Ethos und Pathos: Mediale Wirkungsästhetik im 20. Jahrhundert in Ost und West 9783412218850, 9783412224318

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Ethos und Pathos: Mediale Wirkungsästhetik im 20. Jahrhundert in Ost und West
 9783412218850, 9783412224318

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osteuropa medial  

BAND 7

Herausgegeben von Natascha Drubek, Jurij Murašov und Georg Witte

Riccardo Nicolosi, Tanja Zimmermann (Hg.)

Ethos und Pathos Mediale Wirkungsästhetik im 20. Jahrhundert in Ost und West

2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Ruhr-Universität Bochum.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Denkmal »Das Hinterland hilft der Front«, Magnitogorsk, 1979. Foto: Prof. Dr. Manfred Hettling

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Satz: Alexander Weber, Konstanz Druck und Bindung: General Druckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22431-8

Vorwort zum Dank Die Beiträge dieses Bandes gehen mehrheitlich auf eine Konferenz zurück, die unter dem Titel Ethos und Pathos der Medien. Wirkungsästhetische Strategien zwischen Rhetorik und Politik im 20. Jahrhundert im Oktober 2012 an der Universität Konstanz stattfand. Unser Dank gebührt zunächst allen Autorinnen und Autoren, die mit großem Engagement an unserem Vorhaben teilgenommen und geduldig auf das Erscheinen des Bandes gewartet haben. Dem Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, dem Auslandsreferat, der Universitätsgesellschaft sowie dem Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz sind wir für die großzügige Förderung der Tagung zu großem Dank verpflichtet. Die Publikation dieses Buches wurde freundlicherweise durch die Ruhr-Universität Bochum unterstützt. Für die wertvolle Hilfe bei der Arbeit am Band möchten wir Michael Dobbins, Jeanette Fabian, Julia Timm, Alexander Weber, Nora Scholz, Anja Burghardt sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Böhlau-Verlags ganz besonders danken. München und Leipzig, im August 2016 Riccardo Nicolosi und Tanja Zimmermann

Inhalt RICCARDO NICOLOSI und TANJA ZIMMERMANN Einleitung ........................................................................................................ 1 GEORG WITTE Kritik und Faszination des Pathos. Überlegungen zu Lev Tolstoj ................ 33 TOMÁŠ GLANC Slavische Bewegungsbilder. Die tschechische Sokol-Bewegung und ihre mediale Wirkungsästhetik ............................................................... 59 BERND STIEGLER Physiologischer Materialismus. Raoul Hausmann und Russland ................. 75 IGOR’ P. SMIRNOV Über Jurij Olešas Neid .................................................................................. 89 DMITRI ZAKHARINE Das Ethos und Pathos der E-Stimme. Sowjetische Hörgemeinschaft zu Beginn der elektrischen Sound-Reproduktion.......................................... 97 ISABELL OTTO Der sanfte Zwang der Persuasion. Zum CBS War Bond Day, 1943 ........... 129 EVGENY DOBRENKO The Art of Hatred. The ‘Noble Wrath’ and Violence in Soviet Wartime Culture .......................................................................................... 143 MARK LIPOVETSKY The Pathos of Soviet Thanatology. A Case of Alexander Fadeev’s The Young Guard ........................................................................................ 167 SUSI K. FRANK Pathosformel ‚tote Mutter‘ .......................................................................... 183 NATASCHA DRUBEK Ėjzenštejns Pathos. Verweltlichtes Wunder und ekstatische Dialektik....... 203 BEATE OCHSNER Pathos und Ekstase. Zum filmischen Werk Werner Herzogs...................... 223

RENATE LACHMANN Affekttherapie durch die Form? Zu Texten von Karl Steiner/Karlo Štajner und Danilo Kiš ................................................................................ 241 SABINE HÄNSGEN Minus-Pathos. Das mediale Gedächtnis der Leningrader Blockade in Aleksandr Sokurovs Wir lesen das Blockadebuch .................................. 269 GUDRUN HEIDEMANN Between Ethos and Pathos. Missing and Lasting Exposures in Marcel Beyer’s Spione (Spies) and Paweł Huelle’s Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala (Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal) ................. 289 STEPHEN LOVELL The Magnitofon and the Rhetoric of Soviet Broadcasting .......................... 307 KONSTANTIN KAMINSKIJ Wissenschaftspathos und Wissenschaftsethos im sowjetischen Science-Faction-Film .................................................................................. 329 HEIKO HAUSENDORF Spur der Steine und Spur der Wahrheit. Ethos und Pathos in der filmischen Inszenierung von Achtungskommunikation .............................. 353 SCHAMMA SCHAHADAT Vom historischen Pathos zum politischen Ethos. Kazimierz Dejmeks Inszenierung der Dziady (Ahnenfeier) 1967 und die polnische Generation ’68 ............................................................................ 371 DAVOR BEGANOVIĆ Pathetische Ethik des Körpers. Marina Abramovićs Lips of Thomas ......... 397 SVEN SPIEKER Unoriginal Pedagogies. Didactic Art as Edification and Repetition (Robert Morris, Walter Benjamin) .............................................................. 413 HEIKE WINKEL Spiritualität, neues Leben, Vaterland! Existenzielles Pathos bei Sergej Minaev, Natan Dubovickij und Zachar Prilepin ......................................... 425

RICCARDO NICOLOSI und TANJA ZIMMERMANN

Einleitung In ihrem zweiten Buch über die Fotografie, Regarding the Pain of Others (2003), greift Susan Sontag immer wieder polemisch den Themenkreis von Ethos und Pathos in fotografischen Aufnahmen des Leidens auf. Den ethischen Auftrag, den die Bilder des Grauens erfüllen sollten – nämlich eine moralische Haltung gegenüber den Ereignissen oder sogar die aktive Bekämpfung der Missstände hervorzurufen –, sieht sie aus zwei Gründen gefährdet. Zum einen beobachtet sie, dass auch erschütternde Bilder, die öfters gezeigt werden, den Betrachter nicht mehr zu bewegen vermögen. Die Rezipienten gewöhnen sich derart an die Gegenwart der schrecklichsten Fotos, dass sie ein Teil ihres Alltags werden: „Das Bild als Schock und das Bild als Klischee sind zwei Seiten des gleichen Phänomens.“1 Die Frage, ob „der Schock ein Verfallsdatum hat“, bejaht sie: „An Schocks kann man sich gewöhnen. Ihre Wirkung kann sich abnützen.“2 Die Fähigkeit, Mitleid zu erregen, schlägt angesichts der Wiederholung in Gewohnheit um, oder aber die Gräueltaten werden beinahe als ‚Brauch‘ eines weniger zivilisierten, peripheren Teils der Welt wie Afrika, des Nahen Ostens oder des Balkans angesehen. Zum andern richtet sich Sontags Skepsis gegen die ästhetisierende Darstellung der Gräueltaten, die die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die formale sowie mediale Beschaffenheit des Bildes lenkt. Mit den Mitteln der Inszenierung werden nämlich die Gefahren der Manipulation auf den Plan gerufen. Denn bei Gräuelfotos wollen die Leute das Gewicht der Zeugenschaft ohne jede Beimischung von Kunst, die sie mit Unaufrichtigkeit oder Erfundenem gleichsetzen. Bilder von grauenhaften Ereignissen wirken authentischer, wenn ihnen das gute Aussehen abgeht, das sich aus „richtiger“ Beleuchtung und „richtigem“ Bildaufbau ergibt. […] Weil sie künstlich nicht hoch hinauswollen, wirken diese Bilder weniger manipulativ, weniger darauf angelegt, billiges Mitgefühl und vorschnelle Identifikation zu erzeugen – ein Verdacht, dem heute alle weitverbreiteten Bilder, die Leiden zeigen, ausgesetzt sind.3

Der Betrachter kann dabei, wie Sontag ausführt, in eine gefährliche „Komplizenschaft“ geraten, indem er sich dem voyeuristischen, lasziven Genuss der Bilder des Leidens hingibt.4 Der Fotograf auf der Suche nach dem sensationellen Bild kann sogar zu Untaten angestiftet und zum Mittäter werden: 1

Sontag, S.: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt a.M. 2005, 30. Ebd., 95. 3 Ebd., 34. 4 Ebd., 74. 2

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Riccardo Nicolosi und Tanja Zimmermann Kunst tut ebendies: sie formt um – aber Fotografie, die von Katastrophen und anderen Übeln Bericht erstattet, wird oft kritisiert, wenn sie „ästhetisch“, das heißt, zu sehr wie Kunst wirkt. Das Doppelpotential der Fotografie – dass sie imstande ist, Dokumente hervorzubringen und Bildkunstwerke zu schaffen – hat Anlass zu einigen erstaunlichen Übertreibungen hinsichtlich dessen gegeben, was Fotografien tun oder lassen sollen. Die Übertreibung, die uns in letzter Zeit am häufigsten begegnet, besteht darin, die beiden Potentiale der Fotografie als gegensätzliche Kräfte zu betrachten. Fotografien, die Leiden darstellen, sollen nicht schön sein, so wie Bildlegenden nicht moralisieren sollen. Ein schönes Foto entzieht nach dieser Auffassung dem bedrückenden Bildgegenstand Aufmerksamkeit und lenkt sie auf das Medium selbst, wodurch der dokumentarische Wert des Bildes beeinträchtigt wird. Von einem solchen Foto gehen unterschiedliche Signale aus. Es fordert: Schluss damit. Aber es ruft auch: Was für ein Anblick!5

Diese entschlossene Zurückweisung des Ästhetischen in der Kriegs- und Sozialfotografie, wofür exemplarisch die Fotos Sebastião Salgados und James Nachtweys stehen, revidiert Sontag jedoch teilweise. Sie gesteht den Fotos zu, dass sie das „Spektakuläre“, „ein wesentliches Element der religiösen Erzählung“, enthalten und dadurch am Ethischen partizipieren.6 Das Problem der Gräuelfotos als Quelle eines dunklen Genießens ist also mit einer pauschalen Kritik an Ästhetik und Inszenierung keinesfalls erschöpft. Sontag greift es noch einmal auf, wenn sie die Transformation dokumentarischer Fotos in universelle Bilder anspricht, die nicht mehr an einen konkreten Ort und ein bestimmtes historisches Ereignis gebunden sind, sondern ungebunden an aktuelle Berichte und entlokalisiert in der Öffentlichkeit kreisen. Anstatt das wiederholte Zeigen des Leidens pauschal zu verurteilen, führt Sontag ein positives Beispiel an – die christliche Kunst, die das Mitgefühl der Zuschauer nicht nur trotz der, sondern gerade durch die Wiederholung immer wieder von Neuem wachruft: „Im Gegenteil: sie weinen nicht zuletzt deshalb, weil sie es schon so oft gesehen haben. Die Menschen wollen weinen. Pathos, in Gestalt einer Geschichte (narrative), nutzt sich nicht ab.“7 Die Überführung des Leidens in eine Leidens-Geschichte, in eine sukzessive bzw. sequenzielle Erzählform, dient wie in mythisch-religiösen Narrativen einem rituellen, gebändigten Mitleiden. Das im Foto stillgestellte Objekt der grausamen Kontemplation wird von seiner Gefangenschaft in der Aufnahme, dem passivischen Erleiden, befreit und in ein dynamisches, aktives Leiden – wie beim Gang von der einen zur nächsten Station der Passion Christi – überführt. Ethos und Pathos treten in Sontags Schrift immer wieder in ein Spannungsverhältnis zueinander. Einerseits verleitet das Betrachten pathetischer Bilder zur Anteilnahme, welche jedoch durch die Wiederholung habitualisiert 5

Ebd., 89f. Ebd., 93. 7 Ebd., 96f. 6

Einleitung

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wird und in Distanz oder Indifferenz umschlagen kann. Andererseits können erschütternde Bilder Leidenschaft, voyeuristisches oder sogar pornographisches Vergnügen auslösen. Hinter dem Janusgesicht von Ethos und Pathos verbirgt sich das breite semantische Umfeld beider Begriffe, die seit der Antike in immer wieder neuen Konstellationen und Legierungen auftreten. Diesem dynamischen Wechsel- und Spannungsverhältnis von Ethos und Pathos widmet sich der vorliegende Band: Im Zentrum der hier versammelten Beiträge stehen Figurationen von Ethos und Pathos in den Medien des 20. Jahrhunderts, von der Literatur über die bildende und die Körperkunst bis hin zu Radio und Film. Als komplementäre Kategorien der antiken Affektenlehre, die auf eine lange rhetorische und bildliche Tradition zurückblicken, haben Ethos und Pathos – so die Hauptthese des Bandes – einen zentralen Anteil an der Formierung unterschiedlicher Wirkungsästhetiken in den modernen Medien. In ihrem Zusammenwirken, aber auch im Konflikt miteinander, prägen Ethos und Pathos durch unterschiedliche mediale Konfigurationen und ästhetische Programme politische Ziele und Ideologien.8 Der Blick für den wirkungsästhetischen Zusammenhang von Ethos und Pathos, der die untersuchten medialen Figurationen gleichzeitig am Rhetorischen, Ästhetischen und Politischen teilhaben lässt, erlaubt es außerdem, die in der Forschung übliche Separierung von Ethos und Pathos zu überwinden.9 Anstatt von einer definitiven Abkopplung der beiden Begriffe voneinander auszugehen, die im Zuge des Ausschlusses der traditionellen Affektrhetorik aus dem Bereich des Ästhetischen im ausgehenden 18. Jahrhundert verortet wird,10 postuliert der Band sowohl eine Kontinuität ihrer dynamischen Legierung, die in den rhetorischen Wurzeln dieser affektischen Überzeugungsmittel begründet liegt, als auch eine Potenzierung ihrer persuasiven Dimension durch die Verbindung mit den spezifischen Darstellungsmitteln 8

Die Komplementarität von Ethos und Pathos als mediale Kategorien hat die Forschung bislang kaum beleuchtet. Die Aufmerksamkeit galt lediglich einzelnen Bereichen, etwa der Medienethik: vgl. u.a. Schicha, Ch./Brosda, C. (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden 2010; Funiok, R.: Medienethik. Verantwortung in der Mediengesellschaft. Stuttgart 2007; Wiegerling, K.: Medienethik. Stuttgart/Weimar 1998; oder auch den Pathosfiguren in Massenmedien und Populärkultur: vgl. u.a. Treusch-Dieter, G. (Hrsg.): Pathos. Verdacht und Versprechen. Ästhetik & Kommunikation 124 (2004); Schmitt, Ch.: Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm. Berlin 2009. 9 Vgl. beispielsweise jüngste Studien zum Pathos, in denen das Ethos eine eher marginale Rolle spielt: Dachselt, R.: Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poetik. Heidelberg 2003; Busch, K./Därmann, I. (Hrsg.): „pathos“. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Begriffs. Bielefeld 2007; Zumbusch, C. (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010. 10 Vgl. z.B. Menke, Ch.: Der ästhetische Blick: Affekt und Gewalt, Lust und Katharsis. In: Koch, G. (Hrsg.): Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion. Frankfurt a.M. 1993, 9-38.

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Riccardo Nicolosi und Tanja Zimmermann

der neuen Medien im 20. Jahrhundert.11 Beispiele dafür lassen sich nicht zuletzt in den totalitären Kulturen Osteuropas finden, die den kulturhistorischen Schwerpunkt des Bandes bilden und spannungsreiche Neukopplungen des in einem weiten Sinne ethisch geprägten Politischen mit den Darstellungsmitteln des Pathos aufzeigen.12

1. Zur rhetorischen Tradition Der in vielen Beiträgen dieses Bandes vertretene rhetorische Blick auf Ethos und Pathos in den Medien des 20. Jahrhunderts fördert Konstellationen des Persuasiven zutage, deren Ursprung in der antiken Affektrhetorik liegt.13 In der rhetorischen Tradition figurieren Ethos und Pathos von Anfang an als komplementäre Größen:14 In der Rhetorik des Aristoteles stellen ḗthos und páthos zusammen mit lógos die drei „entechnischen“ Überzeugungsmittel dar, die durch die rhetorische Kunst hervorgebracht und den „atechnischen“ Modi wie z.B. Zeugenaussagen entgegengestellt werden. Während lógos die sachbezogene Beweisführung durch Argumente (Enthymem- und Beispielargumentationen) bezeichnet, sind ḗthos und páthos affektrhetorische und publikumsorientierte Überzeugungsmittel.15 Mit ḗthos bezeichnet Aristoteles den Charakter des Redners, von dem die Glaubwürdigkeit der vorgetragenen Argumente teilweise abhängt; mit páthos meint er das auf Affekterregung der Zuhörer gerichtete Argumentieren, wobei er ein Grundinventar rhetorisch

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Dass die Kontrastharmonie von Ethos und Pathos ab dem 18. Jahrhundert aus dem Gleichgewicht gerät, wird hier nicht bestritten, sondern insofern relativiert, als die angestrebte medienrhetorische Perspektive auch eine wirkungsästhetische Verbindung von Ethos und Pathos zutage fördert, die bislang ignoriert wurde. 12 Zu Ethos und Pathos im Kontext der osteuropäischen totalitären Ästhetik vgl. die Beiträge von Dmitri Zakharine, Igor’ P. Smirnov, Evgeny Dobrenko, Mark Lipovetsky, Susi K. Frank, Natascha Drubek, Sabine Hänsgen, Stephen Lovell, Konstantin Kaminskij und Schamma Schahadat in diesem Band. 13 In den Beiträgen von Renate Lachmann, Susi K. Frank, Dmitri Zakharine, Georg Witte, Heiko Hausendorf und Isabell Otto wird auf die rhetorische Tradition direkt Bezug genommen. 14 Wisse, J.: Ethos and Pathos from Aristotle to Cicero. Amsterdam 1986; Dockhorn, K.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Berlin u.a. 1968. 15 Aristoteles: Rhet., 1356a. „Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten: Sie sind nämlich entweder im Charakter des Redners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu versetzen, oder schließlich in der Rede selbst, d.h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen.“ Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt von F.G. Sievke. München 1995, 13. Vgl. auch Cicero: De or. II, 182f.

Einleitung

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relevanter Affekte (páthē) liefert: Zorn und Besänftigung, Freundschaft/Liebe und Feindschaft/Hass, Furcht und Mut usw.16 Die rhetorische Komplementarität von Ethos und Pathos äußert sich aber auch dadurch, dass beide Überzeugungsmittel eine unauflösliche Ambivalenz zwischen naturgegebener Authentizität und künstlerischer Manipulation, zwischen außersprachlicher Konstanz und diskursiver Konstruiertheit aufweisen: ḗthos meint zum einen die (vordiskursive) moralische Gesinnung des Redners (lat.: mores), zum anderen aber auch die durch rhetorische Mittel erreichte Selbstrepräsentation des Charakters des Redners;17 páthos oszilliert zwischen erschütternden Affekten und deren manipulativer Inszenierung, zwischen einem „spezifischen Erleidnis der Seele“ und einer „bestimmte[n] Qualität von Stil oder Vortragsweise, die dem Ausdruck und der Erregung von Affekten angemessen ist.“18 Diese ontologische Ambivalenz von Ethos und Pathos, die zugleich vordiskursive Phänomene und deren diskursive Repräsentation bezeichnen, setzt sich auch in der römischen Antike fort, jedoch mit einer anderen Akzentuierung. Ethos steht hier zwar weiterhin für die Forderung nach einer tugendhaften Grundlage der Rede, die bei Quintilian unter der Gleichsetzung von vollkommenem Redner (orator perfectus) und gutem Mann (vir bonus) subsumiert wird;19 zugleich erscheint das Ethos aber auch als eine bestimmte Form der Gefühlsregung, wodurch die Grenze zwischen Ethos und Pathos im Sinne einer graduellen Differenzierung von Gemütsbewegungen (adfectus) verwischt wird. Bei Cicero und vor allem bei Quintilian steht Ethos für sanfte und ruhige, dauerhafte Affekte; Pathos steht wiederum für heftige und akute, vorübergehende Seelenerregungen.20 Ethos und Pathos sind beide nun Bestandteile einer Affektenlehre, der die Rhetorik eine bestimmte Stilistik zuordnet: Den Affektstufen entsprechen unterschiedliche Stilmodi (genera dicendi), wobei das Ethos für das genus medium mit den Wirkungszielen delectare und conciliare und das Pathos für das genus grande bzw. grave mit 16

Aristoteles: Rhet., 1378b-1388b. Die Affekte phóbos (Furcht) und éleos (Mitleid) stehen bekanntlich im Zentrum der Poetik des Aristoteles im Rahmen der Lehre der Katharsis als Wirkungsziel der Tragödie. 17 Aristoteles: Rhet., 1378a. Vgl. Robling, F.-H. u.a.: Ethos. In: Ueding, G. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen 1994, 1516-1543. 18 Kraus, M. u.a.: Pathos. In: Ueding, G. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, 689-717, hier: 689. 19 Quintilian: Inst. or. I Prooemium, 9: „Dem vollkommenen Redner aber gilt unsere Unterweisung in dem Sinne jener Forderung, daß nur ein wirklich guter Mann ein Redner sein kann; und deshalb fordern wir nicht nur hervorragende Redegabe in ihm, sondern alle Mannestugenden.“ Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übersetzt von H. Rahn. Darmstadt 2011, 7. Dieser ethische Aspekt von Ethos bleibt zentral in der ars praedigandi von Augustin bis Luther. Vgl. Robling u.a., Ethos, 1526-1533. 20 Vgl. Cicero: Or. 38, 131; Quintilian: Inst. or. VI, 2, 8ff.

