer, bildknstlerischer und musikalischer Produktion an.

Spanienfeldzug Kaiser Karls des Großen

Um 1100 Entstehung der altfranzsischen Chanson de Roland 1494

Matteo Maria Boiardo bricht die Arbeit am Orlando innamorato wegen der beginnenden Italienischen Kriege mit Frankreich ab

1525

Schlacht von Pavia, deren Kriegsfhrung mit Feuerwaffen als Ende der ritterlichen Ideologie wahrgenommen wird

1527

Plnderung und Verwstung Roms (Sacco di Roma); Ariostos Arbeitgeber, die Este von Ferrara, distanzieren sich von Frankreich und nhern sich Karl V. von Spanien an

1532

Als Diplomat schenkt Ariosto dem Kaiser ein Exemplar des Orlando furioso

1. Entstehung Ariosto und der Roland-Stoff

Der Roland-Stoff, den die altfranzsische Chanson de Roland um 1100 in schriftlicher Form und weitgehend humorfrei verarbeitet hatte, war in Italien bis ins 15. Jh. zu einem vielfach bearbeiteten und ausgeschmckten Gegenstand mndlicher und schriftlicher Unterhaltung geworden. 1478 war Luigi Pulcis Morgante erschienen, der die Geschichte eines heidnischen Riesen erzhlt, der sich zum Christentum bekehrt und Rolands Diener wird. In ebenfalls humoris-

2. Formale Aspekte

tischer Weise griff der Ferrareser Hofdichter Matteo Maria Boiardo den Rolandsstoff in seinem Innamoramento de Orlando („Der sich verliebende Orlando“) auf, brach die Arbeit daran aber 1494 ab. Ariosto arbeitete nachweislich ab sptestens 1507 an (und las vor ausgewhltem Publikum aus) einem Epos, das in der Hofgesellschaft von Ferrara zunchst als Fortsetzung von Boiardos unvollendetem Text wahrgenommenen wurde. Er war damit nur einer von vielen Autoren, die an Boiardos Text anzuschließen versuchten. Anders als Boiardo konzipierte Ariosto sein Werk von Anfang an fr das neue Medium des Buchdrucks. 1516, nach gut zehn Jahren Arbeit, erschien in Ferrara in etwa 1300 Exemplaren die erste Fassung des Orlando furioso in 40 Gesngen mit einer Widmung an den Bruder des Herzogs Alfonso von Ferrara, den Kardinal Ippolito d’Este. Der Text wurde sofort ein großer Erfolg und regte seinerseits Nachahmungen und Fortsetzungen an. Ariosto arbeitete aber auch nach der Verffentlichung unausgesetzt weiter an seinem Text, strich Oktaven, erweiterte die Handlung und passte die sprachliche Form den Normen des Dichters Pietro Bembo an, die in dieser Zeit vorbildlich wurden und das toskanische Italienisch des 14. Jh. als stilistischen Maßstab vorschrieben. Das Resultat dieser berarbeitung war die 1521 erschienene zweite Fassung mit noch immer 40 Gesngen, die auch deshalb notwendig erschien, weil der enorme Erfolg der Fassung von 1516 zu einer großen Zahl von fehlerhaften Raubdrucken gefhrt hatte, denen Ariosto eine neue, autorisierte Fassung entgegensetzen wollte. 1532 erschien in einer Auflage von etwa 2750 Exemplaren in Ferrara die dritte Fassung, die gegenber den beiden ersten mehr als 700 neue Oktaven bot. Der titelgebende Wahnsinn wird in dieser Fassung genau in die Mitte des Texts zwischen dem 23. und 24. der nun insgesamt 46 Gesnge verlegt. Ariosto kmmerte sich persnlich um typographische Details und versah die Ausgabe mit seinem von Tizian angefertigten Portrt.

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Fassungen des Orlando furioso

2. Formale Aspekte Ariosto benutzt die aus acht Elfsilblern (endecasillabi) mit dem Reimschema abababcc bestehende Stanze oder Oktave (ottava rima), die er aus der Tradition der italienischen Ritterepik bernimmt (Luigi Pulci, Boiardo). Er stattet sie mit so großer Beweglichkeit und Eleganz aus, dass bereits die Zeitgenossen die zwanglose Verbindung von Metrik und Syntax bewundert haben, die mit vielen Enjambements dazu fhrt, dass sich der Text an vielen Stellen fast wie Prosa lesen lsst. Nachdem die Ausgaben von 1516 und 1521 jeweils 40 Gesnge unterschiedlicher Lnge enthielten, erweiterte Ariosto deren Anzahl in der Ausgabe von 1532 auf 46. Der krzeste Gesang besteht aus 72 Stanzen, der lngste aus 199. Die Handlung des Texts setzt genau da ein, wo Boiardo seinen Innamoramento de Orlando abgebrochen hatte, nmlich mit der dauernden Flucht der

Metrik und Aufbau

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12.

Epische Tradition

Ludovico Ariostos Orlando furioso

von allen Mnnern, die ihr begegnen, begehrten und verfolgten orientalischen Knigin Angelica. Ariosto entfernt sich dann aber von Boiardos Plot und fhrt neue Handlungselemente ein, die eine sehr prsente Erzhlstimme immer wieder durcheinanderlaufen lsst und raffiniert miteinander verknpft. Der Titel Orlando furioso, also der im Liebeswahn rasende Roland, bildet nicht nur eine Steigerung gegenber dem bereits komisch intendierten verliebten Roland Boiardos, sondern lehnt sich auch an Senecas Hercules furens (1. Jh.) an. Dieses Syntagma war in der Folgezeit so prgend, dass Ariostos Text nicht mehr als Fortsetzung von Boiardos Epos, sondern Boiardos Text als Vorstufe zu Ariostos Meisterwerk verstanden wurde, so sehr, dass Boiardos ursprnglicher Titel (Innamoramento de Orlando) rckwirkend dem von Ariosto angepasst und zum Orlando innamorato („Der verliebte Orlando“) wurde. An der Stelle, an der traditionell der Musenanruf zu erwarten wre, ruft die Erzhlstimme in der Beschreibung des zu besingenden Gegenstandes zwar keine Muse mehr an, durch intertextuelle Verweise auf Vergil und Dante aber umso deutlicher die epische Tradition selbst auf: „Le donne, i cavalier, l’arme, gli amori, / le cortesie, l’audaci imprese io canto“ (1,1: „Die Fraun, die Ritter, Waffen, Liebesbande, / Die Zartheit sing ich, den verwegnen Mut“). Neben dem Vergilschen „arma virumque cano“ aus dem Auftakt der Aeneis (Kap. 4) ist hier Dantes Purgatorio 14,109f. zu erkennen (Kap. 11), in dem bereits „le donne e’ cavalier […] amore e cortesia“ einer untergegangenen hfisch-ritterlichen Kultur beklagt werden. Der Orlando furioso steht von den ersten Versen an im Zeichen Vergils und Dantes sowie einer Tradition der Klage ber den Untergang der hfischen Werte. Diese Klage darf man jedoch als ironisch gebrochen verstehen, da der Bezugstext, in dem sich die zitierte Klage findet, Dantes Purgatorio, beim ersten Erscheinen des Orlando furioso bereits zweihundert Jahre alt ist und das Zitat somit auch darauf verweist, dass es sich, wenn berhaupt, um einen sehr langsamen Untergang handelt.

3. Inhalt Handlungsstrnge

Wie Boiardo vermischt Ariosto Elemente der Karls- und der Artusepik. Die Figur Rolands, die in der Chanson de Roland emotionslos dargestellt wird, verliebt sich wie ein Artusritter und Ariosto steigert die untypische Verliebtheit dann noch einmal zum Liebeswahnsinn. Drei Haupthandlungsstrnge lassen sich im Orlando furioso identifizieren: 1)das kriegerische Thema mit dem Krieg Karls des Großen gegen Agramante, den Knig von Afrika; 2)das Thema der Liebe von Orlando zur schnen orientalischen Knigin von Cathai, Angelica; 3)das dynastische Thema mit der Liebesgeschichte zwischen Ruggiero und Bradamante, aus deren Ehe das Geschlecht der Frsten von Este hervorgehen wird, darunter der Kardinal Ippolito, dem Ariosto den Orlando furioso

3. Inhalt

139

1516 widmet. Ariosto konstruiert aus diesen drei Haupthandlungsstrngen und einer Vielzahl von Nebenhandlungen ein kunstvolles Textgeflecht, das als solches mit textilen Metaphern auch an vielen Stellen metanarrativisch im Text reflektiert wird: „perch varie fila a varie tele / uopo mi son, che tutte ordire intendo“ (2,30) (wrtl. „weil mir verschiedene Fden fr verschiedene Gewebe ntig sind, die ich alle einzufdeln gedenke“, bers. OM]. Der Erzhler spielt also ausdrcklich mit der Verwirrung der Handlungsstrnge und weist immer wieder auf die Virtuositt hin, die ntig ist, um den berblick zu behalten und am Ende alles wieder einzufdeln und zusammenzufhren. Stichwort

Die Chanson de Roland (Rolandslied) Vorbild fr Ariostos Orlando ist der in der altfranzsischen Chanson de Roland (um 1100) besungene Held. Sie ist die bedeutendste Vertreterin der heldenepischen Gattung der Chanson de geste („Kriegstatenlied“) und erzhlt eine Begebenheit, die sich in der Karolingerzeit, dem franzsischen heroic age, ereignet haben soll: Karl der Große hat im Kampf gegen die Mauren fast ganz Spanien zurckerobert, nur Knig Marsilie von Saragossa widersetzt sich. Er verbndet sich mit dem verrterischen Ganelon, der sich an seinem Stiefsohn Roland, Karls Neffen, rchen will. Als sich das Heer aus Spanien zurckzieht, bildet Roland die Nachhut, die im Pyrenen-Tal von Roncesvalles aus dem Hinterhalt von Mauren angegriffen wird. Aus Stolz lsst Roland erst dann sein Signalhorn erschallen, als der Kampf schon verloren ist. Karl kehrt zurck und rcht ihn, Ganelon wird hingerichtet. Engel fhren Roland ins Paradies. Die von Ariosto erzhlte Raserei Orlandos ist die Fortfhrung der heroischen Exorbitanz Rolands, die sich in der Schlacht in unbedachten Stolz steigert. Die Chanson de Roland nimmt in 4002 Versen einen Erzhlstoff auf, der auf historische Ereignisse zurckgeht, diese aber transformiert. Zahlreiche formelhafte Wendungen und Handlungsdopplungen deuten auf eine vorgngige mndliche Tradition des Stoffes hin. Das Epos wurde bereits whrend des Mittelalters in andere Sprachen bertragen. Wiederentdeckt von der Romantik im 19. Jh., wurde es bald als Nationalepos berhht (einfhrend zur Chanson de Roland Jones 2014, 60–79; Heinzle 2014).

Der im engeren Sinn heldenepische Erzhlstrang, der den Krieg zwischen Christen und Heiden zum Gegenstand hat, handelt vom vereinten Angriff des Knigs von Afrika, Agramante, und des Knigs von Spanien, Marsilio, auf Frankreich, bei dem sie untersttzt werden vom afrikanischen Krieger Rodomonte und vom tartarischen Krieger Mandricardo. Der Krieg unterteilt sich in drei Phasen, in deren erste die Belagerung von Paris durch die Sarazenen fllt, bei der Rodomonte ein großes Massaker anrichtet. Die zweite Phase wird eingeleitet durch die Befreiung der belagerten Stadt, fr die Rinaldo Hilfsheere aus Schottland und England herbeifhrt. Agramante wird geschlagen und nach Sdfrankreich zurckgedrngt, wo er erneut unterliegt und mit seinen Sarazenen ber das Meer fliehen muss. Die dritte Phase beginnt mit einer See-

1. Thema: Krieg gegen Frankreich

140

12.

2. Thema: Liebe zu Angelica

Ludovico Ariostos Orlando furioso

schlacht, die die Sarazenen ebenfalls verlieren, whrend Karls Paladine Biserta, die Hauptstadt von Agramantes Reich, zerstren. Der Krieg wird beendet mit einem dreifachen Duell auf Lampedusa, bei dem die drei christlichen Ritter Orlando, Brandimarte und Oliviero gegen die drei muslimischen Helden Agramante, Gradasso und Sobrino antreten. Orlando ttet Agramante und Gradasso, Oliviero wird verletzt und Brandimarte stirbt. Ein Eremit, der bereits den heidnischen Ritter Ruggiero zum Christentum bekehrt hatte, heilt Oliviero durch die Kraft des Gebets und bekehrt auch noch Sobrino. Als der bekehrte Ruggiero seine dynastiebegrndende Hochzeit mit Bradamante feiern will (siehe unten 3. Thema), taucht pltzlich Rodomonte auf und fordert Ruggiero zum Duell. Nach langem Kampf besiegt und ttet Ruggiero den heidnischen Kmpfer (Zatti 2016, 50–57). Dem im Titel angezeigten Bruch der Gattungskonventionen entsprechend, muss Orlando nicht nur ein episch-karolingischer Krieger sein, sondern auch arthurisch verliebt. Wie Homers Ilias (Kap. 3) beginnt Ariostos Epos mit einem Streit um eine Frau. So wie bei Homer Agamemnon von Achill Briseis fordert, sind es bei Ariosto Orlando und sein Cousin Rinaldo, die sich um die schne Angelica streiten. Karl der Große, der deshalb um die Kampfkraft seiner beiden besten Paladine frchtet, gibt Angelica in die Obhut des alten Herzogs Namo von Bayern und verspricht sie als Preis demjenigen von den beiden, der die meisten Sarazenen im Kampf tten wird. Doch zunchst verlieren Karls Truppen. Angelica kann die Verwirrung der Niederlage nutzen, flieht zu Pferd in einen dunklen Wald (der wrtlich an die selva oscura, den ‚dunklen Wald‘ angelehnt ist, in dem sich die Figur Dante zu Beginn der Commedia verirrt, Kap. 11) und begegnet dort mehreren ihrer in Liebe entbrannten Verehrer, vor denen sie weiter flieht. Neben Rinaldo, den sie hasst, weil sie noch in Boiardos Text aus einer Quelle des Entliebens getrunken hatte, folgen ihr Orlando, der sarazenische Krieger Ferra und Sacripante, der Knig von Circassia. Angelica gelingt es jedes Mal, den zudringlichen Verehrern zu entkommen. So wie die Mnner Angelica suchen, sucht Rinaldos Schwester Bradamante ihren Geliebten Ruggiero, einen heidnischen Ritter, der im Zauberschloss des Magiers Atlante gefangen gehalten wird. Atlante will damit Ruggiero beschtzen und die Hochzeit mit Bradamante hinauszgern, weil er weiß, dass Ruggiero sieben Jahre nach seiner Eheschließung Opfer eines Mordanschlags werden wird. Bradamante kann Ruggiero dem auf dem Hippogryph (Ippogrifo, ein Fabelwesen halb Pferd, halb Greif) kmpfenden Atlante zwar entreißen, doch entfhrt Atlante ihn kurz darauf schon wieder und versetzt ihn auf die Insel der Magierin Alcina, die – wie die Kirke der Odyssee (Kap. 3) – die Mnner verfhrt und dann in Tiere und Pflanzen verwandelt. Angelica ist in der Zwischenzeit weiter auf der Flucht. Sie wird zunchst von einem anderen Zauberer, dann von Piraten entfhrt, die sie nackt an einen Felsen auf der Insel Ebuda ketten, um sie dort von einem Meerungeheuer ver-

3. Inhalt

schlingen zu lassen. Ruggiero, der auf dem Hippogryph angeflogen kommt, kann sie befreien und will sich, ebenfalls in Liebe entbrannt, sofort auf sie strzen, doch kann sie sich dank eines Zauberrings unsichtbar machen und entkommen. Auf ihrer weiteren Flucht begegnet sie dem schwer verletzten, einfachen sarazenischen Soldaten Medoro, den sie gesund pflegt. Sie verliebt sich dabei in ihn, heiratet ihn und will ihn mit sich nach Cathai nehmen. In einer Rckwendung sehen wir dann Orlando, der infolge eines unheilvollen Traums das christliche Kriegslager verlsst, um wieder auf die Suche nach Angelica zu gehen. Ein Sturm treibt ihn an die hollndische Kste, wo er die Knigstochter Olimpia rettet, die von Cimosco, dem finsteren Knig von Frisia bedroht wird. Cimosco besitzt eine neuartige Feuerwaffe, mit der er auf unritterliche Art seine Gegner einfach ber den Haufen schießt. Orlando besiegt Cimosco, befreit Olimpia und ihren ebenfalls von Cimosco gefangen gehaltenen Geliebten Bireno und versenkt die Feuerwaffe im Meer, in der fr den Leser von 1532 bereits als Illusion erkennbaren Hoffnung, die waffentechnische Entwicklung damit aufzuhalten. Der soeben befreite Bireno erweist sich als treulos und setzt seine Geliebte auf der nchstbesten Insel aus. Als Orlando sie dort findet, droht ihr gerade das gleiche Schicksal wie Angelica auf der anderen Insel. Auch Orlando rettet, wie kurz zuvor Ruggiero, die nackt an einen Felsen gebundene Frau und besiegt das Seeungeheuer. Auf seiner weiteren Suche nach Angelica befreit Orlando auch noch die in einer Grotte gefangene Isabella und bringt sie zu ihrem Geliebten Zerbino zurck, gert aber dann in den Palast der Begierden, den der Zauberer Atlante als weiteres Mittel ersonnen hat, um den Lauf der Geschichte aufzuhalten und Ruggiero vor dem prophezeiten Tod sieben Jahre nach seiner Hochzeit zu bewahren. Atlante wird dadurch zu einer Art Doppelgnger des Erzhlers, der ebenfalls durch immer neue Verwirrungen das Ende der Erzhlung hinauszuzgern bestrebt ist. In Atlantes Palast erliegen alle Insassen der Illusion, das von ihnen am meisten begehrte Objekt befinde sich zum Greifen nahe vor ihnen. Neben Orlando jagen dort noch die heidnischen Krieger Ferra und Sacripante, spter auch Bradamante und Ruggiero vergeblich den Objekten ihrer Begierde nach. Erst als Angelica mit ihrem Zauberring den Palast zum Einsturz bringt, knnen die Gefangenen sich aus ihren Illusionen befreien. Orlando nimmt unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem Palast die Suche nach Angelica wieder auf und stßt dabei in einem Wald auf einen locus amoenus, an dem unzhlige schriftliche Spuren auf Bumen, Struchern und Felswnden nahelegen, dass Angelica und Medoro dort leidenschaftlich Sex hatten. Orlando versucht, das Offensichtlichste nicht zu sehen und das Naheliegendste nicht zu denken und treibt sich damit selbst in den Wahnsinn. Als ihm dann auch noch im nchsten Dorf ein Hirte, in dessen Haus er bernachtet, zur Aufmunterung die schne Liebegeschichte von Angelica und Medoro erzhlt, die sich vor kurzem in seinem Haus zugetragen habe, und ihm einen

141

Suche nach Angelica

Orlandos Raserei

142

12.

