Entspannungsbegriff und Entspannungspolitik in Ost und West [1 ed.] 9783428443857, 9783428043859

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Entspannungsbegriff und Entspannungspolitik in Ost und West [1 ed.]
 9783428443857, 9783428043859

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Entspannungsbegriff und Entspannungspolitik in Ost und West

STUDIEN ZUR DEUTSCHLANDFRAGE Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis

BAND 3

Entspannungsbegriff und Entspannungspolitik in Ost und West

Mit Beiträgen von Rupert Dirnecker • Boris Meissner Günter Poser • Hans·Peter Schwarz · Gerhard Wettig

D U N C K E R & .H U 1\1 B L 0 T I B E R LI N

Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.

Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 422 Alle Rechte vorbehalten

@ 1979 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1979 bel Buchdruckerei A. Say:Uaerth - E. L . Krohn, Berlln 61 Prlnted ln Germany ISBN 8 428 048115 6

INHALT

Der sowjetische Entspannungsbegriff Von Prof. Dr. Boris Meissner, Direktor des Instituts für Ostrecht an der Universität Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die östliche Entspannungspolitik Von Dr. Gerhard Wettig, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Die Entspannungspolitik der westlichen Staaten Von Prof. Dr. Hans-Peter Schwarz, Direktor des Forschungsinstituts für Politische Wissenschaften und Europäische Fragen der Universität Köln .............. . .... ... ................... . ......... .. . ..... . .. 45 Die Wandlungen im militärstrategischen Kräfteverhältnis Von Konteradmiral a. D. Günter Poser, Bonn-Röttgen . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die Ergebnisse der Belgrader 'Oberprüfungskonferenz der KSZE Von Rupert Dirnecker, Vortragender Legationsrat I. Kl., Bonn . . . . . . . 73

Die Beiträge dieses Bandes fußen auf Vorträgen, die auf der Wissenschaftlichen Jahrestagung des Göttinger Arbeitskreises am 20. und 21. April1978 in Mainz gehalten wurden.

DER SOWJETISCHE ENTSPANNUNGSBEGRIFF Von Boris Meissner•

1. Die Außenpolitik in der neuen Sowjetverfassung Die neue Bundesverfassung der UdSSR, die am 7. Oktober 1977 vom Obersten Sowjet der UdSSR angenommen wurdet, zeichnet sie unter anderem dadurch aus, daß sie einen besonderen außenpolitischen Teil enthält. Die Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Fixierung der Leitsätze der sowjetischen Außenpolitik ist von den sowjetischen Politikern2 und Wissenschaftlern8 , die sich mit der praktischen Gestaltung und theoretischen Begründung der Auswärtigen Politik befassen, mehrfach hervorgehoben worden. Nach Breshnew, der seit dem Juni 1977 den Posten eines Generalsekretärs der KPdSU mit dem Amt eines Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vereint, hat die neue Unionsverfassung "das eigentliche Wesen" der Außenpolitik des Sowjetstaates "in den Rang eines Staatsgesetzes der UdSSR" erhoben. Der ZK-Sekretär und Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, B. Ponomarjow, spricht davon, daß die Verfassung gesetzgeberisch verankern würde "was den realen Inhalt der Außenpolitik ausmacht". Der • Dem vorliegenden Beitrag liegt das Referat zugrunde, das vom Verfasser auf der Jahrestagung des Göttinger Arbeitskreisesam 20. April1978 in Mainz gehalten wurde. Bei den Anmerkungen findet die bibliographische Transkription Anwendung. 1 Wortlaut: Vedomosti Verchovnogo Soveta SSSR (Anzeiger des Obersten Sowjets der UdSSR), 1977, Nr. 41, Art. 617; deutsche Übersetzung, ,.OsteuropaRecht", 24. Jg., 1978, S. 154 ff. t Vgl. die Rede Breshnews vor dem Obersten Sowjet der UdSSR am 4. Oktober 1977, "Pravda" vom 5. 10. 1977, und seinen Leitartikel ("Ein historischer Markstein auf dem Wege zum Kommunismus") in: Probleme des Friedens und des Sozialismus", 20. Jg., 1977, S. 1587 ff. sowie die Rede Ponomarjows auf der wissenschaftlich-theoretischen Konferenz aus Anlaß der 60-JahrFeier der Oktoberrevolution am 10. November 1977, "Kommunist", 1977, Nr. 17, S. 18 ff., und seinen Leitartikel ("Zur internationalen Bedeutung der neuen Verfassung der UdSSR") in: "Probleme des Friedens und des Sozialismus", 21. Jg., 1978, s. 147 ff. . 3 Vgl. G. Tunkin: Konstitucionnye principy vne§nej politiki SSSR (Verfassungsprinzipien der Außenpolitik der UdSSR), Mezdunarodnaja Zizn' (Internationales Leben) -abgekürzt: MZ, 1978, Nr. 3, S. 3 ff.; Ju. Nikolaev: Novaja Konstitucija: preemstvennost' leninskoj politiki mira (Die neue Verfassung: Kontinuität der Leninschen Friedenspolitik), MZ, 1977, Nr. 10, S. 14 ff.

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führende sowjetische Völkerrechtler, G. I. Tunkin, behauptet, daß die Prinzipien der Außenpolitik des Sowjetstaates, welche die neue Unionsverfassung "in den Rang von Verfassungsprinzipien erhebt", "voll mit den allgemeinen anerkannten Prinzipien des Völkerrechts übereinstimmen" würden. Was ist im Rahmen der Verfassung als das "eigentliche Wesen" der sowjetischen Außenpolitik anzusehen? Was macht ihren "realen Inhalt" aus? Von welchen außenpolitischen Grundsätzen sollen sich die Verfassungsorgane, die für die Auswärtige Gewalt und damit für die Gestaltung der Auswärtigen Politik zuständig sind, leiten lassen? Wird die Entspannung in Verbindung mit diesen Grundsätzen gesehen? Stimmen diese wirklich alle mit den Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts überein? Die Antwort auf diese Fragen läßt sich aus den Verfassungsbestimmungen allein nicht entnehmen. Sie erfordert darüber hinaus eine Berücksichtigung der außenpolitischen Theorie und Praxis der Sowjetunion, zumal sie auch Begriffe einschließt, die in dem Kapitel4 über die Außenpolitik nicht ausdrücklich genannt sind. Zu diesen gehört auch der Begriff der Entspannung, der vom sowjetischen Standpunkt eine qualitativ höhere Stufe der "friedlichen Koexistenz" darstellt, die wiederum als eine besondere Erscheinungsform des Sowjetischen Friedensbegriffs anzusehen ist. 2. DieDoppeldeutigkeit des sowjetischen Friedensbegriffs Im HinbliCk auf den sÖwjeti.Schen Entspannungsbegriff erscheint es bedeutsam, da:i3 die außenpolitischen Aussagen im Artikel 28 mit der Feststellung eingeleitet werden, daß der Sowjetstaat konsequent die "Leninsche Friedenspolitik" verfolgt und "für die Festigung der Sicherheit der Völker und die umfassende internationale Zusammenarbeit" eintritt. Die Bezeichnung der Friedenspolitik als eine Leninsche weist auf die ideologischen Grundlagen der sowjetischen Außenpolitik hin, die im Friedens}?egriff nicht einfach nu:r den Nichtkrieg sehen. Es wird vielmehr im Rahmen des ideologischen Bezugssystems zwischen zwei Arten von Frieden unterschieden. Ein "Friede auf Zeit", genannt "friedliche Koexistenz", und ein "ewiger Friede". Letzteren konnte es nach der ursprünglichen Auffassung· n11r in der "klassenlosen Gesellschaft", d. h. nach·dem Siege des Komrtmnismus im Weltumfange und dem dadurch bewirkten herrschafts- und staatsfreien Zustand, geben. Seit Chruschtschow wird diese Voraussetzung bereits als gegeben angesehen, wenn sich der Sozialismus, der nach marxistisch-leninistischer Auffassung eine Vorstufe des Kommunismus bildet, im größeren Teil der Welt durchsetzen sol\te. In 4em von Koshewnikw redigierten Völkerrechtslehr-

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buch heißt es4 : "Der Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt wird die sozialen und nationalen Gründe für die Entstehung von Kriegen endgültig beseitigen. Den Krieg beseitigen, einen ewigen Frieden auf Erden zu ~>€gründen, ist die historische Mission des Kommunismus. In der Epoche des weltweiten Sozialismus wird der Ausschluß des Krieges die objektive Gesetzmäßigkeit des Leb€ns der Gesellschaft sein." Im gleichen Sinne wird im Kapitel 5, das sich mit der Verteidigung befaßt, angestrebt, "den Krieg endgültig aus dem Leben der Völker zu verbannen". Bei dieser Grundeinstellung gewinnen alle Maßnahmen, die auf die Herstellung dieses utopischen Zustandes im Verlauf eines langfristigen weltrevolutionären Prozesses gerichtet sind, auch wenn sie gewaltsamer Natur sind, den Charakter eines "Kampfes für den Frieden". In diesem Sinne sind auch die außenpolitischen Aktionsprogramme auf den letzten Parteitagen der KPdSU, die gemäß der neuen Unionverfassung für den Sowjetstaat verbindlich sind, formuliert worden.

3. Das weltrevolutionäre Element der sowjetischen Außenpolitik Von den sowjetischen Ideologen und Wissenschaftlern wird unter Bezugnahme auf Lenin auf den "dialektischen Zusammenhang des Kampfes um den Frieden mit dem revolutionären Kampf des Weltproletariats" hingewiesen und die Außenpolitik des Sowjetstaates als ein "wichtiges Mittel des Klassenkampfes in der internationalen Arena" hervorgehoben. Nach Lebedjew war für Lenin der "Kampf für Frieden und friedliche Koexistenz" eine Form des Klassenkampfes, ein wichtiges Mittel zur Einwirkung des Sozialismus auf den weltrevolutionären Prozeß"5• Rosanow spricht in diesem Zusammenhang vom "zutiefst klassenmäßigen, revolutionären Charakter der sowjetischen Außenpolitik". Er bezeichnet daher auch den "Friedenskampf der sowjetischen Diplomatie" als "klassengebunden und revolutionär" und b€tont, daß die Entspannung die Gesetze des Klassenkmapfes "weder aufheben noch abändern kann" 8 • In diesem Zusammenhang wird im sowjetischen Schrifttum auf den bereits erreichten Grad der revolutionären Umgestaltung des gesamten Systems der internationalen Beziehungen7 aufgrund der Verschiebung 4 F. I. Kozevnikov (Red.): Kurs meZdunarodnogo prava (Lehrbuch des Völ.,. kerrechts), 2. Aufl., Moskau 1966, S. 560 ff. Vgl. hierzu auch A. M. Kovalev: Mitovoj revoljucionnyj process i bor'ba za vseob§~ij mir (Der weltrevolutionäre Prozeß und der Kampf um den allgemeinen Frieden), Nau~nyj kommunizm (Wissenschaftlicher Kommunismus), 1976, Nr. 1, S. 106 ff. & Vgl. N. I. Lebedjew: Der Große Oktober und der Internationalismus der sowjetischen Außenpolitik, "Deutsche Außenpolitik", 1977, Nr. 11, S. 11. ' Vgl. G. Rozanov: Leninskaja politika mira i progressa (Die Leninsche Politik des Friedens und des Fortschritts), MZ, 1977, Nr. 4, S. 20 ff.

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des internationalen Kräfteverhältnisses zugunsten des von der Sowjetunion verkörperten "Weltsozialismus" hingewiesen. Die "Leninsche Friedenspolitik" soll dazu beitragen, daß dieser revolutionäre Prozeß und die damit verbundene tiefgehende Umgestaltung der internationalen Beziehung stetig fortgesetzt wird. In diesem Sinne ist die neue Unionsverfassung von Breshnew als eine "wirksame ideologische Waffe" im internationalen Klassenkampf bezeichnet worden8• In der Verfassung selbst fehlen die Begriffe "Weltrevolution" und "weltrevolutionärer Prozeß". Man zieht es vor, vom Sowjetstaat nur als dem "sozialistischen Vaterland" zu sprechen und seine weitere Charakterisierung als "Hauptkraft der Weltrevolution" mit Stillschweigen zu übergehen. Die unveränderte weltrevolutionäre Zielsetzung ergibt sich nicht nur aus der sowjetischen Auslegung bestimmter Schlüsselbegriffe, denen sowohl eine politisch-ideologische als auch eine völkerrechtliche Bedeutung zukommt. Sie ist auch daraus zu ersehen, daß in der Präambel der neuen Unionsverfassung die klassenlose kommunistische Gesellschaft, die sich nur im Weltumfange verwirklichen läßt, weiterhin als das Hauptziel des Sowjetstaates bezeichnet wird. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß die sowjetische Außenpolitik nicht allein und auch nicht in erster Linie von der weltrevolutionären Triebkraft bestimmt ist. Der nationalistischen Triebkraft kommt eine weitaus größere Bedeutung zu. Das weltrevolutionäre Element ist außerdem nicht nur in seiner außenpolitischen Funktion zu sehen. Es dient auch jn besonderem Maße zur Legitimation der Einparteiherrschaft im Innern.

4. Die Widersprüchlichkeit des sowjetischen Sicherheitsbegriffs Im Anschluß an das Bekenntnis zur "Leninschen Friedenspolitik" wird in der Verfassung erklärt, daß die UdSSR "für die Festigung der Sicherheit der Völker und die umfassende internationale Zusammenarbeit eintritt". Es fällt auf, daß nur von der Sicherheit der Völker, aber nicht der Staaten die Rede ist. Dies ermöglicht die Behauptung, daß weltrevolutionäre Aktivitäten die Sicherheit der Völker nicht berühren würden. Der sowjetische Sicherheitsbegriff weist eine äußere und eine innere Seite auf. Die äußere Seite ist auf die Gewährleistung der Sicherheit nicht nur des Sowjetimperiums, sondern auch seines Vorfeldes gerichtet. 7 Vgl. S. Sanakoev: Vnesnaja politika SSSR i ee preobrazujus~aja sila (Die Außenpolitik der UdSSR und ihre umgestaltende Kraft). MZ, 1976, Nr. 5, S. 3; N. Lebedev: Socializm i preobrazovanie mirovych otnosenij (Der Sozialismus und die Umgestaltung der Weltbeziehungen), MZ, 1978, Nr. 1, S. 3 ff.; B. Kowal: Realer Sozialismus und revolutionärer Weltprozeß, "Deutsche Außenpolitik", 1978, Nr. 3, S. 15 ff. 8 Vgl. "Probleme des Friedens und des Sozialismus", 20. Jg., 1977, S. 1589.

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Zwar wird von einigen sowjetischen Ideologen gelegentlich von dem "Prinzip der gleichen Sicherheit der Partner" gesprochen, doch geht die Sowjetunion tatsächlich von einer sehr subjektiven Auffassung äußerer Sicherheit aus9 , wie sie in der national-imperialen Zielsetzung der sowjetischen Außenpolitik erkennbar ist. Die innere Seite ergibt sich aus dem "Primat der Innenpolitik", dem trotz der zunehmenden weltpolitischen Interdependenz bei der Gestaltung der Sowjetpolitik weiterhin die ausschlaggebende Rolle zufällt. Sie weist der außenpolitischen Abschirmung des orthodox-kommunistischen Herrschafts- und Gesellschaftssystems eine zentrale Bedeutung zu. Das beste Beispiel ist dafür die militärische Intervention in der Tschechoslowakei im August 1968. In diesem Fall bildete die Angst vor der Infektion der Sowjetgesellschaft und vor allem der Sowjetintelligenz durch reformkommunistisches und in Verbindung damit demokratisches Gedankengut das Hauptmotiv für die sowjetische Intervention. Daneben haben militärisch-strategische Erwägungen, die auf eine bessere Sicherung des Sowjetimperiums hinausliefen, eine wesentliche, aber nicht entscheidende Rolle gespielt.

5. Der außenpolitische Prioritätenkatalog Die beiden Seiten des sowjetischen Sicherheitsbegriffs sind bei der Betrachtung der konkreten außenpolitischen Ziele der Sowjetunion ebenso zu berücksichtigen wie die Doppeldeutigkeit des sowjetischen Friedensbegriffs. Diese Ziele werden im Artikel 28 der neuen Unionsverfassung in einer bestimmten Reihenfolge aufgeführt, aus der sich ein außenpolitischer Prioritätenkatalog ergibt. An erster Stelle wird die Sicherung "günstiger internationaler Bedingungen für den Aufbau des Kommunismus" zusammen mit dem Schutz der staatlichen Interessen der Sowjetunion genannt. An zweiter Stelle ist von der Stärkung der "Positionen des Weltsozialismus" und an dritter Stelle von der Unterstützung des Kampfes der Völker "um nationale Befreiung und sozialen Fortschritt" die Rede. An vierter und fünfter Stelle folgt die Verhinderung von Aggressionskriegen und die erst später eingeführte Forderung nach einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung. Erst an sechster und letzter Stelle wird "die konsequente Verwirklichung des Prinzips der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung" erwähnt. Im Zusammenhang mit der Frage nach der sowjetischen Einstellung zur Entspannung ist vor allem das Prinzip der "friedlichen Koexistenz" von Bedeutung. Trotzdem sollte die Entspannung auch in Verbindung mit den anderen außenpolitischen Zielen und unter Beach• Vgl. G. Wettig: Sowjetische Entspannungspolitik. Eine zusammenfassende Bewertung. Sonderveröffentlichung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, 1978, S. 18.

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tung der Priorität, die ihnen in der Verfassung eingeräumt wird, gesehen werden. Die Entspannung ist dazu bestimmt, auch die Erreichung der zuerst genannten Ziele, bei denen der expansive Charakter überwiegt, zu fördern. Auf der anderen Seite ist von sowjetischer Seite immer wieder auf die enge Verknüpfung zwischen dem Koexistenz- und dem Entspannungsbegriff hingewiesen worden. Poljanow spricht von einer "dialektischen Wechselbeziehung" und bezeichnet die Entspannung als den natürlichen Nährboden für die Verwirklichung der "friedlichen Koexistenz" 10• 6. Der Vorrang der national-imperialen Zielsetzung In den zuerst genannten Zielen ist der Vorrang der national-imperialen Zielsetzung der sowjetischen Außenpolitik deutlich erkennbar. Der Schutz der staatlichen Interessen bezieht sich nicht nur auf den Sowjetstaat, sondern auch auf seinen unmittelbaren Machtbereich. Darüber hinaus werden aber auch jene Bereiche angesprochen, in denen der sowjetische Einfluß, wie zum Beispiel in Kuba, dominiert. Daher wird die Sowjetunion im Artikel 30 nicht nur als Bestandteil der "sozialistischen Gemeinschaft", sondern auch des "Weltsystems des Sozialismus" bezeichnet. Diese beiden Begriffe haben sich in der außenpolitischen Theorie der Sowjetunion ab 1956 herausgebildet, da das Verhältnis zwischen dem "Kapitalismus" und "Sozialismus" vom sowjetischen Standpunkt unter zwei Blickwinkeln betrachtet werden kann11• Auf der einen Seite sieht man in ihnen zwei Lager, d. h. räumlich fest umgrenzte Bereiche, zwischen denen eine begrenzte Kooperation möglich ist, die sich aber in unversöhnlicher ideologischer Feindschaft gegenüberstehen. Auf der anderen Seite erblickt man in ihnen zwei sich überschneidende und miteinander ringende Weltsysteme. Breshnew scheint den Begriff des "sozialistischen Weltsystems" vorzuziehen, da in ihm der interkontinentale Charakter der sowjetischen Hegemonie zum Ausdruck kommt. Im Artikel 30 werden beide Begriffe fast gleichgesetzt. Die Sowjetunion als integraler Bestandteil beider Bereiche, faktisch als die bestimmende Hegemonialmacht, "entwickelt und festigt" erstens das politisch-militärische Bündnissystem, d. h. den Warschauer Pakt und die bilateralen Beistandspakte. Sie beteiligt sich zweitens "aktiv an der ökonomischen Integration und an der sozialistischen internationalen Arbeitsteilung". Gemeint ist damit die wirtschaftliche Integration und Arbeitsteilung im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, bei welVgl. den Artikel von N. E. Poljanov in "Horizont", 1975, Nr. 49, S. 4. Vgl. B. Meissner: Triebkräfte und Faktoren der sowjetischen Außenpolitik, in: B. Meissner, G. Rhode (Hrsg.): Grundfragen sowjetischer Außenpolitik, Stuttgart u. a., 1970, S. 31 f. to

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eher der Sowjetunion allein eine allseitige Entwicklung aller Wirtschaftszweige zusteht. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß der früher abgelehnte Begriff der Integration jetzt auch in der neuen Unionsverfassung seinen Eingang gefunden hat. Der Vorrang der national-imperialen Zielsetzung ergibt sich auch daraus, daß im militärischen Teil der neuen Verfassung an der Spitze der Güter, die mit Hilfe der Streitkräfte der UdSSR verteidigt werden sollen, die "sozialistischen Errungenschaften" an erster Stelle genannt werden. Erst dann ist von der Verteidigung der "friedlichen Arbeit des Sowjetvolkes" und der "Souveränität und territorialen Integrität des Staates" die Rede. Da aufgrundder "Breshnew-Doktrin" die Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften jedes sozialistischen Staates eine gemeinsame Verpflichtung aller sozialistischen Staaten darstellt, bedeutet dies, daß der Erhaltung des Sowjetimperiums neben dem Schutz des Sowjetstaates und seiner inneren Entwicklung in der sowjetischen Außenpolitik die überragende Bedeutung zukommt. Der Entspannung fällt die Aufgabe zu, zu dieser Sicherung des sowjetischen Besitzstandes beizutragen. Ihre anderen Funktionen sind zwar zur Erkenntnis der gegenwärtigen sowjetischen Außenpolitik bedeutsam. Ihnen fällt aber im Verhältnis dazu nur eine sekundäre Bedeutung

zu.

7. Der weltrevolutionäre Aspekt des sowjetischen Entspannungsbegriffs In der neuen Unionsverfassung wird nur der Begriff der "friedlichen Koexistenz" erwähnt, dagegen nicht der Begriff der Entspannung, (razrjadka). Aus diesem Fehlen des Entspannungsbegriffs sollten nicht zu weitgehende Schlüsse gezogen werden, da die "friedliche Koexistenz" von sowjetischer Seite immer als Kernbestand der Entspannung angesehen worden ist. Das Prinzip der "friedlichen Koexistenz" weist vom sowjetischen Standpunkt eine klassenkämpferische und eine kooperative Seite auf. Der Entspannungsbegriff ist in dem einen Fall unmittelbar mit der weltrevolutionären Zielsetzung der sowjetischen Außenpolitik verbunden. Durch die "friedliche Koexistenz" wird nicht, wie teilweise im Westen behauptet worden ist12, die Weltrevolution hinausgeschoben oder vertagt. Das Ziel, das mit Hilfe der Strategie der "friedlichen Koexistenz" im Rahmen eines langfristigen weltrevolutionären Prozesses angestrebt 12 Vom Hinausschieben der Weltrevolution spricht z. B. Th. Schwedsfurth in seiner Einführung zur deutschenübersetzungdes Buches von G. I. Tunkin: Völkerrechtstheorie, Berlin 1972, S. 11.

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wird, ist weiterhin die "klassenlose Gesellschaft", die nur im Weltumfange errichtet werden kann. Die Kennzeichnung der langfristigen Koexistenz als "friedlich" bedeutet lediglich, daß die Ausbreitung des Kommunismus in der Welt unter Ausschaltung internationaler Kriege nach Möglichkeit mit nichtkriegerischen Mitteln erfolgen und damit einen möglichst "schmerzlosen" Übergang vom "Kapitalismus" zum "Sozialismus" herbeiführen soll. Tunkin bringt diesen Gedanken mit den Worten zum Ausdruck13 : "Die Hauptsache der friedlichen Koexistenz besteht darin, trotz des scharfen Kampfes zwischen den Staaten mit entgegengesetzter Gesellschaftsordnung militärische Zusammenstöße auszuschließen und Frieden und Erweiterung der Zusammenarbeit zur Stärkung des allgemeinen Friedens zu sichern. Es geht darum, daß in der Übergangsepoche zwischen Kapitalismus und Sozialismus der große, und, wie alle großen Umwälzungen, schmerzhafte Umschwung in der Gesellschaft ohne internationale bewaffnete Konflikte abläuft (innere sind unvermeidbar)." In dem Parteiprogramm der KPdSU von 1961 wird die "friedliche Koexistenz" als eine "spezifische Form des Klassenkampfes" bezeichnet. Dabei wird ihr offensiver Charakter hervorgehoben und betont, daß sie zur Veränderung und nicht zur Sicherung des Status quo beitragen soll. In dem vom Ersten Stellvertretenden Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, W. W. Sagladin, herausgegebenen Buch über die kommunistische Weltbewegung heißt es in Übereinstimmung mit dem Parteiprogrammt•: "Die Politik der friedlichen Koexistenz bedeutet also keineswegs eine Aufhebung des Klassenkampfes und eine Preisgabe der Positionen der revolutionären Kräfte, wie die imperialistischen Propagandisten und die in ihr Horn stoßenden ,linksopportunistischen' Ideologen verleumderisch erklären, sondern trägt zu ihrer wahrhaften Entfaltung im Weltmaßstab bei." F. Ryshenko, Rektor der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU, erklärte übereinstimmend in einem Grundsatzartikel in der "Prawda" vom 22. August 1973: "Die friedliche Koexistenz bedeutet absolut nicht, daß die Konfrontation beider gesellschaftlicher Weltsysteme aufhört. Der Kampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, zwischen dem Weltsozialismus und dem Imperialismus wird bis zum vollen Siege des Kommunismus im Weltmaßstabe fortgesetzt." 13 Tunkin, Völkerrechtstheorie, S. 60. a W. W. Sagladin: Die kommunistische Weltbewegung. Abriß der Strategie und Taktik, Berlin 1973, S. 163.

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Der weltrevolutionäre Aspekt des sowjetischen Entspannungsbegriffs ist vor allem bei einer Beurteilung der zehn Prinzipien der KSZESchlußakte zu berücksichtigen, die von sowjetischer Seite als Grundsätze der "friedlichen Koexistenz" angesehen werden. Dieser Prinzipienkatalog hat mit einigen abweichenden Formulierungen, welche den Schutz der allgemeinen Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker betreffen15, seine verfassungsrechtliche Fixierung in der neuen Unionsverfassung gefunden. Durch diesen Vorgang haben die in Helsinki vereinbarten zehn Prinzipien für die Sowjetunion eine zusätzliche verfassungsrechtliche Verbindlichkeit erlangt. Auf der anderen Seite unterliegen sie den Schranken, die sich einerseits aus der weltrevolutionären Zielsetzung, andererseits aus der besonderen sowjetischen Koexistenzkonzeption ergeben.

8. Der "proletarisch-sozialistische Internationalismus als Kehrseite des Koexistenzbegriffs Für die Erfassung des sowjetischen Entspannungsbegriffs ist von besonderer Bedeutung, daß die Sowjetunion von einer zeitlichen, thematischen und räumlichen Begrenzung der friedlichen Koexistenz ausgeht und in Verbindung mit ihr bestimmte Fonnen der Gewaltanwendung für zulässig ansieht. In dieser Begrenzung, die in einem Widerspruch zu einer völkerrechtsgemäßen Auffassung von einer wirklich friedlichen Koexistenz steht, findet die sowjetische Entspannungspolitik ihre unüberschreitbare Schranke. An dieser sowjetischen Grundeinstellung hat die neue Verfassungnichts geändert. Die Sowjets gehen erstens von einer längeren, aber befristeten Dauer der "friedlichen Koexistenz" aus, d. h. sie fassen sie letzten Endes als einen "Frieden auf Zeit" und nicht als einen endgültigen Frieden auf. Sie gehen zweitens davon aus, daß der ideologische Kampf nicht nur weitergeht, sondern sich beim Fortschreiten der Entspannung sogar verschärft. Drittens gilt die "friedliche Koexistenz" nicht unmittelbar für die Beziehungen der "sozialistischen Staaten" untereinander, da sie durch das Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" bestimmtmnd. · In diesem Prinzip findet der hegemonische Anspruch der KPdSU und des Sowjetstaates im Rahmen des "sozialistischen Weltsystems" und der engeren "sozialistischen Gemeinschaft" seinen ideologischen Ausdruck. Es ist gleichsam als die Kehrseite der "friedlichen Koexistenz" anzusehen und bildet zusammen mit der These vom verschärften ideologischen 15 Vgl. B. Meissner: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach Helsinki und die sowjetische Selbstbestimmungskonzeption, in: Die KSZE und die Menschenrechte, Berlin 1977, 5.130.