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Riccardo Nicolosi und Tanja Zimmermann

dem Ziel des movere stehen.21 In diesem Sinne bezeichnen Ethos und Pathos sowohl Affekte als auch die stilistischen Verfahren ihrer diskursiven Hervorbringung: Für das Pathos beispielsweise empfiehlt die Rhetoriklehre die Verwendung von Apostrophen, rhetorischen Fragen, Hyperbata, Asyndeta, Alliterationen u. a.22 Auch wenn die Rhetorik das Zusammenwirken von Affekten, Redezielen, Redegegenständen, Stilstufen, Tropen und Figuren durch das Prinzip der Angemessenheit (decorum, aptum) reguliert sieht, weisen Ethos und Pathos Paradoxien auf, die das rhetorische Regelwerk zu stören drohen und mit denen auch die Medien im 20. Jahrhundert konfrontiert werden. Es geht dabei vor allem um die Paradoxie der Diskursivierung des Nicht-Diskursiven, d.h. um die semiotisierte Darstellung von an sich asemiotischen Affekten, wodurch jede semiotische Kodierung von Ethos und Pathos in den Verdacht rhetorischer Manipulation gerät.23 Das affektrhetorische Moment oszilliert dabei zwischen zwei Polen: Einerseits entsteht es durch die Kaschierung des sekundären Charakters der rhetorischen Formgebung instinktiver Leidenschaften. Andererseits aber ist es gerade die formale Bändigung der formsprengenden und entgrenzenden Dimension der Affekte, die das wirkungsästhetische Potenzial von Ethos und Pathos steigert. Die manipulative Funktion der Affektenlehre, d.h. die Aufgabe, die Zuhörer in die ‚richtige‘ Stimmung zu versetzen, ist zwar eine zentrale und positiv besetzte Komponente der antiken Rhetorik; das Problem der prekären Unterscheidbarkeit zwischen echtem und falschem Affekt ist allerdings von Anfang an präsent. In Bezug auf das Pathos wird vor der Gefahr des Übertreibens, des ‚Zuviel‘, das zu hohlem Pathos (tumor) führen kann, stets gewarnt.24 Im italienischen Spätbarock (Concettismus) wird im Gegensatz dazu ein grenzüberschreitendes Pathos theoretisiert, das bei Emanuele Tesauro die Bereiche der elocutio – sämtliche rhetorische Tropen und Figuren werden zu pathetischen Stilmitteln – und der inventio – durch die List spitzfindiger Trugschlüsse sollen Zuhörer bewusst in die Irre geführt werden –

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Gemäß dem der Dreistillehre innewohnenden Prinzip der Entsprechung von Stillage und Gattung ordnet Quintilian (Inst. or. VI, 2, 20) das Ethos der Komödie und das Pathos der Tragödie zu. Diese graduelle Abstufung von Ethos und Pathos innerhalb einer einzigen Affektrhetorik wirkt bis hin zur Poetik und Rhetorik des Humanismus (beispielsweise in Scaligers Poetices libri VII) und des Barock. 22 Bereits bei Aristoteles (Rhet., 1408b) finden sich Hinweise auf spezifisch ‚pathetische‘ Stilmittel. 23 Zumbusch, C.: Probleme mit dem Pathos. Zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Pathos, 7-24. 24 Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 1960, 930f.

Einleitung

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vollständig in Besitz nimmt:25 Dies bedeutet eine ‚Theatralisierung‘ des Pathos im Sinne einer Täuschungs- und Verstellungsrhetorik.26 Gerade dieser Aspekt führt im Frühklassizismus (Boileau) und in der aufklärerisch-empfindsamen Poetik, beispielsweise bei Johann Jakob Breitinger (Critische Dichtkunst, 1740), zu einer Kritik an der entfesselten, manipulativlistigen Pathoslust des Barocks, die dem ‚natürlichen‘ Pathos, das mit dem ‚authentischen Erleben‘ von Gefühlen beim Sprecher in Zusammenhang steht, gegenübergestellt wird. Die Forderung nach einer „Sprache des Herzens“, die allein echte „Formen des pathetischen Ausdrucks“ erzeugen kann,27 ist die empfindsame Neuformulierung der Kritik an der Übertreibung des Pathos hin zum Schwulststil bzw. zur Scheinraserei (parénthyrsos), die der Pseudo-Longinos in seinem Traktat Über das Erhabene (Perì hýpsous, 1. Jh. n. Chr.) formuliert hatte, dessen Rezeption die Ästhetik nach dem Tridentinum bis ins 18. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst.28 Genuin rhetorisch ist also die Forderung nach einer paradoxen „künstlichen Natürlichkeit“29 der Wirkungsästhetik, die das Stilpathologische ‚affektierter Affekte‘ in Schach halten soll und für die die Medien im 20. Jahrhundert spezifische Strategien entwickeln. Um die Themenfelder einiger der in diesem Band versammelten Beiträge aufzugreifen, ist das zunächst einmal der Fall für das Medium Literatur, das bereits im 19. Jahrhundert mit dem realistischen Roman eine bis heute wirkende Affektpoetik der „Gefühlsimmunität“ entwickelt:30 In diesen Kontext lassen sich Lev Tolstojs dezidierte Ablehnung einer pathosgeladenen Überwältigungsästhetik, die er im Kontext seiner Theorie der „emotionalen Ansteckung“31 konzeptualisiert, sowie seine Privilegierung eines außerrhetorischen, ‚leibhaftigen‘ Pathos stellen.32 Auch der jugoslawische Autor Danilo Kiš entwickelt – in intertextueller Anlehnung an Karl Steiner – wirkungsästhetische Strategien für die Darstellung der drastischen Gulag-Erfahrung, die durch minimalistische Verfahren der ‚Unterrepräsentation‘ charakterisiert sind, mit dem Ziel einer 25

Tesauro, E.: Il cannocchiale aristotelico (1670). Hrsg. von A. Buck. Berlin/Zürich 1968. Meyer-Kalkus, R.: Pathos. In: Ritter, J./Gründer, K. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Darmstadt 1989, 193-199, hier: 194. 27 „[Die] Formen des pathetischen Ausdrucks [sind] nicht viel mehr als bloße Zierrathen […], wenn sie nicht aus einem entzündeten Herzen hervorfließen.“ Breitinger, J.J.: Critische Dichtkunst. Zürich 1740, 367. 28 Brassat, W.: Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun. Berlin 2003, 208-213; Fritz, M.: Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. 29 Zumbusch, Probleme mit dem Pathos, 18. 30 Koppenfels, M.v.: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München 2007. 31 Tolstoj, L.N.: Was ist Kunst? In: Ders.: Ästhetische Schriften. Berlin 1984, 39-232. 32 Vgl. den Beitrag von Georg Witte in diesem Band. 26

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dem Gegenstand angemessenen „Po-Ethik“.33 Eine ähnliche, auf Subtraktion basierende Wirkungsästhetik lässt sich auch im Medium Kino feststellen, beispielsweise beim zeitgenössischen russischen Regisseur Aleksandr Sokurov, der in seinem Film über die Leningrader Blockade Wir lesen das Blockadebuch (2009) durch die überraschende Abwesenheit von sozrealistisch topischen (erstarrten) Pathosformeln die Angemessenheit zwischen res und verba neu gestaltet.34 Affektbeherrschung als Verfahren der Wirkungssteigerung ist allerdings nicht die einzige affektrhetorische Strategie, die – nach unseren AutorInnen – die Medien im 20. Jahrhundert für die Erzeugung der o. g. ‚künstlichen Natürlichkeit‘ der Affekte anwenden. Beobachtbar ist auch eine neue Legierung von Ethos und Pathos, die ein Überzeugungspotenzial entfaltet, das aus dem Wechselspiel von Wertesetzendem und Grenzüberschreitendem, von Stabilem und Momentanem entsteht. Das Ethos wirkt dabei als das das Pathos mäßigende Element, das Autorität und ‚Aufrichtigkeit‘ der Rede – im Sinne der ursprünglichen, aristotelischen Bedeutung von Ethos – in der Person des Sprechers verortet.35 Besonders im Medium Radio entfaltet sich diese erneute Verbindung von Ethos und Pathos, die sich in einer ‚elektrischen‘ Aktualisierung rhetorischer pronunciatio äußert und im politischen Kontext des Zweiten Weltkriegs in Ost und West besonders zur Geltung kommt.36

2. Zur bildlichen Tradition In der Renaissance, als die antike Rhetorik erneuert und im Rahmen der studia humanitatis mit der Geschichte und der Ethik verknüpft wurde, drangen die Begriffe Ethos und Pathos auch in die Kunsttheorie ein und wirkten sich auf die Kunstpraxis aus.37 Leone Battista Alberti forderte in der Tradition der Aristotelischen Nikomachischen Ethik sowie der Ciceronischen und Quintilianschen Rhetorik in seiner Schrift De pictura (1435) von der bildenden Kunst, dass sie die Stimmung und dadurch auch den Charakter des Betrachters 33

Kiš, D.: Homo poeticus. Gespräche und Essays. München/Wien 1994. Vgl. den Beitrag von Renate Lachmann in diesem Band. 34 Vgl. den Beitrag von Sabine Hänsgen in diesem Band. Die wirkungsästhetische Dialektik von Pathos und Antipathos im Medium Film lässt sich durch einen Vergleich der Werke von Sergej Ėjzenštejn und Werner Herzog gut beobachten. Vgl. dazu die Beiträge von Natascha Drubek und Beate Ochsner in diesem Band. 35 Vgl. die Beiträge von Sven Spieker und Heike Winkel in diesem Band, die das Ethos des Autors als produktions- und rezeptionsästhetisches Moment im Didaktischen der sog. lecture performance (Spieker) und in der postsowjetischen russischen Literatur (Winkel) hervorheben. 36 Vgl. die Beiträge von Dmitri Zakharine, Isabell Otto und Stephen Lovell in diesem Band. 37 Brassat, Das Historienbild, XI-XXXV.

Einleitung

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modelliert und moralisch prägt.38 Durch ein wohl proportioniertes Werk und ausgewogen gestikulierende Figuren, die Angemessenheit (decorum), Würde (dignitas), Zurückhaltung (modestia) und Wahrscheinlichkeit (verisimilitudo) ausdrücken, sollte der Betrachter zur Nachahmung stimuliert werden. Der Gattung der Historie mit einer Gruppe agierender Figuren schrieb Alberti in besonderem Maße die Fähigkeit zu, durch Pathos Ethos hervorzurufen und affektiv-ethisch zu wirken. Vor allem das Leiden der Mitglieder einer Familie, ihre gegensätzlichen Handlungen und kontrastierenden Gemütslagen wurden in der Bildrhetorik der Frühen Neuzeit als stark affektprägend angesehen.39 Vasari wiederum brachte in seinen Viten (1550) die Ausgewogenheit der Renaissancemalerei mit den Tugenden ihrer Schöpfer sowie mit der geschichtsprägenden Bedeutung der in Florenz tonangebenden Familie der Medici in Verbindung.40 Die Rezeption der antiken Rhetorik brachte eine bildrhetorisch operierende Malerei hervor, deren Pathos sich von Raffael, Vasari und Tintoretto bis hin zu Rubens zunehmend steigerte. In der manieristischen und barocken Kunst der nachtridentinischen Periode, in der die rhetorische Tradition des Pseudo-Longinos an Bedeutung gewann, wurde auch die Forderung nach Pathos bis hin zur Bestürzung (perplexitas) als Quelle lebhafter Darstellung (enárgeia) und zur Erzeugung des Erhabenen unüberhörbar.41 Pathetisch operierende Kunstwerke sollten beim Rezipienten Mitleid (compassio) und eine ethische Reinigung (kátharsis) hervorrufen. Das Pathos, das sich bis zur Schrecklichkeit (atrocitas) steigert, wie bei Caravaggio, blieb auch im barocken theatrum sacrum umstritten.42 Den von Alberti zusammengestellten Katalog von Eigenschaften, durch die das Kunstwerk auf den Betrachter harmonisierend einwirken soll, griffen die Kunstakademien im 17. Jahrhundert erneut auf.43 Theoretiker wie Charles Le Brun und Charles Perrault distanzierten sich von der pathetischen italienischen Bildrhetorik und prägten europaweit maßgebend den Kanon der klassizistischen Ästhetik. Das kultivierte, gemäßigte Pathos sollte ein Ethos formen, und zwar nicht nur durch die persönliche moralische Charakterbildung, sondern durch die Ausweitung auf das ganze Kollektiv und die Stabilisierung der staatlichen Ordnung. In der Historienmalerei als der obersten Gattung in der Hierarchie der Genres wurden Ethos und Pathos immer enger an das Politische, im Sinne der panegyrischen Glorifizierung des Herrschers und der staatlichen exempla, gebunden. 38

Ebd., XIV-XVI. Ebd., 67-72. 40 Ebd., 93-128. 41 Ebd., 208-212. 42 Ebd., 250-256. 43 Ebd., 349-396; Schneider, N.: Historienmalerei. Vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Köln u.a. 2011, 12-14. 39

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Obwohl die Rhetoriklehre in der Literatur und ebenso in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts immer stärker zurückgedrängt wurde, blieben Ethos und Pathos weiterhin zentrale Begriffe eines sich allmählich formierenden bürgerlichen Ethos, das medial in der Debatte um die hellenistische Skulptur Laokoon mit seinen Söhnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgehandelt wurde. Darin zeichneten sich zwei Positionen ab: Während Winckelmann in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) das gegenüber den Leidenschaften unabhängige, harmonisch beruhigte Ethos der Skulpturengruppe in Verallgemeinerung der stoischen Apathie als Zeichen der „gesetzten Seele“ der alten Griechen pries,44 führte Lessing in Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Unterdrückung des Pathos vor allem auf die ästhetische Eigenschaft der Synchronie der bildkünstlerischen Medien zurück. Während sich die Narration an der Diachronie der Handlung orientiert und sich das Pathos in diesem Medium nur transitorisch mit voller Kraft entfalten kann, erstarren in Bildwerken Stilmittel wie eine heftige, die Gesichter verzerrende Mimik und eine momentanes Leiden ausdrückende Gestik auf Ewigkeit. Das Pathos, das bei falscher Verwendung des Mediums unangemessen anhalten würde, brächte so beim Betrachter nicht nur ein falsches Ethos hervor, eine Neigung zu überintensivem, nicht mannhaftem Leiden, es würde durch seine Entfesselung auch die Imaginationskraft schwächen. Daher verlangt Lessing, dass der bildende Künstler nicht den Höhepunkt der Handlung, sondern den prägnanten Augenblick vor dem Erreichen der Klimax in seinen Werken festhält, wodurch der imaginäre Vollzug von noch bevorstehenden pathetischen Leistungen der Helden dem Rezipienten abverlangt wird. Appelliert bei Winckelmann die Statue an den Betrachter, dass er lerne, „wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können“, 45 so lädt er ihn letztlich zur Mäßigung, ja zur Unterdrückung seiner Leidenschaften ein. Anders Lessing, der das Maßhalten nur dem Künstler 44

Zur Laokoon-Debatte: Wellbery, D.E.: Lessing’s Laokoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1982; Mülder-Bach, I.: Bild und Bewegung, Lessings Laokoon. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geschichte 66 (1992), 1-30; Port, U.: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755-1888). München 2005, 109-120, 206-216; Gall, D./Wolkenhauer A. (Hrsg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Berlin 2009, 228-241; Wilm, M.-Ch.: Laokoons Leiden. Oder über eine Grenze ästhetischer Erfahrung bei Winckelmann, Lessing und Lenz. In: Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung. Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006, url: http://edocs.fu-berlin.de/docs/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDOCS_derivate_00000 0002236/wilm.pdf;jsessionid=34B8AAD9CC49E37AECD1794347976D72?hosts= (27.08.2016). 45 Winckelmann, J.J.: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Hrsg. v. L. Uhlig. Stuttgart 1969, 20.

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abverlangt, damit der Betrachter umso mehr in seiner Vorstellungskraft mit einem Überschuss an Pathos auf den erst unmittelbar bevorstehenden Handlungshöhepunkt reagieren kann. Wirkungsästhetisch ist Winckelmann AntiPathetiker, weswegen ihn Warburg auch konsequent angreift. Lessing dagegen argumentiert letztlich zugunsten einer Kunst, die ihre Erregungspotentiale voll entfaltet. Den unterschiedlichen Positionen im Laokoon-Streit, an dem sich auch Mendelssohn (Gedanken vom Ausdrucke der Leidenschaften, 1762-63, veröffentlicht erst 1844), Schiller (Über das Pathetische, 1793) und Goethe (Über Laokoon, 1797) beteiligten, war eins gemeinsam – die Skepsis gegenüber übertriebenem Pathos, mindestens im medialen Ausdruck, sowie das Insistieren auf Affektökonomie im Dienste einer ästhetisch-ethischen Wirkungsästhetik. Gleichzeitig mit der Laokoon-Debatte hat Johann Kaspar Lavater in seiner Schrift Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775) das Ethos einer Person – gemeint ist damit auch Charakter oder Habitus – mit dem Ästhetischen verknüpft.46 Das Pathos, das zunächst die momentan empfundenen Leidenschaften einer Person ausdrückt, schreibt sich – wie bei einer Statue – auf Dauer in die Oberfläche des Körpers ein, die so insgesamt über die Sittlichkeit des Menschen Auskunft gibt. Anders als in den physiognomischen Studien der Renaissance und des Barock, wie bei Leonardo oder Charles Le Brun, die gemäß der Galenschen Säftelehre das Temperament als allgemeinen Grundton der Stimmungen wie des Charakters lasen,47 glaubt der protestantische Pastor, in den Gesichtszügen ein dauerhaftes, unveränderlich gewordenes Ethos enthüllen zu können, welches der Person nicht angeboren ist, sondern erst von ihr erworben wird. Dieses liest er nicht nur historischen Persönlichkeiten ab, sondern auch Kunstwerken. Die ausgewogenste Physiognomie schreibt er anhand von berühmten Kunstwerken der Klassik und der Renaissance dem griechischen Gott der Schönheit, Apollo, und Jesus Christus zu, die hässlichste Judas und den Schergen in den Darstellungen der Passion Christi sowie lüsternen Trunkenen in der Genremalerei. In seiner Studie finden sich bereits erste Ansätze zur Transformation des Ethos in die Völkerpsychologie und Rassenkunde, wenn er verschiedenen Landsleuten, die exemplarisch für die Nation oder die Rasse als Ganze stehen, bestimmte Charaktereigenschaften zuschreibt. Auf dieser Grundlage wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Völker und Nationen in taxonomischen Systemen erfasst, wie dies rückblickend Wilhelm Wundt in seinen Schriften zur Völkerpsychologie zusam-

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Lavater, J.K.: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Leipzig/Winterthur 1775. 47 Kirchner, Th.: L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. Mainz 1991.

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menfasst.48 Während das Ethos, reduziert auf die Charakterologie der Nationen oder auch der Geschlechter, weiterhin immer enger mit der ästhetischen Erscheinung verschmolz, wurde das Pathos zunehmend pathologisiert.49 Die Fähigkeit der Bildrhetorik, Pathos in Ethos zu transformieren, räumte der bildenden Kunst eine zentrale Rolle bei der Prägung des Charakterbildes einer Nation ein. Als die modernen Griechen in den 1820er Jahren um ihre Freiheit gegen die Osmanen kämpften, wurde in der philhellenischen Malerei ihre Bereitschaft zum heroischen Opfer nach dem Vorbild der Altgriechen stets mit dem Fortbestand ihres Ethos in Verbindung gebracht. Das Pathos des momentanen Kampfes wurde zur ethisch-moralischen Haltung des Griechentums schlechthin verallgemeinert. In der Kriegspropaganda, die das Leiden christlicher Familien in den Vordergrund rückte,50 wurde diese Haltung nicht nur jenem Volk zugeschrieben, das Europa einst begründet hatte und nun wieder an Europa herangeführt werden sollte, sondern der kulturellen Völkergemeinschaft Europas insgesamt. Das europäische Ethos wurde eng mit der christlichen Religion verknüpft, während das unzivilisierte, wilde, „asiatische“ Pathos davon abgeschieden und dem islamischen Kulturbereich zugewiesen wurde. Seine visuelle Entsprechung fand diese hierarchisierende Polarisierung in der orientalistischen Malerei nicht nur in Frankreich und Großbritannien,51 sondern auch in Russland und in anderen

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Wundt, W.: Probleme der Völkerpsychologie. Leipzig 1911; Ders.: Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Leipzig 1912; Ders.: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte. 10 Bde., Leipzig 1900-1920; Zur Völkerpsychologie und Rassenkunde: Hahn, H.H. (Hrsg.) unter Mitarbeit v. St. Scholz: Stereotypen, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt a.M. u.a. 2002; Geulen, Ch.: Geschichte des Rassismus. München 2007; Mosse, G.L.: Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt a.M. 2007. 49 Hartley, L.: Physiognomy and the meaning of expression in nineteenth-century culture. Cambridge u.a. 2001; Koschorke, A.: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 2003; Didi-Huberman, G.: Invention of Hysteria. Charcot and the Photographic Iconography of the Salpêtrière. Cambridge 2003. 50 Kepetzis, E.: Familien im Krieg. Zum griechischen Freiheitskampf in der französischen Malerei der 1820er Jahre. In: Heß, G. u.a. (Hrsg.): Graecomania. Der europäische Philhellenismus. Berlin 2009, 133-170. 51 Said, E.: Orientalismus. Frankfurt a.M. 1981; Nochlin, L.: The Imaginary Orient. In: Dies.: The Politics of Vision: Essays on Nineteenth-Century Art and Society. New York 1989, 41-45; Peltre, Ch.: L’atelier du voyage. Les peintres en Orient au XIXe siècle. Paris 1995; Dies.: Orientalisme. Paris 2004; Diederen, R./Depelchin, D. (Hrsg.): Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky. München 2010; Tromans, N. (Hrsg.): The Lure of the East. British Orientalist Painting. London 2008; Lemaire, G.G.: Orientalismus. Das Bild des Morgenlandes in der Malerei. Potsdam 2010.