Ludovico Ariostos Orlando furioso

wertvollen Ring zeigt, den ihm Angelica als Bezahlung berlassen habe, den Orlando aber als den Ring erkennt, den er Angelica einst geschenkt hatte, ist es um seinen Verstand endgltig geschehen. Er rast in seinem Wahnsinn nackt und bis zur Unkenntlichkeit dreckverschmiert durch halb Europa und hinterlsst dabei eine Spur der Verwstung. Erst nachdem sein Cousin Astolfo auf dem Hippogryph zum Mond geflogen ist und von dort mit Orlandos in einer Flasche aufbewahrtem Verstand zurckkehrt, den man dem Wahnsinnigen dann wieder einflßen kann, kehrt Orlando zu seiner Rolle als vorbildlicher Verteidiger der Christenheit in Karls Heer zurck. Quelle

Beginn von Orlandos Furor und ersten Verwstungen (23,130–133)

Zerhaut die Schrift, den Stein, und sprengt die Scherben In kleinen Splittern in die Luft empor. Weh dieser Hhl’, und jedem Baum Verderben, An dem man liest: Angelica, Medor. Nicht Schatten mehr noch Khlung zu erwerben Bleibt hier den Herden und der Hirten Chor. Die Quelle selbst, die reinen, klaren Fluten, Sind nicht geschtzt vor seines Zornes Gluten. Denn st’ und Kltze, Stmme, Stein’ und Schollen Wirft er in sie hinein ohn’ Unterlass; Und dass sie nie sich wieder lutern sollen, Trbt er bis auf den Grund das klare Naß. Ermattet nun, mit Schweiß wie berquollen, Da sein erschpfter Atem nicht dem Haß, Der Wut, dem Zorne mehr vermag zu frnen, Sinkt er auf’s Feld mit chzen und mit Sthnen. Zu Boden sinken die erschlafften Glieder; Er starrt zum Himmel auf und spricht kein Wort. Dreimal entflieht die Sonn’ und kehret wieder, Und ohne Speis’ und Schlummer liegt er dort. Der Schmerz drckt immer mehr den Geist danieder, Und endlich fliehn ihm alle Sinne fort. Am vierten Tag, zum Tollen umgeschaffen, Reißt er vom Leibe Panzerhemd und Waffen. Das Schwert wird da-, dorthin der Helm geschmissen, Der Harnisch weit, und weiter noch der Schild; Kurz, alle seine Waffen, sollt ihr wissen, Zerstreut er rings im waldigen Gefild. Dann zeigt er, da er sein Gewand zerrissen, Den rauhen Bauch, Brust, Rcken, nackt und wild. Und so beginnt die Raserei zu toben, Furchtbar, wie keine jemals sich erhoben.

3. Inhalt

Das dynastische Thema bildet den Handlungsstrang um Ruggiero, den heidnischen Helden, der von Bradamante, der Schwester des christlichen Ritters Rinaldo, geliebt und durch die gesamte Erzhlung hindurch gesucht wird. Mehrere Magierinnen und Zauberer, darunter der bereits erwhnte Atlante, der Ruggiero durch wiederholte Entfhrungen vor seinem Schicksal zu bewahren sucht, verhindern immer wieder, dass Bradamante den Geliebten erreicht. Nachdem sie ihn ein erstes Mal aus der Gefangenschaft Atlantes befreit hat, wird Ruggiero vom Hippogryph auf die Insel der Magierin Alcina entfhrt, die ihn zu ihrem Geliebten macht und im Auftrag Atlantes aus der Handlung nimmt, um das Ruggiero prophezeite Ende hinauszuzgern. Bradamante, der sich auf der Suche nach Ruggiero befindet, begegnet in der Hhle Merlins, des Zauberers aus der Artusepik, der Magierin Melissa, die ihr den Aufenthaltsort Ruggieros enthllt. Nach vielen weiteren Verwicklungen glaubt Bradamante, Ruggiero befinde sich in Gesellschaft der schnen und faszinierenden Kriegerin Marfisa. Rasend vor Eifersucht, will Bradamante ihren Geliebten zum Duell herausfordern, doch der Geist des aus Kummer ber das unentrinnbare Schicksal Ruggieros gestorbenen Atlante enthllt, dass Marfisa Ruggieros Schwester ist und ermglicht damit das Happy End zwischen Bradamante und dem zum Christentum konvertierten Ruggiero und zugleich die Begrndung der Dynastie der Este. Auch dieses Happy End wird allerdings noch einmal hinausgezgert, weil die beiden Liebenden erfahren, dass Bradamante von ihren Eltern in der Zwischenzeit dem orientalischen Kaiser Leone als Frau versprochen worden ist. Sie erreicht bei Karl dem Großen, dass sie nur dem Mann zur Frau gegeben wird, der sie im Duell besiegen kann. Ruggiero zieht darauf gen Orient, um seinen Konkurrenten zu besiegen, vollbringt auf dem Weg dorthin aber noch große Taten gegen die Bulgaren, die Feinde des Kaisers Leone sind. Ruggiero gert zwar in Gefangenschaft, wird aber von Leone, der ihm fr die Untersttzung gegen die Bulgaren dankbar ist, persnlich freigelassen. Leone bittet Ruggiero, von dem er nicht weiß, dass er sein Konkurrent um die Gunst Bradamantes ist, an seiner Stelle und unter seiner Identitt gegen Bradamante zu kmpfen und sie ihm als Braut zu gewinnen. Aus ritterlicher Dankbarkeit fr die Freilassung muss Ruggiero gegen Bradamante zum Kampf antreten, doch die Magierin Melissa klrt Leone ber die Lage auf, worauf Leone seinerseits in großer Ritterlichkeit Verzicht bt, so dass der Hochzeit zwischen Ruggiero und Bradamante nun scheinbar wirklich nichts mehr im Wege steht. Doch als Karl der Große am geplanten Hochzeitstag das Paar zusammenfhren will, taucht wie aus dem Nichts noch einmal Rodomonte auf und fordert Ruggiero zum Duell heraus. Mit dem Sieg Ruggieros und mit Rodomontes Tod endet der 46. und letzte Gesang. Das pltzliche Ende, mit dem nicht alle Handlungsstrnge zu ihrem Ende gefhrt werden, verweist darauf, dass die Handlung potentiell noch weiter erzhlt und der Schluss immer weiter herausgeschoben werden knnte.

143 3. Thema: Ruggiero und Bradamante

Ruggieros Eheprobe

144

12.

Ludovico Ariostos Orlando furioso Hauptfiguren Angelica: Knigin von Cathai, von Orlando geliebt und verfolgt, heiratet den einfachen Soldaten Medoro und kehrt mit ihm nach Asien zurck. Orlando: Adaption des Rolands der Karlsepik, verfolgt Angelica und wird darber wahnsinnig. Nachdem Astolfo Orlandos Verstand vom Mond zurckgeholt hat, fhrt er das Christenheer Karls zum entscheidenden Sieg gegen die Sarazenen. Bradamante: Schwester von Rinaldo, sucht ihren Geliebten Ruggiero, der von der Magierin Alcina auf einer Insel festgehalten wird und dann der Faszination Angelicas erliegt. Heiratet schließlich den zum Christentum konvertierten Ruggiero. Ruggiero: Heidnischer Ritter, der durch seine Hochzeit mit Bradamante zum Stammvater der Este werden wird. Nachkomme des Astyanax, des Sohns Hektors und Andromaches. Stellt fr die Herzge von Este die topische dynastische Verbindung nach Troja, fr den Orlando furioso aber auch die literarische Beziehung zum homerischen Epos her. Rinaldo: Untersttzt das christliche Heer gegen die Belagerung von Paris durch die Sarazenen und wird am Ende der Held der berwindung von Liebe und Eifersucht.

4. Helden

Gewandeltes Heldenbild

Bereits mit dem Titel des Epos weist Ariosto darauf hin, dass seine Helden nicht mehr den Rollenerwartungen entsprechen, die man lange mit epischen Helden verbinden durfte. Alle Personen befinden sich auf einer andauernden und in den meisten Fllen obsessiven Suche, die mit der quÞte der Ritterepik nur noch wenig gemein hat und jeweils die psychische Integritt bedroht. Orlando, Rinaldo und Ruggiero geraten in unterschiedlichem Maße in psychische Nte beim Versuch, Angelica fr sich zu gewinnen. Bradamante ist von Anfang bis Ende auf der Suche nach Ruggiero und wird dabei derart von Eifersucht geplagt, dass auch sie nicht immer klar denken kann. Angelica, die ‚Engelsgleiche‘, befindet sich nur auf der Flucht und verschwindet ganz aus der Handlung, nachdem sie, die vorher die edelsten Ritter und Knige verschmhte, sich mit einem einfachen Soldaten vermhlt hat. Ruggiero ist der einzige, der eine uneingeschrnkt positive Entwicklung durchluft und vom unsteten und erotischen Abenteuern nicht abgeneigten heidnischen Jngling zum selbstlosen und verantwortungsbewussten Ehemann wird, der zum Stammvater der Este taugt. Gegenber den selbstlos sich opfernden und weitgehend emotionslosen Helden, die die altfranzsische Chanson de Roland bietet, werden Ariostos Helden immer wieder von erotischen Begierden oder anderen Obsessionen (wie der Suche nach bestimmten Helmen, Schwertern oder Pferden) von ihrer Bestimmung abgebracht und in einem scheinbar ziellosen Herumirren (errare) durch den Text gejagt. Die bestndigen Hinweise des Erzhlers auf die Unvorhersehbarkeit dieses Herumirrens, das immer wieder zu einem Auf-

5. Rezeption

145

schieben (differire) der Handlung fhrt, lassen erkennen, dass die quÞte des epischen Ritters mittlerweile vor allem ein ironischer Vorwand geworden ist, um die Erzhlung in immer neuen und berraschenden Wendungen prinzipiell unendlich fortfhren zu knnen. Abb. 10 Der wahnsinnig gewordene Orlando reißt Bume aus und massakriert Tiere, Illustration von Gustave Dor (1879)

5. Rezeption Schon unter den Zeitgenossen war der außerordentliche literarische Wert von Ariostos Text weitgehend unumstritten. Das Werk avancierte schnell zu einem großen Verkaufserfolg, der ab der ersten Ausgabe von 1516 eifrig imi-

Zeitgenssischer Erfolg

146

12.

Beginn ironischmetanarrativen Erzhlens

Ludovico Ariostos Orlando furioso

tiert und fortgeschrieben wurde. Mit der Wiederentdeckung der Aristotelischen Poetik im 16. Jh. kamen Stimmen auf, die dem Werk Verstße gegen die bei Aristoteles vermeintlich festgelegten Regeln fr das Epos vorwarfen. Torquato Tasso schrieb Gerusalemme liberata („Das befreite Jerusalem“, 1574) ausdrcklich gegen Ariostos Orlando und verband damit den Anspruch, ein den antiken Regeln entsprechendes, christliches Epos vorzulegen. Die kaum berschaubare bildknstlerische (Dossi, Ricci, Tiepolo, Ingres, Delacroix,…) und die ebenfalls sehr reichhaltige musikalische (Lully, Scarlatti, Vivaldi, Hndel, Haydn,…) Rezeption des Texts bedrften eines eigenen Kapitels. Mit der deutschen Romantik etabliert sich eine Sicht auf den Orlando furioso, die in Ariostos Text weniger den Abgesang auf die Ritterepik erkennt, als vielmehr den Beginn eines ironisch-metanarrativen Erzhlens, das Miguel de Cervantes dann in Prosa fortsetzen wird und das letztlich mit Don Quijote (1605/15) den modernen Roman begrndet. Die einflussreiche Geschichte der italienischen Literatur von Francesco De Sanctis (1870) stellt Ariosto als kunstvoll verspielten, aber amoralischen und verantwortungslosen Autor dar, dem fr die Vorgeschichte der politischen Einigung Italiens wegen seines mangelnden Ernstes nicht die Bedeutung zukomme, die Tassos christliches Epos fr sich beanspruchen knne. Die historistische italienische Kritik der Zeit nach 1945 hat dagegen die vielen zeitpolitischen Bezge im Orlando furioso herausgearbeitet und gezeigt, dass der ironische Ton nicht mit Indifferenz verwechselt werden drfe. Die neuere Forschung (Zatti 2016; Rivoletti 2014; Cavallo 2014) betont die außerordentliche Modernitt der narrativen Verfahren und die globale, weit ber Europa hinausreichende Perspektive, die Ariostos n Text auszeichnen. Auf einen Blick

Die Geschichte des heldenhaften Roland, der im Alleingang die heidnischen Heere aufzuhalten versucht, wie sie die altfranzsische Chanson de Roland erzhlt, dient Ariosto nur noch als Folie, vor der der Liebeswahn des besten aller christlichen Ritter umso komischer wirkt. In vielen Passagen der ersten Fassung von 1516 spielt Orlando eine so marginale Rolle, dass einige der frhen Leser den Titel unpassend fanden und Ruggiero oder dem englischen Ritter Astolfo, der mit dem Hippogryph auf den Mond reitet und mit Zauberei viele kritische Situationen lst, den Vorzug als Titelhelden geben wollten. Ariosto benutzt die Ritterwelt nur noch im ironischen Rckblick als einen von vielen mglichen Gegenstnden, um mit seinen Figuren und seinem Publikum eine vielfltig verflochtene und kaum nachzuerzhlende Verfolgungsjagd um den halben Globus zu inszenieren, bei der Fabelwesen, Zauberei, außereuropische Lnder und nicht-christliche Religionen vor allem der Unterhaltung und berraschung des Lesers dienen. Orlando und seine Herkunft aus dem christlichen karolingischen Epos sind dabei nicht wichtiger als der verfhrerische Zauber, der von der ‚heidnischen‘ asiatischen Knigin Angelica ausgeht. Das Herumirren (errare) der Figuren durch die Welt und durch den Text, das zu einem stndigen Aufschieben (differire) des Endes der Geschichte und der Lektre fhrt, wird vom sehr prsenten Erzhler in metanarrativen Kommentaren immer wieder

Weitere Literatur

reflektiert. Diese Verfahren machen an vielen Stellen das eigentliche Interesse der Erzhlung und damit die erstaunliche Modernitt des Orlando furioso aus.

Literaturempfehlungen Ariosto, Ludovico (1992): Orlando furioso, hg. v. Lanfranco Caretti, presentazione di Italo Calvino. 2 Bde. Turin. Die grundlegende Taschenbuchausgabe auf der Basis eines Variantenvergleichs aller Textzeugnisse. Lodovico Ariosto’s Rasender Roland (1827/28), bers. v. Johann Diederich Gries, zweite rechtmßige Aufl., neue Bearbeitung. 5 Bde. Jena. Gereimte bertragung von einem der bekanntesten bersetzer der Goethezeit; ist auch im Deutschen amsant. Ariosto, Ludovico (1980): Der rasende Roland (Orlando furioso). In der bertragung v. Johann Diederich Gries. Textredaktion Susanne Eversmann. Mit Illustrationen v. Gustave Dor, Zeittafel sowie Erluterungen u. einem Nachwort v. Horst Rdiger. 2 Bde. Mnchen. Taschenbuchausgabe der bersetzung von Gries mit leicht aktualisierter Orthographie. Im vorliegenden Beitrag zitierte bersetzung. Ariosto, Ludovico (2008): Rasender Roland. Nacherzhlt v. Italo Calvino. Mit ausgewhlten Passagen des Originals in der Verdeutschung v. Johann Diederich Gries. Aus dem Italienischen bers., eingerichtet u. kommentiert v. Burkhart Kroeber. Mit 65 Zeichnungen v. Johannes Grtzke. Mnchen. Deutsche bersetzung der Zusammenfassung, die Italo Calvinos Paraphrasen und historische Rahmung mit Zitaten aus der Gries’schen bersetzung abwechselt; fr einen schnellen Einstieg. Zatti, Sergio (2016): Leggere l’Orlando furioso. Bologna. Knappe, aber sehr hilfreiche Einfhrung mit ausfhrlichem, weiterfhrendem Literaturverzeichnis. Cavallo, Jo Ann (2013): The World beyond Europe in the Romance Epics of Boiardo and Ariosto. Toronto u.a. Rekonstruktion des Weltwissens, das Boiardo und Ariosto im Zeitalter der beginnenden kolonialen Expansion Europas in ihren Rolandsepen verarbeiten. Rivoletti, Christian (2014): Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando furioso in Francia, Germania e Italia. Venedig. Grundlegende komparatistische Studie zur Rezeptionsgeschichte. Rivoletti, Christian/Nonnenmacher, Kai (Hg., 2021): Orlando furioso. Rezeptionsgeschichte und Interpretationsanstze. Mnchen. Aktueller Sammelband mit Beitrgen zum Text und zur Rezeption vom 16. bis 20. Jh. in deutscher, italienischer, englischer und franzsischer Sprache.

Weitere Literatur Aurnhammer, Achim/Zanucchi, Mario (Hg., 2020): Ariost in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Berlin/Boston. Bolzoni, Lina (Hg., 2017): Galassia Ariosto. Il modello editoriale dell’Orlando furioso dal libro illustrato al web. Rom. Heinzle, Joachim (2014): Die Nibelungensage als europische Heldensage. Mit einem Exkurs zur Frage der Funktionalitt heroischer berlieferung. In: Ders.: Traditionelles Erzhlen. Beitrge zum Verstndnis von Nibelungensage und Nibelungenlied. Stuttgart. S. 11–46. Jones, Catherine M. (2014): An Introduction to the Chansons de Geste. Gainesville u.a.