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Kampf nach innen die entscheidende Schranke, die der Entspannung gesetzt ist. Das Internationalismus-Prinzip wird auf der Parteiebene als "proletarischer Internationalismus" und auf der Staatsebene als "sozialistischer Internationalismus" bezeichnet, wobei diese beiden Bezeichnungen bisher in der außenpolitischen Theorie und Völkerrechtsdoktrin der Sowjetunion ständig miteinander vermengt werden. Aus dem Artikel 30 geht jetzt deutlich hervor, daß die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den "Ländern des Sozialismus" auf der Grundlage des "sozialistischen Internationalismus" beruhen15. In diesem Sinne weist Tunkin darauf hin, daß es sich beim sozialistischen Internationalismus um die Anwendung des proletarischen Internationalismus auf die Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten handelt. Der "proletarische Internationalismus", der den Kern des "sozialistischen Internationalismus" bildet, wird durch den Artikel 30 nicht berührt16. Er bleibt weiterhin das maßgebende Prinzip für die Beziehungen, die sich auf der Ebene der komunistischen Parteien und der von ihnen abhängigen gesellschaftlichen Organisationen vollziehen. J egorow bezeichnet den proletarischen Internationalismus bezeichnenderweise "als das allgemeinste, das bestimmende Prinzip", das seinen Ausdruck sowohl in den Grundsätzen des "sozialistischen Internationalismus", als auch der "friedlichen Koexistenz"(!) finden würde17• "Freundschaft", "Zusammenarbeit" und "kameradschaftliche gegenseitige Hilfe", von denen im Artikel30 die Rede ist, werden als die wichtigsten Grundsätze des "sozialistischen Internationalismus" angesehen. Eine besondere Bedeutung kommt dem Grundsatz der "brüderlichen" oder "kameradschaftlichen" gegenseitigen Hilfe zu, da er zur Begründung und Rechtfertigung von bewaffneten Interventionen innerhalb des sowjetischen Hegemonialverbandes dient. Der interventionistische Gehalt des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" ist durch die Breshnew-Doktrin18 wesentlich verschärft worden, die neben dem Ausscheiden jede Abweichung vom sowjetischen Modell eines Staatssozialismus, das durch eine totalitäre Form der Einparteiherrschaft und eine Zentralplanwirtschaft gekennzeichnet ist, ausschließt. Bemerkenswert ist, daß sich das Begriffspaar "Einheit und Ge11 Im Artikel 30 werden nur die Beziehungen auf der Staatsebene behandelt. Daher trifft die Ansicht von A. Uschakow im Kurzkomemntar der neuen Unionsverfassung in "Osteuropa-Recht", 1978 Heft 1/2 ("Außenpolitik Außenwirtschaft- Verteidigung), daß die bisherige Unterscheidung zwischen dem proletarischen und sozialistischen Internationalismus weggefallen ist, nicht zu. 17 Vgl. V. N. Egorov: Proletarskij internacionalizm v dejstvii (Der proletarische Internationalismus in Aktion), Nau~nyj kommunizm, 1977, Nr. 5, S. 94. 18 Vgl. B. Meissner: Die Breshnew-Doktrin. Das Prinzip des "proletarischsozialistischen Internationalismus" und die Theorie von den "verschiedenen Wegen zum Sozialismus", Köln 1969.

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schlossenheit", das von sowjetischer Seite im Sinne der "BreshnewDoktrin" als ein besonderer Grundsatz des "sozialistischen Internationalismus" angesehen wird, in der Verfassung nicht findet. Dies läßt aber kaum den Schluß zu, daß damit die Verschärfung des Prinzips des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" durch die "Breshnew-Doktrin" aufgegeben worden ist. 9. Das Verhältnis von "friedlicher Koexistenz" und Krieg Eine weitere Aushöhlung des sowjetischen Entspannungsbegriffs ergibt sich aus dem besonderen Verhältnis der "friedlichen Koexistenz" zur kriegerischen und nichtkriegerischen Gewaltanwendung. Sie geht aus der ambivalenten Einstellung der Sowjetunion nicht nur zum Frieden, sondern auch zum Krieg hervor. Es ist bezeichnend, daß die Änderungen, welche die sowjetische Koexistenzkonzeption in der Nachkriegszeit erfahren hat, unmittelbar mit den Wandlungen der sowjetischen Kriegslehre verknüpft gewesen sind. In Abwandlung des Kriegsbegriffs des berühmten preußischen Militärtheoretikers von Clausewitz definierte Lenin den Krieg als die Fortsetzung, als das Instrument der Politik einer bestimmten Klasse zur gewaltsamen Durchsetzung bestimmter ökonomischer und politischer Ziele dieser Klasse19• Krieg und Revolution bildeten für ihn die höchsten Formen des Klassenkampfes. Alle Kriege wurden von ihm während des zeitweiligen Nebeneinanderbestehens der beiden feindlichen Welten nicht nur als möglich, sondern auch unvermeidbar angesehen. Lenin unterschied drei Haupttypen des Krieges: den imperialistischen, den nationalen und den proletarisch-revolutionären Krieg. Ihr Klassencharakter und die von ihnen verfolgte Zielsetzung entschied darüber, ob es sich um "gerechte" und "ungerechte" Kriege handelte~w. Lenin bejahte den Krieg als Triebkraft der weltrevolutionären Entwicklung, soweit es sich um einen "nationalen Befreiungskrieg" oder einen "proletarisch-revolutionären Krieg", der auch ein Bürgerkrieg sein konnte, handelte. Stalin teilte diese Auffassung, wobei jeder Krieg eines "sozialistischen Staates" von vomherein als "gerecht" angesehen wurde. Auch er sah lange Zeit alle Kriege als unvermeidbar an, 19 Vgl. W. I. Lenin: Clausewitz' Werk "Vom Kriege". Auszüge und Randglossen, herausgegeben von 0. Braun, Berlin 1957; Derselbe: Über Krieg, Armee und Militärwissenschaft, 2 Bde., Berlin 1961. 20 Vgl. G. D. Faddejew: Der Marxismus-Leninismus über gerechte und ungerechte Kriege, Berlin 1953; P. A. Cuvikov: Marksizm-Leninizm o vojne i armii (Der Marxismus-Leninismus über den Krieg und die Armee), Moskau 1956, s. 39 ff.

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Eine gewisse Modifizierung der sowjetischen Kriegslehre erfolgte erst in Stalins Spätschrift "Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR", die im 1. Februar 1952 abgeschlossen wurde. In ihr wurde die These vertreten, daß Kriege zwischen den beiden gegensätzlichen Gesellschaftssystemen verhindert werden könnten, während sie innerhalb der kapitalistischen Welt unvermeidbar seien21 • Chruschtschow hat diesen Ansatz weiter ausgebaut. Er erklärte auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, daß Kriege vermieden werden könnten. Er dachte dabei vor allem an einen möglichen atomaren Weltkrieg, bezog aber im Juni 1960 auch den begrenzten, lokalen Krieg in diese Feststellung ein. Die These von der "Vermeidbarkeit von Kriegen" ist in der Erklärung der zweiten kommunistischen Weltkonferenz in Moskau im November/ Dezember 1960, an dem auch die Kommunistische Partei Chinas teilnahm, mit gewissen Einschränkungen anerkannt worden. In Übereinstimmung mit dieser Erklärung unterschied Chruschtschow in einer programmatischen Rede vom 6. Januar 1961 22 drei Arten von Kriegen: 1. Weltkriege; 2. Lokale Kriege; 3. Befreiungskriege und Volksaufstände. Nur bei den beiden ersten Kriegsarten, die er als "internationale Kriege" charakterisierte, hielt der sowjetische Partei- und Regierungschef eine Verhütung für möglich. Aber auch hierbei machte er aus Rücksicht auf den chinesischen Standpunkt Einschränkungen. So hielt er lokale Kriege auch in Zukunft nicht für ausgeschlossen, wenn auch die Möglichkeit, solche Kriege zu entfesseln, seiner Meinung nach "immer mehr eingeengt" würde. Im Gegensatz zu den "internationalen Kriegen" bezeichnete er "nationale Befreiungskriege" und "revolutionäre Volkserhebungen" nicht nur als unvermeidbar, sondern auch als notwendig. Die Bejahung einer internationalen Entspannung unter Verhütung internationaler Kriege hat Chruschtschow nicht davon abgehalten, mit dem Berlin-Ultimatum 1958 und dem Aufbau von Raketenbasen auf Kuba 1962 eine expansive Außenpolitik zu betreiben, welche die Welt vor den Abgrund eines Kernwaffenkrieges führen sollte. Die Nachfolger Chruschtschows haben sich zum Wesen des modernen Krieges nur sehr zurückhaltend geäußert. Es sind vor allem die sowjetischen Militärtheoretiker gewesen, die sich mit dem Kriegsbegriff und der Kriegstypologie näher befaßt haben. In der dritten Auflage der vom damaligen sowjetischen Generalstabschef Sokolowskij herausgegebenen "Militär-Strategie" (1968) wurde dem "begrenzten Krieg" eine größere Bedeutung zugemessen23• Im übrigen u Vgl. J. W. Stalin: Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Stuttgart 1952, S. 32 ff. 11 Vgl. N. S. Chruschtschow: Kommunismus- Frieden und Glück der Völker, Berlin {Ost) 1963, S. 32 ff. 23 Vgl. V. D. Sokolovskij: Voennaja strategija, 3. Aufl., Moskau 1968; deutsche übersetzung: W. D. Sokolowski: Militär-Strategie, Köln 1969, S. 116 ff.

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wurde an der von Generalmajor Talenskij unter Chruschtschow entwickelten These, daß sich ein mit herkömmlichen Waffen ausgetragener begrenzter Konflikt höchstwahrscheinlich zu einem allgemeinen Weltkrieg ausweiten würde, festgehaltent•. In dem vom Verteidigungsministerium der UdSSR 1961 herausgegebenen Lehrbuch "Der Marxismus über Krieg und Frieden" sind, abweichend von der Kriegstypologie Chruschtschows, die folgenden Haupttypen des Krieges aufgeführt worden25 : 1. Kriege zwischen imperialistischen Staaten

2. Kriege zwischen Bourgeoisie und Proletariat (Bürgerkriege)

3. Kriege zwischen imperialistischen Staaten und Kolonialvölkern (Kolonialkriege, nationale Befreiungskriege) 4. Kriege zwischen imperialistischen und sozialistischen Staaten. In der fünften Auflage des gleichen Lehrbuchs 1968 wurden "Kriege zwischen gegensätzlichen Gesellschaftssystemen" an erster Stelle, die "Kriege zwischen kapitalistischen Staaten" dagegen an fünfter Stelle aufgeführt. Es wurde ferner zwischen Bürgerkriegen "zwischen Proletariat und Bourgeoisie" sowie "zwischen Volksmassen und reaktionären Kräften" unterschieden, womit sich die Zahl der Kriegstypen von vier auf fünf vergrößerte".

Anfang Juni 1974 ist von Kondratkow der Begriff des "Bürgerbefreiungskrieges des Proletariats gegen die Bourgeoisie" entwickelt worden27 , der im Zusammenhang mit dem stärkeren Hervortreten des weltrevolutionären Elements in der sowjetischen Außenpolitik stand. Dieser Begriff ist von anderen sowjetischen Militärtheoretikern, darunter Ismajlow, übernommen worden. Ismajlow gliedert die Kriege nach artunterscheidenden, geographisch-dimensionalen, und waffentechnischen Merkmalen28. In dem ersten Fall zählt er vier Haupttypen auf, da er nur einen 14 Vgl. H. Dahm: Neuere Entwicklungstendenzen in der Militärdoktrin der Sowjetunion und der Volksrepublik China, in: B. Meissner, G. Rhode (Hrsg.): Grundfragen sowjetischer Außenpoldtik, Stuttgart 1970, S. 129. 15 Vgl. G. A. Fedorov, B. A. Belyj, N. Ja. Sullko (Red.): Marksizm-Leninizm o vojne i armii, Moskau 1961; deutsche Übersetzung: Krieg, Armee, Militärwissenschaft, Berlin (Ost) 1963, S. 109. 28 Vgl. S. A. Tjuskevic, N. Ja. Susko, Ja. s. Dzjuba (Red.): MarksizmLeninizm o vojne i armii, 5. Ausgabe, Moskau 1968, S. 86. 27 Vgl. T. Kondratkov: Problema klassi.fikacii vojn i ee otrazenie v ideologiceskoj bor'be (Das Problem der Klassifizierung der Kriege und seine Auswirkungen auf den ideologischen Kampf), Kommunist Vooruzennych Sil - abgekürzt: KVS- (Kommunist der Streitkräfte),1974, Nr. 11, S. 17 ff. 28 Vgl. V. Izmajlov: Charakter i osobennosti sovremennych vojn (Der Charakter und die Besonderheiten der modernen Kriege), KVS, 1975, Nr. 6, S. 67 ff.; H. Dahm: Die sowjetischen Streitkräfte und der Wandel in der Militärdoktrin und WehrpoLitik der Sowjetunion, in: Moderne Welt, Jb. für OstWest-Fragen, Bd. I, 1976, S. 308 ff.

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Bürgerkriegstyp in Gestalt des "Bürger-Befreiungskrieges" kennt. In dem zweiten Fall unterscheidet er zwischen dem Weltkrieg und dem lokalen, begrenzten Krieg. In dem dritten Fall betont er den Unterschied zwischen Kriegen mit Raketenkernwaffen und Kriegen mit herkömmlichen Waffen. Trotz dieser differenzierteren Behandlung der Kriegstypologie bleibt die wichtigste Unterscheidung weiterhin diejenige zwiscllen "gerechten" und "ungerechten" Kriegen, die vom Standpunkt des Klassencharakters des jeweiligen Krieges, tatsächlich aber aus der Sicht der national-imperialen Interessen der Sowjetunion getroffen wird. Dieser grundlegenden Unterscheidung wird heute eine weitaus größere Bedeutung zugemessen als dies am Ende der Chruschtschow-Ära der Fall war29 • Im Rahmen der sowjetischen Koexistenzkonzeption werden somit im Einklang mit der sowjetischen Kriegslehre zwei Arten des Krieges weiterhin als zulässig angesehen. Auf der einen Seite der Bürgerkrieg, soweit er den Charakter eines "Bürger-Befreiungskrieges" besitzt, auf der anderen Seite der "nationale Befreiungskrieg", soweit er sich in Entwicklungsländern abspielt. Außerdem werden Kriege eines sozialistischen Staates ausnahmslos als "gerecht" angesehen, auch wenn es sich, wie im Falle des finnischen Winterkrieges 1939/40, eindeutig um einen Angriffskrieg gehandelt ha~0 • Sagladin, der Erste Stellvertretende Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU weist ausdrücklich darauf hin, daß der Marxismus-Leninismus nicht alle Kriege ablehnt, sondern "nur ungerechte Kriege, also Kriege, die sich gegen Bewegungen für soziale und nationale Befreiung, gegen sozialistisclle Staaten richten"31• Aus einem so gearteten Verhältnis von "friedlicher Koexistenz" und Krieg muß sich zwangsläufig ein Widerspruch zu den in der Verfassung aufgeführten Zielen der "Verhinderung von Angriffskriegen" und der "Herbeiführung der allgemeinen und vollständigen Abrüstung" ergeben. Durch das Festhalten am Begriff des gerechten Krieges unter weltrevolutionären Vorzeichen wird das gesamte moderne Völkerrecht, das seit dem Kelloggpakt auf dem Verbot des Angriffskrieges und seit der Satzung der Vereinten Nationen auf dem allgemeinen Gewaltverbot beruht, aus den Angeln gehoben. Die weiterhin gültige Kriegslehre Lenins geht nämlich in ihrer Klassifizierung nicht von den Begriffen des Angriffs und der Selbstverteidigung aus, auf denen die für das moderne 29 Vgl. W. I. Samkowoj: Krieg und Koexistenz in sowjetischer Sicht, Pfullingen 1969, S. 24 ff.; Marksizm-Leninizm o vojne i armii, 5. Ausgabe, a.a.O., s. 82 ff. 30 Vgl. F. I. Kozevnikov: Velikaja Otel!estvennaja Vojna Sovetskogo Sojuza i nekotorye voprosy mezdunarodnogo prava (Der große Vaterländische Krieg der Sowjetunion und einige Fra·gen des Völkerrechts), Moskau 1954. 31 Sagladin, die kommunistische Weltbewegung, a.a.O., S. 154.

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Völkerrecht charakteristische Unterscheidung von verbotenen und erlaubten Kriegen beruht, sondern davon, wer gegen wen Krieg führt. Alle Kriege von Staaten, die nach sowjetischer Auffassung die Bezeichnung "sozialistische Staaten" verdienen, sind a priori, ohne Rücksicht darauf, von welcher Seite und zu welchem Zweck sie begonnen wurden, "gerechte" Kriege. Erst recht gilt dies für die Sowjetunion, die Bürgerkriege und nationale Befreiungskriege auch im Zeichen der Entspannung ohne Einschränkung für zulässig und damit "gerecht" ansieht. 10. Das Verhältnis von "friedlicher ·K oexistenz" und Intervention

Aus der Unterscheidung zwischen "gerechten" und "ungerechten" Kriegen ergeben sich für die sowjetische Seite zwei Schlußfolgerungen. Erstens sind bestimmte Kriege als Mittel der Politik im Entspannungsprozeß zu bejahen. Zweitens ist die Sowjetunion und mit ihr das "sozialistische Lager" verpflichtet, sie zu unterstützen. Diese Verpflichtung ist auch in der neuen Unionsverfassung, wie wir bereits sahen, ausdrücklich verankert worden. Nach Auffassung Lenins erforderte der "Internationalismus der Tat" die Unterstützung der revolutionären Bestrebungen des ausländischen Proletarias durch jede Art von Hilfe" "in allen Ländern ohne Ausnahme"32. Die "brüderliche Hilfe" sollte darin zum Ausdruck kommen, daß das siegreiche Proletariat "ein Höchstmaß dessen durchgeführt, was in einem Lande für die Entwicklung, Unterstützung,· Entfachung der Revolution in allen Ländern durchführbar ist"33• Es sollte sich "der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen und die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in ihnen den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und im Notfall sogar mit Waffengewalt gegendie Ausbeuterstaaten und ihre Staaten vorgehen"34• An anderer Stelle sagte er: "Ohne den Sozialismus preiszugeben, müssen wir jeden Aufstand gegen unseren Hauptfeind, die Bourgeoisie der

Großmächte unterstützen36." Im gleichen Sinne äußerte sich Stalin36• Er erklärte nach dem Tode Lenins37 : "Die Entwicklung und Unterstützung der Revolution in den anderen Ländern ist eine wesentliche Aufgabe der sowjetischen Revolution. Deshalb soll sich die Revolution des siegreichen Landes nicht als eine geu W. I. Lenin: Werke, Bd. 20, S. 166 f. aa W. I. Lenin: Sämtliche Werke, Bd. XXIII, Moskau 1940, S. 487. 34 W. I. Lenin: Werke, Bd. 21, S. 346. 35 W. I. Lenin: Sämtliche Werke, Bd. XIX, Wien..;Berlin 1·930, S. 309. 38 Vgl. J. W. Sta1in: Fragen des Leninismus, 11. Aufl., Moskaru 1947, S. 37 J. Stalin: Werke, Bd. 6, S. 95.

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nügende Größe betrachten, sondern als Stütze, als Mittel zur Beschleunigung des Sieges des Proletariats in den anderen Ländern." Für die gleiche umfassende Unterstützung sprachen sich Lenin und Stalin bei den nationalen Befreiungskriegen in den kolonialen und abhängigen Ländern aus38• Diese grundsätzliche Einstellung bedeutete, daß auch eine völkerrechtswidrige Intervention, die eine Verletzung des Nichteinmischungsverbots und damit das Souveränitätsprinzip darstellte, als zulässig angesehen wurde. Aus der außenpolitischen Praxis der Sowjetunion ist zu ersehen, daß es zwei Arten von Interventionen gibt, die von sowjetischer Seite mit der internationalistischen Verpflichtung zur Unterstützung "fortschrittlicher" Kräfte gerechtfertigt werden. Die eine Art bezweckt die Machtergreifung einer kommunistischen Partei oder mit ihr verbündeter Gruppen in einem bisher nichtkommunistischen Lande. Die andere Art ist auf die Erhaltung einer kommunistischen Einparteiherrschaft totalitären Typs oder eines mit der Sowjetunion verbündeten "fortschrittlichen" Regimes gerichtet. Beide Interventionsarten lassen sich auch unter den Nachfolgern Stalins feststellen. Von Chruschtschow ist zwar dem "friedlichen Weg zum Sozialismus" der Vorrang zuerkannt worden, doch ist zugleich die internationalistische Verpflichtung zur Unterstützung "fortschrittlicher" Kräfte in einem Bürgerkrieg oder einem nationalen Befreiungskrieg von ihm besonders betont worden. Der "friedliche Weg zum Sozialismus" schloß nichtkriegerische Gewaltanwendung, wie die auf dem XX. Parteitag der KPdSU genannten Beispiele Tallinn (1940) und Prag (1948) zeigten88, nicht aus. Im Fall der baltischen Staaten handelte es sich um eine offene bewaffnete Intervention der Sowjetunion in Friedenszeiten, deren völkerrechtswidriges Ergebnis teilweise bis heute von einer Reihe von Mitgliedern der Völkerrechtsgemeinschaft nicht anerkannt worden ist. Im Fall der kommunistischen Machtergreifung in der Tschecheslowakei lag ein typischer Fall einer "verdeckten Intervention" vor. In dem Lehrbuch "Grundlagen der marxistischen Philosophie" wurde 1959 ausdrücklich betont, daß auch der "friedliche Übergang zum Sozialismus" eine Form der Revolution darstelle und daher die Zerschlagung des alten bürgerlich-demokratischen Staatsapparats erfordere". Zur niustrierung des friedlich-parlamentarischen Weges ist dabei ausas Vgl. B. Meissner: Die marxistisch-leninistfscbe Lehre von der "nationalen Befreiung" und dem "Staat der nationalen Demokratie", Moderne Welt, 4. Jg., 1963, s. 30 ff. 11 Vgl. B. Meissner: Das Ende des StaUn-Mythos, Frankfurt a. M. 1956, S. 44. " Vgl. Osnovy marksistkoj ftlosofl.i, Moskau 1959; deutsche Übersetzung: C111ndlasen der marxistischen Philosophie, Berlin 1960, S. 580.

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drücklieh auf die kommunistische Machtergreifung in den volksdemokratischen Ländern hingewiesen worden, die ebenfalls der ersten Interventionsart entsprachen. Die bewaffneten Interventionen der Sowjetunion in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 sind als die Hauptbeispiele für die zweite Interventionsart anzusehen. Die Berechtigung zur Erweisung der "brüderlichen" oder "kameradschaftlichen" Hilfe und damit zur Intervention wurde in beiden Fällen aus dem Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" abgeleitet. Zwischen diesen beiden Fällen bestand ein wesentlicher Unterschied. Eine militärische Erhebung mit dem Ziel des Sturzes des kommunistischen Regimes wie in Ungarn 1956 lag in der Tschechoslowakei 1968 nicht vor. Sie beabsichtigte auch nicht, aus dem Warschauer Pakt auszutreten. Zur Rechtfertigung der völkerrechtswidrigen Intervention ist daher von sowjetischen Ideologen zunächst die Theorie einer "friedlichen Konterrevolution" und dann einer "beschränkten Souveränität" der sozialistischen Staaten aufgestellt worden. Diese Theorien, die sich Breshnew zu eigen machte und daher mit seinem Namen verbunden worden sind41 , bedeuteten eine zusätzliche Begründung für den Interventionsanspruch der sowjetischen Hegemonialmacht Das von der Sowjetunion auch Interventionen außerhalb des sowjetischen Hegemonialbereichs als zulässig angesehen werden, ist von Breshnew nicht minder deutlich als von Chruschtschow zum Ausdruck gebracht worden. Breshnew sagte auf dem XXIII. Parteitag 196641 : "Natürlich kann es dort keine friedliche Koexistenz geben, wo es sich um innere Prozesse des Klassenkampfes und des nationalen Befreiungskampfes in den kapitalistischen Ländern oder in den Kolonien handelt. Das Prinzip der friedlichen Koexistenz ist nicht anwendbar auf die Beziehungen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, zwischen Kolonialisten und den Opfern kolonialer Unterdrückung." Er fügte auf dem XXV. Parteitag 1976 hinzu43 : "In den Entwicklungsländern wie auch überall stehen wir auf seiten der Kräfte des Fortschritts, der Demokratie und der nationalen Unabhängigkeit und verhalten uns ihnen gegenüber wie zu unseren Freunden und Kampfgenossen. Unsere Partei unterstützt die um ihre Freiheit ringenden Völker und wird sie auch künftig unterstützen." In gleicher Weise äußern sich die sowjetischen Ideologen. So betont Poljanow, daß sich die "friedliche Koexistenz" weder auf das Gebiet u Vgl. Meissner, Die "Breshnew-Doktrin", a.a.O., S. 29 ff. "Pravda" vom 30. 3. 1966. 43 "Pravda" vom 25. 2. 1976. 42

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der Ideologie oder auf den "nationalen und sozialen Befreiungskampf" erstreckt44• Diese Äußerungen stehen im Einklang mit dem unter Chruschtschow angenommenen Parteiprogramm der KPdSU von 1961. In diesem wird die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen mit den Worten befürwortet45 : "Die KPdSU betrachtet es als ihre internationale Pflicht, die Völker, die den Weg der Erringung und Festigung der nationalen Unabhängigkeit gehen, sowie alle Völker, die für die vollständige Beseitigung des Kolonialsystems kämpfen, zu unterstützen." Die Beispiele aus jüngster Zeit lassen erkennen, daß eine solche Unterstützung leicht den Charakter einer völkerrechtswidrigen Intervention annehmen kann. Eine solche hat eindeutig im Falle Angola vorgelegen, die infolge des von der Sowjetunion ermöglichten Eingreifens kuhaniseher Streitkräfte, den Charakter eines "Ersatz-Krieges" aufwies48• Das gleiche gilt für die sowjetische Einmischung in den Konflikt zwischen Äthiopien und Somalia unter Einsatz sowjetischer Militärberater und kuhaniseher Hilfstruppen. Dabei konnten sich die Somali im Ogaden in ihrem Befreiungskampf eindeutig auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen. Besonders grotesk mußte sich die Unterstützung des äthiopischen Militärregimes gegen die Befreiungsbewegung in Eritrea erweisen, die ursprünglich von der Sowjetunion selbst gefördert worden war. Die sowjetische Interventionspolitik, die im afroasiatischen Bereich in den letzten Jahren deutlichen Auftrieb erhalten hat, behindert nicht nur den Fortgang des Entspannungsprozesses, sondern gefährdet zugleich den prekären Gleichgewichtszustand in der Welt. Die weltrevolutionäre Zielsetzung kann eine bewaffnete Intervention, die auf eine revolutionäre Umgestaltung oder starre Beibehaltung der inneren Grundordnung eines fremden Staates gerichtet ist, ebensowenig rechtfertigen wie den unrechtmäßigen Charakter eines Angriffskrieges, auch wenn er von einem "sozialistischen Staat" ausgeht. Das allgemeine Völkerrecht, das von sowjetischer Seite als das "Völkerrecht der friedlichen Koexistenz" angesehen wird, kann nur Grundsätze anerkennen, die für und gegen alle gelten und damit umkehrbar sind. Da das allgemeine Gewaltverbot auch vom sowjetischen Standpunkt ein ius cogens-Prinzip darstellt, läßt auch die Berufung auf ein "sozialistisches Völkerrecht" oder auf das ihm " "Horizont", 1975, Nr. 49, S. 4. 45 B. Meissner: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903- 1961, 3. Aufl., Köln

1965, s. 178.

