Literatur und Kultur zwischen West und Ost: Imagination, Kommunikation und Wahrnehmung in regionalen Kulturräumen [1 ed.] 9783737012393, 9783847112396

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Literatur und Kultur zwischen West und Ost: Imagination, Kommunikation und Wahrnehmung in regionalen Kulturräumen [1 ed.]
 9783737012393, 9783847112396

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Artur Dariusz Kubacki / Isabel Röskau-Rydel (Hg.)

Literatur und Kultur zwischen West und Ost Imagination, Kommunikation und Wahrnehmung in regionalen Kulturräumen

Festschrift für Paul Martin Langner zum 65. Geburtstag

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Die Publikation wurde finanziert von der Pädagogischen Universität Krakau. / Publikacja finansowana przez Uniwersytet Pedagogiczny im. Komisji Edukacji Narodowej w Krakowie. Gutachterin: Prof. Dr. Marion Brandt, Universität Danzig / Uniwersytet Gdan´ski © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus dem Bilderbuch »Es war einmal ein kleiner Baum« von Manfred Schlüter, Hillgroven Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1239-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angela Bajorek (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie) Hommage an Professor Paul Martin Langner . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hargen Thomsen (Hebbel-Gesellschaft Wesselburen) Ein Hurra für den Präsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Manfred Schlüter (Schriftsteller, Illustrator und Bildender Künstler) Wir nannten ihn Hebbel-Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Rezeption von Friedrich Hebbels Werken Graz˙yna Barbara Szewczyk (Uniwersytet S´la˛ski w Katowicach) Friedrich Hebbel in Polen. Ein Beitrag zur Rezeption seiner Dramen am Beispiel der Tragödie Maria Magdalena . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Christian Stillmark (Universität Potsdam) Verwoben vom Anfang bis zum Ende – Heiner Müllers Hebbel-Rezeption. Überlegungen zu einem Baustein der Wirkungsgeschichte Friedrich Hebbels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kommunikation und Kulturkontakte Karina Kellermann (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) Poetische Heimlichkeit. Anspruch und Angst eines spätmittelalterlichen Publizisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Isabel Röskau-Rydel (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie) An der »Culturwasserscheide« Europas. Galizische Erfahrungen des Friedrich Hebbel-Experten Richard Maria Werner . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Barbara Marmol-Cop (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie) Interkulturelle Konflikte. Demonstrationen anlässlich der Aufführung von Theodor Herzls Theaterstück Das Neue Ghetto in Krakau im Jahre 1898 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tomasz Szybisty (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie) Haben Glasmalereien eine Nationalität? Der Schulstreik in Wreschen und seine Auswirkungen auf die Verglasung der Krakauer Kathedrale . . . . .

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Maria Kłan´ska (Uniwersytet Jagiellon´ski w Krakowie) Kulturenkontakt und Kulturenkonflikt. Völkerschmelztiegel Wien in Eva Menasses Roman Vienna (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur und Theater Wojciech Kunicki (Uniwersytet Wrocławski) Ernst Jüngers theologische Fundierung der Metaphysik in Das Sanduhrbuch sowie in seinen Reisetagebüchern der 1950er Jahre . . . 115 Marta Famula (Universität Paderborn) Die Landstraße jenseits der Bedeutung. Peter Handkes spätes Drama Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße . . . 125 Piotr Majcher (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie) Reaktionen auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke in ausgewählten polnischen Presseartikeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Maike Schmidt (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Metahistorische Familienromane aus dem deutsch-polnischen Grenzraum: Sabrina Janeschs Katzenberge und Brygida Helbigs Kleine Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Joanna Gospodarczyk (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie) Die Suche nach der eigenen Identität und dem Realitätsbezug des Spiels. Die Textbearbeitungen des Parzival von Wolfram von Eschenbach im zeitgenössischen Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Inhalt

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Musik und Übertragungen Andrea Rudolph (Uniwersytet Opolski) Autonome Instrumentalmusik versus Vokalmusik. Weltschmerz und frühromantische Selbstfindung in August Kahlerts Blättern aus der Brieftasche eines Musikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Jan Gos´cin´ski / Artur Dariusz Kubacki (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie) Die Treny von Jan Kochanowski in deutscher und englischer Nachdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Vorwort

Der vorliegende Band ist Paul Martin Langer, Professor am Neuphilologischen Institut, Abteilung Germanische Philologie, der Pädagogischen Universität Krakau (poln. Kraków) gewidmet. Am 18. Februar 2021 feiert der Jubilar seinen 65. Geburtstag. Mit ihren Beiträgen wollen die Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Polen den Jubilar würdigen. Den Herausgebern war es ein Anliegen, dass sich in der Festschrift die Forschungsinteressen von Paul Martin Langner widerspiegeln. Hierzu zählen die Rezeption von Friedrich Hebbels Werken, die Kommunikation und die Kulturkontakte zwischen West und Ost, Überlegungen zur Literatur, zum Theater und zur Musik sowie Übertragungen aus dem Polnischen. Seit nun siebzehn Jahren ist der aus dem Norden Deutschlands stammende Jubilar mit dem Institut und mit der altehrwürdigen Stadt Krakau eng verbundenen. In dieser Zeit haben wir Paul Martin Langner als einen immer gesprächsbereiten, ideenreichen und humorvollen Kollegen schätzen gelernt. Mit unerschöpflicher Geduld spornt er die Studentinnen und Studenten der Germanistik dazu an, ihr Interesse an der deutschen Sprache sowie an der Kultur und Literatur der deutschsprachigen Länder zu vertiefen. Sein großes Engagement bei der Ausbildung neuer Generationen von Germanistinnen und Germanisten in Krakau gilt ebenfalls den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung Germanische Philologie, die sich seiner Förderung durch die Initiierung von Konferenzen und Buchprojekten erfreuen und durch den von ihm organisierten wissenschaftlichen Meinungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen deutscher Universitäten neue Anregungen finden. Für die großzügige Finanzierung der Festschrift drücken wir der Pädagogischen Universität Krakau unseren besten Dank aus. Ebenfalls bedanken wir uns herzlichst bei Manfred Schlüter, dem bekannten Buchillustrator, Kinderbuchautor und Freund des Jubilars aus Hillgroven bei Wesselburen in SchleswigHolstein, für den Rückblick auf die schon vierzig Jahre andauernde Freundschaft mit dem Jubilar und den wunderschönen Entwurf des Buchumschlags.

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Vorwort

Dem Jubilar wünschen wir noch viele Jahre des schöpferischen Wirkens, des unermüdlichen Wandelns zwischen West und Ost sowie noch viele inspirierende Stunden mit Friedrich Hebbels Briefen und Werken, denn schon der aus Wesselburen stammende Dichter und Schriftsteller war der Meinung: »Nicht Stillstehen, nicht Fortgehen, nur Bewegung ist der Zweck des Lebens«. Die Herausgeber

Angela Bajorek (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie)

Hommage an Professor Paul Martin Langner

Meine persönliche Erinnerung an Professor Paul Martin Langner reicht bis in das Jahr 2003 zurück. Unsere erste Begegnung fand im Rahmen seines offiziellen Besuchs bei Professor Wolfgang Hässner, dem Gastprofessor für Deutsch als Fremdsprache und Leiter der Germanistik an der damaligen Pädagogischen Akademie, statt. Wir hatten uns in meinem jetzigen Büro in der Studenckastraße 5 kurz getroffen, als er sich um eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut bewarb. Nach seiner Anstellung an der Pädagogischen Akademie ab dem 1. Oktober 2003 standen dann Paul Martin Langner alle Räume des Institutes, die von Michel Foucault als Heterotopien1 bezeichnet werden, von nun an offen. Einer dieser Räume erhielt im Laufe der Jahre eine besondere Funktion als Bibliotheks- und Arbeitsraum dank einer neu erworbenen Büchersammlung zur Literaturwissenschaft. Es handelt sich um einen Teil der Bibliothek aus dem Nachlass von Prof. Dr. Robert Mühlher, dem bekannten Forscher der deutschen Romantik in Wien. Die Büchersammlung2 aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die über 3.000 Bände zählt, wurde 2009 dank der Bemühungen von Professor Paul Martin Langner und dem damaligen Prorektor der Pädagogischen Universität, Professor Tadeusz Budrewicz, für die Abteilung Germanistik mit der finanziellen Unterstützung von neun Rotarier Clubs aus Deutschland und Polen (Krakau) erworben. Vor siebzehn Jahren hatte ich den neuen Kollegen noch wie ein Unikum aus Westdeutschland betrachtet, nicht nur wegen seines auffallenden, gelben Sakkos, das er so gerne getragen hat, sondern auch wegen der geheimnisvollen Aura, die 1 Paul Martin Langner: Äußere und innere Räume. Überlegungen zur Heterotopie, in: Paul Martin Langner / Agata Mirecka (Hg.): Raumformen in der Gegenwartsdramatik, Frankfurt am Main 2017, S. 137–147, hier S. 137. 2 Die Büchersammlung enthält Werke der deutschen, französischen, belgischen und italienischen Literatur sowie Fachliteratur zur Kirchengeschichte, Theologie und Philosophie. Die Ausgaben der deutschen Literatur stammen aus den besten deutschen Verlagen. Besonders wertvoll sind die Ausgaben der Werke der deutschen Romantiker.

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Angela Bajorek

ihn umgab. Es war wie ein Hauch von Westeuropa und der Duft der weiten Welt der Wissenschaft, der Neugier und des Unbekannten. Der damals noch Fremde hatte gleich einen sehr positiven, offenen und sympathischen Eindruck gemacht und lebte sich schnell in unserer kleinen, motivierten Gruppe der Germanisten ein. Seit dieser Zeit ist Paul Martin Langner eng mit Krakau verbunden, allerdings beweist seine private E-Mail-Adresse den wohl noch bestehenden Zwiespalt zwischen Berlin und Krakau. Vielleicht bedeutet sie eine Brücke zwischen zwei Ländern, die er gerne als Grenzgänger hin und wieder betritt. Zu seinen langjährigen wissenschaftlichen Interessen zählen die Werke und Briefe des Ehepaars Hebbel, wodurch sich der Jubilar auch von Neuem in den Norden Deutschlands wagte. Schon in seiner Doktorarbeit, die er 1988 zum Thema Der Privatbrief als Problem der Edition an der Technischen Universität Berlin verteidigt hatte, widmete er sich der Korrespondenz Christine Hebbels, der Ehefrau des Dichters Friedrich Hebbel, die unter ihrem Pseudonym Christine Enghaus als Schauspielerin sehr bekannt war.3 Sein Doktorvater war Prof. Dr. Thomas Cramer, der bekannte Forscher der Älteren Deutschen Philologie. Während seiner Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Universität bereitete Paul Martin Langner dann seine Habilitationsschrift über die mittelalterliche Literatur der Mark Brandenburg aus der Zeit vom 13. bis 16. Jahrhundert vor.4 Mit dieser Monografie über die Bedeutung von Traditionen, die die Literatur einer Region mitbestimmen und anhand derer gesellschaftliche Strukturen herausgearbeitet werden können, habilitierte sich Paul Martin Langner im Jahre 2010 an der Pädagogischen Universität in Krakau. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmete er sich auch immer wieder den deutsch-polnischen Kulturkontakten, wie etwa in den Dichtungen des Hochmittelalters5 oder den sprachlichen Besonderheiten in Quellen des 14. Jahrhunderts.6

3 Veröffentlicht wurde die Dissertation unter dem Titel: Martin M. Langner: Der Brief als Problem der Edition. Dargestellt an der Korrespondenz von Christine Hebbel, Berlin 1988. Inzwischen ist auch ein weiterer Band über Christine Hebbel von ihm erschienen. Paul Martin Langner: »Du wirst ein Wesen kennen lernen, vor dem wir Alle uns beugen müssen!« – Christine Hebbels erste Jahre in Wien und ihre Begegnung mit Friedrich Hebbel, Heide 2018 (Hebbel-Jahrbuch 2018). Der Jubilar verwendet seine Vornamen Paul Martin Maximilian auf unterschiedliche Weise in seinen Publikationen. 4 Paul Martin Langner: Traditionen in der Literatur einer Region als gesellschaftsstrukturierende Phänomene: zur mittelalterlichen Literatur der Mark Brandenburg zwischen 1250– 1500 (Prace Monograficzne, Nr. 516), Kraków 2009. 5 Martin M. Langner: Annäherung ans Fremde durch sprachliche Bilder. Die Region Polen und ihre Ritter in Dichtungen des Hochmittelalters, Berlin 2018. 6 Martin M. Langner: »[…] den wisch ufsteken«. Zu deutschsprachigen und lateinischen Eintragungen im Krakauer Schöppenbuch in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts. Differenzen und Kontinuitäten, in: Mehrsprachigkeit in Ostmitteleuropa (1400–1700). Kommunikative Praktiken und Verfahren in gemischtsprachigen Städten und Verbänden, hg. von

Hommage an Professor Paul Martin Langner

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Der Jubilar ist ebenfalls Initiator und Ideengeber von zyklisch organisierten Tagungen zum Thema »Forschungen zum Drama und Theater der Gegenwart im deutschsprachigen Raum und im europäischen Kontext«. Seit 2014 hat er zusammen mit den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Instituts, Dr. Agata Mirecka und Mgr. Joanna Gospodarczyk, im Rahmen des Projektes zur Gegenwartsdramatik, das germanistische und theaterwissenschaftliche Untersuchungen verbindet, drei Konferenzbände herausgegeben.7 Das gemeinsame Projekt führte zum Aufbau eines Netzwerks mit vielfältigen Arbeitskontakten in Deutschland unter anderem mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Universitäten Berlin, Bonn, Hamburg, Köln, Leipzig, Paderborn, Kiel und Köln. Paul Martin Langner ist seit Jahrzehnten als Mitglied eng mit der HebbelGesellschaft8 in Wesselburen verbunden, wo er seit Juni 2014 die Funktion des Präsidenten innehat und zudem Mitglied der Jury für den Förderpreis der Hebbel-Stadt ist. In Hebbels Geburtsort Wesselburen beweist er seit 2015 sein organisatorisches Talent und wissenschaftliches Engagement auch als Mitorganisator der Jahrestagungen der Hebbel-Gesellschaft. Als Präsident der HebbelGesellschaft wirkt Paul Martin Langner zugleich als Herausgeber des HebbelJahrbuchs, das seit 2020 in der wissenschaftlichen Datenbank EBSCO einzusehen ist, sowie der wissenschaftlichen Publikationsreihen »Perspektivenwechsel« (7 Bände) und »Forschungen und Analysen zur Hebbel-Forschung«, deren erster Band 2020 erschienen ist. Seit 2010 leitet Professor Paul Martin Langner an der Pädagogischen Universität den Lehrstuhl für Germanistische Literaturwissenschaft und ist seit dem Studienjahr 2018/2019 bei den Germanisten Koordinator im Erasmus-Programm für Studierende und Hochschullehrer. Das wissenschaftliche Werk von Professor Langner beinhaltet bisher über fünfzig Publikationen in hochrangigen Fachzeitschriften, er ist auch Autor von fünf Monografien. Prof. Dr. Langner hat zahlreiche Diplomarbeiten betreut, über 50 Magisterarbeiten wurden unter seiner Leitung geschrieben. Ebenfalls wirkte er als Betreuer von Promotionsverfahren an der Pädagogischen Universität sowie als Gutachter an anderen Universitäten im In- und Ausland.

Hans-Jürgen Bömelburg und Norbert Kersken, Marburg 2020 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 37), S. 47–62. 7 Paul Martin Langner / Agata Mirecka (Hg.): Tendenzen der zeitgenössischen Dramatik, Frankfurt am Main 2015, Paul Martin Langner / Agata Mirecka (Hg.): Raumformen in der Gegenwartsdramatik, Frankfurt am Main 2017, Paul Martin Langner / Joanna Gospodarczyk (Hg.): Zur Funktion und Bedeutung des Chors im zeitgenössischen Drama und Theater, Berlin 2019. 8 Näheres über die Hebbel-Gesellschaft ist auf der Homepage www.hebbel-gesellschaft.de zu finden.

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Angela Bajorek

Professor Paul Martin Langner wird als ein hervorragender Wissenschaftler in den Bereichen der Überlieferungsgeschichte, Editionsphilologie und Kulturgeschichte geschätzt. Die mittelalterliche, insbesondere geistliche Literatur und die Auseinandersetzung mit Friedrich Hebbel bestimmen seine wissenschaftliche Tätigkeit. Derzeit entsteht eine Ausgabe der mittelniederdeutschen Apokalypse und die Edition der Korrespondenz von Christine Hebbel-Enghaus, die nahezu 1.000 Briefe umfasst. Darüber hinaus arbeitet Paul Martin Langner auf Einladung von Frau Prof. Dr. Karina Kellermann an dem von ihr geleiteten Teilprojekt »Publizistische Teilklagen: Invertierte Herrschaftsansprüche in deutschsprachigen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit« mit, das im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1167 »Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive« der Universität Bonn entstand. Er befasst sich hier mit der politischen Dichtung des im 15. Jahrhundert an verschiedenen königlichen und kaiserlichen Höfen wirkenden deutschen Dichters Michel Beheim. Professor Paul Martin Langner ist bei seinen Studenten sehr beliebt, weil er immer Zeit für sie findet. Wenn es Interesse gibt, organisiert er auch einen Stammtisch für Studierende der Germanistik oder nimmt mit ihnen an einer Studienreise teil.9 Der Jubilar ist vor allem aber ein guter, warmherziger Mensch und scharfer Lebensbeobachter, der den Studierenden, aber auch den Kollegen und Kolleginnen, immer mit Rat und Tat zur Seite steht. Seine Ruhe, Offenheit, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Empathie und sein Humor polarisieren! Das Interesse an der Frage, wie das gegenseitige Verstehen der Menschen auf der Basis sprachlicher Kommunikation gewährleistet werden kann und die Auseinandersetzung mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins ermöglichen es ihm leicht, feine Gespräche zu führen und in jeder Gesellschaft zu brillieren. Nicht nur einmal erwies er sich als ein idealer Konfliktlöser mit Motivationstalent. Ihm allein verdanke ich die Anregung und Ermutigung zur weitergehenden Beschäftigung mit der deutschen Kinder- und Jugendliteratur und mit dem Lebensweg von Janosch. Seine schöne Rezension zur polnischen Ausgabe der Biografie10 des deutschen Kinderbuchillustrators und -autors Janosch und der Artikel zur Vermarktung der Markenzeichen11 beweisen Professor Langners

9 Vgl. hierzu Anna Radzik / Paul Martin Langner: Podróz˙e studyjne jako forma kształcenia na studiach neofilologicznych, in: Konspekt 41 (2011), Nr. 4, S. 93–97. 10 Angela Bajorek: Heretyk z familoka. Biografia Janoscha, Kraków 2015. Auf Deutsch erschien das Buch unter dem Titel: Wer fast nichts braucht, hat alles. Janosch – die Biografie. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz, Berlin 2016. 11 Paul Martin Langner: Von der gelungenen Zeichnung zur Trade Mark. Von der Wiederholung der Zeichen, in: Angela Bajorek (Hg.): Szcze˛´sliwy, kto poznał Janoscha. Lite-

Hommage an Professor Paul Martin Langner

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Bereitschaft, sich neuen wissenschaftlichen Bereichen und Fragestellungen zu widmen, sowie seine Sensibilität für ästhetische Themen auch in der Kinder- und Jugendliteratur. Von ihm stammt auch der Satz, dass die Zeit »das eklatante Maß des Theaters, die Vergänglichkeit des Moments und seine Rekonstruktion«12 bedeutet. Alle Menschen spielen in einem Theater des Lebens, in dem die Zeit unser Leben bestimmt. Für die schönen, unvergesslichen Momente unserer gemeinsamen Jahre im Institut bedanke ich mich ganz herzlich. Dem Jubilar wünsche ich für die kommenden Jahre ein weiteres fruchtbares Wirken im Sinn und Geist der Forschung bei bester Gesundheit!

rackie korzenie toz˙samos´ci. Von dem Glück, Janosch gekannt zu haben. Literarische Wurzeln der Identität, Wrocław 2017, S. 261–268. 12 Paul Martin Langner / Agata Mirecka (Hg.): Tendenzen der zeitgenössischen Dramatik, Frankfurt am Main 2015, S. 7.

Hargen Thomsen (Hebbel-Gesellschaft Wesselburen)

Ein Hurra für den Präsidenten

Literaturgesellschaften – und vor allem literarische Namensgesellschaften – sind seltsame Zwitterwesen. Ihre Seele ist die Begeisterung, ihr Geist ist die kritische Vernunft und ihr Leib sind die Mitglieder, die sich aus ganz unterschiedlichen Motiven zusammenfinden, um dem Werk eines Dichters und Autors zu huldigen. Gegründet werden sie meistens von Laien, die von einer unreflektierten Mischung aus Bewunderung, Dank für geistige Wohltaten und Lokalpatriotismus angetrieben werden. Erst in einem zweiten Schritt kommen dann die Fachwissenschaftler hinzu, denen unter dem Dach des Vereins ein Podium gegeben wird, ihre Arbeiten über seinen Namenspatron vorzustellen. Mit dieser Zweiteilung, dieser Gradwanderung zwischen laienhaftem Enthusiasmus und philologischem Rationalismus müssen die Literaturgesellschaften leben, sie ist ihnen wesenhaft eingepflanzt, und immer wieder reiben sie sich daran, manchmal bis zur Selbstzerstörung. Denn der einen Seite ist die Tendenz zur Vergötterung, Verharmlosung oder Verfälschung eingepflanzt, der anderen die zur Abstrahierung und Entzauberung. Oft beharren beide Seiten auf ihrer jeweiligen (einseitigen) Sichtweise, ohne wahrzunehmen, dass es beider Seiten bedarf, um einen bedeutenden Autor im kulturellen Gedächtnis einer Sprachgemeinschaft zu bewahren. Die Hebbel-Gesellschaft hat seit ihrer Gründung im Jahre 1926 die verschiedensten Phasen durchlaufen, die sich aus dieser Doppelnatur ergeben. Gegründet in Friedrich Hebbels Geburtsort Wesselburen, »in der Einöde eines Dithmarsischen Marktfleckens« (wie Hebbel selbst wenig freundlich über seine Heimatstadt sagte) haftet ihr die Provinzialität von Beginn an, aber sehr früh hat sie schon wissenschaftliche Beiträge herausgebracht oder zumindest initiiert, ohne die die Hebbel-Forschung heute nicht denkbar wäre. Im Laufe der Jahrzehnte hat es immer ein Ringen gegeben zwischen literarischer Heldenverehrung und wissenschaftlicher Kritik, und mehr als einmal hat das zu ernsthaften Spannungen innerhalb des Vereins geführt. Als Martin Langner im Jahre 2014 zum Präsidenten der Hebbel-Gesellschaft gewählt wurde, lag eine Phase hinter uns, in der die Wissenschaft dominiert

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Hargen Thomsen

hatte, und zwar derart, dass die Mitglieder sich von dieser Herrschaft der nackten Ratio zunehmend irritiert und abgestoßen zeigten, was am schwindenden Zuspruch zu unseren Veranstaltungen deutlich zu merken war. Martin Langner ist es zu verdanken, dass sich dies in den folgenden fünf Jahren grundlegend änderte. Der Grund ist, dass er die Zwitternatur einer Literaturgesellschaft besser als andere durchschaut und sowohl ihrer Seele – der Begeisterung – als auch ihrem Geist – der kritischen Vernunft – Gerechtigkeit widerfahren lässt. Er versteht es, arrivierte Forscher wieder auf unseren Autor hinzudeuten und junge Studenten für ihn zu begeistern, aber vergisst dabei keinen Moment lang, dass auch die laienhafte Liebe zur Literatur eine Heimstatt in unserem Verein finden muss. Seine Unvoreingenommenheit, Toleranz und menschliche Wärme befähigen ihn, beiden Seiten gerecht zu werden, und beide Seiten fühlen sich von ihm anerkannt und gefördert und wissen es durch immer gesteigerten Zuspruch zu danken. Seine Arbeit an der Biographie Christine Hebbels ist ein gutes Beispiel dafür, denn so wie er damit der Rezeption Friedrich Hebbels einen neuen Zugang erschließt, so begeistert er mit seinen Vorträgen und Berichten aus dieser Arbeit ein immer größeres Publikum. Es entspricht der uneitlen und selbstlosen Art Martin Langners, dass er sich jetzt schon Gedanken macht über einen Nachfolger, der die Hebbel-Gesellschaft in ein neues Jahrzehnt und Jahrhundert ihrer Existenz führen soll. Wir aber hoffen, dass er der Gesellschaft noch lange vorstehen möge und rufen zu seinem 65. Geburtstag ein dreifaches Hurra für unseren Präsidenten!

Manfred Schlüter (Schriftsteller, Illustrator und Bildender Künstler)

Wir nannten ihn Hebbel-Martin

Es war Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in jener Zeit also, die noch wahre Winter kannte, mit Eis und Schnee, der hier und da verwehte und sich haushoch türmte. In dieser Zeit geschah es alle Tage wieder, dass ein junger Mann sich auf sein Fahrrad schwang und in die platte Nordermarsch hinausradelte. Der junge Mann besaß weder Auto noch Fahrerlaubnis und hieß Martin. Er kam aus Berlin – aus dieser Metropole mit etwa drei Millionen Einwohnern – und lebte seit einigen Monaten in einem winzigen Städtchen an der schleswig-holsteinischen Westküste. Wesselburen. Dreitausend Einwohner. Er bewohnte eine kleine Wohnung im ersten Stock des Hebbel-Museums. Die Stadt hatte 1983 beschlossen, ein Stipendium zu vergeben. An Studenten, die sich mit dem großen Sohn der Stadt und seinem Werk auseinandersetzen und an ihrer Promotion arbeiten. Martin war der erste Stipendiat. Wir nannten ihn HebbelMartin. Und so sagen wir heute noch. Kennengelernt haben wir uns bei Eckart Oldenburg, dem damaligen Sekretär der Friedrich-Hebbel-Gesellschaft. Seit jenem Abend besuchte uns Martin. Alle paar Tage, wenn ich mich recht erinnere, vielleicht auch alle paar Wochen. Sehr regelmäßig jedenfalls. Bei Sonnenschein und Regenguss, bei Eis und Schnee und Wind und Sturm, bei jedem Wetter. Ohne vorherige Terminabsprache. Einfach so. Er schwang sich auf den Sattel, trat in die Pedale und fuhr auf schmalen Straßen, vorbei an Äckern, Wiesen und Weiden, vorbei an kläffenden Hunden und brüllenden Bullen, bis in unser Dorf. Hillgroven. Vielleicht war ein Klingeln zu hören, vielleicht auch nicht, es klopfte an der Tür und er war da. Diese unvorhersehbaren Besuche vermisse ich. Noch heute. Da war jemand, mit dem ich reden konnte. Wirklich reden. Jemand, der – neben der Literatur und der Musik – auch die bildenden Künste liebte. Mit dem ich mich ernsthaft austauschen konnte. Der sich einließ auf meine Bilder und Objekte und die ersten schriftstellerischen Versuche. Der Jahre später einen wunderbaren Text schrieb über meine Kunst: »Hinter den Spiegel zu sehen. Von der Beunruhigung über die Unordnung der Welt«. Der irgendwann seine Geige mitbrachte. In der Hoffnung, wir könnten gemeinsam musizieren. Ich bin zwar im Besitz diverser

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Manfred Schlüter

Flöten, setze sie aber zu selten an den Mund und kann nicht wirklich spielen. Schade. Da war jemand, mit dem sich phantasieren ließ. So hegten wir etwa – alle Jahre wieder – den kühnen Plan, unseren Gartenteich, dem in heißen Sommern das Wasser abhandenkam, in ein Amphitheater zu verwandeln und auf dem trocknen Grund Adolf Glaßbrenners »Die Nibelungen« darzubieten, jene »dramatisirte Homerhoide in 3 Aktstößen«. Diese Parodie der Hebbelschen »Nibelungen« kam allerdings nie zur Aufführung. Und das ist gut so. Das unbeschwerte Spiel jedoch mit dieser – möglicherweise absurden – Idee, das Denken, Träumen, Phantasieren, das unendlich frei war und keine Grenzen kannte, das möchte ich nicht missen. Und dann? Dann war Martin irgendwann nicht mehr da. War anderswo. In Berlin. In Potsdam. Wir sahen uns seltener. Hielten aber Kontakt. Eine Zeit lang organisierte er Ausstellungen für die Berliner Galerie Les Beaux Arts, holte im Jahr 2000 auch meine Arbeiten dorthin: »Körper – Köpfe / Malerei und Skulpturen«. Ich erinnere mich gern an die Eröffnung, an Martins Laudatio, an manche Gäste, Gespräche und Musik. Und ich erinnere mich an andere Begegnungen. An unsere nächtliche Fahrt durch Dithmarschen beispielsweise. Ein eigenartiges Leuchten am dunklen Himmel begleitete uns, war da und blieb da und weckte in uns die Vorstellung, ein Raumschiff aus einer fernen Galaxie würde sich dem Erdenball nähern. Irgendwann wurde uns bewusst, dass eine Büsumer Diskothek ihre Gäste mit einer Lasershow zu beglücken suchte. Ich erinnere mich an unseren winterlichen Besuch in Berlin. An Martins Altbauwohnung in der Zinzendorfer Straße, an die Kohlen, die aus dem Keller geholt werden mussten, bevor sie ein paar Stockwerke höher im Ofen glühten und die Eisblumen an den Fensterscheiben ermunterten zu schmelzen. Ich erinnere mich an die Vorbereitungen für das große Gartenfest anlässlich meines fünfzigsten Geburtstages. Und an Martin, der Tische und Bänke mit Hingabe putzte und ihnen besonderen Glanz verlieh. Der Doktor, dachte ich damals, ist nicht nur ein kluger Denker, er kann auch mit den Händen arbeiten. Und ich erinnere mich an jenen Abend, als wir den Abschiedsbrief eines Freundes fanden, als wir um sein Leben bangten, nach ihm suchten und ihn Stunden später fanden. Unversehrt. Lange her. Sehr lange. Seit fast vierzig Jahren kennen wir uns schon. Die Welt hat sich verändert. Die große Welt da draußen. Und unsere kleine Welt. Die Haare haben sich gelichtet, den kräftigen Schnäuzer aber, der unter seiner Nase wuchert, den trägt Martin heute noch. Und Friedrich Hebbel, dem ist er auch jetzt noch nah. Obwohl er seit Jahren schon in Krakau lebt und an der dortigen Universität als Professor lehrt. Der erste Hebbel-Stipendiat der Stadt Wesselburen, er ist seit 2014 Präsident der Hebbel-Gesellschaft. Und so treibt es ihn – Hebbel-Martin, wie wir heut noch sagen – immer wieder mal an die schleswig-

Wir nannten ihn Hebbel-Martin

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holsteinische Westküste. In unsere Nähe. Allerdings radelt er nicht mehr – wie Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – alle paar Tage durch die Nordermarsch, vorbei an Äckern, Wiesen und Weiden, vorbei an kläffenden Hunden und brüllenden Bullen, um uns zu besuchen. Nein, ich fahre zur vereinbarten Zeit mit dem Blechmobil nach Wesselburen und erkenne ihn sehr bald am wehenden Mantel. Mal kommt er mir zu Fuß entgegen, mal finde ich ihn vorm Motel mit dem erfrischenden Namen »Seeluft« oder auf dem Markt. Und dann ist es beinah so wie früher und doch ganz anders. Und das ist gut so.

Zur Rezeption von Friedrich Hebbels Werken

Graz˙yna Barbara Szewczyk (Uniwersytet S´la˛ski w Katowicach)

Friedrich Hebbel in Polen. Ein Beitrag zur Rezeption seiner Dramen am Beispiel der Tragödie Maria Magdalena

Einleitung Das Interesse der polnischen Kritiker, Übersetzer und Literaturwissenschaftler für das Werk Friedrich Hebbels (1813–1863), hauptsächlich für seine Dramen und philosophisch-ästhetischen Anschauungen, reicht in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurück, nachdem das Stück Maria Magdalena ins Polnische übersetzt und am 28. November 1885 im Krakauer Theater aufgeführt wurde. Von dem Gedicht Hebbels Die Polen sollen leben. Neujahrsnacht 1835 und dessen Übertragung durch Gotthilf Kohn1 im Jahr 1888 nahm man damals noch keine Notiz. Es ist nicht verwunderlich, weil es sich in den Polenliedern, zu denen der Hebbel’sche Text gehörte, um eine begrenzte Anzahl von Motiven bzw. Stoffen handelte, die nur einen kleinen Rezipientenkreis erreichte. Doch die erschienenen zwei polnischen Übersetzungen des Dramas Maria Magdalena (1905 von Józef Mirski und 1906 von Henryk Salz) und die drei Übersetzungen der Tragödie Judith (1851 von Jan Nepomucen Kamin´ski, 1885 von Kazimierz Kaszewski und 1908 von Karol Irzykowski) außerdem die Übertragungen ausgewählter Gedichte (1907) und Tagebücher (1911) waren für die Dichter und Publizisten der polnischen Moderne eine faszinierende Lektüre, die einige dazu bewegte, sich intensiv und persönlich mit der europäischen Gegenwartsliteratur auseinanderzusetzen. In den Dramen des deutschen Dichters fanden sie ein Geflecht von Ideen, Symbolen, Denkfiguren und Begriffen, die auf die modernistische Ästhetik und 1 Gotthilf Kohn hat die Anthologie Polska w ´swietle niemieckiej poezji in den Jahren 1890– 1891 in Sambor veröffentlicht. Er sammelte Gedichte und Lieder der deutschen Autoren, die ihre Stimme für die um die Freiheit kämpfenden Polen erhoben. In seiner Anthologie findet man auch die »Polenlieder«, die während des Novemberaufstandes und kurz darauf entstanden und das historische Ereignis aus verschiedenen Perspektiven schildern. Das von Gotthilf Kohn übersetzte Gedicht Hebbels enthält Elemente der Klage und der Trauer, soll jedoch bei den deutschen Lesern mehr als nur Teilnahme und Mitgefühl hervorrufen. Es bleibt keine Hoffnung für Polen, schreibt der Dichter, nicht nur weil »der Mann, der’s Vaterland verlor«, in der Neujahrsnacht während einer Feier in Hamburg stirbt, sondern weil das tragische Schicksal Polens die ganze Welt bald teilen kann.

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die originelle Auffassung von dem Wesen des Tragischen verwiesen. Das war wohl auch der Grund dafür, dass man sich später, in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Werk Hebbels in der wissenschaftlichen Forschung beschäftigte.2 Die seltenen Inszenierungen seiner Stücke – am 22. März 1918 fand im Polnischen Theater (Teatr Polski) in Warschau (poln. Warszawa) die Erstaufführung von Marya Magdalena statt – haben jedoch zur Rezeption seiner Werke in der polnischen Theatergeschichte wenig beigetragen.3 In der Zwischenkriegszeit wurden Friedrich Hebbels Werke an polnischen Theatern nicht mehr aufgeführt, weil man in der Zweiten Polnischen Republik dem Publikum einerseits vermehrt Stücke der polnischen Dramatiker präsentieren, andererseits aber auch mit neuen Theaterformen experimentieren wollte. In Warschau spielte dabei der Regisseur und Dramatiker Arnold Szyfman (1882– 1967) eine große Rolle, der sich besonders für die Inszenierungen Max Reinhardts interessierte und sich daher häufig in Berlin aufhielt, um die Aufführungen zu besuchen. Zum ausländischen Repertoire des polnischen Theaters zählten in der Zwischenkriegszeit weiterhin Henrik Ibsen, aber auch Bertold Brecht und Gerhart Hauptmann. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden einige Publikationen der polnischen Germanisten, die wenig erforschte Aspekte im Werk des deutschen Dramatikers untersuchten und seine Texte als Zeugnis einer modernen Kunstauffassung deuteten. Friedrich Hebbel sei immer noch »ein wenig bekannter Dichter«, schrieb in seiner 1971 erschienenen Hebbel-Monographie der Breslauer Germanist und Literaturwissenschaftler Zdzisław Z˙ygulski.4 Er war damals der Einzige, der sich dem Werk Hebbels in der Zeit des Aufbaus der germanistischen 2 In den Jahren 1919–1939 ließ das Interesse der Kritiker an den Hebbel-Werken allmählich nach. Die Germanistikstudenten in Lemberg und Krakau und die polnischen Gymnasiallehrer, die Deutsch unterrichteten, waren aber diejenigen, die Hebbels Werke im Original lasen. 3 Über das Repertoire des Polnischen Theaters in Warschau findet man nähere Informationen in den Erinnerungen von Leon Schiller und Arnold Szyfman. Hinweise auf Inszenierungen Hebbels gibt es dort keine. Die polnischen Theaterarchive wurden tragischerweise zu großen Teilen im Ersten und Zweiten Weltkrieg zerstört, daher fehlen häufig genauere Angaben zu Theaterinszenierungen. 4 Zdzisław Z˙ygulski (1888–1975) polnischer Literaturhistoriker und Germanist. Während des Germanistikstudiums an der Universität Lemberg in den Jahren 1906–1908 besuchte er das Seminar von Professor Richard Maria Werner. Aus dieser Zeit stammen seine Interessen für Hebbel. Seinen ersten Beitrag über Friedrich Hebbel Krasin´ski a Hebbel. Szkic porównawczy [Krasin´ski und Hebbel. Eine vergleichende Studie] veröffentlichte er 1947 in der polnischen wissenschaftlichen Zeitschrift »Pamie˛tnik Literacki«. Es ist eine komparatistische Studie, in der die Dramen Hebbels mit den Dramen des polnischen Romantikers Zygmunt Krasin´ski verglichen und der Einfluss der Philosophie von Schelling und Hegel auf das Konzept des Tragischen beider Dramatiker untersucht werden. 1971 erschien Z˙ygulskis Abhandlung Fryderyk Hebbel. Obraz z˙ycia i twórczos´ci [Friedrich Hebbel. Sein Leben und Werk], ein Jahr später publizierte der polnische Germanist zwei Artikel über die neuen Interpretationsansätze der Hebbel’schen Werke.

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Seminare im Nachkriegspolen zuwandte und eine markante Zäsur in der polnischen Hebbel-Forschung setzte. Die 1958 im Warschauer Verlag neu aufgelegten Tagebücher Hebbels und eine Auswahl von Hebbels Aphorismen in der Übersetzung von Stefan Lichan´ski (1985) runden diese Etappe ab. Im Jahre 1992 publizierte Karol Sauerland die Studie Hebbel als Schlüsselfigur für Lukács und Irzykowski zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der er auf die ästhetisch- weltanschaulichen Grundlagen der Hebbel’schen Auffassung von der Tragödie zurückgreift, und dessen Begriff des Tragischen in den Texten von zwei Kritikern, Georg Lukács und Karol Irzykowski5 – beide haben Hebbel für einen der bedeutendsten europäischen Zeitgenossen gehalten – untersucht. Die im Jahr 2002 erschienene Abhandlung der Warschauer Germanistin Katarzyna Sadkowska Irzykowski i inni. Twórczos´c´ Fryderyka Hebbla w Polsce 1890–1939 [Irzykowski und die anderen. Friedrich Hebbels Werk in Polen 1890–1939] ist ein Versuch, einen wichtigen Zeitabschnitt in der Rezeptionsgeschichte Hebbels in Polen zu rekonstruieren und Karol Irzykowskis Polemik mit Hebbels Konzept des Tragischen kritisch zu reflektieren. Der vorliegende Beitrag soll an die unterschiedlichen Phasen in der Rezeption des dramatischen Schaffens Hebbels erinnern. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen die Bühnenrealisierungen der Tragödie Maria Magdalena aus den Jahren 1885 bis 2011. Anhand von Pressekritiken, Rezensionen und anderen publizistischen Formen wird untersucht, wie die kulturelle Tradition Polens die Erwartungen der Zuschauer prägte und wie sie die Aufnahme der Dramen Hebbels beeinflusste.

Polnische Inszenierungen der Tragödie Marya Magdalena in den Jahren 1885 bis 1939 Am 28. November 1885 wurde auf der Bühne des Alten Theaters in Krakau (poln. Kraków) zum ersten Mal ein Drama von Hebbel in polnischer Übersetzung aufgeführt. Es handelte sich um die Premiere der Tragödie Maria Magdalena, die von dem Romanautor, Dichter und Dramaturgen Władysław Sabowski übersetzt und inszeniert wurde. Einige Tage danach erschienen in den Krakauer Zeitungen Rezensionen, die heute nicht nur als interessante Dokumente der polnischen Theatergeschichte gelten, sondern auch als Zeugnisse der Sprachkultur der Kritiker zu betrachten sind. In einer Rezension der Inszenierung, die in der 5 Die erste Etappe in der Rezeption Hebbels in Polen endet 1908 mit der Herausgabe des Buches von Karol Irzykowski Fryderyk Hebbel jako poeta koniecznos´ci [Friedrich Hebbel, der Dichter der Notwendigkeit], das der Biographie und dem dramatischen Schaffen des Dramatikers gewidmet ist. Irzykowski war ebenfalls Schüler Richard Maria Werners.

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Krakauer Tageszeitung »Czas« [Die Zeit] veröffentlicht wurde und deren Autor seinen Text mit den Initialen L. K. signierte, lesen wir: »Das bürgerliche Trauerspiel Maria Magdalena gehört zu den bedeutsamen und erhabenen Theaterstücken in der deutschen Literatur. Man muss der Direktion unseres Theaters für die Bemühungen, das Stück auf der Krakauer Bühne aufzuführen, sehr herzlich danken. Leider sind bei der Premiere nicht viele Personen erschienen. Das beweist, dass der Geschmack des Publikums und dessen Sinn für die hohe Kunst, gesunken sind. Das Drama von Hebbel zeigt den Kampf der edlen Gefühle des Menschen mit dem Fatum, das symbolisch als böse Leidenschaften und Fehler anderer Menschen dargestellt wird. Dadurch, dass dieser Kampf im realen, alltäglichen Leben geführt wird, kommt er uns wirklichkeitsnah, zeitgemäß vor. Der Dramatiker erzählt im Stück eine Geschichte, die in der Welt der Bürger und Handwerker spielt, und beweist, dass der Mensch immer dort der Mensch bleibt, wo der ewige Kampf zwischen Gutem und Bösem stattfindet«.6

In seiner Besprechung geht der Kritiker auf Ereignisse und Charaktere in der Bühnenrealisierung des Dramas ein, hebt die Rolle der Sprache der Monologe hervor, die wie »goldene Fäden in Dialoge eingeflochten werden,« und meint, das Stück sei Hebbels Meisterleistung. Viel Aufmerksamkeit widmet er den Krakauer Schauspielern, die seiner Meinung nach, großartig und mit Engagement ihre Rollen gespielt haben. In einer anderen Kritik, die in der Krakauer Tageszeitung »Nowa Reforma« [Die neue Reform] erschien, versucht der Rezensent, der den Text mit den Buchstaben O. O. unterschreibt, dem polnischen Leser die dramatische Kunst Hebbels in einigen Zeilen nahe zu bringen: »Der bedeutendste deutsche Dramatiker um die Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich in keine der Strömungen der Literatur eindeutig einordnen. Hebbel ist ein großer Einzelgänger und passt in keine Schublade seiner Epoche. Der Strom der Gedanken trieb ihn vom Romantischen und Sentimentalen hin zur Tragik des leidenden Menschen. Er fesselt uns als distanzierter Beobachter sinnloser tragischer Existenzen, die unser Mitleid jedoch nicht erregen. Seine Schöpfungen sind depressiv – er ist fehlgegangen. Er schaut auf die Welt wie auf ein Glas schmutziges Wasser, das unter dem Mikroskop betrachtet wird«.7

Der Rezensent hält Hebbel für den Wegbereiter des deutschen Realismus und für den Erneuerer der »verstorbenen Wahrheit in der dramatischen Gattung«. Das, was ihn fasziniert, ist die Art und Weise, wie der Dramatiker »das Ringen der 6 L. K.: Tragedya Hebbla Marya Magdalena i Konfederaci Barscy Mickiewicza [Hebbels Tragödie Maria Magdalena und Mickiewicz’ Konföderierte von Bar], in: Czas, Nr. 276 vom 2. Dezember 1885, S. 4. Die in diesem Artikel befindlichen Übersetzungen der Pressekritiken aus dem Polnischen stammen alle von Graz˙yna Barbara Szewczyk. 7 O. O. [Mieczysław Pawlikowski]: Marya-Magdalena – tragedya Fryderyka Hebbel, in: Nowa Reforma, Nr. 276 vom 2. Dezember 1885, S. 4 und Nr. 277 vom 3. Dezember 1885, S. 4.

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Menschen mit ihren Schwächen, Leidenschaften und Trieben« zeigt, und wie er die Charaktere darstellt. Doch – so schreibt er – »wird das Schicksal der Menschen nicht durch das Fatum, sondern durch eine höhere Notwendigkeit gelenkt; sie liege in der Natur der Menschen, ist also die unvermeidbare Beziehung zwischen Ursache und Wirkung«.8 Im Gegensatz zu den lobenden Worten des ersten Rezensenten bemängelt O.O., dass die Charaktere im Drama mit Details überladen, jedoch nicht ausgeprägt seien. Selbst die Dialoge wirkten stellenweise weitschweifig und unheimlich. »Marya Magdalena, das bürgerliche Trauerspiel – die deutschen Philister nannten es das Schauerstück –, wurde leider von dem Krakauer Publikum nicht verstanden. Es lag an dessen verdorbenem, ästhetischen Geschmack. Die frühere Leitung des Theaters hat nur die französischen Farcen aufführen lassen. In der Inszenierung der Hebbel’schen Tragödie traten glücklicherweise talentierte Schauspieler auf und spielten ihre Rollen perfekt«.9

Die erste Übersetzung des Dramas wurde 1905 im Verlag Feliks West in Brody veröffentlicht und stammte aus der Feder von Józef Mirski (eigentlich Józef Kretz). Mirski (1882–1943) studierte in den Jahren 1901 bis 1904 Literatur und Philosophie an der Universität Lemberg, besuchte das Seminar von Professor Richard Maria Werner und schloss sein Studium mit der Promotion im Jahre 1908 ab. Danach arbeitete er als Lehrer an einigen Gymnasien in Ostgalizien in Złoczów (ukr. Zolocˇiv), Drohobycz (ukr. Drohobycˇ) und Lemberg (poln. Lwów, ukr. L’viv). Seine Übersetzungen aus der deutschen Literatur – er übertrug Schiller, Goethe, Heine und Hebbel – und die Geschichte der Pädagogik sowie die Werke des zeitgenössischen deutschen Pädagogen und Gegners Hitlers, Friedrich Wilhelm Foerster – wurden von polnischen Kritikern sehr geschätzt. Mirski war auch ein anerkannter Literat, Autor von Studien über die Dichter der polnischen Moderne, zum Beispiel über Stanisław Wyspian´ski. Ob seine Übersetzung der Hebbel’schen Tragödie dem polnischen Regisseur als Vorlage bei der Inszenierung des Dramas auf der Bühne des Lemberger Theaters diente, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Die Premiere fand am 11. Oktober 1912 statt, drei Jahre nach dem Erscheinen des Stückes in der Übersetzung von Henryk Salz. Salz hatte Rechtswissenschaften in Lemberg studiert und besuchte gelegentlich Vorlesungen von Professor Werner. Er schrieb auch Gedichte und übersetzte literarische Werke aus dem Lateinischen und Deutschen. In keiner Rezension des Hebbel’schen Stückes findet man Hinweise auf den Namen des Übersetzers, wobei sich alle Rezensenten über die Übertragung des Textes negativ oder zurückhaltend äußern. Es lohnt sich, einige Pressestimmen und Urteile der Theaterkritiker 8 Ebd., Nr. 276 vom 2. Dezember 1885, S. 4. 9 O. O: Marya-Magdalena – tragedya Fryderyka Hebbla (wie Anm. 7), S. 4.

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über die Versuche der Regisseure, das Stück Hebbels mit verschiedenen Mitteln zu aktualisieren, zu zitieren. Die Erstaufführung des Dramas Maria Magdalena im Lemberger Theater weckte das Interesse für das Schaffen des deutschen Dramatikers, doch die Besprechung der Inszenierung in der Tageszeitung »Kurjer Lwowski« [Lemberger Kurier] vermittelte den Eindruck, die Aufführung sei eine Katastrophe: »Dem Lemberger Theater ist es nicht gelungen, Hebbel ins Theater einzuführen. Es ist keine Krönung des großen deutschen Dramatikers, sondern eine Tragödie der Irrtümer, schließlich eine Exekution eines Todesurteils.[…] Gewiss, das noch vor einem halben Jahrhundert erregende Drama, spricht uns heute wenig an, dessen Inhalt ist nicht mehr interessant […], die künstlerischen Mittel sind längst überholt. Die Inszenierung des Stückes war eine sehr schwere Aufgabe für den Regisseur und eine Herausforderung für die Schauspieler. Hebbel bleibt uns jedoch fremd«.10

Die Rezension des aufgeführten Stückes ist lang und tiefgehend. Um seine Meinung zu begründen, analysiert der Kritiker verschiedene Elemente der Inszenierung ganz genau. Erstens merkt er an, Maria Magdalena sei ein realistisches Drama, es werde aber im Lemberger Theater als melodramatisches Werk gespielt. Zweitens notiert er, dass es sich zwar um ein bürgerliches, realistisches und historisches Stück handele, der Hebbel’sche Realismus jedoch den Blick nach innen und nicht nach außen richte und wenig mit dem französischen Realismus, bzw. mit dem realistischen Drama von Ibsen gemeinsam habe. »Es ist ein Realismus der Leidenschaften, Gefühle und vor allem der Gedanken […]. Man kann ihn als anatomischen Realismus bezeichnen«.11 Im dritten Teil der Besprechung geht der Rezensent auf die Mängel in der Inszenierungskunst ein, auf das Bühnenbild »das es nicht zuließ, dass man sich in die Zeit und Stimmung der Handlung versetzen konnte« und auf die musikalische Begleitung, – der rumänische Künstler mit der Mandoline war, gewiss, kein Virtuose – die störend wirkte, auf verfehltes Rollenspiel, Pathos, Monotonie. »Alles, was im Drama von Hebbel unvollkommen und veraltet ist, tritt in Erscheinung, während das, was bedeutsam und als Meisterleistung zählt, verloren gegangen ist. Selbst die Übersetzung war misslungen«.12 Selbst der tonangebende Kritiker und Literaturwissenschaftler Bronisław Gubrynowicz, der von dem Schaffen Hebbels immer begeistert war und im Stück Maria Magdalena den straffen Aufbau, die Folgerichtigkeit im tragischen Gang der Ereignisse, und die unversöhnlichen Gegensätze der Personen bewunderte, äußert sich irritiert über die Regie des Stückes und bewertet die Rollengestal10 ADZ: Z Teatru (»Marya Magdalena«, dramat w 3 aktach Fryderyka Hebbla), in: Kurjer Lwowski, Nr. 473 vom 14. Oktober 1912, S. 6–7. 11 Ebd., S. 7. 12 Ebd.

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tungen negativ. In einer längeren Besprechung der Inszenierung begründet er seine Meinung.13 Aus anderer Perspektive wird das Drama Hebbels von dem Lemberger Kritiker Jerzy Koller beurteilt: »›Marya Magdalena‹ ist das Werk eines großen Talents. Es werden hier Probleme angesprochen […], die nach Hebbel Autoren verschiedener Couleur aufgenommen haben. Wir finden hier das Problem […] der gefallenen Frau und das der Strafe für ihre Schuld, schließlich das Problem der erblichen Eigenschaft und viele andere«.14

Koller stellt die Hauptfigur in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Klara habe seiner Meinung nach mit der weiblichen Figur aus dem Evangelium nichts gemeinsam, deren Scheitern jedoch bleibe unverständlich. »Man darf diese Figur weder verdammen noch rechtfertigen, es gibt auch keinen Grund dazu, über ihre Tat ein Urteil zu verhängen. Ihre Beweggründe lassen sich nicht erklären«.15 Wie seine Kollegen ist auch Koller von der Inszenierung, der Regie, Musikleitung und der Gestaltung der männlichen Rollen sehr enttäuscht: »Wenn wir dem Polenfreund Hebbel unsere Dankbarkeit beweisen möchten – schreibt er zum Schluss – sollten wir uns bemühen, die komplizierten Zusammenhänge in der Handlung gedanklich zu verarbeiten und durch die Regie die Botschaft des Stückes deutlicher zu machen«.16

Der Kritiker I. J., der seine Rezension mit der Darstellung der Biographie des Dramatikers beginnt, erinnert an den Essay von Karol Irzykowski über den Pantragismus Hebbels und interpretiert das Stück Maria Magdalena im Zusammenhang mit dem Hebbel’schen Gesetz der Notwendigkeit und dessen Auffassung von der Idee. »Die enge bürgerliche Moral, repräsentiert durch den Meister Anton, ist der tragische Kreis der Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit tobt in allen Figuren des Dramas – sie kollidiert mit ihren individuellen Abweichungen und löst die Katastrophe aus, das heißt das tragische Scheitern aller Figuren. Die Schuld liegt bei allen, jede Person verletzt das moralische Weltgesetz, doch jede Person ist zugleich unschuldig, weil sie im Einvernehmen mit der eigenen Individualität handelt«.17

Der Inszenierung des Dramas widmet er nur wenige Bemerkungen und meint, der polnische Zuschauer bekomme keine Vorstellung von der Größe und Be13 GBR [Bronisław Gubrynowicz]: Z Teatru. »Marya Magdalena« dramat w 3 aktach Fryderyka Hebbla, in: Gazeta Lwowska, Nr. 238 vom 16. Oktober 1912, S. 5. 14 Jerzy Koller: Teatr, »Marya Magdalena«, dramat mieszczan´ski w 3 aktach Fryderyka Hebbla, in: Kronika Powszechna, Nr. 42 vom 19. Oktober 1912, S. 271–272. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 I. J.: Z Teatru (»Marya Magdalena«, tragedya w trzech aktach Fryderyka Hebbla), in: Wiek Nowy, Nr. 3379, vom 15. Oktober 1912, S. 9.

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deutsamkeit der Tragödie. »Die Inszenierung«, schreibt er, »geht an der Idee des Dramas vorbei«, sie sei »ein Skandal und ein Fiasko: das Publikum platzte vor Lachen in tragischen Momenten der Handlung«.18 Die Lemberger Inszenierung gab dem Kritiker Henryk Cepnik den Anlass dazu, über das gesamte Schaffen Hebbels und die Stationen seines Lebens zu schreiben und an dessen Verbindung zu Polen zu erinnern: »Hebbel war ein Polenfreund und appellierte an die Deutschen, die polnische Nation in ihrem Kampf um Unabhängigkeit zu unterstützen. In seinem 1835 entstandenen Gedicht ›Die Polen sollen leben‹ drückte er die enge Verbundenheit zwischen deutschen und polnischen Patrioten aus und wies auf die Solidarität zwischen beiden Völkern hin. Er hat auch Polen, nämlich die Stadt Krakau besucht, wo er die Burg Wawel besichtigte. Es war im September 1858. Hebbel arbeitete zu dieser Zeit intensiv an der Tragödie ›Demetrius‹ […] und kam aus Wien nach Krakau mit der Absicht, die polnische Kultur intensiv zu studieren«.19

In seiner Rezension des Hebbel’schen Dramas zitiert er Worte des Autors aus seinem Vorwort zum Drama und fasst die wichtigsten Stränge der Handlung zusammen. Er äußert sich mit keinem Wort zur Aufführung, betont jedoch, dass mit Marya Magdalena der Spielplan des Lemberger Theaters um ein bedeutendes Werk der deutschen Literatur bereichert wurde. Über die Lemberger Inszenierung schreibt noch ausführlicher der bekannte polnische Schriftsteller und Publizist Kornel Makuszyn´ski. Er erinnert, ebenso wie sein Kollege Cepnik, an das Polengedicht Hebbels, erwähnt auch die Erstaufführungen des 1911 ins Polnische übersetzten Stückes Judith auf den Bühnen in Lodz (poln. Łódz´) und in Warschau und das Buch Irzykowskis über Hebbel. In der Rezension wird die Problematik des Stückes Marya Magdalena – das er für ein Experiment der Epoche hält – eingehend erörtert. »Wenn man das Drama mit menschlichen Augen betrachtet« – lesen wir in der Kritik –, »und nicht durch die Brille der Philosophie, fällt uns auf, dass es ein Werk ist, auf das die Seele reagiert. Man zittert, indem man an die verworrenen tragischen Konflikte und die zerstörerischen Kräfte denkt, die das bürgerliche Haus in einen Friedhof umwandeln; alles, was nur als möglich erscheint, wird in der dramatischen Konstruktion Hebbels zur Gewissheit, zu einer erbarmungslosen Wahrheit, die erschreckt. Unerklärliche Angst wird einem eingejagt; aus dem grausamen Friedhof gibt es keinen Ausgang. Man kann daraus nicht fliehen. Hebbels Gehirn hat uns in einem Netz gefangen. Wie können wir

18 Ebd., S. 9. 19 Henryk Cepnik: Hebbel i jego »Marya Magdalena«, in: »Ilustrowany Przegla˛d Teatralny«, Jg. 2 (1912). Es geht um das Programmheft des Stadttheaters in Lemberg, das als Organ des »Ilustrowany Przegla˛d Teatralny« erschienen ist. Im Programmheft, das anlässlich der Premiere des Stückes Hebbels herausgegeben wurde, gibt es keine Nummerierung der Seiten und keinen Hinweis auf die Nummer des Heftes. Das Original befindet sich im Ossolineum in Lemberg.

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ihn lieben? Man verlässt das Theater Hebbels, wie man einen Seziersaal verlässt – mit dem Gefühl der Erleichterung«.20

Kornel Makuszyn´ski widmet nicht nur der Handlung des Dramas, sondern auch dessen Aufführung, die ihn mit Grauen erfüllt, viel Platz. Gelobt wurde die Schauspielerin für ihre Rollenleistung als Klara, kritisch äußert sich jedoch der Kritiker über die Musik, vor allem über den Auftritt des rumänischen Musikers in der einleitenden Szene, den er als »geschmacklos und unerträglich« beurteilt. Die Idee, Hebbels Marya Magdalena im Lemberger Theater aufzuführen, hält er für etwas, wofür man dankbar sein müsse, doch erhebt er Einwände gegen den Inszenierungsstil und die Abweichungen vom Original. »Der Direktor des Theaters sollte für eine gute Übersetzung sorgen, weil diese, die auf der Bühne präsentiert wurde, nicht nur dem Autor Unrecht tat, sondern auch von leichtsinnigem Umgang mit der polnischen Sprache zeugte«.21 Ein weiterer Rezensent, Stanisław Wasylewski, macht auf einige Elemente im Stück aufmerksam, die seiner Meinung nach, das Verständnis des Textes wesentlich erschweren. Es seien der kuriose Stil des Dramas und die Sprache der Figuren, die zwar durchdringe, doch sie erweise sich nicht als Sprache lebender Personen. Dabei verweist der Kritiker auf die Fragmente der Hebbel’schen Tagebücher, in denen sich der Dramatiker zu diesem Problem äußert und die Geheimnisse »seines sprachlichen Ausdrucks« enthüllt. Marya Magdalena, das Drama mit tragischen Konflikten sei, fügt er hinzu, »der Antike ebenbürtig«, das Tragische bei Hebbel jedoch wirke »erbarmungslos, kalt und fern«.22 »Über die Inszenierung auf der Bühne des Lemberger Theater lasse sich letztendlich nicht viel sagen«, meint Wasylewski. »Kein Einfallsreichtum, keine Achtung vor der Größe der Tragödie, man hat sie als ein gegenwärtiges, banales Drama über Konflikte unserer Zeit aufgeführt. Darüber hinaus präsentiert man Hebbel in einer sehr schlechten Übersetzung. In der Regie findet man keine überlegte Absicht, der erste Akt ist symbolisch gespielt worden, die anderen Akte wurden realistisch gespielt. Selbst in den Gestaltungen der Rollen gab es keine Disziplin […].«23

Am 25. Oktober 1913 wurde die Tragödie Hebbels ein einziges Mal im Polnischen Theater in Lodz aufgeführt. Über diese Inszenierung gibt es jedoch keine weiteren Angaben und Besprechungen. Danach fand nur noch einmal am 22. März ´ ski: Z teatru. »Marja Magdalena«, tragedja mieszczan´ska w 3. aktach 20 Kornel Makuszyn (czterech odsłonach) Fryderyka Hebbla, in: » Słowo Polskie«, Nr. 478 vom 12. Oktober 1912, S. 1–2. 21 St. W.: »Marya Magdalena«, tragedya w 3 aktach Fryderyka Hebbla, in: »Gazeta Wieczorna«, Nr. 939 vom 15. Oktober 1912, S. 2–3. 22 Ebd., S. X. 23 Ebd.

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1918 im Warschauer Modernen Theater (Teatr Współczesny) eine Aufführung des Stücks statt. Die hier untersuchten Quellenbestände, Theaterkritiken und die Spielpläne der polnischen Theater erlauben es, hinter die Kulissen der Rezeption der Hebbel’schen Dramen zu schauen, auch wenn deren Bild unvollständig bleibt. Die Unvollständigkeit erklärt sich aus der Vernachlässigung der Spielplanforschung und aus dem Mangel an Informationen über die Theaterleitung, die Regisseure und das Schauspielerteam. Man weiß auch nicht viel über die Anzahl der Vorstellungen. Das ungünstige Zahlenverhältnis zwischen Inszenierungen und Vorstellungen – die meisten Inszenierungen erlebten lediglich eine einzige Vorstellung – war eine Folge des Geschmacks des Publikums, das, wie die Rezensenten schreiben, keine innovativen Impulse von der Regie erwartete. Die Theater setzten auf Unterhaltungsproduktionen, nicht selten fanden zwei Premieren innerhalb einer Woche statt, und die Probezeiten waren sehr kurz. Die Rezensionen von der Aufführung von Marya Magdalena im Krakauer Theater vermitteln genauso wie die Kritiken nach der Premiere des Stückes am Lemberger Theater vor allem Einblicke in die Biographie und die ästhetischen Anschauungen Hebbels, widmen auch der Komposition und den Handlungsmotiven des Stückes sowie den Charakteren und der Sprache der Figuren Aufmerksamkeit. Hebbel wird den polnischen Zuschauern als einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker und auch als Polenfreund präsentiert. Doch die Lemberger Inszenierung erscheint den meisten Rezensenten nicht als diskussionswürdig. Kritisch werden nicht nur die polnische Übersetzung des Textes betrachtet, sondern auch das Konzept des Regisseurs und die mangelnde Schauspielerkunst bis auf wenige Ausnahmen: Die erfahrenen, talentierten Schauspieler wurden von den Rezensenten gelobt. Aus den Theaterkritiken geht eindeutig hervor, dass der Versuch, das polnische Publikum für das Drama Hebbels zu begeistern, zum Scheitern verurteilt war. Aus Presseberichten und Rezensionen erfährt man nichts Näheres über die Schwierigkeiten der Produktionsbedingungen und die Theaterzuschüsse, über Schauspieler und Gastspiele und über viele andere Probleme des Theaterbetriebs, obwohl die Kritiker wussten, dass sich die die künstlerisch ambitionierten Theaterproduktionen durch das Unterhaltungsangebot des aktuellen Repertoires – der Umfang der französischen Theaterstücke war um die Jahrhundertwende sehr groß – subventionieren ließen. Als 1912 die Premiere der Tragödie Marya Magdalena auf der Bühne des Lemberger Theaters stattfand, war Hebbel schon ein großer Name unter den polnischen Intellektuellen – 1885, während der ersten Premiere in Krakau war das Wissen über sein dramatisches Schaffen noch sehr gering –, und das missglückte Lemberger Theaterunternehmen beweist, dass weder der Leiter des Theaters noch der Regisseur die Idee des Stückes verstanden haben.

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Inszenierungen von Hebbels Dramen nach 1945. Stellungnahmen der Kritik zu den Versuchen der Aktualisierung Die Urteile der Theaterkritiker über die Versuche der Aktualisierung von Hebbels Drama Marya Magdalena fallen unterschiedlich aus. Die erste Nachkriegspremiere wurde von dem Theater in Gnesen (poln. Gniezno) vorbereitet und fand am 27. Januar 1968 statt. Der Regisseur Jan Perz24 und Małgorzata Maciejewska hatten dafür den Text neu übersetzt. Die am 5. April 1968 stattfindende Aufführung wurde im Theaterfernsehen (Teatr Telewizji) übertragen, allerdings blieb die Fernsehaufzeichnung nicht erhalten, und es erschien auch keine Besprechung des Theaterstücks. »Beide [Regisseure, Anm. GBSz]«, schreibt der Rezensent Sergiusz Zadruz˙ny, »haben die Sprache von ihrer Überschwänglichkeit und überflüssigen Rhetorik befreit; der sarkastische, aphoristische Witz des Autors trat in Erscheinung, der stimmungsvolle Ton und das romantische Vokabular haben sich verdichtet«.25 Im Mittelpunkt des Interesses des Rezensenten steht das Konzept des Regisseurs, das »mit Verständnis und Zustimmung aufgenommen wurde […]. Den Schwerpunkt der Inszenierung bildet der Kampf des bürgerlichen Mädchens Maria Magdalena mit seinem kompromisslosen Vater, während andere Motive, zum Beispiel der Tod der Mutter, der durch die Verhaftung des Sohnes verursacht wird, oder die verspätete Aufklärung des Falls, im Hintergrund des Hauptstranges stehen. Die melodramatischen Elemente wurden gedämpft, während die Rolle der Mutter mehr lyrisch als symbolisch erscheint; sie ist das erste Opfer des ›Todestanzes‹, an dem die anderen Figuren, der Meister Anton, Klara und Leonard teilnehmen […]. Die Interpretation des Stückes geht auf das Strindberg’sche Konzept des Todestanzes ein. In den Charakteren der Hebbel’schen Figuren, unterstreicht der Rezensent, liege ein Potential an Erneuerung, das dem Regisseur erlaubt den klassischen Text mit verschiedenen Mitteln aktueller zu machen«.26

In der Gnesener Inszenierung wurde die Tragödie auch durch die Verwendung bildender Kunst im Bühnenbild aktualisiert. »Das Bühnenbild mit seiner Anknüpfung an die niederländische Malerei gibt die Atmosphäre der geschlossenen bürgerlichen Gesellschaft wieder. Die leicht stilisierten Kostüme korrespondieren mit der einfachen Innenausstattung des Zimmers […]. Im Bühnenraum mit seinen unbeweglichen harmonisch gestaltenden Tönen und Farben, die man auf den Porträts Vermeers sieht, wurden neue Akzente gesetzt: In dem Projekt

24 Jan Perz (1918–1992), ein bekannter polnischer Regisseur und Dramaturg. Von 1949 bis 1989 arbeitete er an den Theatern in Stettin, Posen, Gnesen und Lodz. 25 Sergiusz Zadruz˙ny: Tragedia absolutnie uczciwych, in: Teatr, Nr. 10 vom 16. bis 31. Mai 1968, S. 6. 26 Ebd., S. 7.

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des Bühnenbildners spiegelt sich ›die erhabene Poesie der durch das Tragische stehengebliebenen Zeit wider‹«.27

Das Stück wurde auch als Gastspiel auf der Posener Bühne im März 1968 aufgeführt. Die inszenatorische Entscheidung des Regisseurs und des Bühnenbildners wurde von der Kritik enthusiastisch begrüßt und hochgeschätzt. Man fand sie interessant und unterstrich, dass alle dramaturgischen Maßnahmen, und die neue Übersetzung des Dramas von Bedeutung für die erfolgreiche Bühnenrealisierung des Stückes waren. In den letzten Jahrzehnten wurde das Stück in Polen nicht mehr aufgeführt. Das Drama Judith28 erfuhr zweimal seine Premiere; am 19. Mai 1990 wurde es von André Hübner-Ochodlo im Ateliertheater in Sopot inszeniert, am 8. Januar 2011 fand die Aufführung in der Regie eines der bekanntesten polnischen Regisseure der letzten Jahre, Wojciech Klemm, in Stettin statt. In der Inszenierung von Klemm drückt sich genauso wie in der Inszenierung der Maria Magdalena von Perz das persönliche Gepräge durch den Regisseur nicht zuletzt im Bühnenbild aus. Inhaltlich machen beide Vorstellungen den Eindruck, auf einer vertieften Analyse des Textes zu bauen, auch wenn beide Regisseure frei mit der Stückvorgabe umgehen. Ihre Konzepte bedeuten einen Wendepunkt in der polnischen Rezeption der Dramen von Hebbel und einen Bruch mit dem alten Modell der Regie.

Bemerkungen zu den polnischen Übersetzungen der Marya Magdalena Vom Übersetzer literarischer Texte wird verlangt, nicht nur das zu übersetzen, was wörtlich geschrieben wird, sondern auch »sich in das Ungesagte hineinzudenken«.29 Die Interpretationsfähigkeit des Übersetzers spielt dabei gewiss eine bedeutende Rolle; weil wir es jedoch mit den Übersetzungen des Dramas zu tun haben, die man als Vorlage für Theateraufführungen benutzte, sollten beim Textübersetzen noch andere Anforderungen erfüllt werden. Aus den Quellenangaben weiß man, dass die älteste Übersetzung des Stückes von Hebbel von dem polnischen Schriftsteller, Dichter, Publizisten und Übersetzer Władysław Sabowski stammt. Man nimmt an, dass der polnische Übersetzer, der zur Zeit der ersten Premiere von Marya Magdalena in Krakau lebte, mit den Krakauer Zei27 Ebd. 28 Judith wurde 1911 im Theater in Lodz und ein Jahr später in Lemberg inszeniert. 29 Dietrich Papenfuss / Jürgen Söring (Hg.): Rezeption der deutschen Gegenwartsliteratur im Ausland. Internationale Forschungen zur neueren deutschen Literatur, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1976, S. 101.

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tungen und dem Krakauer Theater zusammenarbeitete, das nicht in Druck erschienene Manuskript im Jahre 1885 abgeschlossen hatte. Im November desselben Jahres wurde das Drama aufgeführt. Aus den Theaterkritiken geht hervor, dass der Text Hebbels in polnischer Sprache die gedankliche und ästhetische Ebene des Originals wiedergab und verständlich auf der Bühne klang. Von der Kreativität des Übersetzers nahmen jedoch die Rezensenten keine Notiz, sie haben sich auch über die Qualität der Übersetzung nicht geäußert. Keiner der Kritiker erwähnt den Namen des Übersetzers. Man kann deshalb nicht behaupten, dass eine zuvor veröffentlichte Übersetzung des Dramas den polnischen Regisseuren als Vorlage für die Inszenierung diente. Die Übersetzung von Józef Mirski, der in Lemberg studiert hatte und Hebbels Werk gut kannte, erschien 1905 in Brody. Sie wurde »Herrn Prof. Richard M. Werner, dem hervorragenden Kenner Hebbels« gewidmet – so lautet die Widmung auf der ersten Seite – und mit einem Vorwort versehen. In der Einleitung stellt der Übersetzer eine kurze Biographie, das Werk und die ästhetischen Ansichten Hebbels vor, und versucht auch den Begriff der »tragischen Schuld« und das Wesen der dramatischen Technik am Beispiel von Marya Magdalena zu erläutern. Das Stück hält er »für das erste realistische Drama« Hebbels. Seine Übersetzung beweist, dass er den Hebbel’schen Text aufmerksam gelesen, sich von ihm »ein Bild« in »der ausgangssprachlichen inneren Sprache« gemacht und ihn dann ins Polnische übertragen hat. Die heutige Lektüre der Übersetzung zeigt, dass Mirski die sprachlichen Strukturen des Originals sensibel wahrnimmt, wodurch die schwierigen inhaltlichen Schichten auch in polnischer Sprache erfasst werden konnten. Er bedient sich der Sprache, die in literarischen Werken um die Jahrhundertwende, vor allem in dramatischen Texten gebraucht wurde; auch wenn einige Satzkonstruktionen archaisch erscheinen, wirkt das Drama in polnischer Übertragung aktuell. Ob sein Text vom Regisseur der Lemberger Inszenierung im Jahre 1912 für die Vorstellung übernommen wurde, lässt sich nicht bestätigen. Höchstwahrscheinlich benutzte man damals die 1906 in Lemberg gedruckte Übersetzung der Hebbel’schen Tragödie von Henryk Salz.30 Salz hat einige Passagen von seinem Vorgänger Józef Mirski übernommen und den übersetzten Text stellenweise archaisiert. Manche Formulierungen klingen heute veraltet oder unverständlich – die Lemberger Kritiker haben nach der Premiere von einer schlechten, unverständlichen Übersetzung geschrieben – manche, zum Beispiel die poetischen Verse, die vom Bruder der Hauptfigur auf der Bühne rezitiert werden – weisen auf kreative und gelungene Lösungen hin. Salz war ein ausgebildeter Jurist, schrieb aber auch Gedichte und übersetzte Hebbels Lyrik ins Polnische. Seine Überset30 Friedrich Hebbel: Marya Magdalena. Tragedya mieszczan´ska w trzech aktach. Przełoz˙ył Henryk Salz, Lwów – Złoczów 1906.