147

13. Die Vertreibung aus dem Garten Eden im englischen puritanischen Epos des 17. Jahrhunderts John Miltons Paradise Lost von Martin Kuester berblick

J

ohn Miltons Paradise Lost ist das bedeutendste Epos der englischen Literatur. Thema ist nicht die Vergangenheit der englischen Nation, obwohl diese auch nebenbei erwhnt wird. Vielmehr wird die Geschichte der Menschheit erzhlt, von der Verbannung der ersten Menschen aus dem Paradies und deren Vorgeschichte im Himmel bis zur vorausgesagten Erlsung der Glubigen durch den Sohn Gottes. Das Epos endet mit der Vertreibung aus dem

Garten Eden. Zwar verlassen Adam und Eva das Paradies niedergeschlagen und betrbt, doch wohl wissend, dass sie weiterhin von Gottes Vorsehung begleitet werden. Whrend der Text zu einem zentralen Werk der englischen Literatur wurde, dessen Version der Schpfungsgeschichte mit der biblischen konkurriert, ist seine Rezeption in Deutschland von „vernachlssigenswerter Bedeutung“ (Haverkamp 2018, 149) geblieben.

1642–1651 Englischer Brgerkrieg 1649

Hinrichtung des ‚absolutistischen‘ Knigs Charles I. durch die parlamentarische Partei

1649–1660 Commonwealth: England als Republik unter dem Lord Protector Oliver Cromwell (1599–1658) 1660

Restauration: Charles II., Sohn von Charles I., wird als Knig eingesetzt

1667/1674

Erste/zweite Ausgabe von Paradise Lost (in 10 bzw. 12 Bnden)

1667/1732

Unvollstndige bersetzung durch Theodor Haak / Vollstndige bersetzung durch Johann Jakob Bodmer

1. Milton und das Epos John Milton (1608–1674) zhlt zusammen mit Geoffrey Chaucer (gest. 1400) und William Shakespeare (1564–1616) zur Triade der wichtigsten englischen Autoren. Er wird, v.a. aufgrund seines epischen Meisterwerks Paradise

1. Milton und das Epos

Lost, als einer der „starken Dichter“ (Bloom 1973) der englischen Literatur gesehen, mit deren Einfluss sich jede nachfolgende Autorin bzw. jeder nachfolgende Autor auseinandersetzen muss. Milton wurde an der St. Paul’s School in London und an der Universitt Cambridge unterrichtet. Neben seinem Studium bildete er sich autodidaktisch weiter und wurde zu einem fhrenden Intellektuellen der puritanischen englischen Republik, der die Verurteilung und Hinrichtung des Knigs Charles I. im Jahre 1649 gegenber den Kontinentaleuropern in mehreren lateinischen Schriften verteidigte. Als Latin Secretary Oliver Cromwells, des Herrschers des englischen Commonwealth, das nach der Hinrichtung von Charles I. gegrndet wurde, wurde Milton zur starken Stimme des Puritanismus und der englischen Republik gegenber den europischen Herrschern und Intellektuellen. Der erblindete Autor diktierte das Epos seinen Freunden und Amanuenses („Schreibgehilfen“). Zahlreiche berhmte bildliche Darstellungen suggerieren sogar, dass er den Text seinen Tchtern vorgesprochen habe. 1667 erschien in London die erste Ausgabe in zehn Bnden; die zweite Ausgabe – wie die Aeneis Vergils (Kap. 4) in zwlf Bchern – wurde 1674 verffentlicht, aber ein großer Erfolg blieb dem Epos zunchst versagt. Erst die reprsentative und illustrierte Ausgabe von 1688 konnte dem Werk zum Durchbruch verhelfen (Shawcross 1989, 17). Wie seine persnlichen Aufzeichnungen zeigen, sah sich Milton schon seit seiner Jugend als potenzieller Beitrger zur epischen Tradition in der Literatur. Er hatte das ehrgeizige Ziel, zu zeigen, dass auch in der englischen Sprache epische Themen in angemessener Diktion und entsprechendem Stil behandelt werden knnen. Das Thema sollte ursprnglich nicht die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies sein, sondern der mythische englische Nationalheld Knig Artus (Roberts o.J.), der auch schon in Erzhlungen wie dem Alliterative Morte Arthure (14. Jh.) oder Sir Thomas Malorys Le Morte d’Arthur (1485) gefeiert wurde. Miltons Interesse an nationalen epischen Stoffen wurde sowohl durch englische Vorbilder wie Edmund Spensers Faerie Queene (1590)

149 Abb. 11 Titelseite von Paradise Lost, 1667 (Houghton Library, Harvard University)

Entstehung

Epische Tradition

150

13.

John Miltons Paradise Lost

und kontinentaleuropische Werke wie Ludovico Ariostos Orlando furioso (1531, Kap. 12) und TorquatoTassos La Gerusalemme liberata (1581) stimuliert.

2. Formale Aspekte Metrum und Erzhler

Miltons Epos ist im Blankvers verfasst, also im reimlosen jambischen Pentameter, wie er typisch fr die Dichtung des 17. Jh. wurde – z.B. in Shakespeares Dramen –, und besteht in der Ausgabe von 1667 aus zehn, in der von 1674 aus zwlf Bchern oder Gesngen, die jeweils zwischen ca. 600 und 1200 Verse umfassen. Milton schreibt stilistisch und syntaktisch hchst komplex, wie auch die deutsche bersetzung der ersten Zeilen von Hans Heinrich Meier zeigt, der den Eingangssatz Miltons, der sich ber zwanzig Verse erstreckt, kongenial nachbildet: „Des Menschen erste Widersetzlichkeit / Und jenes untersagten Baumes Frucht, / Die dieser Welt durch sterblichen Genuß / Den Tod gebracht und unser ganzes Leid / Mit Edens Fall, bis, grßer als der Mensch, / Uns wieder einzusetzen Einer komme / Und uns den Ort des Heils zurckgewinne, / Besinge nun, himmlische Muse, die / Du auf dem abgeschiednen Gipfel einst / Des Horeb oder Sinai jenen Hirten / Begeistertest, der dem erwhlten Volk / Von der Geburt des Himmels und der Erde, / Da sie sich aus dem Chaos hoben, sagte; / Wenn aber Zion und Siloahs Bach, / Der nah dem Gottorakel floß, dich mehr / Entzcken, leih von dort mir deinen Mund / Zu meinem Lied, das auf nicht lahmen Schwingen / Parnassens Hhen berfliegen soll, / Dieweil es Dinge sucht, die ungewagt / Geblieben noch in Rede oder Reim“ (1,1–20). Die Erzhlperspektive des Epos wechselt zwischen dem allwissenden Erzhler (dessen Stimme man mit dem russischen Literaturtheoretiker Mikhail Bakhtin [1981] als ‚monologisch‘ bezeichnen knnte) und eher beschrnkten (und nicht unbedingt immer zuverlssigen) Figurenperspektiven wie der des Erzengels Raphael oder der Adams im Garten Eden. Der mit dem Anspruch der Zuverlssigkeit auftretende Erzhler bittet jedoch zu Beginn des Epos und mehrfach auch am Anfang der einzelnen Bcher um die Untersttzung des an die Stelle der traditionellen klassischen Muse tretenden Heiligen Geistes, der ‚himmlischen Muse‘. Hier geht es schließlich darum, ‚gttliche‘ Themen, wie die Absichten und Plne des Schpfers, in menschlicher Sprache darstellen zu knnen und sich einem neuartigen literarischen Projekt zu widmen.

3. Inhalt Biblische Chronologie und Miltons Plot

Die Handlung des Epos beginnt chronologisch mit der Erhhung des Gottessohnes ber die anderen Engel im Himmel, die dann die Rebellion des sich bergangen fhlenden Satan und den Krieg im Himmel nach sich zieht.

3. Inhalt

Satan und die gefallenen Engel werden aus dem Himmel verstoßen und finden sich nach mehrtgigem Fall in der Hlle bzw. im Chaos wieder. Fr seine literarische Version weicht Milton von einer der Chronologie folgenden Darstellung der Ereignisse ab und whlt eine kompliziertere Erzhlstruktur. Er beginnt sein Epos in medias res nach einem Musenanruf und dem typischen epischen Topos und Versprechen, ber Dinge zu berichten, die so bisher weder in Reim noch Prosa geschildert worden seien. Das 1. Buch berichtet davon, wie Satan, nachdem er sich mehrere Tage von der Vertreibung aus dem Himmel erholt hat, auch in der Hlle die Armee der gefallenen Engel anfhrt und ber Rache an Gott, dem Vater, nachdenkt. Satan beruft das Pandmonium ein, eine Art hllisches Parlament, welches auch als Anspielung auf die Rolle des englischen Parlaments in der englischen Brgerkriegs- und Revolutionszeit Mitte des 17. Jh. gesehen werden kann. Da er schon beim Krieg im Himmel an der Allmacht Gottes scheiterte, will er sich nun an den Menschen rchen, die Gott erschaffen hat, damit sie die gefallenen Engel womglich ersetzen. Die Menschen knnten durch ihren Gehorsam, in den sie sich in freier Entscheidung fgen, Gott gegenber den Platz der gefallenen Engel einnehmen. Im 2. Buch des Epos macht Satan sich deshalb auf die Reise durch das Chaos und die Hllenpforte zur neu geschaffenen Erde. Dem allwissenden Gott ist bekannt, dass die Menschen den Versuchungen Satans nicht widerstehen knnen, obschon sie zu einer freien Entscheidung zum Gehorsam gegenber Gott fhig sein mssten. Aus diesem Grunde bietet der Gottessohn im 3. Buch angesichts der Gefahr, die den Menschen im Garten Eden durch Satans Plne droht, an, sich fr die Rettung der Menschen und die Vergebung ihrer Snden zu opfern. Obwohl Adam und Eva durch den Erzengel Raphael vor den Plnen Satans gewarnt werden, knnen sie seinen Intrigen nicht lange widerstehen, die er, wie wir aus der Bibel wissen, v.a. in Form der Schlange im Garten Eden spinnt. Im 4. Buch des Epos wird Satan noch von den Engeln, die Adam und Eva schtzen sollen, erkannt und vertrieben; wenn er es auch schafft, Eva durch einen Traum zu beunruhigen. Das 5. Buch geht in der Chronologie der Ereignisse zurck, um ber die Erhhung des Gottessohnes durch den Vater zu berichten, die die Rebellion Satans und den Krieg zwischen den Engeln zur Folge hatte und mit der Verbannung Satans und seiner Heerscharen aus dem Himmel endete, nachdem der Sohn mithilfe der gttlichen Autoritt den Streit entschieden hatte. Gott sendet den Erzengel Raphael auf die Erde, um Adam vor den Intrigen Satans zu warnen. Hierbei stellt Raphael, der mit Adam von gleich zu gleich kommunizieren soll, die Vorgnge im Himmel aus seiner Sicht (und womglich auch fr sein irdisches Publikum vereinfacht und angepasst) dar, wobei sich fr den Leser mitunter die Frage ergibt, ob die vermeintlich allwissende Perspektive des Erzengels wirklich so allwissend ist. Im 6. Buch berichtet Raphael ber den Krieg im Himmel, der voll von Bildern ist, die an klassisch-epische Schlach-

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1.–2. Buch: Satan sinnt auf Rache

3.–4. Buch: Himmlischer Beistand fr die Menschen

5.–7. Buch: Rebellion und Krieg im Himmel

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13. 8. Buch: Adams Neugierde

John Miltons Paradise Lost

tengemlde gemahnen, im siebten ber die Erschaffung der Erde und der Menschen aus Sicht der Engel. Das 8. Buch schildert Adams Neugierde ber die Beschaffenheit der Erde und des Kosmos. Raphael dagegen ußert Zweifel, ob er dem Menschen Adam alles ber die Welt und ihre gttliche Ordnung erzhlen darf. Mit Interesse verfolgt er, wie Adam sein Leben und seine Partnerschaft mit Eva im Garten Eden schildert. Aus der Darstellung der Kommunikation mit dem Vater kann man schließen, dass Adam – im Gegensatz zu Raphaels steter Unterordnung und fraglosem Gehorsam – zuweilen selbst vom Vater ermuntert wird, Autoritten auch in Frage zu stellen und mit ihnen zu diskutieren, z.B. wenn es darum geht, dass Adam den Vater um eine Partnerin bittet und diesem Wunsch durch die Erschaffung Evas auch entsprochen wird. Eine solche Infragestellung von Autoritten durch ‚Untergeordnete‘ ist dem in die himmlischen Hierarchien integrierten Erzengel Raphael jedoch eher fremd. Mit einer Ermahnung an Adam, Gott gehorsam zu bleiben, und einem Hinweis auf seine Entscheidungsfreiheit verabschiedet sich Raphael. Stichwort

Free Will – die freie Entscheidung Der Erzengel Raphael erklrt Adam, dass es an dessen ‚freier Entscheidung‘ liege, ob er und Eva sich aus eigenem Willen zum Gehorsam Gott gegenber entscheiden und damit nicht den Versuchungen Satans erliegen. Dies sind die abschließenden Worte Raphaels bei seinem Besuch im Garten Eden: „Sei stark, leb glcklich, liebe, doch zuerst Ihn, den zu lieben der Gehorsam ist, Und halte sein Gebot, gib acht, dass nicht Die Leidenschaft dein Urteil bel leite, Wohin dein freier Wille nicht gewollt. Dein Wohl und Wehe und das deiner Shne Liegt ganz in deinen Hnden: hte dich! Ich werde mich mit allen Seligen freuen, Wo du beharrest: stehe fest, ob du Zu Fall kommst oder stehest, liegt an deiner Freien Entscheidung. Da du in dir selbst Vollkommen bist, so suche außerhalb Dir keine Hilfe; widerstehe selbst Jeder Versuchung, das Gebot zu brechen“ (8,771–784).

9.–10. Buch: Sndenfall

Whrend Raphael gegenber Adam und Eva die Bedeutung der freien Entscheidung fr die Einhaltung der Gebote Gottes und insbesondere des Verbots, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, betont hatte, verspricht Satan Eva, als er sie im 9. Buch in der Gestalt der Schlange anspricht, dass die Menschen nicht durch Gehorsam, sondern durch das einfache Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis gttliche Einsicht erlangen knnen. Eva

3. Inhalt

kann der Versuchung nicht widerstehen, und auch Adam isst von der Frucht. Im 10. Buch kehrt Satan nach dem Sndenfall im Garten Eden triumphierend in die Hlle zurck. Den reuigen Sndern Adam und Eva wird vom Sohn die Strafe der Sterblichkeit und der Vertreibung aus dem Paradies verkndet, wobei allerdings auch ein Element der Hoffnung verbleibt, weil der Sohn Eva prophetisch mitgeteilt hatte, dass „Dein Same einst der Schlange Haupt zerschlge“, wie Adam erwhnt (10,1312, s. auch 10,225–228). Wenn Adam und Eva auch durch den Sndenfall im Garten Eden ihre paradiesische Existenz verlieren, bietet der Erzengel Michael Adam doch im 11. Buch eine Vision dessen, was sich auf der Welt bis zur Sintflut hin ereignen

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11.–12. Buch: Auszug aus dem Paradies

Abb. 12 William Blakes Darstellung der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden. Aquarell, 1808 (Boston, Museum of Fine Arts Boston)

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13.

John Miltons Paradise Lost

wird. Im 12. Buch schildert er ihm, was nach der Flut geschehen wird, und sagt voraus, „wer jener Same des Weibes sein wird, welcher Adam und Eva beim Sndenfall verheißen worden“ (Inhaltsangabe Miltons zum 12. Buch, 426). Zum Ende geleitet der Erzengel Michael Adam und Eva aus dem Garten Eden hinaus. Sie verlieren zwar das Paradies, doch knnen sie im Vertrauen auf die gttliche Vorsehung hoffnungsvoll weiterleben: „Noch rannen Trnen, balde abgewischt; / Vor ihnen lag die Welt, wo sich / Die feste Sttte ihres Bleibens fnde / Und die Vorsehung ihre Schritte wies: / Sie gingen Hand in Hand, langsamen Ganges, / Durch Eden einsam wandernd ihren Weg“ (12,791–796). Hauptfiguren Gott, der Vater: Allwissender und allmchtiger Schpfer. Verlangt seinen Geschpfen Gehorsam ab, den diese aus freiem Willen und eigener Entscheidung leisten sollen. Der Sohn: Ihn berhht der Vater im Himmel ber die anderen Engel und fordert damit ihren Gehorsam heraus. Wird sich nach dem Sndenfall zur Vergebung dieser Snde fr Adam und Eva bzw. die Menschheit aufopfern. Satan: Gegenspieler Gottes. Fhlt sich als ‚demokratisch gesinnter‘ Engel durch die Erhhung des Sohnes von Gott, dem Vater, bergangen, erhebt sich deshalb gegen ihn – in einer an den englischen Brgerkrieg im 17. Jh. erinnernden Rebellion – und greift Gottes neue Schpfung, die Menschen, an. Erzengel Raphael und Michael: Boten Gottes bzw. Vollstrecker seines Willens den Menschen gegenber. Raphael wird von Gott auf die Erde geschickt, um Adam und Eva vor den Listen Satans zu warnen. Michael vertreibt die beiden aus dem Garten Eden, verkndigt ihnen aber auch, dass Gott weiterhin ber sie wachen wird.