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slavischen Ländern.52 Während des südslavischen Befreiungskampfes wurde das Ethos der Griechen von panslavistisch gesonnenen Malern auf die Serben und Bulgaren übertragen.53 Das Motiv der vergewaltigten und anschließend getöteten Mütter, manchmal mit einem noch lebenden Säugling an der Brust, unterstrich die Abwesenheit jeglichen Ethos auf Seiten der orientalischen Täter und avancierte seither zur Pathosformel für Genozid; während des Zweiten Weltkriegs wurden damit insbesondere in der russischen Kunst Gräueltaten der Nazis erfasst.54 Als die philhellenische und panslavistische Begeisterung für die christlichen Völker auf dem Balkan 1830-50 allmählich erlosch, wurden diese selbst orientalisiert.55 Romantische Physiognomien prometheischer Kämpfer wurden in der illustrierten Presse in dunkelhäutige, orientalische Karikaturen mit krummen Nasen transformiert. Die völkischen Stereotype beruhten auf der Trennung der Völker in solche, die ihren Leidenschaften eher ausgeliefert sind, und andere, die sie besser beherrschen. Sie wurden nicht nur zur Ausgrenzung fremder Völker und Religionen, sondern auch zur Bildung einer homogenen Gemeinschaft im Prozess der Nationsbildung eingesetzt.56 So haben etwa die russischen Schriftsteller, Kritiker und Künstler in der frühen Periode der Nationsbildung am Übergang von der Romantik zum Realismus gemeinsam einen russischen Nationalcharakter bestimmt, der sich durch extreme Leidensfähigkeit auszeichnen sollte. Il’ja Repins Wolgatreidler (Burlaki na Volge, 1870-73) sowie die Leidenden in den Werken der „Wanderkünstler“ (Peredvižniki) prägten ein Selbstbild des russischen Volkes, das sich gleichzeitig in Dostoevskijs Romanen niederschlug. Der allen Russen pauschal zugeschriebene Hang zu einem Pathos, das von ethischer Opferbereitschaft geprägt ist, bezeichnete der symbolistische Dichter und Religionsphilosoph Vjačeslav Ivanov gar als die „russische Idee“. In der gleichnamigen Schrift (Russkaja ideja, 1907-08) bringt er das Leiden mit der Passion Christi in Zusammenhang. Dabei hebt er die Bedeutung des orthodoxen Osterfestes mit der 52

Sahni, K.: Crucifying the Orient. Russian Orientalism and the Colonization of Caucasus and Central Asia. Oslo 1997; Schimmelpenninck van der Oye, D.: Russian Orientalism: Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration. New Haven 2010; Born, R./Lemmen, S. (Hrsg.): Orientalismen in Ostmitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Bielefeld 2014. 53 Baleva, M.: Martyrium für die Nation. Der slawische Balkan in der ostmitteleuropäischen Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Osteuropa 59/12, 2009, 41-52; Dies.: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts. Köln u.a. 2012. 54 Vgl. dazu die Beiträge von Evgeny Dobrenko, Mark Lipovetsky und Susi K. Frank in diesem Band. 55 Zimmermann, T.: ‚Die Gipfel der Balkane‘ und die Freunde Hellas: Aleksandr Puškin, Jakob Philipp Fallmerayer und Cyprien Robert. In: Brković, I. u.a. (Hrsg.): Geschichte als ein fremdes Land. Historische Bilder in Süd-Ost-Europa . Bonn 2015, 229-245. 56 Vgl. dazu den Beitrag von Tomáš Glanc in diesem Band.

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Anastasis, dem Hinabsteigen Christi in die Vorhölle, für die russische Mentalität hervor. In den seit Ende des 1. Jahrtausends standardisierten Ikonen zum Fest der Epiphanie steigt der Auferstandene in den Limbus, wo er Adam (und Eva) am Handgelenk dem Höllenfeuer und den Fängen der Sünde entzieht. In dem freiwilligen, selbstentäußernden Hinabstieg in der imitatio Christi manifestiert sich nach Ivanov „der Wille des russischen Volkes zur Armut, Einfachheit, Selbstvernichtung, zum Hinabsteigen. […] Der Grundzug unseres Volkscharakters ist das Pathos der Selbstentäußerung, die Freude daran, sich aller Prachtgewänder und jedes Schmuckes zu entblößen […]“.57 Der Imperativ zum Hinabstieg nach dem Vorbild Christi, so Ivanov, kann entweder ins Positive oder ins Negative umschlagen: in Demut, Nächstenliebe und Opferbereitschaft oder aber in provozierende Abtrünnigkeit und verschwenderische Selbstzerstörung.58 Der Religionsphilosoph warnt vor diesem übertriebenen Hang zum Pathos und der Betonung des Dionysischen59 im russischen Volkscharakter, die im Extremfall sogar im Selbstmord oder im Verbrechen münden können. Auch die orthodoxe Figur des heiligen Narren (jurodivyj) pendelt zwischen den Polen der ethischen Askese und einer pathetischen, karnevalistisch-theatralischen Selbstinszenierung.60 In der zeitgenössischen Kunst wird diese Tradition beispielhaft durch Künstler wie Marina Abramović, Boris Michajlov und Pëtr Pavlenskij am Leben erhalten. Die serbische Aktionskünstlerin führt seit den 1970er Jahren immer radikalere Eingriffe in ihren Körper durch, wodurch sie das Publikum zu extremen, als ethisch zu qualifizierenden Reaktionen herausfordert – von der Lust an der Gewalt zu einem diese unterbindenden Einschreiten.61 Der ukrainische Fotograf Michajlov inszeniert in seinem Fotoband Case history (1999) Obdachlose, Alkoholiker und Straßenkinder in einem Spektakel der Selbstentäußerung.62 Der russische Aktionskünstler und politische Aktivist Pavlenskij zeigt Selbstverletzungen an öffentlichen Orten, vernäht seine Lippen oder nagelt seine Hoden auf dem 57

Iwanow, W.: Die russische Idee. Übersetzt von J. Schor. Tübingen 1930, 30f. Ebd., 35-39. 59 Zum dionysischen Zug der russischen Kultur im Symbolismus vgl.: Murašov, Ju.: Im Zeichen des Dionysos. Zur Mythopoetik in der russischen Moderne am Beispiel von Vjačeslav Ivanov. München 1999. 60 Lachmann, R.: Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis. In: Moos, v.P. (Hrsg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Köln u.a. 2004, 379-410; Rjabinin, J.: Russkoe jurodstvo. Moskau 2007; Pryžov, I.: Niščie i jurodivye na Rusi. St. Peterburg 2008; Ivanov, S.A.: Holy fools in Byzantium and beyond. Oxford 2010. 61 Vgl. dazu den Beitrag von Davor Beganović im vorliegenden Band. 62 Stahel, U. (Hrsg.): Boris Mikhailov: A Retrospective. Zürich 2003; Schube, I. (Hrsg.): Boris Mikhailov. Bücher/Books. Strukturen des Wahnsinns, oder warum Hirten in den Bergen oft verrückt werden. Köln 2013. 58

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Roten Platz an, um auf die Missstände in der russischen Politik hinzuweisen und Menschen zum ethischen Handeln zu bewegen.63 In allen drei Fällen überschreitet Pathos radikal die Grenze zwischen Kunst und Leben. In der Revolutionskunst der russischen Avantgarde führte das gesteigerte Pathos nicht mehr ins Transzendent-Sakrale. Pathetische Bilder sollten dazu beitragen, im Diesseits neue Menschen mit kollektivem, proletarischem Ethos zu schaffen. Am prägnantesten wurde die Forderung nach einem in dieser Weise mobilisierten Pathos in der Montageästhetik Sergej Ėjzenštejns ausformuliert, die nicht nur von der barocken Bildrhetorik, sondern auch vom religiösen Spektakel, von Theater, Zirkus und Jahrmarkt inspiriert war. Der Regisseur gab pathetischen Bildern in den frühen 1920er Jahren zuerst den Namen „Attraktion“ und bezeichnete damit „jedes aggressive Moment (im Theater)“, das den Zuschauer „einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt, die experimentell überprüft und mathematisch berechnet ist auf bestimmte emotionale Erschütterungen des Aufnehmenden“.64 Durch die Montage pathetischer Attraktionen, in denen gegenläufige Leidenschaften in Konflikt gebracht wurden und aufeinanderprallten, sollten das revolutionäre Ethos des Betrachters und ein daraus resultierendes revolutionäres Handlungspotential reflexiologisch ausgelöst und entfesselt werden. In späteren Montagekonzepten griff Ėjzenštejn musikalische und schriftbildliche Konzepte auf; zuletzt bediente er sich der gewaltigen Metaphorik der Explosion der Atombombe.65 Mit der Proklamation des sozialistischen Realismus 1932-34 wurden neue Richtlinien für die Legierung von Ethos und Pathos verordnet, durch die das Pathos erneut gemäßigt und eng an das stalinistische Ethos gebunden wurde.66 Postulate wie Parteilichkeit, Widerspiegelung, revolutionäre Romantik, Volkstümlichkeit, der Preis des Typischen und positiver Helden verschmolzen erneut zu einer ethisch-ästhetischen Kategorie, gemäß der aus dem eksta63

Esch, Ch.: Ein Körper als Waffe. In: Frankfurter Rundschau, 03.06. 2016, url.: http://www.fr-online.de/leute/pjotr-pawlenski-ein-koerper-alswaffe,9548600,34320266.html (13.08.2016); Wellershaus, E.: Die Schmerzen russischer Künstler. In: Zeit online, 13.06.2016, url.: http://www.zeit.de/kultur/201606/pjotr-pawlenski-russland-kunst-zensur-konstantin-skotnikov-10nach8 (13.08.2016). 64 Eisenstein, S.: Die Montage der Attraktionen. In: Ders.: Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. H.-J. Schlegel. München 1974, 216-221, hier: 217. Zum Pathos-Begriff bei Ėjzenštejn vgl.: Bohn, A.: Film und Macht. Zur Kunsttheorie Sergej Eisensteins 1930-1948. München, 2003, 218-219; Sasse, S.: Pathos und Antipathos. Pathosformeln bei Sergej Ėjzenštejn und Aby Warburg. In: Zumbusch (Hrsg.), Pathos, 171-190; Zu Ėjzenštejns MontageKonzepten vgl.: Bulgakowa, O.: Montagebilder bei Sergej Eisenstein. In: Beller, H. (Hrsg.): Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts. München 1993, 49-77. 65 Zum späteren Montage-Konzept Ėjzenštejns vgl. Sasse, Pathos und Antipathos, sowie den Betrag von Natascha Drubek in diesem Band. 66 Vgl. dazu den Beitrag von Bernd Stiegler in diesem Band.

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tischen Revolutionspathos der Habitus des Neuen Menschen hervorgehen sollte.67 Wie in der klassizistischen Historie wurde der Kunst des sozialistischen Realismus eine erzieherische, sozialpädagogische Funktion zugewiesen, die im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg auch von den Künstlern in der sowjetischen Einflusssphäre eingefordert wurde.68 Der Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik, Otto Grotewohl, rief in seiner Rede Die Eroberung der Kultur beginnt (1951) anlässlich der Berufung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten nicht nur dazu auf, den „Kanon“ des sozialistischen Realismus zu befolgen, sondern auch zur „klassischen Tradition“ und zum „humanistischen Erbe“ zurückzukehren.69 Erst in der Periode der Perestrojka wurde dem langlebigen sozialistischen Realismus, der in kommunistischen Ländern verschieden national ausgeprägt wurde,70 ein Ende bereitet.71 Dennoch tauchen Pathosformeln des sozialistischen Realismus auch in der postkommunistischen Zeit weiter auf, wobei das Phänomen der „Nostalgie“ angesichts der gescheiterten Versuche der Reform des Kommunismus72 und der unterdrückten Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit73 oftmals ironisch gebrochen zutage tritt. In der visuellen Kultur in Osteuropa sollte jedoch zwischen zwei Formen ihres „Nachlebens“ – einer affirmativen und einer subversiven – unterschieden werden.74 Die affirmative Form der Verwendung taucht vor allem anlässlich von Jubiläen auf, mit denen man des Sieges über den National-

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Günther, H.: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre. Stuttgart 1984; Christ, Th.: Der Sozialistische Realismus. Betrachtungen zum Sozialistischen Realismus in der Sowjetzeit. Basel 1998; Gjunter, G./Dobrenko, E. (Hrsg.): Socialističeskij kanon. St. Petersburg 2000; Balina, M./Dobrenko, E. (eds.): Petrified Utopia: Happiness Soviet Style. London/New York 2009; Vgl. dazu die Beiträge von Evgeny Dobrenko, Mark Lipovetsky, Igor’ P. Smirnov, Susi K. Frank, Konstantin Kaminskij und Renate Lachmann in diesem Band. 68 Vgl. dazu den Beitrag von Heiko Hausendorf im vorliegenden Band. 69 Rehberg, K.-S./Kaiser, P. (Hrsg.): Abstraktion im Staatssozialismus. Feindsetzung und Freiräume im Kunstsystem der DDR. Weimar 2003, 285-290. 70 Dobrenko, E./Lahusen, Th. (eds.): Socialist Realism without Shores. Durham/London 1997. 71 Vgl. dazu den Beitrag von Sabine Hänsgen in diesem Band. 72 Boym, S.: Future of Nostalgia. New York 2001; Velikonja, M.: Titostalgia – A study of Nostalgia for Josip Broz. Ljubljana 2009; Kaminskij, K.: Stalinkult in russischen Medien im 21. Jahrhundert. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 16/1 (2012), 165-188. 73 Etkind, A.: Warped Mourning: Stories of the Undead in the Land of the Unburied. Stanford 2013. 74 Zimmermann, T: ‚Permanente Revolution‘. Das Gespenst des Kommunismus heute. In: Religion & Gesellschaft in Ost und West 43/9 (2015), 24-27.

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sozialismus gedenkt.75 Zu neuen Popikonen transformiert, werden kommunistische Helden nicht mehr als Schreckensbildnisse erkannt, sondern an ein neues, stolzes Ethos gekoppelt. Der subversiven Form bedienen sich die sogenannten „Retro(avant)garden“ in Ost- und Südosteuropa wie die Künstlerkollektive Neue Slowenische Kunst,76 das Jewish Renaissance Movement in Poland77 und Was tun? (Čto delat?). Sie alle inszenieren die Persistenz alter Ideologien im kollektiven Unbewussten der Gegenwart als scheinbar unkritische „Überidentifikationen“ oder als gespenstische Heimsuchungen. Ethos und Pathos bestimmten seit dem 18. Jahrhundert nicht nur das Spannungsverhältnis von Ethik und Ästhetik. Sie wurden außerdem im Anschluss an Lessing auch einer zunehmenden medialen Polarisierung unterzogen, die in Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) in den unüberwindlichen Dualismus zweier unterschiedlicher Kunsttriebe mündete: Dem schönen, maßvollen Gott Apollo wurde die Domäne der bildenden Kunst, vor allem der Skulptur, zugeschrieben, die Musik mit Gesang und Tanz dem ekstatischen, maßlosen, selbstvergessenen Gott des Rausches, Dionysos.78 Nicht im Ethos des Apollinischen, sondern im unbändigen Pathos des Dionysischen, in Rausch, Ektase und Selbstentäußerung, offenbart sich für Nietzsche eine höhere Einheit mit dem Göttlichen. Das Dionysische präsentiert sich als verborgene Tiefe nicht nur in der apollinischen Formfindung, sondern auch in der Moral und ihrer Genealogie. Ausgehend von Nietzsche hat eine vitalistische Ästhetik zunächst dem Dionysischen den Vorzug gegeben. Derartige Formen der Ästhetik prägten mutatis mutandis die russische Kunst vom Symbolismus bis zum Stalinismus79 und zeigten 75

Zimmermann, T./Jakir, A.: Introduction. In: Dies. (eds.): Europe and the Balkans: Decades of ‚Europeanization‘?. Würzburg 2015, 9-30, hier: 9-11. 76 Gržinić, M.: Fiction Reconstructed. Eastern Europe, Post-Socialism & The RetroAvantgarde. Wien 2000; Dies.: Neue Slowenische Kunst. In: Djurić, D./Šuvaković, M. (eds.): Impossible Histories. Historical Avant-gardes, Neo-avant-gardes, and Postavant-gardes in Yugoslavia, 1918-1991. London 2006, 247-269; Arns, I.: Neue Slowenische Kunst NSK. Eine Analyse ihrer künstlerischen Strategien im Kontext der 1980er Jahre in Jugoslawien. Regensburg 2002; Monroe, A.: Interrogation Machine. Laibach and NSK. Cambridge/Mass. 2005; Arns, I./Sasse, S.: Subversive Affirmation. On Mimesis as a Strategy of Resistance. In: Irwin (ed.): East Art Map. Contemporary Art and Eastern Europe. London/Ljubljana 2005, 444-455. 77 Łisak, T.: Strategies of Recall in Post-1989 Polish Documentary and Artistic Films About the Holocaust. In: Marszałek, M./Molisiak, A. (Hrsg.): Nach dem Vergessen. Rekurse auf den Holocaust nach 1989. Berlin 2010, 115-135; Zimmermann, T.: Polen und Israel als Resonanzräume der Erinnerung. Polnisches Exil und jüdische Emigration in der Videokunst Artur Żmijewskis und der Gruppe Jewish Renaissance Movement in Poland. In: Smola, K./Terpitz, O. (Hrsg.): Jüdische Räume und Topographien in Ost(mittel)europa. Konstruktionen in Literatur und Kultur. Wiesbaden 2015, 221-245. 78 Port, Pathosformeln, 332-345. 79 Rosenthal, B.G.: Nietzsche in Russia. Princeton 1986.