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Graz˙yna Barbara Szewczyk

zung der Maria Magdalena versetzt den Leser in die Atmosphäre des deutschen bürgerlichen Hauses um die Mitte des 19. Jahrhunderts und steht dem Original nahe. Sowohl er als auch sein Vorgänger verfügten über einen großen literarischen Wortschatz in der polnischen Sprache und Erfahrungen im Umgang mit der Übersetzerkunst. Nach 1945 entstanden zwar neue Übersetzungen von Regisseuren (Jan Perz und Małgorzata Maciejewska) für die Theateraufführungen Maria Magdalenas, allerdings erschienen diese nicht in Druck. Üblicherweise werden von den Regisseuren und Regisseurinnen vor einer Aufführung die Texte fremdsprachiger Autoren neu übersetzt und für die Bühne adaptiert. Die schon vorhandenen Übersetzungen dienten nie als Vorlage für Inszenierungen und dienen auch heute nicht dazu. Hervorzuheben ist, dass die polnische kulturelle Tradition und Geschichte, aber auch die Erwartungen der Leser und Zuschauer die Aufnahme der Stücke wesentlich geprägt und beeinflusst haben. Weil der überwiegende Teil des analysierten Materials aus Zeitungsrezensionen besteht, kann der Eindruck entstehen, dass bei der Bewertung der Aufführungen die Subjektivität des Kritikers als störender Faktor erscheinen mag. Man muss jedoch festhalten, dass fast alle Kritiker in der Rolle von qualifizierten Zeugen der Inszenierungen auftraten und dass ihre Beobachtungen dem heutigen Forscher interessanter als ihre Urteile erscheinen können.

Hans-Christian Stillmark (Universität Potsdam)

Verwoben vom Anfang bis zum Ende – Heiner Müllers Hebbel-Rezeption. Überlegungen zu einem Baustein der Wirkungsgeschichte Friedrich Hebbels

Vom Dramatiker Heiner Müller führen viele Spuren zu Friedrich Hebbels Werk. Hebbel selbst blieb aber in den poetologischen Auskünften Müllers fast unsichtbar. Hans-Thies Lehmann schätzte ein: »Friedrich Hebbel ist für Müller vor allem der Autor der Nibelungen-Trilogie, die anderen Stücke, auch das bürgerliche Trauerspiel bleiben dagegen am Rand«.1 In der Heiner-Müller-Biographie von Jan-Christoph Hauschild2 spielt Hebbel so gut wie keine Rolle. Aus Müllers Autobiographie hingegen geht hervor, dass er bereits im jugendlichen Alter von seinem Vater zu Hebbel geführt wurde. Da die Umstände kurios sind, soll diese Geschichte hier nicht vorenthalten werden: »Mein Vater hatte eine Prachtausgabe von Casanovas Memoiren, mit schwülen Illustrationen in Vierfarbendruck. Das war natürlich eine Lieblingslektüre von mir. Aber er fand das doch verderblich und zu früh für mich. Jedenfalls tauschte er den Casanova mit einem Kollegen gegen eine Schiller-, Hebbel- und Körner-Ausgabe ein. […] Ich habe den ganzen Schiller gelesen, die Stücke jedenfalls, von Hebbel auch alle Stücke. Und von da an wollte ich Stücke schreiben«.3

Der Ausgangspunkt zur Hebbel-Rezeption ist bei Müller somit gut nachzuvollziehen und er ist zudem überaus wichtig. Dass die Nibelungen Müller schon früh fesselten, unterstrich er im Zusammenhang mit seinen ersten Schreibversuchen im Alter von etwa zehn Jahren. Wie er in seiner Autobiographie ausführte, hatte er die Ritterkämpfe der Burgunder mit den Hunnen zunächst in Balladen gestaltet. Nach der Hebbel-Lektüre ging er jedoch dazu über, seine Stoffe in der dramatischen Gattung zu verarbeiten. Man kann also den Schluss daraus ziehen, dass die Hebbel-Lektüre ihm den Weg zum Dramatiker wies. Leider sind die 1 Hans-Thies Lehmann: Müller und die Tradition. Deutsche Literatur, in: Hans-Thies Lehmann / Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003, S. 123–129, hier S. 125. 2 Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Berlin 2001. 3 Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, in: Ders.: Werke 9. Eine Autobiographie, Frankfurt/Main 2005, S. 23f.

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historisch frühesten Versuche im Drama durch die Beschlagnahme aller Schriften im Hause Müller nach der Flucht des Vaters in den Westen verloren gegangen.4 Die erste sehr deutliche Spur Hebbels in Müllers Werk findet sich im Jahre 1953: Es ist kein Stück, sondern ein für Müller eher untypischer epischer Text mit einem für ihn ungewöhnlichen Titel: Liebesgeschichte.5 Die Erzählung ist durch ein Motto thematisch eingeleitet: »Klara: Heirate mich! (Hebbel; Maria Magdalena)«6. Die Analogie in Müllers Geschichte zu Hebbels Drama ist offensichtlich. Im Unterschied zu Hebbel ist es bei Müller die geschwängerte weibliche Hauptgestalt, die den zögerlichen Heiratsantrag des Studenten Hans P., der eher der Konvention und nicht der inneren Neigung entsprach, ablehnt. Die Frau ist in Müllers Erzählung nicht mehr völlig dem Willen der männlichen Partner ausgeliefert, sie kann unter den neuen gesellschaftlichen Umständen nun ihre eigenen Entscheidungen für oder gegen die Ehe treffen. Bemerkenswert ist zugleich, dass Müller seine Erzählung in dem zweiten Band seiner bei Rotbuch erschienenen Werkausgabe Geschichten aus der Produktion 27 zwischen Prometheus und seiner Zement – Bearbeitung platzierte. Er betonte damit die Affinität der jungen Arbeiterin aus der Liebesgeschichte zu Dascha, der weiblichen Hauptgestalt in Zement.8 Dascha verweigert sich nach Revolution und Bürgerkrieg in Russland ihrem heimgekehrten Ehemann und ebenso ihrer konventionellen Rolle als Mutter. Ihre Geschichte ist lesbar als eine neue Seite im Buch der Emanzipation, die noch nicht einmal richtig aufgeschlagen wurde. Die von der Frau gewollten neuen Verhältnisse sind angezeigt, sie sind aber noch nicht mit Worten zu fassen. Dascha bekennt gegenüber ihrem Mann: »Ich liebe dich. Aber ich weiß nicht mehr/ Was das ist, eine Liebe. Wenn sich alles umwälzt./ Wir müssen sie erst lernen, unsre Liebe«.9 Die Tragik der unlebbaren Liebe, die sich hier für die Zukunft abzeichnet, hat mit der Tragik in Hebbels Stück kaum noch zu tun. Müller weist mit seiner Liebesgeschichte auf die neuen Möglichkeiten der (vielleicht) klassenlosen Gesellschaft hin, die die traditionell patriarchisch dominierten Geschlechterrollen umwälzen, freilich ohne den Zielpunkt dieser Neustrukturierung auch nur annähernd zu fixieren. Hebbels Arbeit dient Müller

4 Vgl. Ebd., S. 24. 5 Heiner Müller: Liebesgeschichte, in: Ders.: Werke 2. Die Prosa, Frankfurt/Main 1999, S. 23– 31. 6 Ebd., S. 23. 7 Vgl. Heiner Müller: Liebesgeschichte, in: Ders.: Geschichten aus der Produktion 2, Berlin 1974, S. 57–64. 8 Vgl. Heiner Müller: Zement. Nach Gladkow, in: Ders.: Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt/ Main 2001, S. 379–468. 9 Ebd., S. 437.

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hier also als Abstoßungspunkt, der für die Überlebtheit der Geschlechterverhältnisse einstand, die sozusagen in die neue Ordnung »aufgehoben« werden. Ein zweites Thema, das Müller zeitlebens nicht losließ und das ihn in seiner Traditionswahl beständig an Hebbel band, bestand im Komplex der Nibelungen und deren Dramatisierung durch Friedrich Hebbel. Man kann vielleicht einwenden, dass Müller anfangs vor allem vom Stoff der Nibelungen fasziniert war und deren Adaption durch Hebbel für ihn zweitrangig hielt. Es muss jedoch konstatiert werden, dass mit der Bezugnahme zu den Nibelungen auch die Hebbel-Rezeption einherging und sie nachweislich bis in seine letzten Stücke reichte. Das unterstreicht in der Werkausgabe am deutlichsten ein Fragment aus dem Jahre 1987/88. Es trägt keinen Titel und ist nach seiner ersten Zeile benannt worden: »[Aus rotem Nebel in das Rampenlicht …]«.10 Der aus dem Nibelungenlied bekannte Sänger Volker fungiert hier als Hauptgestalt. Er fasst zunächst das Geschehen von Hebbels Drama zusammen. Aus den »Bibliographischen Notizen« im Anhang des Bandes11 erfährt man, dass das Fragment in Verbindung mit einer Inszenierung von Hebbels Die Nibelungen in der Regie von Jürgen Flimm am Hamburger Thalia Theater 1988 entstand. Ursprünglich planten Müller und Flimm eine überschaubare Anzahl – insgesamt sind fünf nachzuweisen – von epischen Einschüben, die vor die entsprechenden Akte gesetzt worden wären. In Müllers Nachlass findet sich die von Flimm erstellte Strichfassung des Hebbel’schen Dramas, das auf zwei Teile (Siegfrieds Tod und Kriemhilds Rache) reduziert wurde. Es gibt Hinweise auf den Standort der epischen Einschübe, von denen allerdings nur einer durch Müller realisiert wurde. Im Unterschied zum Plan wurde der in Müllers Werkausgabe posthum publizierte Text dem zweiten Teil der Aufführung Kriemhilds Rache als Prolog vorangestellt. Epische Einschübe am Beginn eines Aktes kennt man von Brecht als Teile des epischen Theaters. Sie hatten unter anderem die Funktion, den Zuschauern die Endspannung, also die Frage, wie die Handlung ausgeht, zu nehmen. Das Publikum sollte vielmehr auf das Wie des Verlaufes eingestellt und damit veranlasst werden, eine andere Haltung zum Geschehen einzunehmen. Die Vorankündigung durch einen Erzähler (bei Brecht auch häufig ein Sänger) stellte damit eine Distanz her, die das Versinken der Zuschauenden in der Identifikation verhinderte. Identifizieren mit den zentralen Hauptgestalten konnte man sich freilich auch immer noch, doch war dies nicht mehr so unmittelbar und zwingend emotional wirksam. Was Müllers Einschübe betrifft, so konnte neben der 10 Vgl. Heiner Müller: [Aus rotem Nebel in das Rampenlicht …], in: Ders.: Werke 5. Die Stücke 3. Frankfurt/Main 2002, S. 249–252. 11 Vgl. Bibliographische Notizen, in: Heiner Müller: Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt/Main 2002, S. 345–346.

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Brecht’schen Funktion gleichermaßen auch eine Distanz des Autors zum Material sowie eine Aktualisierung der »alten« Geschichte hergestellt werden. »Kriemhild für Brunhild ein Briefmarkentausch« oder »das deutsche ABC«12 konnten so auf die kindliche Naivität der »Helden« verweisen oder eben auch auf die Verwobenheit des alten Geschehens mit der Gegenwart des 20. Jahrhunderts betonen. Müllers Text, der durch den Sänger Volker vermittelt ist, referiert quasi die Geschichte der Nibelungen um die Helden Siegfried, Gunter und Etzel sowie deren Frauen Brunhild und Kriemhild. Die im Epos bekannte Gestalt Hagen von Tronje bezeichnet der Sänger lediglich als der »Mann mit den metallnen Eingeweiden« oder auch ironisch als »der gute Onkel«.13 Gerade diesem sind die historisch bekannten Sentenzen in den Mund gelegt: »Blut/ Muß fließen das die Ehre blankwäscht und/ Die Treue ist das Mark der Ehre«.14 Es ist unschwer zu erkennen, dass die bzw. der Bearbeiter des Hebbel’schen Dramas dessen Aktualisierung über den Missbrauch der Nibelungen-Treue durch die nationalsozialistische Programmatik und Propaganda hervorheben wollte. Die »Treue, die das Mark der Ehre« sei, was den Mitgliedern der SS ins Koppelschloss graviert wurde, findet sich ebenfalls schon früher bei Müller. In der Szene »Ich hatt’ einen Kameraden« im Stück Die Schlacht (1951/1974), wo vier deutsche Soldaten im Kessel von Stalingrad Kälte und Hunger erleiden, wird der Kannibalismus als eine Form der »Ehre« und der »Treue« interpretiert. Anzumerken ist die Instrumentalisierung von Ehre und Treue schon vor den Nazis, denn: »[…] anders als das Motto der SS stammt »Die Treue ist das Mark der Ehre« nicht originär aus der Zeit des Nationalsozialismus. Zurückzuführen ist der Satz auf ein Gedicht des deutschen Dichters Friedrich Schlegel (1809): Im Kontext der sogenannten Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft ruft Schlegel in seinem Gedicht zum Krieg und zur freiwilligen Aufopferung für das ›Vaterland‹ auf. Er greift auf völkisch-germanische Motive zurück, um das Leitbild eines deutschen »Nationalkriegers« zu propagieren. Dieser erlange Ehre in der Gesellschaft durch eigene Treue gegenüber der Nation«.15

Ob Müller diesen Bezug zur Romantik kannte, bleibt hier offen. Ebenso fraglich ist, ob Müller den Begriff der »Nibelungentreue« in seiner erstmaligen Verwendung für die kriegerischen Absichten der Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg durch den Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow in seiner Rede im Reichstag

12 13 14 15

Vgl. Heiner Müller: [Aus rotem Nebel…] (wie Anm. 10), S. 251–252. Ebd. Ebd. Zit. nach K. Wonnemann: »Die Treue ist das Mark der Ehre«, https://museenkoeln.de/portal /bild-der-woche.aspx?bdw=2018_04 [Stand: 07. 03. 2020].

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am 29. März 1909 während der Bosnischen Annexionskrise her kannte. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass er die von Hermann Göring geprägte »Nibelungentreue« kannte, die er den im Kessel von Stalingrad Gefallenen in seiner Rede vom 30. Januar 1943 zueignete: »Wir kennen ein gewaltiges Heldenlied von einem Kampf ohnegleichen, es heißt ›Der Kampf der Nibelungen‹. Auch sie standen in einer Halle voll Feuer und Brand, löschten den Durst mit dem eigenen Blut, aber sie kämpften bis zum Letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, dass dort trotz allem Deutschlands Sieg entschieden worden ist«.16

Die mit großem Aufwand verbreitete Rede wird auch den jungen Heiner Müller erreicht haben. Sie ist ja eine der äußerst wirksamen Legenden der Nazi-Propaganda gewesen. Müller ist jedoch, dass muss hier betont werden, nicht etwa dieser Legende erlegen, er nutzte sie vielmehr in den Reden seiner Figuren, die sich damit desavouierten und dem Publikum eine Distanz zu Geist und Sprache der Nazis erlaubten. Wenn Müller im Gebrauch seines epischen Einschubs von 1987/88 von der »goldnen Brücke in den Untergang« spricht, die die »Nibelungen […] gern begehn/ Gierig auf Tod sie schreiben in den Schnee/ Mit Schwert und Blut das deutsche ABC«17, so charakterisiert er die deutschen Helden schlechthin und meinte damit nicht nur den Gebrauch in der nationalsozialistischen Propaganda. Das »deutsche ABC« tauchte schon früher im Werk auf. Im Teil 5 der bereits genannten Rotbuch-Ausgabe findet sich eine Gruppe von 12 lyrischen und epischen Texten, die unter dem Titel ABC18 gesammelt sind. Die Inhalte dieses Alphabets scheinen auf den ersten Blick sehr disparat zu sein. Es finden sich Zitate von Grobianus, Edgar Allan Poe oder die »Eintragung im Schulheft eines elfjährigen jüdischen Jungen im Warschauer Ghetto: ›Ich will ein Deutscher sein.‹«19. Das eiserne Kreuz – ein Prosatext, der es immerhin in die westdeutschen Schulbücher geschafft hatte – gehört zu diesem »ABC«, wie auch die sehr persönlichen Texte: Der Vater und die Schilderung Müllers zum Tod seiner Frau Inge Todesanzeige. Das unter ABC benannte Material weist damit zum einen auf das gesamte Leben Müllers hin, es gibt darüber hinaus auch ein Panorama deutscher Schrecknisse. Gewalttaten der SS sind dabei ebenso verzeichnet wie der blutige Terror von stalinistischen Erschießungen. Man könnte auch von Fragmenten sprechen, die der Biographie Müllers entnommen sind und die schon auf den

16 Zit. nach Sven Felix Kellerhoff, https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article 113266162/Wie-die-Deutschen-vom-Ende-in-Stalingrad-erfuhren.html [Stand: 08. 03. 2020]. 17 Heiner Müller [Aus rotem Nebel…] (wie Anm. 10), S. 252. 18 Vgl. Heiner Müller: ABC, in: Ders.: Texte 5. Germania Tod in Berlin, Berlin 1977, S. 7–34. 19 Ebd., S. 8.

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Krieg ohne Schlacht. Leben unter zwei Diktaturen20 hinweisen. Zwischen den Texten ist eine Fotografie von Rosa Luxemburg unvermittelt einmontiert, was im Erscheinungsjahr 1977 die rätselhafte Offenheit dieser Collage unterstrich. Müller verarbeitete die Nibelungen auch in anderen Stücken, wie etwa in Germania Tod in Berlin das zwischen 1956 und 1971 entstand. Hier wird der Kessel von Stalingrad in der Szene »Hommage à Stalin 1« von Zombies nachgespielt, die den Nibelungen in Etzels Saal Kannibalismus unterstellen, welcher dann in Stalingrad geradezu zwanghaft wiederholt wird. Indem die Toten einander auffressen, werden die verschiedenen Schichten der Gräber geplündert, so dass sich eine Linie von Cäsar über die Nibelungen und die napoleonischen Eroberungen bis zur deutschen Wehrmacht beobachten lässt. Das Spiel der historischen Transformationen wird in seiner Zwanghaftigkeit denkbar einfach von Müller bewerkstelligt: »Immer mehr Soldaten taumeln und kriechen auf die Bühne, fallen, bleiben liegen. Dann treten überlebensgroß in verrosteten Harnischen die Nibelungen Gunther, Hagen, Volker und Gernot auf«.21 Die Nibelungen führen nun im Kessel von Stalingrad als zeitlose Wiedergänger, die jede Nacht ihr kannibalistisches Endspiel wiederholen, eine unter den wechselnden Ideologien stattfindende und somit modellhafte Version ihres Sterbens auf, bis auch hier mit Hagen und Gunther sich die letzten Krieger gegenüberstehen und einander umbringen. In der Regieanweisung wird ausgeführt: »Schlagen einer den andern in Stücke. Einen Augenblick Stille. Auch der Schlachtlärm hat aufgehört. Dann kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial. Der Lärm geht weiter bis zum nächsten Bild«.22

Die ewige Wiederkehr des Gleichen, auf das diese Szene anspielt, lässt sich auch in der nachfolgenden Szene Hommage à Stalin 2 nicht wirklich revidieren. Ein betrunkener »Schädelverkäufer« – eine Gestalt aus den frühesten Entwürfen Müllers23 träumt am Ende der Wirtshausszene im Ostberlin der 1950er Jahre von einem neuen Geschlecht, das in einem Zeitalter, das Jesus hinter sich hat, erwachsen wird. Unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, mit der diese Prophetie eintreten sollte, die Geschichtsauffassung Müllers hat sich am ehestem einem Gedanken von Karl Marx aus seiner Schrift Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte anverwandelt:

20 Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht (siehe Anm. 3). 21 Heiner Müller: Germania Tod in Berlin, in: Ders.: Werke 4, Die Stücke 2, Frankfurt/Main 2001, S. 323–377, hier S. 341. 22 Ebd., S. 344. 23 Vgl. aus dem Jahr 1951 geschrieben für den Kurzgeschichtenwettbewerb des FDJ-Zentralrats: Heiner Müller: Der Bankrott des großen Sargverkäufers, in: Ders.: Werke 2. Die Prosa, Frankfurt/Main 1999, S. 11–16.

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»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden, und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen«.24

Müllers Szenen in Germania Tod in Berlin scheinen sehr zielgerichtet gerade diese Gedanken von Marx verbildlicht zu haben, denn einer der Betrunkenen, die in der Hommage à Stalin 2 auftreten, erzählt seine Geschichte, wie er mit seiner Kompanie dem Kessel von Stalingrad entkam und nun einen seiner Leute wieder im Ministerium trifft: »Staatssekretär oder wie das jetzt heißt […] Und nach der vierten Flasche frag ich ihn:/ Kannst du noch robben, Willi, altes Schwein./ Und was soll ich dir sagen, du glaubst es nicht:/ Der konnte noch«.25 Der Betrunkene war einst Mitglied in der kommunistischen Jugend, was die Konfliktspannung noch erhöht. Die Brüche, die diese Figuren konstituieren, und die sich im Dialog anschaulich nachvollziehen lassen, entsprechen am ehesten den vertrackten Gemengelagen, wie sie sich in der deutschen Nachkriegsgeschichte in Ost und West als Normalität von vielen männlichen Biographien zeigten. Ragt die Szene mit ihrem Schlachtenlärm von der Hommage à Stalin 1 zur Hommage à Stalin 2 hinein und ergeben beide Szenen eher das Gegenteil einer Hommage, so beschließt der Wirt als hierarchisch höchste Instanz auf der Szene die Dialoge, die sich zu den »goldenen Zeitaltern« verstiegen haben: »Herrschaften, heben Sie den Arsch von meinen Stühlen. Polizeistunde«.26 Die Kontinuität deutscher Geschichte, an der auch über den Zeitsprung in die neue sozialistische Gesellschaft sich nichts geändert hat, lässt sich als eine Todesverfallenheit interpretieren, die von den germanischen Anfängen bis in die Gegenwart der DDR reicht. Im Gegensatz zu der pantragischen Auffassung Hebbels unterstreicht Rainer Nägele: »Zu untersuchen wäre, wie weit da auch noch Reste einer andern, deutschen Mythologie aus Nibelungen- und Wagnerklängen tiefer in Müllers Schriften nisten, als sie sagen können«.27 Nägele vermutet angesichts des Treffens von Müller mit Ernst Jünger als einer Gemeinschaft von »Katastrophenliebhabern«, dass beide damit der Faszination von 24 25 26 27

Karl Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Leipzig 1982, S. 15. Heiner Müller: Germania Tod in Berlin (wie Anm. 21), S. 349. Ebd., S. 352. Rainer Nägele: Klassische Moderne, in: Hans-Thies Lehmann / Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 149–156, hier S. 151.

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Gewalt erlegen seien. Ich würde dem entgegenhalten, dass Müller sicherlich die Lust an der Katastrophe kennt und diese keineswegs verleugnet, sich aber zugleich dagegen wendet, aus der ungeschönten Schilderung von Schrecken einen Wunschzettel des Autors zu machen. »Ein Text lebt aus dem Widerspruch von Intention und Material, Autor und Wirklichkeit; jedem Autor passieren Texte gegen die sich ›die Feder sträubt‹; wer ihr nachgibt, um der Kollision mit dem Publikum auszuweichen, ist, wie schon Friedrich Schlegel bemerkt hat, ein ›Hundsfott‹[…]«.28 Müller besteht also auf dem Abstand des Autors zum Material, wie er in Erwiderung zu Peter Hacks29 schreibt, und er hält diese Idee für so tragfähig, dass er sie auch in seinem weiteren Schaffen bis zu seinem letzten Stück beibehält. In Müllers letztem Drama Germania 3 Gespenster am Toten Mann bilden die Nibelungen in der Szenenfolge »Siegfried eine Jüdin aus Polen« eine weitere Hebbel-Spur. Auch dort ist der Kessel von Stalingrad wieder als Etzels Saal angelegt. Auch dort treten die Nibelungen in ihrem Kampf bis zum letzten Mann gegeneinander an. Auch dort wird um den letzten Knochen gekämpft – »[…] Und ich will/ Nicht wissen ob er vom Pferd war oder ICH/ HATT EINEN KAMERADEN«30 – mit ziemlich eindeutiger Tendenz zum Kannibalismus. Neu ist in dieser Szene, dass der rote Terror Stalins und der weiße der deutschen Wehrmacht in eine Analogie gebracht werden und sich fast zum Verwechseln ähneln. Gleichwohl gibt es eine szenische Favorisierung der Gegner Hitlers, die als Kriemhild schließlich Hagen gegenüberstehen. Das Rededuell zwischen beiden besteht überwiegend aus Hebbel – Dialogen in »Kriemhilds Rache«, besonders aus den letzten beiden Akten.31 Am Ende enthüllt sich, dass unter Hagens Mantel eine deutsche, unter Kriemhilds eine Uniform der Roten Armee verborgen ist. Da Kriemhilds Uniform keine Rangabzeichen besitzt, sind hier die Strukturen betont, die sehr lange für die kategorische Andersartigkeit der Roten Armee standen. Ohne Ränge und also ohne Hierarchien sollten die Kämpfer für die klassenlose Gesellschaft sichtbar werden. Erst als Stalin am 6. Januar 1943 die Rangabzeichen wieder einführte, näherte sich auch die Kampfweise der Roten Armee der ihrer faschistischen Gegner an. Müller erinnert daran, dass ab Stalingrad strukturell die Ideale einer anderen, besser gedachten Gesellschaft ver28 Vgl. Heiner Müller: Ein Brie, in: Ders. Werke 8. Schriften. Frankfurt/Main 2005, S. 174– 177, hier S. 176. 29 Vgl. Hans-Christian Stillmark: Hacks und Müller – ein folgenloser Streit, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 47. Jg., Heft 4 (2000), (Literaturstreit), S. 424– 437. 30 Heiner Müller: Germania 3 Gespenster am Toten Mann, in: Ders.: Werke 5. Die Stücke 3. Frankfurt/Main 2002, S. 253–297, hier S. 264. 31 Das Zitat ist wie folgt benannt: »Hebbel, »Die Nibelungen«, in: Hebbels Werke in Auswahl, hg. von Dr. Hans Wahl, Bd. 2, Leipzig 1922«, in: Ebd., S. 297.

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worfen wurden. Hinter Kriemhild taucht am Ende der Szene Stalins Schatten auf und der Ausruf des deutschen Soldaten/ Kannibalen: »Die Russen greifen an. Die Wolga brennt« verweist auf die Paradoxie, in der sich die Konflikte überschlagen. Das Brennen des Flusses Wolga kennzeichnet nicht nur das Ende des deutschen Feldzugs, sondern auch die innere Wandlung des sowjetischen Experiments. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Müller den Gegner der deutschen Nationalsozialisten nicht mit den Namen Rußland oder Sowjetunion (deutsch: Räterepublik) benennt, sondern am ehesten mit Rote Armee und Stalin. Die Personalisierung kommt so auch der Transkription ins Symbolische entgegen. Aus Stalin kann im Zusammenhang mit den Burgunden am ehesten die Figur des Hunnen Etzel erwachsen, was sich Müller aber wohlweislich versagte. Das Stück wäre mit dieser Attribuierung in eine totalitaristische Lesart tendiert, die Müller sich nicht erlaubt hätte. Zudem würde damit auch die rassistische Gleichsetzung die konfliktäre Verwobenheit des Ganzen eher geschwächt haben. Also ließ Müller diese Analogiebildung in der Schwebe und überantwortete eindeutige Auslegungen an seine Rezipienten. Gerade aber auch der Titel seiner Szene verdeutlicht dieses Schwanken der Signifikate und Signifikanten, was als methodischer Hinweis auf die offen gelassenen Strukturen der Darstellung interpretiert werden kann. Mit dem Szenentitel »Siegfried eine Jüdin aus Polen« baut Müller gewissermaßen eine Autorenebene ein, die neben den Figuren und ihren Dialogen eine eigene Aussage anzeigt. Seit dem poststrukturalistischen Tod des Autors sind diese Erwägungen auch aus Müllers Werk nicht wegzudenken. Sie lediglich als Signaturen des Postmodernismus zu deuten, greift meines Erachtens zu kurz. Es sind eher Wirkungsstrategien, die die Autorebene und ihre Distanz zum Dargestellten zum Ausdruck bringen wollen. Mit dem bei der Jagd ermordeten Siegfried unterstreicht Müller die Pervertierung des Abschlachtens. Die Konnotationen zu Jagdbildern bilden eine topologische Kette, die wohl kalkuliert auf Grundsätzliches zielt. Am Ende der Szene »Siegfried eine Jüdin aus Polen« gibt Müller vor, dass das Lied »Es blies ein Jäger wohl in sein Horn/ Und alles was er blies das war verlorn«32 erklingt. Die Anfangszeile des Liedes ist auch titelgebend für die nächste (Jagd-) Szene, die Hitlers Selbstmord in der Reichskanzlei beinhaltet. Fasst man diese Jagdszenen zusammen, so kann sich rückwirkend für den enigmatischen Szenentitel ein Sinn ergeben. Siegfried, der bei der Jagd hinterrücks ermordete Held gleicht der »Jüdin aus Polen«, für die die historische Gestalt der Rosa Luxemburg steht. Sie wurde bekanntlich vom Jäger Otto Runge mit dem Gewehrkolben von hinten niedergeschlagen, ehe sie gemeinschaftlich umgebracht wurde.33 Dass hier die 32 Ebd., S. 267. 33 Vgl. Elisabeth Hannover-Drück / Heinrich Hannover: Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Frankfurt/Main 1967.

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erschlagene Rosa unscharf benannt wird, weist Müllers Intention aus: Eine alternative Gestalt zu Stalin zu entwerfen, die nicht auf die traditionell männlichen Hierarchien (Rangabzeichen, Jagd) und die zugleich auf die weibliche Historie verweist, die (wie Siegfried) ermordet wurde und die für einen anderen, demokratischen Sozialismus steht. Die Szene besteht damit aus einem symbolischen Konflikt, der nicht mit einer naturalistischen Figurenkorrelation erreichbar wäre. Erst in dieser von Müller angestrebten Struktur der Collage sind derartige Konflikte produktiv abbildbar. Die Ermordung von Rosa Luxemburg beschäftigte Müller sehr lange, im bereits genannten ABC seiner Rotbuchausgabe taucht, wie schon oben herausgestellt, das Foto Rosa Luxemburgs völlig unvermittelt auf Seite 27 auf. Da das Foto zwischen die Texte vom Vater und seiner Flucht vor dem Terror der Roten Armee in Nachkriegsdeutschland (»Der Vater«) sowie dem Verlust von Utopien (»Allein mit diesen Leibern«) und dem Selbstmord Inge Müllers (»Todesanzeige«) in eine Textcollage gesetzt wurden, gestaltet Müller auch hier im Szenentitel und den konnotativen Bezügen einen Konflikt zwischen dem utopischen Potential der besseren Gesellschaft gegen das tödliche Patriarchat. Die Kriemhild in Müllers Szene ähnelt in ihrer Anlage den Frauengestalten, die Müller in seiner Hamletmaschine34 entworfen hatte. Das weibliche Sterben, das mit der Ophelia-Figur symbolisiert wurde, geriet da in einen unauflösbaren Konflikt mit dem männlichen Töten, selbst wenn die Männer – Hamlet – aus ihrer historischen (tödlichen) Rolle aussteigen wollten. Dass Ophelia sich ihrer Rolle als Opfer männlicher Gewalt nicht mehr durch den Selbstmord entzieht, thematisiert der II. Akt. Im letzten Akt verwandelt sich Ophelia schließlich in die Rächerin Elektra, die die Schöpfung, die sie hervorgebracht hat, zurücknimmt und so die männliche Gewaltausübung – wie Kriemhild! – übernimmt. »Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod«35, schleudert sie den Männern zu, die sie vollständig am Boden der Tiefsee in einen Rollstuhl fesseln. Es sei an dieser Stelle auch noch einmal an die »Wunde Woyzeck« – Müllers Büchner-Preisrede – erinnert. Hier betont Müller die Kontinuität des männlichen Mörders Woyzeck in der Gestalt des Jägers Runge, der Rosa Luxemburg mit dem Gewehrkolben niederschlug. Dieser Zusammenhang ist für das Verständnis von Müllers Denken äußerst aufschlussreich. In der Rede tauchen bereits die »Gespenster« auf, die Müller in seinem letzten Stück noch einmal seine Szenen bevölkern lässt: »Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann, ißt die verordneten Erbsen, quält mit der Dumpfheit seiner Liebe seine Marie, staatgeworden seine Bevölkerung, umstellt von 34 Vgl. Heiner Müller: Die Hamletmaschine, in: Ders.: Werke 4. Die Stücke 2, Frankfurt/Main 2001, S. 543–554. 35 Ebd., S. 554.

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Gespenstern: Der Jäger Runge ist sein blutiger Bruder, proletarisches Werkzeug der Mörder von Rosa Luxemburg; sein Gefängnis heißt Stalingrad, wo die Ermordete ihm in der Maske der Kriemhild entgegentritt; ihr Denkmal steht auf dem Mamaihügel, ihr deutsches Monument, die Mauer, in Berlin, der Panzerzug der Revolution, zu Politik geronnen«.36

Dass auf dem Weg der Panzer nach Berlin, die »Rote Rosa« zermalmt wird, unterstreicht Müller erneut 1987 im Teil III seiner Szenenfolge »Wolokolamsker Chaussee«37: »Hab ich gesagt Stalin ist tot Heil Stalin/ Da kommt er das Gespenst im Panzerturm/ Unter den Ketten fault die rote Rosa«.38 Im Unterschied zu seinem letzten Drama hat die gleichnishafte Luxemburg unter den Ketten nicht die Züge der Rächerin Kriemhild angenommen, sondern verbleibt in der Rolle der Unterdrückten, sinnbildlich für die gesamte kolonisierte Bevölkerung im Stalin’schen Herrschaftsgebiet. Hier wäre nun der Einspruch gegen die Analogiebildungen Müllers zu formulieren, indem er Kriemhild, die im Epos wie in Hebbels Drama als Rächerin des Gattenmordes auftritt, im Kessel von Stalingrad die mörderische Aufgabe zuweist, die das Opfer Luxemburg nicht haben kann: »Der Tod [Stalin – HCS] steht hinter uns […] Seid meine Gäste jetzt zur letzten Mahlzeit/ Esst eure Toten und löscht euren Durst/ Mit ihrem Blut Der Tisch wird reich gedeckt sein/ Und feiert eure Hochzeit mit dem Nichts/ Das eure Wohnung ist im Reich der Toten«.39

Die gegen Hagen gerichtete Rede markiert den Endpunkt im Kessel von Stalingrad. Laut Müllers metaphorischem Denken weist Kriemhild eher die Züge von Ulrike Meinhof 40 auf, die eine andere Alternative zum mörderischen Geschehen der männlich dominierten Geschichte darstellt. Die titelgebenden Frauengestalten bei Hebbel sind in Müllers Werk als Gegenspielerinnen zu den in ihrer tödlichen Geschichte verhafteten Männern eingebracht. Eine Vorausschau auf das Ende dieser Konstellation bietet Müllers Schaffen nicht wirklich. Es ist eher so, dass die Langlebigkeit dieser Konfliktstellung gleichbedeutend mit einer sozialen Traumatisierung einhergeht, von der 36 Heiner Müller: Die Wunde Woyzeck. Für Nelson Mandela, in: Ders.: Werke 8. Schriften (wie Anm. 28), S. 281–283, hier S. 281. 37 Heiner Müller: Wolokolamsker Chaussee III Das Duell. Nach Anna Seghers, in: Ders.: Werke 5. Die Stücke 3, Frankfurt/Main 2002, S. 213–221. 38 Ebd. S. 219. 39 Heiner Müller: Germania 3 (wie Anm. 30), S. 267. 40 In seiner Büchner-Preisrede bezeichnet Müller Ulrike Meinhof als die Schwester des Woyzeck. Vgl. Anm. 35, S. 282.

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Hans-Christian Stillmark

alle Agierenden einschließlich die an der Kunstproduktion sozusagen Tätigen: produzierende Künstler, Vermittler und Rezipienten betroffen werden. Vielleicht ist die Alternative in der Gestalt von Nelson Mandela zu sehen. Ihr war die Büchner-Preisrede gewidmet: eine Gestalt aus der Dritten Welt, die die Kette der Gewaltakte durch eine gewaltfreie Praxis des Interessenausgleichs durchbrechen konnte.

Kommunikation und Kulturkontakte

Karina Kellermann (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn)

Poetische Heimlichkeit. Anspruch und Angst eines spätmittelalterlichen Publizisten

Paul Martin Langner war jüngst Gast meines Teilprojekts ›Publizistische Zeitklagen: invertierte Herrschaftsansprüche in deutschsprachigen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit‹ im Sonderforschungsbereich 1167 ›Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive‹ in Bonn. Er kam mit dem Arbeitsvorhaben, spezifische Textstrategien in den politisch-historischen Dichtungen Michel Beheims zu erforschen. Dabei ging er wie ich in meinen Forschungen zur Publizistik davon aus, dass auch Michel Beheims Dichtungen die öffentliche Meinung beeinflussen wollten. Gemeinsam diskutierten wir, welche literarischen Strategien der Dichter einsetzt, um politisch zu wirken und bestenfalls Herrschaft zu kontrollieren, wie prekär seine Stellung als Fahrender und Hofdichter im städtischen Umfeld war und ob ihm diese Position sogar gewisse Freiheiten in der Meinungsäußerung gestattete. Mit meinem folgenden Beitrag möchte ich unsere Diskussion wiederaufnehmen und ihren Faden weiterspinnen. *** Michel Beheim (1420–1474/78)1 steht nicht nur am Ende der Sangspruchdichtung, er gibt auch Einblicke in das Leben und Dichten und die Gefahren eines

1 Zum Autor Michel Beheim und seinem Werk vgl. Ulrich Müller: ›Beheim, Michel‹, in: Kurt Ruh (Hg.) zus. mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger und Franz Josef Worstbrock. Redaktion: Christine Stöllinger: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Bd. 1, Berlin – New York 1978, Sp. 672–680; Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, Bd. 1, München – Zürich 1983 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 82), S. 20f., S. 182–246; Tobias Bulang: ›Michel Beheim‹, in: Dorothea Klein / Jens Haustein / Horst Brunner (Hg.) in Verb. mit Holger Runow: Sangspruch/Spruchsang. Ein Handbuch, Berlin – Boston 2019, S. 448–455.

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Berufsdichters.2 In seinen Liedern informiert Beheim recht unverstellt und detailliert über die Bedingungen seines literarischen Wirkens: das dilettierende Dichten als Weber, die Anfänge seiner Berufsdichterkarriere im Dienst desselben Reichserbkämmerers Konrad von Weinsberg, der schon Muskatbluts Gönner war, die folgenden Dienstherren von Markgraf Albrecht I. Achilles von Brandenburg-Ansbach über König Ladislaus Postumus von Böhmen und Ungarn und Kaiser Friedrich III. bis zu Pfalzgraf und Kurfürst Friedrich I. dem Siegreichen, um nur einige zu nennen. In dem umfänglichen Werk Beheims nehmen die politischen Themen – nach den moraldidaktischen und religiösen – breiten Raum ein und sind zwischen 1443 und 1469 zu datieren, das heißt, sie gehören alle der Lebensphase seines Berufsdichtertums an, als er den Weberberuf bereits aufgegeben hat. In dieser Zeit, in der seine literarischen Erfolge ihm die Existenz als Berufsdichter ökonomisch erlauben, beginnt er mit der schriftlichen Fixierung seiner Dichtungen. Sein Œuvre ist in zwei Autographen (A = Heidelberg, UB, Cpg 312 und C = Heidelberg, UB, Cpg 334) und einer Handschrift, deren Erstellung offensichtlich von ihm beaufsichtigt wurde (B = München, BSB, Cgm 291), überliefert; dazu treten noch weitere autographe Teilsammlungen. In der wechselnden Perspektive des Dichters scheint sich jeweils die Haltung seines Brotherrn zu spiegeln; eine adelsfreundliche und – wenn es das Thema erfordert – städtefeindliche Position hält sich aber durch. Neben den politisch-didaktischen Liedern, den politischen Preis- und Scheltliedern hat Beheim acht historisch-politische Ereignisdichtungen verfasst.3 Er ist der erste namentlich bekannte Dichter, der sich durch konkrete politische Ereignisse oder Personen zu einer ganzen Reihe von Liedern veranlasst sieht, die teils kommentierend, teils agitierend, mal didaktisch, mal panegyrisch ausgerichtet sind. Insofern kann man ihn nicht nur als »patronisierten Fahrenden in wechselnden Diensten«4, sondern zeitweise auch als politischen Publizisten bezeichnen. Es fällt auf, dass Michel Beheim eine ungewöhnliche Stellung in der spätmittelalterlichen Gesellschaft einnimmt, da in seiner Person Dinge vermittelt werden, die üblicherweise auseinanderfallen: Er repräsentiert den neuen Typus des politischen Publizisten und gleichzeitig den alten des Hofdichters. Er wechselt häufig die fürstlichen Dienstherren wie vor ihm vielleicht nur Walther 2 Mit den Ausführungen zu Michel Beheim greife ich teilweise zurück auf meine Monographie: Karina Kellermann: Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung, Tübingen 2000 (= Hermaea, Bd. 90). 3 Hans Gille / Ingeborg Spriewald (Hg.): Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften. Bd. 1–3, Berlin 1968–1972 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 60, 64, 65/1 und 65/2), Bd. 1 (1968), Nr. 101, 105, 106, 112; Bd. 2 (1970), Nr. 238, 239, 328; Bd. 3 (1971), Nr. 446. 4 Bulang: ›Michel Beheim‹ (wie Anm. 1), S. 450.

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von der Vogelweide und führt dennoch anders als Walther ein ökonomisch relativ gesichertes Leben ohne längere Phasen der Fahrendenexistenz. Seine künstlerische Selbsteinschätzung kollidiert keineswegs mit der Rolle des parteilichen und die Seiten wechselnden Publizisten, im Gegenteil, man könnte Beheim eine zielgerichtete Entwicklung zum Publizisten und Chronisten zuschreiben. Diese Genese basiert selbstverständlich nicht auf einer persönlichen Entscheidung, die in der Weise autonom ist, dass sie unabhängig von Publikumsgeschmack, Gönnerabhängigkeit und somit auch wirtschaftlichen Erwägungen getroffen worden ist. Gerade für die Gratwanderung zwischen dem eigenen poetischen Programm und der Macht des Faktischen legt Beheim in seinem Œuvre beredt Zeugnis ab. Wenn er in seinen Liedern und Chroniken den eigenen künstlerischen Anspruch hervorkehrt, gegen Kollegen polemisiert, das Publikum schilt, die Hofintrige brandmarkt und die Kündigung durch seinen Herrn beklagt, dokumentieren diese stilisierten autobiographischen Äußerungen das labile Gleichgewicht der Berufsdichterexistenz. Welche Position nehmen nun die politischen Dichtungen in Beheims Gesamtwerk ein? Offensichtlich haben die politischen und historischen Themen einen desto höheren Stellenwert in seinem Œuvre, je größer sein dichterisches Renommee und die Anerkennung werden. Davon zeugen auch die erst seit 1462 entstehenden Chroniken. Wie bei anderen Dichtern zwischen Hof- und Fahrendenexistenz wie Suchenwirt und Muskatblut dominieren der belehrende Gestus und die expliziten Adels- oder Fürstenadressen, was sich zunächst nicht recht mit den Entlohnungen Beheims aus den Ratskassen verschiedener Städte in Einklang bringen lassen will. Doch bieten sich drei gleichermaßen plausible Erklärungen an: Beheim kann dem städtischen Publikum aus der Fülle seiner Themen auch alles andere als politische Dichtung vorgetragen haben, oder aber er hat Probleme der Reichspolitik akzentuiert, die auf die Geschlossenheit der Stände in der Verteidigung des Reiches gegen den äußeren Feind rekurrieren wie z. B. die Türkengefahr, die er wiederholt beschwört. Schließlich ist es überaus wahrscheinlich, dass Schenkungen aus der Stadtkasse pauschal den im Gefolge eines Fürsten Reisenden gemacht wurden. Zwei Liedaussagen sollen hier kurz skizziert werden, weil sie die Tätigkeit des politischen Publizisten und die Gefährdung seiner Person dokumentieren. In einem Lied, das die Anwürfe eines Herrn aus dem Publikum am pfalzgräflichen Hof in Heidelberg gegen Beheims Vortrag einer Lasterschelte thematisiert, beschreibt der Dichter einleitend die Umstände seiner Reise nach Heidelberg: »In dise stat da hin / so kam sich nach und verr / manch furst, graff und auch herr, / vil riter und auch knechte. / mein herr marggraff Albrechte / von Brannenburg da pflag // Zu laisten ainen tag / mit den von Nürenberge. / zu horen die materge / ich

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mit meim herren rait.«5 Die detaillierten Angaben erlauben eine Fixierung der geschilderten Vorgänge auf Anfang 1450, als Markgraf Albrecht Achilles einer Einladung des Pfalzgrafen Friedrich des Siegreichen zu letztlich ergebnislosen Friedensverhandlungen mit Nürnberg gefolgt war. Dieses Lied bezeugt, dass Beheim ihn begleitet hat, vor der Hofgesellschaft als Sänger aufgetreten ist und sich über die Inhalte und den Fortgang der diplomatischen Bemühungen informieren wollte. Dass die gehörte »materge« dem markgräflichen Hofdichter auch Stoff für spätere Dichtungen liefern sollte, ist anzunehmen. Geradezu lebensbedrohlich ist eine Situation während des süddeutschen Städtekrieges für Michel Beheim in seiner Funktion als Angehöriger des markgräflichen Hofes. Er ist im Auftrag seines Herrn, Markgraf Albrecht Achilles, unterwegs, als er von Söldnern in Rothenburger Diensten zunächst beinahe totgeschlagen und dann gefangengenommen wird. Erst als er seinem Herrn abschwört, kommt Beheim wieder frei: »Mein herren ich verswur, / fur in nit mer zu kummen, / ich het dann vor vernummen, / das die sach wer geslicht, / Meins herren krieg verricht.«6 Bernd Thum deutet das »verswern« korrekt als Rechtsakt: »Beheim kam erst wieder frei, als er seinen Herrn ›verschworen‹ (327, 15ff.), also wie ein Träger öffentlicher Macht im Mittelalter ›Urfehde‹ geleistet hatte, mit der Versicherung, für die Dauer des Kriegs nicht mehr für seine Herrschaft tätig zu werden«.7 Der Dichter war von dieser Gefahr so nachhaltig beeindruckt, dass er sie in zwei Liedern8 erwähnt, einmal gar als eine der sechs größten Bedrohungen seines Lebens ausstellt. Obwohl in diesem Fall ungeklärt bleibt, ob Beheim von den Söldnern als Dichter erkannt wurde, bleibt festzuhalten, dass die von den Fahrenden sehnlichst herbeigewünschte Hofstellung sich dann kontraproduktiv auswirkte, wenn man den Feinden seines Herrn in die Hände fiel. *** Es gibt in Michel Beheims Œuvre ein Lied, dem ich ein Alleinstellungsmerkmal zuschreiben möchte.9 Es ist das neunstrophige Lied ›ain widereffen von den 5 Gille / Spriewald (Hg.): Die Gedichte des Michel Beheim (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 323, V. 9– 18. 6 Ebd., Nr. 327, V. 15–19. 7 Bernd Thum: ›Der Reimpublizist im deutschen Spätmittelalter. Selbstverständnis und Selbstgefühl im Lichte von Status, Funktion und historischen Verhaltensformen‹, in: Franz Viktor Spechtler (Hg.): Lyrik des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts, Amsterdam1984 (Chloe. Beihefte zum Daphnis, Bd. 1), S. 309–378, hier S. 368. 8 Gille / Spriewald (Hg.): Die Gedichte des Michel Beheim (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 327 und Nr. 329. 9 Ich übernehme hier einige Ergebnisse meiner Interpretation des Liedes aus einem früheren Aufsatz. Karina Kellermann: Vom Spiel mit den Normen zur Normierung. Die narrative Konstruktion von Gegenwelten in Zeitklage und politischer Polemik des Spätmittelalters, in:

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keczern in Peham, das macht ich ach ze Praug, aber haimlich‹.10 Beheim dichtete es am Prager Hof, wie schon die Überschrift ausweist,11 in der Hofweise. Das Lied ist auf das Jahr 145412 zu datieren und in vier Handschriften überliefert. Gegenstand und nahezu einziges Thema ist die »spöttische Verteidigung der Taboriten«,13 das ist eine besonders radikale Gruppierung der Hussiten. Die erste Strophe bietet die Eröffnung, dass die Taboriten im ganzen römischen Reich als Glaubensfeinde gescholten würden, dabei seien sie doch auserlesen gottesfürchtig. Dies zu beweisen tritt der Ich-Sprecher in den folgenden Strophen an: »ich traw es wal pehaben das man in unrecht tut«. (13f.) Die Beweisführung zieht sich von der zweiten bis in die achte Strophe hin; ich liste hier die Argumente in der dargebotenen Reihenfolge auf und nummeriere sie, ohne die Strophenzahlen anzugeben, weil sie oft in der Weise eines Enjambements die Strophengrenzen überspielen. 1. Sie sind ihrem Meister Rokyzana14 ergebener als die orthodoxen Christen, die Katholiken – im Text werden sie durchgängig als

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Elke Brüggen / Franz-Josef Holznagel / Sebastian Coxon / Almut Suerbaum (Hg.) unter Mitarbeit von Reinhold Katers: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, Berlin – Boston 2012, S. 353–367. Gille / Spriewald (Hg.): Die Gedichte des Michel Beheim (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 310. Die Versangaben erfolgen ab jetzt im Fließtext in Klammern. Das Lied ist durch die Überschrift eindeutig an den Prager Hof König Ladislaus’ zu setzen. Als Datum ist die zweite Hälfte des Jahres 1454 zu erschließen. Vgl. Schanze: Meisterliche Liedkunst (wie Anm. 1), S. 186f., FN 22. Wir sind mit diesem Datum in der Spätphase der Hussitischen Bewegung, bereits nach dem Ende der Hussitenkriege. Vgl. Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen‹. Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1997 (Imagines Medii Aevi, Bd. 1), S. 132–134, die unter der Überschrift »Spätere Verweise auf die Hussiten« Michel Beheims Lieder Gille / Spriewald (Hg.): Die Gedichte des Michel Beheim (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 241, 309a, 309b, 310 nennt. Die erste Hochphase der publizistischen Beschäftigung mit der böhmischen Häresie lag in den ersten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts nach dem Konstanzer Konzil (1400–1419). Ab 1420 wird eine zweite Phase der Häresie-Literatur erkennbar, am 1. März 1420 hatte der Papst den Kreuzzug gegen die Hussiten ausgerufen. Stefan Hohmann: Friedenskonzepte. Die Thematik des Friedens in der deutschsprachigen politischen Lyrik des Mittelalters, Köln – Weimar – Wien 1992 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd. 3), S. 314 konstatiert: »Mit dem Beginn des offensiven militärischen Vorgehens der Hussiten seit 1427 beginnt der dritte Abschnitt der Auseinandersetzung in der politischen Lyrik«. So lautet die Kurzcharakteristik in: Horst Brunner / Burghart Wachinger (Hg.) unter Mitarbeit von Eva Klesatschke u. a.: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhundert. Bd. 3: Katalog der Texte. Älterer Teil A–F, Tübingen 1986, S. 144. Hans Gille: Die historischen und politischen Gedichte Michel Beheims, Berlin 1910 (Palaestra, Bd. 96), S. 102–105 subsumiert das Lied unter »Gedichte über bestimmte politische Ereignisse« (Kapitelüberschrift auf S. 89), Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, Göppingen 1974 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 55/ 56), S. 253f. unter »politische Lyrik«, Schanze: Meisterliche Liedkunst (wie Anm. 1), S. 238 unter »politisch-aktuelle Lieder«. Das ist Magister Johannes von Rockyzan, einer der großen geistigen Führer des Hussitentums.

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»die Römschen« oder »die Romer« bezeichnet – dem Papst. Dafür stehen die Prager als Kronzeugen. 2. Sie sind keineswegs Ungläubige, haben sie doch zahlreichere Glaubensartikel als das ganze römische Reich.15 3. Während die katholischen Laien das Sakrament nur in einer Gestalt (gemeint ist die Hostienkommunion) empfangen, nehmen die Ketzer es in zwei, womöglich bald in drei oder vier Gestalten zu sich.16 4. Der Vorwurf, sie achteten die Heiligen der Kirche nicht, ist ungerecht, denn alle können sehen, dass sie Hans Huss17 und Rokyzana sogar für heiliger halten als Gott. 5. Ein weiterer Vorwurf, den man gegen die Ketzer erhebt, ist nichts als üble Nachrede: Wenn man sagt, sie seien nicht religiös genug, ist das falsch, versehen sie doch schon die Neugeborenen mit der Kommunion in zweierlei Gestalt.18 So ernähren sich Alt und Jung täglich und ausschließlich von Göttern. 6. Ihre Gottesverehrung erstreckt sich auch auf den Umbau von Kirchen und Klöstern, sie trachten nach dem Messgerät, nach Kelchen und Monstranzen. Wenn sie dieser liturgischen Gegenstände habhaft werden, dann beschlagen sie damit Gürtel, Messer, Schwerter und benutzen auch Messgewänder, um daraus Kleidung zu schneidern. 7. Die Gebetshäuser19 sind gut besucht von gottesfürchtigen Leuten, nämlich Dieben, Mördern und Zuhältern. 8. Wie sollten die nicht fromm sein, die aus Kirchengut Abgaben einnehmen! 9. Ihre Mönchskutten und Messgewänder kann man in vielen Klöstern sehen, das sind Helm, Harnisch und Kettenpanzer.20 10. Sie haben so manchen Heiligen geschaffen, indem sie Menschen von der Erde in den Himmel expediert haben.21 11. Das letzte Motiv ist weniger ein neues Argument der Beweisführung 15 Vgl. Gille: Die historischen und politischen Gedichte Michel Beheims (wie Anm. 13), S. 103f.: »Wahrscheinlich hat Beheim hiermit die Prager Artikel im Auge, in denen die Hussiten 1420 in vier Hauptteilen ihre Anschauungen niederlegten«. Dort sind die Differenzen zu den katholischen Christen ausgewiesen: Es sind die freie Predigt des göttlichen Wortes auch ohne Auftrag, die rituelle Praxis des Abendmahls in beiderlei Gestalt für alle Gläubigen, der Verzicht der Geistlichkeit auf irdisches Gut und weltliche Herrschaft und das konsequente Einschreiten der Obrigkeiten gegen Todsünden, vor allem die Simonie und luxuria. 16 Die Laienkommunion in Gestalt von Brot und Wein war eine der Hauptforderungen der hussitischen Bewegung und brachte ihren Anhängern den Namen ›Utraquisten‹ ein. 17 Das ist Jan Hus, * um 1370, † 6. 7. 1415 (als Ketzer verbrannt). Direkt nach seinem Tod schloss sich der tschechische Adel zum ›Hussitenbund‹ zusammen. 18 Der ironische Angriff gilt der Kinderkommunion. 19 Dass hier »petheuser« anstelle von »kirchen« eingesetzt wird, also ein Begriff, der auch die Tempel und Gebetshäuser nichtchristlicher Religionen einschließt, könnte ein gezielter Hinweis auf die Häresie sein. 20 Hier ist die gewaltsame Säkularisation von Kirchen- und Klostergut angesprochen, die von den radikalen Hussiten, den Taboriten, betrieben wurde und auch die Zerstörung von Kirchenschmuck und Priesterornat einschloss. 21 Gemeint ist der Märtyrertod der in den Hussitenkriegen gefallenen rechtgläubigen Christen. Damit erinnert Beheim an den kreuzzugsähnlichen Status dieser Religionskriege. Der 1. Heerzug gegen die Hussiten wurde von König Sigmund am 1. März 1420 ausgerufen. Am 14. August 1431 schließlich fanden mit der Flucht des Kreuzheers vor den Hussiten in der Schlacht bei Taus die Hussitenkriege ihr unrühmliches Ende.

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als vielmehr ein Resümee und der Versuch einer politischen Anbindung an die Hussitenkriege, die 1454 nahezu zwanzig Jahre zurücklagen: In Prag und Tabor22 halten sie ihre Gottesdienste ab zu Vogelgesang23 und Büchsenklang. Dafür preist man sie zu Pfingsten auf dem Eis, und die Stummen im Lande singen ihr Lob. Nach diesen Adynata schließt das Lied mit den Initialen M und P, der Autorsignatur Michel Pehaims. Welche literarische Technik setzt Beheim in diesem polemischen Text gegen die Hussiten ein? Der Dichter bezieht sich auf die Verdikte der päpstlichen Bullen, die den Häretikern vorwerfen, zentrale Glaubensregeln und -riten zu negieren; und er pervertiert diese Negation. Es ist nicht uninteressant, mit welchen sprachlichen Mitteln er arbeitet. Die Referenz des poetischen Textes auf die angesprochenen Sachverhalte entspricht der von Signifikant und Signifikat im einfachsten Sinne. Beheim sagt Messgerät und meint Messgerät, er sagt Sakrament und meint Sakrament, er sagt Gottesdienst und meint Gottesdienst etc. Seine Rede ist keine metaphorische, sie bezeichnet die realen Signifikate. Jeder Zeitgenosse sah sie vor sich. Um die literarische Technik exakter benennen zu können, muss man mit feineren linguistischen Kategorien arbeiten, die Signifikate noch kleinteiliger aufschließen. Dann wird klar: Die Denotate bleiben in der Tat stabil, aber die Konnotate verändern sich. Und diese Veränderung ist eine zielgerichtete, sie zielt ab auf Religionskritik und Ketzersatire. Die Denotation von ›Mönchskutte/Messgewand‹, die konstante begriffliche Grundbedeutung, erhält eine ungewöhnliche Konnotation: Die ursprüngliche Bedeutung von geistlichem Habit wird zunächst aufgerufen, dann aber im Kontext der satirischen Rede überschritten hin zur Konnotation ›Kampfgewand‹, zur Rüstung im bewaffneten Religionskrieg. Hier in diesem Lied Michel Beheims kommt noch eine weitere Technik hinzu, die mit der spezifischen Qualität von Normen arbeitet: Der Dichter fingiert eine über das Übliche hinausgehende Erfüllung der Kultnormen; die Normen werden übererfüllt. Das aber heißt, dass sie gebrochen werden. Wenn wir davon ausgehen, dass eine erfüllte Norm das Ideal ist, dann liegt der Normbruch entweder in der Nichterfüllung der Norm oder in ihrer 22 Sie hatten eine Stadt und Festung mit dem Namen Tabor südlich von Prag gegründet. Die Taboriten lehnten im Unterschied zu den gemäßigten Utraquisten alle dem reinen Schriftprinzip widersprechenden kirchlichen Einrichtungen wie Ablass, Heiligen- und Reliquienkult, die gesamte Hierarchie und das Ordenswesen ab. Ab 1426 gaben die Taboriten ihre defensive Haltung auf und gingen in die Offensive mit großen militärischen Erfolgen. Erst 1434, nach dem Übereinkommen zwischen Katholiken und gemäßigten Hussiten, wurden sie, die die Übereinkunft nicht mittragen wollten, vernichtend geschlagen. 1436 waren dann die Hussitenkriege endgültig beendet, und Sigmund konnte als böhmischer König in Prag einziehen. 23 Hier wird angespielt auf die Tiermetapher, die sich aus dem Namen »Hus« herleitet, der im Tschechischen »Gans« bedeutet. Folglich können die »Hussiten« in spätmittelalterlichen Texten als »Gänse« etikettiert und diffamiert werden, wie es oft und gern geschieht.

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Übererfüllung; denn eine übererfüllte Norm sprengt die Norm, pervertiert sie. Genau dies geschieht hier in Beheims Lied anhand des Leitmotivs der extremen Gottesnähe der Taboriten. Somit ist der Büchsendonner kein Kriegslärm, sondern Begleitmusik des Gottesdienstes, die Rüstung ist ein Mönchsgewand, die Plünderung von Kirchen und der Missbrauch von Kirchengut stehen im Dienst einer besonders innigen Religiosität und die Einführung des Laienkelches wie auch die zahlenmäßige Erhöhung der Glaubensartikel sind keine Sakrilegien, sondern Formen gesteigerter Gottesnähe. Das offizielle Anathema gegen die Hussiten ist Autor wie Publikum bekannt, wird aber in der hier vollzogenen Auslegung radikal entleert. Der Anklage entschwindet ihr Gegenstand.24 Wie wird der Rezipient nun in die Lage versetzt, die Satire zu erkennen? Auf der Ebene des Textes gelingt die Entschlüsselung der satirischen Botschaft immer dann leicht, wenn historische Namen, notorische Glaubensregeln, konkrete Ereignisse und Schauplätze genannt werden, also allgemein Bekanntes abgerufen wird. Der Leser der Handschriften erhält zusätzliche Hilfen; in drei von vier Handschriften steht das Lied unter der Überschrift »ein widereffen von den keczern in« bzw. »zu pehaim«. Was aber heißt »widereffen«? Der Bedeutungsradius reicht von »repetieren« über »replizieren« zu »widersprechen«, »rächen«, das althochdeutsche »avarôn« kann zudem auch »jemanden nachahmen«, »jemandes Abbild sein« heißen.25 Bei Michel Beheim, der das Wort als substantivierten Infinitiv in den Überschriften seiner Lieder offenbar programmatisch einsetzt, bezeichnet es immer eine parodistische Dichtung.26 Damit sind bereits 24 Gegen das einschränkende Urteil von Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen‹ (wie Anm. 12), S. 133: »Es handelt sich um den einzigen Text [Beheims, K.K.] der intensiv darauf [auf die religiösen Inhalte des Hussitismus, K.K.] eingeht – wenn auch in Form eines Lügengedichts«, möchte ich konstatieren: Die in eine ironische Verteidigung pervertierten Vorwürfe verstärken die normative Aussage massiv. 25 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 32: »efern, efferen« oder »wider efferen (ahd. avarôn)« nennt als Bedeutungen u. a. »replicare, widersprechen, zanken«; Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von BeneckeMüller-Zarncke. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. 3 Bde, Stuttgart 1992. Bd. 1, Sp. 106 führt unter dem Lemma »avern, ävern, äfern« folgende Bedeutungen auf: »wiederholen«, »eine Sache gehässig wieder vorbringen, sie tadeln, rächen«; Elisabeth Karg-Gasterstädt / Theodor Frings (Hg.): Althochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1, Berlin 1968, Sp. 699f. nennt als Bedeutungen von »avarôn« und »giavarôn« neben »wiederholen«, »erneuern« auch »jmdn. nachahmen«. 26 »widereffen« wird von Beheim zweimal in Liedüberschriften gebraucht, und zwar jedes Mal im Zusammenhang mit verkehrter Rede. Neben dem hier besprochenen Lied hat Beheims ›Lügenlied‹ in der ›Verkehrten Weise‹ (Gille / Spriewald (Hg.): Die Gedichte des Michel Beheim (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 240) in der Heidelberger Handschrift Cpg 334 die Überschrift »lugen und wider effen«. Gille: Die historischen und politischen Gedichte Michel Beheims (wie Anm. 13), S. 200, spricht von einer »Dichtgattung […], der es auf Parodie ankam. […] Diese Gattung hatte die feste Technik des Lügenspruches, von der nicht abgewichen werden durfte«.

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in der Überschrift sowohl das Thema als auch der Gegenstand der Satire – die Ketzer in Böhmen – markiert. In der Heidelberger Handschrift Cpg 334 heißt es weiter: ›das macht ich ach ze praug aber haimlich‹. Dieser Titelzusatz bringt eine neue Dimension, denn er hebt auf das Geschäft des Publizisten ab, etwas ›öffentlich‹ zu machen. Diese Tätigkeit sieht Beheim – das Ich im Paratext meint zweifelsfrei den Autor selbst – in sein Gegenteil verkehrt. Was soll das bedeuten? Es steht doch über einem Lied, das wirken will, also Öffentlichkeit erheischt, und wohl auch tatsächlich gewirkt hat – zumindest nach Ausweis der vier Handschriften. Es bieten sich verschiedene Deutungen an: Da Prag das Zentrum der hussitischen Bewegung war, wäre eine Deutung plausibel, die den Produktionsprozess fokussiert: Das Dichten musste in der Heimlichkeit geschehen,27 damit die öffentliche Wirkung erzielt werden konnte. Somit wäre dieser Autorzusatz ein Hinweis auf die Brisanz der Botschaft und die Gefährdung des Publizisten Michel Beheim sowie seinen Mut. Eine andere Deutungsmöglichkeit betrifft allein den Inhalt des Liedes, das angeschlagene Thema ›Häresie‹. Die Ketzer sind nach mittelalterlicher Vorstellung immer diejenigen, die heimlich und im Verborgenen agieren, das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Sie sind die Dunkelmänner avant la lettre. So können ›Heimlichkeit‹ und ›Finsternis‹ in der didaktischen Literatur regelrecht zu Synonymen für ›Häresie‹ werden. Schon der Spruchdichter Freidank kontrastiert Orthodoxie und Häresie mit den Metaphern des Lichts und der Finsternis: »Swer Kristes lêre welle sagen, / der sol sîn lêre zu liehte tragen: / sô muoz der ketzer lêre sîn / in winkeln unde in vinsterîn. / hie sol man erkennen bî, / wie ir lêre geschaffen sî.«28 Und bei Hugo von Trimberg liest man über die Ketzer: »Sô man si lestern und schenden / Unsern gelouben heimlîche / Siht und etswenne offenlîche.«29 Ich vermag keiner der beiden Deutungen den Vorzug zu geben, meine sogar, sie könnten in einem sinnvollen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen: Warum sollte Michel Beheim nicht mit dem Programmwort »haimlich« sowohl sein Produktionsverfahren bezeichnen und damit ex negativo das Anliegen des Publizisten evozieren als auch mit dem paratextuellen Hinweis sogleich das brisante Liedthema, die Häresie, anklingen lassen für diejenigen, die die Handschrift in den Händen halten? Aus dem komplementären Verhältnis entspringt eine weitere Verkehrung: Der Dichter 27 In einem anderen, an König Ladislaus gerichteten Lied (Gille / Spriewald (Hg.): Die Gedichte des Michel Beheim (wie Anm. 3), Bd. 2, Nr. 309a) vermeidet Beheim ebenfalls explizit Öffentlichkeit; es ist überschrieben: »Dis ist ain peispel, macht ich meinem hern kung Lasslau ze Prag in Peham und sagt van den keczern. wann ich nit affenlich vor in tarst singen, dar umb macht ich es in peispel weis und sie musten es denoch hörn«. Gille: Die historischen und politischen Gedichte Michel Beheims (wie Anm. 13), S. 106, vermerkt dazu, »daß er seine Hussitenfeindschaft am böhmischen Hofe doch nicht offen zeigen darf«. 28 H. E. Bezzenberger (Hg.): Freidanks Bescheidenheit, Halle 1872, V. 25, 13–18. 29 Gustav Ehrismann (Hg.): Der Renner von Hugo von Trimberg. Bd. 3, Tübingen 1909, V. 24352.

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muss aus Angst vor der Macht der Häretiker sich selber benehmen wie ein lichtscheuer Ketzer. In dem Augenblick, in dem der Dichter den Zeitbezug herstellt und nicht bei der allgemeinen Zeitklage stehenbleibt, wird das Problem der Beglaubigung akut. Und da wechselt er das Lager; nun ist er nicht mehr der fabulierende Dichter, sondern gesellt sich den Publizisten zu, von denen er die Formeln der Wahrheitsbeglaubigung, der Zeugenschaft, des Verkündens neuer und unerhörter Dinge ausborgt. Er maskiert sich als Publizist, der die Wahrheit ans Licht bringt, Verborgenes offenbar macht. Aber hier in diesem Lied irritiert Michel Beheim den Leser/Hörer, denn er täuscht dessen Erwartung: Nicht Wahres und Aktuelles wird erzählt, sondern Unwahres, das den Leser mit Macht dazu bringen will, sich selbst auf die Suche nach den allseits bekannten, nun aber bedrohten Werten und Normen zu begeben und sich ihrer zu versichern. Mit dieser literarischen Strategie bedient sich Beheim nicht nur des probaten Verfahrens der Publikumslenkung, sondern er delegiert die vornehmste publizistische Tätigkeit, die des Offenbarmachens, an Herrschende und Beherrschte am Hof und in der Stadt gleichermaßen.

Isabel Röskau-Rydel (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie)

An der »Culturwasserscheide« Europas. Galizische Erfahrungen des Friedrich Hebbel-Experten Richard Maria Werner

Als der an der Universität Graz tätige Germanist Richard Maria Werner1 im Jahre 1883 als außerordentlicher Professor für die deutsche Sprache und Literatur an die Universität Lemberg berufen wurde, hatte er schon einige, vorwiegend negative Einschätzungen über das Leben in der an der Peripherie der Habsburgermonarchie gelegenen Hauptstadt des Kronlandes Galizien von seinem Vorgänger August Sauer erhalten. Werner verließ daher mit großer Wehmut sein geliebtes Graz und zog mit sehr gemischten Gefühlen in die ihm unbekannte Stadt Lemberg (poln. Lwów, ukr. L’viv). In diesem Beitrag soll vornehmlich anhand verschiedener Briefwechsel Richard Maria Werners mit deutschen und österreichischen Germanisten dargestellt werden, wie er seinen fast drei Jahrzehnte dauernden Aufenthalt in Lemberg einschätzte. Im Kronland Galizien hatten nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich im Jahre 1867 umfangreiche Veränderungen zugunsten der Schaffung autonomer Strukturen in zahlreichen Lebensbereichen stattgefunden. Schon nach dem Völkerfrühling 1848 hatte die Bedeutung der Polen in der Wiener Regierung, als Abgeordnete im Parlament sowie als Mitglieder im Herrenhaus zugenommen. Nach 1867 war die Zentralregierung in Wien immer mehr auf die Unterstützung ihrer Politik durch die Polen angewiesen und daher zu relativ weitgehenden Zugeständnissen in der Landespolitik bereit, um sich dieser Unterstützung sicher sein zu können. Knapp einen Monat nach dem österreichisch-ungarischen 1 Richard Maria Werner wurde am 14. August 1854 in Iglau (tsch. Jihlava) in Mähren geboren und nahm nach seiner Matura am Gymnasium in Prag im Oktober 1872 sein Studium der Philosophie an der Universität Wien auf. Hier wurde er 1876 zum Dr. phil. promoviert. Im Anschluss daran verbrachte er mehrere Monate an der Universität Straßburg, wo er den Germanisten Wilhelm Scherer kennenlernte. Als dieser eine Berufung an die Universität erhielt, folgte er ihm nach Berlin. 1878 habilitierte sich Werner an der Universität Graz, wo er im Oktober mit seinen Vorlesungen begann. Hier lehrte er bis zu seiner Berufung nach Lemberg im Jahre 1883. Vgl. Richard Maria Werner, in: Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich [BLKÖ] 55 (1887), S. 69–70 sowie Katarzyna Sadkowska / Karol Sauerland: Werner, Richard Maria, in: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Bd. 3, hg. und eingeleitet von Christoph König, Berlin 2003, S. 2016–2018.

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Ausgleich konnte daher im Juni 1867 ein Landesgesetz über die Unterrichtssprachen in den Volks- und Mittelschulen verabschiedet werden, dass zwar beide Landessprachen, das Polnische und Ruthenische, berücksichtigen sollte, de facto aber die polnische Sprache bevorzugte.2 Die deutsche Sprache wurde nun auf die Rolle einer Fremdsprache herabgestuft, die als solche weiterhin an den Schulen unterrichtet wurde. Für die nur deutschsprachige Bevölkerung, insbesondere Beamte, Lehrer und Professoren, die während ihres Aufenthaltes im Kronland Galizien noch nicht oder nur ungenügend Polnisch gelernt hatten, bedeutete dies, Galizien verlassen zu müssen oder – falls sie schon das Pensionsalter erreicht hatten – sich in den Ruhestand versetzen zu lassen. Für die in Galizien verbleibenden deutschsprachigen Familien stand seit dieser Zeit bis 1918 nur noch ein Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Lemberg und bis 1913 ein entsprechendes Real-Gymnasium in Brody zur Verfügung. Das Jahr 1867 bedeutete daher den Verlust der fast einhundertjährigen staatstragenden Stellung der Deutschen im Kronland Galizien. Gleichzeitig verlagerten sich auch die bis dahin geführten politischen Auseinandersetzungen zwischen DeutschÖsterreichern und Polen auf die sehr angespannten und später gewalttätig werdenden Auseinandersetzungen zwischen Polen und Ruthenen (wie die Ukrainer damals genannt wurden). Dieser polnisch-ruthenische (ukrainische) Antagonismus nahm in Ostgalizien und in der Hauptstadt Lemberg seit den 1870er Jahren immer stärker zu.3 *** In dieser gesellschaftspolitisch spannungsgeladenen Zeit trat der 29-jährige Richard Maria Werner am 1. Oktober 1883 seine Stelle als außerordentlicher Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Lemberg an. Zu dieser Zeit zählte die galizische Hauptstadt 109.746 (1880) Einwohner, darunter 58.602 römisch-katholischer (mehrheitlich Polen), 17.496 griechisch-katholischer (mehrheitlich Ruthenen), 1.913 evangelischer Konfession (mehrheitlich 2 Vgl. Stanisław Grodziski: W królestwie Galicji i Lodomerii, 2. Aufl., Kraków 2005; Christoph Frhr. Marschall von Bieberstein: Freiheit in der Unfreiheit. Die nationale Autonomie der Polen in Galizien nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Ein konservativer Aufbruch im mitteleuropäischen Vergleich, Wiesbaden 1993; zur Rolle der Polen in Wien von 1848 bis 1918 vgl. Roman Taborski: Polacy w Wiedniu, Wrocław – Warszawa – Kraków 1992, S. 74–101 sowie Waldemar Łazuga: Kalkulowac´… Polacy na szczytach c. k. Monarchii, Poznan´ 2013. 3 Vgl. Svjatoslav Pacholkiv: Emanzipation durch Bildung. Entwicklung und gesellschaftliche Rolle der ukrainischen Intelligenz im habsburgischen Galizien (1890–1914), Wien – München 2002 sowie Harald Binder: Galizien in Wien. Parteien, Wahlen Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik, Wien 2005 (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, Bd. XXIX).