4. Helden Satan als Held?

Die Frage nach dem wirklichen Helden des Epos hat die Interpretation von Paradise Lost ber die Jahrhunderte bestimmt. Whrend die traditionelle Sicht den Gottessohn als den Helden der Erzhlung sieht, wobei seine Aufopferung fr die Menschheit nicht ganz der Sicht des Helden in den klassischen Epen entspricht, gibt es auch entgegengesetzte Interpretationen, die v.a. aus der Richtung der Bewunderer der Figur des rebellischen Satans kommen, der einem stolzen antiken Helden nher kommt. So schrieb z.B. der frhromantische Dichter William Blake, Milton sei, ohne sich dessen gewahr zu werden, Parteignger Satans gewesen (Blake 1973). Die Beweggrnde Satans fr eine Rebellion und fr den Krieg gegen Gott, den Vater, sind fr die Leserinnen und Leser durchaus nachvollziehbar, und man kann auch durchaus Parallelen zwischen dem politischen Widerstand gegen den monarchischen Absolutis-

5. Rezeption

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mus im England des 17. Jh., also der puritanischen Revolution gegen einen sich absolutistisch gerierenden Knig, und der Rebellion Satans gegen den monarchisch agierenden Vater im Himmel sehen. Milton selbst, dem Parteignger der Puritaner, der den ‚Knigsmord‘ an Charles I. verteidigte, waren solche Gedanken der Rebellion nicht unbekannt. Miltons Erzhler besteht jedoch darauf, dass die christliche leidensvolle Botschaft nicht weniger heroisch als das antike griechische Epos sei, sondern „ein Stoff / Heroischer noch als der Zorn Achills“ (9,15f.), der in Homers Ilias beschrieben wird (Kap. 3). Deshalb habe er sich auch entschieden, klassisches oder mittelalterliches Heldentum, das „wilde Treiben / Von Fabelrittern in erfundnen Schlachten“ (9,33f.), zu ersetzen durch die christlichen Tugenden von „Geduld / Und heldenhafter Opferfreudigkeit“ (9,36f.).

5. Rezeption Paradise Lost ist ein christliches, weniger ein nationales Epos, wenngleich Milton in seiner Jugend wohl ein solches ber den britischen Helden Artus zu schreiben plante. Es gibt jedoch in dem Ausblick auf die Weltgeschichte nach dem Sndenfall, den der Erzengel Michael Adam darbietet, durchaus auch Bemerkungen, die man auf die englische Nationalgeschichte beziehen kann. Zudem weist Milton, wie eben zitiert, darauf hin, dieser Stoff sei „Heroischer noch als der Zorn Achills“ (9,16). Mit Paradise Lost als zentralem Werk der englischen Literaturgeschichte – an dessen Bedeutung und Einfluss die epische Fortsetzung Paradise Regained (1671) nicht anknpfen konnte – hat Milton sich als „starker Dichter“ im Sinne von Harold Blooms Theorie des literarischen Einflusses bzw. der Einfluss-Angst nachfolgender Generationen vor großen poetischen Vorlufern erwiesen. Generationen von Dichtern konnten sich Miltons Einfluss nicht entziehen. Seine Version der biblischen Geschichte ist fr die englische und amerikanische Literatur kaum weniger wichtig als die Bibel selbst. Auch in der Populrkultur ist Miltons Paradise Lost nach wie vor von großer Bedeutung. Beispielsweise zitiert die Figur des Lucifer in Neil Gaimans Comic-Serie Sandman (1989–1996) Verse aus dem Epos und nennt Miltons Namen; noch deutlicher auf Milton bezieht sich Philip Pullman mit der Roman-Trilogie His Dark Materials (1995–2000) – der Titel stammt aus Paradise Lost (2,916) –, die darauf angelegt ist, die Handlung des Epos religionskritisch umzukehren (Oppermann 2018). In Deutschland allerdings erfreut sich Milton keiner allzu großen Beliebtheit. Der Anglist Helmut Schrey fragt: „Wer aber wollte im Ernst leugnen, daß man Miltons Paradise Lost heute gemeinhin fr einen besonders entlegenen literarischen Gegenstand hlt?“ (Schrey 1980, ix). Ferner konstatiert er, „daß

Milton Einfluss

Milton in Deutschland: Ein vernachlssigtes Genie

156

13.

John Miltons Paradise Lost

Milton leider auch bis heute – abgesehen von der H.H. Meierschen bertragung des Paradise Lost – als der am schlechtesten und seltensten ins Deutsche bersetzte major poet der Weltliteratur gelten muß“ (ebd., 5). Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias-Epos (1748–1773) hnelt Paradise Lost in seiner Zielsetzung, konnte aber schwerlich an dessen weltliterarischen Einfluss heranreichen und fhrte auch nicht zu einer vertieften Beschftigung mit Milton im deutschen Sprachraum. Anselm Haverkamp merkte noch vor wenigen Jahren an: „Milton ist ein in Deutschland eigenartig unbekannter Autor und von vernachlssigenswerter Bedeutung, ein in dieser Vernachlssigung nahezu bewhrter Autor, historisch geworden und vergessen samt seinem Nachfolger Klopstock und der erstaunlichen Wirkung, die beide einmal hatten. Im Gegensatz zu der historischen Erledigung beider steht die akute Lebendigkeit Miltons in Amerika, wie sie nicht nur die florierende akademische ‚Miltonindustry‘ bezeugt, sondern weit mehr noch die unbersehbare Prsenz dieses n Autors in den ffentlichen Diskursen“ (Haverkamp 2018, 149). Auf einen Blick

Wenn John Milton auch ein klassisch gebildeter Intellektueller war, ist Paradise Lost, so voll es von intertextuellen Bezgen auf klassische griechische und lateinische Epen ist, eher ein christliches denn ein an der antiken Klassik orientiertes Epos. Es spricht daher weniger eine bestimmte Nation und ihre identittsbildenden Legenden als die ganze Menschheit bzw. Christenheit an. Im Gegensatz zum laut Bakhtin monologischen traditionellen Epos, ist es durch die wechselnden Perspektiven und Intentionen der einzelnen Erzhlinstanzen geprgt, die dem traditionellen biblischen Plot durchaus neue Nuancen hinzufgen und die Hauptcharaktere in ihrer Kommunikation und Interaktion darstellen. Hierbei durchlaufen Adam und Eva einen vom Gottvater und den Erzengeln Raphael und Michael berwachten Lernprozess, der ihnen aufzeigt, wie wichtig fr sie zum einen der Gehorsam Gott gegenber, aber zum anderen auch die freie und unabhngige Willensentscheidung fr diesen Gehorsam sind. Adam und Eva werden einerseits zum Gehorsam ermahnt, durch den Erziehungsprozess aber auch durchaus dazu angeregt, selbst Fragen zu stellen und gegebene Verhltnisse in Frage zu stellen. Im Gegensatz dazu ist die Fhigkeit, Autoritten zu hinterfragen, bei den autorittsglubigen Erzengeln wie Raphael weniger entwickelt. Whrend Paradise Lost im englischen Sprachraum zum zentralen religisen Epos und Milton zu einem der einflussreichsten Autoren wurde, blieben die Wirkung von Werk und Autor im deutschsprachigen Raum vergleichsweise gering.

Literaturempfehlungen Milton, John (1998): Paradise Lost. In: Ders.: The Riverside Milton, hg. v. Roy Flannagan. Boston. S. 296–710. Neuere Standardausgabe mit guten und ausfhrlichen Kommentaren. Milton, John (2008): Das verlorene Paradies, bers. v. Hans Heinrich Meier. Stuttgart. Standardbersetzung bei Reclam, die die aus dem 19. Jh. stammende Ausgabe von Adolf Bttger ersetzt; in diesem Beitrag zitierte Ausgabe.

Weitere Literatur Assmann, Aleida (1974): Vom Verlustigten Paradeiss zum Verlorenen Paradies. Dreihundert Jahre deutscher Milton-bersetzungen. In: Archiv fr das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 211. S. 309–319. Zentraler Aufsatz ber die Rezeption und bersetzung Miltons in den deutschsprachigen Lndern. Fehn, Oliver (2016): Das verlogene Paradies. Eine moderne Version von John Miltons Paradise Lost. 2. Aufl. Shrewald. Eine unterhaltsam geschriebene Nacherzhlung aus der Perspektive Satans, deren Tendenzen die moderne Milton-Philologie aber wohl eher nicht folgen wrde. Forsyth, Neil (2003): The Satanic Epic. Princeton. Wichtige neuere Betrachtung der Rolle Satans im Epos. Schrey, Helmut (1980): Das verlorene Paradies. Auf dem Wege zu Miltons ‚Fit Audience though Few‘. Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsgegenwart von Paradise Lost unter literaturdidaktischem Aspekt. St. Augustin. Wichtiger und lesbarer berblick.

Weitere Literatur Bakhtin, Mikhail M. (1981): The Dialogic Imagination. Four Essays, hg. v. Michael Holquist, bers. v. Caryl Emerson/Michael Holquist. Austin. Blake, William (1973): The Marriage of Heaven and Hell (1790). In: Milton. Paradise Lost. A Casebook, hg. v. Anthony E. Dyson/Julian Lovelock. Basingstoke. S. 44. Bloom, Harold (1973): The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York. Haverkamp, Anselm (2018): Klopstock/Milton – Teleskopie der Moderne. Eine Transversale der europischen Literatur. Stuttgart. Kearns, David (1993): How to Study Milton. Basingstoke. Kilgour, Maggie (2014): Classical Models. In: The Cambridge Companion to Paradise Lost, hg. v. Louis Schwartz. Cambridge. S. 57–67. Kuester, Martin (2014): Der Einfluss von John Fowles auf John Milton. Das ‚Godgame‘ als Ansatzpunkt einer alternativen Geschichtsschreibung der (englischsprachigen) Literatur? In: Europa zwischen Antike und Moderne. Beitrge zur Philosophie, Literaturwissenschaft und Philologie, hg. v. Claus Uhlig/Wolfram R. Keller. Heidelberg. S. 327–348. Oppermann, Eva (2018): Das Satanssturzmotiv in der Englischen Literatur. Ein historischer Lngsschnitt im Kontext von John Miltons Paradise Lost. Kassel. Roberts, Zachary (o. J.): Historical Context of Paradise Lost. In: The Core Curriculum. Columbia College [https:// www.college.columbia.edu/core/content/historical-context-paradise-lost] (Zugriff: 8. Juli 2022). Rosenberg, Donald M. (1981): Oaten Reeds and Trumpets. Pastoral and Epic in Virgil, Spenser, and Milton. Lewisburg u.a. Shawcross, John T. (1989): The Life of Milton. In: The Cambridge Companion to Milton, hg. v. Dennis Danielson. Cambridge. S. 1–39. Tillyard, Eustace Mandeville Wetenhall (1954): The English Epic and Its Background. London.

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14. Der letzte Homeride und das Epos des deutschen Brgertums Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea von Manuel Bauer berblick

G

oethes heute wenig gelesene, zwischen Epos und Idylle changierende Verserzhlung Hermann und Dorothea (1797) avancierte im 19. Jh. zu einem Hausbuch des Brgertums, wenn nicht gar zum deutschen Nationalepos. Erzhlt wird von den Auswirkungen des zentralen zeitgeschichtlichen Ereignisses der Franzsischen Revolution und einer dadurch erwachenden patriotischen Gesinnung. Konzipiert als Reaktion auf eine

neue philologische Theorie zur Genese von Epen, versucht dieses Hexametergedicht eine Synthese von Antike und Moderne sowie von griechischer und deutscher Kultur zu leisten. Indem er zum Anlass fr berlegungen wurde, wie unter den Bedingungen der eigenen Gegenwart episches Erzhlen mglich ist, stellt Goethes Text den wirkmchtigsten Versuch einer modernen Transformation des homerischen Epenmodells dar.

1789ff. Franzsische Revolution, in deren Folge es zu den sog. Revolutionskriegen kommt; Goethe nimmt 1792 am Frankreich-Feldzug des preußischen Heeres teil 1795

Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum werfen ein neues Licht auf die Entstehung der Homerischen Epen und ermutigen Goethe zu einem „epische[n] Versuch“

1796/97 In ihrem Briefwechsel diskutieren Goethe und Schiller ber Merkmale der epischen Dichtung; Entstehung und Publikation von Hermann und Dorothea 1797/98 August Wilhelm Schlegel und Wilhelm von Humboldt diskutieren am Beispiel von Hermann und Dorothea die Mglichkeiten eines modernen bzw. brgerlichen Epos und erheben den Text in den Rang poetologischer Mustergltigkeit 19. Jh.

Hermann und Dorothea wird zur kanonischen Schullektre und zum Hausbuch des deutschen Brgertums

1. Goethe und das Epos

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1. Goethe und das Epos 1795/96 publiziert Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) mit Wilhelm Meisters Lehrjahre einen Erzhltext, der in den folgenden Jahren zum Muster des Romans ausgerufen wird und dazu beitrgt, diese Gattung als modernes quivalent des Epos zu etablieren. Der Autor selbst aber verfolgt keineswegs das Projekt, die antike Form des Epos zu berwinden – er adaptiert sie vielmehr. Unmittelbar nach Abschluss des Wilhelm Meister entsteht von September 1796 bis Juni 1797 Herrmann und Dorothea (seit 1808 zunehmend unter der mittlerweile etablierten Schreibweise Hermann und Dorothea). Dieser einzige große Publikumserfolg des Weimarer Klassizismus zhlte im 19. sowie der ersten Hlfte des 20. Jh. zu Goethes populrsten Publikationen. Allein zu Lebzeiten des Autors erschienen mehr als 30 Einzelausgaben sowie bersetzungen in zahlreiche moderne Sprachen und sogar ins Lateinische (Arminius et Theodora, 1822). Zwar sei Hermann und Dorothea Goethes „erster epischer Versuch“ (WA IV.13, 145), doch diese Selbsteinschtzung unterschlgt, dass er Mitte der 1770er Jahre an einem Epos in Knittelversen (Der ewige Jude), 1784 an einem religisen Epos in Stanzen (Die Geheimnisse) gearbeitet hat; beide blieben unvollendet. Sein Tierepos Reineke Fuchs (1793) kleidet einen vielfach berlieferten Stoff in Hexameter und bernimmt damit die Form, die auch Friedrich Gottlieb Klopstock in seinem weithin enthusiastisch rezipierten Bibelepos Der Messias (ab 1748) verwendet. Vor allem ist der Hexameter durch die bersetzungen von Ilias (1793) und Odyssee (1781) von Johann Heinrich Voß auch in deutscher Sprache mit den homerischen Texten (Kap. 3) verknpft. Erschttert wurde die Autoritt Homers durch Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795). Diese philologische Studie bestimmte im ausgehenden 18. Jh. die Debatte um die sog. ‚Homerische Frage‘. Die These Wolfs besagt, dass Ilias und Odyssee Resultat der Bearbeitung einzelner Gesnge durch eine Vielzahl von Redakteuren seien. Die Vorstellung eines Originalgenies Homer wird verabschiedet, eine individuelle durch eine kollektive Autorschaft ersetzt. Von der Lektre der Prolegomena angeregt, ist es Goethe, seiner Selbstinszenierung zufolge, berhaupt erst mglich, einen epischen Text im homerischen Stil zu schreiben. Das geht aus der ebenfalls den Titel Hermann und Dorothea (1796) tragenden Elegie hervor, die als Einleitung zum Epos mit dem gleichen Titel vorgesehen war und als paratextuelle poetologische ußerung zu lesen ist. Goethe imaginiert eine gesellige Situation, in der man u.a. auf Wolf trinkt, dessen Homer-Studien eine befreiende Wirkung zugesprochen wird: „Erst die Gesundheit des Mannes, der, endlich vom Namen Homeros / Khn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn. / Denn wer wagte mit Gttern den Kampf? und wer mit dem Einen? / Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schn. / Darum hret das neuste Gedicht!“ (WA I.1, 294, V. 27ff.)

Der Bestseller des Weimarer Klassizismus

Homerische Frage

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14.

Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea

Goethe erklrt sich zum ‚Homeriden‘, was nur mglich sei, weil es den ‚einen‘ Homer nicht gegeben habe. Als ‚letzter‘ der Homeriden fhrt der Dichter des Epos Hermann und Dorothea eine Tradition an ihr Ende.