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sich in der engen Bindung der Stimme, sobald sie in verschiedenen Kunstformen vorkommt, an das Pathos. Gegen Ende seines Lebens vollzog Nietzsche in Götzen-Dämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemäßen (1889) sowie in anderen späten Schriften eine Abkehr vom dionysisch bewegten Pathos und wandte sich einem ins Ethische umschlagenden „Pathos der Distanz“ zu, das sich der stoischen Apathie annähert.80 Auch die Bändigung des Pathos, die an das Ethos des Menschen oder eines menschlichen Kollektivs geknüpft wurde, wurde zunehmend medial uminterpretiert und auf Bildformen übertragen. Verschiedene Verfahren der bildkünstlerischen oder bildlichen Legierung des Ethos als Verhaltenskonstante, welche das Pathos aus einer an die stoische Apathie erinnernden Distanz überhaupt erst lesbar macht, haben sich in unterschiedlichen Namen niedergeschlagen, wie „Pathosformeln“, „Schlagbilder“ und „Schlüsselbilder“. In Aby Warburgs Begriff „Pathosformel“,81 der energetischen und zugleich zur Bildschablone erstarrten Bewegung der lebhaften Gestikulation, des „bewegten Beiwerks“ wie flatternder Haare und Gewänder als äußerer Ausdruck einer inneren seelischen Erregung und Ergriffenheit, lebt der polare Gegensatz fort: Wie schon zuvor bei Winckelmann, Lessing und Nietzsche kann die Form nur um den Preis der Stillstellung des Affekts entstehen – und diesen gerade dadurch ausdrücken. Als Erinnerungszeichen für eine Ur-Szene pathetischer Erregungen werden Pathosformeln in unterschiedlichen kulturellen Konstellationen wiederbelebt, wobei ihr „Nachleben“ mit dem Verlust der ursprünglichen Information, der Inversion der Bedeutung und der Abkoppelung des ursprünglich durch diese „Bilderfahrzeuge“ transportierten Ethos einhergehen kann. Durch die kulturell überformten, gebändigten Affekte verschafft sich das Pathos bei Warburg – wie Nietzsches „Pathos der Distanz“ – einen „Denkraum der Besonnenheit“, einer reflexiven Distanz als Zeichen der Kontrolle und Bändigung ebenso wie der zivilisatorischen Lesbarkeit der Gefühle.82 Sergej Ėjzenštejn, der in den späten Schriften ebenfalls den Begriff „Pathosformel“ (formula pafosa) verwendet, ohne sich dabei auf Warburg zu berufen, bezeichnet damit ein dialektisches Montageprinzip.83 Darin steigern sich die aneinandergereihten, widerstrebenden 80

Ebd., 354-358; Zumbusch, Problem mit dem Pathos, 17. Warburg, A.: Dürer und die italienische Antike (1905). In: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Gesammelte Schriften. Studienausgabe. Bd. I/2. Hrsg. v. H. Bredekamp/M. Diers. Berlin 1998, 445-449. 82 Zumbusch, C.: Besonnenheit. Warburgs Denkraum als antipathetisches Verfahren. In: Tremel, M. u.a. (Hrsg.): Warburgs Denkraum. Formen, Motive, Materialien. München 2014, 243-258; Zur „Pathosformel“ vgl. auch den Beitrag von Susi K. Frank in diesem Band. 83 Sasse, Pathos und Antipathos; zur weiteren Entwicklung des Pathos-Begriffs siehe den Beitrag von Natascha Drubek in diesem Band. 81

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Elemente sprunghaft bis zum Kulminationspunkt, einem ekstatischen Außersich-Geraten, in dem das Pathos in eine neue Qualität umschlägt. Nicht die Erstarrung zur Formel wie bei Warburg, sondern ein sprunghaftes, dialektisches Bild erzeugt durch die Kollision pathetischer Bilder ein neues Ethos. Im Gegensatz zu Warburg, dem es auch um das emotionale Gedächtnis und die Renaissance von Abbildungstypen geht, sobald emotionales Erleben nach Ausdruck drängt, rückt Michael Diers in seinem Konzept der „Schlagbilder“ die pragmatischen Aspekte des Bildes gegenüber einem in der Tiefe wirksamen Pathos in den Vordergrund.84 Mit diesem Begriff bezeichnet er „prägnante Bildformeln“, die ähnlich wie Schlagzeilen ein Aktivierungspotenzial besitzen und in den Massenmedien bzw. im öffentlichen Raum ihre Wirkungskraft entfalten. Wie bei Warburg spielt auch bei Diers das visuelle Gedächtnis, gespeichert in der Bildformel, eine unterstützende Rolle bei der Einprägung der Bilder. Doch anders als die Pathosformel wird das „Schlagbild“ nur gemäß der Wirkung beurteilt, die sozusagen ohne jede Empathie an der Oberfläche des Diskurses festgestellt werden kann. Diers’ Konzept ist insofern mit einer postmodern apollinischen Oberflächenästhetik vereinbar, die sich jedem Tief(en)sinn verweigert.85 In Peter Ludes’ Konzept der „Schlüsselbilder“ steht noch radikaler die sekundenschnelle, globale Vermittlung von essentiellen visuellen Mustern (visual keys) durch verschiedene Medien wie die Presse, das Fernsehen und die Internetgemeinschaften im Vordergrund.86 Anders als „Schlagbilder“ durchdringen diese nicht nur das politische Leben, sondern alle Bereiche des Lebens und der Kultur, in denen sich Macht akkumuliert – von der Ökonomie bis zur Ökologie, von der Politik bis zur Religion. Schlüsselbilder lösen Assoziationen aus, durch die Bildinhalte schnell habitualisiert werden können, wodurch neue Netzwerkgemeinschaften gebildet werden und eine Zeit lang wirksam bleiben. Derartige integrative, kollektives und kulturelles Gedächtnis sowie offene Gemeinschaften stiftende Bildformeln leben von dem Umschlag von Pathos (und Pathologischem) in Ethos als Habitus, das eine nunmehr offene und sich 84

Diers, M.: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1997. 85 Zum Dionysischen und Apollinischen in der russischen Kultur: Hansen-Löve, A.A.: Zur Typologie des Erhabenen in der russischen Moderne. In: Poetika 23/1-2 (1991), 166-221; Ders.: Der russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive. Bd. 3.: Mythopoetischer Symbolismus. Lebenssymbolik. Wien 2014, 75-195. 86 Ludes, P.: Schlüsselbilder von Staatsoberhäuptern. Pressefotos, Spielfilme, Fernsehnachrichten, CD-ROMs und World Wide Web. Siegen 1998; Ders.: Multimedia und Multi-Moderne. Schlüsselbilder. Fernsehnachrichten und World Wide Web – Medienzivilisierung in der europäischen Währungsunion. Opladen 2001; Ders.: SchlüsselbildGewohnheiten. Visuelle Habitualisierungen und visuelle Koordinationen. In: Knieper, Th./Müller, M.G. (Hrsg.): Kommunikation visuell. Das Bild als Forschungsgegenstand – Grundlagen und Perspektiven. Köln 2001, 64-78.

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immer wieder neu konstituierende Rezipientengemeinschaft eint. Um Schlüsselbilder kristallisieren sich Narrative, die zwischen Geschichte und Mythos, Gegenwart und Vergangenheit, Individuum und Kollektiv vermitteln und dessen Bestand durch ein gemeinsames Ethos stabilisieren. In virtuellen Bildern wird das Pathos dematerialisiert, dem Körper entbunden. Wenn die Bildsprache, in der der leidende und leidenschaftlich bewegte Körper sich ausdrückt, abstumpft, tritt an ihre Stelle ein vom Ethos entkoppeltes visuelles Faszinosum. Das Leiden in den Kriegsbildern der 1990er Jahre, sei es im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, in Tschetschenien oder in den Golfkriegen, wurde weniger als Dokument als vielmehr als effektvolle Ästhetik des Grauens wahrgenommen. Susan Sonntag beklagte den Verlust der Referenz,87 Jean Baudrillard sah darin sogar die empirische Bestätigung seiner Theorie der Simulakren, gemäß der das mediale Ereignis das wahre Geschehen zuerst überholt und letztlich ersetzt habe.88 Solche Diskurse, die sich vom realen Leiden zur pathetischen medialen Aufschrift verschieben, durch die es eher verdrängt als ausgedrückt wird, offenbarten ein prekäres Verhältnis von Ethos und Pathos. Ging in den früheren Ästhetiken das Ethos eine Allianz mit dem Ästhetischen ein, ist es nun das Pathos, entkoppelt vom Ethos, das zu einer neuen „Ästhetik des Schreckens“ erstarrt und die barocken, romantischen und surrealistischen Modelle einer paradoxalen Schönheit der Grausamkeit und des Verfalls fortschreibt.89 Die Medienwissenschaftlerin Marie-Louise Angerer spricht angesichts der Rückkehr des Affektiven in der privaten und der politischen Kommunikation seit den 1990er Jahren sogar von einem emotional turn, der mit der digitalen Revolution einherging.90 Sie beobachtet ein „Begehren nach dem Affekt“ – nach intensivem emotionalem Selbsterlebnis – das die immer größere Kluft zwischen Materiell-Körperlichem und Immateriell-Virtuellem überwinden soll. In der auf das Erlebnis ausgerichteten performativen Affizierungskultur wird dem Pathos nicht nur Unmittelbarkeit und die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung zugeschrieben. Im Pathos artikulieren sich Emotionen nicht nur körperlich, sondern es avanciert vielmehr zu einem Dispositiv, in dem philo87

Sontag, S.: Warten auf Godot in Sarajewo [1993]. In: Dies., Worauf es ankommt. Essays. Aus dem Amerikanischen von J. Trobitius. Frankfurt a.M. 2007, 386-416. 88 Baudrillard, J.: The Trompe l’œil. In: Bryson, N. (ed.): Calligram. Essays on New Art History from France. Cambridge 1988, 53-62; Ders.: No reprieve for Sarajevo. Übers. von P. Riemens. In: url.: http://ctheory.net/ctheory_wp/no-reprieve-for-sarajevo/, 28.09.1994. Ed. A. and M. Kroker (Zugriff: 15.08.2016); Ders.: La photographie ou l’écriture de la lumière: Littéralité de l’image. In: Ders.: L’Echange impossible. Paris 1999, 175-184. 89 Bohrer, K.-H.: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. Frankfurt a.M. 1983; vgl. dazu auch den Beitrag von Heike Winkel in diesem Band. 90 Angerer, M.-L.: Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich u.a. 2007.

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sophische, kunst- und medientheoretische Diskurse mit kognitionspsychologischen, neurobiologischen und kybernetischen verknüpft werden. In jüngster Zeit hat sich die Diskussion um Ethos und Pathos in den Bereich der historischen Anthropologie und Epistemologie, des Rechts und des Politischen verlagert. Michel Foucaults Schriften zur Überwachung und Disziplinierung und ihre weiträumige Rezeption,91 Jacques Derridas Analysen der kulturellen Verhältnisse von Mensch und Tier bzw. von Tierischem im Menschen und von Menschlichem im Tier,92 schließlich Giorgio Agambens Studien zu einer als Gegenpol und Aushöhlung des Politischen verstandenen Biopolitik93 haben eine andauernde Diskussion um den Wert eines jeden Lebens ausgelöst. Vernunftethiken und die damit oft verbundenen Theorien des Gesellschaftsvertrags wurden entweder modifiziert oder gar gänzlich in Frage gestellt.94 In verschiedenen Forschungszweigen von der Literatur- bis zur Kunst- und zu den Medienwissenschaften, von der Philosophie bis zu den empirischen Natur- und Sozialwissenschaften werden Theorien, welche den antiken Pathos-Begriff fortschreiben, gegen Begründungen von Ethos durch rationale Diskurse stark gemacht.95 Eine neue Ethik, die neben Affekt und Empathie teilweise auch religiöse Grundlegungen rehabilitiert, aber zudem vom „nackten Leben“, der Schmerzfähigkeit eines jeden Lebewesens, auch eines Tieres (animal studies) ausging,96 hat den Blick auf die leidende Körperlichkeit als Grundbedingung des Lebens gelenkt.97 Kranke und behinderte Menschen (disability studies)98 sowie die körperliche Vermittlung von Kognition durch Emotionen und Affekte rückten in letzter Zeit in den Vor91

Lemke, Th.: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg/Berlin 1997. 92 Derrida, J.: Das Tier, das ich also bin. Wien 2010; Ders.: Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001-2002. Wien 2015. 93 Agamben, G.: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002; Ders.: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a.M. 2003; Ders.: Ausnahmezustand. Frankfurt a.M. 2004. 94 Rawls, J.: A Theory of Justice. Cambridge/Mass. 1971; Ders.: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a.M. 2003; Nussbaum, M.C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Frankfurt a.M. 2010. 95 Creager, A.N.H./Jordan, W.Ch. (eds.): The Animal/Human Boundary: Historical Perspectives. Rochester 2002; Kalof, L.: Looking at Animals in Human History. London 2007; Brantz, D./Mauch, Ch. (Hrsg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne. Paderborn 2009; Petrus, K./Wild, M. (eds.): Animal Minds & Animal Ethics. Connecting Two Separate Fields. Bielefeld 2013. 96 Heiden, A. von der/Vogel, J. (Hrsg.): Politisch Zoologie. Zürich/Berlin 2007. 97 Nancy, J.-L.: Der Eindringling. Das fremde Herz. Berlin 2000; Ders., Corpus. Berlin 2003; Ders., Noli me tangere. Berlin 2008. 98 Siebers, T.: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung. Bielefeld 2009; Ochsner, B./Grebe, A. (Hrsg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld 2013.

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dergrund. Das Element der Empathie mit dem leidenden Körper, das die auf Autonomie und Freiheitsfähigkeit gründenden Vernunftethiken in den Hintergrund gedrängt hatten, wird in neo-aristotelischen Ethiken, teilweise auch im Anschluss an eine nicht mehr positivistisch eingefärbte NeuroPsychologie, entschieden rehabilitiert.

3. Zu den Beiträgen Ausgehend von diesem breiten kulturgeschichtlichen Hintergrund fragen die Beiträge des Bandes danach, auf welche Weise die Medien des 20. Jahrhunderts das wirkungsästhetische Potenzial von Ethos und Pathos realisieren. Georg Witte betrachtet das Konzept der emotionalen „Ansteckung“, das Lev N. Tolstoj in seinem späten Essay Was ist Kunst? (1897-98) entwickelt hat. Darin wendet sich der Schriftsteller gegen ein rhetorisch-artifizielles Pathos, dem er ein antirhetorisches, durch Leibhaftigkeit geprägtes, entgegenstellt. Dieses konzipiert Tolstoj nicht im Rahmen einer auf Stimulus und Reaktion beruhenden, psychophysisch grundierten Wirkungsästhetik, sondern vor dem Hintergrund eines Modells emotionalen Ausdrucks mittels Kunst, die niedere Gefühle nobilitieren und durch positive überformen soll. In Werken wie Sevastopoler Erzählungen und Krieg und Frieden konterkariert er in diesem Sinne emphatisch glorifizierende Kriegsnarrative, deren nationalen Heroismus er auf verschiedene Arten verfremdet. Das unkontrollierbar Körperliche bringt die Grenzen der Rhetorik zum Vorschein, die ins Lächerliche, Groteske oder Leere gerückt wird. Tolstojs Umgang mit Pathos ist stets reflektiert. Eingeschrieben in die gesellschaftliche Interaktion, wird er von Ritualen bestimmt. Eine Tolstoj entgegengesetzte Ästhetik unreflektierter pathetischer Wirkung verfolgte der Sportverein Falke (Sokol), der eine zentrale Rolle bei der Gründung nationaler sowie transnationaler slavischer Gemeinschaften Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert in Mittel- und Südosteuropa spielte. Die Turnbewegung, die nach dem Vorbild der deutschen Turnerschaften organisiert wurde, rückte den kollektiven, militärisch disziplinierten und ästhetisch wohlgeformten slavischen Körper in den Mittelpunkt, der als eine rassisch-genetische Einheit angesehen wurde. Tomáš Glanc untersucht die Rolle des Pathos beim sportlichen Engagement der Massen, deren körperliche Aktivität in der Öffentlichkeit zu einem theatralischen, beinahe sakralen Akt der Aufopferung für das patriotische Kollektiv umgedeutet wurde. Die medialen Inszenierungen der Turnfeste, zuerst in der Fotografie, später im Film, gingen eng mit der Entwicklung der Massenmedien einher. Eine neue Dimension der Intensivierung des medialen Pathos, die auf emotionale Erschütterung und suggestive, beinahe reflexartige Steuerung des Zuschauers in eine gezielte Richtung setzte, wurde in den Künsten nach der Oktoberrevolution gefördert. Montierte fotografische und filmische

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Aufnahmen sollten nicht nur ergriffene Menschen zum Handeln anhalten, sondern auch eine neue kollektivistische Anschauung, ein proletarisches Ethos formen. Sergej Ėjzenštejn ging es in diesem Kontext um motorische Impulse, die durch die Montage unabweisbarer Assoziationsketten wirksam werden sollten. Das revolutionäre Pathos der Sowjets wurde von den westeuropäischen Avantgarden aufgegriffen, jedoch mit anderen ethischen Inhalten gefüllt. Bernd Stiegler zeigt, wie der Dadaist Raoul Hausmann in seinen späten Fotomontagen der 1930er Jahre zwar mit dem Revolutionspathos seiner russischen Vorbilder kokettiert, ohne sich jedoch deren marxistische Weltsicht anzueignen. Obwohl der nach Ibiza emigrierte Berliner Dadaist das fotografische und filmische Material sowjetischer Künstler, darunter Szenen aus dem Film Erde von Aleksandr Dovženko, in seine Montagen integriert, deutet er in seinen Schriften den technisierten, marxistischen Materialismus doch in einen biologistisch-physiologischen um. Das sowjetische Pathos wird vom proletarischen Ethos entkoppelt und in ein bodenständiges, erdverwurzeltes transformiert. Mit dem Kanon des sozialistischen Realismus hat sich in den 1930er Jahren auch in der Sowjetunion eine neue Form gemäßigter, medialer Emotionalität durchgesetzt. Ekstatische Revolutionsaufrufe wichen Glorifizierungen der neuen politisch-sozialen Ordnung. Das kämpferische Pathos des Umsturzes wich der Verherrlichung des Anführers. Diese Veränderung erfasste nicht nur die visuellen Medien, sondern auch die mündliche und schriftliche Kultur. Igor’ P. Smirnov arbeitet am Beispiel von Jurij Olešas metapoetischem Roman Neid (1927) den Bruch zwischen der vorrevolutionären, vermeintlich lasterhaften Gesellschaft und dem postrevolutionären, „neuen Menschen“ heraus. Während sich die alte, von Emotionen beherrschte, egoistische Generation leidenschaftlich ihren Gelüsten, insbesondere dem Neid, hingibt, überwiegt in der neuen, kollektivistisch-altruistischen das rationale Ethos. Der technische Fortschritt folgt einer entsprechenden Distribution der Tugenden. Hat die alte Generation zerstörerische Maschinen zusammenmontiert, konstruiert die neue nützliche, dem kollektiven Wohlstand dienende. Dmitri Zakharine untersucht die Fortwirkung antiker Konzepte, durch die der Gegensatz eines auf Mäßigung beruhenden Ethos und stark affektiver Rhetorik in die psychosoziale Stimmmodellierung der elektroakustischen Medien hineingetragen wird. Trotz des in Ost und West parallel verlaufenden technischen Fortschritts beobachtet er bedeutungsvolle, von sozialen und kulturellen Differenzen zeugende Unterschiede. Während das Radio und der Tonfilm im Westen in der Tradition der römischen Eloquenz standen, die vom rhetorisch kultivierten Bürgertum getragen wurde, wurden diese Medien in der Sowjetunion durch die antirhetorische Tradition der apophatischen Orthodoxie und durch die bäuerlich-proletarische Bevölkerung dominiert. Die Unterschiede manifestierten sich nicht nur in der Distribution von männlichen und weiblichen Stimmen sowie in der Wechselwirkung zwischen

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schriftlicher und oraler Kultur, sondern auch in der Demonstration von Macht. So wurde in der Sowjetunion der lauteren, niedrigeren männlichen Stimme, die mit Stärke assoziiert wurde, Vorrang vor der leiseren und höheren weiblichen gegeben. Die besser kontrollierbare Schriftkultur dominierte zudem das orale Medium. Stalin, der einen starken georgischen Akzent hatte, wurde durch einen professionellen Sprecher, Jurij Levitan, vertreten, der durch die metallische Färbung seiner Stimme allen Meldungen einen besonderen Nachdruck verlieh. Die Stimmen politischer „Verräter“ wurden dagegen als dumpf inszeniert. Die sowjetische und die deutsche Radiokultur näherten einander während der Nazi-Zeit an. In der nationalsozialistischen Radiopropaganda wurden die Stimmen von der Front mit technischen, die der Juden mit animalisch anmutenden Soundeffekten unterlegt. Anders verhielt sich die Radiokultur in den Vereinigten Staaten von Amerika. Isabell Otto widmet sich in ihrem Beitrag „Der sanfte Zwang der Persuasion“ der Überredungskraft der Schauspielerin und Sängerin Kate Smith beim Aufruf zum Kauf von Kriegsanleihen am 21. September 1943. In einem 16-stündigen, penetranten Radiomarathon gelang es dem Star, der bereits durch Filmrollen und das Lied „God Bless Amerika“ die patriotische Amerikanerin verkörperte, mittels ihrer emotionalen Rede und des schon durch die erstaunliche Ausdauer bezeugten, persönlichen Altruismus eine außerordentliche Überzeugungskraft zu entwickeln, in der Ethos und Pathos miteinander verschmelzen. Mit der Verlagerung der Front ins Innere der Sowjetunion und der Belagerung von Leningrad und Stalingrad wurde das Zusammenspiel von Ethos und Pathos in der Sowjetunion grundlegend verändert. Evgeny Dobrenko führt anhand von literarischen und bildkünstlerischen Beispielen vor, wie die gemäßigteren Tonlagen des sozialistischen Realismus während des als „Großen Vaterländischen Krieg“ bezeichneten Zweiten Weltkriegs aufgegeben wurden, um gegen den Aggressor starke Emotionen und Affekte zu mobilisieren. Das in den 1930er Jahren steril gewordene, ritualisierte Pathos des sozialistischen Realismus wurde durch eine neue Ästhetik der Grausamkeit abgelöst. Man zeigte Folterungen, Verstümmelungen und Morde von Frauen und Kindern, und appellierte an den sowjetischen Leser und Zuschauer, aktiv in den Kampf einzugreifen, um die Hilflosen zu rächen. Hatte die Vorkriegsliteratur und -kunst fleißige, zufriedene und im Wohlstand lebende „neue Menschen“ gezeigt, wurde nun exzessive Gewalt präsentiert. Der Erzähler übernimmt dabei die Funktion des Zeugen, der das Gesehene beglaubigt. Eine zentrale Rolle spielte dabei die fotografische Nahaufnahme des gefolterten, öffentlich hingerichteten und anschließend den Blicken preisgegebenen entblößten Körpers der Partisanin Zoja Kosmodemjanskaja, deren erotisierte Nacktheit an die düstere Ästhetik des schönen Leichnams im 19. Jahrhundert erinnert.