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Deutsche), 30.961 Juden sowie andere kleine konfessionelle Gruppen.4 Gemäß der Umgangssprache nach der die österreichischen Volkszählungen durchgeführt wurden, gaben 91.870 Einwohner Polnisch, 6.277 Ruthenisch und 8.911 Deutsch an. Da Jiddisch keine anerkannte Sprache war, mussten sich die Juden bei der Volkszählung für eine der drei Sprachen entscheiden und entschieden sich mehrheitlich für die polnische Sprache.5 Die Bevölkerung mit deutscher Muttersprache war verschwindend klein und konzentrierte sich auf das Militär und deren Angehörige, auf das Personal der Eisenbahn und der Post, wo die deutsche Sprache Amtssprache war, sowie auf die Nachfahren der Ende des 18. Jahrhunderts vornehmlich aus Südwestdeutschland eingewanderten Kolonisten, die in Lemberg vor allem in der Gemeinde der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses einen festen Bezugskreis hatten und ihre deutsche Sprache und Kultur pflegen konnten.6 Freilich sah das Bevölkerungsverhältnis auf dem Lande in Ostgalizien ganz anders aus als in den Städten, denn auf dem Lande lebten mehrheitlich Ruthenen. So wurden 1880 im Kreis Lemberg (ohne Stadt Lemberg) 98.461 Einwohner, darunter 38.425 römisch-katholischer und 48.076 griechisch-katholischer Konfession, 3.852 Evangelische Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses sowie 7.969 Juden gezählt.7 Kulturell hatte die galizische Hauptstadt Lemberg sehr viel zu bieten, allerdings hauptsächlich für die polnischsprachigen Einwohner, denn ebenso wie die deutsche Ausgabe der »Lemberger Zeitung« waren auch die Aufführungen des deutschen Theaters Ende der 1860er Jahre eingestellt worden; lediglich Konzerte und Opern konnten der (nur) deutschsprachigen Bevölkerung eine Abwechslung bieten. Für Richard Maria Werner muss der Wechsel an die Universität Lemberg eine erhebliche Umstellung bedeutet haben. Sein Freund und Kollege Dr. August Sauer, der seit 1879 hier die deutsche Sprache und Literatur als Supplent unterrichtete8, und sich selbst als einen von den »an den Grenzen der Civilisation

4 Konrad Wne˛k / Lidia A. Zyblikiewicz / Ewa Callahan: Ludnos´c´ nowoczesnego Lwowa w latach 1857–1938, Kraków 2006, Tab. I.30, S. 249. 5 Ebd., Tab. I.56, S. 263. 6 Vgl. Sepp Müller: Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung. Das Deutschtum Galiziens, insbesondere Lembergs 1772–1940, Marburg/Lahn 1961. 7 Lwów, in: Słownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów słowian´skich, Bd. V, Warszawa 1884, S. 551. 8 Gegen August Sauers Anstellung hatte sich damals der Senat der Universität Lemberg auf der Grundlage eines Vortrags des Professors für kanonisches Recht an der Universität, Edward Rittner, ausgesprochen, der den Vorschlag als rechtlich nicht zulässig hielt, weil Sauer keine der beiden Vorlesungssprachen vorweisen konnte. Dennoch entschied sich das Ministerium, ihn als Supplent anzustellen. Kronika Uniwersytetu Lwowskiego, Teil 2: Stanisław Sta´ ski: Historya Uniwersytetu Lwowskiego 1869–1894, Lwów 1894, S. 55. rzyn

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postirten ›Pionniere‹«9 bezeichnete, hatte seinen Aufenthalt in Galizien in Briefen an seine Freunde und Kollegen in den schwärzesten Farben dargestellt. Allerdings dürfte seine negative Einstellung auch von seiner schwierigen finanziellen Lage10 sowie von der Trennung von seiner Verlobten in Wien beeinflusst worden sein. In Lemberg schien er nur Kontakte mit der früheren Schauspielerin Anna Löwe gehabt zu haben, die nach mehreren Gastauftritten an der Lemberger Deutschen Bühne in den 1840er Jahren in Lemberg blieb und zur bedeutendsten Schauspielerin des Theaters wurde. Nach einem Beinbruch im Jahre 1851 lebte sie, von einigen Aufenthalten auf dem Landsitz des Grafen Potocki in Buczacz abgesehen, zurückgezogen in Lemberg. Eine Rückkehr auf die Bühne erlebte sie als Direktorin der deutschen Bühne von 1869/70 bis 1870/71, wo sie bis zum September 1870 recht erfolgreich wirkte. Ihr Vertrag wurde jedoch von der Statthalterei im Frühjahr 1871 nicht mehr verlängert, nachdem sie anlässlich der Kapitulation der Franzosen am 2. September 1870 in Sedan eine Siegesfeier am 11. September im Theater, garniert mit der »Wacht am Rhein«, organisiert und damit die zu Frankreich haltende polnische Bevölkerung tief beleidigt hatte.11 Es ist erstaunlich, dass ihr nach zwanzig Jahren Aufenthalt in Lemberg so völlig das Gefühl dafür abging, was man in einer damals kulturell und politisch so polnisch geprägten Stadt zeigen und nicht zeigen konnte.12 Dieser faux pas schloss sie zunehmend aus dem kulturellen Leben der Stadt aus, daher war nicht nur für den vereinsamten Sauer, sondern auch für Anna Löwe, die ihm zufolge »zuletzt als die Wittwe eines Grafen Potocki allein, zurückgezogen, verbittert und kränklich«13 in 9 Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. In Verbindung mit Bernhard Fetz und Hans-Harald Müller, hg. von Mirko Nottscheid / Marcel Illetschko / Desiree Hebenstreit, Wien 2019, S. 67. Brief Sauers an Seuffert vom 31. Dezember 1880. 10 Ebd., S. 85–86. Brief Sauers an Seuffert aus Lemberg vom 7. Juni 1882. 11 Jerzy Got: Das österreichische Theater in Lemberg im 18. und 19. Jahrhundert. Aus dem Theaterleben der Vielvölkermonarchie. Bd. 2, Wien 1997 (Theatergeschichte Österreichs, Bd. X: Donaumonarchie, H. 4), S. 393, 496. Anna Löwe war die Tochter des bekannten Schauspielers Ludwig Löwe, von dem sie in den 1830er Jahren am Burgtheater in Wien für Kinderrollen vorbereitet worden war. Auch Ludwig Löwe gastierte zwischenzeitlich in Lemberg, so dass schon Verbindungen zum Lemberger Theater in der Familie existierten, als Anna Löwe 1844 das Angebot erhielt, die Rolle »der ersten Liebhaberin« an der Bühne zu übernehmen. Ebd., S. 384, 749. 12 Wenn auch deutscher Herkunft, gab es für Anna Löwe eigentlich als eine am Burgtheater erzogene Schauspielerin keinen Grund, die Preußen besonders zu verehren. Es ist allerdings anzunehmen, dass sie nicht erst 1870 ihre Sympathie für die Preußen entdeckt hatte und dies wohl auch in Gesprächen offenbart haben dürfte. 13 Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert (wie Anm. 9), S. 130. Brief Sauers an Seuffert vom 4. September 1884. Jerzy Got, der beste Kenner der deutschen Bühne in Lemberg, betont, dass Anna Löwe aufgrund des Skandals nicht mit dem Grafen Potocki verheiratet gewesen sein könne, da es dafür keine Belege gebe. Er meint, dass sie sich selbst diese Legende zugelegt habe, da ihr Grab auf dem Łyczakowski-Friedhof in Lemberg unter

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Lemberg lebte, die gemeinsam verbrachten Stunden und intensiven Gespräche über die deutsche Literatur von besonderer Bedeutung. Für ihn wurde sie eine wichtige Ratgeberin und Bezugsperson mit der er sich regelmäßig traf.14 Erstaunlicherweise hatte sich Sauer trotz seiner Abneigung gegenüber alles Galizische im Jahre 1882 für die an der Universität Krakau ausgeschriebene außerordentliche Professur für deutsche Sprache und Literatur beworben, die dann dem Leipziger Privatdozenten Wilhelm Creizenach im Juni 1882 verliehen wurde. August Sauers Unwillen, sich mit der neuen Umgebung anzufreunden und anscheinend auch die fehlende Empathie für die slawische Bevölkerung in Galizien im Allgemeinen und für die Polen im Besonderen, war den Kollegen an der Universität Lemberg nicht verborgen geblieben. Dies zeigt der Beschluss des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät am 26. Februar 1883, Richard Maria Werner für die »erledigte Lehrkanzel« vorzuschlagen und nicht August Sauer, dem insbesondere vorgeworfen wurde, »dem Land und der Bevölkerung […] fern und fremd geblieben« zu sei und »sich keine Mühe gegeben [zu haben], sich in die hiesigen Verhältnisse einzuleben«.15 Besonders schwer wog zusätzlich, dass er keine Bemühungen gezeigt hatte, in den drei Jahren Polnisch zu lernen.16 Für August Sauer bedeutete jedoch die Wahl Richard Maria Werners gleichzeitig eine große Erlösung, da er nun das ihm verhasste Galizien für immer verlassen konnte, um im Wintersemester 1883 die ihm angebotene außerordentliche Professur an der Universität Graz (die Werner nicht erhalten hatte) anzutreten, um endlich wieder »Mensch u. wieder Deutscher«17 sein zu können. Außerdem glaubte er auch, dass er zu »solchem Völkerkampfe« in Lemberg nicht tauge, da dazu »härtere Naturen […] oder leichtlebigere Menschen« gehören würden.18 Nur noch einmal besuchte er Lemberg für einige Tage im April und Mai 1884 als Anna Löwe im April 1884 schwer erkrankte und am 26. April mit 63 Jahren starb.19

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dem Namen Anna Löwe [Loewe] eingetragen wurde und nicht unter dem Namen Gräfin Potocki. Got: Das österreichische Theater (wie Anm. 11), S. 754–755. Ebd., S. 130. Brief Sauers an Seuffert vom 4. September 1884 sowie S. 133, FN 19. Derzˇavnyj Archiv Lvivskoi Oblasti [DALO, Staatsarchiv des Lemberger Bezirks], L’viv / Lemberg, Fond [Bestand] 26 (Universität), Opis 5, Sprawa 241: Akta R. M. Wernera, Bl. 12v. Ebd., Bl. 12v. Zit. nach Mirko Nottscheid: »Seltsame Begegnung im Polenlande« – August Sauer in Lemberg. Die unveröffentlichte Korrespondenz mit Wilhelm Scherer als Quelle für eine wenig bekannte Phase seiner wissenschaftlichen Biografie, in: Steffen Höhne (Hg.): August Sauer (1855–1926). Ein Intellektueller in Prag zwischen Kultur- und Wissenschaftspolitik, Köln – Weimar – Wien 2011, S. 105–132, hier S. 106. Für die Bereitstellung dieser Publikation bin ich Herrn Prof. Dr. Steffen Höhne, Weimar, zu großem Dank verpflichtet. Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert (wie Anm. 9), S. 103. Brief Sauers an Seuffert vom 3. April 1883. Ebd., S. 131. Brief Sauers an Seuffert vom 4. September 1884.

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Von Richard Maria Werners Entscheidung, den Ruf an die Universität Lemberg anzunehmen, zeigte sich sein ehemaliger Lehrer Wilhelm Scherer in Berlin anscheinend nicht sehr angetan, denn Werner sah sich verpflichtet, ihm knapp ein Jahr später, am 24. April 1884, in seinem Brief aus Salzburg seine Treue zu versichern: »[…] wie treu und dankbar ich an Ihnen hänge, wenn ich gleich vielleicht gegen Ihren willen im fernen Polen lehre und würke. […] Sauer gegenüber glaube ich so honorig und freundschaftlich gehandelt zu haben, als nur möglich […]. Dass dann Sauer nur die stimme Ogonowskis erhielt, ich aber von der Facultät berufen wurde, können Sie mir doch nicht als verbrechen anrechnen, und dass ich nach Lemberg gieng, geschah wahrlich nicht leichten herzens. ich war in Graz so zufrieden, erfreute mich dort bei collegen wie schülern und der bevölkerung einer solchen beliebtheit, dass ich glaubte nicht fortgehen zu können noch dazu nach Halbasien! […]«.20

Seine Anspielung an die 1876 in Berlin erschienene, zweibändige Publikation des aus Galizien stammenden Karl Emil Franzos mit dem wenig schmeichelhaften Titel für die Gebiete Ostmitteleuropas, zeigt, dass sich Werner mit dem bei Franzos beschriebenen Abschnitt über Galizien schon vertraut gemacht hatte.21 Im Gegensatz zu seinem Freund August Sauer scheint sich Richard Maria Werner besser in Lemberg eingelebt zu haben, zumal er die von ihm vorgefundenen Verhältnisse an der Universität weniger schlimm als Sauer einstufte. So heißt es weiter in seinem Brief an Wilhelm Scherer: »Dort sind die verhältnisse jedenfalls bessere als ich erwartet hatte. natürlich liegt alles anders als an einer deutschen universität, meine würksamkeit kann immer nur eine ganz beschränkte sein, allein vieles liegt doch besser, als man nach Sauers schilderungen hätte glauben können. Ich bin allein, entsetzlich allein mit allen meinen wissenschaftlichen bestrebungen, fachlich gibt es natürlich gar keinen umgang, und auch sonst ist der verkehr ein wesentlich anderer als zb in Graz, militär- und handelskreise bilden meinen hauptumgang. Die zuhörer, welche Sauer gegen mich voreingenommen haben soll, glaube ich gewonnen zu haben, freilich wird erst die frequenz des sommersemesters bezeugen, wie weit ich mir zugkraft zutrauen darf«.22

Neben seiner Vorlesungstätigkeit an der Universität, war er auch verpflichtet worden als Mitglied der Prüfungskommission für die deutsche Sprache an den 20 Hans-Harald Müller / Mirko Nottscheid (Hg.): Disziplinenentwicklung als »community of practice«. Der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876 bis 1886, Stuttgart 2016 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik, Bd. 6), S. 262–263. Brief Werners an Scherer vom 24. April 1884. Für die Bereitstellung dieser Publikation bin ich Herrn Prof. Dr. Steffen Höhne, Weimar, zu großem Dank verpflichtet. 21 Vgl. Karl Emil Franzos: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrussland, Berlin 1876. 22 Müller / Nottscheid (Hg.): Disziplinenentwicklung (wie Anm. 20), S. 263.

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Gymnasien sowie der allgemeinen Bildungsprüfung an entsprechenden Prüfungen teilzunehmen. Darüber hinaus lernte er anscheinend recht fleißig Polnisch, was ihm nicht allzu schwergefallen sein dürfte, denn er war in Mähren selbst in einem zweisprachigen Gebiet aufgewachsen und sprach anscheinend recht gut Tschechisch. Nach einem Jahr in Lemberg schien er die polnische Sprache zumindest schon recht gut zu verstehen, wie er Scherer berichtete: »[…] ich verstehe so ziemlich die verhandlungen in der facultät und kann das notwendigste sprechen, mein diener ist ja ganz polnisch. ich nehme unterricht und übersetze mancherlei für mich. im militärwissenschaftlichen Verein und im deutschen Verein Frohsinn habe ich öffentliche vorträge während des winters halten müssen, was mir sogar die ehrenmitgliedschaft des erstgenannten Vereines eingetragen hat; ich sprach über Nestroy, über Wien im jahre 1682 und dreimal über Goethes Faust«.23

Dies zeigt, dass er schon Kontakte mit deutschsprachigen Kreisen in Lemberg geknüpft hatte, darunter auch mit denjenigen Deutschen, deren Vorfahren als Kolonisten nach Galizien eingewandert waren und die 1869 den deutschen Verein »Frohsinn« in Lemberg gegründet hatten.24 Für die Deutschen in Lemberg waren die Vorträge Professor Werners von besonderer Bedeutung, da die als Laienschauspieler wirkenden Mitglieder des Vereins, darunter Militärangehörige, Post- und Eisenbahnbeamte, Angestellte, Kaufleute usw., zwar die Texte der Theaterstücke gut kannten, aber selten mit den literaturwissenschaftlichen Forschungen vertraut waren. Der Geselligkeitsverein »Frohsinn« blieb knapp drei Jahrzehnte bestehen, wurde allerdings 1897 aufgelöst, da das Interesse an einem deutschen Verein mit der schrittweisen Assimilation eines größeren Teils der Deutschen in Lemberg immer mehr abgenommen hatte.25 Weiter berichtete Werner über die Schwierigkeiten, seine Wohnung einzurichten und die ihm durch den Umzug nach Lemberg entstandenen hohen Kosten. Er beklagte sich, dass Lemberg sehr teuer sei und dass man »dafür […] recht schlecht« lebe.26 Allerdings scheint dies seinen Humor nicht ganz getrübt zu haben, denn am 9. Juli 1884 schickte er Scherer einen langen Brief aus Lemberg über seine bevorstehenden Veröffentlichungen und endete seinen Brief mit dem Satz: »[…] Behalten Sie mich in freundlichem andenken und erquicken Sie den auf der culturwasserscheide27 schmachtenden ab und zu mit einem tropfen aus dem reichen 23 Ebd. 24 Sepp Müller: Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung. Das Deutschtum Galiziens, insbesondere Lembergs 1772–1940, Marburg/Lahn 1961, S. 152–153. 25 Ebd., S. 153–155. 26 Müller / Nottscheid (Hg.): Disziplinenentwicklung (wie Anm. 20), S. 263. Brief Werners an Scherer vom 24. April 1884. 27 Werners humorvolle Bezeichnung »Culturwasserscheide« rekurriert auf die Lage der Stadt Lemberg an der Wasserscheide zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer.

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culturborn, der bei Ihnen sprudelt. Mit einem cala28 ra˛czki (küss’ die hand) an Ihre frau gemalin und einem padam do nóg29 an Sie Ihr treuer dankbarer RMWerner Lemberg Teatralna 12«.30

Der Brief zeigt, dass Werner mit diesen Redewendungen seine inzwischen erworbenen Polnischkenntnisse gerne unter Beweis stellte. Überhaupt schien er in dieser Zeit recht zufrieden gewesen zu sein, denn im Wintersemester 1884/85 nahmen 40 bis 50 Hörer an seiner Vorlesung zur Literaturgeschichte teil. Am 13. November 1884 schrieb er Scherer, dass dies eine Zahl sei, »welche der germanist in Lemberg noch niemals erreicht hat«, was ihm eine »gewisse befriedigung gewährt« habe, zumal es sich nicht um »musshörer«, sondern zu einem großen Teil um Juristen handelte, die nicht nur inskribiert waren, sondern auch regelmäßig zu seinen Vorlesungen kamen.31 Während einer seiner früheren Aufenthalte in Salzburg musste Werner seine zukünftige Frau Anna Gugenbichler kennengelernt haben, mit der er sich im Januar 1885 in Salzburg verlobte. Nach ihrer Heirat am 8. Mai 1885 folgte sie ihrem Mann nach Lemberg.32 Anna Werner wurde für ihn zur unverzichtbaren Lebenspartnerin und nahm ihm sicherlich auch das Gefühl der Einsamkeit, auf das er in seinen Briefen immer wieder hinwies, denn unter den polnischen Kollegen schien er anfangs nur wenige Freunde gewonnen zu haben.33 Nichtsdestotrotz stand er zu seiner Tätigkeit an der Universität Lemberg und wollte auch nicht aufgeben, wie er Scherer einige Monate zuvor versichert hatte: »Das polnische verstehe ich nun so ziemlich gut, auch das sprechen beginnt sich zu machen, obwol es eigentlich vernünftiger wäre, wie Sauer zu handeln und durch die unkenntnis des polnischen eine wendung im schicksal ertrotzen zu wollen. ich denke aber nicht daran und möchte so weit als möglich mein versprechen erfüllen und das polnische erlernen. hoffentlich wird man mich deshalb bei den Deutschen nicht ganz vergessen«.34

28 Korrekt müsste es heißen »całuje˛ ra˛czki«. 29 »Padam do nóg« bedeutet »Ich falle Ihnen zu Füßen«, im übertragenen Sinn »In höchster Verehrung«. 30 Müller / Nottscheid (Hg.): Disziplinenentwicklung (wie Anm. 20), S. 267. Brief Werners an Scherer vom 9. Juli 1884. 31 Ebd., S. 269. Brief Werners an Scherer vom 13. November 1884. 32 Wahrscheinlich zog sie erst im Herbst 1885 nach Lemberg, nachdem eine neue Wohnung in der Staszicastraße 8 bezogen werden konnte. Ebd., S. 272. 33 Ebd., S. 269. 34 Ebd., S. 270. Brief Werners an Scherer vom 30. Dezember 1884.

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Von Vergessen konnte keine Rede sein, denn seine umfangreiche Herausgebertätigkeit verband ihn mit den wichtigsten Germanisten seiner Zeit. Nichtsdestotrotz kamen ihm in den nächsten Jahren doch immer wieder Zweifel an seiner Lehrtätigkeit an der Peripherie der Habsburgermonarchie. Im Juli 1889 schrieb er gar an August Sauer, dass nur seine Frau es ihm möglich mache, in Lemberg zu existieren.35 Eine Woche später ergänzte er seinen Brief und berichtete recht verzagt über sein Leben in Lemberg: »Wie beseligend ist das gefül, auf zwei ganze monate dem jammerlande Galizien den rücken kehren zu können! Denn die hiesige existenz ist eine gräßliche. Man vegetirt nur, verkümmert ohne geistigen verkehr aufs elendste, muss froh sein, wenn man nur ruhig lebt, denn wie man etwas hervortritt, hat man die meute hinter sich, was ich gerade jetzt mit meinem aufsatz über den deutschen unterricht an den gal. Mittelschulen36 erlebte. Ich bin ganz zurückgezogen, komme höchstens mit einigen officiren zusammen, aber das ist wol nicht das anregendste. Und nun trage ich schon eine 6jährige traurige verbannung! Ich vertreibe mir die bösen gedanken durch arbeit, soeben habe ich ein großes werk der physiologie der Lyrik vollendet, das nun in druck soll. Wenn nur die Arbeit hier nicht durch alles erschwert wäre! Nun man muss eben sein kreuz tragen und wol dem, der ein treues weib hat, das ihm tragen hilft. Ich gönne auch Dir die häuslichkeit, kinder haben wir gleichfalls keine, was in gewissem sinne sehr angenehm ist […].«37

Diesem Klagebrief ist zu entnehmen, dass er in Lemberg auch nach sechs Jahren noch keinen Freundeskreis hatte, sondern nur mit einigen der in der galizischen Hauptstadt stationierten Offizieren zusammenkam. Anscheinend entwickelten sich seine Kontakte mit den intellektuellen Kreisen in Lemberg, die auch ein Interesse an seiner Lehrtätigkeit an der Universität zeigten, recht langsam. Hier boten sich natürlich in erster Linie deutschsprachige Kollegen an, wie etwa der fast gleichaltrige Gymnasiallehrer Dr. Albert Zipper, der 1855 als österreichischer Beamtensohn in Lemberg geboren worden und in beiden Kulturen aufgewachsen 35 Wienbibliothek im Rathaus Wien [WiR, vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek], Handschriftenabteilung [HsAbt.], IN 195.427. Brief R. M. Werners an August Sauer vom 8. und 16. Juli 1889 aus Lemberg. 36 Richard Maria Werner bezieht sich hier auf seinen Aufsatz »Der deutsche Unterricht an den galizischen Mittelschulen«, der in der Zeitschrift für die österreichischen Mittelschulen, 40. Jg. (1889), S. 262–270 erschienen ist und dessen Kritik an der Befähigung der Gymnasiallehrer große Empörung unter den polnischen Gymnasiallehrern hervorgerufen hatte. Auf seinen Beitrag antwortete Constantin [Konstanty] Łuczakowski: Nochmals »der deutsche Unterricht an den galizischen Mittelschulen«, der zusammen abgedruckt wurde mit der Antwort von Richard Maria Werner: Vorläufige Erwiderung, in: Zeitschrift für die österreichischen Mittelschulen, Jg. 40 (1889), S. 675–684. In demselben Jahr erschien außerdem die anonyme, zwanzig Seiten umfassende polemische Kritik an seinem Aufsatz: Ein Vade Mecum für den Herrn Dr. R. M. Werner, k. k. Universitäts-Professor. In diesem Taschenformat ausgefertigt von einem galizischen Schulmanne, Złoczów 1889. 37 WiR, HsAbt., IN 195.427. Brief Werners an Sauer vom 8. und 16. Juli 1889.

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war. Dank seiner Zweisprachigkeit bereitete ihm die polnische Vorlesungssprache keine Probleme. 1880 wurde Zipper an der Universität Krakau zum Dr. phil. promoviert, wo er auch seine Lehramtsprüfung ablegte. Seit dem Schuljahr 1882/ 83 war er als Gymnasialprofessor im Franz Joseph-Gymnasium in Lemberg tätig und unterrichtete als Lektor der deutschen Sprache ebenfalls im Polytechnikum.38 Zipper spielte in Lemberg eine wichtige Rolle bei der Vermittlung zwischen der deutschen und polnischen Kultur und Literatur. Als Übersetzer, Verfasser von Wörterbüchern, Abhandlungen zu deutschen und polnischen Themen und als Dichter wurde er schnell bekannt. Es ist anzunehmen, dass Zipper auch Werners Vorlesungen besuchte und sich mit der Zeit eine enge Freundschaft zwischen Zipper und Werner entwickelte. Außerdem gelang es Werner, Schüler um sich zu gruppieren, mit denen er auch nach dem Ende ihres Studiums freundschaftlich verbunden blieb. Im Laufe der nächsten Jahre erwies sich das raue galizische Klima, über das schon viele deutsch-österreichische Beamte vor ihm geklagt hatten,39 für seine Gesundheit äußerst schädlich. Die Berichte über seine schlechte Gesundheit ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Korrespondenz, wie auch auf einer Karte an Karl Emil Franzos vom 17. Februar 1893, die er – auf seine angeschlagene Gesundheit hinweisend – mit dem resignierenden Kommentar beendet, dass man eben »nicht ungestraft 10 Jahre in Lemberg« lebe.40 Von seinen Atemwegserkrankungen berichtete er auch Sauer in seinen Briefen, so im Jahre 1894, als er schreibt, dass seine angeschlagene Gesundheit es ihm erst allmählich wieder zu arbeiten erlaube. Ihm zufolge würde das Lemberger Klima den Gesündesten ruinieren. Auch scheint ihm die Arbeit an dem Lesebuch für die galizischen Schulen viel Kraft gekostet haben.41 Zwar fuhr er in den Sommerferien mit seiner Frau regelmäßig für längere Zeit zur Erholung in die altösterreichischen Gebiete oder in verschiedene Heilbäder, und sogar an die Ostsee, um etwas für seine Gesundheit zu tun, allerdings schien sie sich dann aber immer wieder in den Wintermonaten zu verschlechtern. Im Januar 1893 sah er sich sogar gezwungen, die Universität um eine Verringerung seiner Stunden zu bitten, da er

38 Albert Zipper, in: BLKÖ 60 (1891), S. 172. 39 Vgl. Isabel Röskau-Rydel: Zwischen Akkulturation und Assimilation. Karrieren und Lebenswelten deutsch-österreichischer Beamtenfamilien in Galizien (1772–1918), München 2015 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 55). 40 WiR, HsAbt., IN 111.833. Korrespondenzkarte Werners an Karl Emil Franzos vom 17. Februar 1893. 41 WiR, HsAbt., IN 187.828. Brief Werners an Sauer vom 10. November 1894. Das gemeinsam mit Karl Petelenz vorbereitete, fast 400 Seiten umfassende Lesebuch war Ende 1892 in Lemberg unter dem Titel »Deutsches Lesebuch für die galizischen Mittelschulen. Sechste Klasse« erschienen.

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erhebliche Probleme mit seiner Stimme hatte und es für ihn aus gesundheitlichen Gründen immer schwieriger wurde, Unterricht zu halten.42 Besonders ausführlich schilderte er am 3. Dezember 1901 Christine Hebbel, mit der er ebenfalls im Briefwechsel stand, sein Leid. In seinem Brief klagte er, dass es ihm gar nicht gut gehe und erklärte dies ausführlicher: »[…] Die erkältung, die ich mir dies jahr in Wien holte, will gar nicht weichen. wurde vielmehr infolge des wetters und der vielen vorlesungen immer ärger, so daß ich fortwährend in ärztlicher behandlung stehe, alle möglichen medizinen einnehme, […] dämpfe einatmen und mich sehr schonen muß. das läßt sich aber nur schwer machen, da wir jetzt täglich 2–3 prüfungen haben und ich die vorlesungen nicht ganz aussetzen will. der zudrang zu ihnen ist so groß, wie noch niemals, darum herrscht aber in unseren elenden hörsälen noch eine temperatur, daß ich jedesmal wie aus einem irisch-römischen Schwitzbad herauskomme und dann starkes stechen in den bronchien im leidenden Kehlkopf fühle. der katarrh sitzt tief in den bronchien und hatte den kehlkopf so angeschwollen, daß der arzt kaum zu spiegeln vermochte. dazu nun das elende, trübe, feuchte, regnerische und unnatürlich warme wetter, das gesunde krank, aber leider kranke nicht gesund macht«.43

Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit versuchte er am gesellschaftlichen Leben der deutschen Kreise in Lemberg teilzunehmen. Als sich die Deutschen in Lemberg 1903 entschlossen, erneut einen Geselligkeitsverein zu gründen, war er bereit, als Vereinsobmann zu wirken. In dieser Funktion riet er bei der Gründung im Jahre 1904 von dem in Galizien wenig attraktiven Namen »Germania« ab und überzeugte die Gründungsmitglieder, zu dem früheren Namen »Frohsinn« zurückzukehren.44 Die Darbietungen der Laienschauspieler, Sänger und Musiker erreichten anscheinend ein recht hohes Niveau, so dass die »theatralischen, musikalischen und gesanglichen Darbietungen« zahlreiche Besucher anzogen.45 Es ist anzunehmen, dass dieses Laientheater auch dem Ehepaar Werner eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag bot. Seine Gesundheit schien sich Richard Maria Werner tatsächlich in Lemberg ruiniert zu haben, denn Anfang 1904 berichtete er seinem Freund Sauer sogar von Gerüchten über seine Absetzung oder frühzeitige Pensionierung.46 Das Jahr 1904 bedeutete für ihn aber gleichzeitig auch eine Zeit des Rückblicks auf eine äußerst

42 DALO, L’viv / Lemberg, Fond [Bestand] 26 (Universität), Opis 5, Sprawa 241: Akta R. M. Wernera, Bl. 23r und 23v. Er fand beim Ministerium für Kultus und Unterricht auch in den folgenden Jahren immer wieder Verständnis für seine eingeschränkte Arbeitskraft. 43 Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Autographensammlung Cb 24, Nr. 728. Brief Werners aus Lemberg an Christine Hebbel vom 1. Dezember 1903. 44 Müller: Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung (wie Anm. 6), S. 158. 45 Ebd., S. 155. 46 WiR, HsAbt., IN 187.842. Brief Werners an Sauer vom 20. Januar 1904.

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erfolgreiche Lehr- und Publikationstätigkeit.47 Am 26. Oktober 1904 feierte er sein 25-jähriges Professorenjubiläum an der Universität Lemberg im Kreis seiner Schüler und Kollegen. In der festlich geschmückten Aula wurde Richard Maria Werner im Namen seines ältesten Schülers Samuel Heller begrüßt, der inzwischen Gymnasiallehrer in Tarnopol war, danach richteten Helena Seglówna und Gwido Holzer Grußworte an ihn. Von seinen Schülern und Schülerinnen erhielt er als Dank für seine langjährige Arbeit zum Andenken eine Kassette mit den Photographien aller Schüler. In seiner Dankesrede hob Werner hervor, dass er diesen Augenblick der besonderen Schicksalsfügung verdanke, die ihn nach Lemberg gebracht habe, wo er – ohne Verbindung zu seiner Nation – eine andere Nation kennen und schätzen gelernt habe. Gekrönt wurde der Tag mit einem zu Ehren Professor Werners gegebenen Abendessen. Darüber hinaus veröffentlichten zwei seiner Schüler, Benedykt Elmer und Karol Irzykowski48, Artikel anlässlich seines Jubiläums. Benedykt Elmer beschreibt das Wirken des damals 50-jährigen Richard Maria Werners in der Lemberger Tageszeitung »Słowo Polskie« [Das Polnische Wort] am 26. Oktober 1904 wie folgt: »Seit Jahren lebt mitten unter uns ein stiller, bescheidener, fleißiger, einem breiteren Kreis unserer Intelligenz lediglich vom Namen her bekannter Mann, der, obwohl für uns fremder Herkunft, einen günstigen Einfluss im wissenschaftlichen Bereich auf das Geistesleben unserer Gesellschaft ausübt«.49

Elmer zählte zu Werners größten Verdiensten seine Tätigkeit als Herausgeber, Biograph und Kritiker Friedrich Hebbels und betonte, dass Werner der erste gewesen sei, der es gewagt hätte, ein ganzes Semester der kritischen Analyse der Werke Hebbels zu widmen. Auch weist er auf die besondere Verbundenheit des Jubilars zu Friedrich Hebbel hin, da Werner von seinem mit Friedrich Hebbel befreundeten Vater zahlreiche Materialien über Hebbel geerbt hatte.50 Einen Tag später, am 27. Oktober 1904, erschien in der »Gazeta Lwowska« [Lemberger Zeitung] Karol Irzykowskis Artikel, in dem er sich in den höchsten Tönen über seinen ehemaligen Professor, dessen Unterricht er von 1889 bis 1893 besucht hatte, äußerte. Weiter betonte er, dass Werner trotz dessen schwieriger Stellung als »Deutscher« – wie Irzykowski schreibt – auf seinem Posten mitten unter »einer Nation, die häufig mit Unwillen auf ihn blickte« ausgeharrt habe. Mit der 47 Die Liste der Publikationen Richard Maria Werners dürfte wohl zur längsten Publikationsliste der Professoren an der Universität Lemberg zählen, denn sie umfasst kleingedruckt sieben Buchseiten. Vgl. Kronika Uniwersytetu Lwowskiego. Bd. II: (1898/9–1909/10), zusammengestellt von Wiktor Hahn, Lwów 1912, S. 478–484. 48 Karol Irzykowski: Jubileusz Prof. Wernera [Jubiläum Prof. Werners], in: »Gazeta Lwowska«, Nr. 246 vom 27. Oktober 1904, S. 4. 49 Benedykt Elmer: Ryszard Marian Werner (Z powodu 25-letniego jubileuszu działalnos´ci uniwersyteckiej), in: Słowo Polskie, Nr. 504 vom 26. Oktober 1904, S. 3. 50 Ebd.

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Zeit sei es ihm jedoch gelungen, unter seinen Schülern und Kollegen große Sympathie zu gewinnen sowie Anerkennung für seine Verdienste um die deutsche Sprache im Mittelschulwesen in Galizien zu erlangen. Irzykowski betont, dass Werner eine besonders schwierige Aufgabe zu erfüllen hatte, als er nach Lemberg kam, da er hier Schüler antraf, die nicht nur wenig Interesse an literarischen Forschungen gezeigt hätten, sondern auch noch recht schlecht Deutsch sprachen. Aus diesem Grund sei Werner gezwungen gewesen, das Unterrichtsniveau zu senken. Es habe ihn viel Mühe gekostet, bei den Studenten das Interesse an der deutschen Literatur zu wecken, da sie die deutsche Sprache eigentlich nur »für den schnellen Broterwerb« erlernen wollten. Davon habe sich Professor Werner jedoch nicht entmutigen lassen, sondern dank seines »ausgezeichneten pädagogischen Talents« sei es ihm gelungen, die Studenten allmählich für die deutsche Literatur zu interessieren, ihre literarische Urteilsgabe zu formen sowie ihnen die poetische Technik und die Analyse literarischer Werke nahezubringen. Irzykowski zufolge hatte Richard Maria Werner mit seinen Seminaren so große Erfolge, dass nicht nur künftige Gymnasiallehrer an ihnen teilnahmen, sondern auch außerordentliche Studenten und Studentinnen. Er betonte nachdrücklich, dass er Professor Werner, bevor er ihn überhaupt kennengelernt habe, sehr viel zu verdanken hatte, da er unter dem Einfluss seines Werkes »Lyrik und Lyriker«51 das erste Mal versucht habe, Gedichte zu schreiben. Als er Werner dann während seines Studiums persönlich kennengelernt habe, sei er von ihm zur weiteren Dichtung ermutigt worden. Ihm allein habe er es zu verdanken, dass er eine literarische Schulung erhalten habe, die ihm die Augen weit geöffnet hätte.52 Es überrascht, dass Karol Irzykowski die anfangs recht ablehnende Haltung der polnischen Professorenkreise in Lemberg gegenüber Richard Maria Werner so deutlich in seinem Beitrag thematisiert, denn die meisten von Werners Kollegen dürften 1904 noch am Leben gewesen sein, wodurch sich Irzykowski ihren Unwillen zugezogen haben könnte. Andererseits musste er auch in keiner Weise Rücksichten auf irgendwelche Professoren nehmen, da er nicht an der Universität tätig war, so dass er sich durchaus einige Freiheiten in seinen Äußerungen erlauben konnte. Noch eine weitere, besondere Lobpreisung erfuhr Richard Maria Werner von seinem Freund Albert Zipper, der anlässlich des Jubiläums ihm zu Ehren ein Gedicht verfasst hatte.53 ***

51 Richard Maria Werner: Lyrik und Lyriker. Eine Untersuchung, Hamburg – Leipzig 1890. 52 Ebd. ´ ski: Richard Maria Werner und sein Lemberger Hebbel-Kreis. Heb53 Krzysztof A. Kuczyn bel-Forschung in Polen, in: Hebbel-Jahrbuch 1988, S. 127–131.

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Auch wenn Richard Maria Werner seine Jahre an der Peripherie der Habsburgermonarchie als eine kulturelle Verbannung für sich selbst angesehen haben mag, so konnte er sich doch einer Reihe begabter Schüler erfreuen, die als Lehrer an den galizischen Mittelschulen wirkten und auf diese Weise einen Beitrag zu einem besseren Deutschunterricht leisten konnten. Es ist erstaunlich, dass er trotz seiner schlechten Gesundheit so viel Schaffenskraft hatte und schon 1904 ein sehr eindrucksvolles Werk präsentieren konnte. Als 1907 neben seinen chronischen Atemwegserkrankungen auch noch eine Leberentzündung hinzukam, bat Werner am 10. September 1907 um eine Beurlaubung für das Wintersemester.54 Danach hielt er noch drei weitere Jahre durch, bis er im Sommer 1910 »um Versetzung in den Ruhestand unter Zuerkennung des vollen gegenwärtigen Gehaltes [bei] dem k.k. Ministerium« bat. Die Unterstützung seines Gesuches wurde am 14. Juli 1910 von dem Professorenkollegium einstimmig beschlossen. Gleichzeitig drückte es sein Bedauern darüber aus, »dass der Gesundheitszustand des Herrn Hofrat Prof. Werner, durch eine unter ungünstigen hygienischen Verhältnissen ausgeübte Lehrtätigkeit verursacht, ihm nicht mehr erlaubt, auf der Lehrkanzel zu wirken. Unsere Universität verliert in Prof. Werner einen verdienstvollen und hochgeachteten Gelehrten, das philosophische Professorenkollegium einen liebenswürdigen, die Interessen dieser Wirkungsstätte warm empfindenden Arbeitsgenossen, die Jugend einen bewährten und wohlwollenden Lehrer und Förderer. Es wird schwer fallen diesen Verlust in würdiger Weise zu ersetzen«.55

Richard Maria Werner kehrte nun mit seiner Frau zurück nach Wien, wo er knapp drei Jahre später, am 31. Januar 1913, im Alter von erst 59 Jahren starb. Er hinterließ nicht nur eine Witwe, sondern auch trauernde Schüler und eine Professorenschaft, die sein pädagogisches und wissenschaftliches Wirken in Lemberg entsprechend zu würdigen wussten, indem sie einen Vertreter der Professoren zu seiner Beerdigung nach Wien entsandten.56 *** Obwohl Richard Maria Werner immer wieder mit seiner Entscheidung haderte, den Ruf nach Lemberg angenommen zu haben, sollte dieser Aufenthalt für ihn als Pädagogen und Wissenschaftler außerordentlich erfolgreich werden. Im Jahre 1883 war natürlich auch für ihn nicht voraussehbar, dass dies eine Entscheidung

54 DALO, L’viv / Lemberg, Fond [Bestand] 26 (Universität), Opis 5, Sprawa 241: Akta R. M. Wernera, Bl. 93. 55 Ebd., Bl. 97. 56 Ebd., Bl. 108. Dankschreiben Anna Werners vom 9. Februar 1913 aus Wien an das Professorenkollegium in Lemberg anlässlich der Trauerkundgebung ihres Mannes.

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für sein gesamtes Berufsleben sein sollte. Nach seiner Pensionierung war es ihm lediglich vergönnt, die letzten knappen drei Lebensjahre in Wien zu verbringen. Das Beispiel von Richard Maria Werner zeigt, dass es für Personen, die aus einem ethnisch gemischten Kronland stammten, eher möglich war, sich in einem nichtdeutschen Kronland einzuleben, als für Personen, die aus einem nur deutsch geprägten Umfeld stammten. Gleichzeitig hatte Werner auch bewiesen, dass mit einem guten Willen die Sprachbarrieren überwunden werden konnten, was auch bei den verschiedenen Stellungnahmen des Professorenkollegiums immer wieder positiv vermerkt wurde. Vielleicht waren seine außergewöhnlichen Leistungen als Herausgeber und Mitherausgeber wichtiger Werke zur deutschen Literatur sowie als Verfasser zahlreicher Aufsätze und Bücher auch mit dem unbewussten Hintergedanken verbunden, seinen Kollegen in Deutschland und Österreich zu zeigen, dass in einer für deutsch-österreichische Germanisten klimatisch so ungünstig gelegenen Stadt wie Lemberg, die Werner nicht ohne Grund als »Culturwasserscheide« bezeichnete, auch ohne Zugang zu gut ausgestatteten germanistischen Bibliotheken, Forschungen erfolgreich weitergeführt werden konnten.

Barbara Marmol-Cop (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie)

Interkulturelle Konflikte. Demonstrationen anlässlich der Aufführung von Theodor Herzls Theaterstück Das Neue Ghetto in Krakau im Jahre 1898

Als die Wiener Regierung im Jahre 1867 eine Autonomie für das Kronland Galizien beschloss, bedeutete diese nicht nur eine Rückkehr zur polnischen Amts-, Unterrichts- und Vorlesungssprache, sondern für die Stadt Krakau (poln. Kraków) auch einen enormen wirtschaftlichen und kulturellen Impuls. Der ein Jahr zuvor gewählte Stadtpräsident Józef Dietl, der erst kurz davor nach einem drei Jahrzehnte dauernden Aufenthalt in Wien als Arzt zum Professor an der Universität Krakau berufen worden war, stellte nun gemeinsam mit der Stadtverwaltung Überlegungen über eine zügige Modernisierung der Stadt an. Auch wenn in seiner Amtszeit nicht alle Pläne umgesetzt werden konnten, so wurde ein Entwicklungsplan für die Modernisierungsmaßnahmen entworfen, der dann von den Nachfolgern schrittweise umgesetzt wurde. Unter dem ihm folgenden Stadtpräsidenten Mikołaj Zyblikiewicz wurden in den 1870er Jahren der Hauptmarkt neugestaltet und die verfallenen Tuchhallen renoviert, deren Obergeschoss zu einem Nationalmuseum für polnische Malerei umfunktioniert wurde. Jacek Purchla betont, dass dieses zentral gelegene Gebäude »zugleich auch die von Zyblikiewicz forcierte Funktion Krakaus als einer geistigen Hauptstadt der Polen« symbolisiert habe.1 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollte auch ein neues Theatergebäude errichtet werden, da das »Alte Theater« mit seiner kleinen Bühne nur ein begrenztes Repertoire an Aufführungen anbieten konnte. Über die Notwendigkeit der Errichtung eines neuen Theatergebäudes gab es unterschiedliche Meinungen, denn 1887 kam es in Krakau zu einer lebhaften Diskussion darüber, ob man zuerst Wasserleitungen oder zuerst ein Theatergebäude bauen solle. Die Stadtverwaltung entschied sich erstaunlicherweise für das neue Gebäude und beschloss, das Theater auf dem wenige Schritte vom Hauptmarkt entfernten Hl. Geist-Platz zu errichten. Viele Krakauer Bürger, darunter auch der bekannte Maler Jan Matejko, protestierten gegen diesen Beschluss, da sich auf diesem Platz mittelalterliche Gebäude sowie ein Spital befanden. Als die endgültige Entscheidung des Stadtrats fiel, an dem 1 Jacek Purchla: Krakau. Mitten in Europa, Krakau 2016, S. 108.

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Plan festzuhalten, drückte Matejko seine Empörung dadurch aus, dass er der Stadt verbot, seine Werke auszustellen, darüber hinaus verzichtete er aus Protest auf seine Rechte als Bürger der Stadt Krakau.2 Das neue Theatergebäude entwarf der bekannte Architekt Jan Zawiejski, ein Absolvent des Wiener Polytechnikums, der in den 1880er Jahren in Wien und Berlin als Architekt wirkte, bevor er 1890 in seine Heimatstadt zurückkehrte. Das zwischen 1891 und 1893 unter seiner Leitung errichtete Theatergebäude wurde am 21. Oktober 1893 feierlich eröffnet. Die Bedeutung, die dieses repräsentative Gebäude für die Stadt hatte, beschreibt Jacek Purchla sehr eindrücklich: »Das Theater wurde zum Symbol des Modernen und zur Ankündigung einer neuen großstädtischen Phase in der Entwicklung Krakaus. Das errichtete Theatergebäude wurde zur nationalen Bühne und zum neuen geistigen Mittelpunkt der aufstrebenden Stadt. Mit diesem Bau folgte Krakau Prag und Budapest, die innerhalb der Doppelmonarchie bemüht waren, sich zu nationalen Hauptstädten herauszubilden«.3

Auf der Gebäudefassade wurde dementsprechend die Inschrift angebracht: »Kraków narodowej sztuce« [Krakau der nationalen Kunst]. Das Theater sollte sowohl den christlichen als auch den jüdischen Bürgern der Stadt als Bühne der Nation dienen.4 Im Jahre 1893 erhielt das Theater die offizielle Bezeichnung »Teatr Miejski« [Stadttheater]. Seit diesem Jahr wirkte auch ein neuer Direktor, Tadeusz Pawlikowski, der Sohn des in Krakau sehr bekannten Dichters Mieczysław Pawlikowski und seiner Frau Helena.5 Obwohl Pawlikowski keine Erfahrung in der Leitung eines Theaters hatte, stellte er eine ausgezeichnete Theatertruppe mit schon damals sehr bekannten Schauspielern und Schauspielerinnen zusammen. Diana Poskuta-Włodek betont, dass Pawlikowskis Engagement für das Theater für ihn zu einer Prestigeangelegenheit wurde und für ihn gleichzeitig einen beruflichen Aufstieg bedeutete. Für die Krakauer war die von ihm vorgenommene Auswahl der Schauspielerinnen und Schauspieler ein wahres Spektakel und wurde von großen Emotionen seitens der Bevölkerung begleitet.6 Tadeusz Pawlikowski wählte nicht nur seine Mitarbeiter, sondern auch die Theaterstücke für die Bühne äußerst gewissenhaft aus. Allerdings ließ er sich dabei nicht unbedingt von der Meinung des Publikums leiten. Tadeusz Boy-Z˙elen´ski schreibt in seinen Erinnerungen über das Repertoire des Krakauer Stadttheaters unter der Leitung Pawlikowskis und dessen besonderen Mut bei der Auswahl der Stücke: 2 Diana Poskuta-Włodek: Teatr im. Juliusza Słowackiego w Krakowie 1893–1993, Kraków 1993, S. 7, 12. 3 Purchla: Krakau (wie Anm. 1), S. 109. 4 Poskuta-Włodek: Teatr (wie Anm. 2), S. 14. 5 Adam Grzymała-Siedlecki: Tadeusz Pawlikowski i jego krakowscy aktorzy, Kraków 1971, S. 18–19. 6 Poskuta-Włodek: Teatr (wie Anm. 2), S. 28.

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»Das, was das Théâtre Antoine in Paris in seinem Théâtre libre gesetzwidrig spielte, ging in Krakau als offizielles Repertoire durch. In Anbetracht dessen, dass es in der Stadt keine Konkurrenz, keine Operette und damals auch noch kein Kino gab, konnte derjenige, in dessen Hand sich das Theater befand, auch eine gewisse Art von Terror ausüben und dem Publikum sagen: ›Willst Du nicht das, was ich Dir gebe? Dann bleib’ zu Hause sitzen‹. […] Das Theater bestritt drei Viertel der Gespräche; es war das einzige Ereignis, das frei vom Merkmal der Lächerlichkeit war, eben ein europäisches [Ereignis]«.7

Wenn man das Repertoire des Stadttheaters in Krakau für die Saison 1897/1898 anschaut, erkennt man, dass unter der Intendanz Pawlikowskis sowohl klassische Bühnenstücke wie Romeo und Julia oder Othello von William Shakespeare, Die Räuber von Friedrich Schiller sowie mutige, modernistische Stücke aufgeführt wurden, die sich den sozialen und gesellschaftlichen Problemen der damaligen Zeit widmeten. Zu diesen Stücken zählte zweifellos auch das Theaterstück Das neue Ghetto von Theodor Herzl, der bis heute als »Vater des Zionismus« bezeichnet wird.8 Nichts hatte darauf hingewiesen, dass der im Jahre 1860 in Budapest in eine assimilierte jüdische Familie hineingeborene Theodor Herzl in die Geschichte als der Begründer des politischen Zionismus eingehen würde. Eine Zäsur in seinem Leben bedeutete seine Zeit als ausländischer Berichterstatter über den DreyfusProzess in Paris im Jahre 1894 für die »Neue Freie Presse«. Die in ganz Europa bekannt gewordene Affäre um den aus einer jüdischen Familie stammenden französischen Offizier Alfred Dreyfus, der auf Grund gefälschter Dokumente 1894 vom Militärgericht wegen Landesverrat zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, bedeutete für Herzl ein Trauma. Łukasz Tomasz Sroka und Mateusz Sroka betonen, dass diese traumatischen Erfahrungen in Paris, Herzl, aber auch vielen anderen Juden bewusst gemacht hätten, dass sie gemeinsam politisch aktiv werden müssen, um dadurch den Aufbau eines eigenen Staates initiieren zu können.9 Unter dem Eindruck des Erlebten schreibt Theodor Herzl in knapp drei Wochen im Herbst 1894 sein Drama Das neue Ghetto.10 Einige Biographen Herzls sehen in diesem Stück autobiographische Motive, indem sie die Person Herzls mit dem Haupthelden Jakob Samuel

´ ski: Znasz-li ten kraj, Warszawa 1932, S. 84. 7 Tadeusz Boy-Z˙elen 8 Das Theaterrepertoire für die Saison 1897/1898 befindet sich in der Studie von GrzymałaSiedlecki: Tadeusz Pawlikowski (wie Anm. 5), S. 385–389. 9 Łukasz T. Sroka / Mateusz Sroka: Polskie korzenie Izraela. Wprowadzenie do tematu. Wybór z´ródeł, Kraków – Budapeszt 2015, S. 166. 10 Péter Varga: »Aber die Mauern sind doch gefallen«. Grenzerfahrungen assimilierter Juden in Theodor Herzls Schauspiel Das neue Ghetto, in: András F. Balogh / Erhard Schütz (Hg.): Regionalität und Fremde. Literarische Konstellationen, Visionen und Konzepte im deutschsprachigen Mitteleuropa, Berlin 2007, S. 139–150, hier S. 142.

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gleichsetzen.11 Jakob ist ein junger Anwalt, der ehrenamtlich tätig ist. Obwohl er ein gebildeter und karitativ tätiger assimilierter Jude ist, wenden sich die Menschen aufgrund seiner Herkunft von ihm ab. Zwar enthält Das neue Ghetto keine zionistischen Motive, dennoch scheint es eine Antwort auf die Probleme des Haupthelden zu sein, der auf dem Totenbett für das Verlassen des Ghettos plädiert.12 Das erste Theater, an dem das Drama aufgeführt wurde, war das heute nicht mehr bestehende Carltheater in Wien. Die Uraufführung fand am 22. Januar 1898 statt und wurde zu einem vollen Erfolg, über den in polnischen und österreichischen Zeitungen berichtet wurde, wie beispielsweise in der »Neuen Freien Presse« am 6. Januar 1898: »Theodor Herzl’s vieractiges Schauspiel ›Das neue Ghetto‹ ist heute unter enthusiastischem Beifall in Scene gegangen; Darsteller und Dichter wurden nach jedem Aufzuge stürmisch und häufig gerufen«.13

Über das Theaterstück konnte man auch in Krakauer Zeitungen lesen. Die in Krakau und Lemberg herausgegebene Wochenschrift für Literatur und Kunst der Krakauer Modernisten »Z˙ycie« [Das Leben] informierte die polnischen Leser über die große Popularität des Dramas in Wien, das schon zehn Mal aufgeführt worden sei und dessen Eintrittskarten angeblich vor jeder Ausstellung ausverkauft gewesen seien, wie der Theaterkritiker Karol Biecz schrieb. Die Begeisterung sei so groß, dass Theodor Herzl angeblich schon einen Vertrag mit einem der führenden Berliner Theater geschlossen hätte, in dem das Stück in Kürze aufgeführt werden solle. Außerdem gab es das Gerücht, wie Biecz schrieb, dass Herzl sich vor den Nachfragen der Direktoren von Provinztheatern nicht retten könne, da diese auch dem außerhalb der Hauptstadt lebenden Publikum neue Stücke anbieten wollten. Biecz selbst kritisierte den Inhalt sowie den Aufbau des Theaterstücks wegen seiner Vielschichtigkeit und wegen des Fehlens eines Leitgedankens. Nichtsdestotrotz musste er zugeben, dass Das neue Ghetto ein Kassenschlager war und demzufolge ein »Zugstück« sei, wie ein erfolgreiches Theaterstück in Wien bezeichnete wurde.14 Ähnlich äußerte sich Dr. Saul Raphael Landau über den meritorischen Wert von Herzls Drama in »Z˙ycie« und betonte, dass es hinsichtlich des literarischen Wertes zwar ein recht künstliches und ein zu theatralisches Stück sei, dass es aber dennoch Aufmerksamkeit verdiene, »da es das Werk eines intelligenten und scharfen Beobachters der sozialen Bewegun11 12 13 14

Derek Penslar: Theodor Herzl. The Charismatic Leader, London 2020, S. 64. Samuel Raphael Landau: »Nowe Ghetto«, in: Z˙ycie, Nr. 8 vom 19. Februar 1898, S. 88–92. Theater- und Kunstnachrichten, in: Neue Freie Presse, Nr. 11986 vom 6. Januar 1898, S. 8. Karol Bicz: Z Wiednia, in: Z˙ycie. Tygodnik ilustrowany, literacki, artystyczny, naukowy i społeczny, Nr. 4, 1898, S. 42–44. Vgl. zur Entstehung des Theaterstücks und zur Uraufführung in Wien die »Wiener Vorlesung« von Jacques Le Rider: Wien als »Das neue Ghetto«? Arthur Schnitzler und Theodor Herzl im Dialog, Wien 2014 (Wiener Vorlesungen, Bd. 171).

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gen« sei und »ein überaus wichtiges Thema in unterhaltender Weise« anspreche. Landau zufolge habe Herzl in seinem Stück Das neue Ghetto den schablonenhaften Weg des Juden als eines Bettlers verlassen und habe ihn als einen Menschen dargestellt, der in moralischer Hinsicht unter der ihm gegenüber gezeigten Intoleranz leide.15 Tadeusz Pawlikowski entschloss sich, das inzwischen ins Polnische übersetzte Theaterstück mit dem Titel Nowe Ghetto im Februar 1898 auch im Krakauer Stadttheater aufzuführen. Theodor Herzl war in dieser Zeit in Galizien kein unbekannter Dramenautor mehr, sondern ein geschätzter und aktiver Führer der sich erst entwickelnden zionistischen Bewegung. Sein 1896 erschienenes politisches Manifest Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, in dem er versuchte, seine Glaubensbrüder davon zu überzeugen, dass sie nicht länger der gesellschaftlichen Lage in der Diaspora ruhig zusehen könnten, und in dem er ihnen einen fertigen Plan liefert, wie ein neues Land entstehen könne, wurde von vielen Juden in der Diaspora, darunter auch von den Krakauer Juden, enthusiastisch aufgenommen. In Galizien schufen die Zionisten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eigene Strukturen. Sehr viel aktiver waren in dieser Zeit die Organisationen der fortschrittlichen Juden, die sog. Assimilatoren. Dennoch nahmen auch zwei Aktivisten aus Galizien, Abraham Salz aus Tarnów und Ozjasz Thon, der Rabbiner der Fortschrittlichen Synagoge in Krakau, an dem von Theodor Herzl im Jahre 1897 in Basel organisierten ersten Zionistenkongress teil, der als der formelle Beginn der Bemühungen um die Errichtung eines Judenstaates gilt.16 Krakau war kein idealer Ort, in dem am Ende des 19. Jahrhunderts die christliche und jüdische Bevölkerung in einer Symbiose zusammenlebten, dennoch kann man die damaligen christlich-jüdischen Beziehungen als korrekt bezeichnen. Nach der Volkszählung von 1890 lebten 69.130 Menschen in Krakau, darunter 48.394 Christen und 20.736 Juden. Zehn Jahre später, im Jahr 1900, ist bereits eine starke Zunahme der Bevölkerung in Krakau sichtbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte die Stadt 85.274 Einwohner (ein Anstieg im Vergleich zur vorherigen Volkszählung um 16.144), darunter 59.844 Christen und 25.430 Juden.17 Es gab keinerlei Anzeichen, dass eine Aufführung von Herzls Drama im Stadttheater unter der Leitung des in der Stadt sehr geschätzten Theaterdirektors Tadeusz Pawlikowski besondere Kontroversen hervorrufen würde. Die in der Presse zu findenden Berichte widerlegen allerdings diese These, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

15 Samuel Raphael Landau: »Nowe Ghetto«, in: Z˙ycie, Nr. 8 vom 19. Februar 1898, S. 88–92. 16 Ł. T. Sroka / M. Sroka: Polskie korzenie Izraela (wie Anm. 9), S. 200. 17 Statystyka miasta Krakowa zestawiona przez Biuro Statystyczne Miejskie. Heft VIII, Kraków 1902, S. 3.

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Die mit den Aufführungen verbundenen Ereignisse im Stadttheater am 26. Februar und 1. März 1898 wurden in verschiedenen polnischen und deutschsprachigen Zeitungen beschrieben. Eine der Theaterkritiken der am 26. Februar stattfindenden polnischen Uraufführung erschien in der Krakauer Zeitung »Nowa Reforma« [Neue Reform]. Der Dramentext wurde von einem unter dem Kürzel W. Pr. schreibenden Verfasser dafür kritisiert, dass er »überhaupt keinen literarischen oder szenischen Wert besitze«. Dafür schätzte er die meritorische Vorbereitung des Stückes und die Darbietung der Schauspieler und Schauspielerinnen als sehr positiv ein. Seinem Bericht zufolge verlief die Aufführung sehr ruhig – man hatte für alle Fälle Polizisten im Zuschauerraum aufgestellt –, bis auf einen Zwischenfall, als einige jüdische Jugendliche versuchten, eine kleine Demonstration für die im Drama ausgedrückte Tendenz zu provozieren. Der Verfasser hob außerdem hervor, dass mehrheitlich Juden die teuersten Plätze im Saal eingenommen hätten18, was nicht verwundert, da diejenigen Juden, die bis Ende des 19. Jahrhunderts einen gewissen Wohlstand erlangt hatten, einen großen Teil der Zuschauer bildeten.19 Sehr viel kritischere Stimmen über die Aufführung sind in der Krakauer Zeitung »Głos Narodu« [Die Stimme der Nation] zu finden, die Pawlikowski vorwarf, dass dieser das Publikum nur dank der von ihm hervorgerufenen Skandale gewinnen könne. Als Skandal bezeichnete der in dieser Zeitung unter dem Kryptonym »Minos« veröffentlichende Autor, dass es sich um ein fremdes Theaterstück handle, in dem Herzl »die christliche Bevölkerung verunglimpfe, bespucke und erniedrige«, dass das Theater mit den »Jüdelnden« [z˙ydowszczyzna] bis zum Brechen voll gewesen sei und die »Jidden« [z˙ydy] sich provokativ verhalten hätten. Weiter wusste er zu berichten, dass um das Theatergebäude herum mehrere kleine Gruppen von Polizisten standen, die den Auftrag erhalten hätten, Gewalt anzuwenden, wenn »die Christen es wagen würden, gegen ihre Beleidigung und die Verherrlichung der Juden durch den Redakteur der N.[euen] F.[reien] Presse zu demonstrieren«.20 Neben den oben genannten pejorativ verwendeten Bezeichnungen wurde auch noch zur Verächtlichmachung der Juden das Wort »Z˙yd« [Jude] stets mit Kleinbuchstaben am Anfang (»z˙yd«), der »Chrzes´cijanin« [Christ] dagegen stets mit Großbuchstaben am Anfang geschrieben. »Minos« sah aber noch einen größeren Skandal in Pawlikowskis Haltung gegenüber der Stadtgemeinde und schrieb voller Empörung:

18 W. Pr., Teatr. »Nowe Ghetto« – sztuka w czterech aktach Theodora Herzla, in: Nowa Reforma, Nr. 48 vom 1. März 1898, S. 3. 19 Anna Kuligowska-Korzeniowska: Polska Szulamis. Studia o teatrze polskim i z˙ydowskim, Warszawa 2018, S. 164. 20 Minos: Teatr, literatura i sztuka, in: Głos Narodu, Nr. 47 vom 27. Februar 1898, S. 9.

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»Dem zwischen der Gemeinde und Pawlikowski geschlossenen Vertrag zufolge soll unser Theater eine Stätte der nationalen Kunst sein. Jedoch dank der persönlichen Animositäten des Direktors wurde das Theater zu etwas, was an eine Direktorenbude erinnert. Anstelle von Theaterstücken haben wir Pasquillen, anstelle von Dramen haben wir Possen, anstelle der Verteidigung der nationalen Ideale hören wir abscheuliche und entehrende Paradoxe, die nichts mit unserer Gesellschaft gemein haben«.21

Aus den Presseartikeln kann man schließen, dass nicht die polnische Uraufführung von Herzls Stück Nowe Ghetto auf den Brettern des Krakauer Stadttheaters, sondern erst die zweite Aufführung am 1. März 1898 bei den Stadtbewohnern eine große Empörung auslöste. Die »Nowa Reforma« teilte mit, dass sich am Tag der Aufführung in der Stadt Gerüchte verbreitet hätten, dass während der am Abend stattfindenden Aufführung von Herzls Stück eine Demonstration stattfinden werde. Dies führte dazu, dass während der Vorstellung die Logen leer blieben und nur in den hinteren Reihen des Stadttheaters Zuschauer saßen. Unter dem Publikum befanden sich mehrheitlich christliche und jüdische Jugendliche. Sowohl im Gebäude als auch außerhalb des Gebäudes befanden sich Polizisten. Der Hauptdarsteller wurde mit zahlreichem Beifall belohnt, allerdings waren dem Berichterstatter zufolge während der Vorstellung wiederholt Schreie, Zischen und Trampeln im Zuschauerraum zu hören. Die Ruhestörer wurden von einem im Saal anwesenden Polizeikommissar aufgeschrieben. Einer der Zuschauer habe einen Kranz aus Zwiebeln mit der Aufschrift »Für Pawlikowski vom Publikum« auf die Bühne geworfen.22 Diese Aufführung am 1. März 1898 bewirkte einen noch größeren Aufruhr als die Premiere, wie der »Głos Narodu« mitteilte. Erneut berichtete über das Theater der schon zuvor erwähnte »Minos«, der Pawlikowski vorwarf, dass das von ihm geleitete Theater eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle. Ihm zufolge seien vor Beginn der Aufführung in der Stadt die Rufe »Juden raus!« zu hören gewesen. »Minos« berichtete weiter, dass man gar nicht die Aufschrift »Für Pawlikowski vom Publikum« gesehen habe, wie in der »Nowa Reforma« berichtet wurde, sondern die Aufschrift »Für Tadeusz Pawlikowski, dem Verehrer des Talmuds«. Noch vor dem Ende der Aufführung versammelte sich vor dem Theater eine Menschenmenge mit einem Plakat, das die Aufschrift trug »Krakau der nationalen Kunst«. Die Demonstranten wollten sich mit dem Theaterdirektor treffen und begaben sich in die Nähe seines Hauses, von wo aus sie dann weiter zum Hauptmarkt zogen. Sie skandierten auch »Auf Wiedersehen am Donnerstag« und kündigten damit ihre Teilnahme an der folgenden Aufführung an.23 Der unter dem Kürzel »LS« schreibende Autor in der Zeitung »Z˙ycie« schrieb über 21 Ebd. 22 Kronika, in: Nowa Reforma, Nr. 50 vom 3. März 1898, S. 2. 23 Minos: Zaburzenia w teatrze, in: Głos Narodu, Nr. 49 vom 2. März 1898, S. 4.

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diese Unruhen sehr ironisch und betonte, dass diese Vorstellung in einer Demonstration der christlichen Bevölkerung endete, die von einer Horde von Gymnasialschülern und katholischen Arbeitern repräsentiert worden sei, »die ganz offensichtlich große Kenner und Liebhaber des Dramas gewesen seien«.24 In allen nach der zweiten Aufführung veröffentlichten Zeitungsbeiträgen kann man nachlesen, dass das Stück diesmal nicht denselben Erfolg hatte, wie bei der Premiere. Anzunehmen ist, dass die Gründe dafür nicht nur in der recht chaotischen Handlung des Stückes zu suchen waren, sondern insbesondere in der negativen Propaganda, die um das Stück entstand. Über die Demonstrationen in Krakau berichtete auch die »Allgemeine Zeitung des Judentums«: »In Krakau fand während der Aufführung des Theaterstückes ›Das neue Ghetto‹, von Th. Herzl, eine antisemitische Demonstration statt, doch konnte das Stück zu Ende gespielt werden. Mehrere Demonstranten wurden polizeilich abgestraft, andere werden seitens der Schulbehörden zur Verantwortung gezogen werden«.25

Obwohl zuvor noch eine weitere Aufführung von Herzls Theaterstück angekündigt worden war, wurde schließlich auf eine Fortsetzung des Stückes verzichtet. Das Recht, ein Stück aus dem Theaterrepertoire zu nehmen, besaß nicht nur der Theaterdirektor, sondern auch die Theaterkommission. Aufgrund des Drucks seitens der Öffentlichkeit als auch seitens der Presse hielt die Kommission eine Sitzung ab, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Ausnahmsweise nahm sogar der damalige Stadtpräsident Józef Friedlein an dieser Sitzung teil. Pawlikowski musste schließlich unter dem öffentlichen Druck Herzls Drama absetzen. Und es kam für ihn noch schlimmer, denn von diesem Zeitpunkt an wurde der Theaterdirektor dazu verpflichtet, alle seine Pläne, neue Stücke im Stadttheater aufzuführen, zuvor mit der Theaterkommission zu konsultieren.26 Anscheinend hatte die Zeitungskampagne in Krakau Tadeusz Pawlikowski vorsichtig werden lassen, denn das Theaterstück Nowe Ghetto wurde auch nicht in das Repertoire des Polnischen Theaters in der galizischen Hauptstadt Lemberg aufgenommen, dessen Direktor er im Jahre 1900 wurde.27 Abschließend muss betont werden, dass es nicht das erste Mal war, dass ein unter der Regie von Pawlikowski aufgeführtes Stück von der antisemitisch eingestellten Zeitung »Głos Narodu« sehr kritisch, ebenso wie der Direktor selbst,

24 LS: Teatr Krakowski, in: Z˙ycie, Nr. 10 vom 5. März 1898, S. 118. 25 Österreich-Ungarn, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, Nr. 10 vom 11. März 1898, S. 4. 26 Karol Estreicher / Józef Flach: Sprawozdania Komisji Teatralnej w Krakowie 1893– 1911. Einleitung und Anmerkungen von Diana Poskuta-Włodek, Warszawa 1992, S. 22. 27 Vgl. Barbara Maresz / Mariola Szydłowska: Repertuar Teatru Polskiego we Lwowie. Teatr Miejski pod Dyrekcja˛ Tadeusza Pawlikowskiego, Kraków 2005.

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beurteilt wurde.28 »Głos Narodu« wurde seit 1893 in Krakau herausgegeben und war bekannt für seine extremen Ansichten. In den Jahren 1897 bis 1901 hatte Kazimierz Ehrenberg die Stelle des Chefredakteurs inne29, der mit der bekannten Schriftstellerin und Schauspielerin Gabriela Zapolska zerstritten war und Pawlowski dafür kritisierte, dass er ihre Stücke aufführte und sie auf der Krakauer Bühne spielen durfte.30 Den Höhepunkt der Angriffe gegen Pawlikowski in »Głos Narodu« bildeten aber deutlich die Kritiken an der Aufführung von Theodor Herzls Theaterstück. Eine Folge dieser Angriffe war, dass Pawlikowski, der nicht mehr bereit war, gelassen diesen Angriffen zuzuschauen, nun den Autoren und Redakteuren der Zeitung die Möglichkeit nahm, in einer besonderen Loge im ersten Stock des Theatergebäudes Platz zu nehmen.31 Es ist mir leider nicht gelungen, Publikationen zu finden, in denen Pawlikowski eventuell Stellung zu den Anfeindungen hinsichtlich der Aufführung des Theaterstücks Nowe Ghetto genommen hätte. Die Demonstrationen in Krakau wurden auch nicht von Theodor Herzl kommentiert, der insgesamt neunzehn Theaterstücke, drei Romane sowie zahlreiche Feuilletons geschrieben hat. Interessanterweise werden die literarischen Werke Herzls – mit Ausnahme des Buches Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage – selten von Historikern bei der Analyse des Schaffens des »Vaters des Zionismus« und ebenso selten bei den sich mit jüdischen Autoren befassenden Literaturwissenschaftlern berücksichtigt.32 Herzl selbst war auf sein Drama sehr stolz und schrieb in seinem literarischen Testament 1897: »Mein liebstes Stück ist das ›Ghetto‹«.33 Tadeusz Pawlikowski bewies ein großes Selbstvertrauen als er Ende des 19. Jahrhunderts Theodor Herzls Theaterstück Das neue Ghetto im Krakauer Stadttheater aufführte, auch wenn er mit diesem Stück, das ein aktuelles Problem der christlich-jüdischen Beziehungen ansprach, beim Publikum scheiterte.

28 Siedlecki-Grzymała: Tadeusz Pawlikowski (wie Anm. 5), S. 230. 29 Bibliografia historii Polski XIX i XX wieku. Bd. III: 1865–1918. Bd. 3, bearbeitet von Danuta ´ ska, Warszawa 2017, S. 249. Urszula S´cie˛gosz-Karpin 30 Siedlecki-Grzymała: Tadeusz Pawlikowski (wie Anm. 5), S. 230. 31 Estreicher / Flach: Sprawozdania (wie Anm. 26), S. 112. 32 Varga: »Aber die Mauern sind doch gefallen« (wie Anm. 10), S. 141. 33 Theodor Herzl’s literarisches Testament, in: Ostjüdische Zeitung. Organ für die politischen, wirtschaftlichen u. kulturellen Interessen der Bukowinaer Judenschaft, Nr. 1241 vom 28. Juli 1929, S. 5.

Tomasz Szybisty (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie)

Haben Glasmalereien eine Nationalität? Der Schulstreik in Wreschen und seine Auswirkungen auf die Verglasung der Krakauer Kathedrale

Im März 1901 erließ die Regierung des Regierungsbezirks Posen (poln. Poznan´) im preußischen Teilungsgebiet die Anordnung, in der Oberstufe der katholischen Volksschule in Wreschen (poln. Wrzes´nia) Deutsch als Unterrichtssprache in Religion einzuführen, dem letzten Unterrichtsfach, das noch auf Polnisch erteilt worden war. Nach Ostern, zu Beginn des neuen Schuljahres, wurden die Kinder aufgefordert, sich deutsche Religionsbücher zu besorgen, was die meisten allerdings verweigerten. Auch die danach umsonst zur Verfügung gestellten Bücher wurden nicht angenommen. Der Widerstand wuchs kontinuierlich, bis er seinen ersten Höhepunkt erreichte: Am 20. Mai mussten 26 Schüler und Schülerinnen nachsitzen, weil sie im Religionsunterricht nicht Deutsch sprechen wollten; 14 von ihnen wurden zudem schwer gezüchtigt. Kinder, die weinend aus dem Schulhaus liefen, erregten Unmut in der Bevölkerung. Umgehend bildete sich vor dem Gebäude eine größere Gruppe von empörten polnischen Bürgern, die kurz vor 13 Uhr in die Schule eindrangen und die Lehrer verbal angriffen. Auch am nächsten Tag, am 21. Mai, blieb die Lage in Wreschen angespannt, es versammelte sich wieder eine Menschenmenge vor dem Schulhaus. In den darauffolgenden Monaten entwickelte sich der Widerstand zu einem Schulstreik: Die Schüler antworteten im Religionsunterricht in der Regel nur auf Polnisch, mitunter wurden die Anweisungen der Lehrer nicht ausgeführt, die Lehrkräfte »ausgezischt« und auf der Straße beschimpft. Sein größtes Ausmaß erreichte der Streik im Winter 1901/02, knapp ein Jahr später war er vorbei. Ähnliche Protestaktionen fanden auch im nahegelegenen Miloslaw (poln. Miłosław) und Gostyn (poln. Gostyn´) statt.1

1 Zu den Hintergründen, dem Verlauf und den Folgen des Schulstreiks in Wreschen siehe unter anderem Stanisław Sierpowski (Hg.): Strajk dzieci wrzesin´skich z perspektywy wieku, Poznan´ – Wrzes´nia 2001; Zdzisław Grot (Hg.): Wydarzenia wrzesin´skie w roku 1901, Poznan´ 1964; Rudolf Korth: Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks. Ein Beitrag zur preußischen Polenpolitik der Ära Bülow, Würzburg 1963 (Marburger Ostforschungen, Bd. 23), S. 82–115.