" Vgl. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hrsg.): Sowjetunion 1975/76, München/Wien 1976, S. 279 f. Vgl. hierzu auch die Erklärung Breshnews beim Besuch des Vorsitzenden der MPLA, G. G. Neto, in Moskau; in: "Horizont", 1976, Nr. 43, S. 7.

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zugrunde liegende Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" keinerlei Ausnahmen zu47. 11. Der weltpolitische Aspekt des sowjetischen Entspannungsbegriffs Durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges und den Besitz von Kernwaffen ist die Sowjetunion zu einer Weltmacht aufgestiegen. Um diese Weltmachtstellung weiter auszubauen und zu sichern, verfolgt sie mit der Entspannungspolitik vor allem zwei Ziele. Auf der einen Seite ist sie bemüht, ihren Rückstand auf wirtschaftlichem und technologischen Gebiet gegenüber dem Westen zu vermindern. Auf der anderen Seite ist sie bestrebt, unter Ausnutzung ihrer militärischen Stärke und durch einen verschärften ideologischen Kampf ihre eigene Macht zu vermehren und zugleich die Machtstellung des ideologischen Gegners zu erschüttern. Die Sowjetunion versucht das eine Ziel dadurch zu erreichen, daß sie die kooperative Seite der "friedlichen Koexistenz" neben dem klassenkämpferisch-weltrevolutionären Aspekt besonders hervorhebt. Die "friedliche Koexistenz" wird "als die einzig mögliche Form des friedlichen ökonomischen Wettbewerbs zwischen Sozialismus und Kapitalismus im Weltmaßstab" bezeichnet, "der die Entwicklung ökonomischer, wissenschaftlich-technischer und kultureller Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten der beiden Systeme auf der Grundlage der vollen Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils umfaßt"4a. Ein solcher Wettbewerb könnte für die Entspannung förderlich sein, wenn er sich wie ein sportlicher Wettkampf nach bestimmten Regeln, die für beide Seiten im gleichen Maße gelten, und unter Ausschluß jeder Gewaltanwendung vollziehen würde. Beides liegt bei der sowjetischen Koexistenzkonzeption, die dem sowjetischen Entspannungsbegriff zugrunde liegt, nicht vor. Durch sie werden vielmehr Schranken errichtet, die einen Wettbewerb auf der Grundlage der vollen Gleichberechtigung nicht zulassen. Außerdem schließt sie die Anwendung von kriegerischer und nichtkriegerischer Gewalt, wie wir bereits gesehen haben, nicht aus. Die Sowjetunion hat die Möglichkeit, ihre Ideen in den meisten Staaten der westlichen Welt auf verschiedenen Wegen offen zu vertreten und 47 Vgl. B. Meissner: Die sowjetische Konzeption des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" und das "sowjetische Völkerrecht", "Recht in Ost und West", 19. Jg., 1975, S. 7. 48 Vgl. W. J. Jegorow: Friedliche Koexistenz und revolutionärer Prozeß, Berlin 1972, S. 216.

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damit die Öffentlichkeit im Sinne ihrer ideologischen Vorstellungen zu beeinflussen. Sie ist aber nicht bereit, ihrem ideologischen Gegner und Konkurrenten die gleiche Möglichkeit in ihrem eigenen Macht- und Einflußbereich einzuräumen. Das gleiche gilt für die ungehinderte freie Bewegung von Menschen nicht nur von West nach Ost, sondern auch von Ost nach West sowie die damit verbundene Möglichkeit zu umfassenden menschlichen Kontakten. Im Widerspruch zu einer kompetiven Koexistenz steht auch die gewaltsame Verhinderung eines politischen und sozialen Wandels durch die Sowjets im eigenen Lager, während sie gleichzeitig eine tiefgehende Veränderung des Status quo beim ideologischen Gegner anstreben. Nur wenn beiden Seiten die gleichen Chancen eingeräumt würden, könnte von einem "ideologischen Kampf" unter gleichen Bedingungen und damit von einem wirklichen Wettkampf die Rede sein. Mit einem Ideenkampf, dessen Ausgang nach beiden Seiten offen wäre, läßt sich auch die sowjetische These, daß sich der "ideologische Kampf" beim Fortschreiten der Entspannung "verschärfen" würde, nicht vereinbaren. Hinzu kommt, daß die globale Politik, die von der Sowjetunion seit einigen Jahren betrieben wird, nicht dazu angetan ist, einen Entspannungsprozeß zu fördern, dessen Ziel die Schaffung einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung ist. Sie weist in zunehmendem Maße einen expansiven Charakter auf und läßt aufgrundder erreichten militärischen Stärke eine erhöhte Risikobereitschaft erkennen. Das "Friedensprogramm" das von Breshnew auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU 1971 verkündet wurde, war von vornherein im Sinne des früher erwähnten "Kampfes für den Frieden" gemeint. Mit der Modifizierung des ursprünglichen Programms ist deutlich eine Verstärkung seiner kämpferischen Züge verbunden gewesen. Das "Friedenskampfprogramm", das auf dem XXV. Parteitag 1976 aufgestellt worden ist, bedeutet, daß sich die Sowjetunion außerhalb Europas, von der Möglichkeit einer Regelung im Raum des Indischen Ozeans abgesehen, keinen selbstgewählten Beschränkungen unterwerfen will und vor allem im afroasiatischen Bereich an einer Interventionspolitik festhält48 • Eine solche Form der in geographischer Hinsicht selektiven Entspannung besagt, daß die Sowjetunion nicht bereit ist, außerhalb Europas und Nordamerikas eine festumrissene westliche Interessensphäre zu akzeptieren. Die Fortführung der Aufrüstung und die dabei erkennbar gewordenen Schwerpunkte60 lassen zugleich erkennen, daß von einer bestimmten Richtung im Kreml das Ziel eines militärischen Obergewichts weiter verfolgt wird. 41 Vgl. B. Meissner: Außenpolitik auf dem XXV. Parteitag der KPdSU, "Außenpolitik", 27. Jg., 1976, S. 153 ff. 10 Vgl. G. Poser: Militärmacht Sowjetunion 1977, München- Wien 1977.

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Unter Berücksichtigung sowohl des weltpolitischen als auch des weltrevolutionären Aspekts erweist sich die langfristige "friedliche Koexistenz" und damit auch die Entspannung in sowjetischer Sicht als die Fixierung eines relativ stabilen, zugleich aber äußerst prekären Gleichgewichtszustandes, der auf dem atomaren Patt der beiden Weltmächte beruht. Das neue Gleichgewichtsprinzip besitzt einen weltweiten Charakter und läßt einen höheren Grad von Zusammenarbeit im Verhältnis zu früher zu. Fß kann aber schon aus dem Grunde nicht zu einer größeren Stabilität der Internationalen Ordnung beitragen, weil die Sowjetmacht aus ideologischen und machtpolitischen Gründen nicht bereit ist, von der bisherigen Begrenzung der "friedlichen Koexistenz" abzusehen, das eigene System den vertraglich festgelegten Entspannungsverpflichtungen anzupassen und dem Gegner in der geistig-ideologischen Auseinandersetzung die volle Chancengleichheit einzuräumen. Die Entspannung auf der Grundlage der sowjetischen Koexistenzkonzeption erweist sich damit als der Ausdruck einer begrenzten "antagonistischen Kooperation"51, welche die Gefahr des Rückfalls in den "Kalten Krieg" und unter Umständen auch eine Gefährdung des Weltfriedens nicht ausschließt.

51 Vgl. W. von Bredow: Vom Antagonismus zur Konvergenz? Frankfurt a. M. 1972, s. 188.

DIE ÖSTLICHE ENTSPANNUNGSPOLITIK Von Gerhard Wettig Die folgenden Ausführungen stellen einen Versuch dar, im Blick auf die östliche Seite eine Bilanz des bisherigen Entspannungsprozesses zu ziehen. Dabei lassen sich nur die wichtigsten Aspekte behandeln. Zugleich sind Verallgemeinerungen unvermeidlich; Differenzierungen müssen teilweise vernachlässigt werden. Die Betrachtung konzentriert sich auf die Sowjetunion als die Hegemonialmacht in der "sozialistischen Gemeinschaft", die weithin den Rahmen dafür setzt, in welcher Weise und in welchem Umfang ihre Verbündeten Entspannungspolitik betreiben können. Diese Herrschaftspraxis hat ihren Niederschlag in der Lehre vom "sozialistischen Internationalismus" gefunden. Danach sind die "sozialistischen Staaten" gehalten, alle ihre auswärtigen und inneren Angelegenheiten, die von gemeinsamem Belang sind, nur gemeinsam- und das heißt unter Mitwirkung der übermächtigen UdSSR- zu entscheiden. Die Ost-West-Verhandlungen der letzten neun Jahre haben der sowjetischen Führung immer wieder Anlaß geboten, bei den Verbündeten auf westpolitische Abstimmung zu dringen. Die Belgrader Folgekonferenz zur KSZE hat - nicht zuletzt auch als Reaktion auf die Koordination unter den EG-Staaten- eine sehr weitgehende Vereinheitlichung des östlichen Vorgehens erkennen lassen, wobei die sowjetische Seite auch für unvorbereitet eingeleitete Aktionen die Gefolgschaft der verbündeten Staaten forderte und erhielt. Davon machte -wie seit den sechziger Jahren üblich- nur Rumänien eine Ausnahme. Die sowjetische Entspannungspolitik steht unter dem Motto der "friedlichen Koexistenz". Die Konfrontationshaltung des "kalten Krieges" wird durch Elemente partieller Kooperation überlagert und relativert. Nach wie vor wird jedoch laut offiziell bekundeter Absicht in ideologischen Fragen keinerlei Annäherung, Verständigung oder auch nur "Waffenstillstand" für vertretbar erachtet. Nach einer nach 1968 nachdrücklich vertretenen These, die durch immer neue Kampagnen in die Praxis umzusetzen gesucht wird, geht der "ideologische Kampf" gegen die westliche Gesellschaftsordnung weiter und nimmt sogar "gesetzmäßig" an Intensität zu. Wer davon Abstriche mache, so lautet die Parole, höre auf, ein Kommunist zu sein. Diese antiwestliche Mobilisierungerfüllt zunächst eine defensive Funktion. Es geht darum, die Legitimität sowjetkommunistischer Herrschaft

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aufrechtzuerhalten. Das westliche Verständnis, daß die Staatsmacht durch institutionelle Teilung und wahlabhängigen Wechsel relativierbar und kontrollierbar sein müsse, dadurch einen möglichen Mißbrauch seitens ihrer Inhaber Schranken zu setzen habe und im übrigen zur Respektierung persönlicher Rechtsansprüche und Freiheitsräume verpflichtet sei, besitzt innerhalb des sowjetischen Lagers potentiell große Attraktivität. Die östlichen Eliten können ihren Anspruch auf Herrschaft moralisch nur dann behaupten, wenn sie die Bevölkerung davon überzeugen können, daß allein die Lehren des Marxismus-Leninismus eine dem Auftrag der Geschichte entsprechende, dem Wohl des Volkes dienende Politik ermöglichen und daß die Politik der Regierenden an diesen marxistisch-leninistischen Postulaten orientiert ist. Die Legitimitätskonzepte von Ost und West verhalten sich antagonistisch zueinander: Die Gültigkeit des einen schließt die Gültigkeit des anderen aus. Von dem Grundverständns und der Interessenlage der sowjetkommunistischen Führungen her ist es darum logisch, daß die westliche Herrschafts- und Gesellschaftsordnung grundsätzlich nicht hingenommen werden kann, sondern bekämpft werden muß. Das Antagonismus-Bewußtsein hat freilich auch ein offensives Potential. Die Ausschließlichkeit, mit welcher der eigene Legitimitätsanspruch verfochten wird, gilt auch für den Missionsanspruch, nach dem alle Länder den "übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus" (also zu einer sowjetkommunistischen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung) zu vollziehen haben. Mit dieser These läßt sich, wann immer dies opportun erscheinen mag, eine machtpolitische Expansion der UdSSR motivieren und rechtfertigen. Das Eindringen der Sowjetunion in Länder wie Angola, M~ambique und Äthiopien namens eines "antiimperialistischen Befreiungskampfes" zeigt, daß diese Möglichkeit nicht bloße Theorie ist. Der "ideologische Kampf", bei dem es nach amtlicherThesekeine Kompromisse geben kann, ist in sowjetischer Sicht ein Aspekt des weltweiten Ringens von "Kapitalismus" und "Sozialismus". Er bildet den geistigen, darum aber keineswegs machtfrei zu haltenden Bereich des "internationalen Klassenkampfes" auf gesellschaftlicher Ebene. Nach sowjetkommunistischer Theorie und Praxis ist die gesellschaftliche Aktionsebene strikt von den zwischenstaatlichen Beziehungen zu trennen: Auch wenn zwischen zwei Ländern von Regierung zu Regierung ein Verhältnis der Zusammenarbeit besteht, hat sich die UdSSR seit Lenin bei Bedarf stets die Möglichkeit offen gehalten, durch ihre Organe von Gesellschaft zu Gesellschaft eine andere Linie (beispielsweise in subversivem Sinne) zu verfolgen. Das traditionelle Rückgrat des sowjetischen Handeins auf dieser zweiten Ebene sind die Bindungen, die ausländische kommunistische Parteien auf die KPdSU hinorientieren. Zum Sich-Stützen auf effiziente abhängige Organisationen im Ausland hat die sowjetische Führung bei

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ihrem grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Kampf keine wirkliche Alternative, denn alle Bemühungen, andere Völker von der UdSSR aus zu beeinflussen (etwa mittels Rundfunk- oder Druckschriftenpropaganda), haben sich als wenig wirkungsvoll erwiesen. Daher verringert sich mit der allmählichen Schwächung der sowjetischen Position in der kommunistischen Weltbewegung, die als Folge zunehmender Schismen und Autonomismen eintritt, notwendigerweise die Bedeutung des gesellschaftlichen Faktors im internationalen Handeln der UdSSR. · Die Leiter der sowjetischen Außenpolitik haben freilich während des letzten Vierteljahrhunderts ein Substitut dafür entwickelt. Nach der sowjetischen Koexistenz-Doktrin, die während dieser Periode ihre Ausformulierung gefunden hat, gibt es im gesellschaftlichen Bereich - anders als im zwischenstaatlichen Verhältnis - kein prinzipielles Gebot der Gewaltabstinenz. Insbesondere können "nationale Befreiungskriege" von Ländern der dritten Welt gegen Kolonialmächte und deren wirkliche oder angebliche Helfershelfer als unterstützungswürdig gelten. Auf diese Weise tritt heute weithin an die Stelle der politischen Steuerung auswärtiger kommunistischer Parteien die sowjetische Einflußnahme auf Guerillaorganisationen und Einparteiherrschaften mittels Waffenhilfe und Beraterpräsenz. Davon abgesehen, hat der Kampf auf der gesellschaftlichen Ebene für Moskau nur noch begrenzte operative Bedeutung. Bei den politischen und wirtschaftlichen Ost-West-Interaktionen macht sich der ideologisch gerechtfertigte Kampf im gesellschaftlichen Bereich fast durchweg nur negativ als Vorbehalt bemerkbar. Das "geschäftsmäßige" MiteinanderUmgehen darf lediglich den Grundsatz nicht beeinträchtigen, daß es zwischen "Sozialismus" und "Kapitalismus" keine Übereinstimmung in Fragen des politischen Prinzips gibt und daß daher auch ein dauerhafter Interessenausgleich ausgeschlossen ist. Die antagonistische politische Zielperspektive soll prinzipiell unbedingt erhalten bleiben. Fragen, denen eine ideologische Bedeutung beigelegt wird, werden daher von vornherein als absolut kompromißunfähig behandelt. Das möchte ich als die "große Ausklammerung" im Ost-West-Verhältnis bezeichnen. Der Sowjetstaat war für Lenin und seine Mitstreiter die Basis eines mit allen jeweiligen zweckmäßigen Mitteln geführten unerbittlichen Kampfes, der auf die Revolutionierung der westlichen Welt abzielte. Auch als dann ·die Schwäche des Sowjetstaates Arrangements und Kompromisse mit westlichen Regierungen notwendig machte, hielten Lenin und seine Nachfolger an der totalen Feindseligkeit gegenüber ihrer Außenwelt und an der Perspektive einer schließliehen Beseitigung der westlichen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung fest. Das Bemühen um teilweise zwischenstaatliche Übereinkünfte mit westlichen Ländern galt grundsätzlich nur als pragmatisch-taktische Aushilfe. Stalin war freilich außerordent-

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lieh vorsichtig, wenn es darum ging, revolutionäre oder militärische Gewalt einzusetzen. Angesichts westlicher Stärke suchte er peinlich das Risiko bewaffneter Auseinandersetzungen zu vermeiden, bei denen er sich des eigenen Sieges nicht völlig sicher sein konnte. Die kritische Situation des Zweiten Weltkrieges, in den die Sowjetunion wider Erwarten hineingezogen wurde, dürfte ihn in dieser Haltung bestärkt haben. Daher schreckte er auch bei den heftigen Konflikten der Jahre 1947 bis 1952 stets davor zurück, die Schwelle zum Krieg zu überschreiten. Die Block-zu-Block-Situation und die Existenz der nuklearen Vernichtungskapazitäten haben nach Stalins Tod führende sowjetische Funktionäre dazu veranlaßt, die bisher behauptete Notwendigkeit eines großen Krieges zur schließliehen Durchsetzung des "Sozialismus" im Weltmaßstab in Frage zu stellen. Der XX. Parteitag der KPdSU legte die Vermeidbarkeit direkter bewaffneter Auseinandersetzungen mit der westlichen Seite fest. Die "friedliche Koexistenz" mit dem Westen wurde zu einer politischen Strategie - d. h. zu einer langfristigen, von den wechselnden Konstellationen unabhängigen Orientierung- erklärt. Im Verhältnis zwischen b€iden Blöcken sollte der Krieg dauernd und zuverlässig ausgeschlossen sein. Die sowjetische Führung verzichtete damit freilich nicht auf die Option, zur Durchsetzung und Wahrung ihres Oberherrschaftsanspruchs im eigenen Lager Waffengewalt einzusetzen. Auch die Möglichkeit, daß die sowjetische Seite im Falle eines innerwestlichen militärischen Konflikts in einer geeignet erscheinenden Weise mitwirken würde, wurde nicht verbaut. Die Aussagen der sowjetischen Koexistenz-Doktrin lassen sich als Reflex des westlichen Abschreckungskonzepts verstehen: Kriege zwischen Staaten von Ost und West müssen, weil sie die nuklear bewaffneten Bündnisse in eine direkte Frontstellung gegeneinander bringen, als Optionen der wechselseitigen Katastrophe vermieden werden. Militärische Aktionen dagegen, die nicht die Bündnissolidaritäten ansprechen, erscheinen grundsätzlich praktikabel. Chruschtschov machte - vor allem bei der Kuba-Krise - die Erfahrung, daß Spannungs- und Kriegslagen im Ost-West-Verhältnis potentiell kriegsträchtig sind. Daraus zogen er und seine Nachfolger die Konsequenz, daß um der Vermeidung eines großen Kriegeswillen eine vorbeugende Eiltschärfung zentraler Ost-West-Konflikte notwendig sei. Aus diesem Grund wuchs die sowjetische Bereitschaft, mit den USA Maßnahmen zur Verringerung der Kriegswahrscheinlichkeit zu vereinbaren. Der damit beginnende sowjetisch-amerikanische Bilateralismus ließ freilich die brennenden Ost-West-ProblemeinEuropa unberührt. Die sowjetische Leitvorstellung für Europa hieß "europäische Sicherheit". Das zielte auf eine Ausschaltung derjenigen Bedrohung ab, welche

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die Führungsgruppe um Breshnev in der Existenz von Streitpunkten zwischen Ost und West erblickte. Die Sicherheit der Sowjetunion sollte in Europa durch die Herstellung eines Einvernehmens über die kontroversenFragen (das natürlich in sowjetischem Sinne ausfallen sollte) gefestigt werden. Die Leiter der sowjetischen Politik bemühten sich zunächst, dieses Einvernehmen durch eine Förderung der "zwischenimperialistischen Widersprüche" unter den NATO-Staaten und durch antigouvernementale Appelle an die westeuropäische Öffentlichkeit zustande zu bringen. Die sowjetischen Aufrufe zu gesamteuropäischer Verständigung und Annäherung fanden jedoch entgegen der damit verbundenen Absicht vor allem in Osteuropa lebhaften Widerhall. Insbesondere sah sich der tschechoslowakische Reformkummunismus ermutigt. Der sowjetische Entschluß im Sommer 1968, diese Entwicklung mit dem äußersten Mittel der militärischen Intervention in der CSSR zu stoppen, beendete die Kampagne der "europäischen Sicherheit": Die auf die westeuropäischen Gesellschaften ausgerichtete Gesamteuropa-Propaganda konnte wegen ihrer Rückwirkungen auf die osteuropäischen Gesellschaften nicht länger fortgesetzt werden, und das Wiederzusammenrücken der NATOStaaten machte die Hoffnung auf ihre Entzweiung illusorisch. Die Führungsgruppe um Breshnev blieb jedoch weiter an einer vorbeugenden Konfliktentschärfung in Europa interessiert. Aus den veränderten Umständen zog sie Anfang 1969 Konsequenzen. An die Stelle gesellschaftsbezogener Kampagnen, welche die westeuropäische Öffentlichkeit für die sowjetischen Ziele der "europäischen Sicherheit" hatten mobilisieren sollen, trat der Dialog von Regierung zu Regierung. Da keine westliche Regierung willens war, ohne und gegen andere Allianzpartner mit der UdSSR in Verhandlungen einzutreten, schloß die sowjetische Seite alle NATO-Mitglieder- von allem Anfang an die Bundesrepublik Deutschland und dann auch die Vereinigten Staaten- in ihre Gesprächsangebote ein. Das operative Ziel war die Einberufung einer EuropaKonferenz, auf der die Streitpunkte geregelt werden sollten. Der Regelung des Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland kam entscheidende Bedeutung zu. Das Einvernehmen, das die sowjetische Führung namens der "europäischen Sicherheit" suchte, sollte vor allem die Anerkennung des territorialen und politischen Status quo in Mittelund Osteuropa zum Inhalt haben. Dem stand die bisherige westdeutsche Rechtsauffassung entgegen, daß die DDR rechtlich kein Staat sei und daß sowohl die Oder-Neiße-Linie als auch die innerdeutsche Grenze rein faktischer Natur seien. Die sozialliberale Bundesregierung, die im Herbst 1969 an die Macht kam, war bereit, den sowjetischen Vorstellungen im Rahmen einer Gewaltverzichtsregelung entgegenzukommen. Sie stellte sich freilich auf den Standpunkt, daß diese Probleme nicht multilateral auf einer Europa-Konferenz verhandelt werden könnten, sondern in di3 Entspannung

Gerhard Wettig plomatischen Gesprächen zwischen den jeweils betroffenen Mächten zu klären seien. Erst nachdem über die deutschen Probleme Einvernehmen erzielt worden sei, könne eine Europa-Konferenz stattfinden. Die sowjetische Führung ging auf diesen prozeduralen Vorschlag ein. Damit begann zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten einerseits und der Sowjetunion mit ihren Verbündeten andererseits ein Prozeß des Gebensund Nehmens, der sich nicht nur auf die anstehende einzelne Verhandlungssache, sondern ebenso auf die verschiedenen Verhandlungssachen untereinander erstreckte. Die sowjetische Seite sah sich, um ein Inkrafttreten des Moskauer Vertrages und die Einberufung der angestrebten Europa-Konferenz zu erreichen, zur Mitarbeit an einer für den Westen akzeptablen Berlin-Regelung veranlaßt. Umgekehrt hielt sie darauf, daß die Berlin-Regelung nicht eher Wirklichkeit wurde, als bis das Inkrafttreten des Moskauer Vertrages gesichert war. Die Aufhebung der Anerkennungssperre gegen die DDR seitens der Bundesrepublik Deutschland setzte sowohl eine befriedigende Berlin-Regelung als auch die Etablierung eines innerdeutschen Sonderverhältnisses voraus. Umgekehrt wäre über das Berlin-Problem kein Einvernehmen zustande gekommen, wenn nicht zugleich eine Aufnahme der DDR in die Staatengesellschaft in Aussicht genommen worden wäre. Die Einberufung der Europa-Konferenz kam gemäß westlicher Vorstellung nicht eher in Frage, als bis die Frage der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und das Zustandekommen einer Konferenz über wechselseitige Streitkräfteverringerungen in Europa feststanden. Die Vereinbarungen wurden durchein "geschäftsmäßiges Herangehen" der sowjetischen Seite ermöglicht. Das heißt, daß sich die sowjetische Seite in den praktischen Fragen, die zu regeln waren, zu Kompromissen bereit fand. So gab sie sich damit zufrieden, daß die Grenzen in Europa nach dem Moskauer Vertrag wechselseitig zu respektieren und kraft dieses Grundsatzes nicht mit Gewalt zu verändern sind. Dafür sah sie den territorialen Status quo in Mittel- und Osteuropa so weitgehend akzeptiert, daß sie künftig keine rechtliche Infragestellung mehr zu befürchen brauchte. Die UdSSR stimmte einem künftig ungehinderten Transitverkehr zwischen Westdeutschland und West-Berlin zu und zeigte sich auch willens, die DDR zur Übernahme entsprechender nicht-revozierbarer Verpflichtungen zu veranlassen. Auch die Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik Deutschland wurden in wesentlichen Punkten hingenommen, wofür sich die westliche Seite zu kleineren Einschränkungen hinsichtlich der Formen dieser Bindungen bereit fand. Auf der Europa-Konferenz, die offiziell die Bezeichnung "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" {KSZE) erhielt, erreichte es die Sowjetunion, daß der multilaterale Verhandlungsprozeß durch die lnaussichtnahme von Folgekonferenzen zu einer dauerhaften Einrich-

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tung wurde. Sie mußte jedoch auf die Bildung gesamteuropäischer Organe verzichten, die als Ausgangspositionen für das Geltendmachen eines Einmischungsanspruchs gegenüber Westeuropa und für eine Weiterentwicklung des Gewaltverzichtsarrangements zu einem NATO-ablösenden System kollektiver Sicherheit hätte dienen können. Die sowjetische Führung war, wenn sie im Zusammenwirken mit westlichen Regierungen bestehende Spannungen eindämmen und kritische Streitfragen regulieren wollte, auf das Einvernehmen mit ihren Verhandlungspartnern angewiesen. Daher mußte sie auf die kompromißlose Durchsetzung ihrer Wünsche verzichten, soweit sie auf einen klaren und festen Gegenwillen stieß. Die UdSSR konnte die Spielregeln der Entspannung nicht allein bestimmen; sie war genötigt, pragmatische Kompromisse einzugehen. Dies betraf jedoch nur das praktische Verhalten, nicht aber die grundsätzlichen Auffassungen. Eine gemeinsame Basis von zugrundezulegenden Rechtsprinzipien und mittel- oder langfristig anzustrebenden Zielperspektiven kam zwischen Ost und West nicht zustande. Der Konsens in praktischen Problemen wurde durch den Vorbehalt belastet, daß man wechselseitig einen Dissens hinsichtlich der Grundsatzpositionen hinnehmen mußte. Das Ost-West-Einvernehmen erhielt den Charakter eines Modus vivendi. bei dem die vordergründige Übereinstimmung über bestimmte Verhaltensregeln durch den gleichzeitigen Konflikt über Kontext und Sinn, die dieser Übereinstimmung beizulegen sei, gefährdet wurde. Einige Beispiele mögen dies näher verdeutlichen. Bei dem Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September 1971 blieb strittig, ob Gesamt-Berlin oder nur West-Berlin als der Gegenstand der Übereinkunft anzusehen sei. Zwar bezweckten die praktischen Regelungen, für die" Westsektoren Berlins" bestimmte Existenz- und Entwicklungsmöglichkeiten einvernehmlich festzulegen. Zugleich jedoch erschien es den Westmächtennicht zuletzt im Interesse einer rechtlichen Begründung ihrer Präsenz unverzichtbar, daß von dem Vier-Mächte-StatusGesamt-Berlins von 19441 45 keine Abstriche gemacht wurden. Die Sowjetunion bezeichnete demgegenüber den friiheren besatzungsrechtliehen Zustand für Ost-Berlin als nicht mehr existent und sprach der westlichen These jede Gültigkeit ab. Da praktische Maßregeln vor allem hinsichtlich der Probleme zu treffen waren, die aus der politisch-geographischen Insellage West-Berlins und den durch sie ermöglichten sowjetisch-ostdeutschen Pressionen gegen die Stadt resultierten, entschlossen sich beide Seiten zu einer Ausklammerung der Kontroverse. Bei Abschluß des Vier-Mächte-Abkommens wurde auf eine offizielle Bezeichnung des Gegenstandes verzichtet {so daß man einseitig von einem Berlin- bzw. von einem Westberlin-Abkommen sprechen konnte). Im Text nahmen die vertragschließenden Seiten auf das "betreffende Gebiet" als den Gegenstand des Übereinkommens