2. Formale Aspekte Idylle

‚berhomerische‘ Intertextualitt

Erzhler

Goethe konzipiert Hermann und Dorothea zunchst als „brgerliche Idylle“ (WA IV.11, 324). Die aus der Antike bernommene episch-lyrische Mischgattung der Idylle ist im 18. Jh. ausgesprochen populr. Sie handelt von ‚einfachen Menschen‘ in einer lndlichen Umgebung und einer idealisierten vormodernen Welt abseits komplexer gesellschaftlicher Verhltnisse (weiterfhrend Mix 2009). Zeitgenssisches Muster der Gattung ist Johann Heinrich Voß’ Luise. Ein lndliches Gedicht in drei Idyllen. Der Homer-bersetzer Voß erzhlt nicht von einem fernen Arkadien, sondern von brgerlichen Verhltnissen eines Pfarrhauses und einer sich anbahnenden Verehelichung. 1783/84 einzeln verffentlicht, wurden die drei in Hexametern gedichteten Idyllen 1795 gemeinsam in Buchform publiziert. Neben Wolf erweist Goethe in der Hermann und Dorothea-Elegie auch dem Verfasser der Luise eine Ehrbezeugung (WA I.1, 294, V. 35f.). Indem Goethe seine Verserzhlung ebenfalls in einem lndlichen brgerlichen Umfeld situiert und das Metrum des Hexameters whlt, musste aufgrund der zeitlichen, thematischen und formalen Nhe – bei allen Unterschieden im Detail – auch Luise als Prtext fr Goethes kaum auf einen eindeutigen Gattungsbegriff zu bringendes idyllisches Epos ausgemacht werden, weshalb die beiden Werke hufig verglichen werden (Ritter 2009). Der wesentlichere Bezugspunkt aber sind die homerischen Epen, an deren Sprachgestus und Erzhlhaltung Goethe seinen Text durch Form- und Stilzitate sowie motivische Anspielungen anlehnt (Martin 1993, Kap. IV.2). Eine hochreflektierte Intertextualitt ist fr dieses moderne Epos konstitutiv, dessen Verfasser kein bloßer Kopist eines antiken Vorbilds ist, sondern als „Homererneuerer“ (Kaiser 2000, 71) auftritt. Das Bewusstsein der eigenen formalen Knstlichkeit – treffend bemerkt Friedrich Schlegel, der Text sei just dann, wenn er „am antiksten und […] am homerischsten scheint, […] hchst unhomerisch oder vielmehr berhomerisch“ (Schlegel 1985, 9) – steht in spannungsreichem Kontrast zur idyllischen Szenerie. Durch die formalen und sprachlichen hnlichkeiten wirken die Unterschiede besonders eklatant. Neben den inhaltlichen Verschiebungen gegenber den antiken Heldenepen fllt ein anderer Unterschied auf: Der Gesamtumfang des Textes nimmt sich mit knapp ber 2000 Hexameter-Versen im Vergleich zu den rund 15 000 der Ilias und den 12 200 der Odyssee aus wie der einer Novelle im Verhltnis zu einem umfangreichen Roman; Goethe legt eher ein Epyllion vor als ein antiken Maßstben gengendes Epos. Die erzhlte Zeit erstreckt sich

3. Inhalt und zeitgeschichtlicher Kontext

nur ber einen Tag, die geschilderten Begebenheiten sind im Vergleich zu den Geschehnissen etwa des Kampfes um Troja sehr kompakt, werden aber alles andere als straff erzhlt. Gemß Goethes Auffassung des Epischen – „Eine Haupteigenschaft des epischen Gedichts ist daß es immer vor und zurck geht, daher sind alle retardirende Motive episch“ (WA IV.12, 91) – ist die Erzhlweise dem Retardieren verpflichtet. Sowohl der extradiegetische-heterodiegetische Erzhler als auch die von eigenen Erlebnissen und Beobachtungen erzhlenden Figuren schweifen bestndig in die Breite oder flechten sentenzartig ideologische Unterweisungen in brgerlicher Tugendlehre ein. Bei all dem tritt der Erzhler hinter die von ihm geschilderten Zustnde, Vorgnge und die direkt wiedergegebene Figurenrede zurck. Er entspricht Schillers und Goethes Idealbild des Rhapsoden, der „in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen“ solle und „hinter einem Vorhange am allerbesten“ lse (WA I.41.2, 223). Angeordnet ist das Erzhlte in neun Gesnge, die jeweils einen Doppeltitel tragen, dessen erster Teil – wie in Herodots ebenfalls in neun Bcher unterteilten Historien (5. Jh. v. Chr.) – der Name einer der Musen, der zweite eine Andeutung des Inhalts bildet. So ist der erste Gesang berschrieben mit „Kalliope / Schicksal und Anteil“ – Kalliope ist die Muse der epischen Dichtkunst, wodurch der Autor seinen Text in die epische Tradition rckt und durch die berschrift einen indirekten Musenanruf einbaut. Dezidierter bittet der Dichter zu Beginn des neunten Gesangs die Musen darum, ihm dabei zu helfen, die sich anbahnende Verbindung der beiden Titelfiguren zu vollenden. Die anschließende Bitte, die Musen mgen ihm sagen, „was jetzt im Hause geschieht“ (9,6), in das einzutreten Hermann und Dorothea im Begriff sind, wirkt auffllig bescheiden im intertextuellen Vergleich zu Homers Ansinnen, die Muse mge ihm vom Groll des Achilles und dessen Folgen oder von den Irrfahren des Odysseus erzhlen. Diese Ausrichtung auf Ehe und Huslichkeit ist signifikant. Das brgerliche Ethos tritt an die Stelle des heroisch-kriegerischen. In einer von diesem Ethos geprgten Welt ist außer fr die Musen, die Schutzgttinnen der Knste, kein Platz mehr fr Gtter, deren Einwirkungen auf die Menschen von Johann Gottfried Herder noch 1803 als „die Seele des epischen Gedichtes“ (Herder 2000, 810) und dessen notwendige Voraussetzung beschrieben wurde. Goethes episches Gedicht bricht mit dieser Voraussetzung, die einer skularen, vom Brgertum geprgten Zeit nicht mehr angemessen gewesen wre.

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Musenanrufe

3. Inhalt und zeitgeschichtlicher Kontext Obwohl der epische Snger, Goethe und Schiller zufolge, eigentlich „das vollkommen Vergangene vortrgt“ (WA I.41.2, 223), behandelt Hermann und Dorothea ein aktuelles Sujet. Dass der Wirt des Gasthauses „den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen“ (1,1) hat und dass „die Stadt wie ge-

Aktualitt des Sujets

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14.

Goethe und die Franzsische Revolution

Plot und Bewertung der Revolution

Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea

kehrt! wie ausgestorben!“ (1,2) ist, resultiert aus der großen zeitgeschichtlichen Umwlzung der 1790er Jahre. Fast alle Bewohner der kleinen Stadt, in der die Familie des Titelhelden lebt, sind unterwegs, um „den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen“ (1,5) – linksrheinische Deutsche, die vor den Wirren der Revolutionskriege flchten mussten. Das gravierendste Ereignis des Zeitalters, die Franzsische Revolution und ihre weit ber Frankreich hinaus reichenden Folgen, stellt fr diesen epischen Versuch das moderne Analogon zum trojanischen Krieg dar. Goethes „grnzenlose Bemhung dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewltigen [sic!]“ (WA II.11, 61) manifestiert sich neben den ‚Revolutionsdramen‘ (Der Brgergeneral, Der Groß-Cophta, Die natrliche Tochter) insbesondere in der Novellensammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794/95). Deren Rahmenhandlung erzhlt von einer hnlichen Situation wie das sptere Versepos. Eine (hier allerdings adlige) Familie muss ihre Gter verlassen und ber den Rhein fliehen, nachdem „das Heer der Franken […] in unser Vaterland einbrach“ (WA I.18, 95). Um sich vom „Donner der Kanonen“ (WA I.18, 103) und politischen Diskussionen abzulenken, erzhlen sie sich (nach dem Vorbild von Boccaccios Decamerone) lehrreiche und ntzliche Geschichten. Eine umgekehrte Bewegung vollziehen Goethes autobiographische Schriften Campagne in Frankreich 1792 und Belagerung von Mainz (1822), in denen er von „[s]einem wunderlichen Ritt in’s Kanonenfeuer“ (WA I.33, 203), seiner Teilnahme an militrischen Operationen, erzhlt. Aus den Schilderungen geht hervor, dass Goethe „das Unheil der franzsischen Staatsumwlzung“ (WA I.33, 189) als zeitgeschichtliche Zsur deutet. Diese bildet den Hintergrund fr das Geschehen in Hermann und Dorothea. Um „das Elend / Guter fliehender Menschen“ (1,8f.) durch die Gabe von Nahrungsmitteln und abgetragener Kleidung zu lindern, hat sich Hermann, Sohn des Wirtes, aufgemacht. Beim „Zug der Vertriebnen“ (2,18) hat er eine junge Frau gesehen, in die er sich sofort verliebt hat und die er heiraten mchte, obwohl sein wirtschaftsbrgerlich denkender Vater ihn lieber an eine Tochter des reichen Kaufmanns verheiraten wrde als an eine mittellose Geflchtete. Man kommt berein, das fremde Mdchen gewissermaßen einer Begutachtung zu unterziehen. Der Pfarrer und der Apotheker, Freunde der Familie, werden von Hermann zum Lager der Flchtenden kutschiert. Dort treffen sie auf einen Richter, mit dem sich der Pfarrer in ein Gesprch vertieft, um mehr ber die potenzielle Braut in Erfahrung zu bringen. In diesem Gesprch werden die anfnglichen Ideale der Franzsischen Revolution – Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit – in einem erstaunlich positiven Licht geschildert und geradezu ins Religise berhht (Kaiser 2000, 68). Die Hoffnungen htten sich jedoch getrbt, als der berschwang in Mord, Eigennutz und Unterdrckung umgeschlagen und es zu einer Eskalation der Gewalt gekommen

3. Inhalt und zeitgeschichtlicher Kontext

sei. Ob dieser Umschlag in der Logik der revolutionren Entwicklung zu sehen ist oder ob es nur an einer bestimmten Personengruppe lag, die die Herrschaft an sich reißen wollte, bleibt offen (6,40ff.). Die Kundschafter befinden die auserkorene Braut fr geeignet. Nach einigen Verzgerungen kommt es schließlich zu „Umarmung und Kuß“ (9,223) der Liebenden und der Pfarrer kann eine frmliche Verlobung vornehmen. Als er der Braut den von Hermanns Mutter geborgten Ring anstecken will, bemerkt er allerdings, dass sich bereits ein Ring an ihrem Finger befindet. Diese Entdeckung veranlasst Dorothea dazu, von ihrem ersten, bei kriegerischen Auseinandersetzungen verstorbenen Brutigam – Vertreter des „Sozialtypus“ des „radikalisierten deutschen Jakobiner[s]“ (Bhme 2018, 67) – und dessen Revolutionsbegeisterung zu erzhlen. Bevor er nach Paris aufbrach, habe er ihr gesagt: „Ich gehe; denn Alles bewegt sich / Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich Alles zu trennen. / Grundgesetze lsen sich auf der festesten Staaten, / Und es ls’t der Besitz sich los vom alten Besitzer, […] / Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rckwrts / Lsen in Chaos und Nacht sich auf, und neu sich gestalten“ (9,262ff.). Die Revolution hat nicht das Ancient Regime allein, sondern jedwede Gewissheit, jede Verbindung, Bestndigkeit und frhere Sicherheit aufgelst. Hermanns abschließende Verse begegnen diesem elegischen Einschub mit einer optimistischen Aussicht. Der „allgemeinen Erschttrung“ (9,299) will er einen festen Bund entgegensetzen, der eine stabile Ehe mit einer patriotischen Ideologie vermengt. Das von Frankreich ausgehende schwankende Unwesen soll an der deutschen Stetigkeit und Beharrlichkeit genesen. Die Deutschen werden als eines der „entschlossenen Vlker gepriesen“ (9,308), die ihre Angehrigen bis zum Tode verteidigen. Diese Ideologie soll indes gerade nicht in militrische Auseinandersetzungen mnden, endet der Lobpreis deutscher Tapferkeit doch mit der Beschwrung des Friedens. Quelle

Hermanns patriotischer Schlussmonolog (9,299–318)

Desto fester sei, bei der allgemeinen Erschttrung, / Dorothea, der Bund! Wir wollen halten und dauern, / Fest uns halten und fest der schnen Gter Besitztum. / Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist, / Der vermehret das bel und breitet es weiter und weiter; / Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich. / Nicht dem Deutschen geziemt es, die frchterliche Bewegung / Fortzuleiten, und auch zu wanken hierhin und dorthin. / Dies ist unser! so laß uns sagen und so es behaupten! / Denn es werden noch stets die entschlossenen Vlker gepriesen / Die fr Gott und Gesetz, fr Eltern, Weiber und Kinder / Stritten und gegen den Feind zusammenstehend erlagen. / Du bist mein; und nun ist das Meine meiner als jemals. / Nicht mit Kummer will ichs bewahren und sorgend genießen, / Sondern mit Mut und Kraft. Und drohen diesmal

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Patriotische Ideologie

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Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea die Feinde, / Oder knftig, so rste mich selbst und reiche die Waffen. / Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern, / O, so stellt sich die Brust dem Feinde sicher entgegen. / Und gedchte jeder wie ich, so stnde die Macht auf / Gegen die Macht, und wir erfreuten uns Alle des Friedens.

Epos und Identittsstiftung

Indem Goethe bei seinem Versuch einer Aktualisierung der epischen Form einen aktuellen, politisch und ideologisch aufgeladenen Stoff in antikisierendem Gewand prsentiert, um die feste Gesinnung des Deutschen in bewegten Zeiten zu preisen, nimmt er das Epos als literarisches Mittel der Identittsstiftung bzw. -konstruktion in Anspruch. Die nationalideologische Funktion des Epos beschrnkt sich nicht auf Vorzeitkunde, es kann auch der eigenen Gegenwart ein Verstndnis von Gemeinschaft und Abgrenzung bieten. Allerdings ist der Text doppelbdig: Indem Dorothea „die Ringe neben einander“ (9,297) steckt, kommt es zu einer symbolischen Verbindung der durch Hermann reprsentierten deutschen Bestndigkeit und der durch den ersten Brutigam vertretenen revolutionren Ideale. Zugleich schafft der Text, schon durch die Vereinigung des deutschen Namens Hermann mit dem aus dem griechischen stammenden Dorothea, eine Synthese von deutscher und griechischer Kultur, von Moderne und Antike. Hauptfiguren Hermann: Schchterner Sohn des Gastwirtes einer idyllischen Kleinstadt. Entwickelt im Verlauf der Handlung starke patriotische Gesinnungen und wird zum Brutigam Dorotheas. Dorothea: Junge Frau, die vor den plndernden franzsischen Truppen flieht und sich aufopferungsvoll um andere Geflchtete kmmert. Zeigt fr eine weibliche Figur untypisch starke und handfeste heroische Zge. War mit einem Revolutionsanhnger verlobt, wird nun die Braut Hermanns. Dorotheas erster Brutigam: Zur Zeit der erzhlten Geschehnisse bereits verstorben, nimmt dennoch eine zentrale Rolle ein, da er enthusiastisch die Ideale der Franzsischen Revolution vertrat, aber ihren gewaltttigen Auswirkungen erlag. Richter: Schultheiß aus dem Dorf der Vertriebenen. Schildert die Entwicklung der revolutionren Ereignisse und deren Umschlagen in blutige Gewalt. Hermanns Vater: Wirt der Gaststtte „Zum Goldenen Lwen“. Nicht ohne Ironie gezeichneter Inbegriff brgerlicher Behaglichkeit und konomischen Besitzdenkens.

4. Helden Brgerlichkeit statt Heldentum

Von epischen Schlachten oder einem geschlossenen Heldenzeitalter handelt Hermann und Dorothea nicht. Das Brgerliche ist weit wichtiger als das

5. Rezeption

(durch die homerisierende Form immer mitzudenkende) Heroische. Dennoch: Nachdem Hermann zunchst ein schchterner „Stubenhocker“ (Ltzeler 1985, 257) und „Stockfisch“ (Breuer 2015, 19) ist, erwacht in ihm ein patriotischer Heroismus: „[I]m innersten Busen / Regt sich Mut und Begier, dem Vaterlande zu leben / Und zu sterben und Andern ein wrdiges Beispiel zu geben“ (4,95ff.). Eigentlich aber geht es ihm darum, dass all seinem Fleiß ein Ziel und Sinn fehlt: „Alles liegt so de vor mir, ich entbehre der Gattin“ (4,196). Der brgerliche Heldenmut richtet sich also darauf, das wilde Abenteuer der Ehe einzugehen (wodurch Goethe vaterlndische Gesinnung und aufkeimendes Heldentum mit sanfter Ironie versieht). In seinem nationalistischen Instrumentalisierungen Vorschub leistenden Schlussmonolog erwchst der so zgerliche Hermann zu einem brgerlichen Arminius, zu einem Wiedergnger der nationalen Symbolfigur Hermann des Cheruskers. Zu dieser Entwicklung trgt die „Heldengrße des Weibes“ (8,98) bei. Dorothea ist ber weite Strecken aktiver und heroischer als Hermann. Integral ist eine Episode, die der Richter von einer „schnen Tat“ (6,104) Dorotheas erzhlt. Mit anderen Mdchen allein auf einem Gehft zurckgeblieben, seien sie von einem „Trupp verlaufnen Gesindels“ (6,108) berfallen und sexuell bedrngt worden: „Aber sie riß dem einen sogleich von der Seite den Sbel, / Hieb ihn nieder gewaltig; er strzt’ ihr blutend zu Fßen. / Dann mit mnnlichen Streichen befreite sie tapfer die Mdchen“ (6,114ff.). So problematisch das Frauenbild des einer patriarchalen Weltsicht verpflichteten Textes ber weite Strecken ist: Heldentum und Tapferkeit sind vornehmlich weiblich besetzt.

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Weibliches Heldentum

5. Rezeption Die vaterlndischen Tendenzen in Verbindung mit der Aussicht auf Frieden durch militrische Strke und der Betonung brgerlicher Behaglichkeit auf der Grundlage eines idyllisch dargestellten Wirtschaftslebens ließen dem Epos eine immense Beliebtheit zuteilwerden, die darauf verweist, dass Literatur im Rang eines kulturellen Leitmediums stand. Die als geglckt gesehene Synthese von antiker Form und modernem Sujet verbrgte die Legitimitt, mit der sich die deutsche ‚Kulturnation‘ (in Abgrenzung zu Frankreich) als Nachfolgerin des klassisch-antiken Griechenlands verstehen wollte. Hermann und Dorothea wurde im 19. Jh. zur Schullektre und zu einem Hausbuch des deutschen Brgertums. Noch im 20. Jh. sahen Literarhistoriker in Goethes Text „die schnste Verklrung des deutschen Brgertums“ (Gundolf 1922, 503) oder ein „Idealbilde deutscher Brgerlichkeit“ (Korff 1966, 344); nach 1945 fiel das Epos allerdings weitgehend aus dem Kanon und dem bildungs-

Hausbuch des deutschen Brgertums

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14.