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Die Presse berichtete zwar von den Geschehnissen in Wreschen, aber erst der Gerichtsprozess gegen die Teilnehmer am Tumult vom 20. und 21. Mai ließ den Schulstreik zu einem überregionalen Ereignis werden, das nicht nur in allen drei Teilungsgebieten Polens über Monate Schlagzeilen lieferte, sondern auch im Ausland beachtliche Resonanz fand. Unverhältnismäßig lange Gefängnisstrafen, zu denen die Angeklagten im November 1902 durch die II. Strafkammer des Landgerichts Gnesen (poln. Gniezno) verurteilt wurden, empfand man als Akt der Vergeltung, was die antipreußische Stimmung unter der polnischen Bevölkerung verstärkte und zur Festigung eines negativen Stereotyps des polenfeindlichen Deutschen beitrug.2 Mutige Schüler und Schülerinnen sowie ihre Eltern, die sich der preußischen Staatsgewalt widersetzt hatten, wurden in polnischen Zeitungen und literarischen Werken zu tapferen Kämpfern der unterdrückten Nation stilisiert, die seit 1795, mit einem Intermezzo in der Napoleonischen Zeit, bekanntlich keinen eigenen Staat hatte. Am 22. November, drei Tage nach Prozessende, veröffentlichte die Krakauer Tageszeitung »Czas« [Die Zeit] auf der ersten Seite ihrer Abendausgabe einen pathetischen Brief aus der Feder von Henryk Sienkiewicz. Der damals wohl bekannteste polnische Schriftsteller und zukünftige Nobelpreisträger schrieb darin von polnischen Kindern, die »durch die preußische Schule gefoltert«, und von Eltern, die »durch preußische Gerichte« bestraft worden seien, weil sie »aus Verzweiflung und Mitleid Worte der Empörung zu laut ausgesprochen haben«. Scharf kritisierte er die preußische Politik, die für ihn »eine ununterbrochene Reihe von Verbrechen, Gewalt, List, […] Lug und Trug« darstellte. Abschließend rief er zur finanziellen Unterstützung der Betroffenen auf, wofür er selbst zweihundert Kronen spendete.3 Sein Brief, den mehrere Zeitungen abdruckten, setzte eine Lawine von Solidaritätsbekundungen in Gang.4 Zygmunt Miłkowski, ebenfalls ein Romancier, schlug etwa eine weltweite Informationskampagne vor, die von Frauen getragen werden sollte. Deutsche Mütter, »die Kaiserin, drei Königinnen, alle Großherzoginnen und Herzoginnen einbegriffen«, sollten erfahren, was »ihre Ehemänner, Brüder und Söhne mit polnischen Kindern treiben«.5 Seinem Appell folgten mehrere Polinnen, darunter die Schriftstellerin Maria Konopnicka, die die italienische Öffentlichkeit von den antipolnischen Ereignissen unterrichtete und bis Juli 1902 in einer Protestaktion über 100.000 Unterschriften sammelte. Diese und etwas kleiner angelegte Kampagnen in ´ ski: Sa˛siad czy wróg? Ze studiów nad kształtowaniem obrazu Niemca w 2 Wojciech Wrzesin Polsce w latach 1795–1939, Wrocław 22007, S. 310–311. 3 Henryk Sienkiewicz: [Brief an die Redaktion], in: Czas, Jg. 54, Nr. 269 vom 22. November 1901 (Abendausgabe), S. 1. Die Übersetzungen aller Zitate stammen vom Verfasser. 4 Danuta Płygawko: »Prusy i Polska«. Ankieta Henryka Sienkiewicza (1907–1909), Poznan´ 1994, S. 25–26. 5 List T. T. Jez˙a, in: Nowa Reforma, Jg. 20, Nr. 274 vom 28. November 1901, S. 1.

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vielen europäischen Ländern machten die preußische Politik gegenüber den Polen, die schon im November 1901 im Reichsrat in Wien von einem tschechischen Abgeordneten öffentlich angeprangert wurde, zu einer international diskutierten Frage.6 Auch im österreichischen Teilungsgebiet kam es nach der Verkündung des Gnesener Urteils zu Demonstrationen, darunter vor dem deutschen Konsulat in Lemberg (poln. Lwów, ukr. L’viv).7 Immer nachdrücklicher forderte man einen Boykott von deutsch-preußischen Waren. So berichtete die Krakauer Tageszeitung »Nowa Reforma« [Neue Reform] Anfang Januar 1902, dass Warschauer Maler beschlossen hätten, für ihre Bilder keine Malutensilien mehr aus Deutschland zu benutzen.8 Zum selben Schritt ermutigte der Krakauer Maler Włodzimierz Tetmajer galizische Künstler.9 Die Wreschener Affäre und die dadurch angefachte antipreußische Stimmung hatten letztlich auch, wie der vorliegende Beitrag erläutern wird, entscheidenden Einfluss auf den einige Wochen später ausgetragenen Streit um Glasmalereien für die Krakauer Kathedrale.10 ***

6 Zagranica o sprawie wrzes´nien´skiej, bearb. von ES. TE., Lwów 1903; Stanisław Sierpowski: Echa włoskie, in: Sierpowski (Hg.), Strajk dzieci wrzesin´skich (wie Anm. 1), S. 123–140; Waldemar Łazuga: Galicja i Austro-We˛gry, in: Sierpowski (Hg.), Strajk dzieci wrzesin´skich (wie Anm. 1), S. 89–104; Artur Kijas: Echa strajku w Królestwie Polskim i Rosji, in: Sierpowski (Hg.), Strajk dzieci wrzesin´skich (wie Anm. 1), S. 105–122; Danuta Płygawko: Echa francuskie, in: Sierpowski (Hg.), Strajk dzieci wrzesin´skich (wie Anm. 1), S. 141–154; Stanisław A. Blejwas: Polonia amerykan´ska, in: Sierpowski (Hg.), Strajk dzieci wrzesin´skich (wie Anm. 1), S. 155–180; Korth, Die preußische Schulpolitik (wie Anm. 1), S. 107– 108. 7 Łazuga, Galicja i Austro-We˛gry, in: Sierpowski (Hg.), Strajk dzieci wrzesin´skich (wie Anm. 1), S. 94. 8 Kronika [Przemysł polski a artys´ci], in: Nowa Reforma, Jg. 21, Nr. 3 vom 4. Januar 1902, S. 3. 9 Kronika [Włodzimierz Tetmajer: Apel do polskich malarzy], in: Nowa Reforma, Jg. 21, Nr. 13 vom 17. Januar 1902, S. 2. 10 Mehr zu den Glasmalereien der Krakauer Kathedrale in dieser Zeit vgl. v. a. Danuta ´ ska-Kleszczyn ´ ska / Tomasz Szybisty, unter Mitwirkung von Paweł KaraszCzapczyn ´czak: Archidiecezja krakowska. Dekanaty krakowskie, Kraków 2014 kiewicz und Anna Zen (Korpus witraz˙y z lat 1800–1945 w kos´ciołach rzymskokatolickich metropolii krakowskiej i przemyskiej, Bd. 1), S. 30–58; zum Streit um deutsche Glasgemälde für die Kathedrale vgl. Wojciech Bałus: Sztuka sakralna Krakowa w wieku XIX. Teil II. Matejko i Wyspian´ski, Kraków 2007 (Ars vetus et nova, 26), S. 176–178; Tomasz Szybisty, Nieznane witraz˙e Fritza Geigesa do katedry na Wawelu a zwycie˛stwo »nowej« sztuki w witraz˙ownictwie krakowskim przełomu XIX i XX wieku, in: Tomasz Szybisty (Hg.): Witraz˙e secesyjne. Tendencje i motywy, Kraków – Legnica 2011, S. 25–35; Tomasz Szybisty: Sztuka sakralna Krakowa w wieku XIX. Teil IV. Malarstwo witraz˙owe, Kraków 2012 (Ars vetus et nova, Bd. 35), S. 313–318; Tomasz Szybisty: Die Glasfenster von Fritz Geiges für den Krakauer Dom, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, 66 (2012), Heft 3/4, S. 478–485.

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1891 begann mit den Arbeiten an der Sigismundkapelle die Restaurierung der Wawel-Kathedrale in Krakau (poln. Kraków), eines der symbolträchtigsten Denkmale der polnischen Geschichte.11 An Ostern 1901, Anfang April, waren die grundsätzlichen Maßnahmen, geleitet vom Architekten Sławomir Odrzywolski, soweit abgeschlossen, dass die Kathedrale wiedereröffnet werden konnte. Danach konzentrierte man sich auf die Ausstattung und Innendekoration.12 Bei der Wiedereröffnung fehlten noch die meisten Glasmalereien; viele von ihnen waren bereits in Deutschland bestellt worden. Die Auftragserteilung an deutsche Werkstätten, die wahrscheinlich 1898 erfolgt war,13 war zunächst nicht öffentlich bekannt geworden und kursierte in Krakau nur als Gerücht.14 Angesichts zahlreicher Erfolge einheimischer Glasmaler dürfte die Entscheidung des Restaurierungskomitees auch aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar gewesen sein: 1895 hatte sich der junge Józef Mehoffer mit seinem Entwurf gegen Dutzende von Konkurrenten im Wettbewerb für die neue Verglasung der Nikolaus-Kathedrale in Fribourg (Schweiz) durchgesetzt, und 1897 waren die visionären Kartons von Stanisław Wyspian´ski für die Krakauer Franziskanerkirche entstanden. Letzterer hatte sogar eigene Glasmalereientwürfe für die Kathedrale ausgearbeitet, die er 1900 auf verschiedenen Ausstellungen zeigte. Den Impuls dazu soll ihm die Empörung über die Bestellung der Glasmalereien in Deutschland gegeben haben.15 Bei der Wiedereröffnung der Kathedrale an Ostern 1901 bewahrheitete sich das Gerücht, denn zum damaligen Zeitpunkt war die »deutsche« Glasmalerei mit der Darstellung der hl. Katharina aus der Mayer’schen Hofkunstanstalt in München bereits in das Fenster der Gamrat-Kapelle eingesetzt und für alle Besucher zu sehen.16 Fast zeitgleich erschien ein Artikel von Feliks Kopera und 11 Zur identitätsstiftenden und nationalsymbolischen Bedeutung Krakaus im 19. Jahrhundert, insbesondere der Krakauer Kathedrale, die seit dem Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert die Funktion der Krönungskirche und Grablege der polnischen Könige hatte, vgl. u. a. Wojciech Bałus: Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne. Zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 23–32; Krzysztof J. Czyz˙ewski: W dobie przemian. Uwagi o katedrze krakowskiej w XIX stuleciu, in: Joanna Zie˛tkiewicz-Kotz (Hg.): Wzgórze wawelskie w słowie i obrazie. Z badan´ nad kultura˛ wieku XIX, Kraków 2014, S. 139–163. 12 Halina Górska: Restauracja katedry na Wawelu przez Sławomira Odrzywolskiego na przełomie XIX i XX wieku, in: Studia Waweliana, 3 (1994), S. 123–142; Wojciech Bałus: Architektura sakralna w Krakowie i Podgórzu, in: Wojciech Bałus et al.: Sztuka sakralna Krakowa w wieku XIX, Teil I, Kraków 2004 (Ars vetus et nova, 12), S. 89–140, hier S. 124–125; Jacek Urban: Katedra na Wawelu (1795–1918), Kraków 2000, S. 243–324; vgl. auch Marek Zgórniak: Odrzywolski Sławomir, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 93, Berlin – Boston 2017, S. 191–192, hier S. 192. ´ska-Kleszczyn ´ ska / Szybisty: Archidiecezja krakowska (wie Anm. 10), S. 46. 13 Czapczyn 14 Bałus: Sztuka sakralna Krakowa (wie Anm. 10), S. 176. 15 Ebd., S. 176. 16 W obronie prawdy, in: Czas, Jg. 55, Nr. 57 vom 9. März 1902, S. 1.

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Leonard Lepszy, in dem sie enttäuscht nach der Nationalität der entwerfenden Künstler fragten: »Traurig ist es, dass bei vielen Arbeiten, die aus der Hand eines polnischen Künstlers hervorgehen sollten, nach einer deutschen Lösung gesucht wurde. Die polnische Gesellschaft hat für die Restaurierung des altehrwürdigen Gotteshauses gerne gespendet, und sie hat auch das Recht zu erfahren, ob es […], wie wir gehört haben, deutsche Künstler waren, die die Kartons für die Glasmalereien der Kathedralkirche entworfen haben«.17

Einige Monate später geißelte das Krakauer Fachorgan »Architekt« erneut die Entscheidung des Restaurierungskomitees, Glasmalereien für die Kathedrale im Ausland zu bestellen,18 doch auch diese Stimme scheint, wie die Kritik von Kopera und Lepszy, kein größeres Echo gefunden zu haben. Erst in der erhitzten Atmosphäre nach dem Gnesener Prozess wuchs das öffentliche Interesse an der Herkunft der Glasmalereien, und dies mit aller Vehemenz. In einem Artikel im Krakauer Tagesblatt »Głos Narodu« [Stimme der Nation] vom 24. Januar 1902 berichtete Feliks Jesien´ski von den Vorbereitungen zur ersten Ausstellung der Gesellschaft »Polska Sztuka Stosowana« [Polnische Angewandte Kunst], die er dem Restaurierungskonzept der Kathedrale gegenüberstellte: »Traurig, schmerzhaft, entsetzlich. […] Dort – Beweise des Erwachens von dem, was unser ist, Versammlung um unsere großen Künstler, deren Namen jemandes Lippen immer wieder mit Verehrung aussprechen, hier – verächtliche Missachtung dieser Künstler, große Summen verschwendet, das teuerste nationale Denkmal verunstaltet durch Einführung deutscher Fabrikerzeugnisse, die nichts mit Kunst zu tun haben, in so einem Augenblick! Konnte die Allgemeinheit ahnen, dass ihr schwer verdientes Geld deutsche Industrielle mästen würde? Europa kennt die Entwürfe von Wyspian´ski und Mehoffer für Glasmalereien: Europa wird am Wawel mit Erstaunen elende Glasmalereien vorfinden, die von deutschen Handwerkern konzipiert und ausgeführt wurden, und aus Mitleid mit den Achseln zucken. Das erste Beispiel dieser Glasmalereien (eine Ohrfeige, die wir uns selbst gegeben haben) kann man schon sehen. Nach ihr kommen die nächsten […]«.19

Die von Jasien´ski konstatierte ästhetische Mittelmäßigkeit der neuen Glasmalerei, die nicht von Künstlern, sondern lediglich von Handwerkern entworfen und hergestellt worden sei, stellte einen schwerwiegenden Kritikpunkt dar. Doch 17 Feliks Kopera / Leonard Lepszy: Katedra na Wawelu. Jej przeszłos´c´ i obecna restauracja, in: Z˙ycie i Sztuka (Beilage zur Wochenschrift »Kraj«), Jg. 20, Nr. 15 vom 13./26. April 1901, S. 159–171, hier S. 170. 18 [Kommentar der Redaktion zum Vortrag von Sławomir Odrzywolski am 27. März 1901], in: Architekt, Jg. 2, 1901, Nr. 7, Sp. 97–100, hier Sp. 99. ´ ski: Dwa wraz˙enia, in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 19 vom 24. Januar 1902, S. 1–2, 19 Feliks Jasien hier S. 2.

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es war vor allem die nationale Frage, die den Kern seines ablehnenden Urteils ausmachte. Derselben Rhetorik bediente sich, unter direkter Bezugnahme auf Jasien´ski, auch Adam Cybulski, der in der Wochenschrift »Tydzien´« [Die Woche], der Beilage des »Kurier Lwowski« [Lemberger Kurier], die Lemberger Leserschaft über die neuesten Krakauer Glasmalereien informierte. Seinen Bericht begann er ebenfalls mit Bemerkungen über die Ausstellung von »Polska Sztuka Stosowana«, äußerte sich dann über die Werke Wyspian´skis für die Kathedrale und die Franziskanerkirche, um am Ende die Mayer’sche Verglasung in der Gamrat-Kapelle anzugreifen: »Plötzlich, als ich mich vom Altar abgewendet habe, bekam ich den Eindruck, als wäre ich in einem Brauhaus, so eine biedere, deutsch-bierselige Ausstrahlung hat diese Glasmalerei mit der heiligen Katharina, eine Spitzenleistung der deutschen Fabrikbanalität. »Korrekt« ist sie, fade, einfach absolutes Mittelmaß. Oh, dieses Engelsköpfchen, dem geschickt die Flügel des preußischen Wappenadlers hinzugefügt wurden! … Nein, es ist mir zu viel. Gäbe es nicht Wrzes´nia, gäbe es nicht Wyspian´ski und Mehoffer, der die Glasmalereien für die Kathedrale in Fribourg entworfen hat … Und hier, auf dem Wawel-Hügel, mit Geldern der gesamten polnischen Gesellschaft, bezieht man aus dem Ausland Fabrikerzeugnisse, die mit Kunst nichts zu tun haben, und dazu deutsch sind. Bald soll der Rest kommen. […] Aber Moment mal … Die Glasmalerei mit der heiligen Katharina soll eine Inschrift gehabt haben, eine mit großen Buchstaben gezeichnete Fabriksignatur: Mayer. Dies war sogar Herrn Odrzywolski unerträglich, der – wie man erzählt – eigenhändig diese Inschrift eingeschlagen habe. Leider nur die Inschrift […]«.20

Die beiden Kritiken an der Verglasung der Gamrat-Kapelle waren nur Vorboten einer Affäre, die sich bald durch Presse und Öffentlichkeit, nicht nur in Krakau, ziehen sollte. Der Eklat wurde durch einen Protest ausgelöst, der am 19. Februar 1902 in der Tageszeitung »Głos Narodu« erschien: »Die Unterzeichneten erklären, dass sie die Einsetzung deutscher Glasmalereien in der Kathedrale am Wawel, die mit Kunst nichts zu tun haben, wovon das erste Exemplar überzeugt, für eine Schändung des teuersten Nationaldenkmals sowie Beleidigung der Nationalwürde halten und rufen die Allgemeinheit zu einem energischen Protest sowie der Forderung auf, dass dieses Vorhaben nicht umgesetzt wird«.21

Die Protestnote, unterschrieben von über 30 Vertretern der geistigen Elite Krakaus, unter anderen von Stanisław Wyspian´ski, Józef Mehoffer, dem Lyriker und Dramatiker Lucjan Rydel, dem Direktor des Krakauer Nationalmuseums Feliks Kopera sowie vielen Professoren der Kunstakademie und der Universität, wurde

20 Adam Cybulski: Z »Aten polskich« (Witraz˙e Wyspian´skiego i nowe witraz˙e katedralne), in: Tydzien´ (Beilage zur Tageszeitung »Kurier Lwowski«), Jg. 10, Nr. 7 vom 16. Februar 1902, S. 109–110. 21 Z ostatniej chwili [Protest], in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 41 vom 19. Februar 1902, S. 4.

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in mehreren Zeitungen abgedruckt oder wenigstens erwähnt.22 Der eigentliche Initiator der Erklärung, dessen Name die Liste der Unterzeichner anführte, war der bereits erwähnte Feliks Jasien´ski, ein Kunstsammler und kompromissloser Kunstkritiker, der seit 1901 in Krakau lebte.23 Seine Aktion stieß auf breite Zustimmung, bald schlossen sich weitere Künstler und Intellektuelle an, auch aus Lemberg und Warschau (poln. Warszawa).24 Der Streit um die Glasmalereien bot einerseits erneut Gelegenheit zur kritischen Beurteilung der von Odrzywolski geleiteten Restaurierungsarbeiten an der Kathedrale, andererseits bewirkte er die Suche nach Mitverantwortlichen. So fragte A.C. (wohl wieder Adam Cybulski) im »Tydzien´«, ob die Krakauer Kunstakademie, »die allen voran dazu befugt und verpflichtet war, das Wort zu ergreifen«, erst jetzt von der Bestellung der Glasmalereien im Ausland erfahren und die »Wirtschaft von Herrn Odrzywolski« nicht gesehen habe.25 Manche fassten den im »Głos Narodu« veröffentlichten Protest sogar als Kritik am Krakauer Bischof und Kardinal Jan Puzyna auf,26 über dessen Stolz und autoritärem Auftreten, auch bei der Restaurierung der Kathedrale,27 nicht gerade positiv geurteilt wurde. Aus humorvoller Distanz beobachtete hingegen der Korrespondent des polnischen, in Petersburg herausgegebenen Wochenblatts »Kraj« die Affäre. Er stellte Feliks Jasien´ski als einen angriffslustigen Kämpfer für die polnische Kunst dar, der lange Zeit im »verschlafenen« Krakau nach »einem Feind, den er umbringen könnte«, gesucht habe. Im Hinblick auf die Ausstellung von »Polska Sztuka Stosowana« bewertete der unter dem Pseudonym Wierzbie˛ta publizierende Feuilletonist die deutschen Glasgemälde für die Kathedrale dabei ironisch als unmittelbaren Auslöser von Bemühungen, auf Grundlage der pol-

22 Vgl. Kronika [Powaz˙ny protest], in: Nowa Reforma, Jg. 21, Nr. 42 vom 20. Februar 1902, S. 2; Kronika powszechna [Protest], in: Tygodnik Ilustrowany, Nr 9 (2210) vom 1. März/16. Februar 1902, S. 177; Depesze telegraficzne i telefoniczne, in: Dziennik Polski, Jg. 31, Nr. 84 vom 20. Februar 1902, S. 3. 23 Zur Biografie und zur Sammlung von Feliks Jasien´ski vgl. Zofia Alberowa / Celina Ba˛k: Jasien´ski Feliks, in: Polski Słownik Biograficzny 11 (1964), S. 30–31; Agnieszka Kluczewska-Wójcik: Feliks »Manggha« Jasien´ski i jego kolekcja w Muzeum Narodowym w Krakowie / Feliks ›Manggha‹ Jasien´ski and His Collection at the National Museum in Krakow, Kraków 2014. 24 Vgl. Z ostatniej chwili, in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 43 vom 21. Februar 1902, S. 5; Nr. 45 vom 24. Februar 1902, S. 4; Nr. 47 vom 26. Februar 1902, S. 4; Nr. 49 vom 28. Februar 1902, S. 4; Nr. 50 vom 1. März 1902, S. 4. 25 A.C., Z pis´miennictwa i sztuki [Protest], in: Tydzien´, Jg. 10, 1902, Nr. 9 vom 2. März 1902, S. 148. Der Verfasser gab irrtümlich an, dass die Glasmalereien in Innsbruck bestellt worden waren. 26 Vgl. Feliks Jasien´ski: Niesłuszne oskarz˙enie, in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 44 vom 22. Februar 1902, S. 1–2; Z biez˙a˛cej chwili, in: Kurier Poznan´ski, Jg. 31, Nr. 89 vom 23. Februar 1902 (Nachmittagsausgabe), S. 1. 27 Vgl. Kronika, in: Nowa Reforma, Jg. 21, Nr. 18 vom 23. Januar 1902, S. 2.

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nischen Volkskunst eine nationale Formensprache für Ornamente zu entwickeln.28 Eindeutig gegen den Protest sprach sich in der konservativen Zeitung »Czas« ein anonymer, doch bestens informierter Autor aus, der das Restaurierungskomitee zu verteidigen und die Vorwürfe der Gegner zu entkräften versuchte. Den Aufruhr um die Verglasungen der Kathedrale nannte er »ein agitatorisches Fieber« und erinnerte daran, dass das Mayer’sche Glasgemälde in der GamratKapelle über Monate keinen Anstoß erregt habe. Er argumentierte, die Erwerbung von Glasgemälden aus dem Ausland sei notwendig gewesen, da es in Polen keine leistungsfähige Glasmalereiwerkstatt gebe. Darüber hinaus wurde das Publikum informiert, dass »vor drei Jahren« sechs Glasmalereien für das Hauptschiff der Kathedrale bei der Werkstatt von Fritz Geiges in Freiburg im Breisgau bestellt worden seien, für deren figürliche Partien ein bekannter und hervorragender polnischer Künstler die Zeichnungen geliefert habe.29 Jasien´ski reagierte auf den Artikel im »Czas« mit einer heftigen Antwort, die im »Głos Narodu« veröffentlicht wurde. Mit unverhohlener Ironie ging er darin auf die Argumente der Gegenseite ein und verriet den Namen des Malers, der zum Entwurf der Glasmalereien beigetragen habe. Als jener »hervorragende polnische« Künstler erwies sich der – heute kaum noch bekannte – Franciszek Krudowski. Erneut kritisierte Jasien´ski das Restaurierungskomitee wegen der Zusammenarbeit mit ausländischen Künstlern und stellte infrage, ob es denn tatsächlich unmöglich gewesen sei, in Krakau, »unter Leitung und nach Kartons unserer Künstler«, Glasmalereien auszuführen. Mit Bedauern konstatierte er, dass man die Chance verspielt habe, vor Ort eine Glasmalereiwerkstatt zu etablieren, die Arbeiten an der Kathedrale hätten dafür eine günstige Gelegenheit geboten.30 Weder er noch sein anonymer Widersacher wussten offensichtlich von der Werkstatt Teodor Zajdzikowskis, eines Krakauer Glasers, der seit den 1870er Jahren Glasmalereien hergestellt hatte.31 Erst einige Tage später machte Jasien´ski, inzwischen gut unterrichtet, auf das Atelier aufmerksam.32 28 Wierzbie˛ta [Tadeusz Z˙uk-Skarszewski]: Listy krakowskie, in: Z˙ycie i Sztuka (Beilage zur Wochenschrift »Kraj«), Nr. 5 vom 1./14. Februar 1902, S. 53. 29 W obronie prawdy 1902, S. 1. Zu den Glasmalereien von Geiges für die Krakauer Kathedrale vgl. Daniel Parello: Von Helmle bis Geiges. Ein Jahrhundert historischer Glasmalerei in Freiburg, Freiburg im Breisgau 2000 (Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau, Bd. 31), S. 285; Szybisty, Nieznane witraz˙e Fritza Geigesa (wie Anm. 10), S. 25– 35; Szybisty, Sztuka sakralna Krakowa (wie Anm. 10), S. 313–316; Szybisty, Die Glasfenster ´ ska-Kleszczyn ´ ska / Szybisty (wie Anm. 10), S. 46. (wie Anm. 10), S. 478–485; Czapczyn ´ ski: W obronie prawdy, in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 58 vom 11. März 1902, S. 5. 30 Feliks Jasien ´ ska-Kleszczyn ´ ska / Szybisty (wie Zu den Entwürfen von Krudowski vgl. Czapczyn Anm. 10), S. 46. ´ ska-Kleszczyn´ska: Teodor Zajdzi31 Zu Zajdzikowskis Werkstatt vgl. Danuta Czapczyn kowski (1840–1907). Pionier krakowskich witraz˙owników, in: Rocznik Krakowski 69 (2003), S. 151–170; Szybisty, Sztuka sakralna Krakowa (wie Anm. 10), insb. S. 147–268.

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Die öffentliche Diskussion um die deutschen Glasmalereien für die WawelKathedrale ebbte Ende März 1902 ab, nicht zuletzt deshalb, weil Jasien´ski für längere Zeit nach Warschau verreiste.33 Kurz davor hatte er noch ein Pamphlet publiziert, in dem er abermals die Mitglieder des Restaurierungskomitees und die Krakauer Verhältnisse im Allgemeinen anprangerte. Den Auslöser für seinen humoristischen Text lieferte der Besuch des Fürsten Zdzisław Czartoryski in Krakau. Czartoryski, ein leidenschaftlicher Kunstsammler, war der Stifter einer Kirche in Jutroschin (poln. Jutrosin) in Großpolen. Für die Verglasung und die Wandmalereien des neuen Gotteshauses hatte er sich Künstler in Krakau, im »polnischen Athen«, ausgesucht.34 In Jasien´skis Pamphlet begegnet er auf der Straße einem Bekannten, der mit dem Autor gleichzusetzen ist, und erklärt diesem die Gründe, die ihn nach Krakau geführt hätten. Der Einheimische kann den Wunsch des Fürsten nicht begreifen, da Glasmalereien für Krakauer Kirchen, wie er ironisch feststellt, bekanntlich aus dem Ausland bezogen würden. Im Laufe des Gesprächs gerät der Krakauer immer mehr in Rage, was bei Passanten Aufmerksamkeit erregt und bald eine Menschentraube um die beiden bilden lässt. Letztendlich ruft er in wilder Ekstase aus: »Im Interesse der polnischen Sache liegt es, dass das Licht in die Kathedrale durch deutsche Glasmalereien fällt. Geiges! Geiges! Geiges! Nur Unruhestifter, die die große und aktuelle liberal-konservativ-opportunistisch-aristokratisch-klerikale Politik nicht verstehen, und die entweder ihrem Temperament, das à outrance kritisiert, freien Lauf lassen oder politische, chemische, dekadente, beziehungsweise elektrische, wenn nicht elektromagnetische Ziele erreichen wollen, nur diese Unruhestifter tun alles, um die Leiter mit gewöhnlichen und Gallensteinen zu bewerfen, polnische Künstler zu entmutigen und sie gar lächerlich zu machen oder zu kompromittieren. Geiges! Geiges! Geiges!«35

Unmittelbar nach diesem Ausbruch wird der Hitzkopf in ein Krankenhaus für Geisteskranke eingeliefert. Dort überzeugt er allerdings den Arzt, dass er nicht verrückt sei, sondern sich lediglich der Argumentation der Tageszeitung »Czas« bedient habe, und wird wieder entlassen. Ein letzter Nachklang des Krakauer Glasmalerei-Streits war eine Drohbriefaktion, die ebenfalls Ende März 1902 stattfand. Die mit Zeichnungen eines Schädels und zweier Sensen geschmückte Drohschrift, überliefert in zwei iden-

´ ski]: Z ostatniej chwili [W sprawie niemieckich witraz˙y na Wawelu], in: 32 F.J. [Feliks Jasien Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 62 vom 15. März 1902, S. 4. 33 Z ostatniej chwili, in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 64 vom 18. März 1902, S. 3. 34 Nowy pomnik sztuki polskiej, in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 63 vom 17. März 1902, S. 5. ´ ski]: Ksia˛z˙e˛ i witraz˙e, in: Głos Narodu, Jg. 10, Nr. 64 vom 18. März 35 Japon´czyk [Feliks Jasien 1902, S. 3. Die Bezeichnung »Leiter« bezieht sich eindeutig auf Sławomir Odrzywolski, Leiter der Restaurierungsarbeiten der Kathedrale.

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tischen Kopien in den Akten der Krakauer Polizei36 und in Jasien´skis Nachlass37, richtete sich »an das Komitee, das deutsche Glasmalereien für den Wawel bezieht«, und wurde von den »Nieprzejednani« – Kompromisslosen – unterzeichnet. Angesichts der Missachtung der öffentlichen Meinung und »der Proteste hervorragender Vertreter der polnischen Nation« verurteilten sie abermals die Beauftragung deutscher Künstler, erinnerten dabei an die »aktuellen Vorfälle im preußischen Teilungsgebiet« und drohten, dass sie »alle verfügbaren Mittel einsetzen werden, um die schändlichen, in diesem Fall ausländischen Werke zu zerstören«. Der Brief endete programmatisch mit einem Zitat aus Mickiewiczs patriotischem Gedicht Ordons Redoute: »Das Werk der Zerstörung in guter Sache ist heilig wie das Werk der Schöpfung«. Jasien´skis Pressekampagne und die Drohbriefaktion verfehlten ihre Wirkung nicht. Wahrscheinlich noch 1902 wurde die Mayer’sche Darstellung der heiligen Katharina aus der Gamrat-Kapelle entfernt. Man sah zudem davon ab, die bereits angefertigten Glasgemälde von Geiges aus Freiburg anliefern zu lassen; einige Felder haben sich im dortigen Augustinermuseum erhalten. Der 1901/02 ausgetragene Streit, der durch den Patriotismus infolge des Gnesener Prozesses zusätzlich angeheizt wurde, markierte in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der Geschichte der Glasmalerei, nicht nur in Krakau, sondern in ganz Polen: Einerseits entwarfen von nun an ausschließlich polnische Künstler, Vertreter der Bewegung »Junges Polen«, die Glasmalereien für die Kathedrale, was neben den vorherigen Erfolgen von Mehoffer und Wyspian´ski einen weiteren Etappensieg für die zeitgenössische polnische Kunst darstellte. Andererseits bedeutete dieser Triumph eine Niederlage des Historismus, mit dem die deutschen Importe in Verbindung gebracht wurden. Nicht nur die deutschen, alle ausländischen Ateliers verloren in Galizien schließlich einige Monate später nachhaltig an Bedeutung, als Władysław Ekielski und Antoni Tuch, wohl nicht zuletzt wegen der Diskussion um die Glasmalereien für die Kathedrale, die Krakauer Glasmalereiwerkstatt (Krakowski Zakład Witraz˙ów) gründeten.38 Das betont polnische Profil der Firma, gepaart mit der hohen Qualität ihrer Glasgemälde, die oft von den renommiertesten Krakauer Künstlern entworfen wurden, ließ die Werkstatt schnell zum nationalen Spitzenreiter werden.

36 Archiwum Narodowe w Krakowie [Nationalarchiv in Krakau], 29/247/0/-/56 (Akta prezydialne), 1902, Nr. 17–1058, S. 661–663. Der Drohbrief wurde am 28. März 1902 aus Wien geschickt. 37 Archiv des Nationalmuseums Krakau, S 1/9 (Działalnos´c´ społeczna Feliksa Jasien´skiego), S. 33. ´ ska-Kleszczyn ´ ska: Witraz˙e w Krakowie. Dzieła i twórcy, Kraków 2005 38 Danuta Czapczyn (Krakowska Teka Konserwatorska, Bd. 5), S. 48.

Maria Kłan´ska (Uniwersytet Jagiellon´ski w Krakowie)

Kulturenkontakt und Kulturenkonflikt. Völkerschmelztiegel Wien in Eva Menasses Roman Vienna (2005)

Einleitung Schon der englische Titel des Romans Vienna weist auf Kulturenkontakt hin, denn dieser hat eigentlich eine doppelte Bedeutung: Einerseits ist es die englische Bezeichnung für Wien, andererseits ist es der Name des Fußballklubs, in dem der Vater der Autorin, der »Vienna-Star« Hans Menasse, wie auch der Vater der Erzählerin dieses Romans nach der Rückkehr aus dem englischen Exil gespielt und Triumphe gefeiert hat.1 Wichtiger ist aber der Name der Stadt als Titel des Buches und man macht sich Gedanken, wie er durch den englischen Wortlaut des auf Deutsch geschriebenen Romans verfremdet wurde. Goran Lovric´, der auf diese Doppelbedeutung des Titels hinweist, erklärt dies damit, dass der Vater der Erzählerin die Kriegszeit (genauer die Jahre 1938˗1947) in England verbracht hat.2 Julia Freytag deutet den Titel als einen rhetorischen Code, den die namenlose Familie, die im Mittelpunkt der Handlung steht, verwendet, um den Ort zu markieren, »der einerseits Vaterstadt, andererseits aber verloren und zerstört ist und nicht in der Muttersprache benannt wird«.3 Zu Anfang seien einige allgemeine Informationen zur Gattung und zur Fabel des Romans Vienna genannt. Es handelt sich um eine Familienchronik, oder 1 Vgl. Wolfgang Weisgram: ›Man muss vor allem ballsicher sein‹. Der Vienna-Star und frühere Internationale Hans Menasse erzählte […], in: Der Standard, 25. 02. 2008, S. 13, Internetausgabe: 27. 02. 2008, https://www.derstandard.at/story/3238417/hans-menasse-man-m uss-ballsicher-sein [Stand: 18. 06. 2020], Irene Zöch: Der Engländer bei der Vienna, in: Die Presse, 10. 06. 2019, https://www.diepresse.com/5641585/der-englander-bei-der-vienna [Stand:18. 06. 2020], Ludwig Heinrich: Was für eine Geschichte […] das bewegte Leben des Hans Menasse, in: Oberösterreichische Nachrichten, 15. 06. 2019, https://www.nachrichten .at/kultur/das-bewegte-leben-des-hans-menasse;art16,3138093 [Stand: 18. 06. 2020]. 2 Vgl. Goran Lovric´: Raum als Mittel der Vergangenheitskonstruktion in Eva Menasses »Vienna« und in Peter Henischs »Eine sehr kleine Frau«, in: Zagreber Germanistische Beiträge 21 (2012), S. 125–144. 3 Julia Freytag: »Wer kennt Österreich?« Familiengeschichten erzählen. Arno Geiger »Es geht uns gut« (2005) und Eva Menasses »Vienna« (2005), in: Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder des Holocaust. Köln 2007, S. 111–124, hier S. 122.

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genauer um den seit den 1990er Jahren wieder beliebten Typus des Generationenromans, der drei Generationen einer österreichischen Familie porträtiert, mit flüchtigen Ausblicken sowohl auf die Urgroßelterngeneration als auch auf die folgende junge Generation. In vielem hat die Autorin darin die Geschichte ihrer eigenen Familie verschlüsselt, doch sie hat sie fiktionalisiert und universalisiert, sodass jede Identifizierung mit dem Vater der Autorin, dem Fußballer Hans Menasse, ihrem Bruder, dem bekannten Schriftsteller und Essayisten Robert Menasse und ihr selbst gegen ihr Anliegen erfolgen würde.4

Die Protagonisten von Vienna und ihre Geschichten Der Anfang des Romans ist mit der Geburt des Vaters 1930 markiert, das Ende hat keine so deutlichen Konturen, es könnten die ersten Jahre des jetzigen Millenniums sein. Für die Schicksale der Familie in der Zeit des Nationalsozialismus ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Großvater der Erzählerin Jude war. Seine Frau war eine »arische« Sudetendeutsche, die sich von ihrem Mann trotz seiner permanenten Seitensprünge nicht scheiden ließ. Ihr war es zu verdanken, dass er sein Leben über die Nazizeit gerettet hat. Ihre Kinder, die zweite Generation, waren trotzdem gefährdet, und sie schickten ihre acht- und sechzehn Jahre alten Söhne mit einem der letzten Kindertransporte nach England. Ihre älteste Tochter Katzi folgte über England ihrem Verlobten nach Kanada, wo sie bald der Tuberkulose erlag. Im Mittelpunkt der Handlung befinden sich der Vater und der Onkel der Ich-Erzählerin. Es ist festzuhalten, dass die wichtigsten Figuren sehr lange, manche bis zum Schluss, keine Namen haben, sondern lediglich mit dem Verwandtschaftsgrad zur Erzählerin beschrieben werden, was die Autorin als natürlich ansieht,5 was jedoch für den Leser etwas verwirrend ist. Erst ziemlich spät erfährt man nebenbei, dass der Onkel von Drittpersonen als Bertl und der Vater als Sonny bezeichnet wurden. Der ältere Sohn macht das englische Exil samt Internierung auf der Insel Man mit und bemüht sich mit aller Kraft in die englische Armee aufgenommen zu werden. Als es ihm endlich gelingt, darf er nicht nach Österreich kommen, um das heimatliche Wien zu befreien, sondern muss in den Tropen in Burma um fremde Interessen kämpfen, gelangt aber dann endlich als Alliierter nach Wien. Der Jüngere kommt in eine Adoptivfamilie aufs Land, lernt schnell Englisch, verlernt aber sein Deutsch, die Feindessprache, besucht die Schule und erweist sich als ein Fußballgenie. 1947 klappt es endlich mit seiner 4 Vgl. z. B. Matthias Prangel: Interview mit Eva Menasse, in: Deutsche Bücher: Forum für Literatur, 3/4 (2007), S. 185–201, hier S. 187. 5 Vgl. ebd., S. 191.

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Rückkehr nach Österreich, wo er wieder Deutsch lernen muss. Die beiden Brüder heiraten zweimal, der Ältere noch in England eine wackere englische Kommunistin (»die kleine Engländerin«) und dann »die Tante Ka«. Seiner ersten Ehe entstammen zwei Vetter der Erzählerin, Vetter Eins und Vetter Zwei, die der Halacha nach, vollgültige Juden sind, weil die englische Ehefrau Jüdin ist. Der Vater der Erzählerin heiratet ebenfalls zweimal, beide Male Nichtjüdinnen. Seine erste Frau, von der er sich scheiden lässt, ist die Mutter seines einzigen Sohnes, der offensichtlich in vielen Zügen dem Schriftsteller Robert Menasse nachgebildet wurde. Die zweite Frau, die deutsch-polnischer Herkunft ist, ist die Mutter der Erzählerin und ihrer jüngeren Schwester. Der ganze Roman wurde in einer humoristischen, lockeren Tonart geschrieben, unter der sich aber Tieferes verbirgt und zwar vor allem die Problematik der zweiten Generation nach den Holocaust-Überlebenden und ihrer Identität sowie der Verdrängung der Nazivergangenheit in Österreich. Durch das Fehlen von Namen und die zahlreichen Rückblenden, aber auch konsequenten Brechungen der linearen zeitlichen Ordnung ist die Vielfalt der Figuren und Probleme nicht so leicht überschaubar. Etwas leichter ist es, sich an dem Schauplatz zu orientieren, denn trotz der umfassenden Handlungsteile, die in England spielen, sowie Episoden in Kanada, in Burma und in Tschechien, ist das fiktionalisierte Wien6 überwiegend der Handlungsort und zum Teil auch der kollektive Held des Romans.

Juden im Wien der Zwischenkriegszeit Das Wien der Zwischenkriegszeit besaß nicht nur eine kulturell besonders regsame, sondern auch zahlenmäßig starke jüdische Minderheit: Nach den Angaben von Martha Keil gab es in der Zwischenkriegszeit ca. 180.000 Juden in Wien, von denen etwa 120.000 sich ins Ausland retten konnten, 5.000 meist in ›privilegierter Mischehe‹ überlebten, etwa 2.000 die Lager überstanden und 65.549 ermordet wurden.7 »Die Zahl der heute hier lebenden Juden, rund 7000 eingetragene Mitglieder der Kultusgemeinde und geschätzte 10.000 Nichtregistrierte, beträgt nur noch etwa ein Zehntel der jüdischen Bevölkerung vor dem Krieg«.8 Die Großeltern der Erzählerin lebten in solch einer Mischehe. Sie berichtet über die Geburt ihres Vaters: »Unter diesen Umständen kam mein Vater zur Welt: als Sohn eines jüdischen Vertreters für Weine und Spirituosen und einer

6 Vgl. bes. Lovric´: Raum als Mittel der Vergangenheitskonstruktion (wie Anm. 2), S. 125–144, hier S. 131–137. 7 Martha Keil: Achthundert Jahre jüdisches Leben in Wien, in: Keil, Martha (Hg.): Jüdisches Städtebild Wien, Frankfurt/Main 1995, S. 7–42, hier S. 39. 8 Ebd.

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katholischen Sudetendeutschen, die aus der Kirche ausgetreten war«.9 Keiner der jungen Eheleute war fromm, sodass für sie die interkonfessionelle Ehe kein Hindernis zu sein schien. Problematischer war es freilich für die Urgroßeltern, die aus dem westgalizischen Tarnów stammten und auf der »Mazzesinsel« in Leopoldstadt ein orthodoxes jüdisches Leben führten. Dazu kam, dass die Schwester des Großvaters, Gustl, ebenso einen Nichtjuden zum Mann nahm, nämlich den Bankdirektor Dolly Königsberger, was für ihre Eltern peinlich war. Sie vertraute aber darauf, dass seine gesellschaftliche Position seine Herkunft wettmacht. Kurz darauf begann sie mit einem großen edelsteinbesetzten Kreuz auf ihrer Brust zu protzen, und in der Nazizeit, als ihr die Tatsache half, dass ihr Mann Nichtjude war,10 verhielt sie sich so, als ob sie ihren Bruder nicht erkennen würde. Von den Eltern der sudetendeutschen nichtjüdischen Großmutter, die aus der Nähe von Freudenthal in Böhmen kam, erfahren wir nichts. Die Ehe der Großeltern wurde wegen der Leichtsinnigkeit und der notorischen Untreue des Ehemannes keine glückliche Ehe, über die sich die Großmutter mit ihrer Leidenschaft für das Kartenspiel hinweghalf. Sie musste auch aufs äußerste sparen, damit die Familie trotz der Verschwendungssucht des Großvaters, seines fehlenden Geschäftssinns und seiner Unehrlichkeit in Geschäften zurechtkam. In der Nazizeit haben sie ihre Kinder aus Österreich weggeschickt und wollten selbst ihnen folgen, was jedoch misslang. Dadurch, dass sie sich nicht von ihrem jüdischen Mann scheiden ließ, hat die Großmutter dessen Leben gerettet. Allerdings verloren sie ihre schöne Wohnung in Döbling und all ihr Eigentum. Der Großvater musste regelmäßig Zwangsarbeit verrichten, die er »Überschwangsarbeit« nannte und die nach dem Krieg ein Tabuthema war, sodass keiner der nächsten Generation wusste, wo er gearbeitet und was er gemacht hatte. Seine alte Mutter wurde nach Theresienstadt verschleppt, wo sie bald starb. Auch der Sohn wäre durch seine Hingabe an sie fast ins KZ gekommen, aber er wurde von einer jüdischen Fürsorgerin aus dem Viehwaggon, in dem sich auch seine Mutter befand, reklamiert und dadurch gerettet. Die Großeltern mussten in eine schlechte Wohnung in einer Gasse ziehen, wo die meisten noch tolerierten Mischehen einquartiert wurden. Ihre bisherige Wohnung hatte inzwischen im Zuge der »Arisierung« Pepi Hermann, ein ehemaliger Fußballstar, übernommen. Dies sind übrigens Fakten, die aus der Familiengeschichte der Menasses in den Roman übernommen wurden.11 Als der Romangroßvater – von seiner Frau ge9 Eva Menasse: Vienna. Roman, 15. Aufl., München 2007, S. 13. 10 Wie Eva Menasse im Interview mit Matthias Prangel erklärt, wurden die Ehen, in denen der Mann »arischer« Herkunft war, in der Nazizeit viel besser behandelt als diejenigen, in denen die Frau »arischer« Herkunft war. Vgl. Prangel: Interview mit Eva Menasse (wie Anm. 4), S. 195. 11 Vgl. Heinrich: Was für eine Geschichte (wie Anm. 1), S. 2f.

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drängt – sich wegen einer Kriegsentschädigung bei den Behörden meldet, speist man ihn damit ab, dass er als Vorbestrafter (wegen wirtschaftlicher Delikte vor 1938) keinen Anspruch darauf hätte.

Die Situation der Familie nach 1945 Diese Mischehe der Eltern hatte zur Folge, dass nach 1945 manche Mitglieder der Familie zu den Opfern und manche zu den Tätern zählten. Manche zählten zu den Tätern und zu den Opfern. Etwa die Frau des Großvaters, die deutscher Herkunft und mit einem Juden verheiratet war, oder der pommersche Großvater der Erzählerin mütterlicherseits, der wahrscheinlich als Deutscher Polen verlassen musste. Durch diese Mischehe ergab sich, dass nach 1945 die Familie zum Teil zu den Opfern, zum Teil zu den Tätern gehörte. Anfänglich war die inkludierende Identität als Juden und Österreicher in dieser assimilierten Familie selbstverständlich. Sie haben selbst davon gesprochen, dass sie »Hitler-Juden« waren, also solche, die sich wahrscheinlich gar nicht als Juden empfunden hätten, wenn die Verfolgung nicht gekommen wäre, und das trotz des im Wien der Zwischenkriegszeit herrschenden Antisemitismus.12 Nach 1945 ist laut dem Roman Vienna ein zweifacher Kulturenkonflikt zu bemerken: Einerseits zwischen den ehemaligen Tätern bzw. Mitläufern und den Opfern, anderseits ein Kulturenkonflikt zwischen den Überlebenden und ihren Nachkommen, die sich fragten, ob sie überhaupt Juden seien.

Mangelnde Bewältigung der Nazizeit in Österreich Die Autorin, die als Journalistin bei dem Prozess des Holocaustleugners David Irving anwesend war und davon in einem Sachbuch berichtete,13 war auf die Opfer-Täter-Problematik gut vorbereitet. Das wird durch die dargestellte Welt des Romans thematisiert. Zuerst anlässlich der Szene, wo der Onkel der Erzählerin mit seinem Vater ihre alte Wohnung in Döbling besichtigen geht und 12 Vgl. Eva Menasse: Stein im Schuh, in: Das Jüdische Echo, Bd. 64: Identität? Welche Identität?, Wien 2015, S. 20–25, hier S. 22–25, zu »Hitler-Juden« S. 21. Zum jüdischen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit vgl. insbesondere Steven Beller: Juden und andere Österreicher in Wien in der Zwischenkriegszeit, in: Frank Stern / Barbara Eichinger (Hg.): Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation–Antisemitismus–Zionismus, Wien 2009, S. 1–16. 13 Vgl. Waschzettel, in: Menasse: Vienna (wie Anm. 9), S. 2, sowie Eva Menasse: Zivilcourage in Berlin und in Wien. Ein Vergleich, in: Das Jüdische Echo, Bd. 58: Zuhause in Europa, Wien 2009, S. 173–176, hier S. 176.

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Großmut zeigt, indem er den unrechtmäßigen Besitzer dadurch beruhigt, dass sie die Wohnung nicht wieder zurückhaben, sondern nur sehen wollen. Eine zweite Episode spielt am Tennisplatz des Dr. Schneuzl, den die Eltern der Erzählerin mit ihren Töchtern täglich besuchten. Hier kommt es eines Tages zu einem Streit zwischen dem gemütlichen jüdischen Stammgast Schmuel Harasi und dem Antisemiten Weis-Werner, der das »Weltjudentum« zu beschimpfen pflegte und schließlich sich unterstand, die Anzahl der vergasten Opfer anzuzweifeln. Der sonst geduldige Jude zeigte ihn daraufhin beim Vorstand des Clubs an. Die Erzählerin nimmt es ihrem Vater übel, dass er in solchen Fällen immer auswich, immer konziliant war, immer auf Kompromiss, Verschweigen, Glätten aus war. Dabei lässt sie, wahrscheinlich bewusst, außer Acht, dass er durch die schwierigen Jahre seines britischen Exils gelernt hatte, stets eine freundliche Miene zu machen, und egal in welcher Situation, auf ein »How do you do?« mit einem »Very well, thank you« zu antworten. Trotz seines Erfolgserlebnisses als Fußballer musste es für den achtjährigen Jungen ein Trauma gewesen sein, plötzlich in eine andere Familie, ein anderes Sprachmilieu, eine fremde Umgebung zu kommen, wo es auch an Antisemiten nicht fehlte und wo die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich oft mit den »Enemies« identifiziert wurden. Am deutlichsten wird die Nichtbewältigung der Nazivergangenheit in Österreich am Beispiel der fiktiven Geschichte Popelniks illustriert, eines überaus beliebten Präsidenten des österreichischen Skiverbandes und Popularisierers des Skilaufens, über den der Bruder der Erzählerin, ein junger Historiker, und Forscher der jüngsten Geschichte, in den Akten entdeckt, dass dieser identisch mit einem SS-Mann ist, der eine leitende Stelle in einem KZ gehabt hatte. Popelnik ist zwar schon tot, aber viele Österreicher reagieren auf die Entdeckung des jungen Historikers mit Empörung und Feindschaft, weil er ihren Abgott anschwärzte. Sie ziehen es gar nicht in Betracht, dass die Tatsachen für den Historiker und gegen den Sportfreund sprechen. So wird ihre eigene Schuld verschwommen und verharmlost. Eva Menasse hat erklärt, dass sie dieses Motiv in ihren Roman wegen der Waldheim-Affäre übernommen hat, in deren zeitlicher Nähe die fiktive Entdeckung situiert ist. Sie erwähnte in einem Interview, dass es in Österreich einen ähnlichen Fall gegeben hat.14 Die verschiedenen Meinungen gehen übrigens quer durch die Familie. Der Vater der Erzählerin hat den Weis-Werner aus dem Tennisclub als einen »äußerst hilfsbereiten Menschen« verteidigt und sich wegen der Nachforschungen seines Sohnes über die

14 Vgl. Prangel: Interview mit Eva Menasse (wie Anm. 4), S. 199f.

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Vergangenheit Popelniks geschämt.15 Damit zeigt die Autorin des Romans, dass es ebenfalls auf Seite der Opfer verschiedene Abstufungen und Nuancen hinsichtlich der Vergangenheitsbewältigung gibt.

Deutsche als Täter und Opfer Zu diesem Komplex gehört auch der Bericht über den Hugo-Onkel, einen entfernten Verwandten aus Freudenthal, der nun als Aussiedler bzw. Vertriebener in der Bundesrepublik Deutschland lebt und Familienforschung betreibt. Er möchte liebend gern mit Bertl, dem Onkel der Erzählerin, in Kontakt kommen, mit dem er in seiner Kindheit befreundet gewesen sein will. Dieser lässt sich aber immer vor ihm verleugnen, während der höfliche Vater der Erzählerin ihn geduldig bewirtet. Ihr Bruder erklärt die Ursache für die Abneigung des Onkels Bertl, dass der Hugo-Onkel sich als 14- oder 15-jähriger Bengel aufs Rad geschwungen habe und begeistert in einen Nachbarort gefahren sei, um eine Ansprache Hitlers zu hören. Der Vater der Erzählerin entschuldigt sein Verhalten mit seinem jugendlichen Alter, während ihr Bruder streng mit ihm umgeht und somit dem Onkel Bertl Recht gibt. Später stellt sich heraus, dass Hugo einem Rechtsradikalen ein Interview gab, in dem er die Gruppe der Sudetendeutschen als Opfer hinstellte. Kurz danach erscheint das Interview in einer Broschüre, die den Holocaust anzweifelt. Hugo erklärt aber, dass er nicht wusste, mit wem und wozu er gesprochen hat. Durch die Vermittlung dieser Figur wird die Problematik der Täterseite in der eigenen Familie berührt, ihrer Verantwortung und ihres fehlenden Bewusstseins für die Kriegsschuld. Aber auch in diesem Falle wird durch zweierlei Instanzen eine Versöhnung nahegelegt. Einerseits ist es die aus Mähren stammende israelische Verwandte, Cilly, die, obwohl sie in der Nazizeit im KZ war, gleich eine Verständigungsebene mit dem sudetendeutschen Gast findet, weil sie aus derselben Gegend stammen und gemeinsame Erinnerungen haben. Der Hugo-Onkel schreibt in einem Brief, dass er zusammen mit anderen ausgesiedelten Freudenthalern deutscher Herkunft einmal mit einem Kleinbus zu Besuch in die alte Heimat gefahren ist. Die Männer sind kämpferisch eingestellt, erwarten dort feindliche Auftritte und sind sprachlos, als eine Frau, die in einer Gaststätte arbeitet (stereotypisch klingt, dass sie eine unglaublich schmutzige Schürze anhat), die ganze Gruppe befehlend vorwärtstreibt. Sie führt sie auf einen alten Friedhof und zeigt begütigend auf die Gräber: »Mama, Papa,

15 Vgl. Menasse: Vienna (wie Anm. 9), S. 227, 300. Menasse erklärt, dass auch ihr Vater Waldheim gewählt hat, »im trotzigen Gefühl, dass hier der Falsche zum Sündenbock gemacht werde […]«. Menasse: Stein im Schuh (wie Anm. 12), S. 22.

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no?«16 Durch diese einfache menschliche Geste beschwichtigt sie die revisionistischen Gelüste der Besucher. Diese Problematik betrifft indirekt auch den pommerschen Großvater der Erzählerin mütterlicherseits, der mit seiner Familie 1945 aus Polen flüchtete.

Suche nach der jüdischen Identität Eine weitere thematisierte Problematik, eigentlich die Hauptproblematik des Romans, ist der Umgang mit der doppelten kulturellen Zugehörigkeit und der Suche nach der jüdischen Identität in der Familie. Bis auf die nichtjüdischen Frauen, sind alle Familienmitglieder nach dem Krieg überzeugt, dass sie Juden sind. Deshalb sind sie ja verfolgt worden bzw. mussten noch als Kinder oder Jugendliche Flüchtlinge werden. Besonders der Bruder der Erzählerin beginnt sich für das Judentum zu interessieren, will Mitglied der Gemeinde werden, wird aber abgelehnt, da er keine jüdische Mutter hat. Er bleibt bei diesen Nachforschungen und Interessen und will nach Spuren der in Übersee gestorbenen Tante suchen, als er zu einem Kongress nach Kanada fährt. Dort erfährt er von einem kanadischen Juden, dass er gar kein Jude sei. Er tritt daraufhin nach seiner Rückkehr in Wien in eine Selbsthilfegruppe mit dem Namen »Mischlinge« ein, die die Autorin erfunden hat,17 um die inneren Krisen solcher Identitätssucher zu zeigen. Inzwischen hat der Sohn in seinem Vater ein größeres Interesse an seinen jüdischen Wurzeln geweckt. Aber nach den halachischen Vorschriften ist auch dieser kein Jude, da er keine jüdische Mutter hatte. Sonny, der Vater, begibt sich in die jüdische Gemeinde, um zu erfahren, ob er Jude sei und erfährt zu seiner Beruhigung, dass dort in den Matrikelbüchern sowohl er als auch seine Geschwister eingetragen wurden. In der nächsten Generation kommt es allerdings zu einer Entzweiung zwischen dem Bruder und der Erzählerin einerseits, die der Herkunft nach nur »Vierteljuden« sind, und ihren Cousins andererseits, die eine jüdische Mutter haben. Der jüngere Cousin kehrt sogar zum religiösen Judentum zurück und beginnt mit seiner Familie nach dem mosaischen Gesetz zu leben. Der Bruder und die Erzählerin empören sich, dass in den Zeiten, wo man dank der Genforschung zuverlässige Vaterschaftstests durchführen kann, etwas so Archaisches wie pater semper incertus noch mosaisches Gesetz sein kann. So 16 Ebd., S. 271. 17 Vgl. Harald Loch: Beim Erfinden »Blut geleckt«. Österreichische Journalistin Eva Menasse über ihr neues Buch, in: Allgemeine Zeitung (Mainz), 18. 03. 2005, S. 30. Ein wichtiger Beitrag zum Standpunkt der Geschwister ist das Spiegel-Interview: »Wir sind Feuilleton-Juden«. Spiegel-Gespräch mit Eva und Robert Menasse, in: Der Spiegel, 2 (2018), S. 114, Internetausgabe: https://magazin.spiegel.de/SP/2018/2/155098140/index.html [Stand: 18. 06. 2020].

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kommt es im vorletzten Kapitel zu einem Zerwürfnis in der Familie. Das letzte Kapitel, Nachruf, klingt dann versöhnlich, allerdings ist es chronologisch nicht das letzte, sondern die Markierung des Endes einer Epoche durch den Tod des Großvaters. Bei seinem Begräbnis finden sich alle ein, die ihn gekannt haben und denen er einmal wichtig war, Juden und Nichtjuden.

Wien als ›Völkerschmelztiegel‹ Das Buch thematisiert aber nicht nur die jüdische Problematik. Laut dem Statistischen Handbuch über Wien zum Beispiel aus dem Jahre 1997, das wir als Stichjahr annehmen, lebten damals, also noch vor der Flüchtlingskrise, in Wien ca. 17,6 % Ausländer, größtenteils aus Jugoslawien und dessen Nachfolgestaaten, der Türkei und Polen.18 Einige dieser Minderheiten werden im Roman berücksichtigt. Die Mutter der Erzählerin ist polnisch-deutscher Herkunft und auch hier werden die Zwischentöne gezeigt, obwohl auf diesen Teil der Familie nicht so intensiv eingegangen wird. Darüber hinaus treten in dem Roman Sportler aus dem Ostblock, die im Geschäft des Romangroßvaters Einkäufe machen, jugoslawische Arbeiter in der Tennisanlage und eine junge Hausgehilfin aus Burma auf, die Bertl adoptieren wollte, um ihr den ständigen Aufenthalt in Österreich zu ermöglichen. Die zweite Frau von Sonny, die Mutter der Ich-Erzählerin, stammt aus einer Flüchtlingsfamilie, die 1945 aus Pommern gekommen war. Es war eine kinderreiche Familie mit einem patriarchalischen Vater, der behauptete, von altösterreichischen Ansiedlern abzustammen. Auf jeden Fall legt die Erzählerin Wert darauf, den gemischten nationalen und sprachlichen Charakter auch ihrer Familie mütterlicherseits hervorzuheben: »Er [der Vater], so betonte man immer, sei ein ›Urösterreicher‹ gewesen, die Familie von Maria Theresia dort oben angesiedelt. Kein Pole, Gott behüte, obwohl der Patriarch zweisprachig und ein Patriot war, kein nationaler, sondern ein regionaler Patriot, sozusagen ein glühender Pommer. Die zarte Frau des Patriarchen trug, als sie ihn kennenlernte, zwar auch einen deutschen Namen. Ihre Muttersprache aber war Polnisch. Im hohen Alter war ihr zu entlocken, daß dort, wo sie aufgewachsen war, die Grenze dauernd hin- und hergesprungen sei, man habe sich gar nicht ausgekannt«.19

Mit ihren Kindern hätte die Mutter in Polen Polnisch gesprochen, aber nach der Umsiedlung nach Wien hätten sie es verlernt. Durch diese Figuren wird einerseits 18 Vgl. Wiener Zahlen auf 400 Seiten. Statistisches Jahrbuch 1997. https://www.ots.at/presseaus sendung/OTS_19990308_OTS0049/wiener-zahlen-auf-400-seiten-statistisches-jahrbuch1997, [Stand: 18. 06. 2020]. 19 Menasse: Vienna (wie Anm. 9), S. 236.

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der gemischte Charakter der Bevölkerung Pommerns vor 1945 und ihr stärkeres Regional- als Nationalbewusstsein dargestellt, andererseits die mit dem sudetendeutschen Hugo-Onkel eingeleitete Problematik der Bevölkerungsmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg angeschnitten. Der neue Liebhaber der künftigen Mutter der Erzählerin erscheint der jungen Eingewanderten viel attraktiver, denn er ist diskret, galant, attraktiv und liebenswürdig. Der bereits geschiedene Partner scheint auch diesmal keine Bedenken zu haben, dass seine Auserwählte keine Jüdin ist, hält es aber für angebracht, sie vor der Eheentscheidung vorzuwarnen: »Ich bin nämlich mosaisch«. Ironisch klingt ihre aus der Unkenntnis erfolgende Antwort: »›Was ist das?‹, fragte sie staunend und aufs neue besorgt, ›eine Krankheit?‹«20 Auch diese Ehe erweist sich als unharmonisch, was aber ähnlich wie im Falle der Großelterngeneration nicht durch die unterschiedliche Herkunft, sondern durch die unterschiedlichen Erwartungen und die Genderproblematik erklärt wird. Mit diesen Großeltern, die Flüchtlinge bzw. Aussiedler aus dem heutigen Polen waren, wird die Problematik der Kulturenkontakte zwischen Ost- und Westeuropa angedeutet, die schon früher mit dem Geschäft für Gemischtwaren für osteuropäische Sportler entwickelt wurde. Dieser Laden wird von dem Vater und Großvater der Erzählerin geführt. Der Vater hat als ehemaliger Sportstar einen guten Zugang zu Sportlern aus dem Ostblock, die zu verschiedenen Spielen und Meisterschaften nach Wien kommen. Dieses Geschäft ist ein Geheimtyp für die Besucher aus den devisenarmen Ländern, die keine Mittel haben, um Modeartikel wie Jeans oder kleine Mitbringsel zu erwerben. Dort aber dürfen sie in einheimischer Währung zahlen und bekommen den eventuellen Restbetrag in Waren ausbezahlt. Der Großvater wirbt mit Visitenkarten für diese Firma schon am Bahnhof. Der Bruder sammelte als Schulkind Autogramme dieser Sportler, doch die Klassenkameraden lachten ihn aus, weil es lauter Ostsportler waren, was von dem damals schon ausgeprägten Bewusstsein der österreichischen Schulkinder zeugt, als »Westler« etwas Besseres zu sein. Als junger Mann wurde er Kommunist, beschimpfte den Vater als Kapitalisten und nahm ihm übel, die sozialistische Gesellschaft zu korrumpieren, da er damals in den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang ein Ideal der sozialen Gleichheit sah.21 Mit diesem Geschäft ist auch ein Überfall verbunden, der wahrscheinlich von antisemitisch eingestellten jungen Männern verübt wurde, und von gerade anwesenden osteuropäischen Gewichthebern und Leichtathleten abgewehrt werden konnte. Mit den Überfallenen solidarisiert sich auch der Ladennachbar, ein orthodoxer Jude osteuropäischer Herkunft, Herr Schidlowski, dem die assimilierte Familie mit Abstand und gewissem Misstrauen begegnete. So wird die breite Vielfalt der 20 Ebd. S. 240. 21 Vgl. ebd., S. 191.

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nationalen, religiösen und ideologischen Anschauungen in Wien von Einheimischen, Zugereisten und Besuchern exemplifiziert. Selbst durch die Familie geht ein Riss als Generationenkonflikt zwischen dem Vater und dem kommunistisch gesinnten Sohn. Diese spannende Geschichte des Geschäfts in einem Hinterhof der Mariahilfer Straße entstammt, wie die Verfasserin in einem der Interviews betonte, nicht ihrer Familiengeschichte, denn weder der Vater noch der Großvater haben solch einen Laden geführt, aber sie habe solche Läden gekannt.22 Außer der Vergegenwärtigung der quer durch den Roman gehenden Haltungen und Meinungen dienen diese Episoden wohl dazu, Wien aufgrund seiner kulturellen Buntheit zu einer Metropole zwischen West- und Osteuropa zu stilisieren.

Die Gastarbeiter als die Anderen, die Fremden Interessant ist die Episode mit den »Tschuschen«23, die in der dritten Generation, offensichtlich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, spielt. Die Mitglieder der Mittelschicht, darunter die Eltern der Erzählerin, verbringen ihre Freizeit gern im Tennisclub des Dr. Schneuzl, einer riesigen Sport- und Erholungsanlage, die die Verfasserin im Prater ansiedelt. Lovric´ schreibt zu Recht, dass dieser fiktive Ort symbolisch für ganz Österreich ist.24 Mit der Pflege dieser Anlage befassen sich erfolgreich zwei Gastarbeiter aus Split. Die Kinder der Mitglieder des Tennisclubs langweilen sich, wenn sich ihre Mütter in ihren Liegenstühlen sonnen und klatschen. So verschwinden sie aus dem Gesichtskreis der Erwachsenen, gehen weit in die Wiesen, bis sie ein Loch im Zaun entdecken, durch das sie die Anlage verlassen können. Einmal behauptet ein kleines Mädchen, dass die Kinder dort durch das Zaunloch einen »braunen Mann« gesehen haben, der sich vor ihnen entblößte, seinen Mantel aufmachte und seinen Penis zeigte. Als die Gastarbeiter gerufen werden, um das Loch im Zaun zu flicken, glaubt die Kleine in einem von ihnen den Exhibitionisten zu erkennen. Gleich erwacht bei den Erwachsenen das Misstrauen gegen den Anderen, den Fremden. Sie verlangen, dass Dr. Schneuzl den Gastarbeiter entlässt. Auf der 22 Vgl. Prangel: Interview mit Eva Menasse (wie Anm. 4), S. 187f. Der historische Hans Menasse hat, wie sein literarisches Porträt zu Anfang seiner Laufbahn nach 1945, in der Filmbranche, und zwar im amerikanischen Filmverleih, dann als Pressechef für amerikanische Filmkonzerne bis zu seiner Pensionierung erfolgreich gearbeitet. 23 In den ›Erläuterungen zu einigen Austriazismen‹ gibt die Autorin folgende Erklärung für die deutsche Leserschaft: »Tschusch, Tschuschen – üblicher, umgangsspr.[achlicher] Ausdruck für Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, gern auch pejorativ gebraucht«. Menasse: Vienna (wie Anm. 9), S. 431. 24 Vgl. Lovric´: Raum als Mittel der Vergangenheitskonstruktion (wie Anm. 2), S. 135.

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Seite der Misstrauischen befindet sich der Vater der Erzählerin, der ja selbst als Kind und Jugendlicher als Flüchtling fremd in England war. Sein Sohn kritisiert diese Haltung, da es ja keine sicheren Indizien dafür gibt, dass es gerade dieser Mann war. Denn für ein Kind sehen wahrscheinlich alle Menschen mit dunklerem Teint gleich aus. »Die vor dem Clubhaus würfelnden Damen finden, daß man von diesen Platzarbeitern, auch wenn man sie jahrelang kennt, letztlich nichts weiß. ›Verschlossene Menschen‹, murmeln sie über ihren Würfelbechern, ›warum können die eigentlich noch immer kein Deutsch?‹ Wie so viele andere findet mein Vater, Dragan sollte entlassen werden, ›zur Sicherheit‹, wie er sagt, ›Tschuschen gibt’s wie Sand am Meer.‹ Mein Bruder […] findet diese Haltung total unfair. ›Im Zweifel für den Angeklagten‹, verkündet er, und daß ein Tschusch auch ein Mensch sei. Mein Vater schüttelt nun den Kopf. ›Wart, bis du selbst Kinder hast‹, sagt er, und mein Bruder stöhnt«.25

Die Sache löst sich von selbst, indem Dragan bis zum letzten Tag des Monats seinen Lohn abgearbeitet hat und dann von selbst verschwindet. Der Eigentümer findet keinen Ersatz und der zweite, dagebliebene Kroate kommt nicht mit allem allein zurecht. So müssen die feinen Damen und Herren selbst mithelfen und die Anlage wird vernachlässigt. Dr. Schneuzl stellt dann endlich nach langer Wartezeit den Clubgästen Branko, den Nachfolger, einen »riesigen dunklen Kerl mit einem buschigen Schnurrbart« vor. Die Pointe ist, dass danach Brankos Frau »hocherhobenen Hauptes« durch die Anlage geht, »zwei Kinder an jeder Hand, zum ersten Mal erblicken die S.C.S.-Mitglieder eine muslimisch Verschleierte, mitten in Wien«.26 Zwar scheint der Sachverhalt unmöglich zu sein, aber diese Pointe ermöglicht der Autorin politisch korrekt, ohne didaktisierenden Kommentar, gegen die Fremdenfeindschaft aufzutreten und zu zeigen, dass ohne diese schwere Arbeit von Menschen aus dem ehemaligen Ostblock die westeuropäische Gesellschaft an vielen Arbeitsplätzen, die von unteren sozialen Schichten eingenommen zu werden pflegen, hilflos gewesen wäre. Die Erwähnung der muslimischen Verschleierung kann eine leise Anspielung auf die später kommende Flüchtlingskrise des 21. Jahrhunderts sein. Dabei werden eben schwierige Probleme und Situationen im ganzen Roman humoristisch bzw. ironisch abgehandelt, was ihnen ihre Schwere scheinbar nimmt.

25 Menasse: Vienna (wie Anm. 9), S. 220–221. 26 Vgl. ebd., S. 222–223.

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Schlussfolgerungen Ich habe mich in meinen Ausführungen auf die Schilderung der Kulturenkontakte und -konflikte in der Stadt Vienna beschränkt, aber man könnte das Thema auch auf die Darstellung Englands und Burmas im Roman ausweiten. Zwar überwiegen in der fiktiven Familienchronik die Probleme des Judentums, der Juden versus nichtjüdische Österreicher, die sich für Opfer halten, verschiedener Identitäts- und Bewusstseinsmuster innerhalb der jüdischen und vor allem der nur teilweise jüdischen gesellschaftlichen Gruppe. Die Autorin berührt, nie in die Schwarz-Weiß-Malerei verfallend, die Problematik der Opfer und Täter der Nazizeit und zeigt, dass man manchmal eine Person nicht einfach der einen Gruppe zuordnen kann, weil sie in verschiedenen Situationen zu beiden gehören kann. Wien wird als ›Völkerschmelztiegel‹, als Sammelbecken für Eingewanderte und Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern, verschiedenen nationalen und sozialen Gruppen gezeigt. Man begegnet den Fremden mit Misstrauen, das in extremen Zeiten, wie jene des Zweiten Weltkriegs, in Hass ausarten kann. Davor wird, eben ohne den erhobenen Zeigefinger,27 gewarnt. Aber täglich bewirkt diese Berührung mit verschiedenen Kulturen die Notwendigkeit, eine Art der Koexistenz auszuarbeiten und es wird gezeigt, dass auch diese in Vienna funktioniert, nicht nur mit den Touristen, sondern auch mit der multikulturellen Bevölkerung Wiens.

27 So Ulrich Weinzierl: Die Tiefe an der Oberfläche, in: Die Welt, 12. 02. 2005, https://www. welt.de/print-welt/article424374/Die-Tiefe-an-der-Oberflaeche.html [Stand: 18. 06. 2020].