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Bezug (worunter sich sowohl Gesamt-Berlin als auch West-Berlin verstehen ließ). Da sich keine Einigung darüber erzielen ließ, ob Ost-Berlin Sektoren- oder Hauptstadtstatus habe, wurde dieser Teil Berlins angesprochen als "Gebiete, die an diese Sektoren [an die Westsektoren] grenzen". In ähnlicher Weise konnten sich die Unterhändler auf der KSZE zwar über bestimmte menschliche Erleichterungen, nicht aber über das Prinzip der vom Staat anzuerkennenden individuellen Rechts- und Freiheitsansprüche einigen. Daher wurde unter der Überschrift einer zwischenstaatlichen "Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen" bestimmte Verhaltensweisen aufgezählt, welche die Teilnehmerstaaten im Verkehr mit ihren Bürgern beobachten wollten. Im Katalog der zwischenstaatlichen Prinzipien fand der Ansatz, seitens der Regierungen bekundete Absichten gegenüber den Bürgern zum Ausgangspunkt zu machen, seinen Ausdruck in dem Prinzip der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten [durch den Staat]. Als auf der Belgrader Folgekonferenz westliche und neutrale Länder den Grundsatz der individuellen Rechts- und Freiheitsansprüche in den Mittelpunkt stellten, gab es keine Basis mehr füreine Diskussion der aufgetretenen Probleme. Das Verfahren, praktische Fragen zu regeln und die grundsätzlichen Standpunkte dabei auszuklammern, ist nicht problemlos: Ost und West dokumentieren damit, daß ihre übergreifenden Zielvorstellungen gegensätzlicher Art sind, und auch bei Behandlung der jeweiligen Einzelangelegenheit läßt sich der grundsätzliche Dissens nicht immer völlig ausklammem, woraus sich dann Schwierigkeiten bei der Anwendung getroffener Vereinbarungen ergeben können. Beispielsweise ist die Auffassung, daß die zu respektierenden Menschenrechte und Grundfreiheiten entweder ursprüngliche Ansprüche des Individuums oder aber dem Ermessen des Staates unterworfene Gewährungen sind, für die praktischen Konsequenzen bestimmend, wenn Personen und Gruppen sich nicht mit den von ihrer Regierung stellenweise zugestandenen Marginalverbesserungen begnügen und statt dessen sich im Widerspruch zur amtlichen Politik ihres Landes zu Anwälten verletzten Menschenrechts machen: Dem ersten Standpunkt zufolge ist die Aktivität zu tolerieren, während nach der zweiten Konzeption eine für die Staatsgewalt unerträgliche und daher von ihm nicht zu duldende Anmaßung von Untertanen vorliegt. Der Vorbehalt des Dissenses im Grundsätzlichen, den man als die "kleine Ausklammerung" bezeichnen könnte, zieht der Wirksamkeit des Modus vivendi Grenzen. Neben dem Streben nach einer vorbeugenden Konfliktentschärfung kommt für die sowjetische Entspannungspolitik auch der Wunsch nach wirtschaftlich-technischer Zusammenarbeit mit dem Westen als Motiv in Betracht. Das System der östlichen Zentralverwaltungswirtschaft bie-

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tet zuwenig Anreize für effizientes Verhalten und ist überdies mit Kornmunikationshemmnissen belastet. Daraus resultiert eine chronische Innovations- und Kapitalschwäche. Für die Weltmacht Sowjetunion bedeutet dies in doppelter Hinsicht eine Gefahr: Die materielle Basis ihrer politisch-militärischen Position ist längerfristig in Frage gestellt, und die Attraktivität ihres Überlegenheit beanspruchenden Herrschafts- und Gesellschaftsmodells droht innen- wie außenpolitisch verloren zu gehen. Der Versuch, das Problem durch grundlegende ökonomische Reformen zu lösen, wurde in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre aufgegeben, nachdem - vor allem am Beispiel der reformkommunistischen Tschechoslowa.kei- das politische Auswirkungspotential eines derartigen Wandels sichtbar geworden war. Seit 1968/69 ließ die sowjetische Führung zunehmend den Willen erkennen, als Alternative dazu mittels Ztisammenarbeit mit potenten westlichen Ländern Abhilfe zu schaffen. Praktisch ging es vor allem um einen möglichst umfassenden Technologie- und Kapitalimport aus dem Westen zu optimalen Bedingungen. Die sowjetische Führung mochte sich gute Chancen für ihre Politik ausrechnen, nachdem selbst während einer Phase akuter Ost-West-Spannungen der Handelsaustausch mit den meisten westeuropäischen Ländern ohne größere Schwierigkeiten und Restriktionen vonstatten gegangen waren. Viele westeuropäische Regierungen hatten sich zudem bereit gefunden, die Kredite, deren die östlichen Handelspartner der westlichen Exportfirmen bedurften, durch Garantien abzusichern oder sogar durch Zinszuschüsse zu subventionieren. Hinderlich für die Sowjetunion und ihre Verbündeten waren die Embargolisten der NATO, die jedoch bereits im Prozeß der Reduzierung begriffen waren. Ein großes Problem bedeutete auch die Anbieteschwäche der UdSSR, die vor allem aus dem vielfach niedrigeren technischen Standard, aus dem geringeren staatswirtschaftlichen Qualitätsniveau und aus mangelndem Sich-Einstellen auf die Bedürfnisse westlicher Märkte resultierte. Die sowjetischen Planer waren allerdings geneigt, die Schwierigkeiten wesentlich auf westlicherseits errichtete Handelshemmnisse - insbesondere auf Zollbelastungen und Kontingentierungen -zurückzuführen. Unter diesen Umständen ergaben sich für die UdSSR bestimmte außenwirtschaftliche Interessen im Verhältnis zum Westen. Die NATO-Staaten sollten möglichst alle Embargos aufheben, um so der Sowjetunion den uneingeschränkten Zugang zum technischen Know-how des Westens zu ermöglichen. Die westlichen Regierungen sollten dazu veranlaßt werden, die Wirtschaft ihrer Länder zur großzügigen Vergabe von günstigen Krediten an östliche Wirtschaftspartner zu ermutigen und auch selbst in großem Umfang derartige Kredite zu niedrigen Zinsen bereitzustellen. Wie Breshnev wiederholt deutlich gemacht hat, war die sowjetische Führung vor allem an der Finanzierung von Großprojekten inter~iert, wel-

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ehe die modernste westliche Technik in größtem Umfang nach der UdSSR transfeireren würden. Der sowjetischen Seite war klar, daß sie eine derartige Begünstigung durch westliche Staaten nur dann erwarten konnte, wenn durch die Schaffung eines Entspannungsklimas die politischen Voraussetzungen dafür entstanden waren. Schließlich ging es Moskau noch um die generelle Abschaffung der westlichen Importzölle und Einfuhrbeschränkungen. Der Europa-Konferenz war die Aufgabe zugedacht, die Teilnehmerstaaten zu einer Beseitigung dieser Handelshemmnisse zu verpflichten. Da Zölle und Kontingente nur in marktwirtschaftliehen Ländern eine außenpolitische Regelungsfunktion besitzen (während in Staatshandelsländern der Außenhandelsplan und die Planerfüllungsbedürfnisse über das Ausmaß der Importe entscheiden), zielte das sowjetische Verlangen auf eine einseitige Konzession der westlichen Staaten ab. Die Leiter der sowjetischen Politik waren daneben streng darauf bedacht, daß die westliche Seite den von ihnen angestrebten Handelsaustausch in keiner Weise mit irgendwelchen politischen Bedingungen verknüpften. Das sowjetische Streben nach wirtschaftlich-technischer Zusammenarbeit mit dem Westen ließ sich weithin verwirklichen. In großem, wenn auch nicht ganz in dem erwarteten Umfang flossen westliche Krediteallerdings nicht immer zu den gewünschten Vorzugskonditionen. Die westlichen Regierungen bauten ihre Zölle und Kontingentierungen weithin ab, waren jedoch - wie sich beispielsweise auf der KSZE zeigte nicht zu einem grundsätzlichen Verzicht ohne Gegenleistung bereit. Der Ost-West-Handel nahm einen großen Aufschwung. Im Laufe der Zeit jedoch begannen die strukturellen Schwierigkeiten immer deutlicher in Erscheinung zu treten. Die Verschuldung der Staatshandelsländer wuchs in einem Ausmaß, das neue Kreditierungen zunehmend problematisch erscheinen läßt. Der Grund dafür ist vor allem darin zu suchen, daß das östliche Angebot im Bereich der Fertigwaren für westliche Importeure vielfach uninteressant ist. Breshnevs Großprojekte konnten nur zu einem sehr geringen Teil begonnen werden - und auch da kam es kaum zu einer westlichen Kreditierung in dem erhofften Umfang und zu den erhofften Bedingungen. Die sowjetischen Vorschläge für eine großangelegte wirtschaftlichtechnische Zusammenarbeit haben im Westen vielfach die Sorge hervorgerufen, daß die ökonomische Entlastung, die der UdSSR dadurch zuteil werde, Kapazitäten für die sowjetische Rüstung freimachen würden. Die forcierten Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion verleihen dieser Argumentation eine gewisse Plausibilität. Allerdings vermag niemand im Westen zuverlässig das Ausmaß zu bestimmen, in dem die sowjetische Führung ohne westliche Hilfe die dann notwendigen Einschränkungen auf den zivil- bzw. den militärwirtschaftlichen Sektor verteilen würde.

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Deutlich scheint jedoch ein anderer Zusammenhang zu sein. Im Interesse einer künftigen Sicherung ihrer materiellen Basis richtet sich die sowjetische Seite langfristig auf westliche Lieferungen und Arbeitsleistungen ein, auf die sie nicht ohne schweren Schaden für im Bau befindliche und abgeschlossene Industriekomplexe verzichten kann. Anders als während der stalinischen Autarkiephase gliedert sich damit die UdSSR grundsätzlich in das Netzwerk weltwirtschaftlicher Interdependenzen ein. Angesichts der Schnelligkeit des technischen Fortschritts im Westen wird sie dabei nach dem Urteil von Sachverständigen weiter in einem gewissen zeitlichen Abstand von der neuesten Entwicklung bleiben und damit auch weiter Bedarf an westlicher Aufbauhilfe entwickeln. Es ist zudem zu bezweifeln, ob sich das Problem, die sowjetische Wirtschaft umfassend und durchgreifend zu modernisieren, allein durch die Schaffung von Sektoren moderner westlicher Technik im Lande lösen läßt. Das Fazit lautet, daß sich die Erwartungen, welche die sowjetische Führung an die wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit mit dem Westen geknüpft haben dürfte, nur zu einem Teil erfüllt werden können. Einen schweren Rückschlag hat die sowjetische Politik im Verhältnis zu den USA erlitten. Mit der Administration Nixon-Kissinger wurde ein Handelsvertrag abgeschlossen, von dem sich die sowjetische Seite einen breiten Zugang zur amerikanischen Technik und eine beträchtliche amerikanische Finanzhilfe für ihren Aufbau erhoffte. Der amerikanische Senat jedoch band die getroffene Übereinkunft an die politische Bedingung, daß die UdSSR dafür in liberaler Weise die Ausreise nationaler Minderheiten, insbesondere jüdischer Bürger, zulassen müsse. Dieses Junktim widersprach grundsätzlich den sowjetischen Vorstellungen von dem Rahmen, innerhalb dessen eine witrschaftlich-technische Zusammenarbeit stattfinden sollte. Dem stand gegenüber, daß die geforderte Konzession der Sache nach begrenzt erschien. Die sowjetische Führung hatte ein so großes Interesse daran, auch mit den Amerikanern in ein kooperatives ökonomisches Verhältnis einzutreten, daß sie sich zu informellen Absprachen bereit fand und die Zahl der jüdischen Auswanderer stark ansteigen ließ. Der amerikanischen Vorkämpfer des Junktims, Senator Jackson, sah sich daraufhin bewogen, die getroffene Abmachung öffentlich zu propagieren als einen Modellfall dafür, wie man mit der Sowjetunion umgehen müsse. Den Leitern der sowjetischen Politik mußte der Bruch der Diskretion unangenehm sein. Öffentlich als wirtschaftlich erpreßbar dazustehen, war für sie als die Repräsentanten einer Weltmacht unerträglich. Daher kündigten sie den Handelsvertrag Anfang 1975 auf. Ein wesentliches Moment, das nach ihrer Absicht zur Entspannung gehören sollte, kam damit in Wegfall. Die sowjetische Seite rückt Sicherheit und Zusammenarbeit als die Schwerpunkte ihrer Entspannungspolitik in den Vordergrund. Nach

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verbreiteter westlicher Ansicht fehlen jedoch in beiden Bereichen entscheidende Komponenten des Miteinander. Die sowjetische Politik der wechselseitigen Sicherheitsgewährleistung läuft darauf hinaus, den Verzicht auf die Anwendung und Androhung von Gewalt in den Ost-WestBeziehungen zwar mittels politischer Willenserklärungen, nicht aber mittels Arrangemente der militärischen Ausgewogenheit in Europa zu vollziehen. Die Zusammenarbeit zwischen Ost und West soll nach sowjetischer Absicht auf den wirtschaftlich-technischen Bereich beschränkt bleiben und möglichst alle Verbindungen zwischen den Gesellschaften ausschließen. Die sowjetische Führung hat auch in Zeiten stagnierender oder zurückgehender militärischer Anstrengungen auf westlicher Seiten den Ausbau der eigenen und verbündeten Streitkräfte stetig mit großer Energie vorangetrieben. Dabei ist insbesondere das traditionelle militärische Obergewicht des Warschauer Pakts auf dem europäischen Schauplatz außerordentlich vergrößert worden. Dieser Umstand gewinnt für die militärische Relation zwischen Ost und West dadurch besonderes Gewicht, daß auf strategischer Ebene die frühere amerikanische überlegenheit einem anerkannten Paritätsverhältnis zwischen den beiden Supermächten Raum gegeben hat und daß nach den Befürchtungen westlicher Sachverständiger ein sowjetisches Streben nach strategischer Supermatie künftig nicht ausgeschlossen, vielleicht sogar wahrscheinlich ist. Diese enorme Rüstung, die nach westlichen Schätzungen rund 13 °/o des sowjetischen Bruttosozialprodukts aufzehren dürfte, fällt um so mehr ins Auge, als die UdSSR unter den entwickelten Staaten ein relativ ziemlich armes Land ist und mit beträchtlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Welche Vorstellungen liegen dem sowjetischen Verhalten zugrunde? Den Aussagen maßgeblicher sowjetischer Funktionäre läßt sich entnehmen, daß sie die Sicherheit ihres Landes und die daraus resultierenden militärischen Erfordernisse als etwas ansehen, das nur sie allein definieren können und das zu beurteilen einer anderen Macht nicht zusteht. Die freie Entscheidung darüber, was als Sicherheit für das eigene Land anzusehen ist und welche Potentiale zur Gewährleistung dieser Sicherheit notwendig sind, gehört demnach zu den unveräußerlichen Souveränitätsrechten des Sowjetstaates. Sicherheit wird in subjektivem Sinne verstanden: Was sicherheitspolitisch eine notwendige Defensivkapazität ist und was als eine darüber hinausgehende, für andere bedrohliche Offensivkapazität zu gelten hat, kann nicht von außen her objektiv festgelegt werden. Daher erscheint ein internationales Einvernehmen über eine Rüstungskontroll-Regelung, die jedem beteiligten Staat die zur Wahrung seiner Sicherheit erforderlichen Mittel zuteilt und ihm im Interesse seiner Abkommenspartner die Mittel einseitiger Bedrohung neh-

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men soll, von vornherein als eine zweifelhafte Sache. In dieser Sicht kann das Bemühen um die eigene Sicherheit grundsätzlich keine Rücksicht auf die Sicherheit anderer Länder nehmen. Der anderen Seite wird nicht derselbe Anspruch auf Sicherheit zugebilligt, wie ihn die UdSSR für sich selbst erhebt. Dieses sowjetische Sicherheitsverständnis läßt sich als Schlußfolgerung aus historischen Erfahrungen fehlender Sicherheit und akuter Bedrohung auffassen. Das Streben nach militärischer Überversicherung ist wie die Gewohnheit übergroßer Vorsicht beim Eingehen von Risiken ein Hinweis darauf, daß Erinnerungen erlebter Unsicherheit lebendig sind und daß ungleich größere Anstrengungen als anderwärts zur künftigen Ausschaltung ähnlicher Gefahren notwendig scheinen. Dieses zweifellos vorhandene defensive Motiv schließt jedoch nicht aus, daß auch offensive Antriebe wirksam sein könnten oder daß ursprünglich auf defensiven Erwägungen heraus entwickelte Potentiale eine offensive Dynamik entfalten könnten. Wenn die sowjetische Führung aus übermäßigem Sicherheitsbedürfnis heraus einen Zustand absoluter eigener Sicherheit erreicht und infolgedessen anderer Arten ohne Gefahr für sich selbst bedrohen kann, dann läuft dies auf einen Zustand militärischer Überlegenheit hinaus, der eine Instrumentierung der bewaffneten Macht zu offensiven politischen Zwecken zuläßt oder sogar nahelegt. Ansätze dazu lassen sich feststellen. Außerhalb des Wirkungsbereichs von NATO und Warschauer Pakt setzt die sowjetische Führung mit Unterstützung von Verbündeten wie Kuba und der DDR militärische Macht expansiv ein, um bestimmte Gebiete ihrem Einfluß zu unterwerfen und zu Bastionen einer potentiellen Bedrohung für westliche Länder auszubauen. Im direkten Ost-West-Verhältnis hat die sowjetische Seite bisher entsprechend ihren zwei- und mehrseitig übernommenen Verpflichtungen auf die Anwendung oder Androhung von Gewalt verzichtet. Dennoch kann auch hier die Militärmacht in der Sicht der sowjetischen Führer eine Funktion haben, zumindest aber bekommen, die über die bloße Abschreckung oder Abwehr eines hypothetischen westlichen Angriffs hinausgeht. Generell kann die sowjetische Militärmacht als ein entscheidender Faktor gelten, welcher der UdSSR allenthalben Respekt verschafft. Offizielle Äußerungen deuten darauf hin, daß die sowjetische Führung es vielfach tatsächlich auf diese Wirkung abgesehen hat. Diejenigen Personen und Gruppen in anderen Ländern, die auf sowjetische Wünsche einzugehen bereit sind, werden im Gegensatz zu ihren Opponenten regelmäßig als "realistisch" bezeichnet. Wie zuweilen ausdrücklich hinzugefügt wird, haben die betreffenden Kräfte die machtpolitischen Realitäten erkannt und daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen. Bei dieser Sicht der Dinge erstaunt es nicht, wenn die bewaffnete Macht des

Gerhard Wettig Sowjetstaates als eine wesentliche Komponente seines außenpolitischen Erfolges angesprochen wird. Die Leiter der sowjetischen Politik streben möglicherweise danach, in näherer oder fernerer Zukunft quantitativ und qualitativ weiterreichende Wirkungen als gegenwärtig zu erzielen. Während des KSZEProzesses und bei den verschiedenen Rüstungskontroll-Verhandlungen ist immer wieder das Bemühen hervorgetreten, eine Abkopplung Westeuropas von den USA zu fördern, einen politischen Zusammenschluß der westeuropäischen Staaten ein für allemal unmöglich zu machen und eine Entwicklung auf ein kollektives Sicherheitssystem in Europa hin einzuleiten, das allmählich die NATO zu überlagern und auszuhöhlen geeignet wäre. Alle diese Anstrengungen würden, wenn sie Erfolg hätten, die westeuropäischen Staaten der Gemeinsamkeit und des Bündnisschutzes berauben. Das würde dem Vehrältnis wechselseitiger Abschreckung zwischen Ost und West ein Ende bereiten und der sowjetischen Seite die Möglichkeit der risikolosen Ausübung von Pressionen gegen Westeuropa verschaffen. Gegen eine Ausdehnung der Ost-West-Zusammenarbeit vom wirtschaftlich-technischen auf den gesellschaftlich-menschlichen Bereich macht die sowjetische Führung geltend, "Sozialismus" und "Kapitalismus" könnten als historisch gegensätzliche Formationen genauso wenig zusammengebracht werden wie Wasser und Feuer. Beide Systeme stünden durch die ihnen jeweils eigener Natur unaufhebbar in einem ideologischen Kampf gegeneinander. Nun wird auch auf westlicher Seite nicht bestritten, daß die Prinzipien, nach denen die beiden Herrschaftsund Gesellschaftsordnungen funktionieren, in mancher Hinsicht unvereinbar sind. Daraus wird jedoch eine andere praktische Konsequenz gezogen: Nicht ein Kampf mit dem Ziel der Niederringung des anderen Systems, sondern ein lernorientierter Wettstreit bzw. Dialog soll der Austragung des bestehenden Konflikts dienen. Ein weiteres Moment bestimmt die sowjetische Haltung. Grundsätzlich gilt, daß die Ost-West-Beziehungen eine Angelegenheit der Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunktionäre ist. Am Kontakt, · Gedankenaustausch und Informationsfluß über die Ost-West-Scheidelinie hinweg sollen möglichst nur diese Funktionäre teilhaben. Soweit sich die Einbeziehung von Bürgern als notwendig erweist, die nicht offizielle Repräsentanten des Sowjetstaates sind, erscheint eine offizielle Kontrolle notwendig. Das entspricht dem autoritären sowjetkommunistischen Verständnis, demzufolge die Führung allein· im vollen Besitz des Wissens um die richtige marxistisch-leninistische Politik ist und daher auch allein die Fähigkeit zur Wahrnehmung des objektiven Allgemeininteresses besitzt. Die spontan agierenden "Massen" dagegen sind nach dieser Auffassung stets mangelnder "Bewußtheit" verdächtig und müssen von

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oben her auf eine ihrem objektiven Interesse gemäße Linie gebracht werden. Die Gefahr, daß Bewußtheitsdefizite an der gesellschaftlichen Basis natürlich von dem amtlich vorgesehenen Weg ablenken, erscheint besonders gravierend bei Berührungen mit dem "Klassenfeind". Für die Repräsentanten eines konservativen feindlichen Systems ist die Vorstellung ein Alptraum, daß unkontrollierte Ost-West-Begegnungen zu Tendenzen einer zwischengesellschaftlichen Annäherung und zu erhöhter Kritikfreudigkeit und Änderungsneigung in der eigenen Öffentlichkeit führen könnten. Ebenso ernst erscheint die Aussicht auf ein allmählichesDahinschwinden des amtlich propagierten ideologischen Feindbildes vom Westen. Dieses Feindbild hat die innenpolitische Funktion, die Unzufriedenen im eigenen Land durch den Hinweis auf eine gemeinsame auswärtige Bedrohung zu disziplinieren. Seit im Zeichen der Entspannung staatlich definierte Feindschablonen (wie der "westdeutsche Revanchismus" oder der "amerikanische Imperialismus") entfallen sind, ist der ideologische Antagonismus zu einem für unerläßlich erachteten Ersatz geworden. Die These vom ideologischen Feind im Westen besitzt jedoch auch außenpolitisch sehr weitreichende Implikationen. Sie verhindert einen Abbau des prinzipiellen Ausschließlichkeitsanspruchs, der in der Oktoberrevolution von 1917 seine historischen Wurzeln hat und der bei Bedarf auch heute noch von der sowjetischen Seite gegenüber westlichen Ländern geltend gemacht wird. Alle Aktionen und Forderungen, die auf andere Weise nicht zu begründen wären, lassen sich durch das ideologische Argument von dem historischen Recht des "Sozialismus" gegenüber dem von ihm zu verdrängenden "Kapitalismus" rechtfertigen. Die Ideologie läßt sich immer herbeizitieren, wenn es darum geht, das moralisch-politische Urteil über sowjetisches Verhalten von sonst angewandten Kriterien zu lösen. Ein genereller Doppelstandard wird hinsichtlich der Ost-West-Auseinandersetzung auf der gesellschaftlichen Ebene gefordert. Der Konflikt soll einerseits zwischen den Gesellschaften zu beiden Seiten der Scheidelinie ausgetragen werden. Gemäß dem Abschirmungspostulat soll er jedoch keinesfalls innerhalb der östlichen Gesellschaften stattfinden. Demnach kann es bei diesem Ringen Sieg und Niederlage nur auf westlichen Schauplätzen geben, während die östlichen Schauplätze infolge der repressiven Praktiken der sowjetkommunistischen Regime unter der uneingeschränkten Kontrolle Moskaus bleiben soll. Soweit diese Spielregel durchgesetzt wird, kann es für die sowjetische Führung nur um einen Status quo plus gehen. Die beabsichtigte strikte Trennung zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Bereich - Ost-West-Zusammenarbeit im zwischenstaatli-

Gerhard Wettig chen Verhältnis bei gleichzeitiger Ost-Abschirmung im gesellschaftlichen Bereich - hat sich freilich in der praktischen Politik nicht voll durchhalten lassen. Vor allem bei den Verhandlungen über eine Berlin-Regelung, über den Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR und über die Schlußakte der KSZE haben die westlichen Partner mit Erfolg darauf bestanden, daß die Entspannung auch eine menschliche Dimension haben müsse und daß eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit bei einer gleichzeitigen totalen Kooperationsverweigerung im menschlich-gesellschaftlichen Bereich ausgeschlossen sei. Die sowjetische Führung und ihre Verbündeten sahen sich im Interesse des von ihnen angestrebten politischen und wirtschaftlichen Zusammenwirkens zwischen Ost und West dazu veranlaßt, ihre Abschirmpraxis durch eine zwar eng begrenzte, aber doch deutlich fühlbare Verringerung der Hemmnisse gegen transnationale gesellschaftliche Prozesse zu relativieren. Die Arrangements, die getroffen wurden, sind freilich prekärer Art. Das ausgeprägte Widerstreben der meisten östlichen Führungen hat, verstärkt durch die Problematik einer gewissen Freisetzung von gesellschaftlicher Spontaneität innerhalb eines restriktiveren autoritären Systems, logischerweise dazu geführt, daß die Abmachungen vielfach durch innerstaatliche Gegenmaßnahmen konterkariert, durch sinnverändernde Interpretationen entschärft oder auch einfach in der Alltagspraxis ignoriert wurden. Dessen ungeachtet, ließen sich in vielen Anwendungsbereichen sehr weitreichende Auswirkungen nicht verhindern. Die Entspannungspolitik hat damit, ganz entgegen sowjetischer Absicht, in einem beschränkten Ausmaß zu gesellschaftlichen Auflockerungen im Osten geführt, die freilich immer wieder auch amtliche Repressalien ausgelöst haben. Dem steht im Wesen gegenüber, daß in den westeuropäischen Ländern Herausforderungen für den westlich-demokratischen Konsens entstanden sind - etwa durch die zunehmende Rolle kommunistischer Parteien und antiparlamentarisch-sozialistischer Gruppierungen (die freilich nicht mehr überall und vorbehaltlos der KPdSU folgen). Auch an der Entwicklung der Ost-West-Beziehungen im gesellschaftlichen Bereich zeigt sich, daß die sowjetische Führung die Spielregeln der Entspannung nicht nach ihren Wünschen bestimmen kann, daß vielmehr die westlichen Staaten ihre Vorstellungen bei der Auseinandersetzung um diese Spielregeln ebenfalls zur Geltung bringen können.