„Brgerliche Epopee“

Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea

brgerlichen Bewusstsein. Die identittsstiftende Indienstnahme beschrnkte sich zuvor nicht auf den privaten und schulischen Gebrauch zur Erbauung und Unterweisung in brgerlicher Wohlanstndigkeit und Vaterlandsliebe. Als 1849 die Nationalversammlung ein deutsches Staatsoberhaupt whlte, wurden die Verse ber das, was dem Deutschen nicht geziemt (9,305ff.), zitiert. „Herzerfreuend ist die Anfhrung Goethescher Worte bei Verkndigung der Kaiserwahl im Frankfurter Parlament“, kann Karl August von Varnhagen in sein Tagebuch notieren (zitiert nach MA 4.1, 1093). Die patriotische, bis ins Nationalistische gesteigerte Bezugnahme auf diesen Text, der an einer Festschreibung des deutschen Wesens arbeitet, veranlasst noch die jngere Germanistik zu der Unterstellung, dass es „Goethe darum ging, ein deutsches Nationalepos zu schreiben“ (Ltzeler 1985, 248f.). Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gattung des Epos ist die unmittelbar nach Verffentlichung einsetzende Theorie-Rezeption von grßter Relevanz. Goethes Epos wurde zum Sinnbild fr die Grundsatzfrage „nach der Mglichkeit der antik-epischen Form fr die Dichter der neueren Zeit“ (Schelling 1995, 511). August Wilhelm Schlegel stellt Hermann und Dorothea unmittelbar nach der Publikation auf eine Stufe mit den homerischen Epen, da alle nicht stofflich und historisch bedingten Merkmale des Epischen an diesem Text in gleichwertiger Weise aufzuzeigen seien (Schlegel 1962). Wilhelm von Humboldt fhrt 1798 in Abgrenzung zur „heroische[n]“ den Begriff der „brgerlichen Epopee“ ein: „So wie es ein brgerliches Trauerspiel im Gegensatz des heroischen giebt, eben so […] mssen wir auch eine hnliche Art der Epopee annehmen; und eine solche ist Herrmann und Dorothea“ (Humboldt 1961, 299). Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil von der Sptaufklrung bis zur sthetik des Deutschen Idealismus die Bezeichnung „wahre brgerliche Epopee“ (Wezel 1999, 204) oder der „modernen brgerlichen Epope“ (Hegel 1970, 392) dem Roman vorbehalten ist. Goethes Epos wird in Humboldts Bestimmung eine Epochensignifikanz zugesprochen, die zur gleichen Zeit dem Roman als historischer Nachfolgegattung und funktionalem geschichtsphilosophischem quivalent des Epos attestiert wird. Ebenfalls um die Differenz zum heroischen Epos und die epochentypische Spezifik von Hermann und Dorothea zu markieren, hebt Georg Wilhelm Friedrich Hegel hervor, dass das Epos in der brgerlich-modernen Welt ‚idyllisch‘ geworden sei (Hegel 1970, 414). Derlei berlegungen finden eine spekulative Besttigung im Scheitern von Goethes Achilleis-Projekt (1799) – ein Hexameter-Heldenepos, das inhaltlich dort ansetzt, wo Homers Ilias endet, von dem aber nur ein Torso vorliegt. Einem brgerlichen Zeitalter sind Stoffe, die einem episch-heroischen Weltzustand entnommen sind, nicht mehr adquat.

Literaturempfehlungen Stichwort

Das idyllische Epos „Suchen wir nun in neuester Zeit nach wahrhaft epischen Darstellungen, so haben wir uns nach einem anderen Kreise als dem der eigentlichen Epope umzusehen. Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche wir fr das echte Epos unerlßlich fanden, whrend die Umwlzungen, denen die wirklichen Verhltnisse der Staaten und Vlker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhaften, um schon die epische Kunstform vertragen zu knnen. Die epische Poesie hat sich deshalb aus den großen Vlkerereignissen in die Beschrnktheit privater huslicher Zustnde auf dem Lande und in der kleinen Stadt geflchtet, um hier die Stoffe aufzufinden, welche sich einer epischen Darstellung fgen knnten. Dadurch ist denn besonders bei uns Deutschen das Epos idyllisch geworden […]. Als naheliegendes Beispiel eines idyllischen Epos will ich nur an die Luise von Voss sowie v.a. an Goethes Meisterwerk, Hermann und Dorothea, erinnern“ (Hegel 1970, 414). n

Auf einen Blick

Ermutigt durch die neue Auffassung der Autorschaft der homerischen Epen im Anschluss an F.A. Wolfs Prolegomena und befreit von der einschchternden Autoritt Homers, konnte Goethe selbst einen ‚epischen Versuch‘ wagen und als ‚letzter Homeride‘ ein – im Zeitalter der Etablierung der Form des Romans – ebenso modernes wie unzeitgemßes Epos vorlegen, das aufgrund seiner konstitutiven Intertextualitt geradezu ‚berhomerisch‘ wirkt. Vor dem Hintergrund der Folgen der Franzsischen Revolution tritt das Brgerliche an die Stelle des Heroischen. Dennoch wird Hermann angesichts der ußeren Bedrohung durch die Franzosen aufgrund eines erwachenden Patriotismus und durch sein Beharren auf deutschen Tugenden der Stetigkeit in Zeiten der rasanten Vernderung zu einem Wiedergnger der deutschen Symbolfigur des Arminius. Goethes Epos wurde gleichsam zu einer brgerlichen Bibel, obwohl die Bewertung der revolutionren Ereignisse ambivalenter ist, als eine ideologisch verengte, bis ins Nationalistische gesteigerte Lesart wahrnehmen wollte. Hermann und Dorothea ist als Versuch einer Verbindung von deutscher und griechischer Kultur zu sehen; von grßter gattungsgeschichtlicher Bedeutung ist die rasch einsetzende Debatte ber die mit diesem Text verwirklichte Spielart eines ‚brgerlichen‘ Epos, das unter den Bedingungen der Moderne der Notwendigkeit folge, idyllisch zu werden, an dem aber alle Wesensmerkmale der Gattung ebenso vorbildlich ausgeprgt seien wie an den homerischen Vorbildern.

Literaturempfehlungen Goethe, Johann Wolfgang (1986): Hermann und Dorothea. Stuttgart. Fr den studentischen Gebrauch geeignete Textausgabe in Reclams Universal-Bibliothek mit Anmerkungen, Worterklrungen, Literaturhinweisen und sachkundigem Nachwort.

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14.

Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea Goethe, Johann Wolfgang (1988): Smtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Mnchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Gpfert u.a. Bd. 4.1: Wirkungen der Franzsischen Revolution 1791–1797 I, hg. v. Reiner Wild. Mnchen. Prsentiert den Text von Herrmann und Dorothea im Zusammenhang mit Goethes anderen dichterischen Auseinandersetzungen mit der Franzsischen Revolution; Band einer der philologisch besten Goethe-Gesamtausgaben; im vorliegenden Beitrag zitierte Ausgabe. = MA 4.1. Goethe, Johann Wolfgang (1987): Werke. Hg. im Auftrag d. Großherzogin Sophie von Sachsen. – Weimarer Ausgabe. Mnchen (Fotomechanischer Nachdruck d. Ausgabe Weimar 1887–1919). Noch immer die umfassendste Goethe-Gesamtausgabe, nach der alle weiteren Goethe-Texte dieses Beitrags zitiert werden. = WA. Elsaghe, Yahya A. (1996): Herrmann und Dorothea. In: Goethe-Handbuch in vier Bnden. Bd. 1. Gedichte, hg. v. Regine Otto/Bernd Witte. Stuttgart/Weimar. S. 519–537. Sachkundiger Forschungsberblick. Humboldt, Wilhelm von (1961): ber Gthes Herrmann und Dorothea. In: Ders.: Werke in fnf Bnden, hg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel. Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und sthetik. Die Vasken. Darmstadt. S. 125–356. Eines der frhesten und geistreichsten Rezeptionsdokumente; entwickelt ausgehend von Hermann und Dorothea eine umfassende Theorie des Epos auf der Grundlage einer transzendentalphilosophischen allgemeinen Gattungstheorie. Ltzeler, Paul Michael (1985): Hermann und Dorothea (1797). In: Goethes Erzhlwerk. Interpretationen, hg. v. dems./James E. McLeod. Stuttgart. S. 216–267. Pointierter und materialreicher Einstieg in zentrale Themen, Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Textes. Martin, Dieter (1993): Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin/New York. Kontextualisiert Hermann und Dorothea in deutschsprachiger Epentradition und -produktion des 18. Jahrhunderts. Schmidt, Josef (Hg., 1978): Erluterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe: Hermann und Dorothea. Stuttgart. Hilfreiche, leider vergriffene Materialsammlung.

Weitere Literatur Bhme, Hartmut (2018): Goethes Herrmann und Dorothea. Liebe in den Zeiten von Revolution und Flucht. In: Goethes Epen und Balladen, hg. v. Gernot Bhme. Bielefeld. S. 61–80. Breuer, Dieter (2015): „…und steckte die Ringe nebeneinander.“ Revolution und Reaktion in Goethes Herrmann und Dorothea (1797). In: Lenz-Jahrbuch 22. S. 7–23. Egloff, Miriam (2022): Episches Erzhlen bei Goethe als Reflex auf moderne Zeitlichkeit. Paderborn. Gundolf, Friedrich (1922): Goethe. 11. unvernderte Aufl. Berlin. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Vorlesungen ber die sthetik III. Werke 15. Frankfurt a.M. Herder, Johann Gottfried (2000): Epopee. In: Ders.: Werke in zehn Bnden, Bd. 10. Adrastea (Auswahl), hg. v. Gnter Arnold. Frankfurt a.M. S. 808–841. Kaiser, Gerhard (2000): Goethe – Nhe durch Abstand. Vortrge und Studien. Jena/Weimar. Korff, Hermann August (1966): Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. II.Teil. Klassik. 8., unvernderte Aufl. Leipzig. Mix, York-Gothart (2009): Idylle. In: Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe u.a. Stuttgart. S. 393–402. Ritter, Heidi (2009): „So ist […] der Weg zu verfolgen den uns Voß in seiner Luise so schn gezeigt hat.“ Goethe, Johann Heinrich Voß und das homerische Epos. In: Aufklrung und Weimarer Klassik im Dialog, hg. v. Andre Rudolph/Ernst Stckmann. Tbingen. S. 147–158. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1995): Philosophie der Kunst. In: Ders.: Ausgewhlte Schriften in 6 Bnden, hg. v. Manfred Frank. Bd. 2. 1801–1803. 2. Aufl. Frankfurt a.M. S. 181–565.

Weitere Literatur Schlegel, August Wilhelm (1962): Goethes Hermann und Dorothea. In: Ders.: Kritische Schriften und Briefe I. Sprache und Poetik, hg. v. Edgar Lohner. Stuttgart. S. 42–66. Schlegel, Friedrich (1985): Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. XXIV. Mit Einleitung u. Kommentar hg. v. Raymond Immerwahr. Paderborn u.a. Schneider, Helmut J. (1986): Gesellschaftliche Modernitt und sthetischer Anachronismus. Zur geschichtsphilosophischen und gattungsgeschichtlichen Grundlage des idyllischen Epos. In: Idylle und Modernisierung in der europischen Literatur des 19. Jahrhunderts, hg. v. Hans Ulrich Seeber/Paul Gerhard Klussmann. Bonn. S. 13–24. Wezel, Johann Karl (1999): Vorrede zu „Herrmann und Ulrike“. In: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hg. v. Hartmut Steinecke/Fritz Wahrenburg. Stuttgart. S. 203–207. Wolf, Friedrich August (1908): Prolegomena zu Homer. Mit einem Vorwort ber die Homerische Frage und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Ausgrabungen in Troja und Leukas-Ithaka. Ins Deutsche bertragen v. Hermann Muchau. Leipzig.

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15. Renaissance des Epos? Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts von Doren Wohlleben berblick

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hrenddasEposim20. Jh.wegenseiner stilistischen Knstlichkeit und seines Eindrucks von Totalitt als ein „erstarrtes und nahezu abgestorbenes Genre“ (Bachtin 2015, 202)galt,erlebtesim21. Jh.eineRenaissance. Oftistes episodischstrukturiertundbasiertauf einem sthetischen Kompositionsprinzip,

das historische wie fiktive Lebensgeschichten, Weltwissen und mythische Bildsequenzen ber analoge Motivstrukturen und Klangfiguren zueinander in Bezug setzt. Die stark rhythmisierte Sprache macht das Epos auch fr auditive Medienformate wie das poetischwissenschaftliche Hrspiel attraktiv.

2003

Durs Grnbein (geb. 1962) verffentlicht seine Gelehrtengeschichte Vom Schnee oder Descartes in Deutschland

2006

Christoph Ransmayrs (geb. 1954) Bergsteigergeschichte Der fliegende Berg erscheint

2016

Raoul Schrotts (geb. 1965) Erste Erde. Epos erzhlt eine Menschheitsgeschichte vom Urknall bis heute Ann Cottens (geb. 1982) spielerisch-ironisches Versepos Verbannt! entwirft ein zeitkritisches, satirisches Paralleluniversum

2017

Peter Handkes (geb. 1942) Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, von ihm als das „Letzte Epos“ bezeichnet (Handke 2016, 196), zelebriert eine Langsamkeit des Erzhlens

2020

Anne Weber (geb. 1964) wird fr Annette, ein Heldinnenepos mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet

1. Historische Themen und mythische Bilder Thematisch offen, formal abgeschlossen

Das Gegenwartsepos modelliert Krisensituationen der Welt, indem es verschiedene politische, moralische und sthetische Standpunkte in einem formal abgeschlossenen, inhaltlich offenen poetischen Erzhlraum miteinander konfrontiert. Das Themen- und Figurenspektrum reicht vom Urknall der Welt ber die Geschichte der Evolution (Raoul Schrott: Erste Erde. Epos) bis zur stil-

1. Historische Themen und mythische Bilder

len Beobachtung einer Obstdiebin auf der zentralfranzsischen Hochebene zur Zeit der Flchtlingskrise (Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere), von der Gelehrtengeschichte des durch Deutschland reisenden franzsischen Philosophen Ren Descartes im 17. Jh. (Durs Grnbein: Vom Schnee oder Descartes in Deutschland) bis zur Heldinnengeschichte der Widerstandskmpferin Annette Beaumanoir im Frankreich und Algerien des 20. Jh. (Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos), von zwei Brdern, die unter der chinesischen Besetzungsmacht den Himalaya besteigen, wobei einer im Schneesturm sein Leben verliert (Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg), bis zu einer Moderatorin, die mit Messer, Schleifstein und Meyers Konversations-Lexikon zu einer Parallelgesellschaft auf die fiktive Insel Hegelland verbannt wird (Ann Cotten: Verbannt! Versepos). Die Texte bedienen sich weniger linearer Plotstrukturen als zirkulrer Erzhlbewegungen. Nicht die Ereignisse, wie historisch bedeutsam und konfliktgeladen sie auch sein mgen, machen die „epische Arbeit“ aus (Goyet 2013, 32), sondern deren – gegen die Vorstellung eines sich gleichsam selbst erzhlenden, auf kollektiver Autorschaft beruhenden Volksepos gerichtete (Bauer 2015, 17f.) – erzhlerische Gestaltung: „Die Ereignisse, von denen die Geschichte hier erzhlt, werden solche allein durch den Erzhler. Es geht nicht ohne den. Geschichten, die sich von selber erzhlen, knnen mir, dem Leser, gestohlen bleiben“ (Handke 2017, 480). Das Nicht-Ereignis bildet den Hhepunkt: „Nicht bloß nichts Jhes, nichts einzelnes ereignete sich, vielmehr berhaupt nichts, und noch einmal nichts, und wiederum nichts. Weder berhrte sie ihn, noch berhrte er sie“ (ebd., 434). Die Restitution des Epischen wertet in erzhlerischen Um- und Abwegen die vernachlssigten Alltagsdinge und vermeintlich nebenschlichen Geschehnisse auf. Derartige Episoden ordneten Aristoteles in seiner Poetik und Gotthold Ephraim Lessing in seinem Laokoon-Aufsatz dem dynamischen Fortschreiten der Handlung noch unter. Die Epen der Gegenwart hingegen zeichnen sich gerade durch eine Langsamkeit des Erzhlens und eine serielle Abfolge mythischer Bilder aus, oftmals eingefroren wie Stills in einem Film: Vereiste Schmetterlinge, die in Ransmayrs Der fliegende Berg vom Himmel schneien und die Grenze zwischen Leben und Tod verwischen („Aber sie fliegen! Sie fliegen immer noch!“, Ransmayr 2013, 19), scheinen genauso zeitlos wie Handkes Betrachtungen einer frisch entkernten, an der „Nußnabelschnur“ pendelnden Haselnuss in Die Obstdiebin: „Und siehe da, aus dem Baumeln wird ein Pendeln, vollkommen gleichmßig, hin und her, her und hin, ohne ein Zutun“ (Handke 2017, 324). Stichwort

Episode Das Erzhlen in Episoden ist ein sthetisches Kompositionsprinzip, das durch variierende Wiederholung im Sinne von Gleichheit, hnlichkeit und Differenz struk-

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Zirkulre Erzhlbewegungen

Restitution des Epischen

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15.

Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts turell-thematische Grundmuster kenntlich macht und strikt teleologische Erzhlordnungen unterwandert. Es erfhrt im Film, in TV-Serien und in der Literatur seit den 1990er Jahren eine neue Konjunktur. Obwohl es in der Moderne besonders prominent geworden ist, handelt es sich um kein modernes Phnomen: Im Gegenteil sind gerade mittelalterliche Erzhltexte Modelle fr ein Erzhlen, dessen quivalenzbeziehungen nicht formal vorgegeben, sondern ber Segmentierungen des Erzhlflusses hergestellt werden. Bereits in der antiken Poetik des Aristoteles (Kap. 4, 12, 17f.) ist die Doppelwertigkeit der Episode angelegt: Einmal als vermeintlich entbehrlicher Einschub, der von der zielorientierten Handlung ablenkt. Das andere Mal als exemplarische Veranschaulichung von etwas Allgemeinem, das fr ein Gesamtverstndnis der Handlung unabdingbar ist. Die Epen der Gegenwartsliteratur bedienen sich hufig des Erzhlens in Episoden. Was zunchst nur ein sthetisches, oft musikalisch-rhythmisches Wiederholungsprinzip zu sein scheint, hat existentielle Tiefe: Im vermeintlich Kleinen, Nebenschlichen werden mittels analoger Strukturen neue Konstellationen sichtbar, die eine Ahnung von einem grßeren Ganzen wecken – zerlegt in viele Einzelbilder wie in einem Kaleidoskop.