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Mark Lipovetsky geht der Kriegsrhetorik in Aleksandr Fadeevs Kriegsroman Die junge Garde (1943-45) nach, der mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet wurde und einen großen Erfolg beim breiten Lesepublikum erzielte. In ihm griff der Autor das sentimentalistisch-romantische Modell der Leidensbereitschaft und Selbstaufopferung auf und schuf einen neuen, mit aristokratischen Zügen ausgestatteten, proletarischen Menschen, der sich von den animalischen, degenerierten Nazi-Soldaten ethisch abhebt. Durch seine körperliche Schönheit und seine ethische Überlegenheit bildet er den sowjetischen Widerpart zum nationalsozialistischen Übermenschen. Doch sein Ziel war nicht ein besseres Leben, sondern Selbstaufopferung bis in den Tod. Erst durch die Entäußerung im Tod durch Folter wird das sowjetische Ethos sakralisiert. Als der Krieg vorbei war, kehrten die sowjetischen Künste wieder zur alten Ästhetik des sozialistischen Realismus zurück, die auf Ritualisierung und die Stereotypisierung des heiteren Glücks ausgerichtet war. Dies zeigt sich auch in der Rezeption des Romans und seiner Überarbeitung durch den Autor im Jahre 1951, durch die er auf Kritiken reagierte. In den verschiedenen Stadien lässt sich die Rückkehr zum alten Kanon des sozialistischen Realismus exemplarisch verfolgen. Während in der ersten Version eine Gruppe Jugendlicher selbstständig eine Untergrundorganisation gegen die Nazi-Okkupation in den Kampf führt, wird sie in der zweiten von einem alten, erfahrenen Parteifunktionär angeleitet. Mit dieser Revision werden Ansprüche der jungen Generation auf Reformen zurückgewiesen und der autoritäre Kanon der Väter wieder hergestellt. Susi K. Frank verfolgt die Pathosformel der toten Mutter mit dem noch lebenden Säugling an der Brust, die seit der Antike bis ins 20. und 21. Jahrhundert als Pathosformel für Krieg, Genozid und ethnische Säuberung steht. Als solche ließ sie sich nur in modifizierter Form – wie etwa durch die angedeutete Rettung des Kindes – in die heroisierende Ästhetik des sozialistischen Realismus einbinden. Ihre Hochkonjunktur hatte sie in der Sowjetunion während des Großen Vaterländischen Krieges, um das Leiden der Zivilisten im belagerten Leningrad vor Augen zu führen. Den Vorzug hatten optimistisch konnotierte Darstellungen stillender Mütter nach dem Vorbild von Madonna-Darstellungen. Mütter mit toten Kindern auf den Armen modifizierten den ikonografischen Typus der Pietà. Während sie für die Nachkommenschaft sorgen bzw. wenigstens auf erneute Mutterschaft hoffen lassen, steht die tote Mutter allegorisch für das Versiegen der Fruchtbarkeit. Wie Frank feststellt, erscheint die tote Mutter in der Literatur oft in der Form der Ekphrasis, wodurch sich ihr bildlicher, auf Evidenz beruhender Charakter offenbart. Einen letzten Höhe- und Wendepunkt erreicht das kriegerische Pathos in den späten Schriften Ėjzenštejns über die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki. Natascha Drubek verfolgt die Entwicklung seiner Theorie von den 1920er Jahren, als die Pathoserzeugung durch die Filmmontage im Vorder-

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grund stand, bis in die 1940er Jahre, als der Regisseur in der Verwandlung der Materie durch die Explosivkraft der Atombombe den höchsten Pathosausdruck sieht, vergleichbar mit der Transsubstantiation. Ein frühes Beispiel dieses der Religion entlehnten Konzepts ist die maschinelle Gewinnung von Sahne aus Milch im Film Das Alte und das Neue (1926-29). In der Nachkriegszeit ersetzt Ėjzenštejn die religiöse Fundierung des Pathos durch Friedrich Engels’ Schrift Dialektik der Natur und erklärt die Kernfusion zur höchsten pathetischen Form, die den evolutionären Gang der Natur durch einen Sprung überholt. Ein völlig anderes Pathos-Konzept als Ėjzenštejn entwickelt der deutsche Regisseur Werner Herzog. Beate Ochsner vergleicht beide filmischen Strategien miteinander. Während Ėjzenštejn kollektiven, explosiven Ausbruch inszeniert, hält der deutsche Regisseur die Ausdruckshandlung durch das Aussetzen der Narration und die Zeitlupe auf, bevor er sie mittels Musik und literarischer Zitate dem Raum und der Zeit enthebt, sie in Ekstase oder Mythos erstarren lässt und schließlich im Scheitern monomanischer Einzelgängerfiguren aufhebt. An die Stelle der Affizierbarkeit durch Pathos tritt Reflexion, bisweilen gar Parodie. Stets bewegt sich Herzog zwischen dem romantischen Pathos des Gesamtkunstwerks und postmodernem Antipathos. Mit zunehmender Entfernung von der unmittelbaren Erfahrung des Krieges – sowie der Lager und des Gulags – änderte sich auch die Konfiguration von Ethos und Pathos. Renate Lachmann analysiert unterschiedliche rhetorische Strategien der Pathoserzeugung in der Literatur der 1970er Jahre, die sich mit dem Gedächtnis des Gulags in der ersten und der zweiten Generation auseinandersetzt. Während die Generation der Mitleidenden ihre Erlebnisse eher in dokumentierend-autobiographischen Berichten schildert, distanziert sich die nachfolgende von den lückenhaften, zensierten Dokumenten und setzt auf Imagination und Fiktion als Mittel der Vergegenwärtigung sowie der ästhetischen Bewältigung des Traumas. Beide rhetorischen Haltungen werden anhand von Karl Steiners 7000 Tage in Sibirien (1975) und Danilo Kiš’ Ein Grabmal für Boris Davidovič (1976) miteinander konfrontiert. Obwohl Steiner seine Erinnerungen als nüchterne Gedächtnisprotokolle gestaltet, während Kiš sich durch Imagination vom Faktum entfernt, lassen sich diese zwei Texte nicht als ethisch-angemessen bzw. als pathetisch-übertreibend gegenüberstellen. Beide Autoren erzeugen durch unterschiedliche narrative Strategien pathetische Effekte – Steiner durch die monotone, unbeugsame Wiederholung, Kiš durch die Ekplesis, den Zustand des Außer-sich-Seins. In beiden Fällen äußert sich die Rebellion gegen das Schreckenssystem in einer exaltierten Körperlichkeit, in beiden wird die literarische Poetik in eine Ethos erzeugende Po-Ethik transformiert. Sabine Hänsgen und Gudrun Heidemann demonstrieren in ihren Beiträgen, wie in postmodernen literarisch-visuellen Auseinandersetzungen mit dem Zweiten Weltkrieg dessen rhetorisch-mediale Machart mitreflektiert

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wird. Hänsgen analysiert in ihrem Beitrag über Aleksandr Sokurovs Film Wir lesen das Blockadebuch (2009) eine radiophone Performance von Tagebuchtexten eingekesselter Leningrader aus Ales’ Adamovičs und Daniil Granins Blockadebuch. Die Texte werden von verschiedenen, professionellen und nicht professionellen Lesern unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Berufs vorgetragen. Der Regisseur verzichtet auf filmische Pathoseffekte, die er durch die minimalistischen, statischen Großaufnahmen der Lesenden im Radiostudio ersetzt. Das „Minus-Pathos“ offenbart seine ethische Dimension, wenn es früheren sowjetischen Filmen über die Blockade Leningrads wie Michail Eršovs Blockade (1974-77) gegenübergestellt wird. Im Gegensatz zu Sokurov erzählt Eršov im monumentalen, bombastischen „großen Stil“ der Brežnev-Ära Schicksale der Eingeschlossenen mithilfe von Pathosformeln aus der sakralen Ikonografie, die von zahlreichen visuellen und Toneffekten begleitet werden. Während Eršovs effektvolle Bilder den Krieg heroisieren, erzeugt Sokurov durch minimale Regungen der Gesichter in Großaufnahmen und durch die metonymische Übertragung der Gefühle auf eine vom Regen nasse Fensterscheibe ethische Anteilnahme. Heidemann widmet sich dem Umgang mit fotografischen Zeugnissen in den Romanen Spione (2000) von Marcel Beyer und Mercedes-Benz (2001) von Paweł Huelle. Deren Hinterfragung und Ergänzung sowie imaginäre Perspektivenwechsel laden die Fotos mit emotiver Bedeutung auf, die sie alleine nicht erzeugen könnten. Kriminalistisch-archäologische Spurensuche und die intermediale Fortschreibung des Verborgenen erweitern die Bilder um eine ethische Dimension, die ansonsten unsichtbar bliebe. Stephen Lovell umreißt die Entwicklung der sowjetischen Radio-Rhetorik vom Kriegsende bis in die 1960er Jahre, die zwischen dem Wunsch nach größerer Authentizität und der ideologischen Überwachung gespalten war. Um ein kollektives sowjetisches Ethos nach Parteidirektiven zu gestalten, bediente man sich genauer, schriftlich vorgelegter Regieanweisungen und bürokratischer Sprache, angereichert mit ideologischen Floskeln und statistischen Fakten, die dem individuellen Pathos entgegenstanden. Der langsame technische Fortschritt bei der Herstellung von qualitätsvollen Magnetophonbändern war ein Hindernis bei der Erzeugung von rhetorischer Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft. Erst in den späten 1950er Jahren gelang es, durch die allmähliche Abkehr von vorgegebenen Skripten, die Zulassung dialektaler Unterschiede und durch bessere Aufnahmen, mehr Spontaneität und Emotionalität einzubringen. Konstantin Kaminskij gibt anhand von sowjetischen Filmen einen Überblick über den Diskurs über Wissenschaft von der Stalin-Zeit bis zur Perestrojka. In der frühen Wissenschaftsrhetorik, die dem barocken Vorbild des Herrscherlobes folgte, wurden Stalins Schriften als Inspirationsquelle aller Wissenschaften gepriesen. Das Wissenschaftsethos wurde an das patriotische,

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antiwestliche Pathos geknüpft. In der Tauwetter-Periode, verstärkt seit der Perestojka, wurden die bürokratischen Parteieliten zunehmend in Frage gestellt. Das rhetorische Pathos wurde durch das des Erleidens, des Martyriums für die Wissenschaft ersetzt. Auch im sowjetischen Satellitenstaat der Deutschen Demokratischen Republik musste jeder Leidenschaftsausdruck den vorgegebenen Stereotypen untergeordnet werden. Wenn der ethische Anspruch des sozialistischen Kollektivs in der moralischen Gestaltung des Helden nicht überwog, wie bei dem Hauptprotagonisten im DEFA-Film Spur der Steine (1966), griff die Zensur ein. Heiko Hausendorf untersucht aus linguistischer Perspektive die kommunikative Situation, in der das kollektive Ethos und das individuelle Pathos in Widerspruch zueinander geraten. Obwohl der engagierte Parteisekretär Horrath auf der Baustelle große Erfolge feiert, wird ihm als verheiratetem Mann die verborgene Beziehung zu seiner Geliebten zum Verhängnis. Weil sein Privatleben nicht im Einklang mit dem sozialistischen Kollektiv steht, wird er nicht nur aus der Partei ausgeschlossen, sondern auch von beiden Frauen verlassen. Fügt sich das Sujet bis zu diesem Punkt nahtlos in die DDR-Ethik ein, deutet das Filmende dennoch Skepsis gegenüber der öffentlichen Anprangerung an. Indem der Ankläger am Ende das Anklageprotokoll zerreißt, stellt er zugleich das DDR-Ethos in Frage. Diese bedeutungsvolle Schlussszene, die sich gegen die Schriftkultur des Machtsystems wendet, führte dazu, dass der Film unmittelbar nach der Vorführung wieder aus dem Programm genommen und verboten wurde. Während der Film Spur der Steine die sozialistische DDR herausforderte, hat ein nur wenige Male aufgeführtes Theaterstück des Regisseurs Kazimierz Dejmek im Jahre 1968 sogar antisowjetische Proteste von Studenten und Intellektuellen ausgelöst. Schamma Schahadat untersucht die Transformation von individuellem Pathos in kollektives Ethos anhand der Aufführung des Mysteriendramas Dziady, das der romantische Dichter Adam Mickiewicz anlässlich der Verfolgung patriotischer, polnisch-litauischer Studenten durch die russische Geheimpolizei im Jahre 1823 verfasst hatte. Das romantische Werk, in dem das Leiden im geteilten Polen die Dimension einer kosmischen Psychomachie von Himmel und Hölle annimmt, hat unter den Bedingungen der sowjetischen Nachkriegsbesatzung sogar Revolten ausgelöst. Die polnischen Teilungen, die bereits im 19. Jahrhundert im Wechselspiel zwischen Politik und Literatur immer wieder beklagt und in polnischen Aufständen bekämpft worden waren, konnten nicht in den Rahmen des fiktionalen Theaters gebannt werden. So wirkte die Fiktion bereits nach wenigen Aufführungen ins Leben hinein – sie löste bei den intellektuellen Zuschauern die Bereitschaft zu erneuter Revolte aus. Davor Beganović zeigt in seinem Beitrag über die serbische Body-ArtKünstlerin Marina Abramović, wie diese durch ihr selbst auferlegtes Marty-

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rium die Zuschauer aus einer habituell passiven, voyeuristischen Haltung aufrüttelt und zur Aktion aufruft. Die Einladung an die Betrachter, über ihren Körper frei zu verfügen oder aber schmerzhaften, selbst zugefügten Verletzungen tatenlos zuzuschauen, fordert diese zu ethischen Antworthandlungen heraus. In ihren Aktionen bringt die Künstlerin das Publikum teils dazu, ihr Gewalt anzutun, oder aber im Gegenteil, einzuschreiten und sie zu schützen. In jedem Fall erkennt der Betrachter die Fragilität des menschlichen Körpers und dessen Bedrohung durch die kommunikative Situation, an der er teilhat. Abramović scheut nicht davor zurück, juristisch problematische Situationen auf den Plan zu rufen, in denen dem Zuschauer die Ausübung von Gewalt oder aber unterlassene Hilfeleistung angelastet werden können. Ein Übermaß an Pathos provoziert hier regelmäßig ein ebenso großes Ausmaß an Ethos. Eine im Vergleich zur body art weniger radikale, aber nicht weniger wirksame Infragestellung der Position des Künstlers untersucht Sven Spieker anhand des künstlerischen Genres der lecture performance, das sich an der Grenze zwischen parasitärer Reproduktion, Vermittlung und Kritik ansiedelt. Der Autor unterscheidet zwischen dem stärker ethisch fordernden Unterricht (teaching) und der an Pathos appellierenden Bildung (edifying), wobei die lecture performance der zweiten zugeschlagen wird. Am Beispiel der Performance 21.3 (Minutes) von Robert Morris, der einen Vortrag Erwin Panovskys über Ikonologie reproduziert, wird gezeigt, wie es dem amerikanischen Künstler gelingt, eine neue, kritische Perspektive auf die Kunstgeschichte zu werfen. Die Performance Piet Mondrian 63-96 des serbischen Künstlers Goran Djordjević, der unter dem Namen Walter Benjamin auftritt, stellt die abstrakten Errungenschaften der westlichen Moderne vor der Folie des sozialistischen Realismus sowie der Neo- und Retroavantgarden in Osteuropa zur Diskussion. In beiden Fällen wird das Ethos des ursprünglichen Textes historisiert und auf seinen Wert in unterschiedlichen politisch-kulturellen Räumen hin befragt. In der neuen russischen Literatur der Putin-Ära wird Affekt auslösende Gewalt zwar immer wieder in Szene gesetzt, kann dabei jedoch keine ethischen Impulse auslösen. Heike Winkel untersucht das Phänomen einer vollständigen Entkopplung von Leiden und Ethos. Anhand ausgewählter Romane von Sergej Minaev, Natan Dubovickij und Zachar Prilepin demonstriert sie, dass jegliches Ethos durch den gleichgültigen Zynismus – in der Tradition des romantischen „überflüssigen“ Menschen – abgelöst wird. Vor der glamourösen Konsumkulisse des postsozialistischen Russland wird das trostlose, dekadente Leben ohne jegliche ethische Werte vorgeführt. Das Pathos des Leidens unter der permanent ausgeübten Gewalt der mafiaähnlichen, oligarchischen Strukturen wendet sich nicht in einer aristotelischen Katharsis in die Bereitschaft, die Dinge zum Guten wenden zu wollen, sondern in die Auflösung der Gemeinschaften, in Gleichgültigkeit und Ziellosigkeit.

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Riccardo Nicolosi und Tanja Zimmermann

4. Zum Passanten am Denkmal in Magnitogorsk Das Umschlagbild des Bandes, den der Leser gerade in seinen Händen hält, zeigt die Silhouetten zweier großer Männer, die, einander zugewandt, gemeinsam ein Schwert wie in Anbetung hoch über die Köpfe heben – als wäre es ein sowjetisches Excalibur. Es handelt sich um das Denkmal Das Hinterland hilft der Front (Tyl – frontu, 1979) im Park des Sieges in Magnitogorsk, der „Stadt am magnetischen Berg“ in der Provinz Tscheljabinsk in der Russischen Föderation. Das Monument Evgenij Vučetičs, der bereits 1949 das Ehrenmal für sowjetische Soldaten in Berlin Treptow und 1967 das monumentale Skulpturenensemble mit der Mutter Heimat ruft (Rodina-mat’!) auf dem Hügel „Mamaev Kurgan“ bei Stalingrad gestaltet hatte, versuchte Ende der 1970er Jahre in Magnitogorsk noch einmal Ethos und Pathos des inzwischen doch stark gealterten sozialistischen Helden aufzurufen. Doch Ethos und Pathos zeigen sich nicht nur in der überdimensionalen Größe des Denkmals, sondern auch in einem verborgenen, auf den ersten Blick unsichtbaren Detail. Die an der Statue sitzenden oder an sie angelehnten Passanten stellen die physische Größe des Denkmals, aber auch sein hohles Pathos heraus. Vielleicht wird in dieser Re-Dimensionierung gerade ein neues Ethos vermittelt. Einer der Passanten, die am Denkmal verweilen, ist für seine umfangreiche Forschung bekannt, die er der Macht der Medien (Radio, Film und Fernsehen)99 sowie der Medialisierung des Körpers100 in der Sowjetunion 99

Drubek-Meyer, N./Murašov, Ju. (Hrsg.): Apparatur und Rhapsodie. Zu den Filmen Dziga Vertovs. Frankfurt a.M. u.a. 2000; Murašov, Ju./Witte, G. (Hrsg.): Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. München 2003; Drubek-Meyer, N./Murašov, Ju. (Hrsg.): Das Zeit-Bild im osteuropäischen Film nach 1945. Köln/Weimar 2010; Murašov, Ju.: Vostok, Radio, Džambul. In: Ders. u.a. (Hrsg.): Džambul Džabaev: Priključenija kazachskogo akyna v sovetskoj strane. Moskau 2013, 131-170; Ders.: The Birth of Socialist Realism out of Spirit of Radiophonia. Maksim Gorky’s Project ‚Literaturnaja ucheba‘. In: Postoutenko, K. (Hrsg.): Totalitarian Communication. Hierarchies, Codes and Messages. Bielefeld 2010, 177-196; Ders.: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Murašov/ Witte (Hrsg.), Musen der Macht, 81-112; Ders.: TV and the End of Grammar-based Politics: Tuđman und Izetbegović. In: Zimmermann, T. (Hrsg.): Balkan Memories. Bielefeld 2012, 227-232. 100 Murašov, Ju.: ‚Hier hat die Hand das Auge überholt.‘ Zur Körperlichkeit des filmischen Zeit-Bildes in Dušan Makavejevs ‚Der Mensch ist kein Vogel‘. In: DrubekMeyer/Murašov (Hrsg.), Das Zeit-Bild, 105-131; Ders.: Preparirovannoe telo. K medializacii tel v russkoj i sovetskoj kul’ture. In: Ders. u.a. (Hrsg.): Russkaja literatura i medicina. Moskau 2006, 221-227; Ders.: Das tastende Auge des Eros. Zur Medialisierung der Liebe in Vl. Nabokovs Lolita. In: Schreibheft 50 (1997), 219-224; Ders.: Schauen, ohne zu sehen. Verbalität und Visualität in Il’ja Kabakovs Alben („Voknogljadjaščij Archipov“). In: Witte, G./Goller, M. (Hrsg.): Minimalismus. Zwischen Exzess und Leere. Wien 2001, 477-519; Ders.: Slepye geroi – slepye zriteli. O statuse zrenija i slova v sovetskom kino. In: Balina, M. u.a. (Hrsg.): Sovetskoe bogatstvo. St.

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und im ehemaligen Jugoslawien gewidmet hat. Mit dem Pathos setzte er sich auch in seiner Monographie Im Zeichen des Dionysos101 und in zahlreichen Arbeiten über die Schrift auseinander.102 Ethos, verstanden als Ausdruck der Beständigkeit, aber auch als Unterdrückung des Gefühls, ist Gegenstand seiner zahlreichen Schriften über Zahlen und das Kalkül.103 Diesem Wandler zwischen den Kulturen in Ost und West, mit dem wir – HerausgeberInnen und AutorInnen – kollegial und freundschaftlich verbunden sind und der viele der hier gesammelten Beiträge mittelbar oder unmittelbar inspiriert hat, widmen wir diesen Band.