DIE ENTSPANNUNGSPOLITIK DER WESTLICHEN STAATEN Von Hans-Peter Schwarz Jedermann weiß, daß die meisten westlichen Regierungen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre dazu übergegangen sind, die eigene Ostpolitik als Entspannungspolitik oder etwas ähnliches zu definieren. Angesichts dieses nicht wegzuleugnenden Umstandes ist es nicht einfach, mit einiger Sicherheit zu bestimmen, was denn nun eigentlich Entspannungspolitik ist und welche Staatsmänner als Entspannungspolitiker bezeichnet werden sollen. Läßt man sich aber vom semantischen Gleichklang nicht beirren, so zeigt sich doch, daß im Westen, beginnend mit dem Jahr 1953, Staatsmänner, Regierungen und Parteien auftreten, die sich in besonderer Weise der Entspannungspolitik verschrieben haben. Man erfaßt also die Eigenart des Phänomens am besten, wenn man nach durchgehenden Merkmalen dieser Denkschulen fragt. In der Periode zwischen 1953 und 1956 war es vor allem die britische Regierung unter Winston Churchill, zeitweise auch die französische Regierung und ebenso die deutsche Sozialdemokratie und die britische Labour Party, die dazu aufriefen, die flexiblere Westpolitik von Malenkow, Bulganin und Chruschtschow ernsthaft zu testen und alle Anstrengungen zur Beendigung des Kalten Krieges zu unternehmen. In der Phase westlicher Disengagement-Diskussion von 1956 - 1958 verstanden sich wiederum die deutschen Sozialdemokraten, Labour und in Italien Pietro Nenni mit seinem PSI als Protagonisten der Entspannungspolitik. Diese war also im westeuropäischen Kontext vor allem eine Angelegenheit der gemäßigten Linksparteien. Daß daneben auch die westeuropäischen Kommunisten die sowjetische Doktrin der friedlichen Koexistenz übernahmen, bedarf kaum der Erwähnung. Doch auch bei Präsident Eisenhower zeigen sich Ansätze zur Entspannungspolitik wie umgekehrt auf sowjetischer Seite bei Chruschtschow, der immerhin auf dem XX. Parteitag die Doktrin der friedlichen Koexistenz als offizielle Grundlinie der Ost-West-Beziehungen verankert hat. Viel ausgeprägter als Eisenhower hat aber in dieser Periode Premierminister Macmillan versucht, die westliche Ostpolitk als Entspannungspolitik zu artikulieren. Wie weit selbst Bundeskanzler Adenauer in diesen Zusammenhang gehört, wird noch zu erörtern sein.

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Der bedeutendste westeuropäische Entspannungspolitiker der Periode zwischen 1964 und 1969 war General de Gaulle. Aber auch Kennedy hat die amerikanische Ostpolitik seit der Rede in der American University als Entspannungspolitik präsentiert. Präsident Johnson ist ihm trotz der antikommunistischen Propaganda im Vietnam-Krieg gefolgt, und auch auf sowjetischer Seite, doch ebenso in Polen, der CSSR, Rumänien wurde die eigene Ost-West-Politik als Entspannungspolitik artikuliert. Selbstverständlich blieb zu dieser Zeit die gemäßigte wie die radikale Linke in Westeuropa auf Entspannungskurs. Anders als in den fünfziger Jahren wußte sie sich, zumindest in bezug auf die großen Slogans, im Einklang mit der Ostpolitik in Washington, Bonn und Paris. Zu oft wird beim Blick auf die Großmächte auch vergessen, wie intensiv gerade in den sechziger Jahren der Beitrag der kleineren Staaten beiderseits des Eisernen Vorhanges gewesen ist. Protagonisten der Entspannungspolitik von der Wende der sechziger zu den siebziger Jahren waren dann Ni.xon und Kissinger in den USA, Brandtin der Bundesrepublik und Breshnew in der Sowjetunion. Was zeigt diese Beobachtung? Müssen wir daraus den Schluß ziehen,

daß der Terminus Entspannungspolitik eine nichtssagende Leerformel

ist, wenn er so verschiedenartige Politiken wie die Churchills und Gaitskells, der SPD und Eisenhowers, de Gaulies und Chruschtschows bezeichnet? Man müßte in der Tat an der Brauchbarkeit des Begriffes Entspannungspolitik und Entspannungspolitiker verzweifeln, wenn man diese Politiken allein von den Zielen und von den- oft unausgesprochenen- Motiven her definieren wollte.

Aber es gibt eben doch Gemeinsamkeiten, die bei den Protagonisten der Entspannungspolitik und in den großen Perioden west-östlicher Entspannungtrotz aller Auffassungsunterschiede durchgehend sind: 1. Die eigene Entspannungspolitik wird als langfristig angelegtes, alle Bereiche der Ost-West-Beziehungen erfassendes Konzept formuliert und operationalisiert. Diese Politik soll die Ost-West-Beziehungen grundlegend verbessern, soll sie normalisieren.

Noch wichtiger aber als die Bekundung guter Absichten, die in der Diplomatie leicht über die Lippen zu gehen pflegt, ist die Bekundung guter Erwartungen! Entspannung wird als ein dynamischer Geschichtsprozeß bezeichnet, der die Gesamtheit der Ost-West-Beziehungen ergreift und positiv verändert. Entspannungspolitik ist demnach eine außenpolitische Strategie, die auf einer optimistischen Geschichtstheorie beruht. 2. Die Protagonisten der westlichen Entspannungspolitik weisen dieser zudem einen vorrangigen, wenn nicht gar den vorrangigen Stellenwert in den internationalen Beziehungen zu. Fortschritte auf diesem

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Feld, Gefahren für die Entspannungspolitik werden sowohl im zwischenstaatlichen Verkehr wie auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung als Ereignisse begriffen, die fette Schlagzeilen verdienen. Mit einiger Überspitzung kann man sagen: die Entspannungspolitiker definieren ihre Außenpolitik primär als Entspannungspolitik - was immer dies substantiell auch sein mag. Wir heben also darauf ab, Entspannungspolitik in einem spezifischen Sinn dadurch zu kennzeichnen, daß sie als umfassendes und langfristiges Konzept präsentiert, vielleicht sogar geglaubt wird. Dieses Konzept, so wird von den Entspannungspolitikern ausgeführt, wird durch objektive Entwicklungen des Geschichtsprozesses erzwungen oder gefördert. Und die Entspannungspolitiker weisen dieser Politik, worauf sie sich auch immer im einzelnen bezieht, einen vorrangigen Stellenwert in der gesamten Außenpolitik zu. Entspannungspolitiker sind also meist Konzeptualisten. Häufig bekunden sie eine in bezugauf die Ost-West-Beziehungen optimistische, evolutionäre Geschichtsphilosophie, und sie schätzen es in den großen Momenten der Entspannungspolitik, sich wie Entspannungsmonomanen aufzuführen. Ob sie auch an das Gesagte glauben, sei dahingestellt Wir schlagen vor, Entspannungs.politiker, ·die diese Merkmale erkennen lassen, als dramatische Entspannungspolitiker zu bezeichnen - dramatisch deshalb, weil sich ihr Stil in den Ost-West-Beziehungen deutlich von dem Pragmatismus der Routinediplomatie und von der gelassenen Verwaltung des Status quo unterscheidet. Wenn wir von Entspannungspolitikem, Entspannungsregierungen und Entspannungsparteien sprechen, so sollte das Wort "Politiker" und "Politik" dabei nicht überhört werden. Politiker wandeln sich natürlich, Politik verändert sich. Premiermnister Churchill, der seit Stalins Tod auf einen Gipfel zur Beilegung der Ost-West-Differenzen drängte, war in den Jahren 1953 und 1954 ebenso ein dramatischer Entspannungspolitiker wie der Churchill der Jahre 1946 bis 1952 ein dramatischer Protagonist des Kalten Krieges gewesen ist. De Gaulle war 1947 bis 1950 glei~ falls ein typischer Exponent der Kalten Kriegs-Schule, 1958 bis 1963 allenfalls ein Befürworter vorsichtiger und pragmatischer Entspannungs-politik. Seit 1964 hat er sich als Prototyp dramatischer westlicher Entspannungspolitik einen Namen gemacht. Und Georges Kennan, den wir seit den Reith-Lectures als einen der maßgebenden Intellektuellen westlicher Entspannungspolitik kennen, hatte sich als Verfasser des "Langen Telegramms" vom Februar 1946 und des Aufsatzes "The Soucres of Soviet Conduct" aus dem Juni 1947 einen Namen als führender Kopf der Denkschule des Kalten Krieges gemacht. Auch Willy Brandt hat in den fünfzigerJahrennicht eben dem Entspannungsflügel seiner Partei angehört.

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Im allgemeinen ist die Kontinuität von Parteien im Bereich der Entspannungspolitik größer als die einzelner Politiker. Gemäßigte Linksparteientendieren stärker dazu, eine Politik dramatischer Entspannungsinitiativen zu befürworten als die gemäßigte Rechte. Aber wie das Beispiel der Tories in der Ära Macmillan oder umgekehrt das Beispiel der SFIO unter Guy Mollet zeigt, sind auch in dieser Hinsicht Veränderungen möglich. Neben dem dramatischen Entspannungspolitiker gibt es auch den pragmatischen Typ. Er ist in der Regel dadurch gekennzeichnet, daß er die Slogans und bestimmte tragende Elemente der pragmatischen Entspannungspolitiker aufgreift oder fortführt, aber gemäßigt, ruhig und vor allem in der Erkenntnis, daß es neben der Entspannungspolitik noch zahlreiche andere, gleichfalls vorrangige außenpolitische Aufgaben gibt. Die dramatische Entspannungspolitik de Gaulies wird von dem Entspannungspragmatiker Pompidou fortgesetzt. Auf den Entspannungsdramatiker Brandt folgt der Entspannungspragmatiker Helmut Schmidt. Man wird auch die westdeutsche Außenpolitik unter Erhard I Sehröder bzw. unter Riesinger I Brandt als pragmatische Entspannungspolitik verstehen können, die auf eine schrittweise Verbesserung der OstWest-Beziehungen abzielte. Auch die pragmatischen Entspannungspolitiker wollen normalisieren. Auch sie verwenden die bekannte Rhetorik und Argumentationsweise der dramatischen Entspannungspolitiker. Man vermißt aber bei ihnen die auffälligen Kernelemente der dramatischen Entspannungspolitik: das große, sowohl rhetorisch unentwegt entfaltete wie auch operativ gestaltete Konzept. Es fehlt die plakativ entrollte, opimistische Geschichtsphilosophie und es fehlt eben die Bereitschaft, der Entspannungspolitik vorrangigen Stellenwert zuzuschreiben. Bei einiger Vereinfachung kann man neben dem Typ des dramatischen und des pragmatischen Entspannungspolitikers auch noch weitere Verhaltenstypen im Bereich der Ost-West-Beziehungen erkennen: den Typ des dramatischen Anti-Kommunisten und des pragmatischen Anti-Kommunisten (oder, wem dies besser gefällt, des dramatischen bzw. des pragmatischen Kalten Kriegers). Der dramatische Anti-Kommunist: d. i. Winston Churchill in den Jahren 1946 bis 1952, General de Gaulle von 1947 bis 1950, John Forster Dulles, Konrad Adenauer bis 1955, Franz Josef Strauß seit 1969. Dramatische Anti-Kommunisten sind Intellektuelle wie James Bumham, Karl Jaspers bis 1959, Artbur Koestler, Raymond Aron und Albert Camus. Ihre Politik ist von den Entspannungspolitikern denkbar verschieden, doch ihr Stil weist auffällige Gemeinsamkeiten auf:

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1. Auch sind sie bestrebt, ihre Ostpolitik als relativ langfristig angelegtes Konzept zu artikulieren. Auch sie gehen von einer Geschichtstheorie aus, allerdings von einer pessimistischen, indem sie den Antagonismus zwischen dem sowjetischen Kommunismus und der freien Welt als langfristig unentrinnbares Schicksal des Westens auffassen; und so wie der dramatische Entspannungspolitiker jeden, der sich nicht für seine Vision begeistert, als moralisch und intellektuell inferior zu brandmarken neigt, zeichnen auch sie sich durch eine moralistische Politik aus. Sie fordern, daß jeder in diesem Konflikt Partei ergreift. Neutralismus ist amoralisch oder dumm, meist beides zugleich.

2. Der dramatische Kalte Krieger weist den Ost-West-Beziehungen gleichfalls einen vorrangigen Stellenwert zu. Sieg und Niederlage im OstWest-Konflikt entscheidet über das Wohl und Wehe der zivilisierten Menschheit. Demgegenüber geht auch der pragmatische Anti-Kommunist von einer skeptischen Lagebeurteilung sowjetischer Politik aus. Aber er weiß, daß es neben dem Ost-West-Konflikt auch andere Prioritäten gibt; er neigt viel weniger zu rhetorischer und operativer Konzeptualisierung und er weiß auch nicht genau, wohin sich die Geschichte tatsächlich entwickelt. Anders als der pragil1atische Entspannungspolitiker vermeidet er zwar zumeist rhetorische Kompromisse mit den Befürwortern der Entspannungspolitik. Seine antikommunistische Motivation im Innern und nach außen ist ebenfalls stärker. Dennoch sind pragmatische Entspannungspolitik und pragmatischer Anti-Kommunismus benachbart. Entscheidend ist bei beiden Grundeinstellungen das Überwiegen eines lebenspraktischen Pragmatismus. Die Dramatiker sind die Protagonisten. Sie helfen, die großen Themen durchzusetzen. Sie entwerfen die geschichtsmächtigen Visionen und sie setzen die Grundorientierung praktisch durch. Die Pragmatiker schließen sich flexibel an oder führen die Konzepte routiniert, aber ohne den großen Schwung weiter, auch, ohne sich voll damit zu identifizieren. Soweit diese recht stark vereinfachten grundlegenden Bemerkungen zum Phänomen der Entspannungspolitik und des Entspannungspolitikers.

Es folgen gleichfalls stark vereinfacht einige Versuche, grundlegende Merkmale westlicher Entspannungspolitik zu erklären. Obwohl es im Schrifttum an monographischen und diachronischen Arbeiten zur Entspannungspolitik nicht fehlt, steht die vergleichende Untersuchung des Phänomens noch ganz in den Anfängen. Somit empfiehlt es sich, mit einiger Bescheidenheit erst einmal verschiedene Hypothesen zu formulieren und diese jeweils knapp zu erörtern. 4 Entspannung

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Erste Hypothese: Westliche Entspannungspolitik hängt sehr viel weniger mit dem Rechts-Links-Gegensatz zusammen als häufig angenommen wird. In den Jahren 1948 bis 1952 waren sowohl die Parteien der politischen Rechten wie die der demokratischen Linken anti-kommunistisch. Kurt Schumacher und Ernest Bevin, Paul Ramadier und Guiseppe Saragat waren in ähnlicher Weise dramatische oder pragmatische Anti-Kommunisten wie Adenauer und Churchill, de Gaulle und de Gasperi. Es gab auf seiten der demokratischen Linken nur wenige Ausnahmen: Pietro N enni und sein PSI gehörten dazu. Das Zwischenfeld intellektueller Fellow-Traveller, die das Beste beider Welten- Verständnis für die Kommunisten und freiheitliche Demokratie - gleicherweise anstrebten, war sehr viel kleiner als früher oder später und fiel politisch nicht ins Gewicht. Der langsame Umschwung vom dramatischen Anti-Kommunismus zur Entspannungspolitik erfolgte bei der deutschen SPD in der Auseinandersetzung überStalins Noten-Offensive im Frühjahr 1952 und nach dem Tod Kurt Schumachers, in Großbritannien mit dem Tod Stalins. Dabei war es in Großbritannien aber ebenso die politische Rechte wie die demokratische Linke, die den anti-kommunistischen Konsensus durch einen Entspannungskonsensus ersetzte. Macmillan setzte sich ebenso für eine realistische Entspannungspolitik ein wie sein Gegenspieler Gaitskell in der Labour-Party. Die französischen Sozialisten, die sich vor allem im Algerien-Krieg stark engagiert hatten, aber auch in unmittelbarer innnenpolitischer Auseinandersetzung mit den französischen Kommunisten standen, waren in der Entspannungsfrage bis etwa 1956 geteilter Meinung. Sie verstanden sich nach einem Zwischenspiel 1955/56 erst Anfang der sechziger Jahre mehrheitlich und seither beständig als Befürworter pragmatischer Entspannungspolitik. Dabei sei es immerhin erwähnt, daß die revolutionären maoistischen und trotzkistischen Splittergruppen der extremen Linken seit Ende der sechziger Jahre gegenüber der Sowjetunion für einen Kurs des dramatischen Kalten Krieges eintreten. Die moskauorientierten kommunistischen Parteien folgten natürlich sowohl in den fünfziger wie in den sechziger Jahren der sowjetischen Entspannungspolitik, wobei sich auf seiten der italienischen Kommunisten schon relativ früh Sonderentwicklungen ergaben. Diese Parteien waren bis in die frühen siebziger Jahre hinein Befürworter dramatischer Entspannungspolitik, nachdem sie zuvor dramatische Kalte Krieger aufseitender Sowjetunion gewesen waren. Die britische Labour-Party blieb auch in den sechziger Jahren der unter Gaitskell begründeten Tradition pragmatischer Entspannungs-

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politik treu. Präsident de Gaulle, gewiß kein Mann der politischen Linken, war von 1964 bis 1969 der Prototyp des dramatischen Entspannungspolitikers. 1969 löste ihn Willy Brandt als Protagonist westeuropäischer Entspannungspolitik ab. Gewiß, linksliberale und sozialistische Intellektuelle neigten nach 1952/53 generell stärker zur dramatischen oder zur pragmatischen Entspannungspolitik als die Intellektuellen der Rechten. Aber nicht einmal diese Regel gilt ohne Ausnahme. In den fünfzigerJahrenwaren rechtsorientierte Intellektuelle wie Zehrer in der Bundesrepublik oder Lipman und Kennan in den USA Befürworter der Entspannung; ein Linksintellektueller wie Camus kritisierte sie. In den USA war die pragmatische Entspannungspolitik traditionellerweise bei den Linksliberalen beheimatet. Doch auch stärker konservative Publizisten wie Lipman und Kennan befürworteten sie nach 1953 - Lipmans ostpolitische Auffassungen haben sich im Grunde seit der Ära Roosevelt nicht grundlegend gewandelt. Es ist einigermaßen verblüffend zu sehen, wie sich alle Präsidenten seit Eisenhower in bestimmten Perioden oder auch durchgehend als dramatische Entspannungspolitiker empfahlen: Kennedy, der durchaus kein "liberal" war, aber sich mit diesen zur Pflege seines Öffentlichkeitsbildes umgab, begann, sich in den Monaten vor seiner Ermordung umsichtig als Entspannungspolitiker zu profilieren. Nach ihm wandte sich auch Johnson der Entspannungspolitik zu, vor allem aber dann der Republikaner Nixon und sein konservativer Maior Domus. Auch hier spielte die Absicht, sich die publizistische Unterstützung der Linksliberalen, Intellektuellen und Medien zu sichern, eine starke Rolle. Kurz: man kann nicht sagen, daß dramatische Entspannungspolitik eine typische Politik der Linken ist, obwohl linke, vor allem marxistische Intellektuelle, seit dem Zweiten Vatikanum auch in stärkerem Maße Linkskatholiken, in der Regel positiv darauf ansprechen und in der Publizistik zu den Hauptbefürwortern energischer Entspannungspolitik gehören.

Zweite Hypothese: Die ordnungspolitischen Vorstellung·en der westlichen BefürworteT dramatischer Entspannungspolitik lassen sich nicht zur Deckung bringen. Unter ordnungspolitischem Konzept wird dabei verstanden die Vorstellung von den Strukturen einer Weltfriedensordnung und europäischen Ordnung, in der sich die Ideen der eigenen Entspannungspolitik voll durchgesetzt haben. Die Gegensätze zwischen der Politik friedlicher Koexistenz, wie sie seit Chruschtschow für die Sowjetunion kennzeichnend ist, und zwischen

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den verschiedenen Schulen westlicher Entspannungspolitik sind evident und bedürfen keiner Erörterung. Natürlich macht die gegenseitige Aufrechnung der Gegensätze einen großen Teil der entspannungspolitischen Diskussion aus: im Ost-WestDialog ebenso wie im Dialog der westlichen Entspannungsschulen untereinander. Jede führt den Nachweis, daß die Gegenspieler keine wahre, keine eigentliche, keine richtige Entspannungspolitik betreiben. Es sei nicht bestritten, daß eine derartige Positionsklärung unerläßlich, ja für die Sicherheit des Westens lebenswichtig ist. Nur vermag sie unter analytischen Aspekten nicht besonders zu interessieren. Deshalb können wir auf eine diesbezügliche Erörterung verzichten. Aber selbst wenn man allein die westlichen Denkschulen im Hinblick auf ihre Vorstellungen von der wünschenswerten Ordnung im europäischen und Weltstaaten-System voneinander zu unterscheiden versucht, erheben sich erhebliche klassifikatorische Schwierigkeiten. Und es ist so gut wie unmöglich, zwischen den vielen Denkschulen der westlichen Entspannungspolitik substantielle Gemeinsamkeiten zu erkennen, wenn man einmal von so erhabenen Trivialitäten wie dem Wunsch absieht, kriegerische Auseinandersetzungen in Europa oder Übersee zu vermeiden und eine gewisse Normalisierung der Beziehungen zwischen Ost und West herbeizuführen. Ein Hauptproblem bei den Schwierigkeiten der Klassifikation liegt darin, daß die Ziele der einzelnen Entspannungsschulen und ihrer maßgebenden Politiker häufig im Dunkeln liegen oder widersprüchlich formulie.rt sind. Man betrachte beispielsweise die Einstellung zum Status quo der Teilung Europas und Deutschlands. Jede genauere Analyse erbringt hier höchst unterschiedliche und unklare Ziele. So findet man auf der einen Seite eine Anerkennung des Status quo mit oder ohne Vorbehalt; auf der anderen Seite Hoffnung auf tiefgreifenden Wandel (wie bei General de Gaulle) oder vorläufige Anerkennung des Status quo in der stillschweigenden Erwartung tiefgreifender Veränderung auf der Gegenseite (beispielhaft formuliert von Brzeszinski in "Alternatives to Partition" von 1964). Und wer wollte heute schon endgültige Aussagen darüber machen, ob die neue deutsche Ostpolitik der ersten Regierung Brandt primär auf eine Anerkennung des Status quo unter gewissen Vorbehalten abzielte, oder ob sie sich tatsächlich als eine Politik tiefgreifenden Wandels des europäischen Staatensystems verstanden hat? Und hat de Gaulle wirklich daran geglaubt, die grundlegenden Strukturen in Mitteleuropa verändern zu können? Die Ambivalenz der meisten Entspannungskonzepte macht also jeden Versuch, Entspannungspolitik nach den ordnungspolitischen Zielen zu klassifizieren, zu einem ziemlich müßigen Unterfangen. Entspannungs-

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politik ist, da sie au11angfristigen Wandel abzielt, aber kurzfristig die friedliche Koexistenz organisiert, eben immer naturnotwendigerweise vieldeutig und widersprüchlich. Die Vieldeutigkeit hängt auch mit der Eigenart umfassender Zukunftskonzepte zusammen. Sie ergibt sich ebenso aus dem Umstand, daß Konzepte innenpolitisch und diplomatisch gegen die Vorstellungen anderer durchgesetzt werden müssen: Rhetorik und Praxis, Entwurf und Verwirklichung sind zweierlei. Und man kann nicht erwarten, daß die Außenpolitiker und Diplomaten der zweitenHälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinsichtlich ihrer letzten Ziele und Motive offener sind als dies ihre Vorgänger in früheren Epochen waren. Außenpolitik ist und bleibt eben auch die Kunst des Verhüllens, des Täuschensund des Überlistens. Die Epoche der Entspannungspolitik macht von dieser Regel keine Ausnahme. Dritte Hypothese: Inwieweit die Evolution der westlichen Entspannungspolitik primär ein Reflex auf die sowjetische Westpolitik oder die amerikanische Ostpolitik ist, hängt von der Konstellation und den Umständen ab. Im großen und ganzen war aber die sowjetische Westpolitik für die Entwicklung der westeuropäischen Entspannungspolitik wichtiger als die Ostpolitik Washingtons. In vereinfachter Blickweise ist Entspannungspolitik in erster Linie eine Sache der Supermächte, die den Atomkrieg fürchten. Und die auf Washington und Moskau orientierte Staatenwelt schließt sich den Hegemonialmächten an. Diese Erklärung ist viel zu einfach. Immerhin hat sich die Entspannungspolitik in den Jahren 1953 und 1954 in Großbritannien und Frankreich früher durchgesetzt als in den USA, nicht zuletzt deshalb, weil diese Länder den Dritten Weltkrieg noch mehr fürchteten als die Amerikaner. Damals drängten besorgte Westeuropäer die Amerikaner an den Verhandlungstisch. Aber auch nachdem der amerikanisch-sowjetische Entspannungsdialog in Gang gekommen war, ist die Antwort Westeuropas auf den amerikanisch-sowjetischen Entspannungsdialog und auf begrenzte Kooperation der Supermächte immer recht unterschiedlich ausgefallen. Man beobachtet u. a. vier Arten von Reaktionsweisen: 1. Besorgte Versuche, ein Zusammenwirken der Supermächte, das auf Kosten Westeuropas gehen könnte, mit einer konzertierten, im ganzen härteren westeuropäischen Politik zu beantworten. (1957 in der PostSuez-Phase machte sich für kurze Zeit eine Tendenz zum westeuropäischen Zusammenspiel gegen amerikanisch-sowjetische Entspannungspolitik bemerkbar; 1959 bis 1961 fanden sich Adenauer und de Gaulle in

Hans-Peter Schwarz gemeinsamem Widerstand gegen die amerikaDisehe Berlin-Politik und die amerikanisch-sowjetischen Ansätze zur Kontrolle der Nicht-AtomMächte.) Doch der Widerstand hielt sich in Grenzen. Die Westeuropäer waren nie selbstbewußt und risikobereit genug, sich in ähnlicher Weise gegen amerikanisch-sowjetische Entspannungspolitik zu wenden, wie dies beispielsweise die Israelis unter Nixon und Kissinger getan haben. 2. Anpassung an den sowjetisch-amerikanischen Bilateralismus, wobei man Washington die Führung im Entspannungsdialog überläßt.(So beteiligte sich Großbritannien kontinuierlich an den Verhandlungen zur Kernwaffenkontrolle und an der gesamten amerikanischen Entspannungspolitik der sechziger Jahre; auch in der Entspannungsära Breshnew-Nixon paßte sich die öffentliche Meinung Westeuropas recht bebende an die Entspannungspolitik der Supermächte an.) 3. Präventive, unilaterale Entspannungspolitik westlicher Regierungen mit dem Ziel, eine Einigung der beiden Supermächte auf Kosten eigener Interessen zu verhindern. (Beispiele: Adenauers Politik gegenüber der Sowjetunion 1961 bis 1963, vor allem aber die Entspannungspolitik de Gaulies von 1964 bis 1969 und die "neue Ostpolitik" der Regierung Brandt 1969/70.) 4. Drängen auf größeres entspannungspolitisches Entgegenkommen der USA. (So vor allem 1953 bis 1955, aber auch während der Vorbereitungsphase von KSZE und MBFR, als Kissinger nach Meinung der Bundesrepublik und Italiens zu sehr zu zögern schien; die Kritik an der versteiften amerikanischen Ostpolitik im letzten Jahr der Ford-Administration und im ersten Halbjahr der Regierung Carter.) Welchen Einfluß hatte dabei die sowjetische Entspannungspolitik? Allem Anschein nach war das britische und französische Drängen der Jahre 1953 bis 1956 in erster Linie eine Antwort auf die sowjetischen Initiativen der ersten nach-stalinistischen Epoche; im Falle Frankreichs spielte 1954 auch der Indochina-Krieg eine erhebliche Rolle, daneben die Frage der deutschen Wiederbewaffnung, de Gaulies Ostpolitik von 1964 bis 1968 war ebenso eine Antwort auf sowjetische Avancen und auf die Evolution im Ostblock wie ein Element seiner Amerika-Politik. Dasselbe gilt für die "neue Ostpolitik" der ersten Regierung Brandt. Im ganzen werden Akzentsetzung und Lautstärke der Entspannungsdiskussion in der öffentlichen Meinung Westeuropas doch wesentlich mehr von sowjetischen Initiativen sowie von behutsamen Einflüssen anderer Ostblockländer bestimmt als von amerikanischen Impulsen. Eine gewisse Ausnahme von dieser Regel stellt die Ablösung der dramatischen westeuropäischen Entspannungspolitik durch ein pragmatisches Verhalten dar, das seit 1974 in ganz Westeuropa zu beobachten ist.