Details und Panorama

Kosmos der hnlichkeiten

Das gleichmßige Hin und Her prgt nicht nur den rhythmisierten Erzhlton, sondern auch die Erzhldynamik: Aus dem Gehen wird „ein Ausschreiten. Epische Schritte waren das jetzt. Und das hieß: Schritte, die einbezogen“ (Handke 2017, 55). Und einbezogen sind in einer solch kaleidoskopischen Poetik selbst die kleinsten Details: „Einzelnes folgt auf Einzelnes, und zugleich doch Ereignislosigkeit. Ereignisloses Durchmessen und Ausschreiten. Gehen im Leeren. Leergehen. Leergang als etwas Grundverschiedenes als Leerlauf – Einzelheit um Einzelheit einander umkreisend und ineinandergreifend: Kaleidoskopisches Gehen. Kaleidoskop der Zwischenstrecken und der Zwischenzeiten. Solch ein Kaleidoskop auch als Zeitvertreib? Ja, auch – warum nicht?“ (ebd., 391). Doch neben der Liebe zum kleinen Detail ist fr das Gegenwartsepos zugleich „ein erzhlerisches Panorama“ von Bedeutung, so der Klappentext von Schrotts Erste Erde. Epos, „eine umfassende Perspektive auf die Welt und wie sie durch unser Denken konstituiert wird“: „Die Idee von ERSTE ERDE. EPOS ist einfach: Unser Wissen ber die Welt zu erzhlen und in einzelnen Lebensgeschichten zu fassen. An den Anfang des Universums zurckzugehen, um vom Urknall an die Entstehung der Erde und des Lebens bis hin zum Menschen zu verfolgen“ (Schrott 2016, Klappentext). Ein „vllig unmgliches Unterfangen“ soll, wie Schrott dies in seiner Danksagung darlegt, geleistet werden, „die Idee eines modernen Epos“ (ebd., 846). Schrott stellt einen Kosmos der hnlichkeiten zwischen Dichtung und Wissenschaft her, zwischen den großen philosophischen sowie mythischen Fragen der Menschheit und den kleinen naturwissenschaftlichen Einzelbeobachtungen der Welt – in „wechselnden poetischen Formen“ (ebd., Klappentext).

2. Formale Aspekte

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2. Formale Aspekte Im Gegenwartsepos sind hoher und niederer Stil, die pathetische Erhabenheit antiker Verserzhlungen und die sachliche Schlichtheit populrer Prosaformen miteinander kombiniert. Eine Großform poetischen Erzhlens wird aktualisiert, der in der Postmoderne der Vorwurf des Unzeitgemßen, auch des Elitren anhaftete. Das ‚sthetische und soziale Distinktionspotential‘ (Schmidt 2020, 250) des Versepos ist auf einmal wieder salonfhig, ebenso wie dichterische Selbstreflexion, intertextuelle Bezugnahmen auf die großen Epen der Weltliteratur und das eigene bisherige Werk sowie – teils ironisierende – Selbstthematisierungen des epischen Singens. Traditionelle Versmaße werden aufgegriffen: Durs Grnbein bedient sich in 42 Gesngen zu je sieben Strophen mit je zehn Zeilen in Vom Schnee gekonnt des Alexandriners, Ann Cotten spielt in ihrem um die 400 Strophen langen Verbannt! mit der Spenser-Strophe, und Anne Weber lsst in Annette, ein Heldinnenepos Blankvers und Prosarhythmen elegant ineinanderfließen. Sogar der antike Musenanruf wird, wenngleich ironisch gebrochen, bei Cotten wieder aufgegriffen:

Stilhhe

Versmaße

O Musen, schlaft! Schlaft weiter, schlaft, schlaft lange! Denn euren Atem brauch ich, wie er ruhig geht. O Musen, helft durchs Sein mir, schlafend, trumend! Mir ist bange! Mich ngstigt, was ihr mit der grßten Ruhe seht, was deutlich allerorten an den Feuermauern steht. (Cotten 2016, 11) Auch werden in Paratexten formale Aspekte explizit thematisiert. Christoph Ransmayr stellt seinem im Untertitel als ‚Roman‘ klassifizierten Der fliegende Berg (2006) eine „Notiz am Rand“ voran, die er – als fiktionale Autorfigur? – mit seinen Initialen unterzeichnet: „Seit die meisten Dichter sich von der gebundenen Rede verabschiedet haben und nun anstelle von Versen freie Rhythmen und dazu einen in Strophen gegliederten Flattersatz verwenden, ist da und dort das Mißverstndnis laut geworden, bei jedem flatternden, also aus ungleich langen Zeilen bestehenden Text handle es sich um ein Gedicht. Das ist ein Irrtum. Der Flattersatz – oder besser: der fliegende Satz – ist frei und gehrt nicht allein den Dichtern. / CR“ (Ransmayr 2006, Vorbemerkung). Allerdings irritiert diese „Notiz“, wie auch die Gattungszuschreibung ‚Roman‘, eher, als dass sie kommentiert: Mit „Flattersatz“ ist wohl kaum die typografische Satzform gemeint, bei der die Zeilen ungleichmßig auslaufen. Ransmayr setzt vielmehr, was er selbst den „Dichtern“ zuschreibt, Zeilenumbrche nach sprechrhythmischen Prinzipien bewusst ein. Er spielt mit der Metaphorik des ‚Flatterns‘ – ein Leitmotiv im Fliegenden Berg sind die gefrorenen

Fliegende Stze

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15.

Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts

Schmetterlinge im Gebirge, die vom Himmel fallen – und stellt einen Bezug sowohl zu seinem Romantitel als auch zum „fliegenden Satz“ her. Hierin verbirgt sich wiederum ein intertextueller Verweis auf die beiden berhmtesten europischen Epen: Mehr als hundertmal gebraucht Homer in der Odyssee und in der Ilias (Kap. 3) die Wendung der „fliegenden Worte“ (altgr.: ἔπεα pseq emsa/pea pterenta), aus denen Johann Heinrich Voß in seiner bersetzung die „geflgelten Worte“ machte. Ransmayrs „fliegender Satz“ schreibt sich also bewusst in diese versepische Tradition ein.

3. Held*innen und Erzhlerfigur Distanz

Vielstimmigkeit

Fragemodus

Verzichtet wird in den Epen des 21. Jh. berwiegend auf eine Psychologisierung der Helden und Heldinnen, die kaum als Identifikationsfiguren dienen. Die rhythmisierte Kunstsprache sowie die Haltung der Erzhlerfigur, die oft als eine berpersnliche Instanz auftritt, intensivieren diese Distanz: Anders als der moderne Romanerzhler – als Kontrastbeispiel fhrt Handke Thomas Mann an – ironisiert die Erzhlerfigur des neuen Epos das Geschehen nicht. Sie legt Wert darauf, dass mglichst wenig individuelle Tonlage aus dem Text herauszuhren ist. Sogar der eigene Tod wird posthum aus der Ich-Perspektive nchtern und sachlich von einer erhabenen Position aus beschrieben, so z.B. zu Beginn von Christoph Ransmayrs Der fliegende Berg: „Ich starb / 6840 Meter ber dem Meeresspiegel / am vierten Mai im Jahr des Pferdes. // Der Ort meines Todes / lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel, / in deren Windschatten ich die Nacht berlebt hatte. // Die Lufttemperatur meiner Todesstunde / betrug minus 30 Grad Celsius“ (Ransmayr 2006, 9). Neben dem Zurcktreten der eigenen Stimme versuchen die Erzhlerfiguren zeitgenssischer Versepen, durch eine Vielzahl anderer Stimmen und Perspektiven einen einheitlichen Horizont erahnen zu lassen, der moderne Subjektivitt mit dem kollektiven Anspruch des Epos vershnt: Die „Erfahrung des Einzelnen“ wird als „Hymne einer kollektiven Menschheit“ erzhlt, die „Trennung von individueller und allgemeiner Geschichte“ aufgehoben (Carstensen 2013, 111). Eine „geschlossene Lebenstotalitt“ abzubilden, wie sie Georg Lukcs 1916 noch fr die „Epope“ reklamierte (Lukcs 2015, 194), ist nach der Postmoderne nicht mehr mglich. Dennoch scheint die Hoffnung einer bergreifenden Allgemeingltigkeit auf, die ber die individuelle Erfahrung eines autodiegetischen Erzhlers vermittelt wird. Der Erzhler greift weder implizit wertend noch explizit kommentierend in das Geschehen ein: Anstatt Einzelpositionen subjektiv zu beurteilen und zu hierarchisieren, lsst er kontroverse Positionen gleichwertig, mitunter auch – im doppelten Sinne – gleichgltig nebeneinander bestehen. Es ist Aufgabe des Rezipienten, jene kritisch zu reflektieren; hierauf beruhen die Dialogizitt und

4. Rezeption im Feuilleton

175

die Ethik des Epos. Denn so wie die Helden und Heldinnen – anders als im antiken Epos – keine Vorbildfunktion erfllen, verkndet auch der Erzhler keine moralischen Leitstze. In der Tradition des „romanische[n] Erzhlen[s]“ lst er vielmehr „alle erreichten Positionen in Streitgesprchen auf und nhert sich der Wirklichkeit im Fragemodus an“ (Carstensen 2013, 117f.). Einer Stimmenvielfalt zuzuhren, kann dabei wichtiger sein als die eigene Stimme zu erheben. So reflektiert die Erzhlerfigur gegen Ende von Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos: „Sie hrt Annettes Geschichte – also die kurze / Fassung – an; sie aufzuschreiben hat sie / noch lange nicht im Sinn. Im Sinn / hat sie eigentlich gar nichts oder wenig, / auch weil sie so beschftigt ist, in dem / fortwhrenden Geklapper und Gebrumm / um sie herum so viel zu hren wie nur / mglich von dem, was ihr Annette erzhlt. / Sie schaut die alte Frau mit allen ihren Augen an / und denkt: Dich gibts? Dich gibt es wirklich?“ (Weber 2020, 205f.). Historische Figuren als Inspirationsquelle Ren Descartes (1596–1650): Franzsischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Gilt als Begrnder des modernen frhneuzeitlichen Rationalismus. Seine Zeit in Deutschland im Winter 1619 bildet bei Grnbein den teils epischen, teils szenischen Hintergrund fr die poetische Gelehrtengeschichte Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. Gnther Messner (1946–1970): Jngerer Bruder des berhmten Bergsteigers Reinhold Messner (geb. 1944). Kam bei einer Expedition zum Nanga Parbat ums Leben, whrend sein Bruder berlebte. Ransmayr, der zusammen mit Reinhold Messner selbst Bergtouren unternimmt, fiktionalisiert die Brdergeschichte in Der fliegende Berg. Anne Beaumanoir (1923–2022): Als Wissenschaftlerin nach ihrer Heirat bekannt unter dem Namen Annette Roger. Franzsische Neurologin, Judenretterin, militante Kommunistin und R sistance-Kmpferin, die im Algerienkrieg die Nationale Befreiungsfront untersttzte und verhaftet wurde. Die Lektre der Biografie Wir wollten das Leben ndern sowie persnliche Begegnungen mit der ber 90-jhrigen Dame inspirierten Weber zu der Titelfigur in Annette, ein Heldinnenepos.

4. Rezeption im Feuilleton Sprachkunst und Knstlichkeit fhrten von Anfang an zu Polarisierungen in der Literaturkritik: Lobten die einen Rezensenten den Mut sowie die Gabe der Autorinnen und Autoren, sich endlich wieder mit rhetorischem und metrischem Kunstvermgen eines hohen, erhabenen Stils, des genus sublime, zu bedienen, kritisierten die anderen den unzeitgemßen formalen Klassizismus und dessen, so Thomas Steinfeld ber Durs Grnbein, „beklemmende Nach-

Sprachkunst und Knstlichkeit

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barschaft zum Kitsch“ (SZ, 8.11.2003). Gegen den Vorwurf einer „virtuosen Pastiche-Kunst“, die allenfalls einer elitren Kennerschaft zu empfehlen sei (Katharina Teutsch, FAZ, 26.5.2016), kam selbst das im Ton ungewhnlich spielerische, ironisierende Versepos Verbannt! der beliebten Junglyrikerin Ann Cotten nicht an. Cottens autofiktionale Erzhlerfigur charakterisiert die eigene Stimmlage mit einem „Revue-Stil“ und persifliert zu Beginn mgliche Reaktionen der Literaturkritik. Quelle

Ann Cottens Literaturkritik-Satire (Cotten 2016, 8f.)

Dass auch die flachen Bden sße Mhren bergen, ist allen Mhrenfreunden wohl bekannt. Dennoch kanns sein, dass meine Strophen stren werden den wohlgeeichten literarischen Verstand. „Die Cotten steckt den Kopf jetzt in den Sand“, hr ich schon Rezensenten ihre Federn reinigen und, an ihren Prinzipien hngend, zornbebend bescheinigen der „immer schon verwirrten“ Lyrikerin den Garaus, den Revue-Stil assoziierend mit dem Vogel Strauß. Und in der Tat, warum sollte jemand das lesen? Die Handlung – nach Inger Christensen – gibt es, doch nur als Untergrund fr dieses Reimewesen, das die Handlung begleitet wie ein Striptease. Und ber weite dunkle Stellen wippt es, unsicher, nur so rum und wartet auf den Plot, der aber, wie im Lehnstuhl ein alter Lokalgott, sich ziert, weil er noch ein bisschen mehr Striptease sehen mchte, immer noch hoffend, dass die Hemmungen vergehen. […] Du musst dich, heißt es oft, ja doch letztlich entscheiden, wenn auch viele die Entscheidung verweigern, ob du ein Versmaß nutzt, dann bist du altmodisch, oder ob knallst du wilden freien Vers am Tisch.

Nicht nur die selbst angefertigten Illustrationen, humorvolle Comicstrips, zielten darauf ab, das unter elitrem Distinktionsverdacht stehende Epos populr zu machen, sondern auch Cottens thematische Anleihen an die Unterhaltungskultur sowie an Diversittsdiskurse: Protagonistin ist eine bisexuelle Moderatorin, der auf der Insel Hegelland aus unerklrlichen Grnden ein Penis wchst. Mit ihren Neo-Spenser-Strophen, ihren bewusst unsauberen Reimen und Wortspielen stellt sich Cotten einerseits in die Tradition des PoetrySlam – mit ihren zahlreichen gelehrten intertextuellen Verweisen auf Homer, Vergil, John Keats, Marquis de Sade und viele weitere andererseits in die bildungsbrgerliche Tradition. Ob Cottens Versepos letztlich mehr Anstrengung

4. Rezeption im Feuilleton

oder Vergngen bereite, wird im Feuilleton offengelassen; prognostiziert wird, dass es noch viele Germanistinnen und Germanisten vor Herausforderungen stellen drfte (Ina Hartwig, SZ, 17.3.2016). Was auf alle hier vorgestellten deutschsprachigen Versepen des 21. Jh. zutrifft, ist, dass sie „die Stilhhe eines antikisierenden Werks mit der Popularitt der erzhlenden Prosaliteratur zu kombinieren [vermgen], ohne dabei den ernsten Hintergrund des Erzhlens aus dem Blick zu verlieren“ (Schmidt 2020, 247). Trotz der rhetorisch spielerischen Beschwingtheit kann die existentielle Ernsthaftigkeit nicht genug betont werden: Es geht in den „erzhlenden Langgedichten, Stcken eines Epos“ immer um „Poesie, die Welt enthlt“, um den Rhythmus des Lebens: „Die Dichtung stellt ein Organisationssystem dar, das uns ureigen fasst: in Verslngen, die sich daran messen, was wir an Information im Einzelnen zu verarbeiten imstande sind; in Bildern, die Wahrnehmungen zum Ausdruck bringen, wie sie noch vor allen Stzen bestehen; in Metaphern, die unser bestndig assoziierendes Gehirn zu Eindrcken von Welt vernetzt; in An- und Gleichklngen von Worten als jenem Ordnungsprinzip, mit dem wir Sprache speichern; in Rhythmen, die auch unseren Herz- und Lidschlag, unsere Atemzge bestimmen“ (Schrott n 2016, 25). Auf einen Blick

Obwohl die Gattung des Epos in der (Post-)Moderne wegen ihrer „geschlossene[n] Lebenstotalitt“ (Luk cs 2015, 194) als vergangen erklrt und endgltig vom Roman abgelst worden zu sein schien, erfhrt sie seit der Jahrtausendwende eine Konjunktur. Mit Erscheinen des Versepos Vom Schnee (2003) des Bchner-Preis-Trgers Durs Grnbein wurden im Feuilleton erste Hoffnungen auf eine „Renaissance der Gattung“ geweckt (Jrgen Verdofsky, FR, 26.11.2003). Noch optimistischer heißt es 2020 anlsslich des mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Werks von Anne Weber Annette, ein Heldinnenepos: „Vielleicht liegt die Zukunft unserer Gegenwartsliteratur ja im Versepos“ (Moritz Baßler, taz, 13.8.20). Die Mischung aus hohem, antikisierendem Stil und gesellschaftskritischer, unterhaltsamer Popularitt bewirkt eine Stimmenvielfalt, die kontroverse sthetische sowie politische Positionen gleichwertig nebeneinanderstellt und auf deren jeweilige existentielle, welthaltige Ernsthaftigkeit aufmerksam macht. Statt essayistischer Reflexion oder philosophischer Argumentation wie im modernen Roman ermglicht der „Rhythmus, der Sinn spielt“ (Handke 2016, 196), eine Distanz zu den Taten der Helden und Heldinnen, die multiperspektivisch gebrochen und motivisch miteinander verbundenen werden. Dieses episodische Erzhlen hnelt filmischen Konstruktionsverfahren, indem Bildsequenzen aneinandergereiht und bereinander geblendet werden: Kohrenz stiftet nicht der Plot, sondern der Ton.

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Existentielle Ernsthaftigkeit

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Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts

Primrtexte und mediale Adaptionen Cotten, Ann (2016): Verbannt! Versepos. Mit Illustrationen von Ann Cotten. Berlin. Grnbein, Durs (2003): Vom Schnee oder Descartes in Deutschland. Frankfurt a.M. Handke, Peter (2017): Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere. Berlin. Ransmayr, Christoph (2012): Der fliegende Berg. Roman. 5. Aufl. Frankfurt a.M. Ransmayr, Christoph (2013): Der fliegende Berg. Gelesen von Christoph Ransmayr. Laufzeit: 9h25. Berlin. Schrott, Raoul (2016): Erste Erde. Epos. Mnchen. Schrott, Raoul (2016): Erste Erde. Epos. Hrspiel mit Bibiana Beglau, Jens Harzer, Tobias Lelle, Martin Umbach, Dagmar Manzel, Axel Milberg, Ulrich Noethen, Samuel Finzi. Laufzeit: 31h49. Mnchen. Weber, Anne (2020): Annette, ein Heldinnenepos. Berlin. Weber, Anne (2020): Annette, ein Heldinnenepos. Vorgelesen von Christina Puciata. Laufzeit: 5h37. Frankfurt a.M.