Literatur und Theater

Wojciech Kunicki (Uniwersytet Wrocławski)

Ernst Jüngers theologische Fundierung der Metaphysik in Das Sanduhrbuch sowie in seinen Reisetagebüchern der 1950er Jahre

Ernst Jünger wurde nach dem Erfolg der Strahlungen und nach den intensiven Diskussionen seines Romans Heliopolis (beides erschien 1949), auch zum Erstaunen seiner Anhänger und Gegner, sofort in die christlich-existentialistischen Kontexte der damaligen Literatur integriert. Diese Deutungen, die im Rahmen der Diskussionen um die Wiedereingliederung der deutschen Literatur in die europäischen Kontexte eine programmatische Funktion hatten, erreichten in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt. Jünger drohte dabei, wie es Armin Mohler nicht ohne Ironie bemerkte, die Rolle eines Gerhart Hauptmann der zweiten Republik zu übernehmen. Eines der Zeugnisse des damaligen Verhältnisses zur Religiosität und zur Theologie ist das Gespräch, das mit Jünger von dem Hamburger Jesuitenpater Paul Bolkovac 1951 geführt und dann in der »Zeit« veröffentlicht wurde.1 Der Anfang des Gespräches war schwierig, Jünger reagierte nicht auf den Versuch, dem Gespräch »eine theologische Richtung« zu geben, auch zu den Aufzeichnungen von Alfred Delp, die Bolkovac herausgab, wollte sich der Schriftsteller nicht äußern. Beim Gespräch mussten noch zwei Personen anwesend sein: Armin Mohler, der eine sehr kritische Haltung zur »neuen Theologie« Jüngers hatte sowie eine »Konvertitin«, die über ihre Konversion erzählte. Endlich »ist plötzlich der Funke übergesprungen«, als Jünger den Satz »Gott muß neu konzipiert werden«2 aus den Strahlungen mit Hilfe der tätigen Mystik als »Partnerschaft von Gnade und Freiheit« interpretierte. Das Gespräch wurde lockerer, Jünger kommentierte ironisch die Gerüchte über seine Annä-

1 Paul Bolkovac: Jenseits des Nihilismus, in: Ernst Jünger: Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929–1997, hg. von Rainer Barbey und Thomas Petraschka, Stuttgart 2019, S. 73. Die Veröffentlichung in »Die Zeit« erfolgte am 25. Oktober 1951 (Nr. 43). Sie ist auch online zugänglich. Es ist unverständlich, warum in der sonst sorgfältigen Edition die Bezeichnung S.J. nach dem Namen von Bolkovac unterdrückt wurde. Schade auch, dass man im Band keine Informationen über die Gesprächspartner Jüngers findet. 2 Ernst Jünger: Das zweite Pariser Tagebuch, in: Ders., Sämtliche Werke. Tagebücher III. Strahlungen II, Bd. 3, Stuttgart 1979, S. 65.

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herung an den Katholizismus. Dann wird das Gespräch in der Bibliothek fortgesetzt (offenbar ohne die anfangs erwähnten Teilnehmer): »Die Theologie hat jahrhundertelang das Leben und die Theologie inspiriert once upon a time. Ist es wahr, daß man heute die metaphysische Unruhe in der Naturwissenschaft und bei den Dichtern stärker spürt als unter Theologen? Die Quelle mag hier oder dort entsprungen sein, in jedem Fall ist mit diesem philosophischen Aufschwung, der im Absprung von der Erfahrung nach dem Ganzen zielt und die Mitte sucht, die nihilistische Linie der fortschreitenden Atomisierung des Menschen überschritten. Ich frage Jünger noch, ob seine Aphorismen, zu dieser neuen Theologie in den letzten Schriften später eine zusammenhängende Darstellung finden sollen. Er wehrt lächelnd ab: ›Man hat vielleicht Intuitionen – aber ein System habe ich nicht. Und wozu gibt es Theologen? Wenn ihr die Fragen schon nicht stellt, so müßt ihr doch Antwort geben, wo gefragt wird‹«.3

Der intelligente Jesuitenpater konnte schon die Unterschiede zwischen dem Orthodoxen Christentum und der Religiosität des Dichters wahrnehmen: Ihre Verständigung »betraf weder die Kirchen (es bleibt der Unterschied zwischen dem dogmatischen und einem pragmatischen Ansatz) noch das Christentum (es bleibt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Gnosis), sondern es ging um die Grundlage von beiden durch den Grund, der allen Menschen gemeinsam ist«. Pointiert wurde das Gespräch durch ein längeres Zitat aus den Strahlungen mit dem Fazit: »Das göttliche Leben ist ewige Gegenwart. Und Leben ist nur dort, wo Göttliches gegenwärtig ist«.4 Und wirklich: Gemessen an der Quantität und Qualität des Werkes, sind die 1950er Jahre für Jünger nicht nur die Zeiten einer glücklichen Rückkehr zum literarischen Leben der Zeit, sondern auch die Zeit, in der er seine Poetik der »magischen Schau« um theologische Komponenten zu bereichern suchte, was allerdings nach Heliopolis und nach dem Waldgang (1951) zu einer fast abrupten Rücknahme der theologisch fundierten Begründungen und zum Ausbau der platonisch-metaphysisch begründeten symbolischen Poetik führte.5 Bereits in 3 Bolkovac: Jenseits des Nihilismus (wie Anm. 1), S. 74. 4 Jünger: Das zweite Pariser Tagebuch (wie Anm. 2), S. 62. 5 Der Symbolbegriff Jüngers der 1950er Jahre ist mit der Schau verbunden, mit der Fähigkeit, das Sein in den Erscheinungen zu sehen. Hier seine begrifflichen Festlegungen aus dem Sanduhrbuch: Ernst Jünger: Das Sanduhrbuch, in: Ders., Sämtliche Werke. Band 9. Fassungen I, Stuttgart 1979. »Zum Symbol wird uns das Vergängliche, wenn das Sein durchleuchtet« (ebd., S. 220); »Zur Allegorie gehört Vertauschbarkeit der Bilder ohne Rangordnung« (ebd.); »Das Klischee endlich ist nicht nur beliebig vertauschbar, sondern auch beliebig reproduzierbar, millionenfach« (ebd.). Symbol, Allegorie und Klischee sind drei Begriffe, mit denen Jünger seine transitorische Epoche kritisch misst und sie zugleich in die mythologischen Konstellationen einbettet, die ihre Widerspiegelung in allen Lebenssphären, auch in der religiösen finden: »Wie sich der Mythos in der Geschichte wiederholt, zwar unsichtbar, jedoch dem Seher nicht verborgen, so ist es auch mit Begegnung von Kronos und Uranos… Das spiegelt sich politisch in den Zwisten der Patrizier mit den Plebejern, der Konservativen mit

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den vierziger Jahren bemerkte man eine tiefgreifende Änderung in Jüngers Werk. Für Hans Joachim Schoeps war Jüngers Werk ein paradigmatisches Beispiel der atheistischen Moderne: »Hier wird die Entindividualisierung des Menschen aus der Perspektive eines eiskalten Verstandes bereits als Tatsache hingenommen, daß an die Stelle der »Person« als Neues der »Typus« getreten ist«.6 Walter Hilsbecher versuchte dagegen mit dem Hinweis auf die Verschmelzung von rationalen und irrationalen Elementen Jüngers Poetik aus dem funktionalen Zusammenhang des Nihilismus-Vorwurfes zu befreien: »Die Spannung zwischen der magischen Tiefe des Erlebnisses und der hohen Bewußtheit seiner Gestaltung macht ja gerade die Faszination des Jüngerschen Stiles aus«.7 Diese neue Theologie wird eigentlich als ein weltanschaulich-ästhetisches Phänomen betrachtet. Der Dichter stelle keine »Lehre« auf, sondern praktiziere eine »Schau«, die an die mystischen Praktiken gemahnt. Hilsbecher formuliert diese neue Theologie als »die Wiederkennung der menschlichen Existenz in einem absoluten Prinzip: bei Hölderlin: die versuchte Synthese von Christentum und Hellenismus; bei Nietzsche das absolute Diesseits, das amor fati, der Übermensch; bei Rilke: der reifende Gott der Engel, das Zuhausesein in den »beiden Bereichen«; bei Valery: der bittere Gang durch die letzte Illusion; bei Sartre: die absolute Freiheit, die absoluter Verantwortung gleichkommt; bei Jünger: das amor fati, die Bereitschaft zum Schmerz, die Theologie des Abenteuers, des Wunderbaren«.8

Eine weit kritischere Haltung zum Werk der ersten Hälfte der 1950er Jahre vertrat Hans Blumenberg. Das Unzerstörbare zu gewinnen, wie Hans Blumenberg 1955 in seinem Fazit-Aufsatz schrieb, »ist das Grundmotiv in Jüngers Metaphysik«. Bei dieser Suche stehe aber Jünger dem Wagnis fern, »das im Begriff der Gnade beschlossen ist«. In Heliopolis gelange er zu keiner »Verbindlichkeit«, dies auf Grund seiner experimentierenden Wendigkeit, »die Magie, Extase und Rausch nicht verschmäht«. Aus diesem Grunde lehnt Blumenberg das Religionsverständnis des Schriftstellers schroff ab, das »die Wirkung und Glaubwürdigkeit« Jüngers beeinträchtigt hätte. Noch gewichtiger ist der Vorwurf des Gnostizismus: »Die gnostische Weltsicht ist radikal dualistisch, sie verschärft die Differenzen bis zu ihrer reinsten Formel, in der es keine Übergänge mehr gibt, aber sie macht zugleich die Gegensätze auch gegenseitig voneinander abhängig: das eine ist nur durch das andere«. So sei die Anwendung dieses Schemas mit der Konsequenz, den Revolutionären…oder metaphysisch in der Beziehung auf den Himmel, das grosse Jenseits und das zeitliche Diesseits hier«. Ebd., S. 225. 6 Hans Joachim Schoeps: Der moderne Mensch. Und die Verkündigung der Religionen, Frankfurt/Main – Berlin [1948], S. 12. 7 Walter Hilsbecher: Ernst Jünger und die neue Theologie. Fragmente. Im Selbstverlag, [o. O.] 1949, S. 20 Herrn Tobias Wimbauer danke ich sehr herzlich für die Scans der heute schwer zugänglichen Schrift von Walter Hilsbecher. 8 Hilsbecher: Ernst Jünger (wie Anm. 7), S. 6–7.

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»die Freiheit nicht nur gegen, sondern auch durch die Despotie existieren zu lassen«, falsch.9 Auch später hört Blumenberg nicht auf, gerade zum Teil aus theologischen Positionen Jüngers Methodik des Sehens und des Schreibens einer Kritik zu unterziehen. Am deutlichsten vielleicht im Aufsatz Auf der Suche nach der Weltordnung, in dem er den Platonismus Jüngers,10 der »Unendlichkeit zur Sinnlosigkeit« erkläre, weshalb auch »die subtile Jagd das Gegenteil zur Gottsuche« sei, verdammte. Die Kritik Blumenbergs bezieht sich auf das Fehlen des Gnadenbegriffes, der letzten Rettungsmöglichkeit des Sünders durch die Gnade, also letzten Endes auf das Fehlen von theologischen Grundsatzkategorien, was Jüngers »unfrommen Instinkt fürs Theologische« demonstriere.11 Die theologische bzw. religiöse Motivierung des Werkes der 1950er Jahre geht mit einer therapeutischen Funktion des Jüngerschen Schaffens einher: sich von den direkten Konsequenzen der Zeit, vor allem des Zusammenbruchs zu befreien. So ist für ihn das Symbol der Sanduhr im Gehäuse von Hieronymus »Wahrzeichen der Beschaulichkeit und der Abgeschiedenheit von den Mächten der Zeit«.12 In dem Sinne passt die Haltung Jüngers sehr wohl zum Klima der »Adenauer-Ära« mit ihrem Wirtschaftswunder, dessen Auswirkungen Jünger auch im Ausland (in Sardinien oder in Antibes) beobachten kann, sie passt allerdings kaum zu der in Bezug auf Jüngers Werk oft gebrauchten Floskel von einer Verdrängung der (Zeit)Geschichte, deren zweifelhafter Charakter auch in der vorliegenden Betrachtung zu zeigen ist.

Das Sanduhrbuch Der 1954 veröffentlichte umfangreiche Traktat Das Sanduhrbuch ist auch eine Diagnose unserer Zeit, die in der kritischen Sicht auf die mechanischen Uhren gipfelt, die weder »tellurische« noch »kosmische« Zeitmesser sind.13 Sie erzeugen sehr wohl eine Stimmung der Nachdenklichkeit, die allerdings nicht romantisch sein will, denn: »Da haben wir den Mustang, der im Stalle bleibt. Er [der Anfang: »Es war in alten Zeiten- - -«, Anm. W. K.] hat verschuldet, daß die Romantiker sich nicht durchsetzten, weder auf dem politischen, noch auf dem literarischen Feld. Er ist die Ursache ihrer inselbildenden Kraft«.14 Die Kritik des romanti9 Hans Blumenberg: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, hg. von Alexander Schmitz und Marcel Lepper, Frankfurt/Main 2007, S. 26–27. Der Aufsatz unter dem Titel Ernst Jünger – ein Fazit wurde veröffentlicht in den »Düsseldorfer Nachrichten« am 29. März 1955. 10 Blumenberg: Der Mann vom Mond (wie Anm. 9), S. 35. 11 Ebd., S. 48. 12 Jünger: Das Sanduhrbuch (wie Anm. 5), S. 267. 13 Ebd., S. 132. 14 Ebd., S. 137.

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schen »als ob«, der Absicht, »sich von der Zeit« erholen zu wollen, bezeichnete Jünger in seinem Buch Die Arbeiter. Herrschaft und Gestalt als die romantische Flucht. Auch im Rivarol, dem Buch über den französischen Moralisten, wird die romantische Haltung einer harten Kritik unterzogen, zugunsten des ruhigen, durchdringenden, gedanklich profilierten Klassizismus, der mit einer dezidiert theologischen Sicht der Dinge einherging. »Der Wille, Nicht-Zu-Haltendes zu halten gibt der konservativen Kritik die, oft mit Schönheit und geistiger Schärfe verbundene, Unfruchtbarkeit«.15 Die theologische Sicht wird bei Rivarol bei der Notwendigkeit, den Begriff des Volkes neu zu definieren16, erwähnt; im Sanduhrbuch gipfelt sie in der Frage nach dem »Eigentlichem«, das uns »nur in besonderen, hellsichtigen Stimmungen näherrückt?«17 Traum, Rausch und Einschläferung sind hier Übergangssituationen zur Empfindung dieser Stimmungen. Zu Kants Zeiten, also in der Epoche der klassischen Aufklärung umkreiste man die Erkenntnis, genauso wie man heute »Sein, Schicksal und Charakter« zu umkreisen beginnt.18 Früher war also die Erkenntnisform, heute ist sie eher »Schicksalsform«. Es ist sehr deutlich, dass der substanzielle, also seinsorientierte Jünger hier an seine bereits in den zwanziger Jahren vorgenommene Einteilung zwischen der messbaren und der Schicksalszeit anknüpft sowie an den Sizilischen Brief an den Mann im Mond, indem er eine mythologische Sprache anwendet, die das Mehrdeutige und die Physiognomik berücksichtigt, »die den Menschen und ihren Taten eigentümlich ist«.19 Zu der mythologischen Erzählung gehört auch die Tatsache, dass der Gebrauch der Uhren sakralen Ursprungs war und heute, nach den intensiven Säkularisierungsprozessen mit dem ungehemmten Lauf der Technik gleichzusetzen ist, was sich in der Verbindung der kriegerischen und der angeblich friedlichen Sphäre manifest macht: »Die Erfindung des Flugzeuges, zuerst begrüßt als neuer Triumph des Geistes über die Schwere und als Erfüllung eines alten Menschheitstraumes, leitet eine Ära des Städtebrandes ein«20, stellte Jünger an die Theoreme der Totalen Mo-

15 Ernst Jünger: Rivarol, in: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays VIII. Band 14: Ad Hoc, Stuttgart 1978, S. 250. 16 »Wir stehen vor der Aufgabe, das alte Wort »Volk« neu zu erfüllen, einer Aufgabe, die keine Vergangenheit uns abnehmen kann. Die Art, in der sich unsere Arbeitswelt entwickelt, ist dieser Aufgabe günstiger, als es der Individualismus des vergangenen Jahrhunderts war. Sie wird aber nicht ohne theologische Hilfe gelöst werden, durch die allein der Mensch, nicht nur als der »Nächste«, sondern auch als der Freie und der Gleiche erkannt, und damit aus seiner Vereinzelung befreit werden kann, von der und für die die großen Schreckensstätten der Welt ein Zeichen sind. Ein Dichter wie Dostojewski hat das erkannt«. Ebd., S. 244. 17 Jünger: Das Sanduhrbuch (wie Anm. 5), S. 145. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 160. 20 Ebd., S. 170.

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bilmachung21 anknüpfend, dass die sogenannte friedliche Zone eine durchaus kriegerische sein kann, fest. Künstliche Versuche »ein Rädchen anzuhalten, etwa den Bau von Atombomben zu verbieten«, seien sinnlos, denn da »würde der Schrecken aus anderen Teilen des Werkes hervorbrechen«.22 Selbstverständlich komme eine pubertäre Auflehnung, etwa eine Zerstörung der Maschine einem »Provinzionalismus« gleich, es gilt, »von sich aus, durch freie, unmittelbare Geistesmacht, zu universaler Höhe emporzusteigen«.23 Es gilt also, »Zeitloses in uns« zu aktivieren, um »das Spinngewebe der Uhrzeit« zu zerreißen: »Im Walde schlägt keine Uhr« stellt er fest, an seinen zentralen Traktat der fünfziger Jahre, den Waldgang anknüpfend. So ist das Sanduhrbuch etwas mehr als ein Sammelsurium von Sanduhr-Miscellen oder eine Schilderung von Sanduhr-Stimmungen. Es ist in erster Linie ein Bindeglied zwischen dem Frühwerk und dem metaphysisch fundierten Werk der mittleren Periode.24 Es ist in seiner Konzentration auf das Grundinstrument und das Grundsymbol der mechanischen Uhr auch eine Zeitdiagnose der modernen Technik. Es ist auch ein Vorschlag, sich von dem Terror der mechanischen Zeit zu befreien: durch Rückzug in den »Wald«, durch Kontemplation, durch den Aufbau der Freiheit, durch den Anschluss an den Mythos25 und an das Geheimnis der »Heilslehren«. Gleichzeitig wird im Geiste Kleists vor jeder Regression gewarnt: »Dieser Punkt kann nicht im Zu-

21 »Von den Formen der Mobilmachung sind jene besonders wirksam, die nicht als solche erkannt oder gar begrüßt werden. Der Komfortcharakter unserer Einrichtungen gleicht einer dünnen Politur«. Ebd., S. 229. 22 Ebd., S. 175. Zum Beispiel im Bereich der Biopolitik: »So ist, um ein Beispiel zu nennen, das biologische Wissen dabei, dem physikalischen in dieser Hinsicht den Rang abzulaufen – wobei man nicht so sehr an die Vernichtungsmittel zu denken braucht als etwa an die künstliche Befruchtung von Menschen: einen der schwersten Tabubrüche, die man ersinnen kann. Schon leben Zehntausende von vaterlosen Wesen auf dieser Welt, von Wesen, bei deren Zeugung Liebe nicht mitwirkte. Sie werden die Henker von Morgen sein. Die Schaffung einer solchen Kaste geht weit über die antike Sklaverei hinaus«. (Ebd.). 23 Ebd., S. 176. 24 Margret Boveri hat das auch erkannt, indem sie in ihrer Rezension feststellte: »Es darf nicht der Eindruck entstehen, als habe Jünger eine Umkehr vollzogen oder gar sich von seinem früheren Werk abgewandt. Elemente des »Arbeiters«, sogar der »Totalen Mobilmachung«, die ja auch von »kommenden Dingen« und nicht nur vom kommenden Krieg handelte, bleiben wirksam, wenn sie auch aus der einstigen Eiseskälte herausgehoben sind«. Vgl. Margret Boveri: Sanduhr und Sarazenenturm, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 8 (1955), H. 12, S. 1173–1177. Margret Boveri und Ernst Jünger: Briefwechsel aus den Jahren 1946 bis 1973, hg. von Roland Berbig u. a., Berlin 2008, S. 285. 25 »Mythos ist keine Vorgeschichte; er ist zeitlose Wirklichkeit, die sich in der Geschichte wiederholt. Daß unser Jahrhundert in den Mythen wieder Sinn findet, zählt zu den guten Vorzeichen. Auch heute ist der Mensch durch starke Mächte weit auf das Meer, weit in die Wüste und ihre Maskenwelt hinausgeführt. Die Fahrt wird ihr Bedrohliches verlieren, wenn er sich seiner Götterkraft besinnt.« Ernst Jünger: Der Waldgang, Frankfurt/Main 1951, S. 37.

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rückweichen, sondern nur im Vorgehen und unter Opfern erreicht werden, und nur von Geistern, in denen die Gesetze einer neuen Weltzeit lebendig sind«.26 Die im zweiten Teil des Sanduhrbuches ruhig fließende entschleunigende Erzählung über die Sanduhren bringt auch das doppelte Bild des Krieges und zwar des Seekrieges mit sich. Zur Zeit der großen Segelschiffe und der Sanduhren war »die Schlacht ein geschlossenes Theater«27, bei den Dampfschiffen sind dagegen »die Schiffe immer mehr schwimmende Stationen von Landzentralen«28, in denen nicht so sehr »Entschluß, Befehl und Verantwortung« zählen, sondern ein Treffen in dem Raum, in dem sich die Unterschiede zwischen Land und Meer zu verwischen beginnen. Die neue Wandlung, von der Jünger überzeugt ist, kennzeichnet eine Abwendung von der mechanischen Zeitmessung zum Auftreten von den Elementaruhren (Messung der Zeit mit Hilfe der Atomspaltung sowie Messung mit Quarz- und Atomuhren). Sie sind das Zeugnis einer »Vermählung des Geistes mit der Materie«.29 »Zugleich wächst und begründet sich die Hoffnung, daß ihre Meisterung gelingen wird, und zwar sowohl rational, also durch schärferes Durchdenken der irdischen Gegebenheiten, als auch metaphysisch, indem der Geist zu den der Schöpfung innewohnenden Maßen durchdringt oder auch zurückfindet. Dem spricht die Wiederannäherung der messenden Wissenschaften, vor allem der Physik und der Astronomie, an die Theologie, der sie einst entsprossen sind«.30

Reiseberichte Auffallend an den drei Reiseberichten der 1950er Jahre: Am Sarazenenturm (1955)31, San Pietro (1957)32 und Serpentara (1957)33 ist das Fehlen der direkten theologischen Bezüge. Sie werden allerdings durch die starken sakralen Impulse angekündigt und aus der in ihrer Methodik neuplatonischen Beobachtung des Tatsächlichen abgeleitet. Schon das Reisen selbst eröffnet seine doppelte Natur 26 Jünger: Das Sanduhrbuch (wie Anm. 5), S. 176. Er wiederholt diese Meinung, diesmal unter Bezug auf eine »romantische« u. a. Theologie. »Die Wiederbesetzung ehrwürdiger Positionen, wie sie die romantische Politik, Medizin und Theologie noch für möglich halten könnten, ist uns versperrt. Ein neues Gleichgewicht von Ruhe und Bewegung kann nur im Durchschreiten der gefährlichen Zonen erreicht werden«. Ebd., S. 229. 27 Ebd., S. 198. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 232. 30 Ebd., S. 233. 31 Ernst Jünger: Am Sarazenenturm, in: Ders.: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Tagebücher VI, Bd. 6: Reisetagebücher, Stuttgart 1982, S. 219–325. 32 Ebd., S. 325–363. 33 Ebd., S. 363–387.

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im Erschauen eines »Heiligtums der Erde«, das die »Welt mit innerem Auge«34 beobachten lässt und umgekehrt. Denn: »In jede Reise muss Pilgerschaft im alten Sinne eingeschlossen sein«.35 Die sakralen Bezüge stellen also nicht das Ergebnis einer vorgefassten religiösen Meinung und Deutung dar, sondern sind Zeichen der historischen und natürlichen Tiefe, die sich auf der Oberfläche der beobachteten Erscheinungen manifestiert: »Die Formen sind Signaturen, sind Zeugnisse«.36 Eine Blüte, eine Flosse, ein Flügel sind »das Muster der Schöpfungstiefe auf der Außenhaut der Welt«.37 Die vermuteten »Abgründe« zu erleben und zu beschreiben ist nicht die Sache einer Rousseau’schen Flucht, sondern »Selbsterhaltungstrieb«, »Sehnsucht nach Anteil an höherer Existenz«.38 Das Jüngersche Höllenerlebnis auf Sardinien, am 20. Mai 1954, als er die für ihn vermutlich älteste Wohnung des Menschen entdeckte, ist zugleich ein Heruntersteigen in die Tiefen des Vorgeschichtlichen, was allerdings – Folge der »Verwandlung unseres Zeitgefühls«39 sei und mit dem modernen Blick der Romantiker gleichzusetzen wäre: denn hier »gewinnt der historische Blick an verdichtender, beschwörender Kraft, schmilzt in die Dichtung ein«.40 Ohne das Instrumentarium der Moderne ist eine Erschließung der natürlichen und historischen »Abgründe« unmöglich,41 was mit der Hoffnung, die Kleist in seinem Marionetten-Text äußerte, einhergeht, die besseren Zeiten würden sich einstellen, »indem wir zum Guten auf seltsamer Schleife durch die Erkenntnis zurückkehren«.42 Die Frage nach dem Ursprung der Bilder, nach der 34 Ernst Jünger: San Pietro, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 31), S. 348. 35 »Es gibt nur eine Reise, die Lebensreise, und jede zeitliche Bewegung ist einer ihrer Abschnitte. Jedes Tagesziel ist ein Gleichnis des Lebenszieles und sollte ein pilgrim’s progress sein. Sonst haben wir einen verfehlten, unnützen Gang getan, vermehrten die Zahl der leeren Umdrehungen«. Ebd., S. 349. 36 Ebd., S. 304. 37 Ebd., S. 304. In San Pietro äußerte er sich über Blüten folgenderweise: »Die Blüten als Liebesorgane unserer Erde sind wie deren Gipfel, auf deren Licht von einer unseren Augen noch unsichtbaren Sonne kündet, die sie bestrahlt. Von ihnen auf das große Gestirn zu schließen, ist priesterliches Amt«. (Ebd., S. 341). Ähnlich in Serpentara (1957), die als eine Fortsetzung der Sardinien-Reise zu lesen ist: »Die Schönheit hat erzengelhafte Züge und bleibt doch nur ein Bote aus dem Absoluten, der Unaussprechliches verheißt«. (Ebd., S. 369). 38 Ebd., S. 306. 39 Ebd., S. 225. 40 Ebd. 41 In An der Zeitmauer wird noch eine zusätzliche Frage gestellt: »Ist diese neue, über jede Erfahrung hinauseilende Befahrung nicht bereits ein Zeichen dafür, daß wir das Geschichtsfeld schon verließen und Neues sehen«. Ernst Jünger: An der Zeitmauer, in: Ders. Sämtliche Werke. Zweite Abteilung Essays II, Bd. 8: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 480. 42 Ernst Jünger: Reisetagebücher, in: Ders. Sämtliche Werke (wie Anm. 41), S. 304. Auf der anderen Seite ist Serpentara Protokoll einer zweiten Sardinien-Reise Jüngers aus dem Jahr 1955, in dem der Autor die zivilisatorischen Änderungen wahrnimmt und vom Standpunkt seiner früheren Einstellung aus dem Jahr 1954 beurteilt: »Diese Entmythisierung der Welt, die wir verbreiten, als ob wir mit dem Gorgonenschilde ausgerüstet wären, ist beängstigend«.

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ersten Ursache wird nicht beantwortet, nicht einmal gestellt: »Bei solchen Begegnungen, sei es am südlichen Mittag, sei es in unserem Zwielicht, stellt sich die alte Frage: wer hat hier angefangen – der Imaginator oder die Imagines? Doch wichtiger ist wohl, wer das letzte Wort behält«.43 Jünger ist sich dessen bewusst, dass die Fragen nach der »genialen Zweckmäßigkeit«44, die er mit seinem Vater bei der Bewunderung der Natur stellte, »am besten in der Entwicklung der protestantischen Theologie« zu begreifen wären. Andererseits, und hier ist das im Verhältnis zum pragmatischen Positivismus neue Moment, wenn man die »Schöpfung« nicht im »Nacheinander«, sondern im »Nebeneinander des großen Entwurfes« sieht, geht die »Schönheit« »bei weitem der Zweckmäßigkeit voran«.45 Das Protestantisch-Pragmatische tritt zurück und weicht der transzendentalen Unsicherheit, die in der Frage nach dem Imaginator gipfeln könnte, und in der Frage nach dem »letzten Wort« kulminiert. Der Krieg und somit die Geschichte sind im Sarazenenturm in doppelter Hinsicht präsent: Als der Erste und der Zweite Weltkrieg mit ihrer Tatsächlichkeit, die vom Erzähler keinesfalls »verdrängt« wird. Umgekehrt. Beim Treffen mit den Menschen auf Sardinien werden die Kriege sofort thematisiert: »Dabei entspann sich eine Unterhaltung nach dem Muster, das sich überall in Europa entwickelt, wo sich Männer begegnen, die um die Jahrhundertwende geboren sind. Man wird gefragt, ob man im ersten oder zweiten Weltkrieg, vielleicht gar in beiden mitgefochten hat, ob man verwundet wurde, den Vater oder den Sohn verloren hat. Die Namen der großen Schicksalsstätten tauchen auf – Somme, Flandern, Isonzo, Stalingrad. Dabei enthüllt sich, daß man im eigenen Schicksal am Handeln und Leiden großer Figuren teilgenommen hat, die einst vielleicht ein Dichter aus dem Namenlosen beschwören und erlösen wird, in höherer Erinnerung«.46

Jünger entwirft hier die typologisierende Perspektive einer möglichen und künftigen Darstellung des Krieges. Es handelt sich für ihn dabei um Einzelschicksale, die allerdings in Händel der »größeren Figuren« eingebunden sind, wobei die großen Figuren nicht als Menschen, sondern als große geschichtliche Konstellationen zu verstehen sind. Er nimmt das eigene Schicksal aus diesem Spiel nicht aus, was in den letzten Sätzen deutlich sichtbar wird, als er an der Station Carrara Advenza vorbeifährt: »Der Ort war mir bekannt. Carrara-Advenza – dort standen die dunklen Zypressen des Friedhofes von Turigliano mit dem schimmernden Gebirge im Hintergrund«.47

43 44 45 46 47

(Ebd., S. 366). Dieses »wir« weist darauf hin, dass er sich selbst als Tourist nicht aus dem vor sich laufenden Prozess der »Entmythisierung« ausnimmt. Ebd., S. 279. Ebd., S. 310. Ebd. Ebd., S. 250. Ebd., S. 323.

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Dort wurde sein Sohn Ernst in der Endphase des Krieges getötet und beigesetzt. Gerade im Schweigen zeigt sich nicht nur die Pietät, sondern auch leise Zurücknahme des eigenen Schicksals im Angesichte der »größeren Figuren«. Eine andere Dimension der Zeitzeugenschaft im Kriege ist die Entdeckung der zwei Gräber aus dem Ersten Weltkrieg auf San Pietro mit den Heizern von zwei englischen Schiffen, die im April 1918 im Hafen von Carloforte von einem deutschen U-Boot versenkt wurden. Die Grabmale riefen die Erinnerung an ein Kameradentreffen in Wiesbaden zurück, auf dem ein »Unterseebootführer den Tag geschildert, an den die einsamen Gräber erinnerten«.48 Die Geschichte und die Gräber evozieren bei Jünger eine Reflexion zur räumlichen Struktur der Erinnerung, in der das Ereignis noch nicht völlig historisch geworden ist, sondern in der Psyche als präsent, obwohl jenseits der Leidenschaften, haften bleibt: »Ich hatte solche Begegnungen öfters; sie führen hinter die Kulissen der Aktion. Es gibt ein Zwischenreich, in dem nicht mehr die Leidenschaft des Kampfes waltet und das noch nicht in die Geschichte eingegangen ist. In ihm sind die Manen noch unversöhnt«.49

48 Ebd., S. 345. 49 Ebd., S. 346.

Marta Famula (Universität Paderborn)

Die Landstraße jenseits der Bedeutung. Peter Handkes spätes Drama Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße »Wie oft bin ich schmerzlich allein auf der Bühne meines Innern, und dann kommen endlich andre dazu, du und du, manchmal die Völker der Erde, und auf meiner Bühne spielen wir dann nicht, sondern sind einfach zusammen, und in meiner Brust ist es weit und warm geworden«.1

Dramaturgie des Blickes Peter Handke wirkte als Sprengkraft traditioneller, auf mimetische Wirklichkeitserfassung ausgerichteter Theaterformen und Dramenkonzepte in der deutschsprachigen Theaterlandschaft seit den 1960er Jahren. Revolutionär und radikal war damals sein nicht nur auf das Drama bezogenes und vom Formalismus geprägtes Postulat, statt der Handlung die Methode, die Sprache als Mittel der Darstellung, ins Zentrum literarischer Arbeit zu stellen.2 Entscheidender Gegenstand seiner Arbeiten war dabei das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeitserfahrung, das sich zwischen sprachlicher Bewältigungsstrategie und normativer Reglementierung durch Sprache entspann. Seine Sprechstücke der 1960er Jahre Publikumsbeschimpfung (1966) und Kaspar (1967) stellen Sprache als Mittel der Auseinandersetzung mit der Welt aus und markieren eine Öffnung des Dramas hin zur Performance3 sowie zu einem Theater, das sich jenseits der

1 Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg 1982, S. 13. 2 Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt/Main 1972. 3 Zur Bedeutung der frühen Arbeiten Handkes für die Entstehung des Performancetheaters vgl. etwa Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004, S. 25–29. Entscheidend war dabei die Trennung zwischen der literarischen Sprache und deren mimetischem Charakter, so heißt es in der Bemerkung zu meinen Sprechstücken: »Die Sprechstücke sind Schauspiele ohne Bilder, insofern, als sie kein Bild von der Welt geben. Sie zeigen auf die Welt nicht in der Form von Bildern, sondern in der Form von Worten, und die Worte der Sprechstücke zeigen nicht auf die Welt als etwas außerhalb der Worte Liegendes, sondern auf die Welt in den Worten selber«. Peter Handke: Stücke. Bd. 1, Frankfurt/Main 41977, S. 201.

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dramatischen Handlung fortschreibt.4 Diese Poetik der Form, die Handkes literarisches Programm seit seinen Anfängen ausmacht und die mit einer Weigerung, »noch Geschichten zu erzählen«5 die Literatur im Nachkriegseuropa prägte, wandelte sich im Laufe seiner Jahrzehnte langen Schaffenszeit und führte zu immer wieder neuen Varianten des Bühnenschreibens jenseits der Mimesis.6 Im Zuge der dramatischen Auseinandersetzung mit Sprache entstanden so poetische Räume, die nach eigenen semantischen Kriterien funktionierten. Sprache erschöpfte sich dabei nicht in ihrer Funktion als Motor der Handlung, sondern avancierte als solche zum dramatischen Gegenstand, einerseits als performativer Akt in Publikumsbeschimpfung, andererseits im Sinne einer soziound sprachphilosophischen Reflexion als zentraler Bestandteil kultureller und individueller Identität in Kaspar. Eine entgegengesetzte Form nahmen spätere Stücke ein. Hier verzichtete Handke zuweilen ganz auf das Sprechen und legte den Akzent auf ein »Theater des Bildes«,7 das nunmehr den Charakter von Pantomime hatte. Das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeitserfahrung nahm so seine vielleicht radikalste Form an, denn im Verzicht auf Sprache wurde die Offenheit semantischer Zuschreibung umso stärker verdeutlicht und die Funktion der Sprache, Bedeutungszuschreibung zu lenken, indirekt zum Ausdruck gebracht. So nahm sich etwa das Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) als Beschreibung von sprachlosem Geschehen aus, das in der Bühnenumsetzung Züge einer Tanzperformance aufwies, während der Dramentext selbst wie eine anhaltende Regieanweisung anmutete und damit eine dem Zweck geschuldete sprachliche Verbindlichkeit suggerierte. War zuvor Sprache als ein welt- und machtstrukturierendes Medium inszeniert worden, stand nun diese Schilderung des Bühnengeschehens als Beschreibung nonverbaler Interaktion selbst als verbindliches Medium im Zentrum und avancierte allmählich als solche zu einem 4 Zur Rolle der Werke Handkes für die Entwicklung des postdramatischen Theaters vgl. besonders: Hans-Thies Lehmann: Peter Handkes postdramatische Poetiken. Handkeonline (23. 10. 2014), verfügbar unter: http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/lehmann-2012. pdf [Zugriff: 02. 03. 2020]. 5 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (wie Anm. 2), S. 26. 6 So formuliert etwa Hans-Thies Lehmann: »Peter Handkes Interesse gilt dem Theater vor allem aus der Perspektive des Schreibenden. Auch seine wortlosen Stücke sind selbst poetische Texte, keineswegs bloß technische Regieanweisungen, sie sind vielmehr, auch wenn in ihnen nicht gesprochen wird, ebenso sehr ›Theater der Sprache‹ wie die anderen«. Lehmann: Peter Handkes postdramatische Poetiken (wie Anm. 4), S. 67. 7 Vgl. Klaus Kastberger: Lesen und Schreiben. Peter Handkes Theater als Text. Handkeonline (21. 1. 2013) , verfügbar unter: http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/kastberger-2012b .pdf [Zugriff: 02. 03. 2020], S. 39; Eleonora Ringler-Pascu: Peter Handkes episch-philosophisches Drama. Die Unschuldigen. Ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße, in: Attila Bombitz / Katharina Pektor (Hg.): »Das Wort sei gewagt«. Ein Symposium zum Werk von Peter Handke, Wien 2019, S. 182–185.

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dramatischen Gestus, indem der Regieanweisung als beschreibender Instanz nach und nach Züge einer subjektiven Identität zugesprochen wurden. In seinen späten Stücken erschuf Handke beschreibende und erzählende, sehende, imaginierende und träumende Instanzen, deren subjektive Blickwinkel ganz im Sinne einer klassischen Regieanweisung die Koordinaten des Bühnengeschehens vorgeben. Sie machen das Moment der Entdeckung beziehungsweise der Kreation der Welten zum Gegenstand der Stücke und verleihen dem dramatischen Geschehen so einen diegetischen Akzent, der die Verwandtschaft zur aristotelischen Mimesis grundsätzlich untergräbt.8 Diese personifizierte Beobachtung des Bühnengeschehens taucht etwa in Spuren der Verirrten (2006) auf, wo an die Stelle der Regieanweisungen eine beobachtende Instanz tritt, die sich auch irren kann, die über sich selbst, die eigene Beobachtung, das Benennen und Interpretieren des Bühnengeschehens – auch innerhalb der Werktradition Handkes selbst – zu reflektieren beginnt: »Und wieder habe auch ich meinen Platz eingenommen, als Zuschauer. Seit jeher habe ich nichts getan als zuschauen. Und inzwischen ist das meine Rolle geworden.«9 Der Blick und dessen Abhängigkeit von subjektiven und objektiven Voraussetzungen, also emotionalen Zuständen oder den Lichtverhältnissen etwa,10 schafft so eine Art Metabühnenrealität, denn auf diese Weise ist es nicht mehr das Geschehen, das verbindlich ist, sondern die vermittelnde Instanz, auf deren Bericht das Publikum angewiesen ist. Diese verschwindet jedoch nicht hinter einer Regieanweisung, sondern ist als Figur zugleich Bestandteil des Dramas. Die sprachliche Interpretation der Welt wird so explizit an eine subjektive Position gekoppelt und bringt auf diese Weise den relativen Charakter des Verhältnisses von Sprache und Welt zum Ausdruck. Etwa stellt in Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts einzig der Akt des subjektiven Sehens den Rahmen der Handlung dar und lässt die Regieanweisung wie folgt beginnen: »Was sehe ich da? Sieht das dort nicht aus wie ein Grabmal für die römischen Ehepaare einstmals, Mann und Frau nebeneinander wie aus dem Stein gehauen – nur sind das

8 Das Erträumen des Geschehens und damit die Abgabe der Verantwortung über das Geschriebene findet sich bereits früher in Prosatexten Handkes, etwa im Werk: Der Chinese des Schmerzes, wozu er sich in einem Interview erinnert: »Bei dem Chinesen des Schmerzes hab ich mich extra hingesetzt und gedacht: Nein, ich will nicht wissen, wie’s anfängt. Hab ich einfach nur die Augen zugemacht und bin Stunden gesessen, und aus diesen geschlossenen Augen ist dann eben der erste Satz entstanden, wo Autor und Leser ein und dieselbe Person sind.« Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch geführt von Herbert Gamper. Zürich 1987, S. 34. 9 Peter Handke: Spuren der Verirrten, Frankfurt/Main 2006, S. 7. 10 Dies ist etwa im Monolog Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts virulent, vgl. Peter Handke: Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog. Deutsche Version (2008) und Französische Erstschrift (2007), Frankfurt/Main 2009.

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nicht bloß die beiden Köpfe, sondern ganze Figuren, ein Paar zudem wie in Lebensgröße, und losgelöst von dem gemeinsamen Stein, oder was das ist […]«.11

Literarische Eigenwelten Der individuelle Blick der zwischen Zuschauer und Drama geschalteten diegetischen Instanz, die sich gewissermaßen aus der Idee der formalen Regieanweisung zu einer autonomen Figur emanzipiert hat, stellt das dramatische Geschehen als eine Interpretation aus, deren Kriterien vorderhand kontingent sind. Das Geschehen sowie dessen Vermittlung nehmen sich als relative Größen aus, die erst in Relation zueinander Verbindlichkeit erzeugen; das Geschehen erhält hier seine immanente Verbindlichkeit sowie seine semantische Struktur durch die subjektive Perspektive der vermittelnden Instanz. Auf diese Weise entstehen Eigenwelten, die sich den Gesetzmäßigkeiten der Realität entziehen, da sie einer Ordnung folgen, die subjektiv erdacht wurde.12 Die Dramenhandlung erweist sich so als das Zusammenspiel von Sprache und Bild, die beide jenseits gängiger semantischer Koordinaten angesiedelt sind und die in romantisch konnotierten Grenzübergängen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod, zwischen Licht und Dunkel spielen13 und dabei zugleich nur schwer innerhalb der aktuellen Theaterlandschaft verortbar sind:

11 Ebd., S. 7. Die Unterscheidung zum auf den ersten Blick verwandten epischen Theater Brechts erweist sich hier als aufschlussreich, denn das geschilderte Geschehen verweigert nach wie vor beharrlich den Anspruch, die Wirklichkeit darzustellen, und hält so an jener Kritik des Brechtschen Theaters fest, die Handke in seinem frühen programmatischen Text Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967) formuliert hatte: »Auch Beckett und Brecht hatten nichts mit mir zu schaffen. Die Geschichten auf der Bühne gingen mich nichts an, sie waren, statt einfach zu sein, immer nur Vereinfachungen.« Vgl. Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (wie Anm. 2), S. 27. 12 In seinen aphoristischen Aufzeichnungen Phantasien der Wiederholung hatte Handke diese Form als charakteristisch für das Schreiben in der Gegenwart formuliert: »Goethe stand der Raum, in den er hineinschreiben konnte, im großen und ganzen frei da; einer wie ich muß diesen Raum erst schreibend schaffen (wiederholen); daher ist das, was ich tue, vielleicht lächerlich? Nein«, vgl. Peter Handke: Phantasien der Wiederholung, Frankfurt/Main 1983, S. 75. 13 Etwa nimmt sich die Handlung des Monologs Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts gleich in mehrfacher Hinsicht als Zwischenwelt aus: Im titelgebenden Zwielicht zwischen hell und dunkel und in einem Zwischenraum zwischen Leben und Tod lotet eine tote weibliche Figur die Grenzen zwischen Sprechen und Schweigen, Männlichkeit und Weiblichkeit, Leben und Tod neu aus und verleiht dabei einer längst Geschichte gewordenen Figur aus Becketts Drama Krapp’s Last Tape (1958) postum eine Stimme, wodurch sie zugleich eine intertextuelle Antwort auf das Schweigen des Existenzialismus verkörpert, vgl. Handke: Bis daß der Tag euch scheidet (wie Anm. 10).

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»Wo ist in diesem artifiziellen urbanen Raum des Theaters Platz für die zaudernde, sich selbst und die begegnende Umwelt stets verunsichert beschwörende Schreibweise Handkes? Für die Verschränkung von Ich, Welt und Sprache darin, die ebenso gern wie oberflächlich als ›Innerlichkeit‹ apostrophiert und abgetan wird? Für die Kontemplation der Natur, die als Anders-Zeit, contre-temps, Heterotopie eine so bedeutende Rolle bei ihm spielt?«14

Diese Eigenwelten, die programmatisch »außerhalb der Normalzeit, wie manche Sommertage«15 liegen, sind nicht zu trennen von der Sprache, die sie performativ entstehen lässt. So manifestiert sich als Kern von Handkes dramatischem Schreiben das Verhältnis zwischen dem kreativen und dem normativen Potential von Sprache und damit ein sprachphilosophisches Anliegen, das zu Handkes frühesten theoretischen Positionen gehörte: die Skepsis gegenüber der Verfügbarkeit der Wirklichkeit durch Sprache und im Gegenzug das Potential der Sprache, Wirklichkeitserfahrung zum Ausdruck zu bringen: »Was die Wirklichkeit betrifft, in der ich lebe, so möchte ich ihre Dinge nicht beim Namen nennen, ich möchte sie nur nicht undenkbar sein lassen. Ich möchte sie erkennbar werden lassen in der Methode, die ich anwende«.16

Ich, Erzähler – Ich, der Dramatische Dieses früh formulierte Postulat, einen geistigen Raum zu schaffen, in dem Sprache gerade dort zur Ausdrucksmöglichkeit wird, wo sie sich ihrer Funktion als kommunikativer Nutzen entzieht, erfährt in seinem späten Drama Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten (2015) nachhaltige Umsetzung. Explizit wird in diesem Drama Imagination als Entstehung der Handlung ausgestellt: Ein Erzähler-Ich imaginiert den Ort des Geschehens: eine abgelegene Landstraße, die allmählich mit Figuren bevölkert wird. Zuerst erdenkt das Erzähler-Ich eine dramatische Va14 Lehmann: Peter Handkes postdramatische Poetiken (wie Anm. 4), S. 67. 15 Peter Handke: Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog, Frankfurt/Main 2012, S. 17. 16 Vgl. Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (wie Anm. 2), S. 25. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder auf die Verwandtschaft zur Kunstphilosophie Martin Heideggers verwiesen. Überzeugend scheint dabei die Beobachtung einer Wahlverwandtschaft zwischen der Philosophie Heideggers und der Poetik Handkes zu sein, die vor allem hinsichtlich der Bedeutung poetischer Sprache punktuelle Gemeinsamkeiten aufweisen, allerdings wenig Anlass zu der Vermutung geben, Handkes Position basiere auf einer intensiven Auseinandersetzung mit der Philosophie Heideggers. So macht Ulrich von Bülow deutlich, dass Handkes Interesse an Heideggers Werk eher assoziativer und inspiratorischer als wissenschaftlich konzentrierter Natur ist, vgl. Ulrich von Bülow: Raum Zeit Sprache. Peter Handke liest Martin Heidegger, in: Anna Kinder (Hg.): Peter Handke: Stationen, Orte, Positionen, Berlin 2014.

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riante seiner Selbst und füllt die Landstraße anschließend Kraft seiner Imagination mit weiteren Figuren, die als Akteure des Dramas fungieren: ein Kollektiv an ›Unschuldigen‹, aus deren Menge sich zeitweise ein ›Häuptling‹, dessen Frau sowie ein ›Doppelgänger‹ des dramatischen Ich herauskristallisieren, gefolgt von einer lang erwarteten weiblichen Figur, die als die ›Unbekannte von der Landstraße‹ vorgestellt wird. Als ausschlaggebend erweisen sich dabei weniger die erdachten Personen als vielmehr der Vorgang selbst, der im Akt des Träumens und des laut Vorerzählens besteht: »Kommen lassen. Anfliegen lassen. Träumen lassen. Hellträumen. Umfassend träumen. Verbindlich! Freiträumen. Wen? Mich? Uns? Traumtanzen lassen. Gestalten lassen. Umgestalten lassen. Aufeinandertreffen lassen. Wen mit wem aufeinandertreffen lassen? Wen gegen wen? Kommen lassen erst einmal die Szenerie: Und da kommt sie, da erscheint sie, da fliegt sie mich an, da erstreckt sie sich, die Landstraße, vorderhand leer. Und indem ich mir das laut vorerzähle, ist die Straße auch schon bevölkert mit mir, der ICH am Rand der Straße daherschlendere, mit ausgreifenden, epischen Schritten, vorderhand allein«.17

Durch den Akt des (magischen) Aussprechens der Imagination wird in der Form der beiden Ich-Varianten eine Welt auf die Bühne gebracht, die zwei zentralen Aspekten der Sprache Gestalt gibt: In der Figur des Erzähler-Ichs tritt das schöpferische Potential von Sprache zutage, die Fähigkeit, durch individuelle Verwendung von Sprache Realität zu schaffen,18 während im dramatischen Ich, das als Teil der Imagination des Erzähler-Ichs diesem untergeordnet ist, die Möglichkeiten der Sprache als Kommunikationsmittel durchgespielt werden. Die vielschichtige Beziehung zwischen beiden Ich-Variationen, die nicht zuletzt in der Abhängigkeit beider voneinander besteht, schafft dabei zweierlei: Einerseits wird hier die besondere Form als Gleichzeitigkeit von Mimesis und Diegesis manifestiert, andererseits wird die Spannbreite des sprachphilosophischen Anliegens abgesteckt, die sich zwischen dem schöpferischen Potential individueller Sprache und dessen Grenzen angesichts kommunikativer Anforderungen erstreckt. Die beiden Ich-Varianten nehmen sich damit als zwei Momente einer Kippfigur aus, wobei die permanente Präsenz des jeweils anderen zentrale Funktion für den hier vorgestellten Gedanken zur Sprache hat. Das Erzähler-Ich ist dabei dasjenige, das die Landstraße und damit das Bühnengeschehen erschaffen hat, während sich das dramatische Ich als Wächter der Landstraße

17 Peter Handke: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten, Berlin 2015, S. 7. 18 In ganz besonderer Form kommt dieser Aspekt der Sprache in Handkes Drama Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog zum Ausdruck, wo geradezu in der Form einer Experimentanordnung Sprache für bislang nicht sprachlich Ausgedrücktes gesucht wird, vgl. Handke: Die schönen Tage von Aranjuez (wie Anm. 15).

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ausnimmt und damit als Beschützer des schöpferischen Potentials der Sprache fungiert, das den übrigen dramatischen Figuren nicht bewusst ist.

Die Landstraße – die Sprache Derart zwischen Dramatik und Prosa angelegt, wird eine imaginierte Welt erschaffen, deren Koordinaten nicht durch Realitätserfahrung, sondern durch Sprache festgelegt werden. Alle ihre Bestandteile, die Landstraße, das dramatische Ich, die Unschuldigen sowie die Unbekannte vom Rand der Landstraße, stehen innerhalb eines eigens performativ entstehenden Universums, dessen Raum und Zeit der schöpferischen Sprache und damit nicht zuletzt der Poesie verpflichtet sind und nur innerhalb dieser Koordinaten eine semantische Ordnung ermöglichen. Die Landstraße wird dabei einerseits als ein literaturhistorisch besetzter Topos eingeführt, an dem irdisches Dasein in seiner überzeitlichen Bedeutung zum Tragen kommt, andererseits stellt sie innerhalb der Logik des Stücks eine Phantasie dar, die zugleich als ein visueller Ort des dramatischen Geschehens und als sprachliche Schöpfung relevant ist und innerhalb des Stücks reflektiert wird. In diesem Sinne behandelt das Stück selbst die Landstraße als sprachliche Metapher, die zugleich als Weg und damit auch als Möglichkeit, als Ausweg, verstanden werden kann und somit – auch hier nicht ohne Reminiszenz an Topoi der Romantik – als Ausdruck für Progressivität und Grenzüberschreitung denkbar wird. So wird die Landstraße als Weg und damit als Möglichkeit reflektiert, das eigene Ende des dramatischen Stücks sprachlich zu fassen und überwindbar zu machen: »Nichts da. Kein Ende. ›Poros‹, im alten Griechisch, ›der Weg‹. ›Aporia‹, Aporie, die Ausweglosigkeit. […] Oder auch bloß die Weglosigkeit. Oder: Die Unwegsamkeit«.19 Die poetische Dimension der Landstraße, die mithin Ergebnis der Imagination sowie der Sprache ist, wird dem Stück in drei Zitaten vorausgeschickt: 1. »Go sleep and hear us«20 aus William Shakespeares, The Tempest, 2. »In ihrer Erdenzeit sehnt sich die Seele nach dem reinen Ruf«.21 aus dem lyrischen Werk von Ibn al-Fa¯rid Das Muster der Wege sowie 3. »Wir aber, auf der Allerweltsland˙ straße…«22 aus Goethes Brief an Marianne von Willemer vom 13. Januar 1832, einer Situation, in der gerade eine Choleraepidemie überstanden war. Die drei aus unterschiedlichen literaturhistorischen Kontexten entnommenen Worte akzentuieren drei Aspekte, die für Handkes Stück entscheidend sind: das Po19 Handke: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (wie Anm. 17), S. 176. 20 Ebd., S. 5. 21 Ebd. 22 Ebd.

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tential träumend die Sinne zu schärfen und damit das paradoxe Anliegen, durch den Traum das Geschehen schärfer fassen zu können, bei Shakespeare, den Wunsch nach einer über das irdische Dasein erhabenen Wahrheit im Vers Ibn alFa¯rids, sowie den hoffnungsvollen und zugleich schicksalshaften Fortgang der ˙ Dinge nach einer überstandenen Cholera-Epidemie. Entscheidend nimmt sich dabei der poetische Charakter der Zitate aus, die erst durch die Zusammenschau ihrer metaphorischen Bedeutung rein auf der Ebene sprachlicher Schöpfung die semantischen Koordinaten für Handkes Landstraßenwelt festlegen. Der bereits in der Anordnung des erzählenden und des dramatischen Ich zum Ausdruck gebrachte Wert der Sprache wird damit intertextuell ausgedrückt und verortet die Traumwelt in Handkes Stück innerhalb eines umfassenden literarischen Kosmos. Innerhalb der Logik dieser durch poetische Sprache geschaffenen Ordnung wird die Landstraße als Metapher für Sprache verstehbar, die nicht auf ihren Nutzen als Bewältigung der Welt reduziert ist, sondern Dimensionen beinhaltet, die deren Kontingenz und Unverfügbarkeit Rechnung tragen: »Die ist der letzte freie Weg in die Welt, der letzte nichtverstaatlichte, nichtvergesellschaftete, nichtgeographierte, nichtgeologisierte, nichtbotanisierte, nichtgegoogelte, nichtöffentliche und nichtprivate Weg auf Erden. Der letzte freie Weg? Schlicht-undeinfach der letzte Weg«.23

In der bisher gesehenen sprachlichen und sprachreflexiven Logik des Stücks steht der Weg damit als ›poros‹ für einen Ausweg, eine Möglichkeit, die in poetischer Sprache zum Ausdruck kommt. Die Landstraße wird zum Bild für poetische Sprache, deren Wert sich dem Kollektiv der Unschuldigen mit seinen Maßstäben der Kommunikation entzieht. Diese bleiben auch dem Ich verständnislos gegenüber als demjenigen, der sich als »Idiot«24 dem Kollektiv entzieht und kein funktionales Mitglied der Gesellschaft darstellt: »Nur eins weiß ich nicht: Wie es kam, daß du den Sinn für das Wirtschaften, wie gesagt, Wirtschaften in jeder Spielart, wie du die Freude am Spiel, an jedem Spiel, dann verloren hast – wie du vom seligen zum armseligen Einzelgänger mutiert bist, Nachbar«.25

Diesem utilitaristischen Konzept von Wertigkeit stellt das Ich indessen die Idee der Landstraße als einen Wert entgegen, der nur aus sich selbst verstehbar ist und normativen Wertesystemen gegenüber unverfügbar bleibt: »Ich wirtschafte immer noch, Meister, vielleicht begeisterter denn je. Wie, das wird dir im Lauf der Begebenheiten noch klar werden. Die Straße hier ist für mich ein Wert 23 Ebd., S. 33. 24 Ebd., S. 47. Dabei ist freilich nicht in erster Linie die Beleidigung gemeint, sondern der Verweis auf die private Lebensform. 25 Handke: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (wie Anm. 17), S. 118.

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geblieben – ein Wertgegenstand sondergleichen. Nur ist ihr Wert nichts für einen Markt – oder doch! Für welchen, wird dir im Verlauf der Begebenheiten noch klar werden. Und der Wert der Straße, der wird sich steigern und steigern im Lauf der Zeit. Er wird auch ein Bankwert sein, auch. Alle anderen Werte werden zusammenkrachen, und mit ihnen alle Banken, die den einen Wert hier nicht führen, nicht geführt haben, nicht geführt haben werden. Die Straße hier wird siegen! Time is on her side –«.26

Landstraße, Ausweg und eine der Nützlichkeit sich entziehende Sprache bilden hiermit einen semantischen Rahmen für die Wertigkeit, die sich als Möglichkeit politischer Sprache per se lesen lässt, mit der jener »reine Ruf« möglich wäre, den Handke Ibn al-Fa¯rid zitierend als Vorzeichen seiner Landstraßenimagination ˙ voranstellt. Und während das Ich die eigene, begrifflich nicht fassbare Dimension der Werthaftigkeit der Landstraße preist, besteht die Antwort des Häuptlings in der Korrektur der Grammatik sowie in der Feststellung der Nutzlosigkeit des Landstraßenwertes: » – its side! […] Nicht mehr als ein Seltenheitswert, so wie das allerletzte Schotterhäuschen an der Straße, außer Gebrauch, das ich abtransportiert und in meinen Vorgarten gestellt habe, zusammen mit anderem Ausgedienten, der Schubkarre, der Egge, dem Pflug«.27 Entlang dieser Achse der Landstraßenwertigkeit entsteht auf inhaltlicher wie performativer Ebene eine Gegenüberstellung zwischen dem Nutzen von Sprache und jenem Bereich der Sprache, der mit Kriterien der Nützlichkeit nicht fassbar ist, wobei beide ineinander übergehen und nicht klar voneinander zu trennen sind. Während der Wert der Sprache für den Häuptling der Unschuldigen in der Nützlichkeit und damit im korrekten Gebrauch der Sprache liegt, liegt der Wert für das Ich im Potential der Sprache, jenseits von Bedeutung, so preist es die »Wahrheit des Klangs. So wie ich manchmal: Arschficker! sage, allein um des Klangs willen. Sprechen zeitweise allein des Klangs wegen! Klang wird gebraucht – mehr denn je!«28 So war es auch das magische Potential des ›laut Vorerzählens‹, das die Landstraßenwelt zur Existenz gebracht hatte, und so wird die existenzielle Bedeutung der Sprache im Bild der Landstraße mit der Unverfügbarkeit gegenüber der Sinngebung zusammengebracht, denn es heißt, die Straße sei »[d]ie letzte Bedeutungslosigkeit. Die ultimative Sinnfreiheit.«29

26 27 28 29

Ebd., S. 121. Ebd., S. 122. Ebd., S. 35. Ebd., S. 142.

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Ambiguität der Sprache Die Unschuldigen, die an Siegfried Lenz’ Drama Zeit der Schuldlosen (1962) erinnern, in dem innerhalb der Gruppe der Unschuldigen die Schuld ungreifbar verborgen, doch latent vorhanden ist, verkörpern indessen den normativen und restriktiven Aspekt der Sprache: Sie bringen ihre Zeit damit zu, sich gegenseitig die Grammatik zu korrigieren, wobei eine Kluft zwischen Sprache und Erleben virulent bleibt. Der Umgang der Unschuldigen mit Sprache ist dabei stark an ökologischen Strategien der Nutzung orientiert, etwa wird die Zukunft gleichermaßen gekauft und sprachlich geplant: »Im Herbst werde ich dort sein. Flug, Schiff und Hotel sind schon gebucht, vor einem Jahr, zum Billigsttarif. Heute müßte ich für so eine Reise Astronomisches hinlegen, mein Portemonnaie ein schwarzes Loch. Achtung, Wortspiel!«30 Sprachliche Benennbarkeit geht dabei einher mit finanzieller Verfügbarkeit und weist beides als einen vermeintlichen Weg aus, der Kontingenz der Existenz entgegenzutreten. Ereignisse, die weit in der Zukunft liegen, werden benannt, wodurch die Möglichkeit suggeriert wird, die Ungewissheit der Existenz durch Sprache einerseits und durch finanzielle Mittel andererseits zu bewältigen: »Um auf meine Tahiti-Reise zurückzukommen: Alle Stationen sind seit Jahren festgelegt, Ankunfts- und Abfahrtszeiten vertraglich garantiert, ein Traum von einer Reise, ein nie erlebtes Abenteuer. Ich weiß schon jetzt, wo ich am elften November, meinem Geburtstag, nachtmahlen werde: Im Restaurant ›Paul Gauguin‹, im Hafen von Tahiti City, Tisch Nr. 36 – so alt werde ich dann sein –, und ich weiß darüber hinaus, was ich dort im einzelnen bestellen werde: Anfangen werde ich mit den vom Reiseführer empfohlenen Tahiti-Austern, Geschmacksmischung Zitronengras und BretagneSchlamm, und sie werden mir auf der Zunge zergehen, ich weiß das, ich spüre das«.31

Die Funktion der Sprache, der Welt Struktur zu verleihen und sie so verfügbar zu machen, nimmt sich in der Folge als der eigentliche Gegenstand der dramatischen Ebene aus: So ist die Landstraße übersät von Zettelchen, die Zeugnisse jener Strategien sind, mit denen die Wirklichkeit fassbar und verfügbar gemacht werden soll, einerseits in Form von Kassenbons und Produktinformationen: »Frostbeulenpomade eins achtundachtzig / Ekzemol vier zwanzig / Hühneraugenpflaster drei zwanzig // – – Carratera-Burger dreihundert Gramm / Landstraßensenf zwanzig Gramm / zwölf Prozent Süßstoff, sechs Prozent Quittenessig / Magistralenwein, Megaflasche fünf Liter, ein Euro neunzig, enthält Sulfite … – – // Rauchen macht impotent … // 4-4-2? 3-4-3? // Gutscheincode Q 4EQ-MHG … // Naß in Form ziehen / liegend trocknen / nicht bleichen // Schwach schleudern / naß aufhängen // Patricia, 0172498900, sucht einen wahren Mann / Sie wird sehr schnell heiß und hält die Wärme 30 Ebd., S. 72. 31 Ebd., S. 73.

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lange // Hop on – Hop off//«32, andererseits in Form von Fürbitten: »Liebe Gottesmutter von der Landstraßeneiche: Hilf meinem Mann, daß er endlich wieder Arbeit findet, er ist doch noch gar nicht alt, und daß wir beide aneinander nicht verzweifeln, und daß der Krebs meines Bruders…«.33

An dieser Stelle kommt zugleich die Ambiguität der Sprache zum Tragen: Während das Ich diese Zeugnisse der sprachlichen Organisation und Beschwörung der Welt einsammelt und auf diese Weise die Landstraße von diesen freimacht, hebt es sie zugleich performativ auf, denn indem es diese aus ihren Kontexten herausnimmt und laut vorliest, verlieren sie ihre Nützlichkeit und werden vielmehr zu einem rein sprachlichen Ereignis, dessen Klang und Semantik für sich stehen. Das Ich bringt ihnen so geradezu die zuvor der Landstraße attestierten Qualitäten von ›Bedeutungslosigkeit‹ und ›ultimativer Sinnfreiheit‹ wieder zurück und zeigt damit das Potential der Sprache auf, das ganz im Sinne der Landstraße im Alltäglichen angelegt ist. Allein durch den Blickwinkel auf die aufgeschriebenen Sätze wird es möglich – ähnlich der Kippfigur des Ich – die Gleichzeitigkeit von Sinn und Sinnfreiheit zu zeigen.

32 Ebd., S. 108. 33 Ebd., S. 106.

Piotr Majcher (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie)

Reaktionen auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke in ausgewählten polnischen Presseartikeln

Einleitung Peter Handke ist sicherlich einer der bekanntesten zeitgenössischen österreichischen Schriftsteller. Sein Werk umfasst jedoch nicht nur Romane, Erzählungen, Dramas, sondern auch Hörspiele, Gedichte sowie Zeichnungen. Darüber hinaus wirkte er als Drehbuchautor sowie Übersetzer unterschiedlicher Texte der Weltliteratur. Der 1942 geborene Autor wurde seit 1991 in der Welt vor allem als eine Person mit einer spezifischen Haltung zu den Konflikten auf dem Balkan bekannt. Zur Überraschung vieler vertrat Handke nicht die in den westlichen Massenmedien präsentierte Darstellung der Krisensituation, was zur Folge hatte, dass er heftig kritisiert wurde. Aus diesem Grund wurde auch die Entscheidung der Schwedischen Akademie, Handke 2019 den Literaturnobelpreis zu verleihen, von vielen Kreisen nicht akzeptiert. Im Kosovo sowie in Sarajevo wurde er sogar zur Persona non grata erklärt. Den polnischen Lesern ist vor allem Handkes spezifische Wahrnehmung der Kriege auf dem Balkan in den 1990er Jahren bekannt, die bei den meisten Unverständnis hervorgerufen hat. Viele seiner neueren Texte wurden daher auch nicht ins Polnische übersetzt. In den polnischen Buchhandlungen und Bibliotheken sind vorwiegend seine Bücher aus den 1960er und 1970er Jahren zu finden. Es ist aber damit zu rechnen, dass der im Oktober 2019 verliehene Nobelpreis für Literatur diesen Sachverhalt ändert. Darüber berichtet beispielsweise dziennik.pl in dem Artikel Peter Handke, literacki noblista powraca po polsku [Peter Handke, der Literaturnobelpreisträger kehrt auf Polnisch zurück], wo darauf hingewiesen wird, dass die ins Polnische übersetzten Texte von Handke aus den Antiquariaten verschwanden, nachdem er den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hatte. Dem Bericht zufolge, beabsichtige einer der Verlage in Polen (Esperons-Ostrogi), noch im Jahre 2020 einige Texte des österreichischen Nobelpreisträgers neu herauszugeben, dazu zählen: Begrüßung des Aufsichtsrats [Powitanie rady nadzorczej] (1967), Wunschloses Unglück (1972) [Pełnia nieszcze˛s´cia], In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997)

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[Pewnej ciemnej nocy wyszedłem z mojego cichego domu] und Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) [Krótki list na długie poz˙egnanie]. Im Herbst 2020 sind Kaspar (1968), Publikumsbeschimpfung (1966) [Publicznos´c´ zwymys´lana], Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) [Jestem mieszkan´cem wiez˙y z kos´ci słoniowej], Der Große Fall (2011) [Wielki upadek] sowie Kali (2007) zu erwarten. Die Herausgabe von Handkes neuestem Roman Das zweite Schwert ist in polnischer Übersetzung [Drugi miecz] angekündigt. Auf Deutsch wurde er im Februar 2020 veröffentlicht.1 Dank dieser Übersetzungen erhalten die polnischen Rezipienten die Gelegenheit, selber einzuschätzen, ob der österreichische Autor tatsächlich für eine solch kontroverse Persönlichkeit gehalten werden sollte. Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, ausgewählte polnische Presseberichte, die sich auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke beziehen, zu analysieren, um die Frage zu beantworten, wie dieser Sachverhalt in Polen wahrgenommen wurde und auf welche Meinungen die Entscheidung der Schwedischen Akademie stieß.

Ausgewählte Presseartikel am 10. Oktober 2019 Das Jahr 2019 war ein besonderes Jahr im Bereich des Literaturnobelpreises: Da 2018 kein Nobelpreis für Literatur vergeben wurde, wurden 2019 gleich zwei Preise verliehen. Ausgezeichnet wurden Peter Handke für das Jahr 2019 sowie die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk für das Jahr 2018. Und eben diese Tatsache war in den polnischen Pressemeldungen vorherrschend. Am Tag der Bekanntgabe der Entscheidung der Schwedischen Akademie (10. Oktober 2019) konzentrierten sich die polnischen Presseagenturen verständlicherweise hauptsächlich auf die Person von Olga Tokarczuk. Sie stellten ihre Biographie vor, erinnerten an ihr Werk und zitierten auch die Würdigung des Nobelpreiskomitees, das Tokarczuk besonders für ihre »erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform darstellt«,2 lobte. Erst allmählich wurde in den Presseberichten auch Peter Handke eine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Am 10. Oktober 2019 führt die Gazeta.pl in dem Bericht Austriak Peter Handke laureatem literackiej Nagrody Nobla 2019 [Der Österreicher Peter Handke ist Literaturnobelpreisträger des Jahres 2019] die Begründung der Schwedischen Akademie an, warum sie den 1 Vgl. Peter Handke, literacki noblista powraca po polsku, in: dziennik.pl, 9. Juli 2020, https://kul tura.dziennik.pl/ksiazki/artykuly/7767852,peter-handke-powiesc-po-polsku.html [Stand: 28. 08. 2020]. 2 Anna Auguscik: Olga Tokarczuk. Die Raumzeitreisende, in: zeitonline, 10. Oktober 2019, https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-10/olga-tokarczuk-literaturnobelpreis-wuerdigung [Stand: 29. 08. 2020].

Reaktionen auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke

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österreichischen Schriftsteller mit dem Preis ausgezeichnet hat. Der Bericht enthält einen sehr kurzen Lebenslauf Handkes sowie einen Hinweis, dass er ein Autor von Texten ist, die sich stilistisch und gattungsspezifisch sehr voneinander unterscheiden, ohne jedoch weiter auf Einzelheiten einzugehen. Der Bericht charakterisiert nicht das Werk von Handke und nennt auch nicht die Hauptthemen seines Schaffens. Die einzige Ausnahme bildet Handkes Essay Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, dessen Inhalt die Gazeta.pl in einem Satz zusammenfasst und betont, dass er die Serben als Opfer des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien darstellt, was weltweit viele Kontroversen hervorgerufen habe. Der Bericht informiert auch darüber, dass Handke am Begräbnis von Slobodan Milosˇevic´ teilgenommen und eine kontroverse Rede gehalten hatte. In diesem kurzen Bericht dominieren also die Worte »kontrovers« und »Kontroversen«. Nach der Lektüre des Artikels von Gazeta.pl kann dem polnischen Rezipienten, dem das Werk des österreichischen Schriftstellers unbekannt ist, Peter Handke als ein äußerst kontroverser Autor erscheinen, der die Geschichte fälscht.3 Auf eine ähnliche Art und Weise berichteten andere polnische Online-Zeitungen und Internetportale am Tag der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019: Sie richteten ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf Olga Tokarczuk und schrieben nur oberflächlich über den Preis für Peter Handke. Manche, wie zum Beispiel Polska Times, beschränkten sich nur auf die Mitteilung, dass dem Österreicher Peter Handke der Preis verliehen wurde. Die knappe Information wird lediglich mit der Begründung des Komitees ergänzt, dass Handke der Preis verliehen wurde, weil er in seinen Werken mit linguistischem Einfallsreichtum die Peripherie und die Spezifität der menschlichen Erfahrung erforscht habe. In dem Artikel sind keine anderen Fakten über den österreichischen Nobelpreisträger zu finden.4 Auch die größte polnische Zeitung in der Ukraine, Kurier Galicyjski [Galizischer Kurier], beschäftigte sich am 10. Oktober 2019 viel intensiver mit der polnischen Literaturnobelpreisträgerin als mit dem Österreicher. Die Internetausgabe der Zeitung (auf dem Internetportal onet.pl basierend) stellt eine kurze Biographie Olga Tokarczuks und den Inhalt ihrer wichtigsten Werke vor. Dagegen beanspruchen die Informationen über Peter Handke deutlich weniger Platz: 3 Vgl. Austriak Peter Handke laureatem literackiej Nagrody Nobla 2019, in: Gazeta.pl, 10. Oktober 2019, https://kultura.gazeta.pl/kultura/7,114528,25294140,austriak-peter-handke-laure atem-literackiej-nagrody-nobla-2019.html [Stand: 29. 08. 2020]. 4 Vgl. Wojciech Rogacin: Literacka Nagroda Nobla. Olga Tokarczuk otrzymała Nobla z literatury za 2018 rok. Peter Handke laureatem nagrody za 2019 rok, in: Polska Times, 10. Oktober 2019, https://polskatimes.pl/literacka-nagroda-nobla-olga-tokarczuk-otrzymala-nobla-z-liter atury-za-2018-rok-peter-handke-laureatem-nagrody-za-2019-rok/ar/c13-14490079 [Stand: 30. 08. 2020].

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Nach der Anführung der Würdigung der Akademie wird in wenigen Worten an Handkes Lebenslauf erinnert. In dem Artikel werden auch die Titel drei seiner Texte aus den 1970er Jahren erwähnt, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass zwei Erzählungen, Die Stunde der wahren Empfindung (1975) und Die linkshändige Frau (1976), irrtümlich als ein Text betrachtet wurden. Der Bericht zitiert auch die Worte Handkes aus dem Jahre 2014, als er forderte, dass der Literaturnobelpreis endlich abgeschafft werden solle, weil er lediglich einen Moment der Aufmerksamkeit und eventuell noch sechs Seiten in der Zeitung bringe; auf das Lesen der Werke des Preisträgers habe er dagegen keine Auswirkung. In dem Beitrag wird hervorgehoben, dass Handkes Werk von Anfang an einen sublimierten provokativen Charakter haben und die politische Meinung bzw. das politische Engagement des Schriftstellers vermitteln sollte. Es werden dazu jedoch keine genaueren Informationen gegeben, was sich auf die Darstellung des Schaffens von Handke sehr negativ auswirken könnte.5 Eine andere Betrachtungsweise von Peter Handke ist in dem Artikel der polnischen Presseagentur (Polska Agencja Prasowa) Peter Handke laureatem Literackiego Nobla za rok 2019 [Peter Handke ist Literaturnobelpreisträger des Jahres 2019] festzustellen. Der Text gab einen umfangreicheren Überblick über das Leben sowie über das literarische Werk des österreichischen Autors. Der Leser erhielt hier Informationen über die slowenische Herkunft der Mutter Handkes und über seinen deutschen Vater Erich Schönemann, einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten, den er das erste Mal als Erwachsener traf. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die Schwedische Akademie in ihrer Begründung betont habe, dass Handke als Meister der Beschreibungen von Landschaften und von Details der Wirklichkeit gelten könne. Der Artikel berichtete auch darüber, dass die Malerei und das Kino zu den wichtigsten Inspirationsquellen des Literaturnobelpreisträgers 2019 zählen. Ebenfalls zum Ausdruck gebracht wurde, dass sich Handke mit Franz Kafka vergleichen würde, da sich beide Autoren gegen das aufgezwungene Erbe ihrer Vorfahren aufgelehnt hätten. Diese Behauptung wird allerding nicht weiter ausgeführt. Der Artikel nannte auch viele Titel der Werke Handkes und die wichtigsten Themen seines Schaffens. Ebenfalls erhielt der Leser Informationen darüber, welche Stücke des österreichischen Autors in Polen aufgeführt worden waren. Der Artikel führte zusätzlich positive Meinungen verschiedener Personen, wie beispielsweise der österreichischen Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin von 2004, Elfriede Jelinek, oder des Präsidenten von Österreich, Alexander Van der Bellen, an. Hier erfährt der Leser, 5 Vgl. Literacka Nagroda Nobla 2018 i 2019. Olga Tokarczuk i Peter Handke laureatami!, in: Kurier Galicyjski, 10. Oktober 2019, https://www.kuriergalicyjski.com/actualnosci/7994-litera cka-nagroda-nobla-2018-i-2019-olga-tokarczuk-i-peter-handke-laureatami [Stand: 30. 08. 2020].