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Hier war wohl die Abkühlung in den USA doch entscheidend. In der Bundesrepublik war die seit 1973 zu beobachtende Enttäuschung über die unkooperative sowjetische Berlinpolitik ein Auslöser der Malaise. Jedenfalls war und ist die Entspannungspolitik in den einzelnen Staaten Westeuropas gegenüber den Weltmächten, vor allem aber gegenüber den USA, doch relativ autonom. Die Klientel ging in den vergangeneu Jahrzehnten sehr viel häufiger eigene Wege als es der Herrschaft lieb war.

Vierte Hypothese: Die Entspannungspolitik bringt in starkem Maße das individuelle Nationalinteresse der beteiligten Staaten zum Ausdruckdies erklärt auch die ungleichmäßige Intensität der Entspannungspolitik in den einzelnen Perioden. Daß der amerikanisch-sowjetische Entspannungsbilateralismus primär durch die Interessen der beiden Weltmächte diktiert wird, ist evident. Für die Vereinigten Staaten stand dabei das Interesse an einer nuklearen Kontrolle der Verbündeten und anderer Drittmächte gleichfalls im Vordergrund. Die Entspannungspolitik Präsident de Gaulies war kein Selbstzweck, sondern hatte ihre Funktion im Rahmen seiner Politik nationaler "grandeur" und Unabhängigkeit. Die Entspannungspolitik der Bundesrepublik am Ende der AdenauerÄra, während der sechziger Jahre und vor allem die "neue Ostpolitik" wurden in starkem Maß von gesamtdeutschen Überlegungen diktiert. Und man kann in Klammern darauf hinweisen, daß natürlich auch die Entspannungspolitik der nichtrussischen Ostblockstaaten in stärkstem Maße nationale Interessen vorsichtig durchzusetzen versucht. Ebensowenig fehlte es im westlichen Bereich allseits an innenpolitischen Zielsetzungen. Auf ihrem Höhepunkt zielte die Entspannungspolitik Nixons doch wohl in starkem Maß darauf ab, in der Endphase des Vietnam-Krieges und danach die veröffentlichte Meinung der linksliberalen Presse und der Fernsehanstalten sowie die meinungsbildenden Schichten der Ostküsten-Universitäten zu gewinnen und das schlechte Image des Kalten Kriegers Nixons zu schönen. Die Entspannungspolitik Macmillans war gleichfalls in starkem Maß durch wahlstrategische Erwägungen bestimmt. Doch war bei Macmillan auch das gemäßigt-pazifistische Element stark- seine Ostpolitik wurde zwischen 1958 und 1962 in starkem Maß von dem Bestreben bestimmt, seinem Land ein zweites 1914 zu ersparen. Die italienische Entspannungspolitik in der Periode des Centro Sinistra war gleichfalls stark von inneppolitischen Erwägungen getragen, ebetlSQ

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die "neue Ostpolitik" Brandts, deren dramatische Präsentation auch dazu bestimmt war, in den Reihen der SPD einen gewissen Konsens zu erhalten. Und die verbale Pflege des Entspannungsgedankens durch die Regierung Schmidt ist auch in erheblichem Maße durch Rücksichtnahme auf die eigene Parteiorganisation gekennzeichnet. Ähnliches läßt sich beim Blick auf die holländische Ostpolitik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre erkennen. Ob es sich also um primär außenpolitische oder innenpolitische Interessen handelt, in jedem Fall dominieren spezifische Gesichtspunkte der einzelnen Staaten. Beim Blick auf die letzten 25 Jahre kann man im großen und ganzen nicht von westlicher Entspannungspolitik sprechen, sondern nur von Entspannungspolitik westlicher Staaten.

Fünfte Hypothese: Die Entspannungspolitik der westlichen Regierungen war bis Ende der sechziger Jahre schwer, wenn überhaupt koordinierbar. Sie wird seit Anfang der siebziger Jahre in zunehmendem Maß durch multilaterale Koordination gekennzeichnet. Diese Hypothese läßt sich ziemlich gut verifizieren. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Genannt seien nur: 1. Die entspannungspolitischen Divergenzen früherer Perioden sind in starkem Maß dadurch bestimmt gewesen, daß sich die westeuropäischen Großmächte Frankreich und Großbritannien (Großbritannien vor allem unter Macmillan, Frankreich unter de Gaulle) noch eine eigene, initiativreiche Politik zutrauten.

Der Verlust der Kolonialimperien, die waffentechnische Entwicklung und eine sichtliche Hinwendung zu inneren Problemen haben bei beiden Großmächten die Tendenz verstärkt, die Entspannungspolitik sowohl im westeuropäischen Rahmen wie- im Fall Großbritanniens- transatlantisch zu koordinieren. Auf seiten wichtiger westeuropäischer Staaten ist seit Ende der sechziger Jahre auch das Bestreben unübersehbar, eine sonst unkontrollierbare bilaterale Entspannungspolitik der USA und der stark gewordenen Bundesrepublik im multilateralen Rahmen aufzufangen und so zu beeinflussen. Die kleineren westeuropäischen Staaten tendieren dazu, sich dem Verhalten der Großmächte anzupassen. Bis Anfang der siebziger Jahre betrieben sie bilaterale Entspannungspolitik, wobei sie sich vor allem auch auf die kleineren Ostblockstaaten konzentrierten. Sie ahmten dabei die Großmächte nach. In den siebziger Jahren beteiligten sie sich erfreut an der stärker multilateralen Entspannungspolitik, weil ihnen dies gewisse Einflußmöglichkeiten auf die Ostpolitik der Große11 gab.

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2. Ein weiterer Hauptgrund für das gestiegene Maß an Multilateralisierung war die Erkenntnis, daß eine Wiederherstellung des nationalstaatliehen Systems der Zwischenkriegszeit nicht mehr möglich ist. Die späten sechziger Jahre vor dem August 1968 haben diese Illusion zwar nochmals aufblühen lassen. Doch das russische Eingreüen in Prag und die Anfang der siebziger Jahre erfolgende amerikanische Entscheidung zum militärischen Verbleib in Europa haben deutlich gemacht, daß die östlichen und die westlichen Verbundsysteme in Europa eine dauerhafte Grundstruktur aufweisen, die von der Entspannungspolitik nicht fundamental verändert werden kann. Dies gilt, solange der Friede zwischen Ost und West erhalten bleibt, solange die Weltmächte zur Führung in ihren Hegemonialsystemen bereit und in der Lage sind und solange keine westeuropäischen Vormächte (Frankreich, Großbritannien, die Bundesrepublik Deutschland) aus dem westlichen System ausbrechen. Da eine Überwindung der Spaltung Europas auf absehbare Zeit unmöglich ist, scheint es allen Beteiligten sinnvoll, Kooperation und Koexistenz multilateral zu organisieren. 3. Auch historischeZufälligkeiten und grundlegendeGegebenheitender jeweiligen Sachzusammenhänge erklären dies. Hätte die Sowjetunion nicht eine - wie sich zeigen sollte - nur höchst umständlich zu handhabende KSZE durchgesetzt, so wäre es auf westlicher Seite kaum zu dem heute vorhandenen System multilateraler Abstimmung der Ostpolitik gekommen. Ebenso zwang der Versuch, mit der Streitkräftereduktion in Zentraleuropa ernst zu machen, zur Koordination dieser Bemühungen innerhalb der NATO-Allianz. 4. Der Entspannungsbilateralismus derfünfzigerund sechziger Jahre war auch durch die Neuheit der Entspannungspolitik bedingt. Große und kleinere westliche Staaten entdeckten, daß ihnen nunmehr nach Osten hin ein erweiterter Bewegungsspielraum zuwuchs, den sie auszuprobieren wünschten. Der Reiz der Neuheit ist aber schon lange vorbei, Entspannungspolitik ist ein Routinegeschäft geworden. Wie in anderen Bereichen setzt sich auch hier die Zeittendenz zur multilateralen Koordination der Außenpolitik durch.

Sechste Hypothese: Zwar trägt die Entspannungspolitik der Staaten immer noch ein stark nationales Gepräge; die Ideenströmungen und Konzepte westlicher Entspannungspolitik sind aber stark transnationaler Natur. Diese Hypothese bedarf kaum der ausführlichen Verifikation. In einem engen Verbundsystem der Eliten, der Diplomatie und der Informationssysteme ist es ganz natürlich, daß sich in bezug auf die Ostpolitik von Anfang an transnationale Denkschulen ausgebildet haben.

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So einfach es aber ist, das Phänomen als solches zu erklären, so schwierig ist es andererseits, eine Typologie der transnationalen Konzepte zu entwickeln. Das hängt mit den schon früher erörterten Verschiedenheiten der Zielvorstellungen und Strategien zusammen. Ebenso ergibt sich ein recht unterschiedliches Bild je nachdem, ob man die Untersuchung auf der Ebene der offiziellen Diplomatie ansetzt oder die Strömungen in den Parteiensystemen und in der veröffentlichten Meinung auslotet. Es gibt nun einmal nichts Wandelbareres als Ideen, so daß die vielfältigsten Kombinationsmöglichkeiten der Entspannungskonzepte mit anderen Ideen auftreten. Solche Ideen sind: verschiedene Spielarten des Nationalismus, innenpolitische Ordnungskonzepte, Ideen der europäischen Einigung, außenwirtschaftliche Konzepte und anderes mehr.

Am ehesten läßt sich noch Ordnung in das Ideenchaos der entspannungspolitischen Konzepte bringen, wenn man sie im Hinblick auf faßbare Problembereiche analysiert, die zur Konkretisierung der Positionen zwingen. (Solche Problembereiche sind z. B.: die innere Ordnung und die außenpolitische Bewegungsfreiheit der kleineren Ostblockstaaten; das Deutschlandproblem in seinen vielen Aspekten; die Stationierung von Kernwaffen in Europa; die amerikanisch-sowjetischen .Rüstungskontroll-Verhandlungen; Konferenzprojekte wie KSZE, MBFR usw.)

Abstrakte Klassifikationen nach Motiven sind zwar möglich, aber wenig fruchtbar. Die so gefundenen Typen sind nämlich entweder zu allgemein und geben für die Erklärung konkreter Positionen wenig her, oder aber sie beziehen sich auf die Strömungen in den einzelnen Staaten und erlauben dann keinen richtigen Vergleich.

Siebte Hypothese: Der SteUenwert der Entspannungspolitik im außenpolitischen Problemhaushalt der westlichen Staaten ist in den siebziger Jahren deutlich rückläufig. Eine Verifikation dieser Hypothese kann sich auf viele Indizien stützen: die Themenkataloge der westlichen Außenminister und Gipfelkonferenzen; die Themen, die in der öffentlichen Diskussion vorrangig erörtert werden; die Tatsache, daß sich seit den Tagen Brandts und Nixons Anfang 1970 kein weiterer neuer Protagonist dramatischer Entspannungspolitik mehr gefunden hat. Das Fehlen von Staatsmännern, die sich der dramatischen Entspannungspolitik verschrieben haben, unterscheidet die heutige Gegenwart von den Perioden seit Mitte der fünfziger bis Anfang der siebziger Jahre, in denen sich immer westliche Regierungschefs fanden, die die Entspannungspolitik als ihr vorrangiges Ziel bezeichnet haben.

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Was sind die Gründe dafür? Wahrscheinlich ist ein Hauptgrund für den nachgeordneten Stellenwert der Entspannungspolitik das lange Ausbleiben großer Krisen im Ost-West-Verhältnis. Die westliche Entspannungspolitik der fünfziger oder sechziger Jahre war eine Antiklimax, die auf große Weltkrisen folgte, in denen die Eliten und Massen den Dritten Weltkrieg vor der Tür gesehen hatten. Die erste wichtige Entspannungsphase folgte unmittelbar auf die Kriege in Korea und Indochina. Die große Entspannungsphase der sechziger Jahre folgte auf die Berlin- und Kuba-Krise. Die Entspannungspolitik Nixons und Kissingers sollte die USA auch aus dem Engpaß des Vietnam-Kriegs herausführen und eine Lösung des Nahost-Konflikts ermöglichen, die beide zu Zusammenstößen mit der Sowjetunion zu führen gedroht hatten. Man sollte dabei nicht vergessen, daß in der westlichen Ostpolitik Fragen der politischen Moral eine große Rolle spielen. Die dramatische Politik des Kalten Krieges wäre unverständlich ohne die Empörung der westlichen Demokratien über die Unterdrückung im Ostblock und ohne die Bedrohung der eigenen Freiheit. Ebenso sind die dramatischen Entspannungspolitiker und ihre publizistischen Wegbereiter häufig von der Überzeugung beflügelt, mit ihrer Ostpolitik "Peace in Our Time" heraufzuführen. Natürlich spielt hier auch der eingebaute Pazifismus industrieller, am intensiven Welthandel interessierter Demokratien eine erhebliche Rolle. Im großen und ganzen scheut die industrielle Gesellschaft den Krieg, zumindest den Krieg, der das eigene Land verwüsten könnte. Scheint der Friede aber einigermaßen gesichert, so treten wieder andere Themen moralischer Außenpolitik in den Aufmerksamkeitshorizont. Seit 1974 ist dies die Menschenrechtsfrage in der UdSSR und im sowjetisch beherrschten Teil Europas. So wird man also vermuten dürfen, daß künftige einschneidende und länger dauernde Krisen im Ost-West-Verhältnis, die eine erneute Kriegsgefahr im Gefolge haben, auch das Bedürfnis nach dramatischer Entspannungspolitik erneut wecken könnten. Ein anderer Grund für den relativ nachgeordneten Stellenwert heutiger westlicher Entspannungspolitik ist die Desillusionierung über die nur langsame politische Evolution im Ostblock. Die Sowjetunion scheint immer noch in voller Kontrolle; ihr Block ist gewaltsam zur Ruhe gebracht. Auch die tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Sowjetunion, von denen man sich in den fünfziger, noch in den sechziger J ahren viel versprochen hatte, sind im wesentlichen ausgeblieben - trotz der Dissidentenbewegung. Eine Analyse der westlichen Entspannungspolitik zeigt, daß sie aus inneren Krisen des Ostblocks und Unsicherheiten der sowjetischen Führung besonderen Schwung bezogen hat. Das war 1953 bis 1956 der Fall,

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als die KPdSU mit der Nachfolgefrage Stalins zu ringen hatte und als 1956 die Entstalinisierung den Ostblock in allen Fugen ächzen ließ. Das galt auch für die Periode zwischen 1962 und 1968, als die Satelliten der Sowjetunion eine erkennbar größere Bewegungsfreiheit gewannen, während sich die sowjetische Gesellschaft selbst modernisierte. Und das war wieder 1970 bis 1972 der Fall, als der sowjetisch-chinesische Konflikt Moskau zu Konzessionen im Westen zu zwingen schien. In diesen Perioden ging von dem Argument der westlichen Entspannungsschulen, man müsse durch Entspannung Wandlungsprozesse im Osten bewirken, eine echte Faszination aus. Aber heute? Es zeigt sich, daß der durch Entspannungspolitik geschaffene Spielraum in Ost und West sehr viel enger ist als man vermutet hatte. Besonders in der Bundesrepublik wird das lebhaft empfunden, die an ihre große Entspannungspolitik während der ersten Regierung Brandt so große Erwartungen geknüpft hatte. Zudem haben heute auch viele einstige Protagonisten westlicher Entspannungspolitik das Gefühl, von der Sowjetunion manipuliert und getäuscht worden zu sein. Zu unübersehbar sind ihre exzessiven Rüstungsanstrengungen, die den Verteidigungsbedarf weit übersteigen, zu offenkundig ist auch ihre Übersee-Expansion. Das Fehlen von akuten langandauernden Krisen in Verbindung mit den recht bescheidenen Ergebnissen der Entspannungspolitik bewirkt so jene Desillusionierung, die für den gegenwärtigen Stand der Ost-West-Beziehungen typisch zu sein scheint. Hinzu kommt, daß sich die westliche Staatenwelt vorwiegend mit eigenen Problemen zu befassen hat, sei es mit Problemen im Innern der einzelnen Staaten, sei es mit den Beziehungen untereinander, vor allem in bezug auf die Wirtschaftsordnung, sei es auch mit der Aufgabe, zu den jungen Staaten in ein neues Verhältnis zu kommen. Auch hierbei dürfte die vergleichsweise Ruhe, die in den Ost-WestBeziehungen eingekehrt ist, nicht von Dauer sein, und alle Erfahrungen mit über 30 Jahren Ost-West-Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg lehren uns, daß Perioden starker Spannung gleichzeitig oder nach kurzer Zeit von hektischen Bemühungen um Entspannung begleitet werden. Konflikt und Entspannung stehen in unauflöslicher Dialektik. Sobald die Ost-West-Spannung zum außenpolitischen Zentralproblem wird, und immer dann, wenn der Ostblock Zeichen der inneren Krise erkennen läßt, kann man damit rechnen, daß auch die Entspannung wieder zum Punkt Eins auf der außenpolitischen Traktandenliste wird. Deshalb dürfte es auch in Zukunft nicht an Staatsmännern und Parteien fehlen, die sich für eine dramatische Entspannungspolitik einsetzen. Dies wäre freilich ein schlechtes Zeichen für den Weltfrieden: denn der Weizen der Entspannungspolitik gedeiht immer besonders gut, wenn ein harter Winter des Kalten Krieges vorangegangen ist.

DIEWANDLUNGEN IM MILITÄRSTRATEGISCHEN KRÄFTEVERHÄLTNIS Von Günter Poser Das mir gestellte Thema "Die Wandlungen im militärisch-strategischen Kräfteverhältnis" soll einen recht komplexen Bereich der Sicherheitspolitikklären helfen. Das scheint mir am erstenmöglich zu sein, wenn ich eingangs die Problemstellung von der Sache her deutlich mache, die Koordinaten festlege und dann das Thema schließlich restriktiv behandle, nämlich auf das Militärische beschränkt, obwohl ja das militärische Kräfteverhältnis von einer Vielzahl von Kräften abhängig ist bzw. von ihnen gebildet wird, die mit dem Ergebnis, nämlich den Streitkräften selbst, wenig zu tun haben. Zur Erläuterung der Wandlungen und ihrer Motivation werde ich auch aus der Praxis der Nachrichtengewinnung und der Lagebearbeitung einiges berichten müssen; denn die Beurteilung des Kräfteverhältnisses baut zum Teil auf geschätzten Werten auf. Sie wird unter Fachleuten daher auch "estimate" genannt. Es bedarf daher auch großer Hintergrund- und Detailkenntnisse, um z. B. sachgerecht mit Zahlen zu verfahren. Ich werde Sie jedoch heute vor den in der Publizistik so gern geübten J ongleurkünsten mit Zahlen verschonen und mich auch bemühen, das Ve>kabular des militärischen Esperantos zu vermeiden, mit dem sich bekanntlich trefflich streiten läßt Zur Darstellung der Wandlungen kann ich mich auf einen Zeitraum von etwa 15 Jahren beschränken, also zurückgehen bis zum Bruch zwischen Peking und Moskau (1960) und zur Kubakrise (1962), auf Ereignisse, die etwa auch mit dem Beginn der Kennedy-"Ära der Verhandlungen" zusammenfallen, welche dann zur Entspannungspolitik führte. In diesem Zeitraum vollzogen sich auch tatsächlich die wesentlichen Wandlungen mit dem Zwischenergebnis des heutigen Kräfteverhältnisses; denn der Wandlungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen. Im Zentrum der vergleichenden OST-WEST-Beurteilungen stehen die Militärmächte der sog. Supermächte UdSSR und USA mit ihren Bündnissystemen WPO und NATO. Der Vergleich der Opponenten, die sich durch weitgehende Asymmetrie auszeichnen, hat in der Vergangenheit und wird auch: weiterhin zu umstrittenen Ergebnissen führen, obwohl nun über die Größenordnungen der Streitkräfte, der Quantität also, kaum noch Differenzen bestehen. Der Hauptgrund für den Disput liegt

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darin, daß es für die Bewertung von Qualität, insbesondere von Menschen, ihrem Ausbildungsstand, Geist und Stehvermögen einfach keine objektiven Meßstäbe gibt. Die besondere Komplexität des Problems ergibt sich auch daraus, daß die natürlichen Bedingungen, also die geographischen, klimatischen und geistigen Voraussetzungen und die politischen, gesellschaftlichen und und wirtschaftlichen Strukturen der WP- und NATO-Staaten grundverschieden sind. Die Zahlen für Soldaten, Waffensysteme und rüstungstechnische Potentiale müssen also in wesensverschiedene Bezugssysteme eingeordnet werden. Um wirlichkeitsnah zu sein, muß der Vergleich dann auch in eine oder mehrere politische und militär-strategische Ausgangslagen gestellt werden. Wir nennen sie "contingencies", d. h. "Notstandsverteidigungsfälle" bzw. "scenarios", d. h. "strategische Ausgangslagen". Diese wären dann zu entwickeln unter Berücksichtigung der ebenfalls grundverschiedenen strategischen, operativen und taktischen Konzepte beider Seiten, z. B. in Angriffs- und Verteidigungssituationen. Wir unterscheiden da also "statische" und "dynamische" Kräftevergleiche. Der statische und vorwiegend quantitative, auf statistischer Gegenüberstellung der militärischen Kräfte beruhende Vergleich bietet nur ein Element, wenn auch das wichtigste, denn bei der jetzt etwa gleich hoch entwickelten Truppentechnik - "Technologie" ist ja etwas anderesspielen Zahl und Menge wieder eine dominierende Rolle. Trotzdem reicht der Zahlenvergleich zur vergleichenden Lagebeurteilung nicht aus; denn die Militärmacht erhält ihre Dimension als wirkende Kraft erst in der Mechanik einer bestimmten Politik und Strategie sowie in Raum und Zeit. Hierbei kommt dem Zeitfaktor, wie wir später sehen werden, eine ganz entscheidende Rolle zu. Für eine dynamische und vorwiegend qualitative, auf die tatsächliche Konfrontationslage konzentrierte Abwägung der wirklich zum Einsatz zur Verfügung stehenden Kräfte gibt es - wie schon gesagt - keine Maßstäbe, die für beide Seiten voll gültig wären. Auch bleibt die zumindest für die Ausgangslage wichtige aktuelle politische Situation im Ungewissen mit den Fragen: Wird es eine Krise mit Spannungs-, Vorbereitungs- und Warnzeit geben oder ist die Überraschung und der Oberfall möglich. In diesen Problemkreis gehört auch die Abschätzung von langfristigen Zielsetzungen, den "objectives" des Gegners und seiner möglicherweise schnell wechselnden Absichten, der "intentions", Begriffe, die nicht nur durcheinandergeworfen, sondern zur Lagemanipulation gern mißbraucht werden. Schließlich gibt es noch sehr subjektive Maßstäbe, nämlich unterschiedliche Beurteilungsansätze selbst unter Bündnispartnern, und zwar

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wegen der einfachen Tatsache, daß Geographie, Interessen und Verpflichtungen der einzelnen Länder verschieden sind. So gehen z. B. die USA als eine Seemacht von ihrer perfekten maritimen Lage, ihren globalen Interessen und Verantwortungen und besonders auch von ihrem überragenden Gesamtpotential aus, das etwa das Doppelte der UdSSR beträgt. Sie denken daher auch in größeren Zeiträumen. Ihre Fachleute stellen gern ihre hochentwickelten Waffensysteme nach deren technischen und taktischen Leistungsdaten den sowjetischen - soweit bekannt- in Duellsituationen gegenüber, also Panzer gegen Panzer, Flugzeug gegen Flugzeug, obwohl die Einsatzkonzepte und Einsatzzahlen ganz verschieden sind, bzw. sein können. In Europa dagegen werden die Beurteilungen von engeren regionalen Überlegungen beherrscht, so z. B. besonders von unserem Land, vor dessen Grenzräumen gegnerische Kräfte massiert sind. Deutsche Fachleute beurteilen den Vergleichswert in engerem Zusammenhang mit den Strukturen der vorn liegenden und einsatzbereiten WP-Truppen, mit ihrer schweren, materialintensiven Bewaffnung und mit der Tiefe ihres direkt angrenzenden Verstärkungs- und Versorgungsraumes. Das hier regional große Übergewicht des WPs wird im Sinne der sowjetischen, ganz auf Angriff und Schlag ausgerichteten Militärdoktrin und -strategie so verstanden, daß überraschend und ohne daß der Verteidiger seine Abwehr organisieren kann, großräumige Durchbruchsoperationen durchgeführt werden können, d . h. die Verteidigung möglichst unterlaufen werden kann. Unsere Fachleute stellen unsere Kriegserfahrungen viel stärker in Rechnung. Danach können zahlenmäßig überlegene. Sowjettruppen, die in Schwerpunkten, in selbstgewählten Schwerpunkten überraschend angreifen, durch qualitativ bessere, aber schwächere und nicht voll einsatzbereite Abwehrkräfte weder eingedämmt, d. h. zum Stehen gebracht oder gar vom Angriif überhaupt abgeschreckt werden. Soweit einiges aus der Praxis zur Problemstellung, in der ich trotz ihrer vielleicht entmutigenden Komplexität nicht hängen bleiben werde. Also nun zur Sache selbst. Im Ost-West-Gegensatz stehen sich bekanntlich die UdSSR und USA mit ihren Bündnissystemen in einer Welt gegenüber, in der die sicherheitspolitische Interdependenz gerade in den letzten 15 Jahre und besonders im Zuge der Entspannungspolitik stark zugenommen hat. Die Bipolarität wird mehr und mehr beeinflußt bzw. gestört durch die aufkommende Großmacht VR China, durch die heterogene, aber sich laut zu Wort meldende Dritte Welt und durch andere bzw. neue Nuklearmächte. Beide Führungsmächte betreiben Machtpolitik eigener Art und stärken gemeinsam mit ihren Verbündeten ihre Militärmacht, jedoch unterschiedlich in Ausmaß und Tempo.