Petersburg 2002, 412-426; Ders.: Die Entstehung des Neuen Menschen aus dem Geiste der Automation. Zur Medialisierung des Körpers im Werk des Karel Čapek. In: Wiener Slawistischer Almanach 57 (2006), 231-241. 101 Murašov, Ju.: Im Namen des Dionysos. Zur Mythopoetik im russischen Symbolismus am Beispiel von Vjačeslav Ivanov. München 1999. 102 Murašov, Ju.: Das unheimliche Auge der Schrift. Mediologische Analysen zu Literatur, Film und Kunst in Russland. Paderborn (im Erscheinen); Ders./Liptak, T. (Hrsg.): Schrift und Macht. Köln/Weimar 2012; Murašov, Ju.: Orthographie und Karneval. Nikolaj Gogol’s schizoides Schriftverständnis. In: Wiener Slawistischer Almanach 39 (1997), 85-105; Ders.: Das unheimliche Auge der Schrift. Zur Mediologie des literarischen Erzählens in der russischen Kultur des 19. Jahrhunderts (Gogol’, Tolstoj, Šklovskij). In: Poetica 46/1-2 (2015), 239-275; Ders.: Schrift unter Verdacht. Zur inszenierten Mündlichkeit in den sowjetischen Schauprozessen der 30er Jahre. In: Arnold, S. u.a. (Hrsg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Wien 1998, 83-94; Ders.: Schrift und Geschlecht. Zur medialen Pragmatik des Briefmotivs in A. Puškins Evgenij Onegin. In: Die Welt der Slawen 43 (1998), 175-188; Ders.: Das Recht der Sprache und die Schuld der Schrift. Zur Gerichtsszene in Dostoevskijs Roman Die Brüder Karamazov. In: Greber, E. u.a. (Hrsg.): Gedächtnis und Phantasma. München 2001, 482-498; Ders.: Sowjetisches Ethos und radiofizierte Schrift. Radio, Literatur und die Entgrenzung des Politischen in den frühen dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur. In: Frevert, U./Braungart, W. (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Göttingen 2004, 217-245; Ders.: Bücher, Macht, Häresie. Zu den kulturellen Konsequenzen der Typographie in Russland zwischen 1490 und 1584. In: PietrowEnnker, B. (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands und der Sowjetunion: Identitäten, Räume, Lebenswelten. Göttingen 2007, 107-127. 103 Murašov, Ju.: Pustoslovie. Antiökonomien des Erzählens in Saltykov-Ščedrins Gospoda Golovlevy. In: Wiener Slawistischer Almanach 73 (2014), 189-218; Ders.: Irdischer Sinnmangel und göttliche Ökonomie. Wirtschaft, Schrift und Ethik in orthodoxen Heiligenviten. In: Schmidt, U./ Guski, A. (Hrsg.): Literatur und Kommerz. Zürich 2004, 293-328; Ders.: Von der Sprache des Geldes zur Schrift der Assignaten. Prolegomena zu einer russischen Mediengeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Weitlaner, W. (Hrsg.): Kultur - Sprache - Ökonomie. Wien 2001, 7-29.

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Kritik und Faszination des Pathos Überlegungen zu Lev Tolstoj Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen wirkungsästhetische Aspekte des Erzählens und hier vor allem dessen emotive Einwirkungspotentiale und die Frage der Affektmobilisierung und Affektsteuerung mittels narrativer Techniken. Nach einigen Bemerkungen allgemeiner Art über emotionale Wirkungsaspekte des Erzählens und die Rolle des Pathos folgt ein Kommentar zu Tolstojs Konzept der emotionalen „Ansteckung“ (zaraženie). Tolstoj entwickelt das Konzept in seinem Essay Čto takoe iskusstvo (Was ist Kunst?, 1897/98) – also erst relativ spät, nachdem das erzählerische Œuvre zu großen Teilen abgeschlossen war. Anschließend werden Figuren narrativer Pathoszerstörung bei Tolstoj am Beispiel des Romans Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1868/69) und einiger Kriegserzählungen behandelt. Es folgt ein Kommentar zu Tolstojs Legitimation eines außerrhetorischen Pathos, dies v.a. am Beispiel von Krejcerova sonata (Die Kreutzersonate, 1891) und Otec Sergij (Vater Sergij, 1890-98/1911). Die Frage ist, wie eine maximal affizierende Wirkungsästhetik bei Tolstoj in der Auseinandersetzung mit Pathos entsteht. Verfemung eines rhetorischen Pathos, verstanden als artifizielles Pathos, und Lizenzierung eines antirhetorischen und ‚leibhaftigen‘ Pathos sind die beiden konfligierenden Linien in dieser Auseinandersetzung.

1. Emotionen der Fiktion Die emotionale Involvierung des Rezipienten narrativer Fiktion verläuft auf drei sich wechselseitig durchdringenden Ebenen: a) der unmittelbaren emotionalen Bezugnahme auf die Schicksale, Handlungsziele, Wünsche und Vorstellungen der Protagonisten; b) dem selbst-affizierenden Vergnügen des Beobachtens; c) der ästhetisch-evaluativen Einstellung gegenüber der künstlerischen Qualität der Geschichte und ihrer verbalen Präsentation. Auch diese ästhetische Bewertung hat, neben den kognitiven, emotionale Implikationen. Das gilt nicht nur für die basale Unterscheidung von ‚Gefallen‘ vs. ‚Nichtgefallen‘, sondern auch für spezifische ästhetische Emotionstypen wie ‚Faszination‘, ‚Rührung‘, ‚Bewegtsein‘, ‚Verzaubertsein‘, ‚Hingerissensein‘. Die Mehrschichtigkeit ist bedingt durch die Gleichzeitigkeit von Immersion in die fiktiven Welten, Bewusstsein von deren Künstlichkeit und ästhe-

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tischem Gefallen an der Artifizialität und medialen Spezifik der Darbietung. Dieser reziproke Bedingungszusammenhang von Immersion und medialer Aufmerksamkeit ist als die eigentliche Grundlage der ästhetischen Lust an Fiktion zu verstehen. Falsch hingegen wäre es, das Bewusstsein des Gemachtseins und die emotionale Involvierung des Rezipienten in ein Konkurrenzverhältnis zu stellen. Ein reduktionistisches Formalismusverständnis könnte solche Dualismen nahelegen. Ebenso beschränkt aber bliebe eine Erklärung des wirkungsästhetischen Zusammenwirkens beider Faktoren, die eine maximale Affizierung des Rezipienten zwar ausdrücklich an die Bedingung der künstlerischen Form knüpft, Letztere jedoch als dem emotional involvierten Rezipienten nicht bewusst werdende – zumindest im aktuellen Moment der Rezeption – versteht. Hingegen gilt es, Artifizialitätsaufmerksamkeit und affektive Wirkung als wechselseitigen Bedingungszusammenhang zu begreifen. Neuere Immersionstheorien haben das akzentuiert.1 Auch evolutionstheoretische Erklärungen ästhetischen (und im engeren Sinne fiktionalen) Verhaltens, die seit einigen Jahren von Literaturwissenschaftlern aufgegriffen werden,2 liefern interessante Argumente für die Erklärung dieses Zusammenhangs. Protofiktionale Verhaltensformen wie das pretend play werden als neurokognitive evolutionäre Adaptionen diskutiert (spielgeschütztes Training für reale Gefahrensituationen, Entwicklung von agency-Kompetenz, Verstehen und Bewerten von Ereignissen und Ereignissequenzen), als Impulse des Bewusstwerdens von Fremdintentionalität und Fremdperspektiven (theory of mind, sharing of attention) und als gruppenselektiv relevante Frühformen sozialer Kontrolle.3 Vor allem aber scheint mir die von John Tooby und Leda Cosmides herausgestellte Eignung fiktionaler Praxis für die Entwicklung unserer Fähigkeit zu Metarepräsentationen relevant für den skizzierten Zusammenhang.4 Unsere Lust an unwahren Geschichten, die man ja aus evolutionsbiologischer Perspektive zunächst einmal eher als kontraproduktiv einschätzen würde, nämlich als Beeinträchtigung informativer Genauigkeit, einer Überlebensbedingung innerhalb einer gefahrenreichen Umwelt, gewinnt ihre evolutionäre Funktion mit der 1

Ryan, M.-L.: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore 2001; Voss, Ch.: Fiktionale Immersion. In: Koch, G./Voss, Ch. (Hrsg.): Es ist, als ob. Fiktionalität in Philosophie, Film und Medienwissenschaft. München 2009, 127-139. 2 Boyd, B.: On the Origin of Stories. Evolution, Cognition, and Fiction. Cambridge (Mass.)/London 2009; Zunshine, L.: Why We Read Fiction. Theory of Mind and the Novel. Ohio 2006. 3 Flesch, W.: Comeuppance. Costly Signaling, Altruistic Punishment and Other Biological Components of Fiction. Cambridge (Mass.)/London 2007. 4 Tooby, J./Cosmides, L.: Does beauty build adapted minds? Toward an evolutionary theory of aesthetics, fiction and the arts. In: SubStance 30, 1/2 (2001), Issue 94/95 (On the Origin of Fictions), 6-27.

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wachsenden Notwendigkeit, Repräsentationen zu „entkoppeln“, d.h. die relative und okkasionelle Relevanz von Informationen zu bestimmen. Wir lernen zu unterscheiden, wer, wann und unter welchen Absichten zu uns spricht. Der Mensch hat nicht zuletzt durch fiktionale Praxis die Fähigkeit entwickelt, Informationen auf ihre zeitlich und örtlich begrenzte Wahrheit hin zu relativieren. Wo ist nun der Ort des Pathos in diesem Zusammenhang? Pathos in den antiken Rhetoriklehren und Poetiken ist Affekterregung, oft verstanden als überwältigende Affektwirkung der Rede und des Kunstwerks. Diese dominierende Verwendungsweise des Begriffs ist besonders geprägt durch die lateinischen Rhetoriken (affectus concitati). Das Überwältigende der Affektwirkung impliziert die momentane Ausschaltung oder extreme Abschwächung kognitiv distanzierter Formen der Rezeption: sei es des formkognitivistischen ästhetischen Urteils, sei es der ideologischen, moralischen, pragmatischen Wertung von Handlungen und Gedanken der Protagonisten, von Werksinn, Autorenintentionen. Das Paradoxon des rhetorischen Pathos besteht darin, einerseits hochgradig artifiziell zu sein, andererseits eine alle Künstlichkeit und Bedingtheit niederreißende oder fortflutende Affekterregung des Redners vorzutäuschen. Der ‚simulative‘ und der ‚stimulative‘ Ursprung des Pathos sind also nicht trennscharf zu unterscheiden.5 Pathos manipuliert Rede zwecks der Verleugnung dieser Manipulation. Pathos und fiktionale Immersion stehen also in einem prekären Verhältnis zueinander: Pathos kann und soll die Intensität der emotionalen Involvierung des Rezipienten steigern. Es soll ihn betroffen machen, außer sich geraten lassen, schockieren. Zugleich aber unterliegt es, obgleich auf momentane Affektkulmination gerichtet, der Zeitdynamik fiktionaler Immersionsabläufe, die sich über die lange Strecke beweglicher Werteinstellungen des Rezipienten und über das oben skizzierte Wechselspiel aus affektiver Involvierung und Metarepräsentation konstituieren. Da sich Pathos der Präsenz des sichtbar und hörbar erregten Redners oder Schauspielers verdankt, ist es zudem nur begrenzt mit dem narrativen Modus der Affektrepräsentation zu vereinbaren. Oder anders gesagt: Es bedarf besonderer Techniken affektiver Immediatisierung, wenn dem auf vermittelnde Stimmen angewiesenen Erzähldiskurs Pathoseffekte abgewonnen werden sollen. Wirkungsästhetik, verstanden als Pathosästhetik, ist Überwältigungsästhetik. Hier gibt es Berührungen, aber nicht Identität mit anderen Konzepten, vor allem mit Ästhetiken der Suggestion und Ansteckung. Auch Suggestion impliziert das Ausschalten reflexiver Schutzmechanismen. Wiederum sind es Rhetoriken, die deren persuasionsstrategische Effekte thematisieren. Im Unterschied zur – auch zeitlich – zugespitzten, momentanen Affekterregung 5

Vgl. Port, U.: „Pathosformeln“ 1906-1933. Zur Theatralität starker Affekte nach Aby Warburg. In: Fischer-Lichte, E. (Hrsg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart/Weimar 2001, 226-251, hier: 228.

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durch Pathos dominiert hier die allmähliche Wirkung der Einschläferung, der Diffundierung semantischer Aufmerksamkeit, ausgelöst durch euphonische und rhythmische fluency-Effekte.6 Ansteckung ist das von Tolstoj selbst favorisierte wirkungsästhetische Konzept.

2. „Emotionale Ansteckung“ bei Lev Tolstoj Tolstojs Konzept der emotionalen Ansteckung hat wenig mit dem heutigen Verständnis des Begriffs in Emotionspsychologie und Primatologie zu tun. Keinesfalls postuliert Tolstoj mit seinem Begriff der Ansteckung eine Kunst der stärksten Affekterregung, des präkognitiven oder gar instinktiven Reizerregungsoptimums, des Stimulierens mimetisch-somatischer Reflexe, wie es physiologische Ästhetiken seiner Zeit tun, auf die sich später z.B. Sergej Ėjzenštejn zurückbeziehen wird,7 und wie es dem nahe kommt, was heute unter emotional contagion verstanden wird. Hier steht die automatische, reflexiv unkontrollierte, spontan reizresponsive Qualität dieser Reaktion im Vordergrund – im Unterschied etwa zu klassischen Einfühlungstheorien oder zu Max Schelers Begriff der emotionalen Ansteckung, aber auch zu neueren Theorien narrativer Empathie, die gerade auf die Perspektivendifferenz als zentrale Bedingung setzen und die dergestalt ausgebildete Empathie geradezu als Überwindung der in evolutionärer Hinsicht älteren Ansteckung sehen.8 Tolstoj nahm physiologische Ästhetiken seiner Zeit zwar zur Kenntnis, lehnte sie aber als reduktionistische Stimulus-Response-Konzepte ab. Ausdrücklich betont er, die unmittelbare Ansteckung mit Gefühlsempfindungen – wie etwa, wenn mein Gähnen den Betrachter veranlasst, ebenfalls zu gähnen, mein Lachen und mein Weinen das Lachen oder Weinen der Anwesenden hervorrufen – sei noch keine Kunst. Kunst beginne erst 6

Diese Wirkung betonten besonders Rhetorikforschungen in der „Kommission zur Erforschung des suggestiven Worts“ („Komissija po izučeniju vnušajuščego slova“) in der Moskauer „Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften“ („Gosudarstvennaja akademija chudožestvennych nauk“/GAChN) in den 1920er Jahren. Vgl. Witte, G.: Die Emotionen der Kunst. Zur psychologischen Ästhetik in der frühen Sowjetunion. In: Hansen-Löve, A./Obermayr, B./Witte, G. (Hrsg.): Form und Wirkung. Phänomenologische und empirische Kunstwissenschaft in der Sowjetunion der 1920er Jahre. München 2013, 343-384. 7 Etwa mit seinem Konzept der sog. Nachahmungsprimitiva oder Bewegungsprimitiva, beeinflusst durch zeitgenössische Konzepte der Ausdrucksbewegung, in Montaž kinoattraktionov (Montage der Filmattraktionen, 1924). Vgl. Eisenstein, S.M.: Montage der Filmattraktionen. In: Ders.: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hrsg. von F. Lenz und H.H. Diederichs. Frankfurt a.M. 2005, 15-40. 8 Vgl. u.a. Coplan, A.: Empathic Engagement with Narrative Fictions. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 62 (2004), 141-152; Breithaupt, F.: Kulturen der Empathie. Frankfurt a.M. 2009.

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dort, „wo ein Mensch mit dem Ziel, anderen ein von ihm empfundenes Gefühl mitzuteilen, dieses erneut in sich hervorruft und es durch bestimmte äußere Zeichen ausdrückt“.9 Hier besteht also eine mehrfache Vermitteltheit: zeitlich, als ReEvokation von Gefühlen (statt eines unmittelbar präsenten Affektkontakts), und semiotisch, als Umweg der Expression über Zeichen. Als Beispiel nennt Tolstoj einen Jungen, der bei der Begegnung mit einem Wolf Furcht empfindet, später aber erst diese Begegnung schildert und, „um in anderen das von ihm empfundene Gefühl hervorzurufen, sich selbst darstellt, […], seinen Zustand vor dieser Begegnung, die Umgebung, den Wald, seine Sorglosigkeit, und darauf den Anblick des Wolfs, seine Bewegungen, die Entfernung zwischen ihm und dem Wolf und dergleichen“.10 Dies gelte auch, wenn der Junge noch nie einen Wolf gesehen hat, sondern nur imaginativ Angst vor ihm empfunden habe, und wenn er sich, um diese Angst in anderen hervorzurufen, „die Begegnung mit einem Wolf ausdenkt und diese so erzählt, dass er durch seine Schilderung in den Zuhörern das gleiche Gefühl hervorruft, das er empfand, sooft er sich einen Wolf vorstellte“.11 Wir haben hier gleichsam eine Ursituation, ein Elementarmodell fiktionalen Verhaltens, weit entfernt von naivem Authentizismus. Außerdem wäre Tolstoj missverstanden, wenn man seine Ansteckungstheorie als subjektivistische Reduktion auf die Übertragung des Aktualzustands einer singulären Psyche auf eine andere interpretierte. Ganz ausdrücklich betont er, dass mittels der Kunst ihren Rezipienten „all das im Bereich des Gefühls zugänglich wird, was die Menschheit vor ihm erlebt hat“; dass ihm „die Gefühle zugänglich werden, die seine Zeitgenossen empfinden, die andere Menschen vor Jahrtausenden empfunden haben“, und dass es ihm möglich wird, „seine eigenen Gefühle anderen mitzuteilen“.12 9

Tolstoj, L.: Was ist Kunst? In: Ders.: Ästhetische Schriften. Aus dem Russischen übersetzt von Günter Dalitz. Hrsg. von Gerhard Dudek. Berlin (2. Aufl.) 1984, 39-232, hier: 79. „Искусство начинается тогда, когда человек с целью передать другим людям испытанное им чувство снова вызывает его в себе и известными внешними знаками выражает его.“ Tolstoj, L.: Čto takoe iskusstvo? In: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 30. Moskau 1951, 25-203, hier: 64. 10 Tolstoi, Was ist Kunst, 80. 11 Ebd. „Если мальчик и не видал волка, но часто боялся его, и, желая вызвать чувство испытанного им страха в других, придумал встречу с волком и рассказывал ее так, что вызвал своим рассказом то же чувство в слушателях, какое он испытывал, представляя себе волка, – то это тоже искусство.“ Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 65. 12 Tolstoi, Was ist Kunst, 81. „Как благодаря способности человека понимать мысли, выраженные словами, всякий человек может узнать все то, что в области мысли сделало для него все человечество, может в настоящем, благодаря способности понимать чужие мысли, стать участником деятельности других людей и сам, благодаря этой способности, может передать усвоенные от других и свои,

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Letzteres ist also nur ein Teilaspekt der viel umfassenderen Funktion der Kunst als „sozialer Gefühlstechnik“ (Lev Vygotskij). Insofern ist Tolstoj, zumindest teilweise, gegen Vygotskijs Kritik in Schutz zu nehmen, der das Ansteckungskonzept als zu sehr fixiert auf die ungebrochene Übertragung diskreter Affekte und Emotionen kritisierte, ihm eine Abwertung der Eigenpotentiale des Kunstwerks und seiner Potenz sozialer Objektivierung von Emotionen (via Formkonventionen, Gattungstraditionen, Rezeptionsgeschichte) sowie ein simplizistisches Konzept der unmittelbaren Übertragung von Autorpsyche auf Leserpsyche unterstellte.13 Hingegen betont Tolstoj in seiner Doppelargumentation sowohl gegen einen platonischen Rigorismus der Inkriminierung von Kunst als auch gegen ein hedonistisches Kunstverständnis die kultivierende und zivilisierende Wirkung als ein Potential der Kunst, das freilich erst gegen die zeitgenössische Dekadenz wieder zu reaktivieren sei. Tolstoj situiert die Kunst in einem durch kulturelle Akkumulation und Selektion ermöglichten menschheitsgeschichtlichen Prozess der Tradierung und Veredelung von Gefühlen: Kunst ist gemeinsam mit der Sprache ein Werkzeug der Kommunikation und daher auch des Progresses, das heißt des Fortschritts der Menschheit auf dem Wege zur Vollkommenheit. Die Sprache ermöglicht es den Menschen der jeweils jüngsten Generation, all das zu wissen, was die vorangegangenen und die besten fortschrittlichen Menschen der Gegenwart durch Erfahrung und Denken erkannt haben; die Kunst ermöglicht es den Menschen, alle die Gefühle zu empfinden, die die Menschen vor ihnen empfunden haben und die die besten fortschrittlichen Menschen der Gegenwart empfinden. Und genau so wie sich die Evolution der Kenntnisse vollzieht, bei der die höherem Grade wahren und notwendigen Kenntnisse irrige und unnötige Kenntnisse verdrängen und ersetzen, vollzieht sich auch die Evolution der Gefühle vermittels der Kunst, indem niedere Gefühle, weniger gute und für das Glück des Menschen weniger notwendige durch bessere, für dieses Glück notwendige Gefühle verdrängt werden.14 возникшие в нем, мысли современникам и потомкам; так точно и благодаря способности человека заражаться посредством искусства чувствами других людей, ему делается доступно в области чувств все то, что пережило до него человечество, делаются доступны чувства, испытываемые современниками, чувства, пережитые другими людьми тысячи лет тому назад, и делается возможной передача своих чувств другим людям.“ Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 66. 13 Wygotski, L.S.: Psychologie der Kunst. Aus dem Russischen übertragen von Helmut Barth. Dresden 1976, 283ff.; Vygostkij, L.: Psichologija iskusstva. Moskau 2008, 255ff. 14 Tolstoi, Was ist Kunst, 174. „Искусство, вместе с речью, есть одно из орудий общения, а потому и прогресса, то есть движения вперед человечества к совершенству. Речь делает возможным для людей последних живущих поколений знать все то, что узнавали опытом и размышлением предшествующие поколения и лучшие передовые люди современности; искусство делает возможным для людей последних живущих поколений испытывать все те чувства, которые до них испытывали люди и в настоящее время испытывают лучшие передовые люди. И как происходит эволюция знаний, то есть более истинные нужные