Reaktionen auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke

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dass Alexander Van der Bellen die Meinung vertrete, dass Handke ein Schriftsteller sei, dessen ruhige und ergreifende Stimme seit Jahrzehnten faszinierende Welten, Orte und Menschen schaffe. Elfriede Jelinek habe ihrerseits die Meinung vertreten, dass Österreich auf Handke stolz sein könne und dass der Nobelpreis ihm eigentlich vor ihr zugestanden hätte. In dem Artikel wird der Objektivität halber auch auf die proserbische Haltung von Handke eingegangen, allerdings spielt dieses Thema keine dominierende Rolle. Auch wenn die proserbische Haltung Handkes ein Faktum ist, muss man vor Augen haben, dass das Werk Handkes verschiedene Aspekte betrifft und es sich nicht nur auf Serbien und Slobodan Milosˇevic´ konzentriert.6 Festzustellen ist, dass der Artikel der polnischen Presseagentur ein relativ objektives Bild von Peter Handke vermittelt, ohne den sensationellen Ton, der in den eingangs analysierten Artikeln zu erkennen ist.

Nach dem 10. Oktober 2019 erschienene Presseartikel Die oben analysierten Presseberichte beziehen sich auf den 10. Oktober 2019, also auf den Tag, an dem die Literaturnobelpreise an Peter Handke und Olga Tokarczuk verliehen wurden. Die Verleihung der Preise an den Österreicher und an die Polin war eine Überraschung für die Weltöffentlichkeit. In Polen rief jedoch hauptsächlich nur die Verleihung des Literaturnobelpreises an Olga Tokarczuk Begeisterung hervor. Die Ausnahmesituation, dass 2019 in Stockholm zwei Nobelpreise, und einer davon sogar an eine polnische Schriftstellerin verliehen wurde, muss als Grund dafür angesehen werden, dass über Handke in der polnischen Presse nur sehr oberflächlich berichtet wurde. Hat aber das Interesse an Handke und seinen Werken nach diesem Tag in der polnischen Publizistik zugenommen? Um eine Antwort darauf geben zu können, sollen einige Presseartikel über Handke analysiert werden, die nach dem 10. Oktober erschienen. Der Beitrag der Wochenschrift Wprost [Direkt], der am 11. Oktober 2019 veröffentlicht wurde, trägt den Titel: Kontrowersje po przyznaniu literackiego Nobla za 2019 rok. »Ogromy ból dla niezliczonych ofiar« [Kontroversen nach der Verleihung des Literaturnobelpreises für das Jahr 2019. »Enormer Schmerz für unzählige Opfer«]. Der Autor hebt die proserbische Haltung Handkes hervor und macht dies an dem Essay Eine winterliche Reise deutlich. Außerdem weist er auf die damals bestehenden Kontakte zwischen dem österreichischen Schriftsteller und Slobodan Milosˇevic´ hin. Der Artikel informiert auch darüber, dass der 6 Vgl. Peter Handke laureatem Literackiego Nobla za rok 2019, in: Polska Agencja Prasowa, 10. Oktober 2019, https://www.pap.pl/aktualnosci/news%2C525458%2Cpeter-handke-laurea tem-literackiego-nobla-za-rok-2019.html [Stand: 04. 09. 2020].

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ehemalige serbische Präsident im Jahre 2005 Handke als Zeugen der Verteidigung benannt hatte und dass der Schriftsteller eine Rede während der Beerdigungsfeierlichkeiten für Milosˇevic´ hielt. Es wird auch daran erinnert, dass Handke das im Juli 1995 von bosnisch-serbischen Soldaten an der muslimischen Bevölkerung begangene Massaker von Srebrenica leugnete und dass er das Schicksal der Serben in der Zeit der Konflikte auf dem Balkan mit dem der Juden während des Holocaust verglich. Am Ende des Artikels befinden sich äußerst kritische Aussagen von Politikern aus verschiedenen Balkanstaaten, die die Entscheidung der Schwedischen Akademie über die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke verurteilen. So weist der Autor darauf hin, dass der Ministerpräsident Albaniens, Edi Rama, die Meinung geäußert habe, dass mit dem Preis für Handke der Begriff Scham eine neue Bedeutung in der Welt erhalten habe, und dadurch die Schamlosigkeit zu einem neuen Bestandteil der Welt geworden sei. Außerdem habe er die Menschen aufgefordert, sich dem Rassismus und dem Genozid nicht gleichgültig gegenüber zu verhalten. Der Präsident des Kosovo, Hashim Thaçi, der im Januar 2020 selbst wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Kosovokrieges angeklagt wurde, habe im Oktober 2019 auf den Schmerz unzähliger Opfer hingewiesen, der durch die Verleihung des Nobelpreises an eine Person, die die Täter des Genozids in Bosnien und im Kosovo unterstützt und verteidigt habe, erneut ausgelöst worden sei. Der Artikel führt auch die Stellungnahme des US-amerikanischen Autorenverbandes – PEN-America – an, der die Entscheidung der Schwedischen Akademie kritisierte und seine Erschütterung darüber ausdrückte, dass eine Person den Literaturnobelpreis erhalten habe, die die historische Wahrheit in Frage stelle und den Verantwortlichen für den Genozid, Slobodan Milosˇevic´ und Radovan Karadzˇic´, öffentlich Unterstützung anbot. Mit großer Empörung wurde am Ende des Artikels hinzugefügt, dass Peter Handke außer der Auszeichnung auch 9 Millionen schwedische Kronen bekommen habe. Wprost.pl benutzt also die gleiche Methode der Darstellung des österreichischen Autors, wie in den zuvor analysierten Artikeln. Dieser Bericht bezieht sich ausschließlich auf die serbische Dimension des Lebens und Schaffens Handkes und widmet sich nicht den anderen Werken des Schriftstellers, die keinerlei Bezug zum Balkan haben.7 Nach der Lektüre des Artikels entsteht daher der Eindruck, dass Peter Handke den Genozid und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Konflikte auf dem Balkan befürwortet habe. Da sich der Artikel auf keine anderen Aspekte des Schaffens von Handke bezieht, kann beim Leser durchaus der 7 Vgl. Maciej Zaremba: Kontrowersje po przyznaniu literackiego Nobla za 2019 rok. »Ogromy ból dla niezliczonych ofiar«, in: wprost.pl, 11. Oktober 2019, https://www.wprost.pl/literatura /10259746/kontrowersje-po-przyznaniu-literackiego-nobla-za-2019-rok-ogromy-bol-dla-niez liczonych-ofiar.html [Stand: 01. 09. 2020].

Reaktionen auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke

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Eindruck entstehen, dass sein Werk nur zum Zweck der Verteidigung der Täter des Genozids auf dem Balkan entstanden sei, wofür er auch noch ein besonders hohes Honorar erhalten habe. Die Wochenschrift Kultura Liberalna [Liberale Kultur] veröffentlichte in der Nr. 562 vom 15. Oktober 2019 einen Artikel von Karolina Felberg unter dem Titel Tokarczuk, czyli poszerzanie pola wraz˙liwos´ci [Literacki Nobel 2018–2019] [Tokarczuk, oder die Erweiterung des Empfindlichkeitsfeldes. Literaturnobelpreis 2018–2019], in dem sich die Autorin auf die Verleihung des Literaturnobelpreises im Oktober 2019 bezieht. Die Aufmerksamkeit Felbergs gilt, wie schon der Titel nahelegt, hauptsächlich Olga Tokarczuk. Nach einer langen Einführung, in der auch eine kurze Geschichte des Nobelpreises sowie die Kriterien für die Erlangung des Preises dargestellt werden, konzentriert sich die Autorin des Artikels auf die Präsentation des Werkes der polnischen Schriftstellerin, das sie mit anerkennenden Worten sehr positiv beurteilt. Sie drückt auch ihre Zufriedenheit bezüglich der Entscheidung der Schwedischen Akademie über die Verleihung des Preises an Tokarczuk aus. Am Ende ihres Textes nimmt Felberg auch Stellung zum Preis für Peter Handke. In dieser Hinsicht vertritt sie aber den schon bekannten Standpunkt. Die Autorin bringt eindeutig zum Ausdruck, dass sie über die Entscheidung der Akademie beunruhigt sei. Als Grund für ihre Haltung nennt sie das positive Verhältnis Handkes zu Slobodan Milosˇevic´, obwohl dieser wegen des Vorwurfs des Genozids angeklagt worden war.8 In diesem Artikel wird also ebenfalls das in den oben analysierten Artikeln zu findende Schema verwendet: Peter Handke wird als ein verständnisvoller Freund des ehemaligen Präsidenten von Serbien dargestellt. Wiederum entsteht dadurch der Anschein, als ob er sich sein ganzes Leben lang für Milosˇevic´ eingesetzt und für die Literatur nichts Wertvolles geleistet habe. Der Artikel schweigt sich über die Texte des österreichischen Schriftstellers aus. In dem Bericht Krytyka laureata literackiego Nobla. Peter Handke: Zostaw mnie w spokoju! [Kritik des Literaturnobelpreisträgers. Peter Handke: Lass mich in Ruhe] vom 17. Oktober 2019 betont die Gazeta.pl schon im Titel und in den ersten Zeilen, dass die Entscheidung der Schwedischen Akademie keine Anerkennung findet. Der Artikel befasst sich ebenfalls mit keinem anderen Aspekt des Werks von Handke, sondern führt nur diese allgemein verbreitete Meinung bezüglich des Österreichers an, ohne etwas Genaueres über ihre Prämissen zu berichten. Es wird sogar die Haltung vertreten, dass Handke von seinen Kritikern als Verteidiger von Milosˇevic´ und des rechtsextremen serbischen Nationalismus bezeichnet wird. Als einziges Textbeispiel des österreichischen Schriftstellers 8 Vgl. Karolina Felberg: Tokarczuk, czyli poszerzanie pola wraz˙liwos´ci [Literacki Nobel 2018–2019], in: Kultura Liberalna, Nr. 562, 15. Oktober 2019, https://kulturaliberalna.pl/2019 /10/15/karolina-felberg-nobel-2018-2019-olga-tokarczuk/ [Stand: 03. 09. 2020].

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wird Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien erwähnt. Darüber hinaus werden die äußerst kritischen Worte von Salman Rushdie über das Essay Eine winterliche Reise zitiert, die Handke in einem sehr negativen Blick erscheinen lassen. Sie beziehen sich unter anderem auf die Leugnung des Massakers von Srebrenica. Der Bericht führt auch die Aussage der Botschafterin des Kosovo in den Vereinigten Staaten, Vlora Çitaku, an, die den Nobelpreis für Handke als eine unsinnige und schändliche Entscheidung bezeichnet hatte. Schließlich wird in dem Artikel Peter Handke selbst zitiert, der die Fragen der Journalisten nach seiner politischen Meinung mit dem folgenden Satz beantwortete: »Lasst mich in Ruhe und stellt mir keine solchen Fragen!«9 Die Lektüre des Berichts lässt also eindeutig erkennen, das sich Gazeta.pl eine Woche nach der Verleihung des Nobelpreises weiterhin nur auf die Serbien-Kontroverse bezieht. Andere Bereiche des Schaffens sowie des Lebens von Peter Handke interessieren die Zeitung nicht. Eine andere Methode der Präsentation des Literaturnobelpreisträgers Peter Handke schlägt die Autorin Beata Dz˙on-Ozimek in ihrem Beitrag Klasyk za z˙ycia [Ein Klassiker zu Lebzeiten] ein, der am 21. Oktober 2019 in der Wochenschrift Przegla˛d [Überblick] veröffentlicht wurde. Schon der Titel weist auf einen von den oben analysierten Berichten abweichenden Standpunkt bezüglich des österreichischen Autors hin. In ihrem Beitrag wird der polnische Leser, der vielleicht das Werk von Handke nicht kennt, mit keinerlei Begriffen konfrontiert, die ihm eine bestimmte Betrachtungsweise des Autors aufzwingen. Überhaupt werden in dem ganzen Artikel die Worte »kontrovers«, »Kontroversen« oder »provokativ« mit Vorsicht benutzt, da sie nur in einem entsprechenden und notwendigen Kontext verwendet werden. Dadurch kann das Schaffen von Handke objektiver dargestellt werden. Zur Objektivität trägt auch die Tatsache bei, dass sich die Autorin nicht nur auf die proserbische Haltung Handkes, sondern auch auf seine anderen Texte und die in ihnen behandelten Themen bezieht. In dem Artikel wird der österreichische Schriftsteller einerseits als ein schweigender Denker und andererseits als ein skrupelloser Provokateur mit entschiedenen Meinungen charakterisiert. Die Autorin hebt hervor, dass der Nobelpreis auch für Handke eine Überraschung gewesen sei und dass er deswegen einen Moment der Besinnung und Ruhe benötigt habe, als er erfuhr, dass der Preis ihm verliehen wurde und die Journalisten fragte, ob das tatsächlich wahr sei. In dem Artikel wird ebenfalls Elfriede Jelineks positive Meinung über Handke erwähnt. Beata Dz˙on-Ozimek betont auch, dass Handke neben Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard der meistgespielte Autor auf den Bühnen au9 Vgl. Krytyka laureata literackiego Nobla. Peter Handke: Zostaw mnie w spokoju!, in: Gazeta.pl, 17. Oktober 2019, https://kultura.gazeta.pl/kultura/7,114528,25317721,krytyka-laureata-litera ckiego-nobla-peter-handke-zostaw-mnie.html [Stand: 31. 08. 2020].

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ßerhalb Österreichs ist. In dem Artikel erscheint er als eine Person mit menschlichen Zügen, die sich mit anderen friedlich unterhält und auch mal müde sein kann. Er wird nicht als rücksichtsloser Befürworter derjenigen dargestellt, die der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden, obwohl der Artikel auch über seine proserbische Haltung berichtet. Die Autorin verurteilt Handke jedoch nicht, sondern vertritt den Standpunkt, dass es in seinem Falle notwendig sei, den Menschen von seinem Werk zu trennen. Im Artikel wird auch auf die ersten Texte von Handke, die in der Literaturzeitschrift Manuskripte veröffentlicht wurden, sowie auf sein literarisches Debüt Die Hornissen (1966) Bezug genommen. Die Autorin erinnert zusätzlich an die wichtigsten Stationen des Lebenslaufs des österreichischen Autors, vor allem an sein (abgebrochenes) Jurastudium, an die Gruppe 47 und an seine Schmährede im April 1966 in der US-amerikanischen Universitätsstadt Princeton, als er sich über die Beschreibungsimpotenz der gegenwärtigen Autoren beklagte. Dies zeige, dass Peter Handke sich immer als ein provokativer Mensch inszeniert habe, was auch sein Sprechstück Die Publikumsbeschimpfung (1966), in dem viele Aspekte der Wirklichkeit in Frage gestellt werden, sowie seine kompromisslose Haltung in verschiedenen Lebensbereichen bewiesen. Beata Dz˙on-Ozimek endet ihren Artikel mit einer zutreffenden Charakteristik des österreichischen Schriftstellers, in der sie zusammenfassend betont, dass Peter Handke unermüdlich und mit großem Engagement ein faszinierendes, konsequentes, aber auch kompromissloses Werk geschaffen habe.10

Resümee Die Analyse der oben präsentierten Artikel und Berichte bezüglich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke lässt erkennen, dass sie sich durch eine mangelnde Objektivität auszeichnen. Es ist festzustellen, dass sie ein einseitiges Bild sowohl der Person Peter Handke als auch dessen Werkes vermitteln. In den meisten zur Analyse herangezogenen Artikeln ist nämlich sichtbar, dass sie nur nach dem Provokativen und nach den Kontroversen im Lebenslauf von Handke und in seinem Schaffen suchen. Zweifellos ist Peter Handke ein schwieriger Autor, der der Sprache gegenüber voller Skepsis ist, aber bestimmt ist es unangemessen, ihn so einfach und eindeutig zu beurteilen und abzulehnen. Natürlich ist die Serbien-Kontroverse ein heikles Thema im Falle des österreichischen Autors, aber es ist ein kompliziertes Phänomen, das sich nicht

10 Vgl. Beata Dz˙on-Ozimek: Klasyk za z˙ycia, in: Przegla˛d, 21. Oktober 2019, https://www.ty godnikprzeglad.pl/klasyk-za-zycia/ [Stand: 02. 09. 2020].

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auf eine so einfache Art und Weise erklären lässt, wie es die Autoren in ihren Artikel versuchen. Um diese Kontroverse besser verstehen zu können, ist es notwendig, sich zumindest mit den sogenannten Jugoslawien-Texten Handkes und mit seiner Lebensgeschichte vertraut zu machen. Es ist Handke gegenüber sehr ungerecht, ihn nur als einen Befürworter des Genozids in Srebrnica darzustellen. Im Korpus der analysierten Artikel sind nur wenige Aufsätze zu finden, die den österreichischen Autor und sein Werk unter Einhaltung der Objektivität darstellen. Die Mehrheit der AutorInnen haben in ihren Artikeln nur solchen Informationen Raum gegeben, die Aufsehen erregen konnten. Sie berichten über die Verleihung des Literaturnobelpreises in einer Art und Weise, die Handke schon in den 1990er Jahren kritisiert hatte. So übte er in seinem Bericht Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996) unter anderen an den Berichterstattern der Balkankonflikte scharfe Kritik. Er warf ihnen vor, dass sie nur nach Sensationen suchen würden und kein Interesse an der Objektivität hätten. Er stellte damals fest: »Bemerkenswert doch, wie es den über die Meere angereisten, eingeflogenen Aussagensammlern beinah durch die Bank nur und ausschließlich um ihre Story, ihren Scoop, ihr Beutemachen, ihr Verkaufbares ging […]«.11 Die meisten analysierten Artikel konzentrieren sich also nur auf einen Aspekt des Lebens und Werkes von Peter Handke. Zu denken gibt aber auch die Tatsache, dass manche Informationen fehlerhaft dargestellt wurden, was das oben angeführte Beispiel der fehlerhaften Anführung der Titel der Texte des Literaturnobelpreisträgers veranschaulicht. Das alles zeugt davon, dass Peter Handke für viele Journalisten in Polen ein unbekannter Autor ist. Dieser Sachverhalt würde eher eine gründliche und keine sensationelle Darstellung des Handkeschen Phänomens verlangen. Wenn es sich dagegen um den in den besprochenen Artikeln so oft erwähnten Bericht Handkes Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien handelt, muss hervorgehoben werden, dass er vor allem ein literarischer Text ist. Deswegen ist seine Besonderheit nicht mit der politischen Argumentation, sondern mit seiner poetologischen Seite verbunden. Eine winterliche Reise drückt in erster Linie den Wunsch nach besseren und vor allem nach authentischen Lebensumständen aus.12 Handke war sich darüber im Klaren, dass seine Winterliche Reise Kontroversen auslösen würde. Aus diesem Grund fragte er: »Wer wird diese Geschichte einmal anders schreiben, und sei es auch bloß in den Nuancen – die freilich viel dazutun könnten, die 11 Peter Handke: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise, Frankfurt am Main 1996, S. 40–41. 12 Vgl. Kurt Gritsch: Peter Handke und »Gerechtigkeit für Serbien«. Eine Rezeptionsgeschichte, Innsbruck 2009, S. 76.

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Völker aus ihrer gegenseitigen Bilderstarre zu erlösen?«13 Er erklärte hier auch, warum er diese Geschichte anders schrieb: »Aber ist es, zuletzt, nicht unverantwortlich, dachte ich dort an der Drina und denke es hier weiter, mit den kleinen Leiden in Serbien daherzukommen, dem bißchen Frieren dort, dem bißchen Einsamkeit, mit Nebensächlichkeiten wie Schneeflocken, Mützen, Butterrahmkäse, während jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica, von Bihac´, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind?«14

Die Analyse der Jugoslawien-Texte von Handke, die sich auf die Krisensituation in den 1990er Jahren beziehen, lässt auch erkennen, dass die in den analysierten Presseartikeln verbreitete Meinung, der österreichische Autor nehme nur die Serben als Opfer der Kriege wahr, nicht stimmt. Handke wollte zeigen, dass infolge des Balkan-Konflikts alle Nationen litten. Seine besondere Hervorhebung der Leiden der Serben resultiert aber daraus, dass die westlichen Medien eigentlich eher selten über die für die Serben tragischen Vorfälle informierten. Die oben angeführten Gründe zeigen, dass sich Peter Handke und sein Werk nicht so eindeutig beurteilen lassen, wie es die meisten hier angeführten Autoren machten. Erst die Berücksichtigung der verschiedenen Aspekte in Peter Handkes Werk würde dem polnischen Leser ein objektiveres Bild des österreichischen Schriftstellers ermöglichen.

13 Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt am Main 1996, S. 50. 14 Ebd., S. 132–133.

Maike Schmidt (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)

Metahistorische Familienromane aus dem deutsch-polnischen Grenzraum: Sabrina Janeschs Katzenberge und Brygida Helbigs Kleine Himmel

Einleitung Die beiden Romane Katzenberge (2010)1 von Sabrina Janesch und Kleine Himmel (2019)2 von Brygida Helbig erzählen die Geschichten zweier Familien im 20. Jahrhundert, die geprägt sind von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, von Flucht und Vertreibung an der polnisch-ukrainischen sowie der deutschpolnischen Grenze, und nehmen so einschneidende historische Ereignisse in die Fiktion auf: die Vertreibung der Polen durch die Deutschen aus den ins Reich eingegliederten besetzten polnischen Gebieten zwischen 1939 und 1943, die Verschleppung von Polen aus den sowjetisch besetzten polnischen Gebieten nach Sibirien und Kasachstan zwischen 1939 und 1941, die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Schlesien sowie Flucht und Vertreibung der Polen aus Wolhynien und dem ehemaligen Ostgalizien zwischen 1943 und 1947, wo ehemals auch die Wolhynien- und Galiziendeutschen lebten, die infolge der Bestimmungen des ›Geheimen Zusatzprotokolls‹ des Hitler-Stalin Paktes vom 23. August 1939 im Dezember 1939 und Januar 1940 überwiegend in den Reichsgau Wartheland umgesiedelt wurden. Die beiden Romane gehören damit zu einer ganzen Reihe von Erzähltexten nach 1989, die die Migration an 1 Sabrina Janesch: Katzenberge. Roman [2010], 3. Aufl., Berlin 2014. 2 Brygida Helbig: Kleine Himmel. Aus dem Polnischen von Natalie Buschhorn unter Mitwirkung der Autorin [Originalausgabe: Niebko, 2013], Berlin 2019. Im Vergleich zum polnischen Original liegen in der deutschen Übersetzung einige Abweichungen vor: Zuzanna, die im polnischen Original Marzena heißt, hat in der deutschen Fassung keine Schwester mit Namen Ewa, sondern einen Bruder, Edek. Der Herkunftsort wird nicht mit S. abgekürzt, sondern heißt ausgeschrieben und damit geographisch expliziter Steinfels. Für die Hinweise danke ich Anna Kochanowska-Nieborak. Gerade das letztgenannte Beispiel zeigt, dass die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit übersetzter Literatur sich aus mehreren Gründen als problematisch erweist, ergeben sich doch durch die Übersetzung stilistische und semantische Verschiebungen, die Einfluss auf die Interpretation des Textes haben können. Dies gilt erst recht, wenn offensichtliche inhaltliche Änderungen zwischen Original und Übersetzung festzustellen sind.

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den polnischen Grenzen verhandeln bzw. die parallelen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung auf deutscher und polnischer Seite in den Blick nehmen.3 In beiden Romanen kommen Prozesse des Erinnerns, Erzählens bzw. Schreibens von Familiengeschichte selbstreferenziell zur Sprache, indem sie ein vergangenes Geschehen rekonstruieren und gleichzeitig »Grundprobleme der Historiographie und Geschichtstheorie« thematisieren.4 Schon Monika Wolting hat darauf hingewiesen, dass sich Werke unter anderem von Sabrina Janesch und Brygida Helbig durch metafiktionales historisches Erzählen auszeichnen und damit »den Prozess der Fiktionalisierung einsehbar« machen und »nach komplexeren Verfahren der literarischen Inszenierung des Vergangenen suchen«.5 Vor allem dieser zweite Aspekt soll hier mit Ansgar Nünnings Typologie des postmodernen historischen Romans zusammengebracht werden, der sich unter anderem durch metahistoriographische Fiktion auszeichnet: »In historiographischer Metafiktion wird nicht (oder nicht primär) die im jeweiligen Raum erzählte Geschichte als Fiktion bloßgelegt. Vielmehr werden im Medium des Romans jene historiographischen Probleme strukturell beleuchtet oder explizit erörtert, mit denen sich die Geschichtstheorie bzw. Historik auseinandersetzt«.6 Dadurch steht weniger die Offenlegung von »literarischen Konventionen von Fiktion in rückbezüglicher Weise«7 in den beiden Romanen im Fokus dieses Beitrags – obwohl es sich durchaus um metafiktionale Texte handelt – als vielmehr die Verfahren der historiographischen Rekonstruktion von Vergangenheit. Entscheidend ist, dass beide Romane sowohl implizite als auch explizite Verfahren anwenden, um historiographische Probleme zu erörtern.8 Der vorliegende Beitrag möchte die Formen der metahistoriographischen Selbstreflexion in Ja3 Zur Zäsur der Wendejahre 1989/90 für die deutsche und polnische Literatur vgl. Carsten Gansel / Markus Joch / Monika Wolting: Zwischen Erinnerung und Fremdheit – Zur Einführung, in: Carsten Gansel / Markus Joch / Monika Wolting (Hg.): Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989, Göttingen 2015, S. 11–25. Siehe auch die Ergebnisse des Sammelbandes von Marta ´ ska (Hg.): Transfer und Vergleich nach dem Cross-CulKopij-Weiß / Mirosława Zielin tural Turn. Studien zu deutsch-polnischen Kulturtransferprozessen, Leipzig 2015. 4 Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Band 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier 1995, S. 282. 5 Vgl. Monika Wolting: Einleitung. Geschichte(n) erinnern – Formen ›historisch-fiktionalen Erzählens‹ in der deutschsprachigen und polnischen Gegenwartsliteratur nach 1989, in: Monika Wolting (Hg.): Neues historisches Erzählen, Berlin 2019, S. 9–13, hier S. 10, 12. 6 Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (wie Anm. 4), S. 284. 7 Ansgar Nünning: Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans, in: Daniel Fulda / Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin 2002, S. 541–569, hier S. 548. 8 Vgl. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (wie Anm. 4), S. 288.

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neschs Katzenberge und Helbigs Kleine Himmel analysieren und nach ihren Funktionen im Kontext der deutsch-polnischen Familiengeschichten fragen. Dazu soll in Anlehnung an Nünning zunächst »die diskursive Ebene der erzählerischen Vermittlung und Perspektivierung des erzählten Geschehens«9 analysiert und anschließend die Passagen, die selbstreflexiv die Rekonstruktion der Familiengeschichtsschreibung thematisieren, miteinander verglichen werden. Es gilt zu zeigen, wie die zweite bzw. dritte Generation mittels metahistoriographischer Narration das traumatische Erinnern der ersten Generation aufarbeitet, um die eigene bzw. familiäre Identität zu stabilisieren.

Diskursive Ebene In Katzenberge schildert die autodiegetische Erzählerin deutsch-polnischer Abstammung, Nele Leibert, auf der Rahmenebene ihre Fahrt auf dem Fahrrad zum Grab ihrer Großeltern, um dort zur dritten und endgültigen Bannung des so genannten Biests galizische Erde zu verstreuen. Auf der Binnenebene berichtet sie von ihrer Reise im Jahr 2007 von ihrem Wohnort Berlin zur Beerdigung ihres Großvaters Janeczenko nach Schlesien, nach Obernigk (poln. Oborniki) unweit des Katzengebirges. Von dort aus unternimmt sie auf seinen Spuren eine weitere Reise nach Galizien, nach Z˙dz˙ary Wielkie (ukr. Zastavne),10 um die Heimat ihres Großvaters kennenzulernen. In die Binnengeschichte sind die Erinnerungen Janeczenkos, die er Zeit seines Lebens seiner Enkelin anvertraute, nicht linear, sondern assoziativ in Form von Analepsen eingeflochten. Während Nele also ihre Reise von West gen Ost schildert, kommt ihr Großvater mittels erinnerter Erzählungen über seine Flucht von Ost nach West zu Wort. Stets leitet die ritualisierte Formulierung »Großvater sagte« die Erinnerungen ein, die in Verbindung mit den teils mythisch-magischen Geschichten des Großvaters Assoziation zu dem formel- und märchenhaften »es war einmal« weckt.11 9 Ansgar Nünning: Historiographische Metafiktion als Inbegriff der Postmoderne? Typologie und Thesen zu einem theoretischen Kurzschluß, in: Anselm Maler / Ángel San Miguel / Richard Schwaderer (Hg.): Europäische Romane der Postmoderne, Frankfurt am Main 2004, S. 9–35, hier S. 19. 10 Geographisch korrekt handelt es sich um eine Ortschaft in Wolhynien. In »Katzenberge« ist aber durchgängig von Galizien die Rede, was sich damit begründen lässt, dass das GalizienMotiv in der deutschsprachigen Literatur einen besonderen Stellenwert einnimmt, auf den »Katzenberge« rekurriert. 11 So auch schon Alicja Krauze-Olejniczak: »In mir habe alles zusammengefunden«. Hybride Identitäten in Sabrina Janeschs »Katzenberge« (2010), in: Agata Kochanowska / Maria Wojtczak (Hg.): Das literarische Oktett. Acht junge Stimmen zur neueren deutschen Literatur, Poznan´ 2018, S. 33–42, hier S. 37.

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»Großvater sagte, als man ihn zum ersten Mal nach Schlesien gebracht habe, sei er beinahe erstickt. Die Viehwaggons, in denen man ihn und die anderen Bauern vom östlichen Ende Polens gen Westen verfrachtet hatte, seien über und über mit Brettern zugenagelt gewesen. Fenster habe es keine in den Wänden gegeben, auch keine Löcher, aus denen man hätte gucken oder gegen die man seinen Mund hätte pressen können, um zu atmen. / Dafür fehlten im Boden ein paar Planken, und so legte Janeczenko sein Gesicht auf den Spalt, Kinn und Stirn gestützt von den Brettern rundherum«.12

Dieses Zitat demonstriert exemplarisch den festen Aufbau, dem die eingeflochtenen Erinnerungen des Großvaters folgen: Auf die Eingangsformulierung zur Kenntlichmachung des Ebenenwechsels erfolgt zunächst die Wiedergabe der Erinnerungen in der indirekten Rede. Diese erzeugt Distanz zum Erzählten, indem der Vermittlungsgrad markiert und »das Verhältnis zur Wirklichkeit […] in Frage gestellt wird«.13 Der Roman legt durch diese diskursive Struktur bereits die Reflexion historiographischer Erzählverfahren an. Nach einigen Sätzen erfolgt dann der Wechsel in Richtung eines heterodiegetischen Erzählers mit wechselnder Fokalisierung, wobei sich neben einigen nullfokalisierten Passagen die interne Fokalisierung auf den Großvater als dominierend erweist. Die interne Fokalisierung auf Nele auf der Rahmen- und ersten Binnenebene sowie auf Janeczenko auf der zweiten Binnenebene erfüllt mehrere Funktionen: zum einen erweist sich die Wahl der Perspektive als Verfahren zur strukturellen Sympathielenkung, zum anderen öffnet sie den Raum für magische Elemente, die sich auf allen der genannten Erzählebenen finden lassen. Die spezifische Schreibweise des Romans in Verbindung mit den magischen Motiven führt dazu, dass sich Katzenberge als Werk des magischen Realismus definieren lässt, der historische Fakten, fiktionalisierte Geschichte und phantastisch fiktive Elemente kombiniert.14 In Bezug auf das Sympathieempfinden der Lesenden lässt sich 12 Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 22. 13 Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk: Die Postmemory-Generation(en) auf der Suche nach dem Selbst. Sabrina Janeschs »Katzenberge« und Petra Reskis »Ein Land so weit«, in: Marcell Mártonffy / Károly Vajda (Hg.): Grenzüberschreibungen. Identität, Migration und Interkulturalität in den Literaturen Mitteleuropas, Baden-Baden 2018, S. 43–64, hier S. 50. Monika Wolting argumentiert, dass die indirekte Rede die Funktion übernimmt, die Authentizität des Dargestellten zu erhöhen. Vgl. Monika Wolting: »[…] ganze Familien überquerten den Bug« – zu Sabrina Jansches Erfolgsroman »Katzenberge« (2010), in: Manuel Maldonado-Alemán / Carsten Gansel (Hg.): Literarische Inszenierungen von Geschichte. Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 und 1989, Wiesbaden 2018, S. 177–187, hier S. 184. Zwar suggeriert die Teilnahme am unmittelbaren Erleben des Großvaters Authentizität, diese ist allerdings durch die mehrfache Wiedergabe gebrochen, wodurch vielmehr die Problematisierung der Authentizität von individuellen Erinnerungen zum Ausdruck kommt. 14 Vgl. Sabine Egger: Magischer Realismus als Modus einer transgenerationellen ›felt history‹. Heimat, Flucht und Vertreibung in Sabrina Janeschs »Katzenberge«, in: Garbiñe Iztueta / Mario Saalbach / Iraide Talavera / Carme Bescansa / Jan Standke (Hg.): Raum – Gefühl – Heimat. Literarische Repräsentationen nach 1945, Marburg 2017, S. 141–156, hier

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feststellen, dass die interne Fokalisierung Vertrautheit mit dem Großvater und so Sympathie erzeugt,15 allerdings geschieht diese Sympathielenkung keineswegs direkt, denn die Geschehnisse werden als Erinnerung zweiten Grades präsentiert: Nele erinnert und erzählt die aus der Erinnerung wiedergegebenen Erzählungen des Großvaters; sie ist es, die ihm ihre Stimme verleiht und diese Vertrautheit erst herstellt. Durch den Wechsel der Erzählinstanzen auf der Ebene der eingeschobenen Erinnerungen des Großvaters gelingt es, den Blick auf die Geschehnisse zu erweitern und mit einer größeren Übersicht von ihnen zu erzählen. Darüber hinaus erzeugen die stetigen Wechsel zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsebene den Eindruck einer multiperspektivischen Erzählsituation, die wiederum die implizite Reflexion der »Subjektivität retrospektiver Sinnstiftungen«16 erst ermöglicht und damit die Historiographie der Familiengeschichte problematisiert: In der Auseinandersetzung Neles mit den Erinnerungen des Großvaters lässt sich sowohl die Subjektivität ihres als auch seines Erlebens erkennen, wodurch es zur Relativierung der Allgemeingültigkeit von Geschichtsschreibung kommt. In Kleine Himmel nehmen die Lesenden Anteil an den Schreib- und Erzählprozessen von Zuzanna Keler, einer in Berlin lebenden Polin, die die Lebenserinnerungen ihrer Eltern, Groß- und Urgroßeltern zu einer Familiengeschichte zusammenfügt: als deutsche Familie aus dem galizischen Steinfels stammend, wohin man die Familiengeschichte bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen konnte, ist die Familie von Zuzannas Vater von den Umsiedlungen ins Reichsgau Wartheland während des Zweiten Weltkriegs betroffen – und von den deutschpolnischen Identitätsproblemen, die sich dadurch ergeben. Über die Geschichte der Familie von Zuzannas Mutter sind weitere historische Ereignisse wie die Deportation von den in den sowjetisch besetzten ostpolnischen Gebieten lebenden Polen nach Kasachstan in den 1940er Jahren in den Roman eingebunden. Auf der Rahmenebene berichtet Zuzanna im Präsens als autodiegetische Erzählerin von ihrer Beschäftigung mit der Familiengeschichte. Die Erinnerungen der Familienmitglieder sind überwiegend in direkter, erlebter Rede homodiegetisch auf der Binnenebene in den Text eingeflochten, wobei die Perspektive des Vaters stark dominiert. Diese Erinnerungen arbeitet Zuzanna am Laptop zu ihrer Familiengeschichte um. Daneben existiert ein heterodieS. 143, 145. Zum Begriff des ›Magischen Realismus‹ siehe unter anderem Uwe Durst: Das begrenzte Wunderbare. Zur Theorie wunderbarer Episoden in realistischen Erzähltexten und in Texten des »Magischen Realismus«, Münster 2008. 15 Vgl. Karolina Sidowska: Heimatlos oder doppelt beheimatet? Polnische Prosa aus Deutschland, in: Garbiñe Iztueta / Mario Saalbach / Iraide Talavera / Carme Bescansa / Jan Standke (Hg.): Raum – Gefühl – Heimat. Literarische Repräsentationen nach 1945, Marburg 2017, S. 69–81, hier S. 71. 16 Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (wie Anm. 4), S. 284.

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getischer Erzähler, der in externer Fokalisierung im Präteritum über Geschehnisse der Familie berichtet. Bei diesem könnte es sich um den Erzähler der von Zuzanna verfassten Familiengeschichte handeln, denn die Gefühle und Gedanken der schon verstorbenen Familienmitglieder bleiben sowohl Zuzanna als auch dem heterodiegetischen Erzähler verschlossen. Wie in Janeschs Katzenberge liegt in Kleine Himmel multiperspektivisches Erzählen vor, das die Reflexion historiographischer Grundprobleme ermöglicht. Der Roman, der nicht chronologisch oder linear aufgebaut ist, sondern zwischen Zeitabschnitten und den einzelnen Biographien springt, zeigt schon durch diese narrative Anlage die Unmöglichkeit auf, Geschichte vollständig und lückenlos zu rekonstruieren. Zuzanna präsentiert am Ende keine Universalgeschichte, sondern eine mehrfach gebrochene, bruchstückhafte Familiengeschichte, die die Subjektivität, Flüchtigkeit und Unzuverlässigkeit des Erinnerns herausstellt. Stärker noch als Janeschs Katzenberge durchziehen den Text implizite und explizite Verfahren der Inszenierung (meta-)historiographischer Themen. Diese Art des Erzählens spiegelt sich leitmotivisch im Titel des Romans Kleine Himmel: »Sie gruben ein Loch in die Erde, legten Papierstückchen, Blätter, Gräser und zarte Blüten hinein, arrangierten sie zu schönen Mustern, bedeckten das Ganze mit Glasscherben, schütteten die Stelle wieder zu«.17 So wie diese ›kleinen Himmel‹ von den Kindern zwar gesucht aber keinesfalls verraten werden dürfen, so gräbt Zuzanna in der Geschichte ihrer Familie nach bisher Verschwiegenem und Verdrängtem, nach Erinnerungen und Anekdoten, die fragmentarisch als narrative Mosaiken ans Licht kommen. Katzenberge und Kleine Himmel zeichnen sich auf diskursiver Ebene durch eine Erzählstruktur aus, die die Familiengeschichte auf unterschiedlichen Zeitund Erzählebenen sowie mittels verschiedener Erzählperspektiven zur Sprache bringt, wie es sich als typisch für metahistorische Romane erweist.18 Über die Erinnerungen der Familienangehörigen ist die Vergangenheit in der Gegenwart Neles und Zuzannas stets präsent. Die Wahl der internen Fokalisierung fördert in beiden Romanen den Fokus auf die Subjektivität des Erzählten, das der Inszenierung der eigenen Biographie und nicht der allgemeinen Geschichtsschreibung dient. Beide Texte zeichnen sich darüber hinaus durch pluralisierende Effekte aus, indem sie zwischen den verschiedenen Zeitebenen zugeordneten Perspektiven wechseln und Geschichte weder als kohärentes noch als linear angelegtes Geschehen erzählen, sondern diese erst über das multiperspektivische Erzählen

17 Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 293. 18 Vgl. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (wie Anm. 4), S. 278.

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rekonstruieren.19 Diese Strategie ermöglicht es, die Sichtweisen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturräumen so gegenüberzustellen, dass sich »sowohl die Parteilichkeit der Quellen als auch die Perspektivengebundenheit des Historikers und die Relativität der historischen Erkenntnis durch die Erzählstruktur«20 hervorheben lassen. Diese Aspekte thematisieren die Romane jedoch nicht nur implizit, sondern auch explizit, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Rekonstruktion der Familiengeschichte Explizite metahistoriographische Verfahren lassen sich in den beiden Romanen feststellen, indem sie »die gleichzeitige Problematisierung von Wahrnehmungsprozessen wie der retrospektiven Konstituierung vermeintlicher Erinnerung«21 sowohl auf der intradiegetischen als auch auf der extradiegetischen Ebene reflektieren. In beiden Romanen kommt der Historiographie eine stabilisierende Funktion zu: Nele und Zuzanna weisen zu Beginn der Romane unsichere Identitäten auf, die sie mittels der Rekonstruktion der Familiengeschichte überwinden. Sie bringen als Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart Familiengeheimnisse zur Sprache bzw. Verdrängtes zum Vorschein und überwinden dadurch die Traumata ihrer Familien: Nele löst das Geheimnis um den Bruder ihres Großvaters. Zuzanna wird sich ihrer deutsch-polnischen Herkunft bewusst und entwirrt die von Flucht und Vertreibung gekennzeichnete Familiengeschichte. Die Romane transportieren damit eine Orientierungs- bzw. Stabilisierungsfunktion, die sich als typisch für metahistorische Romane erweist.22 Auslöser für die Reise nach Galizien auf den Spuren ihres Großvaters ist einerseits der Wunsch der Mutter, bezeichnenderweise eine Historikerin: »Eben nicht alles, was deinen Großvater betrifft, ist hier in Schlesien. Hier in Schlesien, Töchterchen, ist höchstens die Hälfte. Und genau das ist der Punkt.«23 Dahinter steht vermutlich nicht nur die Hoffnung, die Tochter möge die Erinnerung an ihren Großvater bewahren, sondern auch mit den Gerüchten über den Brudermord des Großvaters aufräumen, die selbst während seiner Beerdigung laut 19 Vgl. Stephanie Catani: »Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument.« Zum historisch-fiktionalen Erzählen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Monika Wolting (Hg.): Neues historisches Erzählen, Berlin 2019, S. 15–37, hier S. 24. 20 Nünning: Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion (wie Anm. 7), S. 555. 21 Catani: »Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument.« (wie Anm. 19), S. 30. 22 Vgl. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (wie Anm. 4), S. 280. 23 Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 42.

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werden.24 Indem Nele die Motivation ihrer Reise immer wieder selbst reflektiert, infrage stellt und ironisch auf die Amerikaner verweist, die sich auf Spurensuche nach Europa begeben, greift der Text selbstreferentiell das Genre der Erinnerungsliteratur auf, das vor allem nach 1989 populär geworden ist.25 Auf ihrer Reise deckt Nele die Umstände des Streits zwischen dem Großvater und seinem Bruder auf: Der mit einer Ukrainerin verheiratete Leszek schlug sich beim Pogrom gegen die polnische Bevölkerung auf die ukrainische Seite, ohne seine Familie zu warnen oder ihr zu helfen. Darüber kam es zum Bruch der Brüder, als dessen Resultat Leszek so plötzlich aus dem Leben der Familie verschwand, dass Neles Großvater des Mordes verdächtigt wurde und sich von diesem Vorwurf nie völlig befreien konnte. Aus seinen Anekdoten erfährt Nele zwar, dass sich ihr Großvater nach dem Verlust der Heimat und der Verfluchung durch seinen Bruder von einem »Biest« verfolgt fühlt,26 doch zu den weiteren Ereignissen schwieg Janeczenko. Die Beschäftigung mit dem Leben ihres Großvaters geht einher mit einer kritischen Reflexion der Aufarbeitung von Vergangenheit einerseits und von Erinnerungsprozessen andererseits. So fragt Nele sich, inwieweit sie den Erinnerungen ihres Großvaters überhaupt trauen kann, wenn es neben seiner Version des Bruderzwists und den Folgen abweichende Erinnerungen anderer gibt.27 Auch nach Aufklärung der Umstände bleibt diese Frage aktuell: »Hatte ich ihm nun geglaubt oder nicht? Ich fing an, mich zu schämen«.28 Es steht zur Debatte, dass der Großvater zum Schutz sowohl des eigenen Selbst als auch seiner Familie Erinnerungen verdrängt, getilgt oder verschwiegen haben könnte, was ein typisches Muster im Kontext der Erinnerungsliteratur darstellt.29 Neles Beschäftigung mit der Familiengeschichte findet von Beginn an mit der Gewissheit statt, die Erinnerungen des Großvaters nicht bewahren zu können: »die blinden Flecken könne man ja durch etwas Neues ersetzen oder so stehen lassen«.30 Kat24 Vgl. Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 36. 25 Vgl. Marion Brandt: Figurationen deutsch-polnischer Differenz im Schaffen polnischer Schriftsteller in Deutschland seit den 1980er Jahren, in: Marcell Mártonffy / Károly Vajda (Hg.): Grenzüberschreibungen. Identität, Migration und Interkulturalität in den Literaturen Mitteleuropas, Baden-Baden 2018, S. 27–41, hier S. 39. 26 Vgl. Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 212: »Wenn du dich von mir abwendest, sollst du dein Lebtag von deinen Dämonen verfolgt werden, hier wie anderswo, egal, wo du hingehst. Sie werden dir folgen, Stanisław, sie werden dir die Hölle bereiten […]. Leszek bückte sich, nahm eine Handvoll Erde und schmiss sie in Janeczkos Richtung. Verflucht seiest du! […] Janeczko wischte sich die Krume aus seinem Haar«. 27 »In Schlesien ist natürlich allen klar, dass es sich bloß um ein Gerücht handelt. / Jasia blickte auf ihre rissigen Fingernägel. Nichts ist ein Gerücht. Hier im Dorf sollen sich damals alle sicher gewesen sein, dass…« Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 217. 28 Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 261. 29 Vgl. Wolting: Einleitung. Geschichte(n) erinnern (wie Anm. 5), S. 11. 30 Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 47.

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zenberge betont über die Relativierung der Beständigkeit und Gültigkeit von Erinnerungen die »Kluft, die zwischen vergangenen Ereignissen und deren retrospektiver Aneignung, Rekonstruktion und Darstellung durch die Historiographie besteht«.31 Darüber hinaus wirft Nele die Frage auf, welche Rolle die Aufarbeitung der Vergangenheit spielt, welche Funktion der Geschichtsschreibung zukommt: »Was änderte es schon, dass die Nachgeborenen die Wahrheit kannten. Es war zu spät«.32 Über die Reise in den Geburtstort ihres Großvaters und der aktiven Auseinandersetzung mit dessen Erinnerungen bildet Nele eine transnationale Identität heraus, die ihr hilft, ihre gegenwärtige Lebenssituation zu meistern: Sie findet den Mut, sich von ihrem Freund Carsten zu trennen, und möchte sich beruflich neu orientieren. Die Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart zeigt sich eindrücklich im letzten Satz des Romans, wenn sich ein hoffnungsvolles, friedliches Bild generationsübergreifend wiederholt: »Der Himmel ist kornblumenblau, es wird ein guter Tag werden«.33 Erst durch die Aufarbeitung der Geschichte können die Dämonen der Vergangenheit ruhen.34 In Kleine Himmel übernimmt das Erzählen und Fixieren der Familiengeschichte wie in Katzenberge eine therapeutische Funktion:35 Als Figur, die vor allem über eine allgemeine Verunsicherung, Ängste und Heimatlosigkeit definiert ist, findet Zuzanna durch das Schreiben zu ihrer Identität und zu der Sicherheit zurück, die ihrer Familie durch die historischen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genommen wurde. Wie in Katzenberge geht auch die Protagonistin von Kleine Himmel von der Existenz eines transgenerationellen Traumas aus, das sich erst durch die Aufarbeitung der Familiengeschichte überwinden lässt: »Wie soll man sich denn sonst das Unglück erklären, das in regelmäßigen Abständen Jakubs Nachkommen und deren Kinder auf-

31 Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (wie Anm. 4), S. 284. 32 Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 261. 33 Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 272. Vgl.: »Der Himmel war kornblumenblau, es würde ein guter Tag werden.« Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 148. 34 »In meinem Kopf hörte ich den Tonfall, mit dem Djadjo sagen würde: Mädchen, Kämpf mit deinen eigenen Dämonen. Mir fiel erst jetzt, nach seinem Tod, die Antwort ein: Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind?« Janesch: Katzenberge (wie Anm. 1), S. 181. 35 So argumentieren auch Joanna Bednarska-Kociołek: »Papa, woher hast du eigentlich so einen seltsamen Namen?« – Auf der Suche nach der Familienidentität in »Kleine Himmel« von Brygida Helbig, in: Monika Wolting (Hg.): Neues historisches Erzählen, Berlin 2019, S. 175–187, hier S. 177 und Anna Kochanowska-Nieborak: Die Literatur und ihr therapeutisches Potential für die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Großgruppen. Am Beispiel des Romans »Himmelchen« von Brygida Helbig, in: Gabriella Rovagnati / Peter Sprengel (Hg.): Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, Frankfurt/Main 2015, S. 489–505.

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sucht?«36 Ausgerechnet die vermeintlich polnische Zuzanna, die in ihrer Kindheit ein deutsches Feindbild pflegte,37 findet durch die Gespräche heraus, dass sie väterlicherseits deutscher Abstammung ist, dass ihre Großmutter ursprünglich nicht Krystyna Kowalczyk hieß, sondern Christina Keller und ihr Vater nicht Waldek Keler, sondern Willi Keller, dass selbst nationale Identitäten folglich einem Wandel unterliegen können. Doch nicht nur für Zuzanna hat die Beschäftigung mit der Familiengeschichte eine therapeutische Funktion. Auch Waldek setzt sich angeleitet durch die Fragen seiner Tochter mit seiner traumatischen Vergangenheit auseinander. So lassen sich jedenfalls die Gesprächsabbrüche bzw. das Schweigen und die Störungen des Erzählflusses erklären, die sich immer dort finden, wo seine Erzählungen an schmerzhafte Ereignisse der Vergangenheit gelangen: »›Papi, woher kommt eigentlich dein komischer Nachname?‹, fragte immer wieder Zuzanna, bohrte zuweilen Edek. ›Meine Güte! Was ihr immer für Fragen stellt, woher wohl!‹ Willi zuckte mit den Achseln. ›Ganz normal, von irgendwelchen Vorfahren, aber Leute, wann war das schon! Womöglich waren einige meiner Vorfahren Österreicher, was weiß denn ich? Lasst mich in Ruhe, und ab an die Hausaufgaben!‹«38

Das Zitat demonstriert, dass sich Waldek in den 1960er Jahren noch zu seiner Vergangenheit ausschweigt und seinen Kindern seine unter politischen Gesichtspunkten problematische Biographie verheimlicht. Erst im Gespräch mit der erwachsenen Zuzanna setzt in der Gegenwart der Diegese eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ein: Als Deutschstämmiger im nach dem Ersten Weltkrieg polnischen Galizien erfährt er zunächst als so genannter Volksdeutscher eine deutsche Sozialisation, doch schließlich entscheidet er sich nach dem Zweiten Weltkrieg, künftig als Pole zu leben und seine deutsche Vergangenheit sowie seinen Bruder in Deutschland zu verschweigen. Seine Biographie bringt die Zerrissenheit zwischen nationalen Identitäten zur Sprache und zeigt die Schwierigkeiten mit solchen Konzepten (auch für die nachfolgende Generation), indem er sich zugleich als Deutscher und Pole fühlt.39 Waldek setzt sich autoreflexiv mit der eigenen Erzählstrategie auseinander, wenn er fehlende Erinnerungen eingesteht40 oder die Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerungen zum Ausdruck bringt: »Also gut. Das war kein Wolf, im Warthegau gab es genau genommen keine Wölfe […]. Offen gestanden, sind es in

36 Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 284. 37 »Zu den Nazis gehe ich NIEMALS. Das könnt ihr echt vergessen.« Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 11. 38 Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 11. 39 Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 11. 40 »Keine Ahnung, weiß der Geier, lass mich in Ruhe. Warum zum Teufel schreibst du überhaupt darüber?« Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 174.

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Witkowo bloß zwei große Hunde gewesen, aber gefährliche.«41 Während Verweise auf – nicht mehr auffindbare, wohl aber im Familiengedächtnis erinnerte – Fotos, Auszeichnungen und Orden die Authentizität des Erzählten bestätigen, stellen die häufig ironischen Reaktionen seiner Frau die Glaubwürdigkeit von Waldeks Erinnerungen infrage.42 Im Sinne einer Korrektivfigur, die Zweifel an der von Waldek erzählten Biographie äußert, weist ihn Basia damit als unzuverlässigen Erzähler aus. Doch weder Zuzanna noch Basia versuchen eine ›richtigere‹ Version der Geschichte zu präsentieren. Vielmehr übernehmen ihre Einwände die Funktion, die Subjektivität der Rekonstruktion von Geschichte zur Schau zu stellen.43 Wie schon in Katzenberge problematisiert Kleine Himmel mit der Reflexion über die Bedingungen der Geschichtsschreibung die Unzuverlässigkeit einer historischen Wahrheit und thematisiert so explizit metahistoriographische Aspekte. In Kleine Himmel kommt der Schreibprozess selbst immer wieder explizit zur Sprache, wenn Zuzanna sich vor ihren Laptop setzt, um das von den Eltern und Großeltern Gehörte – nochmals durch ihre eigene Wiedergabe konstruiert – aufzuschreiben: »Zuzanna pflastert den ganzen Bildschirm mit schwarzen Buchstaben zu, sortiert, verschiebt, mischt, pfeffert, salzt, sucht nach Würzstoffen, verrührt alles nochmal«.44 Indem der Konstruktions- und Entstehungsprozess der Familiengeschichte selbstreflexiv Eingang in den Roman findet, greift dieser die Frage auf, welche Funktionen sich der Geschichtsschreibung über einer heilenden und stabilisierenden hinaus zusprechen lassen: Vor allem dadurch, dass der letzte Satz des Nachworts auf die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik verweist, kommt der metahistoriographischen Reflexion eine zukunftsweisende, über das Individuum bzw. die eigene Familiengeschichte hinausgehende Bedeutung zu: »Täglich kamen Tausende Syrer nach Deutschland. Die Welt war in Bewegung«.45 Die Parallelität, die der Roman zwischen den Flüchtlingsströmen des 20. und 21. Jahrhunderts konstruiert, lässt sich als Apell verstehen, aus der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit zu lernen.

41 Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 110. 42 Vgl. Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 189: »›Nicht übertreiben!‹, ruft Basia im Hintergrund«. 43 Vgl. Catani: »Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument.« (wie Anm. 19), S. 28f. 44 Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 111. 45 Helbig: Kleine Himmel (wie Anm. 2), S. 342.

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Fazit Katzenberge und Kleine Himmel lassen sich einordnen in die Literatur nach 1989, die »das Thema der Befragung und Hinterfragung der Geschichte, auch in Verbindung mit der Erforschung der eigenen Familien- und Lebensgeschichte, mit dem Aufspüren des eigenen Umfelds«46 in den Mittelpunkt stellt und sich durch implizite und explizite metahistoriographische Verfahren auszeichnen. Dies geschieht im Falle der beiden Romane, indem die Rekonstruktionen der Familiengeschichten unter den Bedingungen des traumatischen Erinnerns und Erzählens samt Konsequenzen für die zweite bzw. dritte Generation stärker im Vordergrund stehen als die Darstellung zeitgeschichtlicher Bezüge. Diese bleiben fragmentarisch und kommen nur insoweit zur Sprache, wie sie den Erzähler aus seiner subjektiven Position heraus tangieren. Sowohl Nele als auch Zuzanna beschäftigen sich im Sinne der ›postmemory‹47 mit den Traumata von Heimatverlust und Vertreibung ihrer Eltern- bzw. Großelterngeneration; auf beide haben diese transgenerationellen Traumata abgefärbt, wie sich an ihren labilen Identitäten zeigt; beide verarbeiten diese über die bewusste Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte. Die Erzählweisen und Erzählstrukturen in Katzenberge und Kleine Himmel tragen dazu bei, die »Subjektivität, Selektivität und Konstruktivität von Erinnerungen aufzudecken und Sinnstiftungsprobleme des historischen Erzählens in den Vordergrund zu rücken«.48 Indem die Protagonistinnen über die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte transnationale, gefestigte Lebensentwürfe erlangen, demonstrieren die Texte die stabilisierende Funktion metahistorischer Romane. Als Vermittler kultureller Erinnerung übernehmen aber auch die Romane selbst eine Orientierungsfunktion und stellen so die zukunftsweisende Bedeutung (meta)historiographischer Reflexion heraus.

46 Wolting: Einleitung. Geschichte(n) erinnern (wie Anm. 5), S. 13. 47 Vgl. Marianne Hirsch: Surviving Images. Holocaust Photographs and the Work of Postmemory, in: The Yale Journal of Criticism 14/1 (2001), S. 5–37. 48 Nünning: Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion (wie Anm. 7), S. 556.

Joanna Gospodarczyk (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie)

Die Suche nach der eigenen Identität und dem Realitätsbezug des Spiels. Die Textbearbeitungen des Parzival von Wolfram von Eschenbach im zeitgenössischen Theater

Die Bedeutung von Parzival, des Opus Magnum von Wolfram von Eschenbach, legen schon zur Zeit seiner Entstehung die 86 Textzeugen, darunter 16 vollständige Handschriften des Epos nahe.1 Die Komplexität der Fäden und Themen, aber auch die universelle Aussage des Werkes bewirken seine bis heute rege Rezeption in der Forschung sowie in der Kunst, Literatur und Oper. Auch das Theater nahm sich gerne des Stoffes an, um einige Schwerpunkte des umfangreichsten der höfischen Romane zu betonen. Bis in die letzten Jahrzehnte lassen sich Beispiele dafür finden. Walter Reiz bemerkt, dass sich die Rezeption von Parzival in Deutschland auf die Umbruchzeit, Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre konzentrierte. Beweise dafür liefern: Parzival. Ein Szenarium von Tankred Dorst (uraufgeführt 1987), die Theaterstücke Die Ritter der Tafelrunde von Christoph Hein (1989) und Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land von Peter Handke (1989) sowie der Roman Der rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival von Adolf Muschg (1993).2 Eine spätere Inspiration für das Theater lieferte Parzival im Stück von Tim Staffel Next Level Parzival aus dem Jahr 2007. Der Text von Wolfram von Eschenbach wird auch selbst in überarbeiteter Fassung auf die Bühne gebracht.3 Die Geschichte von Parzival und der Gralssuche wurde als Träger der Hoffnung auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, Sinnbild des Wegs, der Veränderung und der Neuorientierung oder umgekehrt als Enttäuschung, Verlust von Bedeutungen und vergebliche Sinnsuche interpretiert. Reiz beobachtet dabei die Tendenz, den Parzival getrennt vom Gral darzustellen, die Gefahr läuft, einen besonderen Wert auf seine Unwissenheit und die ver1 Heiko Hartmann: Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach, Darmstadt 2015, S. 49. 2 Walter Reiz: Grals Ende? Zur Rezeption des Parzival/Gral-Stoffes bei Tankred Dorst, Christof Hein, Peter Handke und Adolf Muschg, in: Silvia Bovenschen et. al (Hg.): Der fremdgewordene Text: Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag, Berlin – New York 1997, S. 321–333. 3 Man soll hier unbedingt die Fassung von Lukas Bärfuss nennen, die unter anderem in Hannover 2010 und Göttingen 2015 aufgeführt wurde, sowie die Inszenierung von Stefan Bachmann im Schauspiel Köln 2015.

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gebliche Suche zu legen. In der Konsequenz werde seine Unkenntnis auf die »heutige« Unwissenheit übertragen und Parzival bleibe zum Zeichen reduziert.4 Bevor jedoch auf die einzelnen Bearbeitungen eingegangen wird, erscheint es als sinnvoll, die allgemeine Problematik des Werkes kurz zu skizzieren. Angesichts der Komplexität des Stoffes können nur einzelne seiner Themen angesprochen werden.

Die mittelalterliche Vorlage Dieser erste Entwicklungsroman seit der Antike, wie Parzival oft genannt wird,5 regt zum Nachdenken über die menschliche Natur und den Sinn des Lebens an. Parzival wächst in unnatürlich »naturnahen« und unter »kultur- und zivilisationsfremden« Bedingungen auf. Wenn er das sichere Versteck seiner Mutter verlässt, wird er aufgrund seiner mangelnden Sozialisation und Unwissenheit als »tump« bezeichnet und erst nach vielen Fehlern lernt er zuerst den höfischen Umgang mit den Damen und Rittern kennen. Sie genügen aber nicht, um die »Aufgabe seines Lebens« zu erfüllen, nämlich die richtige Frage an den Gralskönig zu stellen, um diesen von seinem Leiden zu befreien. Erst nach vielen Jahren schmerzhafter Erfahrungen wird er imstande sein, Mitleid und Liebe für andere Menschen zu empfinden und damit auch Demut zu lernen. Der symbolische Wert dieser Lehre wird durch das Stellen der richtigen Frage an seinen Onkel Anfortas und das damit zusammenhängende Aufheben der früheren Schuld von Parzival zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich also um den Weg der Erkenntnis und der Verwandlung, die der Protagonist auf der Suche nach dem Gral hinter sich bringt. Wolfram von Eschenbachs Epos gibt jedoch keine eindeutigen Antworten und wie Heiko Hartmann anmerkt, bleibt sein Ende offen und stellt den Rezipienten vor die Herausforderung, seinen eigenen Erkenntnisweg fortzusetzen.6 Es wird dabei aber klar, dass der Mensch und seine Umgebung nie makellos bleiben können. Einen eindeutigen Hinweis darauf gibt die Metapher der Elster und ihres schwarz-weißen Gefieders im Prolog von Parzival. Hartmann zufolge ist es ein Bekenntnis des Erzählers, das Wesen der Menschen mit seinen preiswürdigen Tugenden, aber auch Makeln beschreiben zu wollen, der gleichzeitig Anteil am Himmel und an der Hölle habe.7 Der Schluss des Romans greift dieses Thema wieder auf. Es handelt sich dabei um den Kampf und 4 Peter von Matt: Parzival rides again. Vom Unausrottbarem in der Literatur, S. 38, zit. nach Reiz: Grals Ende? (wie Anm. 2), S. 321. 5 Vgl. Ruth Sassenhausen: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman, Köln 2007. 6 Hartmann: Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach (wie Anm. 1), S. 69. 7 Ebd., S. 69.

Die Suche nach der eigenen Identität und dem Realitätsbezug des Spiels

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die Versöhnung von Parzival mit seinem schwarz-weiß gescheckten Halbbruder Feirefiz. Parzival erkennt ihn an seinem Aussehen, das ihm auf folgende Weise geschildert wurde: »schwarz und weiß durcheinander wie ein beschriebenes Pergament«.8 Die Zugehörigkeit des heidnischen Bruders zu der Familie ermöglicht dessen Aufnahme am Artushof und Anerkennung als Ritter. Seine vollständige Einweihung in die Gralsgesellschaft erfolgt jedoch erst nach der Taufe, die durch die Liebe zu der Gralshüterin Repanse de Schoye initiiert wird. Mehrmals wird in der Forschung auf die umfassende Aussage des Epos und insgesamt die Artus- und Gralsthematik hingewiesen. Um 1200 wird eine »entscheidende Wende in der höfischen Epik: Übergang von einer ethisch-sozialen zu einer universal-eschatologischen Sinngebung des Erzählens«9 sichtbar. »Diese Sinngebung erfährt bei Wolfram eine Perspektivierung und Vertiefung, wie sie weder vor noch nach ihm in der mittelalterlichen Geschichte des Gralsmythos verwirklicht wurde«.10

Zwischen falschen Hoffnungen und der Angst vor Fragen. Parzival im Theater um 1989 Wie viel von dieser Aussage des mittelalterlichen Textes bleibt noch in seinen modernen Bearbeitungen aktuell? Das besondere Augenmerk wird in diesem Beitrag den folgenden Theaterstücken gewidmet: Parzival. Ein Szenario und Next Level Parzival. Gefragt wird dabei nach den Schwerpunkten der Rezeption von Wolframs von Eschenbach Epos und möglichen Gemeinsamkeiten der Stücke. Zuerst sollen aber kurz die zwei anderen Adaptationen des Stoffes erwähnt werden. Im Stück Die Ritter der Tafelrunde von Christoph Hein, das häufig als »Zeitstück« über das Zusammenbrechen der DDR und ihrer Ideale rezipiert wurde,11 zeichnet sich eine gewisse Verdrossenheit mit der Gralssuche ab, vor allem bei der jüngeren Generation der Figuren. Die Symbole und Ideale erweisen sich, selbst bei den Gralsrittern als nicht mehr tragfähig, ein überzeugender Ersatz ist

8 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzt von Peter Knecht, Berlin – New York 2003, S. 751 (XV Buch 747, 25). Dieser Vergleich kann gleichzeitig als eine Erweiterung auf den ganzen Text und den Prozess des Schreibens interpretiert werden, der auch durch Ambivalenzen gekennzeichnet ist. 9 Hartmann: Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach (wie Anm. 1), S. 55. 10 Ebd, S. 55. 11 Vgl. Antje Jansen-Zimmermann: Schlötel, Lassale und König Artus. Aktuelle Anmerkungen zu Dramen von Cristoph Hein, in: Lothar Beier (Hg.): Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder, Frankfurt/Main 1990, S. 167–195.

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nicht in Sicht. Die am Hof Artus geführten Diskussionen zielen nur noch darauf ab, die eigenen Machtansprüche zu legitimieren.12 Trotzdem ruft Artus auf, die Hoffnung und die Suche nach dem Sinn nicht aufzugeben. Parzival wird in dem Stück zu einer Randfigur, die sich nach den Enttäuschungen der Gralssuche jetzt als Intellektueller mit der Redaktion einer kritischen »Gralszeitschrift« beschäftigt.13 Anders ist es bei dem Stück von Peter Handke, der den Stoff eher assoziativ bearbeitet. Parzival, eine unter anderen Figuren der Schauspieler und Spielverderber, die auf der Reise zum sonoren Land sind, wirkt überfordert mit den an ihn gestellten Forderungen, Fragen zu stellen.14 Er versinnbildlicht das kulturelle Gedächtnis als das Nicht-Fragen-Können einer jüngeren Generation. Eine der Schauspielerinnen betont jedoch den Zwang des Spiels. Es sei höchste Zeit »das ausstehende Drama des Fragens zu spielen, weil es dabei immer noch besser sei, falsch zu fragen, als gar nicht mehr zu fragen: das Erstere sei bloß ein Fehler, das Letztere aber inzwischen Schuld«.15

Ein Spiel von Täuschungen. Parzival von Tankred Dorst Die von Tankred Dorst geschaffene Fassung von Parzival enthält den Untertitel Ein Szenarium. Sie entstand in der Zusammenarbeit mit Robert Wilson und Ursula Ehler im Auftrag des Hamburger Thalia Theaters 1987. Dorsts Interesse an dem Parzival-Stoff war schon bei seinem umfangreichen Theatertext Merlin (1981) sichtbar, in dem Parzival eine Figur war, die sich zwischen Wahn und Wirklichkeit, Verrücktheit und Verzückung bewegte.16 Außerdem entstanden in den 1980er Jahren auch das Filmprojekt Der Wilde und die Erzählung Der nackte Mann, die Parzival in dem Konflikt zwischen zwei Determinanten, dem wilden Leben und den Formen der Vergesellschaftung, darstellten.17 Dorst entwirft in seinem Szenarium, in dem 1990 veröffentlichten Text, eine Collage aus einprägsamen Bildern und Geschichten, die den Inhalt des Epos aufgreifen und 12 Mehr dazu bei Martin Langner: »Das Wissen um unseren Tod macht uns ruhelos…« Gemeinschaft, Macht und Tod in dem Theaterstück »Die Ritter der Tafelrunde« von Christoph Hein, in: Hans-Christian Stillmark / Sarah Pützer (Hg.): Inseln der Hoffnung – Literarische Utopien in der Gegenwart, Berlin 2018. S. 11–27. 13 Reiz: Grals Ende? (wie Anm. 2), S. 326f. 14 Ebd. S. 328. 15 Peter Handke: Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land, Frankfurt/Main 1989, S. 29f., zit. nach Stephanie Wodianka: Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur, Berlin – New York 2009 (spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 17), S. 366. 16 Reiz: Grals Ende? (wie Anm. 2), S. 323. 17 Ursula Ehler: Vorbemerkung, in: Tankred Dorst: Parzival ein Szenarium, Frankfurt/ Main 1990, S. 7.

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assoziativ weiterentwickeln.18 Die den Text eröffnende Szene, betitelt Tötungsritual, vergleichbar mit dem Prolog im Parzival, bildet eine Diskussion zwischen den Darstellern über den Realitätsbezug und Authentizität in den zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch den Wirklichkeitsgehalt ihrer Rollen im Theater. Erwägungen über Voyeurismus, Simulation, Handlung und ihre Darstellung führen die Beteiligten zur Forderung nach den bloßen Ereignissen. »Nicht die Darstellung des Lebens, das Leben selbst! Nicht die Darstellung des Todes, der Tod selbst!«19 ruft eine Figur aus. Wie es sich herausstellt, spielt sie Jeschute, der Parzival in der späteren Szene einen Finger abbeißen wird. Ihr fehlt aber schon während der ersten Szene ein Finger. Die metatheatralen und theatralen Ebenen verflechten sich, die Figuren und ihre Darsteller bleiben voneinander untrennbar. In ihrem Austausch hinterfragen die Darsteller die Präsenz und Identität der Figuren, sie sind sich ihrer Rollen nicht sicher, können einander schwer erkennen. Das Gespräch verläuft spielerisch und manche der Figuren scheinen sich dabei gut zu amüsieren. Auf die Frage »Na bin ichs?« antwortet die zweite Person »Du siehst so aus. Du bist Dir ähnlich!«20 Bestehen bleiben also nur ein Spiel und ein trügerisches Bild, deren Realitätsbezug nicht definierbar ist. Man kann diese Szene als Voraussage der Bearbeitungsstrategie für den Parzival-Stoff bei Dorst lesen. Die vom Autor kreierten Bilder werfen Fragen auf, auf die man keine sichere Antwort geben kann. Parzival wird zu einem Spielobjekt von Merlin gemacht, die Chronologie der Bilder bleibt vermischt, die ganze Artusgesellschaft spielt Theater und die symbolisch aufgeladenen Bilder werden oft banalisiert und ad absurdum geführt. Somit wird ihr Deutungsanspruch untergraben. Diese Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten erlaubt es, drei Themenbereiche in dem Szenarium zu unterscheiden. Den ersten bildet der Lebensweg von Parzival und seine Identitätssuche, auf der er von Merlin in verschiedenen Erscheinungen begleitet wird. Den zweiten Bereich machen die künstlerischen und theatralen Motive aus. Im Stück werden verschiedene Figuren von Künstlern thematisiert und die Artusgesellschaft wird zusätzlich im Szenario Das Glück in einer Theaterszene als Schauspieler und Zuschauer gezeigt. Die dritte Gruppe von Bildern ist mit symbolischen Darstellungen der Mythen oder weltbedeutender Ereignisse verbunden, die – wie bereits erwähnt – einen umfassenden Blick zu geben versuchen, dabei durch absurde Zusammenstellungen verlacht werden, oder rätselhaft anmuten, wie in den Szenarien Zwergplanet, Gralbilder oder Vier Geschichten. Alles lässt sich unter das Stichwort ein Spiel subsumieren. So ist der Umgang von Merlin mit Parzival, wenn der Zauberer in verschiedenen Gestalten den Suchenden begleitet und ihm 18 Vgl. dazu Reiz: Grals Ende? (wie Anm. 2), S. 324. 19 Tankred Dorst: Parzival ein Szenarium, Frankfurt/Main 1990, S. 13. 20 Ebd., S. 15.