Günter Poser Eine Gegenüberstellung und Summierung von Einzelpositionen der für das militärische Kräfteverhältnis wichtigen Wesenszüge und Zahlen erweist, daß einerseits zwar- was oft verkannt wirdbei den Opponenten das Verständnis von Sicherheit, der Rolle des Militärischen und des Krieges verschieden ist, daß andererseits aber auf beiden Seiten- was sich aus der Eigenart der Militärmacht und ihren Grundlagen herleitet - Stärken und Schwächen liegen, die sich je nach dem politischen Zusammenhang und der zeitlichen Zuordnung die Waage halten können. Bei einer solchen etwa gleichgewichtigen Kräfterelation im Ganzen ergibt sich die Anfälligkeit der Sicherheitslage aus der Praktizierung des politischen Willens, dessen Epiphanie in der NATO zunehmend als deus ex machina beschworen wird, und zwar aus der Erkenntnis der Asymmetrie des politischen Willens. Auf der einen Seite rüsteten nämlich die UdSSR mit der WPO im Rahmen ihres "Friedensprogramms" systematisch, langfristig und mit hohem Anteil am BSP für den möglichen Kriegsfall und da für die Angriffsform. Der bisher erreichte Zustand wurde kürzlich im Bundestag von Bundeskanzler und Opposition als "'Oberrüstung" bezeichnet. Auf unserer Seite aber richten die USA mit der NATO ihre im Verhältnis zu ihren tatsächlichen Potential mäßigen Rüstungsanstrengungen auf Kriesverhinderung aus, verharren neben der Planung der absoluten Verteidigung auch geistig in Abwehrstellung oder tendieren zu anpassenden Lösungen wie z. B. der Konvergenztheorie. Wie sieht nun die militärische Konfrontation aus, die sich auf Grund der Wandlungen herausgebildet hat? Es wäre hier natürlich logisch, zeitlich von vorn zu beginnen und dann das Ergebnis der Entwiclclung festzustellen. Eine derartige Methode wäre jedoch nicht sachgerecht aus folgendem Grunde: Wesentliche Veränderungen mit sicherheitspolitischer Auswirkung auf der Seite der Sowjetunion und des Warschauer Paktes haben die Fachorgane oft erst mit Verzögerung von 3-4 Jahren zuverlässig feststellen können. Hierfür werde ich später Beispiele geben. Daß die richtige Einordnung des Zeitfaktors eine bedeutende Rolle spielt, lassen auch Äußerungen unseres letzten und jetzigen Verteidigungsministers erkennen. Wenn Rüstungsvergleiche in der Allianz selbst und zum Warschauer Pakt gezogen werden, wird z. B. gesagt, daß wir unsere konventionellen Waffensysteme von Heer, Luftwaffe und Marine bereits wesentlich verstärkt hätten. Richtig wäre zu sagen, daß wir die technischen und finanziellen Voraussetzungen geschaffen haben, daß diese Systeme in 2, 3, 4, 5 Jahren der Truppe zugeführt werden und dann in 3, 4, 5, 6 Jahren einsatzbereit sind. Ein anderes Beispiel: In der letzten Woche

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wurde nach einer öffentlichen Debatte über Monate hinweg der amerikanisclle Beschluß bekannt, den Beschluß zum Bau der Neutronenwaffe zu vertagen. Das bedeutet, daß im Falle späterer Beschlußfassung noch 2-3 Jahre vergehen würden, bis die Waffe bei der Truppe einsatzfähig ist. Das Gegenbeispiel: Ende vorigen Jahres hatte die NATO erste Beweise, daß ein wichtiges strategisches Waffensystem der Mittelstrecke, die sog. SS-20 bereits im Truppeneinsatz ist. Da dieses Waffensystem der 4. Waffengeneration angehört, über welche die NATO bestenfalls erst in einigen Jahren verfügt, ist diese "vollendete Tatsache" von großer Bedeutung. Ich habe diese Beispiele nur zur Klärung des Zeitfaktors erwähnt, denn militärisch besteht zwischen den beiden Waffensystemen keine direkte, für den Waffenvergleich zutreffende Beziehung. Durch die Entwicklung in den sechzigerund siebziger Jahren haben sich vier militärische Konfrontationsräume herausgebildet, auf die sich auf beiden Seiten die militärischen Kräfte konzentrieren. Ich werde die Räume und Waffensysteme hier getrennt und natürlich vereinfachend behandeln, obwohl die Gruppierungen und ihre Waffen auf jeder Seite zusammengehören und ineinandergreifen, - ich darf einmal sagen: kommunizierend sind. Diese Konfrontationsstellungen, die eingangs. genannten scenarios, werden in der Fachsprache im Russischen "Kriegsschauplatz" und in Englisch "theatre of war" genannt. Da die UdSSR noch immer die Initiative besitzt, werde ich diese Kriegsschauplätze vorwiegend aus sowjetischer Sicht im Kräfteverhältnis und in den Wandlungen kurz beschreiben, und die für unsere Sicherheit wichtige Gesamtbeurteilung desWandlungsprozesses zu geben versuchen. Ich unterscheide da 1. den globalen Kriegsschauplatz, das ist die zum NATO- und WPOVerteidigungsgebiet periphere, weltweite und hauptsächlich maritime Arena; weiter

2. den interkontinentalen Kriegsschauplatz, wo sich mit nuklearen Raketen und Flugkörpern die USA und die Sowjetunion in ihren Heimatländern gegenseitig mit Vernichtung bedrohen; dann 3. den Kriegsschauplatz Fernost, das sind die Fronten in Asien, die eine gegenüber der VR China und die zweite gegenüber den pazifischen Mächten Japan, der Republik Korea, den USA und Kanada und schließlich 4. den von den Sowjets als Hauptkriegssch.auplatz bezeichneten Raum Europa. Zuerst, denn er scheint Priorität zu haben, der globale Kriegsschauplatz, der hauptsächlich ein maritimer ist. Hier bemüht sich die Sowjetunion, die weltweite politische und ganz besonders die wirtschaftliche 5 Entspannung

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Basis des Westens und Japans, und zwar unter Erhaltung des Friedenszustandes zwischen NATO und WPO, zu schwächen. Die sowj. militärischen Kräfte für diesen Friedensplan sind noch gering, sie reichen aber bei einer Schwerpunktbildung für die Störung der bestehenden Machtverhältnisse aus, wie u. a. Angola bewiesen hat. Für den Kriegsfall und da für die Seekriegführung richtet sich die maritime Aufgabenstellung hauptsächlich gegen die strategischen UBoote und Trägerkampfgruppen der USA und gegen die überseeischen NATO-Verbindungswege. Im Vergleich sind die Seestreitkräfte der Sowjets bereits so stark, daß sie zumindest in der Anfangsphase eines Krieges den stärkeren NATO-Marinen und ihrer Schiffahrt schwer Verluste beibringen können. Die sowjetische Kriegsflotte - allerdings ohne die U-Boote- wird daher oft als "one-shot-navy" bezeichnet. Für einen längeren Seekrieg fehlt jedoch der UdSSR die strategisch notwendige Operationsbasis. Diese könnte nur durch einen erfolgreichen Landkrieg in Europa geschaffen werden. Hier möchte ich zwei grundsätzliche Feststellungen einschieben, nämlich über die Sowjetunion als Seemacht. Im Unterschied zu allen NATOSeemächten und Japan leidet die Sowjetunion als "Seemacht" an zwei fundamentalen Schwächen: Sie besitzt nur eine schmale seestrategische Ausgangslage in kalten, abseitigen und weitgetrennten Binnen- und Randmeeren, also eine schwache Operationsbasis, und weiterhin: ihr fehlen potentiell starke, überseeische Verbündete mit guten Häfen und Reparaturwerften. Das letztere handicap ist nicht nur eine maritime Schwäche, sondern ein die tatsächliche sowjetische Weltmachtstellung mindernder Faktor. Er wird dadurch noch vergrößert, daß die Sowjetunion mit der ihr in Asien benachbarten und volksreichsten Macht der Erde, der VR China, in offener Fehde lebt. Welche Wandlungen hat es nun auf dem peripheren und maritimen Kriegsschauplatz gegeben? Zuerst muß in Erinnerung gerufen werden, daß hier die Sowjetunion viele Rückschläge erlitten hat, nämlich: an der pazifischen Küste Chinas, in Albanien und Kuba, in Indonesien, Ägypten, Nordyemen, Sudan und Somalia. Trotz einiger Zwischenerfolge in jüngster Zeit ist die maritime und logistische Basis noch immer schwach und dürfte krisenhaften Belastungen ohne risikoreiche Weiterungen nicht gewachsen sein. Zurückrechnend ist nun klar, daß die Kuba-Schlappe u. a. zu der Erkenntnis geführt hat, daß sich gegen die USA Weltmachtpolitik nicht ohne eine moderne Hochsee-Flotte durchführen läßt und zwar eine Überwasser- und U-Bootsflotte. Seit Mitte der sechziger Jahre läßt sich dann aus neuen Schiffs- und Bootsbauten und aus Manövern, mit den Höhepunkten 1970 und 1975 der weltweiten Seemanöver, deutlich erkennen das gewandelte Konzept, das zwei Hauptkomponenten hat:

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1. Eine Flotte zum defensiven Schutz des Heimatlandes und zur Abschirmung von See der Kriegsschauplätze Europa und Ostasien, allerdingsmit einer in die Ozeane vorverlegten Verteidigungslinie und

2. eine Flotte- hauptsächlich aus U-Booten- zum offensiven Kampf gegen die Küsten. Die sehr breite offensive Aufgabenstellung schließt die strategischen Raketenoperationen und den Kampf zur Störung bzw. Unterbrechung der Seeverbindungswege ein. Die Verbesserung der Kampfkraft der U-Boot-Flotte durch Umstellung auf nukleare Großboote (jetzt bald die Hälfte von rund 300 Booten) und auf weitreichende Raketen geht zügig weiter, während die Modernisierung der Überwasserflotte sich verlangsamt. Sie dürfte ihren Höhepunkt mit einem 30 Ofo-Anteil an modernen Schiffen schon wieder unterschritten haben, mit fallender Tendenz. Im strategischen Ansatz der modernsten U-Boot-Klasse Delta II hat sich eine wesentliche Wandlung vollzogen, die zugunsten des gesamten sowj. Raketenpotentials zu Buche schlägt: Diese Boote mit Raketen von bis zu 8 000 km Reichweite und Unterwasserschuß sind fast unverwundbar geworden, da sie als Unterwasserbatterien in der Barentssee - nahe ihrem Stützpunkt auf der Kolahalbinsel-Positionen beziehen können und daher unserer U-Boot-Abwehr erst einmal entzogen sind. Lange, gefährliche Anmärsche sind für diese Boote nicht mehr erforderlich, was durch Zeitgewinn einen Potentialzuwachs bringt. Ich halte diese Boote für eine besonders gefährliche Zweitschlagwaffe. Der forcierte Bau dieser Boote (5-6 pro Jahr) läßt bisher jedoch nicht den Schluß zu, daß der strategischen U-Bootwaffe ein größerer Anteil des Raketenpotentials zugedacht ist. Auch der neue sowj. Bomber Backfire, der hauptsächlich bei der Kriegsflotte auftritt, dürfte die bisherige sowj. Gleichung nicht verändern. Nun zu unserer Seite, auf der es ja mehrere Hochsee-Marinen gibt. Sie fallen durchaus ins Gewicht, sie hängen aber doch wesentlich vom maritimen Rückgrat der U8-Navy ab. Durch die Streckung des amerikanischen Marinemodernisierungs- und Neubauprogramms, den Zeitverzug beim Trident-U-Boot- und Raketenbau und jüngste zusätzliche Streichungen wird die maritime NATO-Stärke, die für ihre Allianzaufgaben und das globale Engagement der USA dringend notwendig ist, wohl nicht vor Mitte der achtziger Jahre zu erreichen sein. Globale maritime Operationen größeren Ausmaßes außerhalb des nordatlantischen und pazifischen Verteidigungsgebietes liegen daher schon im Bereich der Leistungsgrenze. Gehen wir nun über zum interkontinentalen Kriegsschauplatz, der hinsichtlich der strat. U-Boote schon berührt wurde. Zuerst zum gegenwärtigen Stand: Auf dem interkontinentalen Kriegsschauplatz bedrohen

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sich die Supermächte direkt und gegenseitig mit Vernichtung durch nukleare Raketenwaffen ihrer zentralen Systeme. Die Sowjetunion hat trotzihres technischen Nachhinkens bei den Offensivwaffen (Raketen an Land, auf U-Booten und Flugzeugen) bereits ein "grobes Gleichgewicht" mit den USA erreicht. Zu den Wandlungen: Etwa seit 1972/73, als die Sowjets ihre "Raketenlücke" füllte und von amerikanischer Seite "Parität" zugebilligt erhalten hatte, führten sie eine "stille" Aufrüstung weiter, deren großer Qualitätssprung sich heute zu zeigen beginnt, nämlich u. a.: drei neue landgestützte Waffensysteme der 3. Generation sind seit 1977 in der Einführung und die landmobile SS-20 Mittelstreckenrakete der 4. Generation ist ebenfalls seit etwa 1/2 Jahr bei den Raketentruppen. (Hier keine Einzelheiten!) Soweit die neuen sowjetischen Offensivwaffen mit hoher Sprengkraft gegen militärische Punktziele. Sie wären also verwendungsfähig als ErstSchlagwaffen. Viel wichtiger erscheint mir aber noch die Defensivseite. Die Sowjets versuchen verstärkt seit 1972/73 die Verwundbarkeit ihres Landes aus der Luft zu begrenzen, und zwar durch aktive und passive Luftverteidigung, also durch Luftabwehrsysteme und besonders auch durch Industrie- und Zivilschutz. Da der amerikanische Kontinent mit seinen hochtechnisierten Bevölkerungs- und Industrieballungen besonders an der Ostküste eine sehr hohe Luftempfindlichkeit und damit große Verwundbarkeit besitzt, könnte das amerikanische strategische Abschreckungskonzept in Frage gestellt werden, nämlich das der Fähigkeit beider Seiten zur gegenseitigen sicheren Vernichtung, das sog. "Gleichgewicht des Schreckens". Das würde den gefährlichen psychologischen Effekt haben können, die USA für eine nukleare Erpressung zu öffnen. Wie sieht es da nun auf der NATO-Seite aus? Trotz unseres oft angeführten allgemeinen technologischen Vorsprungs, der m. E. auch noch immer besteht, sind hier neue entsprechende Waffensysteme nicht vor Anfang der achtziger Jahre bei der Truppe zu erwarten - und das ist letztlich entscheidend! Daß in diesem Konfrontationsgebiet das "grobe Gleichgewicht" bald ein "sehr grobes" sein könnte, zeigt sich vielleicht auch daran, daß die UdSSR SALT II gegenüber nun eine harte und fordernde Haltung annimmt, US-Außenminister viele Gänge nach Moskau machen, nun auch auf einSALT III drängen, das unter weitem Einschluß anderer Nuklearwaffensysteme an Komplexität und Risikobereitschaft der USA kaum zu übertreffen ist. Es hat sich also in der "Korrelation der Kräfte", um

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einmal den sowj. Begriff zu gebrauchen, ein Wandel vollzogen, dern€ben dem Zeitfaktor- sich als essentiell herausstellen könnte.Auf dem Kriegsschauplatz Fernost hat die Sowjetunion ihre Streitkräfte etwa seit 1965 verdreifacht und modernisiert. Sie befinden sich gegenüber der chinesischen und der pazifischen Front in strategischen Verteidigungsstellungen. Die dortige Konfrontation belastet die sowjetische Sicherheit weit stärker als sich aus der Kräftekonzentration ablesen läßt. Dieser Kriegsschauplatz bringt Europa und den USA eine wesentliche Entlastung, die anzudauern scheint. In Fernost haben sich nun Veränderungen bestätigt, die in der balance of power einen hohen und für uns günstigen Stellenwert haben können. Die Verlegung der chinesischen "ersten Verteidigungslinie" vom Pazifik weg nach Norden ins Innere des Kontinents und die Umkehrung der Front in Richtung Sibirien sowie das Verständnis von Teng Hsiao-ping für "strategische Gemeinsamkeiten" und eine "antihegemoniale Einheitsfront" auf der Basis einer "Dreigroßmächte-Balance" irritiert die sowjetische Führung fraglos in hohem Maße, zumal langfristig eine Zunahme von chinesischen Gegenzügen gegen die Sowjetunion, zumindest in Asien, zu erwarten ist. Doch lassen sie uns schließlich zum Hauptkriegsschauplatz Europa kommen. Hier sind besonders in Mitteleuropa die WP-Streitkräfte im Begriff, für einen Landkrieg ein großes Übergewicht an Waffen und die Fähigkeit für einen Angriff "aus dem Stand", d. h. ohne einen Aufmarsch strategischen Ausmaßes, zu gewinnen, also durch relative Überlegenheit in Schwerpunkten und durch Überraschung. (nach Clausewitz: " ... die relative Überlegenheit, d. h. die geschickte Führung überlegener Streitkräfte auf den entscheidenden Punkt ... ") Ihre für weitreichende Durchbruchsoperationen erforderliche Stoßkraft, vereinfacht gesagt für den strategischen Blitzkrieg, konsolidiert sich. Sollte die "Abschreckung" versagen, ist es für die NATO-Verteidigung schwierig geworden, frühzeitig und zuverlässig sowjetische Angriffsvorbereitungen zu erkennen, so daß das in der sowjetischen Militärstrategie angestrebte Unterlaufen der Verteidigung des Gegners, das Oberrumpeln des Verteidigers besonders auch wegen der fehlenden Tiefe seines vorderen Verteidigungsraumes in den Bereich des Möglichen rückt. Um die hier sich vollziehende Wandlung deutlich zu machen, lassen Sie mich ganz praxisbezogen vorgehen. Ungefähr von 1963 bis 1969 konzentrierten sich bezüglich Kräftevergleich und Ost-West-Lage viele Arbeiten und Konferenzen der NATOStäbe im nationalen und internationalen Bereich darauf, Stärke, Art und besonders den notwendigen Zeitraum für einen WP-Aufmarsch zu er-

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mitteln und die möglichen Indikatoren für das Erkennen festzulegen. Es ging dabei um Zentralbegriffe wie Stärke und Fähigkeiten der Streitkräfte, politische und militärische Absichten, Spannung, Spannungszeit, Krise, Vorbereitungszeit und schließlich um die "Vorwarnzeit", die im Falle eines bevorstehenden Angriffs zu erwarten sei. In den sechziger Jahren gab es wegen des notwendigen Vorführens von Truppen aus der Sowjetunion nach vorn, des sog. Aufmarsches, eine Vielzahl von Indikatoren, welche die Vorwarnzeit zur Vorbereitung der Verteidigung lang und ausreichend erscheinen ließ. In der zweiten HäUte der sechziger Jahre war dann die Satelliten-Aufklärung auch schon so weit entwickelt, daß sie die Erkennung von Indikatoren erleichterte. Ungefähr ab 1969 und, für uns zuverlässig erst erkennbar, ab 1972 traten bei den sowj. Land- und Luftstreitkräften in den osteuropäischen Staaten Strukturänderungen und größere Verstärkungen bei den schweren Waffen ein und es zeigten sich neue Flugzeugtypen wesentlich anderer Einsatzgrundsätze. Für einen Angriff mit diesen Kräften waren zwar noch immer Vorbereitungen im Falle eines Angriffs erforderlich, aber nicht mehr ein Aufmarsch strategischen Ausmaßes. Dadurch war es - im Vergleich zu früher - sehr schwierig geworden, zuverlässig für weittragende politische Entscheidungen und frühzeitig genug für militärische Verteidigungsvorbereitungen und damit für letzte Abschreckungsmaßnahmen im Frieden die Absichten des potentiellen Gegners zu erkennen. Damit ist auch das Kernproblem der MBFR-Verhandlungen in Wien und zum Teil die AWACS-Entscheidung zur Luftüberwachung angesprochen. Das klingt vielleicht etwas simpel, hier ein Zentralproblem zu sehen. Aber die Vorwarnzeit, der Zeitraum vom gesicherten Beweis ("conclusive evidence") einer Angriffsvorbereitung bis zum Angriff selbst, beschäftigt auch als kritisches Problem die diesjährige Intelligence-Konferenz aller NATO-Staaten in Brüssel, die morgen zu Ende geht. Es gibt da in den NATO-Staaten viel Philosophie und eine Menge Sophistikationen, welche gern das sicherheitspolitisch so entscheidende Problem "Vorwarnzeit" relativieren möchten und auch meinen, der richtige Komputer und eine geschickte Programmierung werden das schon machen. Ich möchte das hier nicht vertiefen. In jedem Fall zeigt das Problem "Vorwarnzeit" die Wandlung der Situation. Es schlägt auch auf das Kräfteverhältnis durch, auf seine quantitativen und qualitativen Dimensionen, nämlich durch die Gunst des Zeitfaktors für die sowjetische Seite. Lassen Sie mich abschließend, und ich glaube, ich habe Ihnen bereits genug Ansätze für die Aussprache gegeben, noch ganz kurz den Zeitfaktor beim Problem Rüstungswettlauf ansprechen. Beim Wettlaut geht es ja um Mithalten, Zurückfallen oder Weglaufen. Im Rüstungswettlauf, in welchem offensichtlich der Westen nur "Ausreichendes", nur Mithalten

Die Wandlungen im militärstrategisdlen Kräfteverhältnis

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und "Parität", zu tun bestrebt ist, gehen die Anstrengungen der sowjetischen Breshnew-Führung in den letzten 15 Jahren vielmehr dahin, einen

mehrjährigen Vorsprung an sofort einsatzbereiter Kampfkraft der Trup-

pe am entscheidenden Platze zu gewinnen, eine Zielsetzung, der m. E. auch das "Aussitzen" bei Rüstungskontrollverhandlungen diente und dient: Zeitgewinn für die eigene Aufrüstung zur Erlangung einer gesicherten relativen überlegenheit. Bei anhaltender Tendenz scheint mir dieses Ziel im MBFR-Raum erreicht zu werden.

DIE ERGEBNISSE DER BELGRADER ÜBERPRÜFUNGSKONFERENZ DER KSZE Von Rupert Dirnecker Auf der letzten Jahrestagung des Göttinger ArbeitskreiS€5 vor genau einem Jahr befaßten wir uns eingehend mit den Folgeproblemen der KSZE, insbesondere mit den bis zu diesem Zeitpunkt bereits sichtbaren Auswirkungen der KSZE-Schlußakte von Helsinki auf die Verwirklichung der Menschenrechte und mit der künftigen Entwicklung des mit der KSZE eingeleiteten multilateralen Entspannungsprozesses in Europa. Unsere politischen und rechtlichen Überlegungen zur zweiten Etappe der KSZE, zu ihrer Anwendungsphase, kreisten um den inneren Zusammenhang zwischen der in der KSZE bekräftigten Verpflichtung der Staaten zur Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte einerseits und der politischen Entspannung zwischen Staaten und Völkern als Mittel der Friedenssicherung andererseits. Was ist aus alledem geworden? Um es vorweg zu nehmen: Verlauf und Ergebnisse des ersten KSZEFolgetreffens, das vom 4. 10. 1977 bis zum 9. 3. 1978 in Belgrad stattfand, haben unsere damalige Beurteilung der Möglichkeiten und Grenzen des KSZE-Prozesses im wesentlichen bestätigt. Wir haben nach Belgrad die Grenzen und Schwierigkeiten dieses Prozesses vielleicht noch nüchterner zu sehen. Wir haben uns nach Belgrad noch mehr bewußt zu werden, daß es einer Politik des langen Atems bedarf, um die Ziele, die wir uns im Westen mit der KSZE gesetzt haben, Schritt für Schritt zu verwirklichen.

I. Das enttäuschende Abschlußdokument von Belgrad 1. Beginnen wir zunächst mit dem Schlußdokument von Belgrad.

Das Belgrader KSZE-Folgetreffen endete am 9. 3. 1978 nach 96 zum Schluß sich geradezu qualvoll hinschleppenden- Verhandlungstagen mit einer äußerst mageren Schlußerklärung. Abgesehen vom protokollarischen Teil besagt das substanzarme Dokument- etwas pauschal umschrieben -lediglich folgendes:

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Rupert Dirnecker

-

Wir haben uns in Belgrad getroffen.

-

Wir haben uns gestritten.

-

Wir werden uns im Herbst 1980 in Madrid wiedertreffen.

In der Abschlußerklärung sind jedoch zwei Sätze von besonderer politischer Bedeutung: Einmal der rückwärts gewandte Satz über den vertieften Meinungsaustausch über die Durchführung der Schlußakte von Helsinki; es heißt hier: "Es wurde anerkannt, daß der Meinungsaustausch in sich selbst einen wertvollen Beitrag zur Erreichung der von der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit gesetzten Ziele darstellt, obwohl über den bisher erreichten Grad der Durchführung der Schlußakte unterschiedliche Auffassungen zum Ausdruck kamen."

Zum zweiten findet sich in der Schlußerklärung der wichtige vorwärts gewandte Satz: "Die Vertreter der Teilnehmerstaaten unterstrichen die politische Bedeutung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und bekräftigten die Entschlossenheit ihrer Regierungen, alle die Bestimmungen der Schlußakte unilateral, bilateral und multilateral umfassend durchzuführen." Damit ist formell sichergestellt, daß alle Verpflichtungen der Schlußakte von Helsinki, somit auch diejenigen zugunsten der Menschenrechte, ohne Abstrich am Verpflichtungsinhalt und Verpflichtungsgrad aufrechterhalten bleiben. Ein wichtiges Instrument westlicher Politik bleibt damit intakt.

An konkreten weiterführenden Vereinbarungen blieben von den mehr als hundert Vorschlägen nur drei übrig, von denen die zwei ersten schon in der Helsinki-Schlußakte vorgesehen waren: Am 31. 10. 1978 wird ein Expertentreffen nach Montreux einberufen, um den Schweizer Entwurf eines Systems der friedlichen Streitschlichtung im KSZE-Bereich zu beraten; - am 20. 6. 1978 wird ein weiteres Expertentreffen nach Bonn zur Vorbereitung eines "wissenschaftlichen Forums" einberufen. Auf ihm sollen führende Wissenschaftler Probleme der wissenschaftlichen Entwicklung und Zusammenarbeit erörtern; - am 13. 2. 1979 wird ein Expertentreffen über Fragen des Mittelmeerraumes nach Malta einberufen, das Fragen der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit der Anrainerstaaten des Mittelmeeres behandeln soll. -

Außer der Vereinbarung dieser drei Expertentreffen ist es von besonderer politischer Bedeutung, daß es trotz aller Gegensätze auf dem Belgrader Folgetreffen gelungen ist, eine Vereinbarung über ein zweites Folgetreffen auf Regierungsebene zu erreichen. Dieses Treffen soll

Die Ergebnisse der Belgrader Überprüfungskonferenz der KSZE

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am 11. 11. 1980 in Madrid beginnen. Ihm soll ein Vorbereitungstreffen ab 9. 9. 1980 in Madrid vorausgehen. Der materielle Inhalt und formelle Rahmen dieser zweiten KSZEFolgekonferenz soll bestimmt werden: -

durch die Schlußakte von Helsinki; durch die Beschlüsse des Vorbereitungstreffens zur Organisation des Belgrader Treffens von 1977;

-

durch die Schlußerklärung von Belgrad.