Weitere Literatur Aristoteles (1982): Poetik. Griechisch/Deutsch, bers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart. Bachtin, Michail (2015): Epos und Roman. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. Manuel Bauer u.a. Stuttgart. S. 199–210. Bauer, Manuel u.a. (2015): Grundzge der Epostheorie. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. dems. u.a. Stuttgart. S. 7–26. Carstensen, Thorsten (2013): Romanisches Erzhlen. Peter Handke und die epische Tradition. Gttingen. Goyet, Florence (2013): ber die Bedingungen der Mglichkeit eines ‚Neugrndungsepos‘. In: Das wiedergefundene Epos. Inhalte, Formen und Funktionen epischen Erzhlens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. L’popoe retrouve. Motifs, formes et fonctions de la narration pique du dbut du XXe si cle l’poque contemporaine, hg. v. Charlotte Krauss/Urs Urban. Berlin. S. 31–54. Handke, Peter (1987): Aber ich lebe nur von den Zwischenrumen. Ein Gesprch, gefhrt v. Herbert Gamper. Zrich. Handke, Peter (2016): Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflge von der Peripherie 2007–2015. Salzburg. Krauss, Charlotte/Urban, Urs (Hg., 2013): Das wiedergefundene Epos. Inhalte, Formen und Funktionen epischen Erzhlens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. L’popoe retrouve. Motifs, formes et fonctions de la narration pique du dbut du XXe si cle l’poque contemporaine. Berlin. Luk cs, Georg (2015): Das Weltzeitalter des Epos. In: Texte zur Theorie des Epos, hg. v. Manuel Bauer u.a. Stuttgart. S. 190–198. Schmidt, Maike (2020): ber Abgrnde hinwegerzhlen. Versepische Gattungskonventionen und -innovationen am Beispiel von Christoph Ransmayrs Der fliegende Berg (2006). In: Forcierte Form. Deutschsprachige Versepik des 20. und 21. Jahrhunderts im europischen Kontext, hg. v. Kai Bremer/Stefan Elit. Stuttgart. S. 241–260. Zymner, Rdiger (2009): There is nothing hotter than a terrific verse novel. Zur Konjunktur der langen Erzhldichtung. In: Comparatio. Zeitschrift fr Vergleichende Literaturwissenschaft 1/1. S. 145–162.

Abbildungsnachweise 1. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:GilgameshTablet.jpg 2. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hero_lion_Dur-Sharrukin_Louvre_AO19862.jpg 3. Philipps-Universitt Marburg, Archologisches Seminar, Antikensammlung Inv. MR247, Foto: Martina Klein 4. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vergilius_vat_41.jpg 5. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sadiqi_Beg,_Zal_Beneath_Rudaba's_Balcony_Shahnama_ of_Ismail_II,_Qazvin_1576_David_Collection_Copenhagen.jpg 6. Genealogie der Bha¯ratas, erstellt durch den Verfasser. Eine hochauflsende Abbildung findet sich online: https://archive.org/details/mbh-genealogie 7. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Michelangelo_Caetani,_Overview_of_the_Divine_Comedy,_1855_ Cornell_CUL_PJM_1071_01.jpg 8. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cantar_de_mio_Cid_f._1r_(rep).jpg 9. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Las_hijas_del_Cid_(Ignacio_Pinazo).jpg 10. Roland furieux. Po me hroique. bers. v. A.-J. Du Pays, ill. v. Gustave Dor, Paris 1879, nach S. 302. 11. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Houghton_EC65.M6427P.1667aa_-_Paradise_Lost,_1667.jpg 12. https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5386268

Register 12-Tafel-Epos 21–23, 29 Akbar 82 Alfonso VI. 114, 117, 122 Alfonso X. 115 Alioth, Gabrielle – Das magische Licht 100 Allen, Thomas William 34 Alliterative Morte Arthure 149 Analytiker siehe Traditionalisten Apollonios von Rhodos – Argonautika 35, 38, 46, 51 Ariosto, Ludovico 132 – Orlando furioso 58, 136–147, 150 Aristie 12, 39, 57 Aristoteles – Poetik 39, 47, 146, 171–172 Assmann, Jan 14 Attila 103 Auerbach, Erich 18 Augustinus – Confessiones 58 Augustus 50 Autorschaft 13, 22, 33–34, 50, 62, 71–72, 103–104, 127, 148, 171 Avitus 58 Bachtin, Michail 150, 156, 170 Balzamont, Marie-Line – La Geste de Chuchulainn 100 Baysonghor 79 Beaumanoir, Anne 175 Bembo, Pietro 126, 132, 137 Beowulf 61–70 Bernhard von Clairvaux 132 – De diligendo Deo 132 Bhagavad-gı¯ta¯ 89–90 Bha¯rata 83 Bibelepos 13, 58, 159 Blake, William 154 Blanckenburg, Friedrich von 11 Bligger von Steinach 104 Bloom, Harold 149, 155 Boccaccio, Giovanni 17, 126–127, 129 – Decamerone 162 Bckl, Manfred – Der Hund des Culann 100

Bodmer, Johann Jakob 148 Boiardo, Matteo Maria 137 – Innamoramento de Orlando 136–138 – Orlando innamorato 136 Borzuname 78 Bourdieu, Pierre 10 Brook, Peter 91 Blow, Bernhard von 111 Brgerliche Epopee 166 Caetani, Michelangelo 128 Cames, Lus de – Os Lusadas 58 Cantar de los siete Infantes de Lara 116 Cantar de Mio Cid 114–124 Cantar de Rodrigo 116 Cantar de Roncesvalles 116 Cantar de Sancho II 116, 121 Castros, Guilln de – Las mocedades del Cid 122 Cervantes, Miguel de 17 – Don Quijote 146 Chadwick, Hector Munro 14 Chanson de geste 115–116, 139 Chanson de Roland 13, 116, 118, 136, 138–139, 144, 146 Charles I. 148–149, 155 Charles II. 148 Chaucer, Geoffrey 148 Cicero – De inventione 56 Cid siehe Cantar de Mio Cid Conailla Medb mchura 94 Corneille, Pierre – Le Cid 122 Cotten, Ann – Verbannt! 170–178 Cotton, Robert 61–62 Cromwell, Oliver 148–149 Dante – De vulgari eloquentia 127 – Divina Commedia 58, 125–135, 138, 140 – Epistole 127 – Vita nuova 125–126, 131 Daqiqi 72 Dares Phrygius – De Excidio Troiae 46, 95

182

Register Decemberists, The 100 Delacroix, Eugne 146 Derrida, Jacques 16 Descartes, Ren 175 Dictys Cretensis – Ephemeris belli Troiani 46 Dindsenchas 94 Diodor 98 Dolce, Ludovico 126 Dossi, Dosso 146 Drache siehe Monsterkampf Edda 104, 110 Ekphrasis 39 El Cid (Film) 122 El ministerio del tiempo (Serie) 122 Ennius 56 – Annales 51, 58 Entstehung 13, 21, 34, 50, 61, 71–72, 82, 105, 114, 125–126, 137, 149 Episode 171 Erzhler 24, 36–37, 51, 54, 63, 74, 107, 150, 160, 171–172, 174 Estoria de Espaa 115 Feathers of Fire (Schattenspiel-Film) 79 Ferdousi, Abu ’l-Qasem siehe Schahname Flaubert, Gustave 9 Formel 15, 34, 63, 74, 94, 105, 116 Foscolo, Ugo 133

Gaiman, Neil – Sandman 155 Gala, Antonio – Anillos para una dama 122 Gang in die Unterwelt 15, 25–26, 42, 44, 54, 129 Gardner, John – Grendel 68 Gattungstheorie 10, 16 Genette, Grard 16 Gigantenbuch (Qumran) 22 Gilgamesch-Epos 16, 21–33 Gleichnisse 38–39 Gliederung 12, 23, 35, 51–52, 62, 73–74, 84, 94, 105, 116, 126, 137, 171 Goethe, Johann Wolfgang 15, 17 – Achilleis 166 – Belagerung von Mainz 162 – Campagne in Frankreich 1792 162 – Der Brgergeneral 162 – Der ewige Jude 159

– Der Groß-Cophta 162 – Dichtung und Wahrheit 14 – Die Geheimnisse 159 – Die natrliche Tochter 162 – Hermann und Dorothea 36, 158–169 – Reineke Fuchs 13, 159 – Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten 162 Gring, Hermann 111 Gottsched, Johann Christoph 10 Gregor von Tours – Historia Francorum 64 Gregory, Augusta – Cuchulainn of Muirtheimne 100 Grimm, Jacob 13, 110 Grnbein, Durs – Vom Schnee oder Descartes in Deutschland 170–178 Haak, Theodor 148 Halbwachs, Maurice 14 Hndel, Georg Friedrich 146 Handke, Peter – Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere 170–178 Harivam´sa 83, 89 ˙ Hartzenbusch, Juan Eugenio – La jura en Santa Gadea 122 Haydn, Joseph 146 Headley, Maria Dahvana 68 Heaney, Seamus 68 Hebbel, Friedrich – Die Nibelungen 110 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 10, 14, 166–167 Heinrich von Ofterdingen 104 Held (Stichwort) 12 Herder, Johann Gottfried 11, 122, 161 Herodot – Historien 161 Heroic age 14, 139 Hesiod – Werke und Tage 35, 38 Hexameter 15, 35, 51, 105, 159–160, 166 Historizitt 13, 27, 33, 39, 46, 71, 94, 96, 103, 117–119 Hlderlin, Friedrich 11 Homer 13, 16–17, 51–52, 56, 129, 158, 160–161, 165, 167, 176 – Ilias 13, 18, 33–50, 53, 55, 83, 95, 109, 140, 155, 160, 166 – Odyssee 33–50, 52–54, 83, 130, 140, 160, 174 Homer-Vergil-Vergleich 46, 58 Homerische Frage 13, 34, 159 Horaz 17, 127, 129 Humboldt, Wilhelm von 15, 158, 166 Idyllisches Epos 167

Register Ilias Latina 46, 95 Individualisten 13, 34, 106, 114 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 146 Iuvencus 58 Jamshid (Serie) 79 Joyce, James 9 – Ulysses 46 Juvenal – Satiren 57 Kafka, Franz 17 Kalevala 15 Ka¯lida¯sa – Abhija¯nas´akuntala 91 Kampf mit einem Drachen siehe Monsterkampf Karl der Große 136, 138–140, 143 Keats, John 176 Keilschrift 23 Kemble, John Mitchell 61, 67 Kenning 63 Kippenberg, Katharina 30 Klopstock, Friedrich Gottlieb – Der Messias 156, 159 Kulturelles Gedchtnis 14 Kulturnation 165 Lang, Fritz 110 – Die Nibelungen 110 Lehrepos 13 Leopardi, Giacomo 133 Lessing, Gotthold Ephraim 110 – Laokoon – oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie 171 Liber Monstrorum 64 Luk cs, Georg 10–11, 174, 177 Lukan 58, 129 Lully, Jean-Baptiste 146 Macrobius – Saturnalien 57, 127 Ma¯gha – S´is´upa¯lavadha 91 Maha¯bha¯rata 16, 82–92 Malory, Thomas – Le Morte d‘Arthur 149 Mann, Thomas 9, 174 Manuzio, Aldo 126 Mauerschau 37, 39, 46, 95 Meier, Hans Heinrich 150, 156 Menndez Pidal, Ram n 122 Merkmale des Epos 11, 13, 15, 39

Messner, Gnther 175 Metrik 12, 15, 24, 35, 51, 62, 73, 84, 94, 105, 116, 137, 150, 173 Meyers Konversations-Lexikon 171 Miller, Madeline – Circe 46 – The Song of Achilles 46 Milton, John – Paradise Lost 58, 148–157 – Paradise Regained 155 Mocedades de Rodrigo 116, 121 Monsterkampf 15, 25, 63–65, 67, 75, 97, 105–107 Morris, William 67 Mndlichkeit 13, 15, 34–35, 63, 72–73, 79, 83–84, 94, 98, 103, 105, 115–116 Murner, Thomas 50 Musenanruf 37, 39, 51–52, 54, 126, 131, 150–151, 161, 173 Naevius – Bellum Poenicum 51 Nation, Nationaldichter siehe Nationalepos Nationalepos 9, 13–14, 18, 30, 51, 67, 69, 79, 100, 110–111, 114, 122, 133, 139, 163, 165–166 Nationalliteratur 14, 17–18, 58 Nibelungenklage 104 Nibelungenlied 13, 64, 103–113 Nı¯lakantha 91 Nowell,˙˙Laurence 61–62 O‘Grady, Standish – History of Ireland 100 Oral Poetry siehe Mndlichkeit Ovid 129 – Ars amatoria 58 – Metamorphosen 58 Pa¯nini 83–84 ˙ Paulus 125, 129 Per Abbat 115, 122 Petersen, Wolfgang 46 Petrarca, Francesco 132 – Africa 58 Pidal, Ram n Menndez 115 Platon – Der Staat 38 Pogues, The 100 Pope, Alexander – The Rape of the Lock 13 Poseidonius 98 Priscian 58 Proba 58

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Register Promium 36–38, 41, 46, 51, 58, 68, 74, 96, 106, 150 Properz – Elegien 50 Psalmen 129 Pulci, Luigi 137 – Morgante 136 Pullman, Philip – His Dark Materials 155 Puschkin, Alexander – Jewgeni Onegin 9

Qumran 22 Rahgozar, Ashkan 79 Rahmanian, Hamid 79 Ra¯ma¯yana 82–83, 90 ˙ Christoph Ransmayr, – Der fliegende Berg 170–178 Rasender Roland siehe Ariosto, Ludovico Reza Schah 79 Rhapsode siehe Snger Ricci, Sebastiano 146 Rilke, Rainer Maria 30 Rodrigo Daz de Vivar siehe Cantar de Mio Cid Rolandslied siehe Chanson de Roland Roman 9, 11, 28, 46, 105, 120, 159–160, 166, 173 Rousseau, Jean-Jacques 17 Sade, Marquis de 176 S nchez, Tom s Antonio 114–115 Snger 15, 33, 42, 79, 115, 161 Sargon II. von Assyrien 30 Scarlatti, Alessandro 146 Schadewaldt, Wolfgang 34 Schah Tahmasb 79 Schahname 71–81 Schiffskatalog 37, 39 Schiller, Friedrich 15, 158, 161 Schlegel, August Wilhelm 158, 166 Schlegel, Friedrich 15 Schliemann, Heinrich 46 Schrott, Raoul – Erste Erde. Epos 170–178 Sedulius 58 Seneca – Hercules furens 138 Shakespeare, William 17, 148 Silius Italicus 58 Sn-leqi-unninni 21–22, 31 Sintflut 23, 26–27, 153 Sistan-Zyklus 72

Skalde siehe Snger Slade, Benjamin 68 SMITE (Computerspiel) 100 Smith, George 22 Sophokles 17 Spenser, Edmund 173, 176 – Faerie Queene 149 Spitteler, Carl – Olympischer Frhling 9 Statius 58 – Thebais 131 Sueton-Donat-Vita 50 Sultan Mahmud 71–72 Sutcliff, Rosemary – Beowulf. Dragonslayer 68 T in B Cfflailnge 93–102 Tasso, Torquato 132 – La Gerusalemme liberata 46, 146, 150 The Last Fiction (Film) 79 Theoderich der Große 103, 108 Theodor Bar Konai 22 Thorkelin, Grmur J nsson 61–62, 69 Tiepolo, Giambattista 146 Tizian 137 Tolkien, J. R. R. 9, 69 – The Hobbit 68 – The Lord of the Rings 68 – The Monster and the Critics 68 Tolstoi, Lew 17 Traditionalisten 13, 34, 106, 114 Troy – Fall of a City (Serie) 46 – (Film) 46 Unitarier siehe Individualisten Unterwelt siehe Gang in die Unterwelt Valerius Flaccus 58 – Argonautica 35 Varnhagen, Karl August von 166 Vegio, Maffeo 56 Verba Sc thaige 94 Vergil 16–17, 46, 129–132, 176 – Aeneis 18, 36, 38, 46, 50–60, 95, 125, 127, 131, 138, 149 – Bucolica 131 Versmaß siehe Metrik Vida, Marco Girolamo – Christias 58 Villoison, Jean Baptiste 34 Vivaldi, Antonio 146

Register Voß, Johann Heinrich – Homer-bersetzungen 46, 159, 174 – Luise 160, 167 Wagner, Richard – Der Ring des Nibelungen 103, 110 Walter von Chtillon – Alexandreis 58 Waltharius 58 Walther von der Vogelweide 104 Walton, Jo – The Prize in the Game 100 Weber, Anne – Annette, ein Heldinnenepos 9, 170–178

Weltliteratur 17–18, 30, 58, 71, 156, 173 Wilkins, Charles 90 Wolf, Friedrich August – Prolegomena ad Homerum 33–35, 158–159, 167 Woolf, Virginia 9 Yazdegerd III. 71 Yeats, William Butler – Four Plays for Dancers 100 Zorrilla, Jos – La leyenda del Cid 122

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Übersichtlich, fundiert, verständlich ● Ideal zur Seminar-, Referats- und Prüfungsvorbereitung ● Kommentiertes Literaturverzeichnis ●

Das Epos gilt als die Königsgattung der Literatur und wurde gar als „Bibel eines Volkes“ (Hegel) gesehen. Versatzstücke epischen Erzählens sind über viele Zeiten und Länder zu beobachten; die in den großen Epen erzählten Stoffe entfalteten eine lange Nachwirkung. Dieses Lehrbuch stellt erstmals klassische und traditions- sowie identitätsbildende Epen aus verschiedenen (nicht nur europäischen) Kulturräumen von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne gemeinsam vor, die allesamt zum zentralen Bestand der Weltliteratur zählen. Geboten wird eine umfassende Darstellung unter Beteiligung unterschiedlicher Philologien.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45039-8

Bauer / Busch · Epen der Weltliteratur

Studienwissen kompakt

Einführung Literaturwissenschaft

Einführung Literaturwissenschaft

Manuel Bauer / Nathanael Busch

Epen der Weltliteratur