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oft eine Realität vortäuscht. Die Bedeutung und Aussage der Szenarien, die sich durch große Offenheit und Uneindeutigkeit auszeichnen, kann nur spielerisch erkundet werden. Schließlich bildet die Selbstreferentialität in den Handlungen der Figuren, die sehr oft durch metatheatrale Bemerkungen die Konvention ihres Spiels aufs Neue zu bestimmen versuchen, den Eindruck eines Spiels. In den Szenen mit Parzival dominieren dessen begrenzten, gewalttätigen Verhaltensweisen, die keine Unterscheidung zwischen Schmerzen und Wohlergehen, zwischen Leben und Tod berücksichtigen. Es fängt schon mit dem Tod der Mutter an, den Parzival nicht bemerkt. Einen Höhepunkt seiner wilden, atavistischen Verhaltensweise bildet die Tötung Ithers und der Raub seiner Rüstung. Ohne Kenntnisse des Umgangs mit dem Panzer, schneidet Parzival stückweise den Leichnam von Ither aus der Rüstung aus, um selbst hineinzuschlüpfen. Diesen symbolischen Akt der Suche nach der eigenen Identität durch Ritterwerdung verbindet Parzival mit Artefakten. Als er bei der Artusgesellschaft im blutigen Panzer auftaucht, formuliert er deutlich seine Überzeugung, die jedoch ironisch, wie ein kindisches Rollenspiel klingt und einen Kontrast zu seiner Gräueltat bildet: Parzival lacht: Jetzt bin ich ein Ritter! Darüber freue ich mich sehr. Bist du ein Ritter? Ich bin ein Ritter! Guten Tag Ritter! Und du Rittergesicht! Rittergesicht!21

Stolz auf seine Rüstung und neue Identität sagt er, in seiner Unkenntnis der höfischen Regeln, die Suche nach Gott voraus, dem er, wie von der Artusgesellschaft zugesichert, als dem höchsten Herrn dienen kann. Parzival […] Dir will ich lieber nicht dienen, König Artus! Du hast einen Herrn über dir, hast du gesagt. Ich will lieber gleich zu dem größten Herrn gehen. […] Ich werde ihn schon finden. Ich suche ihn mir allein.22

Bei der Suche nach Gott begegnet er vielen Menschen, die er nach »dem größten Herrn« fragt. Seine Mühe bleibt jedoch vergeblich, jeder gibt ihm eine andere Antwort. Er vertraut keinem, schläft und ruht nicht. Die einzige sichere Haltung, die er kennt, ist Gewalt anzutun: »Ich schlage alles kaputt, ich verwüste das ganze Land, ich töte alles, was lebt, bis Er allein noch übrigbleibt!«23 Tatsächlich tötet Parzival viele Menschen auf seinem Weg, bis er keinen Ausweg mehr weiß, auf der Stelle tritt und in die Vergangenheit flüchten will. Merlin, der ihn immer wieder begleitet, führt ihm die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens vor Augen. Der Ritter begegnet auf seinem Weg alten Künstlern und versucht, ihnen das Ziel seiner Suche zu erläutern. In den Vordergrund des Gesprächs wird das Spiel zwischen Trug und Realität im Leben und in der Kunst gestellt. Die Unsicherheit über die 21 Ebd., S. 44. 22 Ebd., S. 44. 23 Ebd., S. 52.

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Ereignisse und ihre Abbildung manifestiert sich auch in der nächsten Szene, die eine Prolepse in der Geschichte darstellt. Parzival, der als der alte Gralskönig zusammen mit der alten Königin – Blanchefleur auftritt, versucht sich an den Gral zu erinnern. Weder das Erlebte noch dessen künstlerische Nachahmung ermöglichen es, die Wahrheit über dieses Ereignis zu erfahren. Die alte Königin Du hieltest die Schale… Der alte König Wie sah sie denn aus? Die alte Königin Jeder kennt sie! Es gibt Tausende von Nachbildungen! Wir haben sie anfertigen lassen, um uns immer daran zu erinnern. Die berühmtesten Künstler haben sie geschaffen, sieh sie dir doch an! Und draußen werden sie in billiger Ausführung an der Straße verkauft. Der alte König Es war keine Schale!! Die alte Königin Doch jeder weiß es! Der alte König Alles Ramsch und Lüge und vergebliche Anstrengung! Ich kann es nicht mehr nennen und nicht mehr fühlen.24

Die Äußerlichkeiten hinterlassen bei Parzival keine Spur und die Erinnerungen lassen sich nicht festhalten. Diese unfeste Bedeutung wird aber selbst den beiden Figuren zugeschrieben, sie verschwinden plötzlich aus der Szene. Die Diskussion über das Echte und Wahre setzt sich in der nächsten Szene im provisorischen Theater fort. Die Zuschauer werfen den Schauspielern Täuschung und Betrug angesichts ihrer mimetischen Kunst vor. Auch Parzival und Blanchefleur werden zum Schauobjekt fürs Publikum gemacht, das sich als Artusgesellschaft mit Guckkästen vor den Augen entpuppt. Die Gesellschaft tritt symbolisch für die früher artikulierte Erwartung gegenüber dem Theater auf. Einerseits ist das die Lust als Voyeure an »etwas Echtem« zu partizipieren, andererseits das Bedürfnis ein Medium, das die Unterhaltung vermittelt und den Eindruck der Illusion verschafft, in seiner Materialität darzustellen, das heißt die Täuschung aufzudecken und spielerisch umzusetzen. Diese Forderungen werden im Gespräch zwischen Zuschauern und Darstellern thematisiert. Alles löst sich aber wieder im Ungewissen auf. Im Text von Dorst wird auch die Treue von Gawan gegenüber Parzival thematisiert. Sie ist jedoch der Auslöser, um vom Versagen Parzivals am Hof von König Anfortas zu berichten. Seitdem nimmt die Verwirrung von Parzival zu, er nimmt die Welt als wüstes, verlassenes Land wahr. Erst die Lebensart und Demut vom nackten Einsiedler, den er als nächsten auf seinem Weg trifft, wecken bei Parzival Neugier und Faszination. Parzival bleibt in dem, wie er es nennt, kleinen Paradies des Eremiten und versucht mit allen Lebewesen in Eintracht zu leben. Er will seinen Jähzorn beherrschen lernen und so wie der nackte Mann heilig sein. Dieses erweist sich aber auch als eine Täuschung. Die Frau des Einsiedlers kommt 24 Dorst: Parzival ein Szenarium (wie Anm. 19), S. 79.

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eines Tages und verklagt ihn des Todes ihrer Kinder, zu dem er durch sein Verschwinden und Verlassen der Familie beigetragen habe. Parzival gerät wieder in seinen zerstörerischen Wahn und verlässt den Ort, nachdem er ihn in Schutt und Asche gelegt hatte. Auf seinem weiteren Weg trifft der wilde Ritter schließlich Trevrizent, den Bruder von Anfortas, der sich selbst geißelt. Er behauptet, er müsse leiden und aus diesem Grund peitscht er sich selbst. Trevrizent bittet und zwingt sogar Parzival ihn zu schlagen. Er erkennt den Ritter als Verrückten und Gefühllosen, den das Leiden anderer nicht kümmert. Der Geißelnde erklärt, dass er sich solange schlagen wird, bis Gott sich seines Bruders – des Gralskönigs – erbarmt oder bis er selbst tot ist. Parzival reißt ihm die Rute aus der Hand und ruft ein Bekenntnis voll Mitleid aus: Oh wie plagen sich die Menschen in ihrer Zeit! Wie leiden sie! Oh wie liebe ich deinen Schmerz! Ich leide mit dir, du leidender Menschenbruder! Wie ich den Geschlagenen liebe! Und den Schlagenden liebe ich auch! Ich sehe dich an und erkenn mich! Ich weiß es jetzt […] ich erkenne den Menschen.25

Diese Veränderung scheint der Höhepunkt des Lebenswegs von Parzival zu sein. Trevrizent erweist sich als der verkleidete Merlin. Parzival hat das Ziel seiner Suche erreicht, indem er Lieben und Mitfühlen gelernt hat. Merlin, eine an sich ambivalente Figur, führte Parzival durch den Weg voller Täuschungen bis zu dieser Erkenntnis. Dabei wird deutlich, dass niemand ohne Schuld ist, was die Figur des Schlagenden und Geschlagenen in einer Person symbolisiert. Das Mitgefühl erlöst Parzival von seinem gewalttätigen, blinden Weg und erlaubt ihm, seine Identität im Verhältnis zum anderen Menschen und der Gemeinschaft aufzubauen. Das Spiel als Leitmotiv des Stücks ist aber nicht aus. Die letzte Szene sorgt für weitere Verwirrung. Parzival und Blanchefleur liegen im Schnee oder täuschen sich das vor. Der Ritter beobachtet, wie gebannt den Gral in der Ferne und hat vor, sich in den Abgrund zu werfen, in der Hoffnung von Gott aufgefangen zu werden.

Einbruch des Fremden in die geregelte Computerwelt. Next Level Parzival von Tim Staffel Das Theaterstück Next Level Parzival von Tim Staffel stellt ein deutlich anderes Konzept dar. Hier ist Parzival nicht derjenige, der im Zentrum der Geschichte steht, sondern er ist der Auslöser des Chaos, mit dem die anderen Beteiligten sich auseinandersetzen müssen. Seine Suche nach der Identität trägt zu Veränderungen der anderen Figuren bei, und hilft, wie der Titel besagt, den nächsten 25 Ebd., S. 109.

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Level zu erreichen. Die Handlung des Theaterstücks verläuft auf zwei Ebenen parallel: Die eine Ebene ist die Realität von sieben jugendlichen Computerspielern, die andere Ebene ist die virtuelle Realität eines Spiels namens Artus. Die private Kommunikation zwischen den Spieler und zwischen den Avataren untereinander verläuft außer auf den beiden Ebenen auch auf zwei Kanälen, dem Flüster- und Clankanal. Der Clankanal ist nur für die Mitglieder des Clans reserviert, der Flüsterkanal ist eine Art der Metakommunikation zwischen den Spielern über die Dialoge und Handlungen ihrer Avatare. Die Verständigungsmöglichkeiten bei dem Spiel sind also vielschichtig und auf Gleichzeitigkeit und Rollen- und Diskurswechsel orientiert. Das Spiel kann dadurch zusätzlich und in der Echtzeit von verschiedenen Kommunikationsebenen manipuliert werden und plötzliche Wendungen erfahren. Für die Spieler bedeutet es ein gleichzeitiges Benutzen und Umschalten zwischen unterschiedlich geregelten Diskursen und ihren Identitäten: dem offiziellen Diskurs des Spiels, dem inoffiziellen der Avatare und dem Metadiskurs der Spieler. In allen drei können sie ihre Strategien entwickeln. Junge Menschen vertiefen sich in die Welt der mittelalterlichen höfischen Kultur, Ritteraventiuren, Turniere und Kämpfe der Ritter um die Gunst ihrer Damen. Das Spiel verläuft nach den von Artus, der gleichzeitig das System des Spiels ist, bestimmten Regeln. Die Avatare können ihre Identität aufwerten, indem sie bestimmte Quests – Aufgaben – lösen und dadurch an Stärke, Attributen oder Tugenden gewinnen. Ihr Ziel ist das Erreichen des Grals, der ihnen Unsterblichkeit garantieren soll. Wie Staffel im Interview für Theater Heute bekennt, war seine Inspiration für dieses Stück unter anderem das Spiel The World of Warcraft, bei dem man eine virtuelle Identität annimmt und in komplexen taktischen Prozessen zusammen mit dem Clan verschiedene Instanzen (Zonen, in denen man Aufgaben löst) durchläuft.26 Von Bedeutung ist dabei die Identifikation mit dem eigenen Avatar. Andrea Schindler betont den Effekt der Immersion, den das Computerspiel mithilfe der virtuellen Realität erzeugt. Es erlaubt dem Spieler, Erlebnisse von seinem Avatar mitzuerleben und als dieser zu handeln.27 Sie stellt die These auf, dass die Spieler in dem komplexen Rollengeflecht gleichzeitig Rezipienten und Autoren der virtuellen Realität sind, weil ihre Avatare die Geschehnisse herbeiführen und auf sie reagieren.28 Bevor die Spieler in Next Level Parzival die 26 Franz Wille / Tim Staffel: Der Schurke ist am einfachsten zu spielen, in: Theater Heute, 11 (2007), S. 35. 27 Andrea Schindler: Virus Parzival. Der Artusroman als Rollenspiel in Tim Staffel Next Level Parzival, in: Mathias Herweg / Stefan Keppler-Tasaki (Hg.): Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, Berlin – New York 2013 (Trends in Medieval Philology, Bd. 27), S. 365. 28 Ebd., S. 367.

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Identitäten ihrer Avatare annehmen und in die Welt der Figuren von dem Artushof – Jeschute, Orilus, Gawan, Liaze/Condwiramurs, Ither, Ginover, Clamide – eintauchen, tauschen sie ein paar bissige Kommentare untereinander aus. Sie bedienen sich der Jugend- und Computerspieler-Sprache, reflektieren Situationen aus ihrem Alltag, besonders ihre Freundschaften und Beziehungen. Die Gastgeber Lucas und Annika verhandeln mit ihrer Mutter die erlaubte Spielzeit. Oktay, der den stärksten Ritter Ither spielt, klagt über die plötzliche Arbeitslosigkeit seines Vaters, der ein türkisches Café führte. Bei dem Rollenspiel versetzen sie sich in die Welt klarer Regeln hinein, nach denen es im Gegensatz zu ihrem Leben bestimmt wird.29 Der Ausruf der Spieler bei jedem Einloggen und Anfang des Spiels lautet »Frei von allem Falsch«. Er verdeutlicht das Vertrauen auf faire Spielregeln. Die jungen Menschen übernehmen die stilisierte, vornehme Ausdrucksweise der Figuren aus den mittelalterlichen Romanen und trainieren sich im Gewinn der Tugenden. In der fünften Szene der ersten Instanz, betitelt Regeln, erscheint unerwartet ein neuer Avatar, Parzival, der im Gespräch mit dem Orakel spielerisch seine Identität zu erkunden versucht. Nach der Bestimmung des Namens werden verschiedene Möglichkeiten seiner weiteren Identifikation erwogen: Dieb, Ritter, Sohn. Parzival sieht Ither und will, wie dieser, Ritter sein. Staffel übernimmt die Szene des Überfalls von Jeschute aus dem Parzival von Eschenbach. Die Szene hat im modernen Stück noch tiefer greifende Konsequenzen. Nicht nur wird Jeschute von ihrem Mann Orilus schlecht behandelt. Sylvio, der in die Rolle von Jeschute schlüpft, wirkt nach dem Attentat innerlich bewegt und tief verletzt. Sein Avatar verliert an Charakterpunkten, Mut und Seelenstärke, Silvio verspürt eine Desorientierung in Bezug auf seine Identität. Die Wirkung des Spiels überträgt sich auf die Emotionalität und Selbstwahrnehmung des Spielers. Das Auftauchen von Parzival beim Turnier von Artus sorgt für weitere Unruhen im Clan, die sich zuerst in verschiedenen Reaktionen auf den Fremdling äußern. Parzival wird von der Gesellschaft als Narr ausgelacht, aber die Damen, besonders Ginover, betrachten ihn mit Neugier. Das hat zur Folge, dass der eifersüchtige Artus zum ersten Mal gegen die Regeln verstößt und die Königin auf eine für alle Beteiligten auffällige Weise bestraft. Um Parzival loszuwerden, stellt Artus ihm die Aufgabe, die Rüstung Ithers zu gewinnen. Es ist die Reaktion auf den Wunsch des Neulings als Ritter anerkannt zu werden. Zur Verwunderung der Spieler eliminiert Parzival Ither. Oktay verliert seine Punkte und sein Avatar wird zum Knappen degradiert. Dieser Vorfall erschüttert den jungen Spieler, was in seinen Äußerungen in den privaten Kommunikationskanälen deutlich wird. Trotz der Verwirrung erkennt die Gesellschaft die Tat Parzivals an und zwingt Artus Parzival, gemäß der Regel, zum Ritter zu schlagen. Im Flüsterkanal wird über die mögliche Herkunft des fremden Störers gemut29 Vgl. Wille / Staffel: Der Schurke ist am einfachsten zu spielen (wie Anm. 26), S. 35.

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maßt. Seine unvorhersehbaren und »wilden« Handlungen verunsichern alle Spieler, die nach möglichen Erklärungen der Situation durch den nächsten Level, Hacker, Cheater oder Virus suchen. Das Spiel verliert in ihren Augen an Sinn, wenn jemand gegen die Regeln verstößt. Das spiegelt sich in der Äußerung von Sylvio wider: Sylvio Was soll sein? Mir geht’s fantastisch. Wir haben einen drin, der sich an keine Regel hält. Artus ist bugverseucht, ist also keine Hilfe, was nicht sein kann. Ist aber so. Also, helfen wir uns selbst, oder was? Hören wir auf ?30

Diese, die bisherige Ordnung des Spiels in Frage stellenden Vorfälle verbinden die Spieler mit der Realität außerhalb des Spiels. Die geregelte virtuelle Welt gab ihnen bisher die Sicherheit, die sie sonst nicht erleben konnten: Lukas Scheiß! Ich muss weiterspielen. Vor Clamide haben die anderen Respekt. Und ich weiß, wie alles funktioniert. Niemand ist unfair und cheated. Wenn sich das jetzt ändert, was soll ich da noch? Dann wird alles so, wie es immer und überall sowieso schon ist.31

Staffel bezeichnet die Wechselwirkungen zwischen dem realen Leben und dem Spiel als das Interessanteste, und versucht, sie in seinem Stück zu thematisieren.32 Die zweite Instanz des Dramas, betitelt Kicken und helfen, stellt einen Versuch dar, Parzival höfische Umgangsarten beizubringen. Jedoch nicht alle Spieler vertreten diese Idee. Parzival versucht das Rätsel seiner Identität zu lösen und leitet sie von dem Namen ab, klagt dabei aber über die Fremdbestimmung. Damit knüpft Staffel an die Symbolik der Namen im Parzival von Wolfram von Eschenbach an, die die Figuren charakterisieren, und problematisiert die Metaebene der Narration im Spiel. Das Gespräch mit Jeschute offenbart, dass die Spieler selbst die Identität ihrer Avatare bestimmen und ihre Namen wählen. Parzival ist als Fremder aber aus diesem Prozess ausgenommen. Es gibt keinen Spieler, der sein Verhalten steuern könnte. Alles, was er erfährt, seine Sozialisation entwickelt sich in dem Spiel. Deshalb ist er außer Stande über Mitgefühl zu verfügen. Das ändert sich in der nächsten Instanz. Im Traum- oder Unterbewusstseinszustand wird Parzival von Figuren eingeholt, denen er Leid angetan hatte. Der einzige, der ihn in diesem Zustand hört, ist Sylvio. Es ist ein weiterer Beweis dafür, dass in dem Stück von Staffel keine trennscharfe Grenze zwischen den Ebenen des Computerspiels und der Realität existiert. Dieses bestätigt der Fall von Lukas, der die Kampfwunden von seinem Avatar an seinem Körper entdeckt. Das Programm Artus fordert die Fortsetzung des Spiels ohne die bisher geltenden Regeln. Lukas kommt zu dem Schluss, dass Parzival ein Virus sein 30 Tim Staffel: Next Level Parzival, in: Beilage zu Theater Heute, 11 (2007), S. 8. 31 Ebd., S. 8. 32 Wille / Staffel: Der Schurke ist am einfachsten zu spielen (wie Anm. 26), S. 35.

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muss, das im Inneren des Spiels erzeugt wurde und das ganze System umprogrammiert hat. Die Spieler überlegen die weitere Taktik, Parzival in eine Falle zu locken. Sie kommen aber zu keiner Übereinkunft, weil Jeder sein Recht durchsetzen will. Der früher benutzte Spruch »Frei von allem Falsch« klingt angesichts der Situation wie Hohn. Das Spiel wechselt zur nächsten Instanz Systemabsturz. Artus warnt vor Illusionsbildern, die Parzival im Kampf gegen den Clan erzeugen wird. Die Avatare fangen an, um den Vorrang zu streiten, und dieser Konflikt verlagert sich auf die Spieler. Die beiden Ebenen vermischen und verbinden sich miteinander. Die Spieler streiten und schlagen sich im Namen ihrer Avatare. In der letzten Szene verläuft die Handlung auf zwei Ebenen parallel. Zum einen ist es die berühmte Vision von Parzival, der Bluttropfen im Schnee. Es ist nicht deutlich, wessen Blut Parzival sieht, jedoch diese Vorstellung verändert ihn und führt zur Erkenntnis seiner Schuld.33 Auf der anderen Ebene verläuft der von Artus vorausgesagte Kampf ums Überleben. Den Avataren stehen diesmal moderne Waffen zur Verfügung. Das System gerät außer Kontrolle und die Avatare wenden sich gegen die Spieler. Parzival verweigert jedoch den Kampf. Er beruft sich auf die ritterlichen Tugenden und wirft der Artusgesellschaft vor, ihre Ideale aufgegeben zu haben. Es kommt zu einem Gespräch zwischen Parzival und Sylvio, in dem der Avatar dem Jungen die berühmte Frage nach seinem Wohlbefinden stellt, die eine Schlüsselszene im Parzival von Eschenbach ist. Parzival entschuldigt sich für die körperlichen und seelischen Schmerzen, die er Sylvio zugefügt hat: Sylvio Warum hast du dich vor Jeschute nicht geschämt? Vor ihr hast du dich verleugnet. Hast du dich nicht mal entschuldigt. Parzival Ihr hab ich nichts getan. Sie ist nicht echt. Aber dich sehe ich an und es zerreißt mir echt das Herz. Sylvio Komisch. Ich dachte immer, Mitleid ist das Letzte. Weil keiner sehen darf, dass du leidest und wenn einer Mitleid mit dir hat, bist du ein Schwächling.34

Parzival, der sich jetzt als Mitfühlender erweist, befreit Sylvio von seinem Leiden mit einem Kuss und verschwindet gleichzeitig aus dem Spiel. Als symbolischen Beweis der Wiedergutmachung bekommt Sylvio den Ring von Jeschute zurück. Der Fremdling Parzival weist durch sein Benehmen darauf hin, dass es sich nicht um die virtuelle Realität, sondern um die Identität und die Entwicklung der Spieler handelt. Nach dem glücklichen Abschluss des Spiels tauschen die Jugendlichen ihre letzten Erlebnisse aus dem Kampf gegen ihre Avatare aus. Diese Szenen beweisen, dass die Immersion bei dem Spiel so weit gelungen war, dass die 33 Es lassen sich Ähnlichkeiten mit derselben Szene bei Wolfram von Eschenbach feststellen, vgl. Joachim Bumke: Bluttropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im »Parzival« Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001, S. 18f. 34 Staffel: Next Level Parzival (wie Anm. 30), S. 15.

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Spieler ihr eigenes Leben dort für eine Weile »geführt haben«. Die Spieler lernen aus dieser Erfahrung, dass es keine Welt gibt, in der die Regeln immer gelten werden. Ihre Freundschaft bleibt trotzdem erhalten und sie können sich miteinander versöhnen. Lukas entscheidet sich, sein Account zu verkaufen, was ein symbolischer Bruch mit der scheinbar geordneten Welt des Spiels ist. Schindler interpretiert die Folgen des Auftretens von Parzival als »eine Erschütterung des scheinbaren Wissens in einer scheinbar geregelten Welt«.35 Die normierte und geregelte Welt ist nicht imstande, eine abweichende Verhaltensweise friedlich zu besänftigen. Die gewalttätigen Umgangsarten mit dem Eindringling deuten auf die Instabilität und Anfälligkeit des Systems hin.36

Resümee Die beiden auf den ersten Blick so weit voneinander entfernten Theaterstücke lassen sich durch ihre Aussagen verbinden. Nur Mitleid und Nächstenliebe können zur Erlösung und Bestimmung der eigenen Identität führen. Die soziale Komponente und Humanität helfen Parzival bei der Selbsterkenntnis und Befreiung von dem Teufelskreis der Gewalt bei Tankred Dorst, und von seiner Schuld bei Tim Staffel. Der zweite Aspekt, der die Texte verbindet, ist das Vermischen von Spiel und Leben. Die Effekte vom Spiel im Spiel und die metatheatralen Überlegungen bei Dorst führen die Figuren zum Zweifel über ihre Echtheit und zur Forderung nach Angleichen von Spiel und Leben. Die Ebenen Spiel und Wirklichkeit verflechten sich bei Staffel und ihr Auslöser ist Parzival, der die geregelte Spielwelt verändert. Zwei verschiedene Zugänge zu dem Stoff, die zwanzig Jahre auseinander liegen, beweisen die Aktualität der Fragestellung nach der Identität der Figuren, nach den Illusionseffekten und dem Realitätsbezug von Medien wie Theater und Computerspiel. Das Motiv der Suche von Parzival nach dem Sinn des Lebens bekommt in den Texten eine Erweiterung, indem sie sich selbst als Medium hinterfragen und nach dem Sinn des Spiels suchen.

35 Schindler: Virus Parzival (wie Anm. 27), S. 378. 36 Ebd., S. 378.

Musik und Übertragungen

Andrea Rudolph (Uniwersytet Opolski)

Autonome Instrumentalmusik versus Vokalmusik. Weltschmerz und frühromantische Selbstfindung in August Kahlerts Blättern aus der Brieftasche eines Musikers

Die aus Schlesien stammenden oder in Schlesien wirkenden Autoren Karl Eitner (1805–1884), Karl August Timotheus Kahlert (1807–1864), Julius von Heyden (1786–1867), August Kopisch (1799–1853), Karl Adolf Suckow (1802–1847)1 sind weithin in Vergessenheit geraten. Das mag verschiedene Gründe haben. Sieht man einmal von der Blütezeit des Barock, einer eher punktuell bleibenden Aufmerksamkeit für die Romantik (Schleiermacher, Eichendorff) und vom Naturalismus eines Gerhart Hauptmann ab, blieben deutsche Literatur und Kultur in Schlesien von polnischer Seite – verständlicherweise – lange ausgeblendet, auch weil in der Nachkriegszeit über die Kulturerinnerung von einer Gruppe vertriebener Deutscher Anspruch auf Rückkehr erhoben wurde. Aber auch auf deutscher Seite blieb eine Beschäftigung mit deutschen Spuren in Schlesien aus, nachdem ein Schuldbewusstsein nach 1945 aus dieser Region für viele Deutsche eine Tabufläche geschaffen hatte. Die auf beiden Seiten entstandene Tabusituation hatte dazu geführt, dass die deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts lange »weg gesunken« schien. Weil die manchmal lediglich in schwer greifbaren Erstausgaben oder auf Mikrofiches zur Verfügung stehenden Erzähltexte nur in deutscher Sprache überliefert sind, blieben sie auch der polnischsprachigen Schlesienforschung weitgehend unbekannt. Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts verzeichnet die historische, soziologische, sprachgeschichtliche, musikgeschichtliche, theologische, mentalitätsgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Schlesienforschung hoffnungsvolle Aufbrüche, deren wissenschaftlicher Ertrag in Gestalt von Monographien, Studien, aber auch kulturellen Projekten wie Dichterhäusern, Ausstellungen, Konzerten usw. der 1 Karl Gabriel Nowack schrieb für schlesische Autoren und Autorinnen nach deren Tode Lebensbeschreibungen. Vgl. Karl Gabriel Nowack: Schlesisches Schriftstellerlexikon oder bio-bibliographisches Verzeichnis der im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts lebenden schlesischen Schriftsteller, Breslau 1840. Diese gerieten ebenso wie die Nachrufe in den »Schlesischen Provinzialblättern« in Vergessenheit. An die einstige Bedeutung Kahlerts im Kulturleben Breslaus erinnerte zuletzt Wojciech Kunicki (Hg.): August Timotheus Kahlert. Der Briefwechsel zwischen Karl von Holtei und August Timotheus Kahlert, Leipzig 2018.

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immensen Dichte wegen nur erinnert, nicht bibliographisch aufgeführt werden kann. Hiervon hat die Literatur des 19. Jahrhunderts nur zu einem kleinen Teil profitiert. Von den Dichtungen der nach 1830 von Karl Eitner genannten Hoffnungsträger eines Aufschwungs novellistischer Formgebung2 wie Johann Gottlieb Rhode (1762–1827), Oswald Marbach (1810–1890), Friedrich von Heyden (1789–1851), Karl Adolf Suckow (1802–1847), Leopold Schefer (1784–1862), dem aus Grünberg stammenden Karl Adolf Wachsmann (1787–1862) ist heute, wenn überhaupt, nur noch ein kleiner Teil bekannt. Dies trifft auch auf den Breslauer Publizisten, Schriftsteller und Gelehrten August Kahlert zu. Kahlert rechnet mit seinen 1832 und 1836 gedruckten Novellen und Beiträgen in zentralen musikalischen Zeitschriften zu den philosophisch geschulten Musikschriftstellern der musikalischen Neuromantik. In neueren Versuchen regionaler Literaturgeschichtsschreibung3 wenden sich Verfasser bzw. Herausgeber gegen eine »Aristokratie« der großen Namen, wie sie die nationale literaturgeschichtliche Kanonbildung aufweist. Sie sprechen sich gegen eine Gratwanderung auf Höhenkämmen der Literatur für eine Dezentralisierung, ja Republikanisierung der Literaturgeschichte unter Beachtung der historischen Wirklichkeit der Menschen aus.4 Dies ist freilich schon ein alter Konflikt.5

2 Karl Eitner veröffentlichte 1837 in den »Schlesischen Provinzialblättern« seine Schrift Schlesien’s Bedeutung im Entwicklungsgange der neuesten deutschen Kunst und schönwissenschaftlichen Literatur. Eine kunsthistorische und kunstphilosophische Skizze. Siehe deren kommentierte Neuauflage in: Maria Katarzyna Lasatowicz / Andrea Rudolph: Literaturgeschichtliche Schlüsseltexte. Kommentierte Studienausgabe, Berlin 2005. Eitners Nennung der Erzähltalente, ebd., S. 171. 3 Begriffe wie »Heimat«, »Herkunft«, »Identität« wurden zu Konferenz- und Gesprächsthemen. Vgl. Hans-Peter Ecker: Region und Regionalismus. Bezugspunkte für Literatur und Literaturwissenschaft, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63 (1989), S. 310–314; Jürgen Hein: Regionalliteratur. Anmerkungen zu den Ergebnissen der sechs Soltauer Symposien 1991–1996, in: Soltauer Schriften, Bd. 6, Soltau 1998, S. 26ff. 4 Vgl. Max Giller: Territorium und Literatur. Methoden und Aufgaben einer regionalen Literaturgeschichtsschreibung des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Geschichte und Region / Storia e regione 1 (1992), Heft 2, S. 39–84. In neuerer Zeit wird dies mit einer kulturalistischen Wende in Verbindung gebracht. Diese widerspiegelt auch der breite überlieferungsgeschichtliche Ansatz des Aufsatzbandes mit Katalog: Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1000–1800, hg. von Ulrich Gaier / Monika Küble / Wolfgang Schürle, Ulm 2003. 5 Vgl. Christoph Grube: Die Entstehung des Literaturkanons aus dem Zeitgeist der NationalLiteraturgeschichtsschreibung, in: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, hg. von EveMarie Becker / Stefan Scholz, Berlin – Boston 2012, S. 71–108.

Autonome Instrumentalmusik versus Vokalmusik

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Tatsächlich ist die regionale Literaturgeschichtsschreibung »so alt wie die allgemeine«.6 Aus der alten Spannung zwischen dem Wunsch nach Vollständigkeit und dem Wunsch nach Wertung für die nationale Entwicklung führte die sozialgeschichtliche Demokratisierung der Quellen in den endsechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ebenso hinaus wie neue methodische Zugriffe, zum Beispiel auf die novellentheoretische Fragestellung. Bekanntlich wurde der Typus der Gesprächsnovelle nach dem Ende der jungdeutschen Bewegung lange Zeit geringer geschätzt als die klassische Novelle mit ihrem geschlossenen Bau. Die Unterscheidung zwischen einer einsparenden strengen und einer verschwenderischen Form mit ausladenden Gesprächen bestimmte bis zur sozialgeschichtlichen Wende der endsechziger Jahre auch die deutsche Literaturwissenschaft, die mit der Elle der Klassik maß oder Kleists dramatische Novelle als Elle anlegte. Sie war lange geneigt, der so genannten dramatischen Novelle eher eine Qualität zuzugestehen, da letztere auf das Existentielle aus sei, während die sehr viel realistischere Gesellschafts-, Diskurs- oder Gesprächsnovelle nur Alltagsfragen thematisiere. Nach dem Sieg der Sozialgeschichte und der Emanzipation des Alltags und seiner Strukturen hat eine normative Gattungspoetik keine Geltung mehr. Die Forschung zeichnet seit mehreren Jahrzehnten schon die Silhouette auch der Gattung Novelle als offenes Konzept. Neue Analysen konnten zeigen, dass Schlesien einen bemerkenswerten Platz in der Topographie der Novelle wie liberaler Geselligkeitskultur beanspruchen kann.7 Sie zeigen, dass Novellentexte an der Bruchkante von Romantik und poetischem Realismus regionale Eigentümlichkeiten ihrer Entstehung sichtbar werden lassen.8 Dabei weist der Interregionalismus von Gattungsmustern, Kulturmustern und Schreibstilen auch auf den Austausch von Kunstformen zwischen Zentren und Provinzen.9 ***

6 Vgl. Helmut Teervoren / Jens Hausstein (Hg.): Einleitung, in: Regionale Literaturgeschichtsschreibung. Aufgaben, Analysen und Perspektiven, Berlin 2003 (Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zu Bd. 122), S. 2. 7 Siehe Andrea Rudolph: Commedia dell’arte und persifliertes Freimaurertum. Zu Strategien der Ridicülisierung in August Kopischs italienischer Schwanknovellen »Ein Karnevalsfest auf Ischia/Iskja« (im Druck). Dies.: Realistische Abrechnung mit Präexistenz und Reinkarnation. Julius von Heydens Gesprächsnovelle Das Geheimnis der Reminiszenz (im Druck). 8 Siehe Andrea Rudolph: Mozarts »Don Giovanni« als Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts. Reflexe im Werk des Breslauer Musikanalytikers und Novellisten August Kahlert, in: Lucjan Puchalski (Hg.): Mozarts literarische Spuren, Wien 2008, S. 101–122. 9 Hinzu tritt die Verbreitung und Rezeption literarischer Werke mittels überregionaler Institutionen wie des Theaters, der Verlage, Zeitschriften.

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Andrea Rudolph

Die Beschäftigung mit August Kahlerts Novelle Cölestin widmet sich beiden Aspekten. Es wird gefragt, ob und auf welche Weise an diesem Text schlesienspezifische Bedingungen seiner Entstehung fassbar werden. Zugleich soll belegt werden, dass der Text Zeitfragen aufnimmt, die es ratsam erscheinen lassen, Cölestin in größeren Zusammenhängen zu sehen. Cölestin, in Kahlerts Blättern aus der Brieftasche eines Musikers (Breslau 1832) erschienen, variiert ein romantisches Thema. Die angespannte Beziehung zwischen dem jungen Cölestin und seinem Ziehvater, dem geheimen Rath W*, entstammt dem Zentralkonflikt dieser Novelle: der Künstler als Antipode des Bürgers und der bürgerlichen Gesellschaft. Bemerkenswert ist Kahlerts poetisch-realistische Konkretisierung dieses Konflikts. Offenkundig erhoben die Zeitgenossen bereits Forderungen nach der Einsehbarkeit von Motivation. Und so bot Kahlert schon realistisch beglaubigte Charaktertypen und Verhaltensmuster. Anders als in romantischen Texten müssen in einer realistisch zu nennenden Erzählung literarische Figuren sich vor dem Leserwissen über menschliche Verhaltensweisen rechtfertigen und insofern sozial und psychologisch stimmig sein. Verfolgen wir nun Kahlerts frühe realistische Transformierung eines romantischen Stoffes. Cölestin steht als Hauptfigur im Zentrum. Dennoch wird die Geschichte nicht aus seiner Perspektive erzählt, sondern auktorial. Als die Majorin von Rxx, »nebst ihrem wenige Monate alten Söhnchen«, durch den plötzlichen Tod ihres Gatten »in fast dürftige Umstände« (S. 3)10 gerät, orientiert sie sich an der bekannten sozialen Formatierung von Wirklichkeit. Sie heiratet für sich und ihren Sohn die erstrebte weitere materielle Versorgtheit, indem sie dem gleichfalls verwitweten Geheimen Rath W*, einem der reichsten und angesehensten Männer der Residenz, ihre Hand reicht. Obschon sie ungern ihren Adelstitel verliert, ist sie erfreut, wieder in »den Genuß behaglicher Wohlhabenheit« zu gelangen. Dass überdies »die Liebe zu ihrem Kinde, dem nun ein glücklicheres Loos bereitet wurde, vielleicht auch ein Beweggrund dazu« war, dem Geheimen Rath die Hand zu reichen, »ohne besondere Neigung zu ihm zu empfinden« (S. 4), ist einer psychologischen und sozialen Plausibilisierung ebenfalls zugänglich. Sichtlich erfüllt der Erzähler realistische Rationalitätskriterien. Semantische Explikationen erfolgen über das kulturelle Wissen, das mit dem des Lesers kompatibel ist. Indem der Erzähler Handlungsimpulse deutet, unterwirft er sie der Erfahrung und Beurteilung durch den Leser. Die Ehe scheint glücklich, die Attraktivität der Mutter Cölestins schmeichelt dem männlichen Ehrgefühl des Gemahls, dem sie ein geselliges Haus führt, und diese sieht »ihren eigenen Vorteil zu gut, als daß sie ihm Gelegenheit zur Eifersucht hätte geben sollen« (S. 5). Unzufrieden wird der 10 August Kahlert: Cölestin, in: Ders.: Blätter aus der Brieftasche eines Musikers, Breslau 1832, S. 1–53. Zitiert wird folgend aus diesem Text durch Angabe der entsprechenden Seite nach dieser Ausgabe.

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Hausherr, weil sich kein Nachwuchs einstellt, »sein Missmut ward vermehrt«, als die auf den Stiefsohn entfallende Erziehung »wenig erfreuliche Ergebnisse darbot« (S. 5). Cölestins Bildungsunfähigkeit, später bewusste Bildungsunwilligkeit, wird vom Geheimrat als Blödigkeit, bald als Schwachsinn eingestuft. Bildung ist dem bürgerlichen Geheimen Rat bloße Ausbildung, sie hat tauglich für eine Karriere in der residenzstädtischen Gesellschaft zu machen, sie ist bereits, modisch ausgedrückt, zum Systeminput herabgekommen. Der Heranwachsende fällt aus dieser Leistungsnorm heraus und empfängt hierfür Ungeliebtsein. Kahlert überformt Cölestins Lernschwierigkeiten romantisch, wenn er dessen Verstandesschwäche mit der Fähigkeit zur Gefühlsdurchdringung kontrastiert: Dem »äußerst schwer« auffassenden Knaben gingen »alle Anlagen zur Erlernung ernster Wissenschaften ab […]«. Sein »äußerst reizbares, zartfühlendes Gemüth ließ ihn in einer Welt von Gefühlen schwelgen, während er im Reiche der Gedanken vergebens heimisch zu werden suchte, und es ist hieraus erklärlich, warum die reinste Freude an aller Kunst, namentlich an der Tonkunst, die dem Menschen eine Sprache für die geheimsten, kaum geahnten Empfindungen leiht, sein ganzes Wesen durchdrang« (S. 7).

Der Vater schneidet den Jungen, befürchtend, es »könne durch Cölestin’s unbehülfliches Benehmen eine Lächerlichkeit auf ihn zurückfallen« (S. 7). Die Weltfremdheit des Jungen wird von ihm als Defekt und bald auch Irresein aufgefasst. Aber auch Cölestin flieht Gesellschaften im Hause, er meidet, mit der Welt des Normalen konfrontiert und in ihr verunsichert zu werden, was jedes Mal geschieht, wenn seine Bildungsblößen aufgedeckt werden. Nur widerwillig stimmt der Geheimrat dem von der Mutter für Cölestin durchgesetzten Klavierunterricht zu, meinend, dieser würde ihn noch mehr von den Wissenschaften abziehen. Bald aber erwirbt der »seltsam organisierte Knabe« bemerkenswerte Kenntnisse »in dem theoretischen und praktischen Theile der Kunst«. Aber auch die sich hierbei zeigende »Originalität« steht in Beziehung zur Lebensuntüchtigkeit, konkretisiert als mangelnde Einsicht, sich für den Musikbetrieb abzurichten: »Er ward auf keinem Instrumente, wie seine Mutter gehofft, ein Virtuose, der durch seine Fingerfertigkeit in den Salons hätte glänzen können; denn er weigerte sich standhaft, die Schwierigkeiten brillanter Compositionen zu erlernen und Stücke einzuüben, die eben nur darauf berechnet waren, des Spielenden Fertigkeit zu zeigen; er nannte das unbedeutendes Zeug, dem aller Kunstwert abginge und schrieb, wie schnell er auch das Theoretische begriffen hatte, auch wenig eigene Compositionen nieder, sondern phantasierte am liebsten auf dem Pianoforte; was er übrigens componierte, wollte dem Modegeschmack nicht zusagen, sondern hieß bizarr und abentheuerlich« (S. 8).

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Dass er es vermeidet, über seine Kunst zu reden, »die Bemühungen trefflicher Künstler« ignoriert, »ihn dahin zu bringen, mehr Zusammenhang und künstlerische Anordnung oft trefflicher Motive in seinem Werten zu beobachten« (S. 12), liegt ebenfalls innerhalb des romantischen Horizonts. Weder als Vortragskünstler noch als Musikschriftsteller fügt er sich in den Betrieb. Seine gesellschaftliche Verweigerung kommt ohne trotzige Rebellion aus, sie erscheint als Ausdruck einer weltschmerzlichen Persönlichkeit. Durch die Interaktion Cölestins mit Nebenfiguren – Cecilie enthüllt die emotionale Seite seiner Psyche, der Musikdirektor die intellektuelle – lernt der Leser seine Innenwelt kennen. Die unter dem Vorzeichen der Güte eingeführte arme Verwandte Cecilie wächst mit Cölestin auf. Als einzige verteidigt sie ihn gegen Vorwürfe der Blödigkeit, erkennt seine »innere Vortrefflichkeit« (S. 11). Sie hatte »eine ausgezeichnete Stimme und hauchte gern im einfachen Liede den ganzen Reichtum ihrer Empfindung aus«. Geschah das, dann »war Cölestin überglücklich, weinte vor Freude und lohnte der Sängerin mit einem seiner seelenvollsten Blicke mehr, als alle sie umstehenden Kunstrichter durch zierlich gesetzte, oder sehr gelehrt klingende Lobsprüche« (S. 11). Auch hier kommt es Kahlert auf den gefühlsdurchdrungenen Gesang und auf Rührung als Effekt, nicht aber auf schwere Modulation und Bewunderung an. Sichtlich griff Kahlert die Wirkkraft von Musik – wie etliche Schriftsteller vor und neben ihm – in der Figur der Cäcilie, Märtyrerin der frühen Kirche und Patronin der Musik, auf. Er lud – wie die Theoretiker der Frühromantik schon – diese Heilige mit Romantik auf. Cölestin lauscht dem Naturton der Sängerin des schlichten Volksliedes nach, während er das Koloraturengepränge einer jungen Vortragenden ablehnt, die »mit merkliche(n) Ansprüchen« (S. 11) an das Pianoforte trat, um dort Rossinis: »Una voce poco fa«11 herunterzusingen. Der empfindsame Ton des Volksliedes und deutsche Seelenhaftigkeit sind hier – wie anderorts in Kahlerts Novellen12 – gegen die italienische Belcanto-Mode der Verzierungen, der geschmeidigen Triller, der weiten Sprünge und extremen Spitzentöne gesetzt: »Es tut mir in der Seele weh«, spricht jetzt Cölestin, »wenn der herrlichste Klang, den es gibt, die menschliche Stimme, zu solchen Kunststücken gemißbraucht wird«. »Ich kann keinen Effekt machen«. Ihr Vortrag reißt ihn häufig noch aus seiner düstermelancholischen Verlassenheit heraus, bewirkt »am schnellsten Linderung des Schmerzes« und spiegelt ihm seinen Wert als Musiker zurück. Die therapeutische Wirkung der Musik auf eine melancholische Körper- und Seelenverfassung hatte Wilhelm Heinrich Wackenroder in seinen Herzergießungen eines kunstliebenden

11 Die musikalische Stelle stammt aus dem 1. Akt, 2. Szene, der italienischen Oper »Il Barbiere di Siviglia« (1819) von Gioacchino Rossini, Libretto: Cesare Sterbini. 12 Siehe Andrea Rudolph: Mozarts »Don Giovanni« als Deutungsmuster (wie Anm. 8).

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Klosterbruders (1797)13 beschrieben. Diese wird hier durch »edle Züge«, »dunkle Augen«, aus denen »Schwermuth und Schwärmerei« sprach, sowie eine »etwas schmächtige Gestalt« (S. 9) sinnlich. Aus der Bekanntschaft mit dem neu angestellten Musik-Direktor Rx erwächst dem inzwischen Achtzehnjährigen ein väterlicher Freund, der ihn auch in Kunstdingen versteht.14 Dies bietet dem Erzähler Gelegenheit, mittels wiedergegebener Gespräche den Rahmen von Cölestins Ausdrucksmöglichkeiten noch einmal – diskursiv – abzustecken. In die romantische Richtung weist, dass Cölestin eine Einmischung des Sprachlichen ins Musikalische ablehnt, was den Kern der Instrumentalmusik ausmacht. Eine kontextualisierende Erinnerung mag hier nützlich sein: Der Instrumentalmusik war seit Wackenroders und Tiecks musikalischen Veröffentlichungen eine herausragende Rolle im romantischen Kunstverständnis zugefallen.15 Die reine, absolute Instrumentalmusik sollte von allem Nichtmusikalischen abgelöst sein wie Sprache, Programm oder Sujet. Daher galt insbesondere die Sinfonie als Ausdruck absoluter Kunst.16 Die Größen der Wiener Klassik – Haydn, Mozart, Beethoven – avancierten zu den höheren Repräsentanten »romantischer Musik«17. Cölestins Partizipation an dem von literarischen Autoren des 18. Jahrhunderts eingeleiteten musikgeschichtlichen Diskurs kann hier nur auszugsweise wiedergegeben werden. Sichtlich findet seine empfindsame Seele in der inhaltslosen Ausdrucksmusik das beste Mittel, Gefühle zu erregen, während die Bindung an das Wort, an die 13 Das schmale, anonym veröffentlichte Werk ist Ergebnis einer frühromantischen Freundschaftsbindung. Auf ihrer Reise nach Dresden vertraute Wackenroder dem Freunde Ludwig Tieck bislang ängstlich verborgene Manuskripte seiner Kunstaufsätze an. Tieck ergänzte diese mit eigenen. Es handelt sich um Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst und Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte. Ganz im Sinne frühromantischer Kunstauffassung sind diese eine sympoetische Gemeinschaftsproduktionen beider. Daher lässt sich bis heute nicht zweifelsfrei ermitteln, wer welche Textteile verfasst hatte. Die Teile über den Tonkünstler oder Musiker Joseph Berglinger enthalten jene Spannung zwischen Kunst und Leben, die im 19. Jahrhundert den sich entfaltenden Widerspruch zwischen bürgerlicher Lebensnorm und künstlerischer Autonomie aufnimmt. In Cölestin zeigt sich der »idealische Kunstgeist«, den die Romantiker dem Künstler zuschrieben. Danach ist wahre Kunst – und zwar in der Produktion wie Rezeption – Gottesdienst, Gebet, Mysterium, Glaubenserfahrung. Im Werk Wackenroders und Tiecks sind zum ersten Mal das Künstlerschicksal und seine tragische Gefährdung gestaltet. 14 Er erscheint als »ein Freund, der, bei bedeutender künstlerischer Erfahrung, Kühnheit genug besessen hatte, von den Fesseln des Modegeschmacks, des Alltagschlendrians sich los zu machen und ferner den richtigen psychologischen Blick« (S. 23) besaß, »um Cölestin’s seltsames Wesen zu erforschen, seine Eigenthümlichkeit zu begreifen, ein solcher Freund hatte dem tiefen Gemüth Cölestin’s gefehlt und er schien in Rx gefunden«. 15 Siehe den von Walter Dimter verfassten Abschnitt: Musikalische Romantik, in: Helmut Schanze: Romantik-Handbuch, Tübingen 2003, S. 408–425, hier S. 411. 16 Ebd., S. 408. 17 Ebd.

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konkrete Gedanklichkeit, dem Affekthaften des Fühlens, auf das es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ja ankam, entgegensteht.18 Er könne Mozart und Beethoven bei klarer Einsicht in deren Leistungen nicht folgen. Er könne sich nicht »in einen vorgelegten Text hineindenken und in Tönen ihn wiedergeben«. Darum sei ihm selbst Mozart, den er gleichwohl als ein unerreichbares Muster verehre, »weniger genießbar als andere« (S. 18). »Die äußeren Erscheinungen des regen Lebens musikalisch aufzufassen, zu idealisieren und dann künstlerisch zu verbinden«, sei Mozart »wie kaum Einem gelungen« (S. 19). Auch sieht er in Mozart einen Meister musikalischer Charaktergestaltung: »die Charaktere in seinen Opern unterscheiden sich auch als verschiedene Tongestalten«.19 Mozart verstand es, das Empfinden und Fühlen jeder Bühnenfigur mit einer trefflichen Präzision musikalisch auszudrücken.20 Cölestin aber erklärt, er »kenne die Menschen zu wenig, um dergleichen zu versuchen!« (S. 19). Weder will seine Musik dem psychologischen Realismus von Figurenzeichnungen dienen, noch will sie Worte mit Musik ausstatten. Er will frei sich bewegen können, in seinen Gestaltungen, die nur ihn ausdrücken, worauf der Musikdirektor ihn auf die »Instrumental-Musik« als ein Feld, wo seine Phantasie »sich nach Gefallen ergehen« (S. 19) könne, verweist: »Und sind nicht namentlich Mozart’s und Beethovens Symphonien Darstellung subjektiver Ideen oder Gefühlsreihen?« 18 Erinnert sei an Wilhelm Heinses Roman Hildegard von Hohenthal (1795), wo über die Ausdrucksmusik gesagt wird: »Jeder Akkord hat einen besonderen Ausdruck und man empfindet etwas Besonderes dabey, auch ohne dass Worte es bezeichnen. Musik an und für sich wäre demnach die reine und allgemeine Kunst, und Vokalmusik nur ein Teil davon. Die allgemeine stände weit über dieser, und ließe sich nur zu dieser hernieder. Die Musik ist eine Kunst, die hauptsächlich das Innere, Unsinnliche, weit umher für das Ohr in die Lüfte verbreitet, und allgemein ausdrückt, was die Sprache oft nur rau und eckicht andeuten kann. Instrumentalmusik, worin ein Fluß wahren Gefühls und Schwung und Flug origineller Phantasie herrscht, von Virtuosen in höchster Fertigkeit vortrefflich vorgetragen, drückt ein so eigenes geistiges Leben im Menschen aus, daß es jeder anderen Sprache unübersetzbar ist«. Aus dem Roman des zum Halberstädter Dichterkreis gehörenden Heinse wird zit. nach: Wilhelm Heinse: Hildegard von Hohenthal. Neuausgabe mit einer Biographie des Autors, hg. von Karl-Maria Guth, Berlin 2017, S. 289. 19 Dem besseren Verständnis mag hier eine musikgeschichtliche Erinnerung dienen. Mozart hatte die Erneuerung der deutschen Oper aus der Übersteigerung der Singspieltradition zum Welttheater gesucht. Er hatte an der Öffnung von Volkstümlichem zum Wunderbaren als Prämisse einer Nationaloper gewirkt, Volkstümliches an die Ästhetik der Romantik herangebracht. Dabei hat er seine Musik der vorgegebenen Figuren-Konstellation und der von ihm geprägten Eigenart jeder Rolle anzupassen gewusst, denkt man etwa an Mozarts Vertiefungen der Seele im »Figaro« (1786) und im »Don Giovanni« (1787). 20 Leo Balet / Eberhard Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, Strassburg 1936. Nachauflage. Mit einem Nachwort von Eberhard Rebling, Dresden 1979, S. 333. Mozarts viel zitiertes Wort, daß die Poesie stets die gehorsame Tochter der Musik sei, ist ja so zu verstehen, dass die Musik dominierend ist, »insofern sie die Empfindungen, Stimmungen, ja schließlich jedes psychologische Verhalten der Bühnengestalten wortlos ausdrückt und verdeutlicht«. Ebd., S. 333.

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»Ach, Sie haben wohl Recht«, seufzte Cölestin, »wenn ich nur aber je so weit zur innern Ruhe gelangen könnte, um ein solches Werk, das nun wieder Andere erfreute, zu schaffen. So leb’ ich aber in einem Wechsel von Gefühlen, in denen die Sehnsucht nach etwas Höheren am meisten vorherrscht. Daher auch mein Tonwerk kaum jemand Anders als ich verstehen würde, wie ja mein vielgeliebter Beethoven sich oft genug unzusammenhängend, bizarr nennen lassen muß, weil er eben nichts Anderes, als sich selbst, in Tönen wiedergab« (S. 19).

Dass Kahlert den weltfremd lebenden Cölestin mit einem Bewusstsein über sich selbst ausstattet, zeigen diskursive Passagen: »Andere Componisten erfreut die Welt und die verstehen sie daher zu behandeln; mir ist meine innere Unvollkommenheit, meine Unfähigkeit auf Erden, etwas zu nützen, nur zu sehr bekannt, und das Streben dahin, wo sich alle Räthsel des Lebens lösen sollen, erfüllt mich zu oft, als daß mich Genuß oder gesellige Freude ergötzen könnte« (S. 20). – Dies alludiert den Umschlag von der Ästhetik zur Metaphysik, der ja auch Cölestins Nachsterben Ceciliens am Ende der Novelle den Weg ebnen wird. Seine Phantasie trägt Cölestin nach Innen und nach Drüben. Zunächst aber unterbreitet der Musikdirektor einen Vorschlag: Was, wenn Cölestin »bei aller »Abneigung vor einem Texte« und bei aller »Unsicherheit […] im Entwurfe eines Planes««, zu einer »Instrumental-Composition einen leitenden Text wählen« würde, der von ihm »nicht erst in sich aufgenommen werden müsste«, der ihn »selbst schon durchdränge«, so daß er diesen »gewissermaßen nur musikalisch« auszusprechen brauchte? (S. 21) Er empfiehlt, eine Composition des »Vaterunser« zu versuchen. Ein freier, subjektiver Gefühlsausdruck wäre hier erreichbar durch die Angemessenheit des Textes, das heißt durch die Natürlichkeit der menschlichen Empfindungen, die der Text selbst ausdrückt: Was wäre, wenn, »dessen Bitten die Ihres eigenen Herzens sind, so daß Sie bei der Composition desselben nur ihre eigenen Gefühle aussprächen?«21 Der Freund gibt sich überzeugt, dass Cölestin hierbei »etwas Vorzügliches« leisten würde. Während dieser ans Werk geht, wirft eine tödliche Krankheit die geliebte Mutter aufs Sterbebett. »Ein feierliches Begräbnis ward vorbereitet und da, der Sitte nach, die Leiche in der Kirche beigesetzt, der Prediger der Gemeinde die Trauer-Rede halten und dann eine Trauer-Musik aufgeführt werden sollte, verlangte Cölestin, daß sein vollendetes Kirchenstück hierzu gewählt würde. Er habe geahnt, sagte er, welcher Schlag ihn treffen sollte und für seine Mutter diese Composition geschrieben« (S. 24). Vor dem Tag des Begräbnisses wurde das Musikstück geprobt. Der Cantor der Ortskirche beschreibt dem Musik-Direktor Rx die Binnenstruktur des musikalischen Ablaufs als falsche, ja ketzerische Einvernahme des Textes durch die Musik. Er rügt, dass das Fundament traditionell geordneter Musikverhältnisse 21 Dann entspräche Cölestins Komposition autonomieästhetischen Vorstellungen und hätte nicht die gefürchtete textillustrierende Funktion.

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nicht beibehalten wurde, das geistliche Moment vor dem subjektiv-ausdrucksmäßigen zurückgetreten war, daß beim: »Führe uns nicht in Versuchung!« eine ketzerische Entfesselung der dämonischen Kräfte in Gang gekommen war. Sichtlich hatte Cölestin seinen Schmerz als einen existentiellen Notstand in die Musik hineinkomponiert, hatte es ihn über die Worte und deren akzeptierte Vertonungen hinausgedrängt. Die Entwicklung hin zum Heftigen, Disparaten, das am Ende nicht zur konventionellen Einheit zusammengefasst ist, erschüttert den Kantor der Ortskirche. Sein Brief akzentuiert, daß eine Kraft des Originellen spürbar ist, aber nicht die Spannkraft des Subjekts, sondern seine Gefährdung, nicht die Kraft zur Wiederherstellung von Ordnung. Mit voller Einsicht in die Konsequenz, dass ihm sein Publikum fehlen werde, hatte der junge Mann sein Werk geschrieben, ahnend, dass es abgelehnt wird. Die Aufführung eines anderen Trauerstücks zum Begräbnis nimmt er hin. Nach dem Tode der Mutter wird der Legations-Rat v. Rx, ins Haus eingeführt, jung und reich, »von jener heut so allgemeinen geselligen Bildung« (S. 30). Er verlangt die widerstrebende Cecilie zur Frau. Der Ziehvater Cölestins, Cölestins Gegenspieler, strebt Karriere an. Der Legations-Rat, »der im Namen einer bedeutenden fremden Macht an dem Hofe, bei dem der Geheime-Rath angestellt war, handelte« (S. 32), sagte, es stünde »einem wichtigen Staatsgeschäfte, worüber lange unterhandelt worden, nichts mehr im Wege«, wenn er Cecilie erhielte. Und so agiert der »kalt[e] abgemessen[e] Staatsmann« (S. 31) in der bekannten Tradition des Töchterschachers. Und tatsächlich war, wie Kahlert nachreicht, dem Geheimrat »Ehre aus dem glücklichen Betrieb eines so schwierigen Werkes« erwachsen, »als nach einem halben Jahre dies Staatsgeschäft« (S. 32) zu Ende gebracht werden konnte. Die verhinderte oder erschwerte Liebe ist als Mittel, prosaischen Verhältnissen eine poetische Dimension noch abgewinnen zu können, bekanntlich ein Lieblingsthema des 19. Jahrhunderts. Dieses bedarf der modernen Innerlichkeit zur Konstituierung des Poetischen.22 Drohend hatte der Ziehvater sich gegen das widerstrebende Mädchen durchgesetzt: widrigenfalls würde er Cölestin, »den unnützen Menschen […] in’s Irrenhaus schaffen« (S. 31) lassen, wohin er hingehöre. Cecilie beugt sich der Gewalt und steht als »stille Dulderin […] am gefürchtetem Tage« am Altar, aber »im Blicke jene fromme gläubige Andacht aussprechend, die auf den hofft, der Alles wohl machen wird, und im Herzen den leisen Trost: Gott werde sie und ihren Cölestin von den irdischen Fesseln bald erlösen, und sie in seinem himmlischen Reiche vereini22 Unweigerlich birgt eine gesellschaftskonforme Liebesbeziehung die Tendenz, ins Prosaische hinüber zu gleiten. Poetisieren lässt sie sich deshalb durch äußere Widerstände, auf die sie stößt. Nicht zufällig charakterisierte Hegel daher den Inhalt der meisten Romane als Darstellung des Bestrebens, »das Mädchen […] schlimmen Verwandten oder sonstigen Missverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen«. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, 2 Bände, Bd. 1, Berlin – Weimar 1976, S. 567.

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gen«. Cölestin erbittet von »der ewigen Gnade Kraft« (S. 42), dass er »nicht wieder versinke in bittere Menschenfeindlichkeit, in frevelhafte Verzweifelung!« In den weiten Räumen einer gotischen Kirche erlebt er die Aufführung der ersten beiden Teile von Händels Messias, »und Cölestin, bisher noch unbekannt mit diesem Meisterwerke der Tonkunst, welches das Heiligste, das kein Wort aussagen, kein Mund nennen kann, in Tönen auszusprechen sucht […], wurde wundersam ergriffen und erschüttert von der einfachen Schönheit, dem tiefsinnigen Ernste des Werkes, den großartigen Ideen des Komponisten, welchen er, vermöge seines lebendigen Tonsinns, seines tiefen Gefühls […], verstand« (S. 38).

Kahlert alludiert den romantischen Enthusiasmus, das heißt die Vergöttlichung der Kunst durch Begeisterung. Wenn Kahlert komponierte Musik als Text charakterisiert, tut er dies hier und anderorts häufig mit Rückbezug auf den unterliegenden Wortlaut: »War nicht sein eigener Gemüthzustand bedrückt und verzweifelnd, wie die düstere Ouvertüre uns den Menschenzustand vor der Menschwerdung Gottes schildert? Das freundlich sanfte: ›Tröstet, tröstet mein Volk!‹ wirkte auf ihn, wie ein beruhigender Engels-Zuruf; als später das einfache Fugen-Thema: ›Denn es ist uns ein Kind geboren!‹ (S. 38) begann, sah der Musik-Direktor Thränen aus Cölestin’s Augen hervorquellen. Und so äußerte er bei jeder Einzelheit des unvergleichlichen Oratoriums den lebhaften Eindruck, den er empfangen. […] Als aber endlich das Halleluja in seiner hohen Schöne und wunderbaren Kraft durch den weiten Dom erscholl, verkündend: das Unbegreifliche sei geschehen, die Menschheit durch die Gottheit erlöset – und darum in einfachen Dreiklängen, gleichsam symbolisch die göttliche Drei preisend, – als das Halleluja mächtig erklang, und herrlich, aber ohne jene schöne Effekthascherei – die nur dem rohen Sinne der Masse imponiren kann, nur die Sinne durch Überreizung fesselt – da hielt es der Tieferschütterte nicht länger aus. Das Tuch vor die Augen haltend, wandelte er zur Kirche hinaus, sank draußen dem Freunde an die Brust und stammelte: ›Ich danke Dir‹!« (S. 39).

All dies beschreibt auch die emphatische Einbindung des Hörers in die Leidenschaftlichkeit des Werks. Wieder entfaltet der Zauber der Musik die von Wackenroder beschriebene therapeutische Wirkung. Sie weist tröstend den Weg zu Gott, Cölestin tritt infolgedessen Cecilie, die mit ihrem Gemahl in die Residenz23 abreist, ruhig entgegen. Ihm trägt sie – ihrem allegorischen Charakter gemäß – ein Schnitterlied vor, das – in verschiedenen kirchlichen Gesangsbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts (in der Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy24) enthalten – in den Dichtungen der Romantik viel berufen ist.25 Die

23 Diese wird von ihr verknüpft mit lebendigem, verhaßten Treiben, wo sie »vergebens ein Gemüth suchen werde« (S. 41), das sie verstünde. 24 Siehe sein »Erntelied aus Zwölf Gesängen«, op. 8, Nr. 4 (1828).

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Konnotationen, die sich hier statt der Denotationen vordrängen, haften an der Allegorie der Wiesenblumen, die die Sense des Todes zukunftsfroh erwarten: »Trotz; Tod, komm’ her, ich fürcht’ dich nit; Trotz! eil’ daher in einem Schritt. Werd’ ich nun verletzt, So wird ich verletzt In den himmlischen Garten, Auf den Alle warten; Freu’ dich, schönes Blümelein!«

Es gibt ebenfalls an dieser Stelle einen Sinnüberschuss, der allegorisch lesbar ist. Hier wandelt sich die Cecilie des Gefühlstons und (deutscher) Seelenhaftigkeit zur Todes- und Schmerzfigur mit Parallelen zum mythologischen Vorbild. Cölestin erfasst das Lied in der von Cecilie gemeinten und auch gestisch unterstrichenen Bedeutung: Sie »wies zum Himmel und entschwand ihm« (S. 43). Ceciliens romantischer Vorverweis auf die Aufhebung der Körperlichkeit in der himmlischen Seelenschönheit steckt gleich auch den Rahmen für die Schlusshandlung ab. Nachdem Cölestin – wie der bekanntere Taugenichts –ein Jahr lang Italien eher durchflogen als angesehen hatte26, kehrt er über die Alpen nach Deutschland zurück. Dort ergreift ihn eines Nachts ein merkwürdiges Weh, derart ist ein Weben metaphysischer Kräfte in der Natur und im Menschen angedeutet. Er wird am nächsten Morgen Zeuge eines Begräbnisses und erkennt in der im offenen Sarg Liegenden die Geliebte. An ihrem Grab bricht er tot 25 Es ist abgedruckt in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn, hg. von Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano. Brentano hatte das Lied in seinen Werken wiederholt zitiert, zuerst im zweiten Teil seines Romans Godwi (1802), zuletzt in einer vierzehn Strophen langen, stark bearbeiteten Umdichtung, die in seinem Spätwerk Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838), konkret in dessen drittem Teil, dem »Tagebuch der Ahnfrau«, erschien. Zitate des Liedes in den Werken von Georg Büchner, Joseph von Eichendorff und Alfred Döblin und die vielfachen Vertonungen des 19. Jahrhunderts gehen auf von Arnims und Brentanos »Wunderhorn« zurück. 26 Er verweilt lediglich in Kirchen und hört dort Werke älterer italienischer Kirchen-Komponisten, aber er fand diese meist schon aus den Kirchen verwiesen. Neuere Kirchenmusik ordnet er als wenig bedeutend ein. »Freilich, als er am Char-Mittwoch zu Rom in der Sixtinischen Kapelle jenes weltberühmte Allegorische Miserere hörte, war es ihm wieder, als riefen ihn Stimmen der Engel aus dem himmlischen Reiche hinüber zu sich, und unter ihnen befand sich wieder Cecilie, die ihm von fern die Hand reichte und ihm winkte«. Es gehört zur frühromantischen Auffassung, dass die wahre Kunst vom Heiligen ausgeht und sich göttlicher Eingebung verdankt. Auch Johann Friedrich Reichardt beschrieb nach seiner Romreise die kirchenmusikalischen Verhältnisse kritisch. Er erlebte während der Aufführung Verhunzungen älterer Kirchenmusik und einen wirklichen Genuss nur noch beim zurückgezogenen Studium der alten Meisterwerke. Siehe dies in Jürgen Heidrich: Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 7: Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte (wahrer) Kirchenmusik, Göttingen 2001, S. 42. Auch Kahlert hatte die alte Kirchenmusik und die der Renaissance hochgeschätzt.

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zusammen. Kahlert demonstriert die substantielle gegenseitige Beziehung zwischen dem romantischen Musiker und seiner Muse in der traditionellen Symbolik des Liebestodes. Der Tod dient der Demonstration der Macht des Liebens, die – wie die Macht der absoluten Musik auch – bürgerlichen Interessen entzogen ist. *** Formulieren wir abschließend ein Resümee, das die Frage nach kulturräumlicher Schlesienspezifik wie nach Einbettung des Textes in den gesamtliteraturgeschichtlichen Raum aufzunehmen sucht. Da Deutschland über Jahrhunderte in viele Einzelstaaten unterteilt war, gab es in fast allen Regionen eine ungewöhnlich hohe Zahl an Residenzstädten. Kahlert hat den Handlungsort seiner Novelle, wie in frührealistischer Zeit üblich, nicht raumkonkret markiert. Doch ist es gut denkbar, dass Breslau als Sitz der Könige von Preußen (1741–1918) die Residenzstadt mit weitem Dom und Händelaufführung abgab und Berlin jenen zweiten Residenzort, den die dorthin verheiratete Cecilie mit lebendigem, verhassten Treiben verknüpft (S. 41). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts waren in Breslau Händels oratorische Werke häufig interpretiert worden.27 Aus der Sicht der Provinz war die Königsstadt Berlin der Ort rastloser Betriebsamkeit.28 Kulturelle Bedeutung besitzt dieser Text dennoch kaum als Literatur, die in oder über die Region entstand. Bedeutender erscheint die literarisch-ideengeschichtliche Einbettung. Offenkundig betrachtete Kahlert – ganz im Sinne frühromantischer Kunstauffassung – die reine, absolute Instrumentalmusik als Antwort auf die Verzwecklichung des Individuums und seiner Kreativität. Bemerkenswert ist seine frühe realistische Transformierung dieses romantischen Stoffs. Einerseits zeigt der Ziehvater Cölestins eine harte maskuline Selbstmodellierung, gepaart mit autoritärem Stil, der nirgendwo auf den Gestus der Superiorität verzichtet. Kahlert deutet die ausschließliche Besetzung des Bewusstseins des Geheimrats mit geschäftlichen und diplomatischen Projekten an. Andererseits hatte dieser, wiewohl damals schon in den Vierzigern, mit kreatürlicher Leidenschaft um Cölestins Mutter 27 Siehe Maria Zdunick: Die Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium Messias im 18. und 19. Jahrhundert in Breslau, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 209–219 sowie die allein zwischen 1827 bis 1832 acht Breslauer Messias-Interpretationen verzeichnende Bibliographie: Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900). Bibliographie der Berichterstattung in ausgewählten Musikzeitschriften, hg. von Dominik Höink / Rebekka Sandmeier, Göttingen 2014, S. 588. 28 Siehe zum Beispiel das Gedicht Gruß an Pommern von Friedrich August Karow, abgedruckt in: Pommersche Provinzialblätter für Stadt und Land, Bd. 5, Treptow an der Rega 1823, S. 453.

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geworben. Und er erlebt, dass nach dem Tod der verschacherten Cecilie sein festes Selbst ins Wanken gerät. Dieser intrapersonale Widerspruch qualifiziert ihn als Mittelcharakter, wie er einer realistischen Ästhetik entspricht. Gleiches trifft auf Cölestins Mutter zu, die ein oberflächliches Leben an gesellschaftlichen Oberflächen führte, die Verbannung ihres Sohnes ins Obergeschoß ihres Hauses akzeptierte, aber die vom Geheimrat verlangte Entfernung Cölestins in eine Pension abgelehnt hatte. Auch hat Kahlert es nicht bei der Nennung solcher Verhaltensweisen wie »geschäfts- und intrigegewohnt« belassen, sondern diese andeutungsweise in institutionelle und politische Bedingungen eingesenkt. Man sieht, dass Kahlert soziale und psychologische Wahrscheinlichkeit intendiert, dem Leser mit dem Geheimrat und seiner zweiten Frau keine allegorisch synthetisierten Figuren auf der Basis geschichtsphilosophischer Konstruktionen begegnen. Es handelt sich um mehrdimensionale, mithin realistische Figuren noch ohne plastische Ausarbeitung, diese ist in einer Novelle, anders als im Roman, auch weniger gut möglich.29 Im Unterschied hierzu können Cölestins Verweigerung, sich bürgerlichen Strukturen anzuschmiegen, wie auch die Dichotomie von Gedankenschwäche und Empfindungsstärke, effektiv auf das romantisch-idealistische Vokabular abgebildet werden. Einsamkeit, Vereinzelung, Publikumslosigkeit und die Abwendung vom Musikphilistertum lassen den Romantiker erkennen. Zudem ist die Cölestin zugeschriebene absolute Musik ein Stück Ideengeschichte der Romantik, das unter anderem zurückgeht auf Wackenroders Wunder der Tonkunst (1799), Tiecks Symphonien (1799) oder E.T.A. Hoffmanns Rezensionen der 5. Sinfonie Beethovens (1810).30 Der Verzwecklichung des Individuums und seiner Kreativität, von Hegel in seiner Ästhetik unter dem Terminus »Prosa der Verhältnisse« als Grunderfahrung der Moderne zusammengefasst, war das frühromantische Kunstprogramm entgegen gerichtet. Cölestins Seelenzustand wird von Figuren, aber auch vom Erzähler selbst mit Zuschreibungen wie Irresein und Wahnsinn belegt. Genau besehen ist hier die 29 So gibt es auch keinen Zugang zur Innenperspektive der Figur, sondern man muss sich auf den Bericht wahrnehmbaren Verhaltens beschränken. Nebenfiguren, die mit dem Protagonisten in Verbindung stehen, ermöglichen es diesem, über seine Gedanken und Gefühle zu sprechen. Die Geliebte enthüllt die emotionale Seite seiner Psyche, der Musikdirektor die intellektuelle. 30 In seiner Rezension von Beethovens »Fünfter Symphonie« schrieb E.T.A. Hoffmann 1810: »Wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumental-Musik gemeint sein, welche, jede Hülfe, jede Beimischung einer andern Kunst verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht. Sie ist die romantischste aller Künste, – fast möchte man sagen, allein rein romantisch.« Zit. nach E.T.A Hoffmann: Beethovens 5. Sinfonie, in: Sämtliche Werke in 6 Bänden, Bd. 1: Tagebücher, Libretti, Juristische Schriften, Werke 1794–1813, hg. von Gerhard Allroggen u. a. Frankfurt/Main 2003, S. 532–552, hier S. 532. Zum Begriff »absolute Musik« siehe Ricarda Schmidt: Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann, Göttingen 2006, S. 21.

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Abgrenzung in zwei Richtungen gut möglich. In einigen Punkten kann Cölestin gegen die vorausliegende Romantik wie gegen die nachfolgende realistische Literatur der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts abgegrenzt werden. Zum einen lässt sich die romantische Flucht – von Kahlert geschichtlich konkretisiert – als weltschmerzliche Verinnerlichung und Resignation präzisieren und periodisieren, was in die zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts weist. Zum anderen zeigt sich in der Erzählung des Wahnsinns noch nicht jene Verlagerung von Psychologie auf Psychopathologie, wie dies erst Jahrzehnte später und deutlich im Naturalismus geschieht. Dabei handelt es sich nicht um einen graduellen, sondern historischen Unterschied in der Darstellung von Künstlerwahnsinn. Ist Wahnsinn am Ende des 19. Jahrhunderts durch die prinzipielle Unverständlichkeit und Unsinnigkeit seiner Artikulation bestimmt, erscheint Wahnsinn bei Kahlert noch als Klassifikation von Abweichung von Normalbürgerlichkeit bzw. auf verständliche psychische Akte zurückgeführt, in denen sich Gefühle der Einsamkeit, der Verlassenheit, des Nichtverstandenseins manifestieren. Wenn in der Epoche des frühen Realismus als degeneriert, nervös, neurotisch usw. eingestufte Charakterbilder vorkommen, dann handelt es sich noch nicht um pathologische Bezeichnungen im Sinne eines medizinischen Begriffs.31 Und tatsächlich sind ja in dieser Novelle Cölestins gesellschaftlicher Rückzug und seine baldige Fixierung auf Musik keine Qualitäten im Sinne der Psychiatrie, da ihnen die Qualitäten des offenkundigen Irreseins abgehen. Statt tiefenpsychologischer Rekonstruktion, die erst in der freudianischen und nachfreudianischen Epoche üblich ist, bietet Kahlert hermeneutische Sinnparaphrasen: Etwa heißt es, »Ausbrüche übermäßiger Hitze« zeigten sich, wenn ihn etwas gereizt, und sein sehr zartes Gefühl eine Kränkung erlitten hatte; – »Erscheinungen, die jeden, der sein sanftes Betragen, seine Sorglosigkeit um Alles, was ihn umgab, kannte, befremden mussten« (S. 35). Oder Kahlert erklärt: Als Cölestin nach der Entdeckung der vor ihm verheimlichten Verlobung Ceciliens »auf des Geheime-Raths Befehl mit Gewalt nach seinem Zimmer zurückgebracht« wurde, »verfiel er in den Zustand eines Rasenden und als nach Stunden sein Schmerz sich gelegt hatte, blieben sichtbare Spuren des Wahnsinns an ihm zurück. Wochenlang pflegte ihn sein treuer Rx, und gelanget dahin, jene Spuren großentheils zu vertilgen« (S. 36). Wollten wir Kahlerts Strategie auf einen Punkt bringen, ließe sich sagen: August Kahlert suchte idealistisch-romantische Konstruktionen durch empirische Realien und Motivierungen im kausalen Zusammenhang zu verifizieren und zugleich idealistische Basisannahmen zu bewahren.