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Emotionale Ansteckung wird von Tolstoj nicht antagonistisch, sondern komplementär zu kognitiver Stabilisierung verstanden. Kunst soll „durch den Reiz von Bildern, Tönen, Gestalten“ das verständlich machen, „was durch eine Abhandlung vielleicht nicht verständlich gemacht werden könnte“.15 Gemeint ist also weniger eine Erregung im Sinne der Induktion von Affekten (von Affekten, die zuvor im Rezipienten nicht präsent waren und gleichsam auf der tabula rasa seiner Psyche erst generiert werden) als vielmehr eine Art Ausdruckshilfe, Artikulationshilfe. Durch das Kunstwerk wird dem Rezipienten, der noch keine Sprache für seine, wenngleich schon vorhandenen, Gefühle gefunden hat, eine solche Sprache gegeben: „Gewöhnlich kommt es dem, der ein wirklich künstlerisches Erlebnis gehabt hat, so vor, als habe er das alles schon vorher gewusst und es nur nicht auszudrücken vermocht.“16 Dass der Rezipient eines Kunstwerks mit dessen Schöpfer „verschmilzt“ (slivaetsja), beruhe eben auf diesem Effekt: Dem Rezipienten, der den Gegenstand der Kunst auf sich wirken lasse, scheine es so, als sei dieser Gegenstand nicht von einem anderen, sondern von ihm selbst geschaffen worden, und als sei darin eben das ausgedrückt, was er schon längst selbst ausdrücken wollte.17 Also keine Überwältigungsästhetik, eher das Gegenteil hat Tolstoj mit seinem Ansteckungskonzept im Sinn. Alleinige und unkontrollierte Affekterregung ist gerade das, was er als Ausdruck der Dekadenz an der zeitgenössischen Kunst – und besonders der Musik und dem naturalistischen Theater – hasst. Besonders zwei Verfahren wеrden dieser Kunst des reinen „Effekts“ (porazitel’nost’, ėffektnost’) zum Vorwurf gemacht: die Reizsteigerung durch extreme Kontrasteffekte (des Grauenvollen und Zarten/Milden, des Schönen und Hässlichen, des Lauten und Leisen, des Dunkeln und Hellen, des Gewöhnlichsten und Ungewöhnlichsten) und ein übertriebener DetailVerismus, z.B. in der Darstellung toter und verwundeter Körper: „protokollarisch genaue Beschreibung des Platzens der Gewebe und Geschwüre, des Geruchs, der Menge und Art des Blutes“.18 Beide Verfahren sind aus der antiken Rhetorik als Pathostechniken bekannt. Für Tolstoj bewirken sie знания вытесняют и заменяют знания ошибочные и ненужные, так точно происходит эволюция чувств посредством искусства, вытесняя чувства низшие, менее добрые и менее нужные для блага людей более добрыми, более нужными для этого блага.“ Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 151. 15 Tolstoi, Was ist Kunst, 126; „прелесть картины, звуков, образов.“ Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 109. 16 Tolstoi, Was ist Kunst, 126. „Обыкновенно, получая истинно художественное впечатление, получающему кажется, что он это знал и прежде, но только не умел высказать.“ Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 109. 17 Tolstoi, Was ist Kunst, 171; Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 149. 18 Tolstoi, Was ist Kunst, 132; „протокольное описание разрывов тканей, опухолей, запаха, количества и вида крови.“ Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 114.

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nichts anderes als „physiologische Effekte“ des bloßen „Nervenreizes“, der zwar Tränen hervorrufen, „aber kein Gefühl vermitteln könne“.19 Freilich, in einem Punkt ist Vygotskijs Unbehagen an Tolstojs Ansteckungskonzept zuzustimmen. Gemeint ist die Kritik an der thematischen Engführung der Kunstwirkung auf das gezielte Hervorrufen diskreter Emotionen und an dem damit einhergehenden Unverständnis für die spezifischen emotionalen Aspekte der „ästhetischen Reaktion“: ihrer stärker dimensionalen statt diskreten Emotionsaspekte und ihrer Intensitätssteigerung durch Affektkontraste. Die Wirkung des Affektkontrastes ist für Vygotskij Grundlage der Katharsis. Allerdings ist dies nicht die auf den plötzlichen, überfallenden Erregungsmoment reduzierte Reizspannung, die Tolstoj mit seiner Kritik der Kontrasteffekte meinte, sondern der semantisch sich aufladende Bogen emotionaler Wertspannungen über die gesamte Dauer der Sujetentfaltung hinweg. Was die Problematik der diskreten Emotionen betrifft, so ist hier die Kritik Vygotskijs wiederum zu relativieren. Das thematisch wichtigste Segment solcher durch Kunst hervorzurufenden Emotionen sind für Tolstoj die religiösen Gefühle, die er nur vage im Sinne prosozialer Basisemotionen umschreibt, wenn er vom vereinenden Charakter dieser Gefühle spricht. Inwiefern hier überhaupt noch von diskreten Emotionen oder nicht eher von atmosphärischen Effekten und oft sogar eher von Stimmungen gesprochen werden kann, sei dahingestellt. Auch das von ihm emphatisch geschilderte Erlebnis des lebhaften Liedes von Bäuerinnen auf Jasnaja Poljana, das alle Zuhörer in eine freudig erregte Stimmung versetzt habe, deutet in diese Richtung.

3. Pathoszerstörung Nun zu Tolstojs eigener Erzählkunst. Ich möchte zeigen, wie sich die wirkungsästhetische Dimension dieses Erzählens in einer ambivalenten Faszination an Pathosfiguren entfaltet. Die vielfachen Beispiele monströser Übertreibungen, rhetorischer Kontrollverluste, Inflationierungen von Affekttopik, die uns in Tolstojs Werken begegnen, sind so etwas wie Negativstimuli für die Erzählstimme des Autors. Und doch wäre der bloße Befund eines antipathetischen Erzählens zu schematisch. Er bliebe blind für den Anspruch dieses Erzählens auf eine eigene Kraft des movere, die das rhetorische Pathos überwindet. Doch um diesen Zusammenhang zu erhellen, sei zunächst das Antipathos als vordergründigster und aufdringlichster Gestus des Tolstoj’schen Erzählens ein wenig genauer betrachtet. Es sind demonstrative Formen der Zerstörung des Pathos, die Tolstoj durch seine Erzähler und 19

Tolstoi, Was ist Kunst, 135; „нет передаваемого чувства, а есть только воздействие на нервы.“ Tolstoj, Čto takoe iskusstvo, 117.

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Figuren vorführen lässt. Bezogen auf den Akt des Erzählens selbst lässt sich Antipathos als wirkungsästhetisches Erzählverfahren etwa im Duktus eines technisch-instruktiven Erzählens in den Sevastopol-Erzählungen feststellen. Die Erzähler fokussieren sich auf die Alltagsroutinen des Kriegs und steigern dadurch – als Kontrasteffekt – die erschütternde Wirkung der Schockbilder von Verwundeten und Leichen in Lazaretten und auf Schlachtfeldern. Diese Form des Erzählens konterkariert ein heroisierendes (und vor allem: selbstheroisierendes) Erzählen, dessen sich feige Offiziere in den Prahlreden von angeblich selbst begangenen Heldentaten bedienen (vgl. die Erzählung des Baron Pest in Sevastopol’ im Mai 1855). Der Tolstoj’schen Erzählstimme dient die Widerlegung solcher Prahlreden als Stimulus für die eigene Imagination von Schlachtszenen. Auch in Krieg und Frieden gibt es eine Reihe solcher Gegenerzählungen. Auf innerfiktionaler Ebene korrespondiert dem antipathetischen Duktus eine Architektur von Habitus-Oppositionen. Proklamierter Heroismus steht gegen das operative Ethos von Militärhandwerkern wie Timochin und Tušin in Krieg und Frieden und Hauptmann Chlopov in Nabeg (Der Überfall, 1853). Das naiv Enthusiastische (verkörpert vom jungen Nikolaj Rostov und von Petja Rostov in Krieg und Frieden und von einer Reihe anderer ruhmversessener, militärromantisch verführter Jungoffiziere in den Kriegserzählungen Tolstojs) wird mit dem Abgeklärten konfrontiert. Auch in anderen Sphären als der militärischen werden solche Oppositionen etabliert. Dem Inszenierten wird das Reale vorgehalten (Nataša Rostova in der Oper), dem Spektakulären das Verborgene, dem Ruhm die Unbekanntheit. Ein markantes Beispiel ist Vater Sergij aus der gleichnamigen Erzählung, der auf dem Höhepunkt seines Ruhms als wundertätiger Mönch die Flucht ins Inkognito sucht. Die Situation des Inkognito ist deshalb besonders interessant und wird von Tolstoj auch in anderen Zusammenhängen aufgegriffen, weil es die agential souveräne Version der Unbekanntheit, die selbst gewählte, handlungsmotivierende und handlungsermöglichende Form der Unbekanntheit ist. Ein Beispiel ist die Erzählung Posmertnye zapiski starca Fedora Kuzmiča (Nachgelassene Aufzeichnungen des Greises Fedor Kuz’mič, 1905) über Zar Aleksandr I., der nach seinem fingierten Tod sich als Einsiedler verbirgt. Eine weitere, im Zusammenhang der Pathoszerstörung relevante Spannung ist die zwischen einem Hang zur normativen Kraft des Kontrafaktischen, d.h. zur Verabsolutierung des immer nur fernen, des nicht erreichbaren, des gerade aufgrund dieser Irrealität umso bedeutenderen Ziels (Pierre Bezuchov in Krieg und Frieden) und einer Akzeptanz der normativen Kraft des Faktischen, des Handelns nach Maßgabe der Kontingenz und Relativität der jeweiligen Situation. Zwei Aspekte sind im Zusammenhang des antipathetischen Erzählens Tolstojs besonders zu berücksichtigen:

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a) Die Figur der Pathosdestruktion ist eingebunden in eine prinzipiellere Auseinandersetzung über das Verhältnis dissimulativer (täuschender und getäuschter) und authentischer Rede. Rhetorisches Pathos ist für Tolstoj falsches, leeres Pathos. Es wird entweder von Überwältigungsstrategen oder von blind Begeisterten verwendet. In der Konfrontation von täuschender/getäuschter und authentischer Rede erweist sich eine prinzipielle Unversöhnbarkeit von artifizieller und natürlicher Rede. Pathos gilt Tolstoj als Negativqualität einer synonymischen Triade: artifizielle = dissimulative = rhetorische Rede. Allerdings besteht keine einfache Homologierelation: Pathos vs. Antipathos = dissimulative vs. authentische Rede. Vordergründig werden zwar vor allem Versionen eines leeren Pathos als Monströsitäten dissimulativer oder prekär enthusiasmierter Rede ausgestellt. Aber auch Antipathetik kann dissimulativ sein. Beispiele aus Krieg und Frieden sind Diskursstrategen wie der Diplomat Bilibin, Meister sowohl des verbalen Code-Switching als auch des artistisch kontrollierten Mienenspiels, und Graf Speranskij, der in der zunehmend enttäuschten Perspektive Andrej Bolkonskijs als ein Zyniker der Macht erkannt wird. b) Rede, Gestik und Mimik werden von Tolstojs Erzählern mit gleicher Aufmerksamkeit wahrgenommen. Das ist deshalb in unserem Zusammenhang relevant, weil die eloquentia corporis eine Grundbedingung rhetorischer und theatralischer Pathoseffekte ist. Exemplarisch ist eine Szene aus Der Überfall nach dem ersten Schrеckerlebnis des Erzählers, das durch dеn Einschlag einer Kanonenkugel und die Verwundung eines Soldaten ausgelöst wird. Dem Erzähler, der seinen visuellen Eindrücken des „großartigen Schauspiels“ noch vertrauen will, wird der „Gesamteindruck“ verdorben, weil die „Begeisterung“ und das „Geschrei“ der Soldaten ihm überflüssig erscheinen. Nun entwickelt sich ein merkwürdiges Stummfilmphantasma. Es gipfelt im Vergleich „mit einem Menschen, der mit der Axt weit ausholt, um die Luft zu spalten“.20 Es finden sich in späten Erzählungen ähnliche Bilder übererregter Körpermotorik, aus Zorn oder sexueller Begierde, die sich in übertriebenen, inadäquaten Wurf- und Schlagbewegungen äußert – etwa den Beilschlag, mit dem sich Vater Sergij den Daumen abtrennt, um der Versuchung durch eine Verführerin zu widerstehen, oder den Wurf des Protagonisten der Kreutzersonate mit dem Briefbeschwerer nach seiner Frau. Körpermotorische 20

Tolstoj, L.N.: Der Überfall. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von G. Drohla. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1961, 29-63, hier: 54. „Зрелище было истинно величественное. Одно только для меня, как человека, не принимaвшего участия в деле и непривычного, портило вообще впечатление, было то, что мне казалось лишним – и это движение, и одушевление, и крики. Невольно приходило сравнение человека, который сплеча топором рубил бы воздух.“ Tolstoj, L.: Nabeg. In: Sobranie sočinenij v četyrnadcati tomach. Bd. 2. Moskau 1951, 5-30, hier: 23.

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Gegenbilder stammen aus dem Vorstellungsfeld des Fallens. Man denke an den fatalen Sturz des Ivan Il’ič von der Leiter in Smert’ Ivana Il’iča (Der Tod des Ivan Il’ič, 1886), an den Ohnmachtsanfall Vater Sergijs während der von ihm gelesenen Messe, an den Sturz Andrej Bolkonskijs in der Schlacht von Austerlitz. Im Folgenden soll ein kleiner Katalog von Figuren der Pathoszerstörung in Krieg und Frieden aufgestellt werden. Der Roman scheint mir deshalb besonders signifikant, weil er nicht zuletzt ein Roman der Rede ist, der unterschiedlichen Diktionen und Gesten der Rede, der unterschiedlichen Formen rhetorischer pronuntiatio und actio, der diskursiven Strategien und diskursiven Naivitäten. Krieg und Frieden ist ein Grundbuch, ein fiktionales Lehrstück der Kommunikationsethik. Verschiedene Typen und Grade simulativer und authentischer Rede, falscher und echter Gefühlsexpression werden vorgestellt. Perspektivische Distanzierung: Ein Beispiel ist die Episode, die Andrej Bolkonskij als Betrachter und Zuhörer des Kriegsrats beim russischen Generalstab zeigt (III/1/11).21 Die Perspektivendifferenz wird hier markiert durch das Umschalten von der Wahrnehmung des „vielsprachigen Geredes“ (raznojazyčnyj govor) und „Geschreis“ (kriki) in das Register der stummen Reflexion.22 In diese Gruppe gehören auch andere Szenen der Beobachtung leerer ritueller Performanzen: etwa die Ordensverleihung an den russischen Offizier Lazarev durch Napoleon (beim Treffen mit Zar Aleksandr in Tilsit, II/2/21). Markant ist die Szene, die Nataša Rostova im Gottesdienst zeigt, als das vom Synod verbreitete offizielle Kriegsgebet verlesen wird (II//1/18). Der Zustand des Ergriffenseins von der stimmlichen Performanz des Gebets kollidiert mit dem gleichzeitigen Nichtverstehen und der Verwirrung Nataschas über die aggressive Rhetorik. Der Roman enthält auch Szenen gelingender Rhetorik – momentan erfolgreicher Rhetorik, deren Verführungskraft ihren Opfern zunächst nicht bewusst ist, des Öfteren allerdings später erkannt wird. Solche Persuasionserfolge sind stärker in der stimmlichen und körperlichen Performanz als in den verbalen Inhalten begründet. Ein Beispiel ist die Begegnung Pierre Bezuchovs auf der Poststation mit dem Freimaurer Bazdeev. Das Pierre durchströmende Glücksgefühl des Ergriffenseins von der Macht der Bazdeev’schen Rede verdankt sich weniger den Argumenten von dessen Rede 21

Hier und im Folgenden werden Kapitelvermerke entsprechend der Gliederung des Romans in „Bände“, „Teile“ und „Kapitel“ folgendermaßen ausgeführt: römische Ziffer für den jeweiligen Band, erste arabische Ziffer für den jeweiligen Teil, zweite arabische Ziffer für das jeweilige Kapitel. 22 Tolstoi, L.: Krieg und Frieden. Übersetzt und kommentiert von B. Conrad. Bd. 2. München 2010, 78; Tolstoj, L.N.: Vojna i mir. In: Sobranie sočinenij v četyrnadcati tomach. Bd. 4-7. Moskau 1951, hier: Bd. 6, 55.

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als der Intonation, dem Zittern der Stimme, den glänzenden Greisenaugen, der Ruhe und Festigkeit, die die gesamte physische Präsenz dieses Mannes ausstrahlt (II/2/2). Übersetzung: Der bilinguale, russisch-französische Erzähldiskurs von Krieg und Frieden enthält eine Reihe von Fällen, in denen Übersetzungsakte zu mehrfach gestaffelten Abweichungen und Verfälschungen des eigentlich Gesagten führen und das ursprüngliche Redepathos gleichsam implodieren lassen. Eine besonders plastische Szene der vorgetäuschten und leerlaufenden Pathoseffekte ist die Begegnung Napoleons mit Lavruška, dem Burschen Nikolaj Rostovs (III/2/7). Lavruška, so heißt es in der von Tolstoj ironisch zitierten französischen historiographischen Quelle (Thiers), sei, kaum habe der Übersetzer Napoleons Worte für ihn übersetzt, „von einer Art Erstarrung“ („saisi d’une sorte d’ébahissement“) gepackt worden und habe kein Wort mehr herausgebracht.23 Das wäre ein klassischer EkplexisEffekt. Diesem Diskurs der Übersetzung bleibt jedoch verborgen, dass Lavruška die gesamte Szenerie durchschaut und sein Erschrecken nur simuliert. Aber auch Lavruška seinerseits lässt sich verführen von der vorgestellten Wirkungsmacht der eigenen Rede. Zurückgaloppierend zu seiner Armeeeinheit „denkt er sich aus, was gar nicht geschehen war“ (pridumyvaja vpered vse to, čego ne bylo) und was er erzählen wird: „Was ihm wirklich geschehen war, wollte er gerade deshalb nicht erzählen, weil es ihm einer Erzählung unwürdig schien.“24 Nichtverstehen: Dies ist eine klassische Figur der Entsemiotisierung, der Reduktion zeichenhafter Rede oder Handlung auf ihre schiere Materialität. Ein Beispiel ist das Kapitel, das Pierre Bezuchov als Beobachter der Sterbezeremonien beim Tode seines Vaters zeigt (I/1/20). Pierre handelt in Unkenntnis der für die Gemeinschaft der anwesenden Erbschleicher verbindlichen Verhaltensregeln. Insbesondere die Codes der mimischen und gestischen Vortäuschung äußersten Leids sind ihm nicht zugänglich. In harten Montageschnitten wird diesen Pathos-Mimiken der geradezu monströs regellose Blick des sterbenden Grafen gegenübergestellt: plötzliche, unkontrollierte Krampfbewegungen der Muskeln und Falten des Gesichts, „ein unklarer heiserer Laut“ (nejasnyj, chriplyj zvuk), der aus dem verzerrten Mund drängt.25 Der Effekt des Monströsen verdankt sich diesem Ausdrucksversagen des privilegierten Kommunikationsorgans des menschlichen Körpers. Der nun entstehende Blickkontakt zwischen Pierre und dem sterbenden Vater spricht jeglichem mimischen Verstehen Hohn. Nichtmals die Tatsache 23

Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 199; Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 138. Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 200; „Того же, что действительно с ним было, он не хотел рассказывать именно потому, что это казалось ему недостойным рассказа.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 138. 25 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 1, 143; Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 4, 102. 24

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des Angeblicktwerdens als solche ist noch gesichert, da der Blick des Sterbenden, aller Pathos-Mimik entkleidet, vielleicht ein schon ganz in die Intransitivität des Körpers verkapselter Reflex ist: Als sie den Grafen umdrehten, fiel sein einer Arm hilflos zurück, und er machte eine vergebliche Anstrengung, um ihn herüberzuziehen. Ob der Graf jenen entsetzten Blick bemerkt hatte, mit dem Pierre auf diesen leblosen Arm sah, oder ob ein anderer Gedanke in diesem Augenblick in seinem sterbenden Kopf aufblitzte, jedenfalls blickte er auf den ungehorsamen Arm, den entsetzten Ausdruck im Gesicht Pierres, wieder auf den Arm und auf seinem Gesicht erschien das so gar nicht zu seinen Zügen passende schwache, gequälte Lächeln, das gleichsam den Spott über seine eigene Kraftlosigkeit ausdrückte. Beim Anblick dieses Lächelns fühlte Pierre unvermutet ein Zittern in der Brust, ein Kitzeln in der Nase, und Tränen verdunkelten ihm die Sicht. Sie drehten den Kranken auf die Seite zur Wand. Er seufzte.26

Freilich besitzt eine solche, dezidiert nicht pathetische Situation eine besondere Erregungspotenz. Darüber wird später, im Zusammenhang der Motivik des „Außer-sich-Seins“, zu sprechen sein. Desillusionierung: Ein Beispiel ist Andrej Bolkonskijs innerer Monolog vor der Schlacht von Borodino (III/2/24). In der Rekapitulation seines früheren Lebens erscheinen Andrej seine Ruhmesphantasien nur noch als „Laterna Magica, in die er lange durch die Glasscheibe und bei künstlicher Beleuchtung geblickt hatte“.27 Andrej Bolkonskij ist eine Kippfigur. Er verkörpert den Absturz vom heroischen Pathos ins fast zynische Antipathos.28 Entgleitende Pathoskontrolle: Dieses Motiv ist besonders mit Napoleon verbunden. Napoleon, Souverän der imperialen Rhetorik, wird in Szenen gezeigt, in denen er das Pathos seiner Rede nicht auf der situationsadäquaten Erregungsstufe halten kann und von krampfartigen Affektschüben erfasst wird, die seine gesamte rhetorische Statur – seine Stimme, seine Haltung, 26

Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 1, 143f. „В то время как графа переворачивали, одна рука его беспомощно завалилась назад, и он сделал напрасное усилие, чтобы перетащить ее. Заметил ли граф тот взгляд ужаса, с которым Пьер смотрел на эту безжизненную руку, или какая другая мысль промелькнула в его умирающей голове в эту минуту, но он посмотрел на непослушную руку, на выражение ужаса в лице Пьера, опять на руку, и на лице его явилась так не шедшая к его чертам слабая, страдальческая улыбка, выражавшая как бы насмешку над своим собственным бессилием. Неожиданно, при виде этой улыбки, Пьер почувствовал содрогание в груди, щипанье в носу, и слезы затуманили его зрение. Больного перевернули на бок к стене. Он вздохнул.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 4, 102f. 27 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 300. „Вся жизнь представилась ему волшебным фонарем, в который он долго смотрел сквозь стекло и при искусственном освещении.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 208. 28 Vgl. sein Desillusionierungserlebnis in I/3/16. Zu diesem Aspekt der Bewusstseinsentwicklung Andrej Bolkonskijs vgl. Holquist, M.: Character Change as Language Change in „War and Peace“. In: Russianness. Studies on a Nation’s Identity. In Honor of Rufus Matthewson 1918-1978. Ann Arbor 1990, 210-226.