Gemessen an der monatelangen Bemühung von Hunderten von Diplomaten und gemessen an den über hundert Vorschlägen für einen Ausbau der Vereinbarungen von Helsinki ist dieses Resultat von Belgrad, soweit es schwarz auf weiß im offiziellen Schlußdokument vorliegt, äußerst dürftig. Immerhin ist aber die Schlußerklärung ehrlich. Das substanzarme Dokument beschönigt nichts. Die unterschiedlichen Auffassungen über das Ausmaß der Durchführung der Schlußakte und über die Schwierigkeiten und Hindernisse im Entspannungsprozeß werden, wenn auch in einer äußerst knappen Formulierung, erwähnt. Das Dokument bringt somit - wenn auch mit diplomatischer Zurückhaltung, so doch unmißverständlich - die tiefen Gegensätze über Inhalt und Anwendung der KSZE-Schlußakte und über den Inhalt der Entspannungspolitik insgesamt zum Ausdruck. 2. Die eigentliche Problematik des Belgrader Haupttreffens hatte sich schon in den zweimonatigen Vorverhandlungen angedeutet, in denen im Sommer 1977 um Tagesordnung und Verfahren des Haupttreffens gerungen wurde: Moskau wollte nur eine kurze Konferenz, auf der mit vieldeutigen Resolutionen der- wie es in der Moskauer Diktion heißt- "unumkehrbare Fortschritt" des in Helsinki proklamierten .,Gesamteuropäischen Entspannungsprozesses" erneut beschworen werden sollte. Die von Breschnew vorgeschlagenen drei spektakulären Nachfolgekonferenzen über gesamteuropäische Energie-, Verkehrs- und Umweltfragen sowie der Warschauer-Pakt-Vorschlag eines Vertrages über den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen sollten ein Treibhausklima von Zusammenarbeit und Sicherheit erzeugen, in dessen künstlicher Wärme die Europäer vergessen sollten, daß auf dem europäischen Kontinent noch immer eisige Ostwinde die Wirklichkeit weitgehend bestimmen und nur wenig Raum für Versuche partieller Zusammenarbeit auf Feldern gemeinsamer oder konvergierender Interessen lassen. Moskau hatte nämlich spätestens im Sommer 1977 erkennen müssen, daß seine Versuche, die Schlußakte zu einem Instrument seiner offensiven Außenpolitik umzufunktionieren, vorerst weithin gescheitert wa-

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ren. Gescheitert war der Versuch, durch nachträgliche Uminterpretation der Schlußakte die endgültige Anerkennung des territorialen Status quo und der sowjetischen Vorherrschaft in Ost-Mitteleuropa vom Westen zu erreichen. Die Schlußakte hatte auch wenig dazu beigetragen, um westliche Technologie und Wirtschaftshilfe für den Aufbau der östlichen Wirtschaft hereinzuholen. Die weltwirtschaftliche Rezession und die wachsende Verschuldung des Ostens setzten diesem sowjetischen Ziel enge Grenzen. Die KSZE-Politik entwickelte sich schließlich weder zu dem von Moskau gewünschten Störfaktor gegen die westeuropäische Einigung noch zu einem Keil zwischen Westeuropa und Nordamerika. Das Gegenteil war eingetreten: Die jahrelangen KSZE-Verhandlungen wurden vielmehr zu einem der wichtigsten Katalysatoren bei der Entwicklung der "Europäischen Politischen Zusammenarbeit" (EPZ) und der politischen Zusammenarbeit zwischen den Neun und den übrigen NATO-Partnern. Sie führten zudem schon in Genf zu einer Art von "spontanem Konzert" zwischen den westlichen Bündnisstaaten einerseits und den Neutralen andererseits. In manchen Phasen der Belgrader Konferenz entwickelte sich dieses Konzert schon beinahe zu einer "konzertierten Aktion". Andererseits hatte Moskau auch erkennen müssen, daß seine Spekulation fehlgeschlagen war, die Garantie der Menschenrechte und die konkreten Konzessionen für mehr Freizügigkeit von Menschen, Ideen und Informationen, die es in der KSZE-Schlußakte als Preis für das Zustandekommen der Konferenz von Helsinki hatte bezahlen müssen, nachträglich durch verstärkte Kontrolle nach Innen und Abgrenzung nach Außen wieder neutralisieren zu können. Im Gegenteil: Die für Ost und West in diesem Ausmaß unerwartete Resonanz, die die KSZE-Schlußakte als gemeinsames Berufungsinstrument der Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen im Osten erlangte, hat den Prozeß der freiheitlichen Dynamik im Osten selbst verstärkt. Die in der europäischen Menschenrechtstradition verkörperte Idee der Freiheit faßte im Osten immer mehr Fuß, während sie gleichzeitig vor allem, nachdem Präsident Carter die Menschenrechte zu einem Eckstein seiner Außenpolitik gemacht hatte - zum Ferment eines neuen Selbstbewußtseins im Westen wurde. So waren die kommunistischen Führungen am Vorabend des Belgrader KSZE-Folgetreffens in die geistig-politische Defensive geraten. Wenn dies allerdings weniger das vorausgeplante Ergebnis einer brillianten Strategie des Westens war, als vielmehr die unerwartete Folge der kombinierten Auswirkungen vor allem der zwei genannten externen Faktoren- nämlich der Menschenrechtsbewegungen im Osten, die schon vor der KSZE und unabhängig von ihr bereits Ende des letzten Jahrzehnts entstanden waren, und des neuen moralischen Impetus der Außenpolitik

Die Ergebnisse der Belgrader Überprüfungskonferenz der KSZE

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von Präsident Carter -,so hat doch dadurch die KSZE-Schlußakte eine für den Westen günstige Eigendynamik entfaltet und dadurch einen neuen positiveren Stellenwert gewonnen. Der Westen hatte nach jahrelanger Erlahmung seines freiheitlichen Bewußtseins, nach einer Periode apathischer Anpassung an Zielvorstellungen des - wie es schien unaufhaltsam von Sieg zu Sieg vorwärts drängenden Sowjetblocks end~ lieh eine neue Chance erhalten, in Belgrad in eine moralisch fundierte Offensive zu gehen. 3. Nachdem der Kreml hatte erkennen müssen, daß die jahrzehntelang von ihm angestrebte KSZE für ihn selbst - wie ich schon im letzten Jahr feststellte - zum Bumerang geworden war, betrachtete er das Belgrader Folgetreffen eher als eine lästige Pflichtübung. Der Kreml entschloß sich daher, diese für ihn unerwartete und gefährliche Entwicklung in Belgrad zu stoppen. Mit Hilfe des Konsens-Prinzips der KSZE, wonach alle Vereinbarungen einstimmig angenommen werden müssen, nutzte Moskau sein Veto-Recht als Notbremse, um alle weiterführenden Vorschläge der Länder des westlichen Bündnisses und der neutralen und blockfreien Länder zu blockieren. Das Reizwort Menschenrechte durfte nicht einmal im Schlußprotokoll erscheinen. 4. Den Staaten des westlichen Bündnisses stellten sich angesichts dieses kategorischen sowjetischen "Njet" drei Optionen: Erstens: Belgrad durch Verweigerung eines Schlußdokuments vollends scheitern zu lassen. Dies hätte bedeutet, daß sich der Westen der seit Helsinki sichtbar gewordenen Chancen begeben hätte, die das menschenrechtliche Instrumentarium der KSZE-Schlußakte für eine geistig-offensive Politik der solidarischen Unterstützung der freiheitlichen Emanzipation der Menschen und Völker im Osten bietet. Er hätte damit auf die Möglichkeit verzichtet, die kommunistischen Regierungen an den in der KSZE-Schlußakte bekräftigten Verpflichtungen zur Achtung der Menschenrechte festzuhalten und sie auf einer zweiten Überprüfungskonferechte festzuhalten und sie auf einer zweiten Überprüfungskonferenz zu stellen. Im Ergebnis hätte dies bedeutet: Rückfall in die rein machtpolitische Konfrontation und Verzicht auf die geistige Penetration des Ostens mit den Wertvorstellungen der europäischen Kulturtradition. Die in der KSZE vom Westen durchgesetzten Möglichkeiten einer solidarischen Verbindung mit den um ihre Freiheit und Selbstbestimmung ringenden Menschen und Völkern im Osten Europas wären verschüttet worden. In einer zweit.en Option hätte der Westen manchen Tendenzen der neutralen und blockfreien Regierungen folgen können, durch Aufnahme

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selektiver Vorschläge zur Konkretisierung der KSZE-Schlußakte ein kosmetisch verschöntes Schlußdokument, allerdings wieder ohne Erwähnung der Menschenrechtsfrage, zu erreichen. Der Westen widerstand auch dieser Versuchung, die lediglich eine Scheinentspannung vorgetäuscht hätte, eine Entspannung, die den legitimen Erwartungen der Menschen und Völker in ganzEuropanicht gerecht würde. Der Westen wählte statt dessen als Notlösung die zwar nicht optimale, aber unter den gegebenen Umständen noch akzeptable dritte Option: Er blockierte seinerseits die östlichen Vorschläge und bestand auf der vorhin beschriebenen dürren und substanzarmen Schlußerklärung. Wie ich schon kurz erwähnt habe, verschleiert dieses Dokument zumindest nicht die Meinungsverschiedenheiten über Inhalt und Anwendung der KSZE-Schlußakte, die in der Belgrader Bilanzierungsdebatte zutage getreten sind. Es enthält zwar keine der vorgeschlagenen Konkretisierungen der menschenrechtliehen Verpflichtungen der KSZE-Schlußakte, hält diese aber in vollem Umfang intakt. ß . Zum Verlauf des Belgrader KSZE-Folgetreffens 1. Die Menschen und Völker Europas und Nordamerikas sind über das magere Konferenzergebnis von Belgrad, soweit es sich in der Schlußerklärung niederschlug, zu Recht enttäuscht. Dennoch ist dieses erste KSZE-Folgetreffen nicht völlig wertlos gewesen. Es war eine "Enttäuschung, aber keine Katastrophe", wie die Londoner Times zutreffend schrieb.

Die Konferenz hatte zwei Aufgaben zu erfüllen: Erstens eine Überprüfung der Durchführung der Verpflichtungen aus der Schlußakte von Helsinki und der Ausführung der von der KSZE definierten Aufgaben durchzuführen; Zweitens einen Meinungsaustausch über die weitere Entwicklung des multilateralen Entspannungsprozesses durchzuführen, und zwar in den auf der KSZE behandelten Fragenbereichen der gegenseitigen Beziehungen und der Sicherheit (Korb I), der Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt (Korb II) sowie der Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen, wie Information, Kultur, Jugend, Sport (Korb III). Für den ersten Bereich hatte sich der Westen zum Ziel gesetzt, in einer freimütigen und nüchternen Bilanzierungsdebatte das Verhalten der einzelnen KSZE-Teilnehmerstaaten an den Maßstäben der Verpflichtungen aus der KSZE-Schlußakte zu messen und hierbei vor allem auch die

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Nichteinhaltung und Verletzung der menschenrechtliehen und humanitären Verpflichtungen der KSZE-Schlußakte durch die kommunistischen Staaten offen anzusprechen. Für den zweiten Bereich hatte sich der Westen zum Ziel gesetzt, weiterführende Vereinbarungen zur Konkretisierung der Schlußakte zu erreichen. Diese betrafen vor allem die Bestimmungen des Korbes III über Verbesserungen im humanitären Bereich, aber auch in den Bereichen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Korb li) und bei den vertrauensbildenden Maßnahmen im militärischen Bereich (Korb I, 2. Teil). Vor allem aber sollte die humane Dimension des Entspannungsprozesses neue Anstöße erhalten. 2. Das erste Hauptziel des Westens ist weitgehend erreicht worden. In der mehrwöchigen Überprüfungsdebatte im ersten Teil der Konferenz bis zur Weihnachtspause mußten nämlich die kommunistischen Regierungen immerhin eine detaillierte Kritik an ihren menschenrechtswidrigen und die Schlußakte von Helsinki verletzenden Praktiken über sich ergehen lassen. Die östlichen Delegationen argumentierten zunächst, diese Kritik von außen sei eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Länder. Die Delegationen des westlichen Bündnisses und der neutralen Staaten wiesen aber übereinstimmend nach, daß die Menschenrechte nach allgemeinem Völkerrecht und aufgrund der KSZE-Schlußakte selbst zu legitimen Gegenständen der internationalen Politik und internationaler Überprüfung geworden sind. Die östlichen Delegationen starteten hierauf einige, wenn auch schwache, Gegenangriffe gegen Menschenrechtsverletzungen in westlichen Ländern, darunter in den USA und der Bundesrepublik Deutschland. Sie anerkannten aber damit i.mplicite die internationale Bedeutung der Menschenrechte, die sie vorher bestritten hatten. So ging diese Bilanzierungsdebatte eindeutig zugunsten des Westens aus. Er erreichte immerhin, daß auf dieser internationalen Konferenz über Menschenrechtsverletzungen offen gesprochen wurde und daß das Schweigen hierüber gebrochen wurde. Die Menschenrechtsverwirklichung und ihr unlösbarer Zusammenhang mit echter Entspannung, Zusammenarbeit und Friedenssicherung wurde so als legitimes Thema internationaler Politik bekräftigt. 3. Dies mag im gewissen Maße darüber hinwegtrösten, daß das zweite Hauptziel des Westens auf dem Belgrader Folgetreffen, nämlich weiterführende Vereinbarungen, vor allem zugunsten der Menschenrechte, zu erreichen, am sowjetischen njet gescheitert ist. Es fragt sich nachträglich überhaupt, ob dieses kategorische njet nicht schon von Anfang an in Moskau vorgeplant und vorentschieden war.

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Wenn sich manche Delegationen, darunter auch die deutsche, durch besorgte Warnungen von Politikern, wie Brandt, Wehnerund Bahr, die Kritik an der menschenrechtswidrigen Politik kommunistischer Regierungen könnte ein Scheitern der Konferenz provozieren, abhalten ließen, konkrete Menschenrechtsverletzungen an Deutschen in der DDR und in Osteuropa offen zu nennen, so wurde jedenfalls diese übertriebene Zurückhaltung vom Osten nicht honoriert. 4. In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung zum Verhalten der deutschen Delegation angebracht: Die deutsche Delegation hielt sich im Rahmen der in der EG und NATO abgesprochenen taktischen Grundlinie, Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen konkrete Verpflichtungen aus der KSZE-Schlußakte im wesentlichen nur in genereller Form zu rügen und konkrete Einzelfälle exemplarischer Art nicht vorzubringen. Sie folgte nicht dem Beispiel der amerikanischen Delegation, die auch Einzelschicksale, wie z. B. die Verfolgung von sowjetischen Bürgerrechtskämpfern, namentlich zur Sprache brachte. So ist zwar anzuerkennen, daß die deutsche Delegation die menschenrechtswidrige Blockierung der Freizügigkeit der Bewohner der DDR in ihrem eigenen Land ansprach. Es wäre jedoch angebracht gewesen, Mauer, Sperranlagen, Schußautomaten und Schießbefehl, die die innerdeutsche Grenze zur unmenschlichsten Grenze der Welt machen und die Menschen eines Volkes und Tausende von Familien gewaltsam trennen, ebenso deutlich zu nennen wie es im Zweijahresbericht der Kommission des amerikanischen Kongresses und der amerikanischen Regierung zur Überwachung der Durchführung der KSZE-Schlußakte geschehen ist. Es heißt dort: "Die Berliner Mauer symbolisiert am deutlichsten die Haltung der DDR in Sachen menschlicher Kontakte." Es ist auch anzuerkennen, daß die deutsche Delegation die beruflichen Diskriminierungen, strafrechtlichen Verfolgungen und Ausbürgerungen von Menschen kritisierte, die sich auf die MenSchenrechte berufen, daß sie Mißhandlung, Hunger und unzulängliche Versorgung sowie die bewußt falsche psychiatrische Zwangsbehandlung von Inhaftierten in östlichen Ländern vorbrachte, clJaß sie die Verfolgungen kritisierte, denen Gläubige und darunter auch zahlreiche Deutsche in der Sowjetunion ausgesetzt sind, nur weil sie sich zu ihrem Glauben bekennen oder, um ihrem hoffnungslosen Schicksal z.u entgehen, sich um die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bemühen.

Es bleibt aber unverständlich, daß die deutsche Delegation es ablehnte, die z. B. im "Weißbuch der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages über die menschenrechtliche Lage in Deutschland und der Deutschen in Osteuropa" dokumentierten Schicksale der dort namentlich genannten

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inhaftierten Deutschen in der DDR und in der Sowjetunion konkret zur Sprache zu bringen. Die Begründung für diese Ablehnung, man habe diese Menschen, die ihre eigene Lage nicht überblicken könnten, nicht Repressalien aussetzen wollen, klingt eher nach autoritärer Bevormundung. Diese Menschen selbst waren es ja, die in ihren Briefen beschwörend gefordert hatten, nennt unsere Namen, damit wir nicht spurlos in den Gefängnissen verschwinden. In diesem Zusammenhang ist auch die Kurzsichtigkeit der Bundesregierung und der Regierungskoalition zu bemängeln, daß sie die Hilfe der Opposition im Rahmen der klassischen Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition bei internationalen Verhandlungen ausschlugen. Bundesregierung und Koalition hatten sich im Frühjahr 1977 geweigert, eine von der CDU/CSU-Fraktion beantragte regierungsamtliche und öffentliche Dokumentation über die menschenrechtliche Lage in der DDR und der Deutschen in Osteuropa für Belgrad vorzubereiten und sie dort vorzulegen. Als daraufhin die CDU/CSU-Fraktion mit eigenen Kräften ihr vorhin genanntes Weißbuch erstellte, verweigerten die Koalitionsfraktionen sogar die Aufnahme dieses Weißbuches in das Protokoll des Deutschen Bundestages, womit es einen amtlichen Charakter erhalten hätte. Die Bundesregierung lehnte es auch ab, diese Dokumentation in die Verhandlungen in Belgrad offiziell einzubringen. Die CDU/CSU-Fraktion stellte hierauf das Weißbuch den Delegationen, Regierungen und Parlamenten der KSZE-Teilnehmerstaaten und den Regierungen aller Staaten, sowie dem Europarat, dem Europäischen Parlament, befreundeten Parteien und zahlreichen internationalen Institutionen offiziell zu. Das Weißbuch ist inzwischen zu einem Bestseller geworden. Mit einer Auflagenhöhe von 60 000 Exemplaren in deutscher Sprache und 10 000 Exemplaren in englischer Sprache kann die noch immer andauernde Nachfrage nicht gedeckt werden. Es bleibt beschämend, daß dieses Weißbuch inzwischen als offizieller Bestandteil in die amtliche Dokumentation der KSZE-Kommission des amerikanischen Kongresses und der amerikanischen Regierung aufgenommen wurde, und daß ein amerikanischer Abgeordneter und zwei Senatoren große Teile des Weißbuches in das Protokoll des amerikanischen Kongresses eingeführt haben, die deutsche Regierung jedoch darauf verzichtete, dieses Weißbuch zur Unterstützung ihrer eigenen Argumentation in Belgrad heranzuziehen. 5. Generell ist zu bedauern, daß die Überprüfungsdebatte, die ja nach richtiger Auffassung der westlichen Konferenzstrategie der Schwerpunkt des Belgrader KSZE-Folgetreffens sein sollte, außer in einigen öffentlichen Plenarsitzungen im wesentlichen in nichtöffentlichen Ausschußsitzungen stattfand, so daß sie in der Öffentlichkeit der KSZE-Teilneh8 EntspannunJ

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merstaaten nur anband sporadischer Presseberichte verfolgt werden konnte. Mehr Information hätte sicherlich zu einer stärkeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit beigetragen und dadurch dem anerkennenswerten Einsatz der Staaten des westlichen Bündnisses und der neutralen Staaten für die um ihr Menschenrecht ringenden Menschen und Völker im Osten noch stärkeren Nachdruck verliehen. Da die Feststellungen und Ergebnisse dieser nützlichen Bilanzierungsdebatte wegen des östlichen Widerstandes im Schlußdokument keinen konkreten Niederschlag finden konnten, wäre es Aufgabe der westlichen Regierungen, die Öffentlichkeit wenigstens nachträglich hierüber ausführlich zu informieren.

m.

Zusammenfassende Bewertung und Schlußfolgerung

Lassen Sie mich abschließend versuchen, eine zusammenfassende Bewertung von Belgrad zu geben, und einige Schlußfolgerungenaufgrund der Erfahrungen von Belgrad für die westliche KSZE-Politik und für die Entspannungspolitik insgesamt zu ziehen. 1. In Belgrad ist es nicht gelungen, die KSZE-Schlußakte im Sinne jener Zielvorstellungen zu präzisieren, zu konkretisieren und fortzuentwickeln, die die Länder des westlichen Bündnisses und die neutralen Länder in sie einst in Helsinki eingebracht und bei ihrer Formulierung durchgesetzt hatten. Alle in diese Richtung weisenden Vorschläge sind am kategorischen njet Moskaus gescheitert, seien es die Vorschläge zur Weiterentwicklung der an sich schon marginalen vertrauensbildenden Maßnahmen im militärischen Bereich, sei es der Vorschlag zur Bekräftigung der in Prinzip VII der Schlußakte verankerten Verpflichtung zur Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte oder der Vorschlag zur Stärkung der Rolle des Individuums und von gesellschaftlichen Organisationen sowohl bei der Verwirklichung der Schlußakte als auch bei der Kontrolle dieser Verwirklichung, seien es die zahlreichen Vorschläge zur Präzisierung und Verbesserung der Absichtserklärungen des Korbes III zugunsten der Freizügigkeit von Menschen. Ideen und Informationen, insbesondere zugunsten der Auswanderungsfreiheit, der Familienzusammenführung, der binationalen Eheschließungen, des grenzüberschreitenden Informationsflusses und der kulturellen und wirtschaftlichen Kontakte.

Der Osten mußte allerdings hinnehmen, daß auch seine Vorschläge auf der Strecke blieben, vor allem der Vorschlag eines Vertrages über den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und die vonBreschnew vorgeschlagenen Konferenzen über gesamteuropäische Energie-, Verkehrs- und Umweltfragen, oder der von der CSSR vorgeschlagene Kodex

Die Ergebnisse der Belgrader 'Übt!rprüfungskonferenz der KSZE

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eines verantwortlichen Journalismus, der eine allgemeine Anerkennung kommunistischer Zensurvorstellungen bedeutet hätte. Der vielfältige Dissens über Inhalt, Interpretation und Anwendung der KSZE-Schlußakte trat hierbei offen zutage; aber auch die Grenzen wurden deutlicher sichtbar, die dem KSZE-Prozeß durch härtere Realitäten gesetzt sind, sei es durch den imperialen- militärisch und politisch untermauerten - Machtwillen Moskaus oder durch den Selbstbehauptungswillen kommunistischer Systeme. Von der KSZE dürften wohl in näherer Zukunft nur geringe Impulse ausgehen. 2. Moskau konnte in Belgrad jedoch nicht verhindern, daß in der ausführlichen Bilanzdebatte die menschenrechtswidrigen und die KSZESchlußakte verletzenden Praktiken der kommunistischen Staaten einer harten Kritik unterzogen und bloßgestellt wurden. Moskau konnte auch nicht verhindern, daß die Delegationen des westlichen Bündnisses und der neutralen Staaten ihren im Völkerrecht und in der KSZE-Schlußakte selbst begründeten Anspruch auf internationale Behandlung der innerstaatlichen Menschenrechtsverwirklichung prinzipiell aufrecht erhielten und in der tlberprüfungsdebatte auch praktisch zur Geltung brachten. 3. Die KSZE-Schlußakte ist in allen ihren Verpflichtungen, dies gilt insbesondere auch für diejenigen zugunsten der Menschenrechte und menschlicher Kontakte, ohne Abstrich am Verpflichtungsinhalt und Verpflichtungsgradaufrecht erhalten worden. 4. Es wäre daher ein Eigentor des Westens., wenn er aus Enttäuschung über Belgrad, so gerechtfertigt sie auch ist, die Schlußakte von Helsinki, die eine für West und Ost unerwartete freiheitliche Dynamik entwickelt hat, jetzt ungenutzt beiseite legen würde. In Helsinki hatten alle Staats- und Regierungschefs Europas und Nordamerikas feierlich ihr Wort verpfändet, daß die Achtung der Menschenrechte Maßstab ihrer Entspannungsbereitschaft und ihres internationalen Wohlverhaltens sei. Das Belgrader überprüfungstreffen sollte der erste Test hierfür sein. Moskau und die von ihm beherrschten Regierungen haben diesen Test nicht bestanden. Sie dokumentierten vielmehr ihre Schwäche, nämlich die Schwäche reaktionärer Regime, die ihre Völker nur mit Gewalt unter Kontrolle halten können. Sie müssen sich aber an diesem verpflichtenden Maßstab weiter messen lassen. Darin liegt die Chance der freien Völker Europas, wenn sie sich ihrer Stärke, d. h . der überlegenheit der Freiheit, bewußt bleiben und sie unbeirrt für eine realistische Entspannungspolitik einzusetzen gewillt sind. Sie dürfen von diesem geistig offensiven Einsatz für die Menschenrechte

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in ganz Europa nicht ablassen; denn die Menschenrechtsfrage entscheidet über den Inhalt und weiteren Kurs der Entspannungspolitik. Sie kann zwar andere Aufgaben der Gesamtpolitik des Westens nicht ersetzen, wie die Anstrengungen um das militärische Gleichgewicht oder um politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität. Sie gibt aber der Politik des Westens Perspektive und Dynamik. Sie stellt das Gleichgewicht des politischen Willens wieder her, das ebenso wie das militärische Gleichgewicht Voraussetzung eines ausgewogenen Ost-West-Ausgleichs, d. h. einer echten Entspannung ist. 5. Das unbeirrte Eintreten für die Menschenrechte muß vor allem auch wieder ein Grundelement unserer Deutschlandpolitik werden. Die ungelöste deutsche Frage hat nämlich nicht nur politische, statusrechtliche, militärische und wirtschaftliche Aspekte; sie ist zutiefst ein menschenrechtliches Problem. Deutschland ist das einzige in Europa geteilte Land. Die unmenschlichste Grenze der Erde trennt die Menschen eines Volkes, trennt Tausende von Familien. Noch immer müssen Menschen sterben oder schwere Verletzungen erleiden, nur weil sie vom Menschenrecht der Freizügigkeit in ihrem eigenen Land Gebrauch machen. Den Deutschen in der DDR und in Ostberlin werden elementare Menschenrechte verweigert. Gerade anhand dieser permanenten Menschenrechtsverletzung können und müssen wir der Weltöffentlichkeit die ungelöste deutsche Frage wieder ins Bewußtsein zurückrufen. Gerade dadurch können wir verhindern, daß sich der von Moskau und Ostberlin verbreitete Eindruck festsetzt, als sei die deutsche Frage durch die KSZE endgültig im Sinne der Teilung Deutschlands gelöst. Mit der Betonung des menschenrechtliehen Aspekts der deutschen Frage werden wir auch mehr Verständnis bei unseren Nachbarn für eine aktive Deutschlandpolitik finden, die Schritt für Schritt wieder die ungelöste deutsche Frage als eine der Hauptursachen der Spannungen in Europa in die internationale Entspannungspolitik einführt. Nicht wer auf eine friedliche Lösung der deutschen Frage drängt, gefährdet den Frieden, wie die kommunistische Propaganda gegen den sog. deutschen Revisionismus der Weltöffentlichkeit - leider mit wachsendem Erfolg - weiszumachen sucht, sondern wer diese Lösung entgegen Recht und elementarer Kraft der Völker mit Gewalt auf Dauer zu verhindern sucht. Schließlich müssen wir durch unser Eintreten für die Menschenrechte aller Deutschen auch im Innern sicherstellen, daß das nationale und freiheitliche Bewußtsein in Deutschland - wie heute auch in Zukunft eine Einheit bleiben, und daß das wiedererwachende deutsche Nationalgefühl nie wieder in die Hand eines braunen oder roten Totalitarismus fällt.

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6. So sprechen viele Gründe dafür, daß der Westen sich durch die Enttäuschung über Belgrad nicht davon abbringen lassen darf, weiterhin unbeirrt und sogar noch verstärkt die Menschenrechte und das Recht der nationalen Selbstbestimmung zu einem Eckstein seiner Entspannungspolitik zu machen. Die Sowjetunion konnte zwar mit ihrem njet in Belgrad Fortschritte zugunsten der Menschenrechte blockieren. Sie konnte aber nicht verhindern, daß auf dieser internationalen Konferenz die Menschenrechtsverletzungen in den kommunistischen Ländern einer offenen und eingehenden Kritik unterzogen wurden. Der Osten ist dabei in die Defensive gedrängt worden. Er steht nun vor der Wahl zwischen zwei Wegen: Entweder den KSZE-Prozeß aufzukündigen und das zweite KSZE Folgetreffen in Madrid zu boykottieren oder seine Verhandlungsregeln so zu ändern, daß es eine wertlose Übung würde; Oder zwischen Belgrad und Madrid die Verpflichtungen aus der KSZESchlußakte in einem Ausmaß zu verwirklichen, das die Kritik gegenstandslos machen und die internationale Atmosphäre aufhellen würde. Beide Alternativen sind für den Osten nicht attraktiv. Im ersten Fall müßte Breschnew eingestehen, daß die von ihm so erstrebte KSZE für ihn zu einem Fehlschlag, zu einem Bumerang geworden ist. Im zweiten Fall müßten die kommunistischen Regierungen dem Individuum einen wirksamen Schutz gegen ihr eigenes Machtmonopol einräumen und eine Entwicklung tolerieren, die gegen die kommunistische Herrschaft in ihrer gegenwärtigen totalitären Form in Gang gekommen ist. Es gäbe allerdings für den Osten einen Ausweg aus diesem Dilemma, wenn nämlich der Westen in seinem Druck für die volle Verwirklichung der KSZE-Schlußakte und der dort bekräftigten Menschenrechtsgarantien nachlassen würde. Enttäuschung, Resignation, aber auch Ungeduld könnten den Westen auf diesen schlüpfrigen Weg bringen, den Moral, Recht und politische Vernunft verbieten. In Belgrad hat der Westen einen wichtigen Präzedenzfall für die Legitimation der internationalen Behandlung von Menschenrechtsverletzungen gesetzt. Würde er nun seine Signale ändern, so würde er den neuen Boden wieder preisgeben, auf den er das Ost-West-Verhältnis in Europa gebracht hat. Dieser Präzedenzfall ist aber nur so viel wert, wie der Westen ihn in der Zukunft weiter ausbaut. Wir haben uns das Recht erkämpft, offen auszusprechen, welche Bedeutung unsere Wertvorstellungen für die Bemühung um Sicherheit und echte Entspannung haben. Davon dürfen wir nicht mehr ablassen. Wir dürfen nicht mehr in das Schweigen zurückfallen.