31 Vgl. Horst Thomé: Autonomes Ich und »Inneres Ausland«. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, S. 50.

Jan Gos´cin´ski / Artur Dariusz Kubacki1 (Uniwersytet Pedagogiczny w Krakowie)

Die Treny von Jan Kochanowski in deutscher und englischer Nachdichtung

Die Treny – ein dichterisches Meisterwerk Die Treny2 sind eine der hervorragendsten Leistungen des polnischen Renaissance-Dichters Jan Kochanowski und eines der wichtigsten Werke der polnischen Poesie im Allgemeinen. Aufgrund ihres außergewöhnlichen Charakters, der künstlerischen Form, der Verwurzelung in die griechisch-römische und jüdisch-christliche Tradition, der philosophischen Tiefe, des ergreifenden persönlichen und zeitlosen Tons und der gewichtigen Thematik kann das Werk auch ohne Zögern zum dauerhaften Erbe der Weltliteratur gezählt werden. Daran zweifelt Czesław Miłosz3 nicht, indem er feststellt, dass wir es hier mit einem Klassiker der Weltliteratur zu tun haben. Deshalb sind die Übertragungen4 dieses außergewöhnlichen Werkes so wichtig, damit sich auch diejenigen Menschen, die kein Polnisch verstehen, mit ihm vertraut machen können. Der Zyklus von neunzehn Klagen, aus denen sich die Treny zusammensetzen, ist Jan Kochanowskis poetische und philosophische Antwort auf seine persönliche Tragödie. Es war der Tod seiner zweieinhalbjährigen Tochter Orszula. Das Werk wurde 1580 noch zu Lebzeiten des Dichters veröffentlicht und ist eine Aufzeichnung der emotionalen und intellektuellen Verwirrung, die durch den vorzeitigen Tod seines geliebten Kindes verursacht wurde. Wie Stanisław Grzeszczuk schreibt, ist es die Verwirrung, aus der »eine neue Ordnung«5 ent1 Die Analyse der deutschen Nachdichtung der Treny stammt von Artur D. Kubacki und die ´ ski. der englischen von Jan Gos´cin 2 In der deutschen Literatur ist diese lyrische Gattung auch unter folgenden Termini bekannt: Threnodien, Thränen bzw. Threnen, Threni, Klagelieder, Klagen. In der englischen Literatur finden solche Termini Verwendung wie Laments und Threnodies. 3 Czesław Miłosz: Umschlagseite (U3), in: Jan Kochanowski: Laments. Übersetzt von ´ czak, London, Boston 1995. Seamus Heaney / Stanisław Baran 4 Die Bezeichnungen Nachdichtung, Übertragung, Übersetzung und Translat werden in diesem Aufsatz synonym betrachtet. 5 Soweit nicht anders angegeben, stammen alle zitierten Übersetzungen von den Autoren des Aufsatzes.

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Jan Gos´cin´ski / Artur Dariusz Kubacki

steht, und er fügt hinzu, dass »dies bereits eine andere Ordnung ist«, weil »in ihr Platz für menschliches Leid«6 gefunden werden konnte. Auf ähnliche Art und Weise äußert sich auch Janusz Pelc, indem er schreibt: »Einer eher vereinfachenden und in ihrer doktrinären Kompromisslosigkeit naiven These über die Notwendigkeit, das Gleichgewicht des Geistes sowohl in guten und als auch in schlechten Zeiten aufrechtzuerhalten, wird am Ende der Treny ein anderes Konzept […] gegenübergestellt, das in gewisser Weise die Grundlage der Ideologie des Werkes bildet. Der Gedanke war, dass ein vernünftiger Mensch in jeder Situation anders handelt, sich im Glück freut, im Unglück verzweifelt, aber wenn ihn auch nur der schwerste Schlag trifft, sollte er sich mit Würde und Weisheit verhalten«.7

Solch eine Einstellung nennt Pelc einen »schwierigen Optimismus«8 und einen vollständigeren und reiferen Humanismus.9 Nach Jerzy Ziomek sind die Treny eine Verbindung aus zwei Formen der Funeraldichtung: Jan Kochanowski »schuf einen Zyklus und verlieh diesem Zyklus gleichzeitig eine kompositorische Kompaktheit«.10 Das Werk, so Ziomek, ist nicht so konstruiert, dass es die von der normativen Poetik auferlegte Reihenfolge der behandelten Themen genau widerspiegelt, enthält aber dennoch all jene Komponenten, die in einem klassischen Epizedium enthalten sein sollten. So zeigt es das Ausmaß des Verlustes auf, drückt Bedauern aus, enthält Lob, Mahnung und Trost.11 Für Adam Czerniawski ähnelt die Struktur des Zyklus »der musikalischen Form, der Form einer Sonate«.12 Ihm zufolge baut Jan Kochanowski das Ganze so auf, als ob er ein musikalisches Werk aus den folgenden Themen und Motiven konstruieren würde: Orszula im Schoß der Familie, verschiedene väterliche Emotionen, Anspielungen auf heidnische Mythen wie auch auf die griechischrömische und christliche Denkweise, Parallelen zwischen dem Tod der Tochter und dem Oliventrieb, den der Gärtner unbedacht abschneidet, und dem Verschlingen der jungen Nachtigallen durch die Schlange, ein Traum, der nach Czerniawski als wichtigstes Element des Zyklus zu betrachten ist, da er das Zerrissensein des Dichters zwischen Verzweiflung und Hoffnung darstellt.13

6 Stanisław Grzeszczuk: Jan Kochanowski – »Treny«, in: Andrzej Borowski / Janusz Gruchała (Hg.): Lektury polonistyczne. Bd. I: S´redniowiecze, Renesans, Barok, Kraków 1997, S. 131–176, hier S. 173. 7 Janusz Pelc: Wste˛p, in: Jan Kochanowski, Treny, Wrocław 1978, S. 3–119, hier S. 77. 8 Ebd., S. 76. 9 Ebd., S. 77. 10 Jerzy Ziomek: Renesans, Warszawa 1973, S. 257. 11 Ebd., S. 257. 12 Jan Kochanowski: Treny. Übersetzt von Adam Czerniawski, Katowice 1996, S. 122. 13 Ebd., S. 140.

Die Treny von Jan Kochanowski in deutscher und englischer Nachdichtung

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Stanisław Baran´czak sieht die Quelle der tiefen emotionalen Wirkung der Treny nicht »in der Rebellion selbst«, sondern: »[…] it is born from the clash of the rebellion and the rule, the latter still a factor commanding enough to have to be reckoned with. […] What we hear is far from an uncontrollable howl of pain. […] The world presented in ›Laments‹ is out of joint, but the human being who faces that world still remembers its previous order and yearns for its return«.14

Übersetzungen der Treny ins Englische Vor dem Hintergrund des Vermächtnisses der polnischen Renaissance sind die Treny ein Werk, das seine emotionale und intellektuelle Kraft bewahrt hat und den Leser weltweit ansprechen kann. Daher verwundert es nicht, dass man versucht, den Zyklus unter anderem dem englisch- und deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Da die Treny jedoch im 16. Jahrhundert entstanden sind und sich somit deutlich vom zeitgenössischen Polnisch unterscheiden, obwohl die Sprache im Allgemeinen recht verständlich ist, und da ihr Autor ein virtuoser Dichter ist, der die Regeln der Dichtkunst perfekt beherrschte, steht jeder Übersetzer, wie Adam Czerniawski es ausdrückt, »vor einer ernsthaften Herausforderung«15 und kann infolgedessen in Frustration verfallen, dass er zu einer adäquaten Übersetzung nicht in der Lage sein wird. Die Zweifel an der Durchführbarkeit einer Übersetzungsaufgabe halten die Übersetzer, die sich oft daran versuchen, jedoch nicht davon ab. Die grundlegenden Übersetzungsprobleme sind drei. Das erste läuft auf eine Entscheidung hinaus: Archaisierung der Übersetzung, Wahl einer zeitgenössischen Sprache oder Anwendung einer Mischlösung. Das zweite Problem hängt – wie Piotr Wilczek es darstellt – mit der »Perfektion der poetischen Sprache«16 zusammen. Dies wird belegt, so Wilczek, durch »lapidare Phrasen, kunstreiche Enjambements, Metaphern, die in der Idiomatik der polnischen Sprache des sechzehnten Jahrhunderts verwurzelt sind, präzise geschaffene Anaphern, Periphrasen und ausgebaute Vergleiche«.17 Das dritte Problem ergibt sich nach Meinung von Pelc aus »der hervorragenden Beherrschung der Technik der künstlerischen Organisation des Ausdrucks durch den Dichter«. Folglich werden wir in dem Werk »keine Beispiele für Fehler in der Rhythmik finden« und »wir ´ czak: Introduction, in: Jan Kochanowski, Laments. Übersetzt von 14 Stanisław Baran ´ czak, London – Boston 1995, S. 16. Seamus Heaney und Stanisław Baran 15 Jan Kochanowski: Treny. Übersetzt von Adam Czerniawski (wie Anm. 12), S. 152. 16 Piotr Wilczek: Angielsko-polskie zwia˛zki literackie. Szkice o przekładzie artystycznym, Katowice 2011 (Studia o przekładzie, Nr. 32, hg. von Piotr Fast), S. 45. 17 Ebd., S. 45.

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werden keine Rauheit in den Reimen finden«.18 Es ist also klar, dass für die Übersetzung dieses Kunstwerks ein Übersetzer mit höchsten Qualifikationen erforderlich ist, der vorzugsweise selbst ein hervorragender Dichter ist. Die Treny wurden mehrmals, insgesamt fünfmal vollständig, in die englische Sprache übertragen, was – wie Piotr Wilczek feststellt – »eine Manifestation der unglaublichen Popularität des Werkes für angelsächsische Verhältnisse« sei.19 Das gesamte Werk wurde von Dorothea Prall (1920), Seamus Heaney zusammen mit Stanisław Baran´czak (1995), Michał Jacek Mikos´ (1995), Adam Czerniawski (1996) und Barry Keane (2001) nachgedichtet.20 Bis auf eine Ausnahme wurden alle vollständigen Übersetzungen überraschenderweise im gleichen Zeitraum angefertigt, das heißt an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert.

Übersetzungen der Treny ins Deutsche In der deutschen Sprache können wir Übersetzungen der Treny sowohl vollständig als auch auszugsweise finden. Michał Cies´la21 gibt unter Bezugnahme auf die Berechnungen von Adam Bar an, dass die Treny bis 1930 entweder fragmentarisch oder vollständig siebenmal ins Deutsche übersetzt wurden. Nach Ansicht von Anna Wróbel22 wurde gerade dieses Werk von Jan Kochanowski am häufigsten im 19. Jahrhundert übersetzt. Ihre Nachforschungen zeigen, dass die Treny zunächst auszugsweise in der folgenden chronologischen Reihenfolge übersetzt wurden: Im Jahre 1822 veröffentlichte die Zeitschrift »Morgenblatt für gebildete Stände« in Tübingen eine Übersetzung der Threnodie X, deren Autor, wie Wróbel vermutet, da die Übersetzung nur Initialen trägt, der Dichter und Übersetzer August von Drake ist. Der Autor übersetzte auch die Threnodie VIII, die zusammen mit der Threnodie X vier Jahre später in der Zeitschrift Polnische Miscellen veröffentlicht wurde. Diesmal gab der Übersetzer August von Drake seinen Vor- und Familiennamen vollständig an. Bekannt ist ferner die Übersetzung der Threnodie VIII von Michael Kosmeli von 1835, die in der Zeitschrift 18 Pelc: »Wste˛p« (wie Anm. 7), S. 103. 19 Wilczek: »Angielsko-polskie zwia˛zki literackie« (wie Anm. 16), S. 44. 20 Jan Kochanowski: Laments. Übersetzt von Dorothea Prall, Berkeley 1920; Jan Ko´ czak, London, chanowski: Laments. Übersetzt von Seamus Heaney / Stanisław Baran Boston 1995; Jan Kochanowski: Laments. Übersetzt von Michał Jacek Mikos´, Warszawa 1995; Jan Kochanowski: Treny. Übersetzt von Adam Czerniawski, Katowice 1996; Jan Kochanowski: Threnodies and The Dismissal of the Greek Envoys. Übersetzt von Barry Keane, Katowice 2001. 21 Michał Cies´la: Jan Kochanowski in deutscher Übertragung von Spiridon Wukadinovic´, in: Studia Niemcoznawcze, Bd. XIII, 1997, S. 127–135, hier S. 129. 22 Anna Wróbel: Kochanowski i literatura niemiecka, in: Pamie˛tnik Literacki: czasopismo pos´wie˛cone historii i krytyce literatury polskiej, 43/1–2, 1952, S. 488–501, hier S. 497.

Die Treny von Jan Kochanowski in deutscher und englischer Nachdichtung

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»Schlesische Provinzialblätter« veröffentlicht wurde. Darüber hinaus wurden die Threnodien VI, X und XIII vom deutschen Slawophilen Heinrich Nitschmann nachgedichtet. Die Threnodien VI und XIII wurden von ihm 1875 in seiner Sammlung von Übersetzungen aus der polnischen Literatur Der polnische Parnaß und die Threnodie X in Józef Szujskis wissenschaftlicher Monographie Die Polen und Ruthenen (1882) veröffentlicht.23 Es ist zu betonen, dass der Autor dieser Monografie, Józef Szujski, auch die Threnodien VII und IX selbst nachgedichtet hat. Die acht Threnodien (III, IV–VIII, X und XIII) erschienen in der Übersetzung von Theodor Stahlberger im Bericht des Direktors des St.-JacekGymnasiums in Krakau von 1884 zum 300. Todestag von Jan Kochanowski. Anna Wróbel vergleicht in wenigen Sätzen die Qualität der Nachdichtung der Treny von Nitschmann, Stahlberger und Szujski, indem sie schreibt: »Beide Übersetzungen sind frei, aber Nitschmann ist näher am Original. Er zeigt auch eine gewisse Leichtigkeit beim Verfassen seiner Gedichte, während Stahlberger mit Schwierigkeiten kämpft. Indem er Wörter für den Reim herauszieht und Wörter nur einfügt, um das Versmaß auszufüllen, verdirbt er [Stahlberger] manchmal den eigentlichen Sinn. Ein noch schlechterer Übersetzer der Threnodie (7 und 8) war Szujski, der sich nicht davor schützte, Ausdrücke und Gedanken einzuführen, die dem Original fremd waren«.24

Erst im 20. Jahrhundert wurden die Treny von Jan Kochanowski vollständig ins Deutsche übertragen. Die Autoren sind: Spiridion Wukadinovic´ (1932, 1937), Roland Erb (1980) und Ursula Kiermeier (2000).25 Die erste deutsche Gesamtübersetzung erschien 1932 und stammt von Spiridion Wukadinovic´26, einem aus Wien gebürtigen, ordentlichen Professor für

23 Heinrich Nitschmann: Der polnische Parnaß, Leipzig 1875; Józef Szujski: Die Polen und Ruthenen, Wien und Teschen 1882. 24 Ebd., S. 498. 25 Jan Kochanowski: Threnodien und andere Gedichte. Übersetzt von Spiridion Wukadinovic´, Mikołów 1932, verfügbar unter: http://wolnelektury.pl [30. 03. 2020]; Jan Kochanowski: Eine Auslese aus seinem Werk. Ausgewählt und übertragen von Spiridion Wukadinovic´, Breslau 1937; Jan Kochanowski: Ausgewählte Dichtungen, hg. von Willi Hoepp, Leipzig 1980, S. 282–319; Jan Kochanowski: Treny. Thraenen. Przekład na je˛zyk niemiecki. Deutsche Nachdichtung Ursula Kiermeier, Kraków 2000. 26 Die Einzelheiten zum Leben und zur beruflichen Tätigkeit von Spiridion Wukadinovic´ (1870– 1938) finden sich in folgenden Aufsätzen: Michał Cies´la: Spirydion Wukadinowic´, profesor germanistyki na Uniwersytecie Jagiellon´skim (1870–1938). Wspomnienia o nim, in: Krzysztof A. Kuczyn´ski (Hg.): Z dziejów germanistyki historycznoliterackiej w Polsce. ´ ska: Spiridion Wukadinovic´ (1870– Studia i materiały, Łódz´ 1991, S. 92–104; Maria Kłan 1938), in: Jan Michalik / Wacław Walecki (Hg.): Uniwersytet Jagiellon´ski. Złota Ksie˛ga Wydziału Filologicznego, Kraków 2000, S. 215–222; Maria Kłan´ska: Spiridion Wukadinovic´ (1870–1938), in: Wojciech Kunicki / Marek Zybura (Hg): Germanistik in Polen. Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik – 18 Porträts, Osnabrück 2011, S. 17–32.

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deutsche Sprache und Literatur an der Jagiellonen-Universität Krakau in den Jahren 1914 bis 1932.27 Wie er selbst in seiner Einleitung zur Übersetzung erklärt, hat er zwei Jahre lang daran gearbeitet. Anna Wróbel schreibt: »[…] der Übersetzer hatte nicht die Absicht, Kochanowski modern, ›für einen nicht nach der heutigen Mode Frisierten‹ zu schaffen; im Gegenteil, er wollte ihn so zeigen, wie er wirklich war«.28 Nach Ansicht der Forscherin hat Spiridion Wukadinovic´ äußerst schöne Übersetzungen geschaffen und uns »nicht nur auf die Treue des Inhalts, sondern auch auf die Treue von Stimmung, Form und Stil« aufmerksam gemacht.29 Ihrer Meinung nach »soll der deutsche Leser beim Lesen der Übersetzung den gleichen Eindruck gewinnen wie der Pole beim Lesen des Originals«, und der Leitgedanke des Übersetzers war, wie sie abschließend feststellte, »so nahe wie möglich an den Originaltext heranzukommen, Zeile für Zeile, Wort für Wort, soweit dies der Geist der deutschen Sprache zuließ«.30 Interessant ist, dass die Übersetzung der Treny durch den Professor der Krakauer Germanistik erst dank der finanziellen Hilfe seiner Studenten herausgegeben wurde, die ihre eigenen Ersparnisse einsetzten, um das Manuskript in hundert Exemplaren zu veröffentlichen, da keiner der damaligen Verleger das Werk von Jan Kochanowski auf Deutsch drucken wollte.31 Erst 1937 gelang es Wukadinovic´, den Verlag Wilhelm Gottlieb Korn in Breslau zur Publikation seiner Übersetzung zu gewinnen. Anlässlich des 450. Geburtstags von Jan Kochanowski erschien 1980 eine Sammlung mit Ausgewählten Dichtungen, darunter eine Gesamtübersetzung der Treny von Roland Erb, dem ostdeutschen Dichter, Prosaautor und Übersetzer. Ursula Kiermeier32 stellt fest, dass Roland Erb die Treny selbst nicht übersetzt33, sondern ihnen nur eine poetische Form gegeben habe, die auf einer wortgetreuen Interlinearübersetzung ins Deutsche durch eine andere Person und deren wissenschaftlichen Kommentar basiere. Sie fügt hinzu, dass es sich um einen Dichter handle, der die Ausgangssprache nicht beherrschen musste.34

´ ska: Spiridion Wukadinovic´ (1870–1938) (wie Anm. 26), S. 216f. Kłan Wróbel: Kochanowski i literatura niemiecka (wie Anm. 22), S. 498. Ebd., S. 498. Ebd. Cies´la: Spirydion Wukadinowic´, profesor germanistyki na Uniwersytecie Jagiellon´skim (wie Anm. 26), S. 132; Kłan´ska: Spiridion Wukadinovic´ (1870–1938) (wie Anm. 26), S. 222. 32 Ursula Kiermeier: Eine verspätete Rezeption. Zu den deutschen Nachdichtungen der »Treny« Jan Kochanowskis, in: Boz˙ena Chołuj / Ulrich Räther (Hg.): Grenzerfahrungen literarischer Übersetzung, Berlin 2007, S. 58–65, hier S. 61. 33 Das war nach Meinung der Rezensentin der Festschrift, Prof. Marion Brandt, in der DDR allgemein üblich. 34 Wir danken Michał Ga˛ska, einem in Breslau (poln. Wrocław) ansässigen Germanisten, für diese Information und die Bereitstellung der Übersetzung von Roland Erb. 27 28 29 30 31

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Die letzte Gesamtübersetzung der Treny wurde im Jahre 2000 im Krakauer Verlag (Wydawnictwo Krakowskie) veröffentlicht, deren Autorin die bereits erwähnte Ursula Kiermeier, eine bekannte deutsche Übersetzerin polnischer Literatur, ist.

Die Threnodie IX Die Wahl der Threnodie IX für die Analyse wurde aus zwei Gründen getroffen. Im Gegensatz zur Threnodie X, die im übersetzerischen Zusammenhang bereits breit diskutiert wurde,35 scheint die Threnodie IX nicht die Aufmerksamkeit der Übersetzungskritiker auf sich zu ziehen, sondern ist eines der Bindeglieder im Zyklus, in dem eine wichtige philosophische Problematik am umfassendsten zum Ausdruck kommt. In diesem Fall stellt Kochanowski den Wert der Vernunft als Schutzschild gegen das vom Leben getragene Leid in Frage. Der stoische Glaube an die Vernunft, der ein Garant eines ungebrochenen inneren Friedens sein sollte, scheitert im Angesicht der letzten Dinge daran, dass die Vernunft mit all ihrer Argumentation und Nachdenklichkeit sich gegenüber bestimmten Arten von Schmerz als machtlos erweist. Das Leben lässt den Dichter auf brutale Weise erkennen, dass er ein Mann wie jeder andere ist: ein gewöhnlicher Mensch, der von schwer zu lindernden Emotionen gequält wird, und nicht irgendein Weiser, der alles, was geschieht, mit überlegener Ruhe betrachtet. Die Threnodie IX ist eine faszinierende Auseinandersetzung mit der Nützlichkeit der stoischen Philosophie, ein Ausdruck ergreifender Desillusionierung über sie, eines Gefühls der Ohnmacht und des Zweifels an den Werten, zu denen wir uns bisher bekannt haben. All das lenkte unsere Aufmerksamkeit auf das neunte Klagelied, das Zeugnis eines leidenschaftlichen intellektuellen Kampfes.

Die Threnodie IX in englischer Übersetzung Unter den englischen Übersetzungen der Threnodie IX wählten wir drei aus, und zwar die von Dorothea Prall, Adam Czerniawski und des Tandems Seamus Heaney und Stanisław Baran´czak. Die gewählten übersetzerischen Leistungen veranschaulichen gut die verschiedenen Übersetzungsstrategien der Nachdichter. 35 Adam Czerniawski: The Melancholy Pursuit of Imperfection, in: Metre 5 (1998), S. 62–72; Wilczek: Angielsko-polskie zwia˛zki literackie (wie Anm. 16), S. 43–68; Jakub Zba˛dzki: Zas´wiaty – nieistnieja˛ce czy niepoznawalne? Tłumaczenie jako zysk interpretacyjny na przykładzie »Trenu X« Jana Kochanowskiego, in: Filologia Polska. Roczniki Naukowe Uniwersytetu Zielonogórskiego, 1 (2015), S. 31–38.

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Dorothea Prall versucht, die kunstvolle Form der Threnodie IX zu rekonstruieren: Sie führt konsequent genaue Reime ein, und den Dreizehnsilber ersetzt sie, wie Weronika Szwebs schreibt, durch den jambischen Pentameter, »der natürlich klingt und in der englischen Poesie oft vorkommt«.36 Die Forscherin ist der Ansicht, dass die Entscheidung für das akzentuierende Versprinzip in der Tatsache begründet liegt, dass »im Englischen die Regelmäßigkeit des akzentuierenden Versprinzips für das Ohr viel weniger wahrnehmbar ist als in der polnischen Sprache«.37 Darüber hinaus verwendet die Übersetzerin Enjambements wie im Original. Sie archaisiert die Sprache, die archaisierenden Verfahren bestehen jedoch hauptsächlich in der Verwendung der alten Pronomen thou, thee, des alten Determinativs thy und der alten Verbformen shouldst und canst. Ansonsten bedient sie sich im Grunde genommen des gegenwärtigen Englisch, das außer den oben erwähnten Wörtern nur selten Archaismen wie hap, behold, blest und hearken innehat. Diese Archaisierung macht die Lektüre also nicht schwer, denn die Archaismen sind standardmäßig, dieselben Formen werden oft wiederholt, und die Bedeutung vieler der Archaismen lässt sich durch ihre Struktur leicht entschlüsseln. Man könnte hier die These riskieren, dass die Archaisierung oberflächlich ist, da die Wörter, die die wichtigsten Bedeutungen tragen, in der Regel keiner Archaisierung unterliegen. Archaische Elemente stören die Lektüre nicht wesentlich, aber sie schaffen eine Atmosphäre der Vergangenheit, suggerieren die zeitliche Distanz des Textes und ermöglichen gleichzeitig dessen relativ leichte Verständlichkeit. Insofern ist die Übersetzung an das Original gut angepasst, das – obwohl in der Sprache des 16. Jahrhunderts verfasst – auch dem gebildeten Leser in der Rezeption keine größeren Schwierigkeiten bereiten dürfte. Im Hinblick auf das gegenständliche Werk können wir daher Samuel Fiszman nicht zustimmen, der unter anderem mit Blick auf die Übersetzung der Treny von Dorothea Prall feststellt: »Diese Archaisierung lenkt von dem Werk ab, nimmt ihm die Unmittelbarkeit des Gefühls, die unter anderem aus der Nähe von Kochanowskis Sprache zur Sprache des zeitgenössischen polnischen Lesers resultiert«.38 Vom Inhalt her ist die Übersetzung originalgetreu. Die Übersetzerin ist bestrebt, alle Bedeutungen innerhalb der durch die strengen Anforderungen an das verwendete Versmaß und den Reim vorgegebenen Grenzen wiederzugeben. Die allgemeine Verständlichkeit des Textes bricht in den Versen 15 und 16 ein wenig ein, wird aber im Finale wiederkehren. Was den Wert der Übersetzung mindert, ist manchmal eine gewisse Künstlichkeit oder Unnatürlichkeit des Ausdrucks36 Weronika Szwebs: »Treny« Jana Kochanowskiego w angielskich przekładach, in: Przekładaniec 26 (2012), S. 299–318, hier S. 304. 37 Ebd. 38 Samuel Fiszman nach Wilczek: Angielsko-polskie zwia˛zki literackie (wie Anm. 16), S. 52.

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verlaufs, die durch die Notwendigkeit der Einhaltung formaler Anforderungen erzwungen wird. Adam Czerniawskis Übersetzungsvorschlag ist völlig anders. Selbst die Anzahl der Verse stimmt mit dem Ausgangstext nicht überein. Während wir bei Dorothea Prall so viele Verse haben, wie das Original zählt, also zwanzig, sind es bei Adam Czerniawski nur achtzehn. Diese Tatsache offenbart die Strategie des Übersetzers: Er strebt eine maximale Lapidarität der Botschaft an. Dadurch wird der Text extrem kurz und knapp, was ihn kraftvoller klingen lässt, da er keine unnötigen Worte enthält. Das ist sein großer Vorteil. Im Kommentar zu seiner Übersetzung bemerkt Adam Czerniawski, dass er versucht habe ›Füllwörter‹ zu vermeiden.39 Es muss zugegeben werden, dass dieses Ziel zumindest in Bezug auf die diskutierte Threnodie mehr als erreicht worden ist. Die Inhaltsdichte hat jedoch ihren Preis. Die Übersetzung hat kein klares Versmaß und reimt sich nicht. Adam Czerniawski konzentriert sich auf eine knappe Wiedergabe des Sinns, um die Aussage des Werkes zu intensivieren, und vernachlässigt dabei völlig die formalen Eigenschaften des Originals. Wenn man sich jedoch das Ergebnis ansieht, kann ihm dies vergeben werden. Das zweite Merkmal, das Adam Czerniawskis Version von Dorothea Prall unterscheidet, ist das völlige Fehlen der Archaisierung. Die Übersetzung wurde in zeitgenössischem Englisch erstellt, was die Lektüre stark erleichtert. Überdies vereinfacht der Übersetzer die Sprache des Originals erheblich: Statt literarischer Wörter wykorzenic´ (mit der Wurzel ausreißen), frasunek (Sorgen, Kummer), fraszka (Nichtigkeit, Kleinigkeit) oder strawic´ (verbringen) haben wir zum Beispiel viel einfachere Wörter wie bar, care, game und search. Selbst die Enjambements sind so konstruiert, dass sie die Flüssigkeit des Lesens nicht stören. Adam Czerniawskis Übersetzung bleibt dem Sinn des Originals treu. Obwohl der Übersetzer an mehreren Stellen Details ändert, behält er die Hauptidee bei. So ist beispielsweise der Tausch von großen Schätzen gegen land, Naturbedürfnissen gegen simple needs, Schwellen gegen door oder sogar einem Auge, dem sich nichts entziehen kann, gegen sleepless eye von geringer Bedeutung. Ein signifikanter Unterschied kann nur in einem Fall erfasst werden. Im 16. Vers stellt der Dichter fest, dass das Erreichen des inneren Friedens das Hören auf die Empfehlungen der Weisheit erfordert. Im Translat von Adam Czerniawski taucht jedoch eine rhetorische Frage auf, die zeigt, dass nur wenige Menschen auf die Empfehlungen der Weisheit hören. Die Übertragung des Tandems Seamus Heaney und Stanisław Baran´czak nähert sich formal der Übersetzung von Dorothea Prall an, weil sie konsequent

39 Jan Kochanowski: Treny. Übersetzt von Adam Czerniawski (wie Anm. 12), S. 156. Die Anführungszeichen stammen von Adam Czerniawski.

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gereimt ist, in der Regel mittels genauer Reime, und, wie Weronika Szwebs40 schreibt, das Muster eines jambischen Pentameters verwendet. Was die Übertragung jedoch deutlich von der Version der vorgenannten Übersetzerin unterscheidet, und was sie der Version von Adam Czerniawski näherbringt, ist das völlige Fehlen einer Archaisierung. Auch die Schlichtheit der Sprache, frei von ausgefeilter Literarisierung, steht der Version des Tandems nahe. Solche Verse wie »I’d buy you, Wisdom, with all of the world’s gold // But is there any truth in what we’re told« oder »For you, the rich man is the one who owns // No more than what’s enough – no precious stones« überraschen uns mit der einfachen Sprache, die im Original doch nicht so schlicht ist. So wird der Stil des Originals manchmal stark vereinfacht, was nachvollziehbar ist, da dieses Verfahren der größeren Klarheit/Transparenz des Textes dient. Sehr beunruhigend sind jedoch die großen Veränderungen auf dem Gebiet der poetischen Bildgestaltung. Die einfache Aussage des Dichters, dass sowohl trauernde als auch glückliche Ereignisse vom Weisen mit gleichem Seelenfrieden akzeptiert werden, wird von den beiden Übersetzern zu einem Bild ausgebreiteter Flügel erweitert, von denen der eine die Trauer und der andere die Freude versinnbildlicht, und auf denen die Weisheit Frieden bringt. Nicht nur der im Original klar zum Ausdruck gebrachte Gedanke, sondern vor allem das Bild, das in der Threnodie IX vergeblich gesucht wird, fällt hier vage aus. Heaney und Baran´czak konstruieren auch das Bild eines gequälten Geistes, der von der Weisheit in die höchste Sphäre des Himmels getragen wird, wo die Engel frei von Schmerz und Angst leben. Im Original ist nichts dergleichen zu finden: Es besagt nur, dass der Weisheit die Fähigkeit zugeschrieben wird, einen Menschen fast in einen Engel zu verwandeln, der keinen Schmerz, keine Angst und keine Furcht kennt. Im vorletzten Vers schließlich verwenden die Übersetzer die Redewendung castles in the air (wörtlich: Luftschlösser), was unrealistische Pläne bedeutet. Dies ist zwar semantisch korrekt, führt aber wiederum ein im Original nicht vorhandenes Bild ein. Es handelt sich um die konsequente Anwendung der Metapher, die mit dem Treppensteigen und dem Herunterwerfen von der Treppe kurz vor deren Ende verbunden ist. Adam Czerniawski hat daher völlig recht, wenn er bei der Gesamtbewertung der diskutierten Übersetzung der Treny feststellt, dass die Flüssigkeit der Version von Seamus Heaney durch die dogmatische Herangehensweise von Stanisław Baran´czak beschädigt wurde. Für Baran´czak muss die Übersetzung um jeden Preis die Reime und den Rhythmus des Originals (getreu) bewahren. Infolgedessen mussten die Übersetzer »Füll-

40 Szwebs: »Treny« Jana Kochanowskiego w angielskich przekładach (wie Anm. 36), S. 304.

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wörter« anwenden sowie Ausdrücke und Bilder hinzufügen, die Jan Kochanowski weder verwendet hatte noch überhaupt verwenden würde.41

Die Threnodie IX in deutscher Übersetzung Für die Analyse wurden, wie im Falle des Englischen, drei Übersetzungen der Threnodie IX aus dem 20. Jahrhundert ausgewählt, und zwar von Spiridion Wukadinovic´ (1932), Roland Erb (1980) und Ursula Kiermeier (2000). Nach Ansicht von Michał Cies´la wird Spiridion Wukadinovic´ durch das Werk des polnischen Dichters mit zahlreichen Bildern und Metaphern sowie philosophischen Reflexionen dazu angezogen, »die Verse in deutsche Reime mit gleichen poetischen Verzierungen zu kleiden und möglichst adäquat wiederzugeben«.42 Er bewahrt dabei die Einfachheit des Ausdrucks und die Tiefe der Erfahrung, die im Original enthalten sind. Dies bestätigt voll und ganz der Übersetzer der Threnodie IX. Zum Ersten verwendet Spiridion Wukadinovic´ einen Dreizehnsilber, mit Ausnahme der letzten beiden Verse, in denen ein Zwölfsilber vorgeschlagen wird. Zum Zweiten bleibt die Struktur des Werkes erhalten: Es besteht aus zwanzig Versen und einer ungegliederten Abfolge unverbundener Einzelverse (sog. stichischer Aufbau). Zum Dritten kommen durchgehend die Paarreime zum Einsatz. Darüber hinaus verwendet der Übersetzer die gleichen Ausdrucksmittel. Es sind: (1) Apostrophen, z. B. Kupic´ by cie˛, Ma˛dros´ci, za drogie pienia˛dze! / Weisheit, um teures Geld man dich erkaufen müsste, (2) Enumerationen, z. B. bezpieczna, nieodmienna, niepoz˙yta / sicher, ewig, unwandelbar, (3) Personifikationen, z. B. a uboz˙szym nie zajz´rzysz / dem Armen neidest du nicht, (4) Epitheta, z. B. drogie pienia˛dze / teures Geld, (5) Enjamembents, z. B. Jednaka˛ mys´l tak w szcze˛´sciu, jako i w z˙ałobie // Zawz˙dy niesiesz / Gleichmüt’ge Sinnesart im Glück wie auch im Leid // Trägst du in dir. Der Unterschied zum Original besteht darin, dass es an einer Stelle des Gedichts zum Verzicht auf ein Enjambement kommt, weil der Übersetzer wahrscheinlich bestrebt ist, die Struktur des Gedichts und der Reime aufrechtzuerhalten: 41 Adam Czerniawski: Polish Poetry, in: Peter France (Hg.): The Oxford Guide to Literature in English Translation, Oxford 2001, S. 206–209, hier S. 207. 42 Cies´la: Jan Kochanowski in deutscher Übertragung von Spiridon Wukadinovic´ (wie Anm. 21), S. 132.

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»Ty bogactwa nie złotem, nie skarby wielkimi, Ale dosytem mierzysz i przyrodzonymi // potrzebami. Du misst den Reichtum nicht mit Gold und Schätzen zu. Doch was Natur erheischt, das spendest reichlich du«.

Darüber hinaus archaisiert Wukadinovic´ stark die Sprache der Übersetzung, was sich in der Verwendung alten Vokabulars und alter Ausdrucksformen manifestiert. So sind in der Übersetzung folgende veraltete Formen zu finden: (1) alte Präpositionen zusamt (samt), (2) alte Verben: sich darbeuten (sich unterwerfen), ausraffen (ausreißen), sich befleißen (sich befleißigen) und (3) alte Partizipien: sehrend (verwundend). Beispiele für bereits archaische Ausdrucksformen bilden auch Verben mit der Endung -et in der 3. Person Singular: rühret und verspüret sowie Substantive mit der alten Endung -e im Dativ Singular: Schmerze und Dache. Ebenfalls die Nachstellung des Possessivpronomens gilt im Deutschen als eine archaische Form: dass ich die Schwelle dein gewahre. Die archaische Stilisierung ist auch am erhabenen Stil des Gedichtes zu spüren, was durch die Verwendung folgender Wörter zum Ausdruck kommt: erspähen (erblicken), gewahren (bemerken), Lüste (Verlangen), jählings (plötzlich). Die Stilisierung ist überdies sichtbar im Gebrauch des Apostrophs zwecks Vermeidung des Buchstabens -i- (gleichmüt’ge, unglücksel’ger) und der Tilgung des Buchstabens -e- ohne Apostroph (goldnem). Die zwei letzteren Maßnahmen, benannt als Elision, werden in der Poesie seit Langem als stilistisches Mittel eingesetzt, um die Anzahl der Silben in einem Vers zu reduzieren und so das Metrum des Gedichts beizubehalten. Nach Michał Cies´la versucht Wukadinovic´ in einigen Teilen des Werkes den altpolnischen Text durch einen altdeutschen zu ersetzen, um den Zeitgeist zu vermitteln.43 Bezüglich des Inhalts der Übersetzung bemerkt Anna Wróbel, dass Wukadinovic´ das Werk des polnischen Dichters so treu wie möglich wiedergibt.44 Der Übersetzer behält bei der Übersetzung der Treny bis auf die letzten beiden Verse die volle Sinnidentität bei. Hier kommt es nicht nur zu dem bereits erwähnten Formverlust, das heißt zum Ersetzen des Dreizehnsilbers durch den Zwölfsilber, sondern auch zu einer wesentlichen Bedeutungsänderung. Das lyrische Ich schreibt, dass es von den letzten Stufen heruntergeworfen wurde (z stopniów ostatnich zrzucony), während Wukadinovic´ dies mit folgender Phrase wiedergibt: von der Treppe Fuß jählings zurückgesetzt. Dies hat zur Folge, dass das lyrische Ich selbst seine Bemühungen aufgibt, um zur Weisheit der Stoiker zu gelangen, weil dies in seinem Fall sinnlos ist. Dies ist jedoch ein wesentlicher Unterschied: Im Original wird dem lyrischen Ich der Zugang zur Weisheit verweigert, indem er von ihr gewaltsam zurückgestoßen wird, in der Übersetzung 43 Ebd., S. 131. 44 Wróbel: Kochanowski i literatura niemiecka (wie Anm. 22), S. 499.

Die Treny von Jan Kochanowski in deutscher und englischer Nachdichtung

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verlässt er selbst die Schwelle der Weisheit mit der bitteren Überzeugung, dass er ihr nicht gewachsen ist. Die Übersetzung der Threnodie IX von Roland Erb ähnelt formal der des Professors der Krakauer Germanistik, unterscheidet sich aber in Bild und Sprache von ihm. Die formale Seite des Gedichts entspricht zur Gänze dem Original: Versmaß, Anzahl der Verse und Reimarten. Zugegebenermaßen gelang es Roland Erb nicht, das Enjambement an der gleichen Stelle wie Spiridion Wukadinovic´ zu behalten: »Reichtum ist für dich nicht an Gold und großen Schätzen, // sondern am Sättigen der Hungernden zu messen«. Es gelang ihm jedoch, das gleiche Versmaß, also den Dreizehnsilber, im ganzen Stück zu behalten. Grundsätzlich spricht Roland Erb in der Übersetzung gegenwärtiges Deutsch und macht nur manchmal Ausnahmen davon. In einem Fall verwendet er das archaische Wort kreißen (gebären), zweimal bedient er sich gehobener Worte: willfährig (willig) und sich erzeigen (sich erweisen). Um den Rhythmus beizubehalten, verwendet er viermal eine Elision, indem er den Buchstaben -e- aus dem Wort tilgt (erhabnen, goldnen, Aug, seh). Darüber hinaus verstärkt er die Apostrophe Weisheit durch den Ausruf o, was folgende Form annimmt: Weisheit, o könnte man für gutes Geld dich kaufen! Bedeutendere Veränderungen im Vergleich zur Übersetzung von Spiridion Wukadinovic´ sind auf der Ebene der poetischen Bildsprache zu erkennen. Roland Erb greift in dieser Hinsicht oft ins Original ein. Die einfache Aussage, einen Menschen in einen Engel zu verwandeln, wird zu einer Vision des Kindbettes, denn sie wird mit der Phrase »einen Engel aus dem Menschen kreißen« wiedergegeben, die das archaische Verb kreißen beinhaltet, das in der Tat den Zustand der Wehen und Geburtsschmerzen bedeutet. Eine beunruhigende Verletzung von Jan Kochanowskis Imagination ist die Übersetzung der Idee, einerlei Gedanken sowohl im Glück als auch in der Trauer (»jednakiej mys´li tak w szcze˛s´ciu, jako i w z˙ałobie«) zu besitzen, was von Erb sowohl »in Widrigkeiten als auch in der Trauer« übersetzt wird. Das Bild wird so verzerrt, dass der Dichter das positive Element (Glück) dem negativen Element (Trauer) gegenüberstellt. Der Übersetzer hingegen wählt zwei negative Elemente: Widrigkeiten und Trauer. Überdies konkretisiert Roland Erb das Bild des Elenden, den – wie Kochanowski schreibt – die Weisheit mit ihrem unvermeidlichen Auge unter einem goldenen Dach erblickt. Im Translat erscheint ein noch detaillierteres und noch metaphorisierteres Bild: »Dein untrügliches Aug, es kann sogar entsiegeln // Schlotterndes Elendsdasein unter goldnen Ziegeln«. Ein weiteres Beispiel für eine andere poetische Darstellung betrifft die Weisheit, nach der der Dichter sein ganzes Leben lang strebte, und die er letzten Endes nicht erreicht hat. Jan Kochanowski greift dieses Thema klar auf und schreibt, dass er plötzlich von den letzten Stufen, das heißt von der höchsten Treppe, die zum Tempel der Weisheit führt, herun-

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tergeworfen wurde, und auf diese Weise wurde er einer von vielen. Obwohl der Übersetzer die Metapher der Stufen verwendet, stellt er fest, dass der Dichter von anderen Personen gerufen wurde, was offensichtlich die Perspektive verändert: »Jetzt stieß man mich hinunter von den erhabnen Stufen, // Ich seh gleich andern unter die vielen mich gerufen«. Die letzte Übersetzung der Threnodie IX stammt von Ursula Kiermeier (2000). Ihre Übersetzung weicht in formeller Hinsicht am weitesten vom Original ab. Die Übersetzerin selbst gab an, dass ihr besonders an der Sinn-, Gedanken- und Stiltreue und am wenigsten an der Form- und Worttreue lag.45 Obwohl der Text der Übersetzung durchgehend gereimt ist, bleibt das Versmaß nicht erhalten: Die einzelnen Verse zeigen eine unterschiedliche Silbenanzahl (von 11 bis 17). Ursula Kiermeiers Nachdichtung ähnelt sprachlich der Übersetzung von Roland Erb. Die Übersetzerin verwendet einmal die Elision (wollt’) und einmal ein veraltetes Wort: Tändelei (Nichtigkeit, Kleinigkeit). Im Allgemeinen ist das ganze Gedicht in zeitgenössischem, literarischem Deutsch verfasst. An einer Stelle taucht der Neologismus Sehnsuchtsgequengel (Kummer) auf. Ab und zu kommt gewählter Wortschatz zum Einsatz: »du hegst einerlei Sinn, kein Grauen zerschindet«. So wie Roland Erb erweitert sie poetische Bilder. Der Dichter schreibt zum Beispiel kurz über den Elenden, dessen Weisheit er mit seinem unausweichlichen Auge unter einem goldenen Dach findet, während bei Ursula Kiermeier ein Palast mit goldenem Dach erscheint, in dem die Weisheit mit ihrem sicheren Blick einen Menschen sieht, der durch das bittere Leben eilt: »Unterm goldenen Dach des Palastes findet Dein sicherer Blick einen, den bittere Armut bindet«. An einer anderen Stelle präzisiert sie das Bild, indem sie bei der Charakteristik der Weisheit den Ausdruck in der Not hinzufügt, der bei Jan Kochanowski nicht vorkommt: »Ty s´mierci najmniej sie˛ nie boisz, // bezpieczna, nieodmienna, niepoz˙yta stoisz. Du hast nicht die leiseste Angst vor dem Tod, // stehst sicher, stet, ungerührt in der Not«. Eine andere Art der Darstellung von Poesie zeigt sich am Schluss des Gedichts: Bei Jan Kochanowski wird das lyrische Subjekt, von den höchsten Stufen heruntergeworfen, zu einem von vielen grauen Menschen, bei Ursula Kiermeier wird das Subjekt nicht mehr berufen und erhält somit auch nicht eine Art Einladung in die Kategorie der Auserwählten. Erwähnenswert ist auch die interessante Verwendung der Metonymie: Statt des Edelmetalls Gold verwendet die Übersetzerin den Namen seiner Standardform Barren. Darüber hinaus wandelt sie visuelle Effekte in motorische um: Jan Kochanowski bezieht sich auf den Sehsinn: ujrzał progi twoje (er sah deine Schwelle), während die Übersetzerin die Bewegung bevorzugt: vor deiner Schwelle streben. 45 Kiermeier: Eine verspätete Rezeption (wie Anm. 32), S. 63.

Die Treny von Jan Kochanowski in deutscher und englischer Nachdichtung

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Abschließend ist es angebracht, die Meinung von Ursula Kiermeier selbst zu zitieren, die ihre Übersetzungsstrategie der Treny in einem wissenschaftlichen Aufsatz dargelegt hat. Sie erklärt, dass sie ihre Übersetzung in den Kontext der deutschen Literatur stellen wolle, damit diese nicht ihrer Wurzeln und intertextuellen Zusammenhänge beraubt werde.46 Ihrer Meinung nach verliert die Übersetzung fremdsprachiger Lyrik oft den literarischen Kontext, den die Ausgangsliteratur innehat. Die Übersetzerin geht davon aus, dass die Schaffung eines solchen Kontexts in der Nachdichtung vollständig legitim sei. Als Beispiel gibt sie ihren Äquivalentvorschlag für das polnische Wort fraszka an. In der Threnodie IX wurde eine bloße Kleinigkeit (Bagatelle) von Ursula Kiermeier als Tändelei übersetzt, die sich, wie sie erklärt,47 auf das Wort Tand bezieht, das der deutsche Schriftsteller Theodor Fontane, Vertreter des poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts, in seinem Gedicht Die Brücke am Tay in Verwendung nahm.

Resümee Fassen wir abschließend die Herangehensweise der Übersetzer/Innen der Threnodie IX ins Englische und Deutsche im Hinblick auf vier Bereiche zusammen: Form, Archaisierung, Stil und Veränderungen in der Bildgestaltung. Was die Form betrifft, so sind zwei Ansätze charakteristisch: das Bemühen, sie mehr oder weniger spiegelbildlich zu rekonstruieren, ausgehend von der Annahme, dass sie ein konstitutives Element des Originals ist, das in keiner Weise ausgelassen werden darf (Prall, Tandem Heaney und Baran´czak, Wukadinovic´, Erb), und die Lockerung der formalen Strenge, sodass die Form die Ausdrucksfreiheit nicht übermäßig behindert (Czerniawski, Kiermeier). Der Grad der Lockerung kann unterschiedlich sein: Bei Ursula Kiermeier gilt kein Versmaß, aber es gibt Reime, bei Adam Czerniawski sind weder ein klares Metrum noch Reime vorhanden. Die Ansätze zur Archaisierung reichen von einer starken Verwendung altertümlicher Sprache (Wukadinovic´) bis zu deren völliger Abwesenheit (Czerniawski, Tandem Heaney und Baran´czak). Zwischen diesen Extremen ist eine deutliche, aber oberflächliche Archaisierung (Prall) zu finden, die eher dem ersten Ansatz näherkommt, und eine gelegentliche Archaisierung (Erb, Kiermeier), die eher dem zweiten Ansatz näherkommt. Was den Stil anbelangt, so besteht einerseits die Tendenz, den literarischen Charakter des Originals zu bewahren, und andererseits, ihn zu vereinfachen, um 46 Ebd., S. 63. 47 Ebd., S. 64.

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eine maximale Direktheit des Ausdrucks zu erreichen. Im Hinblick auf die englischen Übersetzungen ist die erste Tendenz in der Übersetzung von Dorothea Prall sichtbar, die zweite in der Übersetzung von Adam Czerniawski (deutlicher) und des Tandems Seamus Heaney und Stanisław Baran´czak (weniger deutlich). Was die Übersetzungen ins Deutsche anbetrifft, so ist die Nachdichtung von Spiridion Wukadinovic´ am literarischsten, während die beiden anderen Übersetzungen ebenfalls literarischen Charakter haben, wenn auch in etwas geringerem Maße. Schließlich kommt die Frage der Veränderungen in der Bildgestaltung zum Vorschein. Und hier zeichnen sich zwei Strategien ab: die Vermeidung dieser Art von Aktivität und das Hinzufügen oder Umwandeln von Bildern. Dieses erstere Bestreben wurde in den Übersetzungen von Dorothea Prall, Adam Czerniawski und Spiridion Wukadinovic´ sichtbar. Das Tandem Seamus Heaney und Stanisław Baran´czak, Roland Erb und Ursula Kiermeier wiederum scheinen einer anderen Philosophie zu folgen, nach der dem Übersetzer eine gewisse Freiheit und das Recht auf legitime Kreativität in diesem Bereich zustehen.

Zu den Autorinnen und Autoren

Angela Bajorek, Dr. habil., Professorin der Pädagogischen Universität Krakau; seit 2017 stellvertretende Direktorin des Neuphilologischen Instituts und Leiterin der Abteilung Germanische Philologie der Pädagogischen Universität. Gutachterin des Ministeriums für Nationale Bildung Warschau für DaF-Lehrwerke. Forschungsinteressen: deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur; Didaktik der deutschen Sprache. Ausgewählte Publikationen: Heretyk z familoka. Biografia Janoscha, Kraków 2015; Wer fast nichts braucht, hat alles. Janosch. Die Biographie, Berlin 2016; Motywy autobiograficzne w twórczos´ci Janoscha, Kraków 2018; Kinder- und Jugendliteratur im DaF-Unterricht. Textvorschläge für den didaktischen Einsatz, Berlin 2019; Mitautorin des Lehrbuches Europäisches Sprachportfolio für Kinder im Alter von 6–10 Jahren, Warschau 2006; zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Marta Famula, Dr. phil., Studium der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Augsburg und Bologna (Italien). 2012 Promotion mit einer Arbeit zum Thema Fiktion und Erkenntnis. Dürrenmatts Ästhetik des ›ethischen Trotzdem‹. Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Stipendiatin an der OttoFriedrich-Universität Bamberg von 2007 bis 2015; seit Oktober 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Forschungsinteressen: Dramentheorie, Ästhetik um 1800, Erzählen im 19. Jahrhundert und Gegenwartsliteratur. Derzeit arbeitet sie an einem Habilitationsprojekt zum Phänomen der Unverfügbarkeit in literarischen Individualitätskonzepten um 1800. Ausgewählte Publikationen: Das Denken vom Ich. Die Idee des Individuums als Größe in Literatur, Philosophie und Theologie (hrsg. 2014), Vom Eigenwert der Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte (hrsg. mit Andrea Bartl, 2017), Unverfügbares Verinnerlichen. Figuren der Einverleibung zwischen Eucharistie und Anthropophagie (hrsg. mit Yvonne Al-Taie, 2020),

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Zu den Autorinnen und Autoren

Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 2020: Ästhetik und ästhetische Theorie im Vormärz (hrsg. mit Norbert O. Eke, 2021). ´ ski, Dr., Polonist und Anglist, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jan Gos´cin Institut für Anglistik der Pädagogischen Universität Krakau; staatlich vereidigter Übersetzer / Dolmetscher für Englisch und Polnisch; Gutachter des Staatlichen Prüfungsausschusses für vereidigte Übersetzer / Dolmetscher beim polnischen Justizministerium. Forschungsinteressen: Fachübersetzen und Fachdolmetschen in Theorie und Praxis, Übersetzungskritik, forensische Linguistik, Lapsologie. Ausgewählte Publikationen: Egzamin na tłumacza przysie˛głego. Angielskie orzeczenia w sprawach karnych, Warszawa 2019; Egzamin na tłumacza przysie˛głego. Tłumaczenie ustne. Je˛zyk angielski, Warszawa 2020 (Mitautor: Marek Kuz´niak). Joanna Gospodarczyk, Absolventin der Germanistik und Linguistik an der Pädagogischen Hochschule und Jagiellonen-Universität Krakau. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Neuphilologischen Institut – Abteilung Germanische Philologie der Pädagogischen Universität Krakau. Forschungsinteressen: zeitgenössisches Drama in Deutschland, insbesondere die Rezeption von britischen Autoren im deutschen Theater; Fragen der Ästhetik in literarischen Texten. Publikationen: Die Rolle des Chores in zeitgenössischen Inszenierungen der ausgewählten Tragödien Aischylos, in: Zur Funktion und Bedeutung des Chors im zeitgenössischen Drama und Theater, hrsg. mit Paul Martin Langner, Berlin 2019. Karina Kellermann, apl. Professorin der Rheinischen Friedrichs-WilhelmsUniversität Bonn, Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft. Leiterin des Teilprojekts »Publizistische Zeitklagen: Invertierte Herrschaftsansprüche in deutschsprachigen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit« im SFB 1167. Ausgewählte Publikationen: Abschied vom »historischen Volkslied«. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung, Tübingen 2000; Das Mittelalter. Bd. 8, Heft 1 (2003): Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung (hrsg.); Das Mittelalter. Bd. 9, Heft 1 (2004): Medialität im Mittelalter (Hrsg.); Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. 13 Bde, Berlin 2008–2013 (hrsg. mit Wilhelm Kühlmann u. a.); Criticising the Ruler in Pre-Modern Societies – Possibilities, Chances, and Methods. Kritik am Herrscher in vormodernen Gesellschaften – Möglichkeiten, Chancen, Methoden, Göttingen 2019 (hrsg. mit Alheydis Plassmann, Christian Schwermann); Textualität von Macht und Herrschaft. Literari-

Zu den Autorinnen und Autoren

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sche Verfahren im Horizont transkultureller Forschungen, Göttingen 2020 (hrsg. mit Mechthild Albert, Ulrike Becker, Elke Brüggen). ´ ska, Prof. Dr. habil., ordentliche Professorin der JagiellonenMaria Kłan Universität Krakau. Seit 1973 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Institutes für Germanische Philologie, 1978 Promotion, 1985 Habilitation. 1986/87 und 1991 Humboldt-Stipendiatin; 1993 Ernennung zur außerordentlichen Professorin, seit 1994 Leiterin der Abteilung Deutsche Literatur, 2001 Ernennung zur ordentlichen Professorin. 2001 Verleihung des Herder-Preises. Forschungsinteressen: Österreichische Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts; deutschsprachige Literatur in Galizien und der Bukowina; Ostjudentum; Nachleben der Antike und der Bibel. Ausgewählte Publikationen: Mit Odyseusza w literaturze niemieckoje˛zycznej XX wieku, Kraków 1982; Problemfeld Galizien in deutschsprachiger Prosa 1846–1914, Kraków 1985, 2. veränd. Aufl. Wien – Köln – Weimar 1991; Daleko od Wiednia. Galicja w oczach pisarzy niemieckoje˛zycznych 1772–1918, Kraków 1991; Aus dem Schtetl in die Welt 1772 bis 1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache, Wien – Köln – Weimar 1994; Jüdisches Städtebild Krakau, Hrsg., Frankfurt am Main 1994; Die deutschsprachige Literatur Galiziens und der Bukowina von 1772 bis 1945, in: Galizien, Bukowina, Moldau (Deutsche Geschichte im Osten Europas), hrsg. von Isabel RöskauRydel, Berlin 1999, S. 379–482; Der Heiligen Schrift auf der Spur. Beiträge zur biblischen Intertextualität in der Literatur, hrsg. gemeinsam mit Jadwiga KitaHuber und Paweł Zarychta (Beihefte zum Orbis Linguarum, Nr. 83), Dresden 2009; »Cóz˙ za ksie˛ga!« Biblia w literaturze niemieckoje˛zycznej od Os´wiecenia po współczesnos´c´, hrsg. gemeinsam mit Jadwiga Kita-Huber und Paweł Zarychta, Kraków 2010; Mie˛dzy pamie˛cia˛ a wyobraz´nia˛. Uniwersum poezji Rose Ausländer, Wrocław 2015. Außerdem weitere Buchredaktionen und ca. 160 Aufsätze. Artur Dariusz Kubacki, Dr. habil., Professor am Neuphilologischen Institut, Abteilung Germanische Philologie der Pädagogischen Universität Krakau; seit 2014 Leiter des Lehrstuhls für Deutsche Sprachwissenschaft; staatlich vereidigter Übersetzer / Dolmetscher für Deutsch und Polnisch; Experte des polnischen Ministeriums für Nationale Bildung für den Berufsaufstieg von Fremdsprachenlehrern/Innen und für die Begutachtung von Lehrwerken für den DaF-Unterricht; Mitglied der Disziplinarkommission sowie des Staatlichen Prüfungsausschusses für vereidigte Übersetzer / Dolmetscher beim polnischen Justizministerium. (Mit-)Autor bzw. (Mit-)Herausgeber von 20 Büchern und mehr als 120 Aufsätzen und Rezensionen im Bereich Fachübersetzen / Fachdolmetschen und seine Didaktik unter besonderer Berücksichtigung der Übersetzung von Terminologie auf dem Gebiet Recht und Wirtschaft. Forschungsinteressen: Translo- und Glottodidaktik, forensische Linguistik,

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Zu den Autorinnen und Autoren

Lapsologie. Ausgewählte Publikationen: Tłumaczenie pos´wiadczone. Status, kształcenie, warsztat i odpowiedzialnos´c´ tłumacza przysie˛głego, Warszawa 2012; Auswahl österreichischer Dokumente für Kandidaten zum beeideten Übersetzer / Dolmetscher, Chrzanów 2015; in Zusammenarbeit mit Karsten Dahlmanns: Wie fertigt man beglaubigte Übersetzungen von Urkunden an? Chrzanów 2014 und mit Renata Czaplikowska: Grundlagen der Fremdsprachendidaktik. Unterrichtsbuch, Kraków 2010; Methodik des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache. Ein Lehr- und Übungsbuch für künftige Deutschlehrende, Chrzanów 2016 sowie Kleines Fachlexikon der DaF-Didaktik. Theorie und Unterrichtspraxis, Chrzanów – Kraków 2019. Wojciech Kunicki, ordentlicher Professor für Germanistik an der Universität Wrocław (dt. Breslau), Leiter des Lehrstuhls für Deutsche Literaturgeschichte bis 1848. Forschungsinteressen: Das Werk Ernst Jüngers und die konservative Revolution in Deutschland, Kultur und Literatur in Schlesien, Goethe. Ausgewählte Publikationen: »…auf dem Weg in dieses Reich«. NS-Kulturpolitik und Literatur in Schlesien 1933 bis 1945, Leipzig 2006; Hans Lipinsky-Gottersdorf, Leben und Werk, Wrocław 2006; Mit-Hrsg. und Mitautor: Germanistik in Polen. Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik – 18 Porträts (Studia Brandtiana, Bd. 3), hrsg. von Wojciech Kunicki und Marek Zybura, Osnabrück 2011; Germanistik in der Volksrepublik Polen und der kommunistische Sicherheitsdienst: vorläufige Erkundungen, in: Marek Hałub (Hrsg.), Identitäten und kulturelles Gedächtnis (Sprache, Literatur, Kultur im germanistischen Gefüge, Bd. 4), Wrocław – Dresden 2013, S. 47–75; Germanistische Forschung und Lehre an der königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918, Leipzig 2019; Johann Wolfgang von Goethe. Lata nauki Wilhelma Meistra. Übersetzung von Wojciech Kunicki und Ewa Szymani. Kommentar von Wojciech Kunicki, Warszawa 2020. Piotr Majcher, Dr., Germanist, Rechtsberater, Psychologe. Forschungsinteressen: Kultur der deutschsprachigen Länder, polnische und österreichische Literatur, österreichisch-polnische und deutsch-polnische Beziehungen, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen polnischen und österreichischen Rechtssystemen. Ausgewählte Publikationen: Peter Handke – Befürworter der Serben?, in: Małgorzata Sikora-Graca / Zbigniew Danielewicz / Marek Górka (Hrsg.): Symbolae Europaeae. Studia Humanistyczne Politechniki Koszalin´skiej, Nr. 12 (2017), H. 2, Koszalin 2017, S. 167–177; Wielowymiarowos´c´ grozy w noweli »Jez´dziec na siwym koniu« Theodora Storma, in: Ksenia Olkusz / Barbara Szymczak-Maciejczyk (Hrsg.): Groza i postgroza. Perspektywy ponowoczesnos´ci, Bd. VII, Kraków 2018, S. 289–298; Interkulturelle Wahrnehmungen in der Erzählung »Der kurze Brief zum langen Abschied« von

Zu den Autorinnen und Autoren

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Peter Handke, in: Bianca Benísˇková / Pavel Knápek (Hrsg): Interkulturalität in Sprache, Literatur und Bildung, Bd. 3, Pardubice 2018, S. 169–179; »Die Tablas von Daimiel« – Peter Handke als Zeuge der Kriege auf dem Balkan, in: Lech Kolago (Hrsg.): Studia Niemcoznawcze, Bd. 62, Warszawa 2018, S. 315–324. Barbara Marmol-Cop, Judaistin und Germanistin. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Kultur und Geschichte der deutschsprachigen Länder der Pädagogischen Universität Krakau. Forschungsinteressen: Geschichte und Kultur der Jüdinnen und Juden in Galizien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Geschichte der Jüdinnen in Palästina bis 1939 sowie Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Isabel Röskau-Rydel, Dr. habil., Professorin am Neuphilologischen Institut – Abteilung Germanische Philologie der Pädagogischen Universität Krakau; seit 2014 Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Länder. Von 2013 bis 2017 stellvertretende Direktorin des Neuphilologischen Instituts. Lehraufträge am Institut für Geschichte und Archivistik. Seit Oktober 2019 stellvertretende Vorsitzende des Rates für die Disziplin Geschichte. Forschungsinteressen: Deutsch-polnische und polnisch-österreichische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert; Erinnerungskultur; Kulturgeschichte der Deutschen in Galizien und im Gebiet des ehemaligen Galizien 1772 bis 1945. Ausgewählte Publikationen: Kultur an der Peripherie des Habsburger Reiches. Die Geschichte des Bildungswesens und der kulturellen Einrichtungen in Lemberg von 1772 bis 1848, Wiesbaden 1993; Galizien – Bukowina – Moldau (Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1999; Niemiecko-austriackie rodziny urze˛dnicze w Galicji 1772–1918. Kariery zawodowe – s´rodowisko – akulturacja i asymilacja, Kraków 2011; Zwischen Akkulturation und Assimilation. Karrieren und Lebenswelten deutsch-österreichischer Beamtenfamilien in Galizien (1772–1918), München 2015; Matthias Barelkowski / Claudia Kraft / Isabel Röskau-Rydel (Hrsg.): Zwischen Geschlecht und Nation. Interdependenzen und Interaktionen in der multiethnischen Gesellschaft Polens im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2016. Andrea Rudolph, Prof. Dr. habil., Promotion zum Modernitätsproblem in ausgewählten Erzählungen Thomas Manns (an der Universität Leipzig), Habilitation mit einer Untersuchung zur Dramatik Friedrich Hebbels (Universität Opole), wissenschaftliche Leitung der Burg Penzlin, Fachmuseum für Alltagsmagie und Hexenverfolgungen in Mecklenburg, und des Johann-Heinrich-VoßLiteraturhauses in Penzlin; Vorstands- bzw. Beiratsmitglied in der JohannHeinrich-Voß-Gesellschaft und in der Friedrich-Hebbel-Gesellschaft. Publikationen zum literarischen und druckgraphischen Werk Ernst Barlachs, zur

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Zu den Autorinnen und Autoren

Kunstperiode in der Literatur Pommerns, zu Modernitätsverhandlungen in schlesischen Novellen sowie Aufsätze und Studien zu Thomas Mann, Heinrich von Kleist, Hans Fallada, zur Lyrik der Befreiungskriege, Max Geissler, Christa Wolf und weiteren Autoren. Manfred Schlüter lebt in Hillgroven, einem Dorf an der Nordsee. Dort schreibt er Gedichte und Geschichten. Oder er malt Bilder für Bücher. Und wenn die Flut es gut mit ihm meint, schwemmt sie Holz und andere Schätze an den Deich. Daraus baut er Objekte. 1983 Friedrich-Hebbel-Preis. 2008 FriedrichBödecker-Preis. 2017 Kulturpreis des Kreises Dithmarschen. Auszeichnungen der Stiftung Buchkunst sowie der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach. Maike Schmidt, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Erstes Staatsexamen (Deutsch/Geschichte) 2006, Promotion 2010 mit einer Arbeit über den Grönland-Diskurs im 18. Jahrhundert. Forschungsinteressen: Literatur des 21. Jahrhunderts, Kulturkontaktforschung, Friedrich Hebbel. Ausgewählte Publikationen: Grönland – Wo Nacht und Kälte wohnt. Eine imagologische Analyse des Grönland-Diskurses im 18. Jahrhundert, Göttingen 2011; Norden und Nördlichkeit. Darstellungen vom Eigenen und Fremden, hrsg. mit Dennis Hormuth, Frankfurt/Main 2010; Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik, Kiel 2013; »Trotz der Unvereinbarkeit von Häppchen und Tragödie!« Neurealistisches Erzählen in Sasˇa Stanisˇic´s Fallensteller, in: Erzählen von Zeitgenossenschaft. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, hrsg. v. Petra und Edgar Platen, Linda Karlsson Hammarfelt, München 2018, S. 116–127; »Aus dem Fremdsein allein entsteht kein guter Text«. Ästhetische Verfahren der aktuellen Migrationsliteratur, in: Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Narrative Verfahren und Traditionen in erzählender Literatur ab 2010, hrsg. v. Simon Hansen, Jill Thielsen. Frankfurt am Main 2018, S. 133–155; Über Abgründe hinwegerzählen. Versepische Gattungskonventionen und -innovationen am Beispiel von Christoph Ransmayrs Der fliegende Berg, in: Forcierte Form Deutschsprachige Versepik des 20. und 21. Jahrhunderts im europäischen Kontext, hrsg. v. Kai Bremer, Stefan Elit. Stuttgart – Weimar 2020, S. 241–260. Hans-Christian Stillmark, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Künste und Medien an der Universität Potsdam. 1982 Promotion zu Heiner Müllers poetologischen Schriften. Forschungsschwerpunkte: deutsche Dramatik, DDR-Literatur, Theorie der Literatur, Poetiken einzelner Autoren (Kleist, Kafka, Brecht, Weiss, Müller, Braun, Hein, Fühmann, Förster, Hilbig).

Zu den Autorinnen und Autoren

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Publikationen (Auswahl): »Worüber man (noch) nicht reden kann, davon kann die Kunst ein Lied singen«. Texte und Lektüren. Hrsg. mit Brigitte Krüger, Frankfurt am Main 2001; Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Band 52: Rückblicke auf die Literatur der DDR. (Hrsg.) Amsterdam – New York 2002; Lesarten. Beiträge zur Kunst-, Literatur- und Sprachkritik. Hrsg. mit Brigitte Krüger und Helmut Peitsch. Berlin 2007; Ein Riss geht durch den Autor. Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss, hrsg. mit Margrid Bircken und Dieter Mersch, Bielefeld 2009; Das Argument 295: Zukunft aus der Vergangenheit? Zum künstlerischen und kulturellen Erbe der DDR, hrsg. mit Peter Jehle (Koordination), Wolfram Adolphi, Thomas Pappritz, Klaus Schulte und Ilse Schütte, Karlsruhe 2011; Mythos und Kulturtransfer. Neue Figurationen in Literatur, Kunst und modernen Medien, hrsg. mit Brigitte Krüger, Bielefeld 2013; Inseln der Hoffnung – Literarische Utopien in der Gegenwart, hrsg. mit Sarah Pützer, Berlin 2018; Peter Weiss erinnernd – Ansichten und Einsichten, (Hrsg.), Berlin 2020. Graz˙yna Barbara Szewczyk, Prof. Dr. habil., Germanistin, Skandinavistin und Polonistin, Literaturwissenschaftlerin, Studium der Germanistik an der Jagiellonen-Universität Krakau. Professorin für neuere deutsche und skandinavische Literatur am Germanistischen Institut der Schlesischen Universität Katowice, seit Oktober 2019 an der Universität Warschau (Centre for Foreign Language Teacher Training and European Education). Forschungsinteressen: vergleichende Literaturwissenschaft, deutsche Literatur in Schlesien, deutsch-polnische kulturelle Beziehungen, Frauenliteratur, das deutsche und skandinavische Drama, literarische Übersetzung. Ausgewählte Publikationen: August Strindberg und die deutschen Expressionisten, Monographien über Selma Lagerlöf und die schlesische Autorin Valeska Gräfin Bethusy Huc; Herausgeberin von mehreren Sammelbänden über die deutsche Literatur in Schlesien (z. B. über Joseph von Eichendorff, August Scholtis, Horst Bienek), Autorin von Aufsätzen und Studien über die deutsche Frauenliteratur, das deutsche Drama von Gerhart und Carl Hauptmann und die literarische Übersetzung. Tomasz Szybisty, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Neuphilologischen Institut, Abteilung Germanische Philologie der Pädagogischen Universität Krakau. Studium der Kunstgeschichte (1999–2004) und der Germanistik (2000– 2005) an der Jagiellonen-Universität Krakau; Promotion über kirchliche Glasmalereien aus dem 19. Jahrhundert in Krakau (2010). Seit 2015 Co-Leiter des internationalen Forschungsprojektes »Literatur – Kontexte«. Mitglied des Corpus Vitrearum, des Verbandes Polnischer Kunsthistoriker und des Verbandes Polnischer Germanisten. Forschungsinteressen: Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts, Glasmalerei des 19. Jahrhunderts. Ausgewählte Publika-

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Zu den Autorinnen und Autoren

tionen: Sztuka sakralna Krakowa w wieku XIX, Teil IV: Malarstwo witraz˙owe (Ars vetus et nova, red. Wojciech Bałus, Bd. 35), Kraków 2012; Diecezja kielecka, Kraków 2017 (Korpus witraz˙y z lat 1800–1945 w kos´ciołach rzymskokatolickich metropolii krakowskiej i przemyskiej, hrsg. von Wojciech Bałus und Tomasz Szybisty, Bd. 5); Joanna Godlewicz-Adamiec / Tomasz Szybisty (Hrsg.), Literatura – Konteksty / Literatur – Kontexte, Bde. I–V, Kraków – Warszawa 2017– 2020. Hargen Thomsen, Dr. phil., freier Publizist. Studium in Göttingen und Marburg. Dissertation 1990: Grenzen des Individuums. Die Ich-Problematik im Werk Friedrich Hebbels, München 1992. Seitdem mit dem Werk Friedrich Hebbels auf vielfältige Weise beschäftigt. Neben vielen Aufsätzen, Vorträgen und Rezensionen um Hebbel (und benachbarte Gebiete) auch die Organisation von Symposien und Veranstaltungen. Seit 2003 Sekretär der Hebbel-Gesellschaft e. V. und seit 2004 Mitherausgeber des Hebbel-Jahrbuchs. Ausgewählte Publikationen: Mitherausgeber von Friedrich Hebbel. Briefwechsel 1829–1863. Historisch-kritische Ausgabe in fünf Bänden, München 1999; Allein-Hrsg. von Bd. 4: Briefe 1860–1863; Mitarbeit an Friedrich Hebbel. Tagebücher. Neue historisch-kritische Ausgabe, 2 Bde., Berlin – Boston 2017; Herausgeber von Amalia Schoppe: »…das wunderbarste Wesen, so ich je sah«. Eine Schriftstellerin des Biedermeier (1791– 1858) in Briefen und Schriften, Bielefeld 2008; Klaus Groths Quickborn. Eine unglaubliche Buch-Karriere, Heide 2019.