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seine Mimik – vernichten. Bei der Begegnung mit Balašev, dem Gesandten Aleksandrs I., beginnt das Gesicht Napoleons zu zucken, die linke Wade zittert (III/1/6). Dies sind keine Ausdrucksbewegungen, erst recht keine Pathosformeln, sondern motorische Dissoziationen, die die gleichzeitigen Versuche rhetorisch eingesetzter Gestik – die energische Fragegeste der Hand – merkwürdig dysfunktional erscheinen lassen. Minuten später sind es dann auch nur noch hastige Gestikulationsbewegungen, die die weißen Hände Napoleons ohne erkennbare Bedeutung vollführen. Die Situation eskaliert in Schreien Napoleons, die diesen selbst überraschen, und einem Wortausbruch, den Napoleon „nicht mehr zu steuern imstande war“.29 Selbsthypnose: Auch dieses Motiv ist eng mit Napoleon verbunden. Als Napoleon, unmittelbar vor der Einnahme Moskaus, die Stadt als einzunehmendes Objekt seiner Erobererbegierde betrachtet, ergeht er sich in Phantasien der Unterwerfung und imaginiert sich als großmütigen Beherrscher der Stadt (III/3/19). Eine spätere Szene (IV/2/21) zeigt, wie er sich, schon gescheitert und zum Abzug aus Moskau gezwungen, als Führer der Rückzugsbewegung phantasiert: Er war „wie ein Kind, das sich einbildet, es lenke seinen Wagen, weil es sich an den Bändern hält, die im Innern des Wagens angebracht sind“.30 Napoleon ist die Figur, der noch die Erkenntnis des Pathosknicks zur Gravitas-Formel gerät: „Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas.“31 Verdinglichung: Der Körper des Pathetikers wird in übertriebener Form objektiviert und verhässlicht. Ein Beispiel ist die Kontrastierung von Napoleons Toilettenprozedur (III/2/26), die Behandlung seines fetten und behaarten Körpers durch Kammerdiener, mit der pathetischen actio in der unmittelbar daran anschließenden Rede Napoleons aus Anlass des ihm als Geschenk überreichten Portraits seines Sohnes. „Er fühlte, was er jetzt sagte und tat – war Geschichte.“32 Diese Gravitas-Ambition widerspricht eklatant der Simulation von Zärtlichkeit: „[I]m Gegensatz zu seiner Größe“, heißt es, will er „väterliche Zärtlichkeit zeigen.“33 Die gesamte Szene treibt die Diskrepanz zwischen dem Durchdrungensein dieser Gestalt durch das imperiale Pathos und der Inszenierung familiärer Intimität in die Trivialität des Bathos. 29

Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 40; „и чем больше он говорил, тем менее он был в состоянии управлять своею речью.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 28. 30 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 717; „был подобен ребенку, который, держась за тесемочки, привязанные внутри кареты, воображает, что он правит.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 95. 31 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 826; Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 171. 32 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 317f.; „Он чувствовал, что то, что он скажет и сделает теперь, – есть история.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 220. 33 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 318; „чтоб он высказал, в противоположность этого величия, самую простую отеческую нежность“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 220.

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Szenen der drastischen Ausstellung des Körpers von Ritusführern finden sich auch in den der russischen Armee gewidmeten Kapiteln. Ein Beispiel ist die Darstellung Kutuzovs als Zentrum aller Blicke während des Bittgottesdienstes vor der Schlacht von Borodino (III/2/21). Als der Bittgottesdienst endete, trat Kutuzov zur Ikone, ließ sich schwerfällig auf die Knie nieder, verbeugte sich bis zur Erde, bemühte sich dann lange und vermochte es bei seiner Schwere und Schwäche doch nicht, sich zu erheben. Sein graues Haupt zuckte vor Anstrengung. Endlich stand er auf, küsste mit kindlich-naiv vorgestreckten Lippen die Ikone und verneigte sich noch einmal, mit der Hand die Erde berührend. Die Generalität folgte seinem Beispiel; dann die Offiziere, und nach ihnen drängten, einander drückend, stampfend, keuchend und einander stoßend, mit erregten Gesichtern die Soldaten und Landwehrleute heran.34

Die Pathosformel des Kniefalls und die physische Unbeherrschbarkeit dieses fetten und unbeweglichen Körpers konfligieren hier miteinander. Gravitas als dem Anlass angemessenes Gestenregister und buchstäblich physische Schwere dieses Körpers fallen auseinander. Was zu Beginn der Szene, beim Kniefall, noch als actio in der Souveränität des Feldherrn liegt, wird später zur motorischen Insuffizienz des vor Anstrengung zuckenden Körpers. Hier bleibt die Situation ambivalent: Der erzählerische Blick auf diese Performanz ist kalt, aber er provoziert nicht die Implosion des pathetischen Moments wie im Falle einiger Napoleonszenen. Wenn auch aus der Distanz des beobachtenden Blicks schildert diese Szene dennoch eine gelingende Pathoskommunikation: das Übertragen der Ausdrucksbewegung zunächst auf die nähere Umgebung der Offiziere, dann auf die Masse der Soldaten. Massensuggestion: Die fatale Eignung von Pathos für massensuggestive Zwecke wird in einer Reihe von Episoden fast wie ein psychologisches Experiment durchgespielt. Auf der geschichtsphilosophischen Ebene erklären sich solche Szenen aus der Charisma-Skepsis Tolstojs. Gezeigt werden ‚gelingende‘ Charisma-Situationen, die jedoch aufgrund der pathologisierenden Erzählperspektive und aufgrund der analität ihrer Anlässe entzaubert werden. Ex negativo bestätigen sie Tolstojs These der historischen Irrelevanz von Führerfiguren. Das gilt für die Massensuggestivität sowohl Napoleons als auch Aleksandrs I. In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant, dass Vladimir Bechterev in Kollektivnaja refleksologija (Kollektive Reflexologie) eine Szene aus Krieg und Frieden ausgiebig als Beispiel kollektiver 34

Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 291. „Когда кончился молебен, Кутузов подошел к иконе, тяжело опустился на колена, кланяясь в землю, и долго пытался и не мог встать от тяжести и слабости. Седая голова его подергивалась от усилий. Наконец он встал и с детски-наивным вытягиванием губ приложился к иконе и опять поклонился, дотронувшись рукой до земли. Генералитет последовал его примеру; потом офицеры, и за ними, давя друг друга, топчась, пыхтя и толкаясь, с взволнованными лицами, полезли солдаты и ополченцы.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 201.

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Reflexbildung behandelt.35 Die Passage schildert die Weichselüberquerung durch eine polnische Ulanenschwadron unter den Augen Napoleons (III/1/2). Es wird erzählt, wie Hunderte von Ulanen in den kalten Fluss stürzen, wie die Pferde und auch einige der Menschen ertrinken, wie sich die anderen mit Schwimmbewegungen oder sich an den Mähnen der Pferde festhaltend zu retten versuchen. Eine Situation in der Sphäre des russischen Zaren wird aus der Perspektive des enthusiasmierten Petja Rostov geschildert, der, leiblich absorbiert, eingesogen in die Bewegung der Straßenmenge zum Kaiserpalast im Kreml, Zeuge wird, wie Zar Aleksandr Biskuitstücke vom Balkon herab in die Menge wirft, die sich meutengleich darauf stürzt (III/1/21). Abstoßende Schilderungen von Massenaffekten finden sich auch in den Kapiteln über das belagerte Moskau, etwa die Ermordung des vermeintlichen Verräters und Spions Vereščagin durch einen von Graf Rastopčin, dem Stadtvorsteher, aufgepeitschten Straßenmob in Moskau (III/3/25). Die den Kollektivkörper erfassende Aggressivität wird mit einer die gesamte Masse überrollenden Woge (ein klassischer Affekttopos) verglichen. Ein exponiertes Subjekt des entsetzten Blicks auf solche monströsen Auswüchse kollektiver Affekterregungen ist Pierre Bezuchov, aus dessen Perspektive auch die Vereščsagin-Episode geschildert wird. Eine andere Passage artikuliert seine entsetzte Beobachtung des meutengleich sich fortbewegenden Zugs der aus Moskau Flüchtenden (IV/2/14).

4. Separation von Gefühl und Pathos Jenseits der Dissimulation gibt es eine Dimension der Rede, deren emotive Gewalt gerade dem Verzicht auf Pathos entspringt. Tolstoj propagiert ein Ideal der diskursiven Naivität, dessen reinste Verkörperung Platon Karataev ist. Platons Rede ist genuin unstrategisch: „Offensichtlich dachte er nie darüber nach, was er gesagt hatte oder sagen würde; deshalb lag auch in der Schnelligkeit und Sicherheit seiner Intonation eine besondere, unwiderstehliche Überzeugungskraft.“36 Er scheint, wenn er zu reden beginnt, nicht zu wissen, womit er endet, und redet als unbewusstes Medium eines umfassenden ‚Ganzen‘, in dem seine eigene Person aufgeht. Platon Karataev ist die Figur, die das Paradoxon des rhetorischen Pathos gleichsam hinter sich 35

Bechterev, V.: Kollektivnaja refleksologija. In: Izbrannye raboty po social’noj psichologii. Moskau 1994; Bechterew, W.: Die kollektive Reflexologie. Halle/Saale 1928 (Beiträge zur Massenpsychologie, Heft 2). 36 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 654; „Он, видимо, никогда не думал о том, что он сказал и что он скажет; и от этого в быстроте и верности его интонаций была особенная неотразимая убедительность.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 52.

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liegen lässt: Bei ihm „ergießen“ (vylivalis’) sich Taten und Worte in jener Unmittelbarkeit des aus der Blume austretenden Dufts, die den Pathetikern nur als Simulation machbar ist.37 Gerade, weil er kein Rhetoriker ist, ist er so einnehmend. Eine schwächere Version dieses Ideals diskursiver Naivität, in der aristokratischen Welt, lässt sich in den Gesprächen zwischen Nataša und Pierre im Epilog des Romans erahnen (E/1/16). Hier ist der Zustand erreicht, in dem man sich „vollkommen versteht“ („что они вполне понимают друг друга“) in einer ausschließlich der emotionalen Spontaneität vertrauenden Rede.38 Das Pendant der diskursiven Naivität ist die diskursive List, eingesetzt zwecks Subversion der Pathoskommunikation. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Begegnung zwischen Lavruška und Napoleon. In dieser pathoszerstörenden Funktion und auf der Seite des Volks ist dissimulative Rede legitim. Ein für Tolstoj paradigmatisches Feld der Separation von Gefühl und Pathos ist der sozial-emotionale Komplex des soldatischen Patriotismus. In den Kriegserzählungen und in Krieg und Frieden ist er noch keineswegs als verderblicher und künstlich induzierter Affekt eingeschätzt, wie das später in Was ist Kunst? der Fall ist. Patriotismus ist in Krieg und Frieden eine prosoziale Kollektivemotion, die gerade dann in ihrer phänomenalen Dimension, d.h. als Gefühlsqualität, und in ihrer expressiven Dimension fassbar wird, wenn sie pathosfrei ist. Pierre Bezuchov als Militärtourist erahnt diese Qualität im „bedeutungsvollen, strengen Ausdruck auf den Gesichtern“ der Soldaten, die sich auf die Schlacht von Borodino vorbereiten.39 Er erkennt die „verborgene (latente), wie es in der Physik heißt, Wärme des Patriotismus in all diesen Menschen“.40 Es ist ein Gefühl, das auf den Gesichtern leuchtet. Hier wird eine weitere Opposition eröffnet: Das Stumme, Wortlose, im Gesicht zu Lesende wird der Rede entgegengestellt. Rede wäre in dieser Sicht ein manipulationsanfälligeres Medium als das Gesicht. Hier klingen alte physiognomische Vorstellungen an. Gegen Ende des Romans kommt der gereifte Pierre Bezuchov zur Einsicht, „dass man mit Worten einen Menschen unmöglich von seiner Überzeugung abbringen kann“.41 Die Unvereinbarkeit zwischen patriotischem Gefühl und Pathos wird auch in der Schlusspassage aus Sevastopol’ v dekabre mesjace (Sevastopol’ im Dezember, 1855) gezeigt. Der Patriotismus der russischen Soldaten wird 37

Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 657; Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 54. Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 1008; Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 297. 39 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 309f.; „значительные, строгие выражения лиц“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 214. 40 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 310; „Он понял ту скрытую (latente), как говорится в физике, теплоту патриотизма, которая была во всех тех людях.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 6, 214. 41 Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 2, 891; „признание невозможности словами разубедить человека.“ Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 215. 38

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hier ausdrücklich als Realisierung einer bislang nur im Modus pathetischer Rede proklamierten Haltung verstanden. Hier wird endlich zur Tatsache, was man nicht anders als aus heroisierenden „Erzählungen“ kennt, aus den „Erzählungen von den Zeiten, als Kornilow, dieser des alten Griechenlands würdige Held, seine Truppen abritt und rief: ‚Wir wollen sterben, Kinder; aber wir wollen Sewastopol nicht übergeben‘ und unsere zu leeren Phrasen unfähigen Russen antworteten: ‚Wir wollen sterben, hurra!‘ […]“.42

5. Außer-Sich-Sein: Schock und Ekstase als Formen der Affektüberwältigung Es gibt, neben dem rhetorischen Pathos und neben den Gegenmodellen gelingender Gefühlskommunikation, noch eine dritte Motivschicht des Romans. Hier werden Szenen des Außer-Sich-Seins von Personen geschildert, aber nicht als pathologische Symptome des Zerfalls rhetorischer Souveränität, wie im Falle Napoleons, sondern als Situationen stärksten Ergriffenseins jenseits aller Rhetorik. Gemeint sind Szenen wie Pierre Bezuchovs Entsetzen angesichts der Exekution russischer Mitgefangener durch französische Soldaten (IV/1/11), wie die Sinnesverwirrung des Offiziers Nezvickij beim Überqueren der Brücke über die Enns (I/2/7), der Fieberwahn des tödlich verwundeten Andrej Bolkonskij (III/3/32), der Nachtritt des übermüdeten Nikolaj Rostov (I//2/21), die emotionale Erschütterung Nikolaj Rostovs auf der Brücke über die Enns (I/2/8). Auf diese Situationen trifft zu, was Sergej Ėjzenštejn später als Effekt kontrastiver Affekteinwirkungen, als „Außer-Sich-Geraten“ (isstuplenie) beschreiben wird. Es sind Momente, in denen sich maximale Schmerzerfahrung und maximale Euphorik, maximales Entsetzen und maximale Illudierung im Sekundenwechsel gegenüberstehen. Rostov ist buchstäblich hingerissen, fortgerissen von den durch das strahlende Sonnenlicht evozierten Imaginationen ferner Glückslandschaften und nimmt im selben Moment das Stöhnen der Verwundeten und das Schreien der Soldaten wahr (I/2/8). Es kommt zu einer bemerkenswerten Dissoziation der Sinne: visuell die 42

Tolstoj, L.N.: Sewastopol im Dezember 1854. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von G. Drohla. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1961, 136-155, hier: 154f. „Только теперь рассказы о первых временах осады Севастополя […], о временах, когда этот герой, достойный древней Греции, – Корнилов, объезжая войска, говорил: ‚Умрем, ребята, а не отдадим Севастополя‘, и наши русские, не способные к фразерству, отвечали: ‚Умрем! Ура!‘ – только теперь рассказы про эти времена перестали быть для нас прекрасным историчесим преданием, но сделались достоверностью.“ Tolstoj, L.N.: Sevastopol’ v dekabre mesjace. In: Ders.: Sobranie sočinenij v četyrnadacti tomach. Bd. 2. Moskau 1951, 110-124, hier: 123f.

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Illudierung durch das Sonnenlicht, akustisch die Wahrnehmung der Kriegsgräuel. Eine ähnliche Sinnesverwirrung erlebt Rostov beim nächtlichen Ritt (I/2/21): Die überschärfte Wahrnehmung akustischer Eindrücke in der umgebenden Dunkelheit gipfelt im synästhetischen Verschmelzen der stöhnenden Stimmen der Verwundeten mit der Finsternis. Resultat ist die Immersion des Reiters in diese Atmosphäre, in eine ihn homogen umschließende, fluide Affektmaterie.43 Noch deutlicher tritt diese Dissoziation der Wahrnehmungssinne bei Pierre Bezuchov als Zeuge der Exekution russischer Kriegsgefangener auf (IV/1/11). Angesichts des traumatisierenden Geschehens werden einzelne Sinne gleichsam ausgeschaltet. Durch die Isolierung und Überforderung jeweils nur eines einzigen Sinnes wird die Schockwirkung erhöht. Zuerst werden die Vorbereitungen zur Exekution ausschließlich visuell registriert, wie ein Stummfilm, ohne einen Laut zu hören. Dann folgt die Abwendung des Blicks mit dem Resultat der akustischen Schockwahrnehmung des Gewehrfeuers. Danach wendet sich Pierre erneut dem Geschehen zu und nimmt, wiederum taub, die Prozedur wahr, in der die Leichname in eine Grube geworfen werden. Dieser Prozess wiederholt sich bei der zweiten Erschießung in gleicher Folge. Was hier beschrieben wird, ist eine kollektive Ekstase des Schreckens, die alle, sowohl die Opfer als die Täter, erfasst. Die Eskalation dieser Szene in einen Zustand des Außer-Sich-Seins, der buchstäblichen Geistesabwesenheit, ist auch hier bedingt durch die Kontrastierung von Affekten. Nicht nur das Entsetzen, sondern zugleich eine erregende Neugierde erfassen Pierre, der sich bei den folgenden Erschießungen schon nicht mehr abwendet, sondern in Faszinationsstarre seinen Blick auf die Opfer, auf deren Körperbewegungen unmittelbar vor dem Moment ihrer Erschießung, auf das Niedersinken und Einknicken der erschossenen Körper fixiert. Die Illudierung durch das Geschehen bewirkt die restlose Isolierung des Sehsinns: Die letzten Erschießungen betrachtet Pierre, ohne die Schussgeräusche überhaupt wahrzunehmen. Eine Kontrastdynamik entsteht auch über die längere Strecke dieser Erzählpassage (Pierre im Kriegsgefangenentransport): Die trauma43

Vgl. Sinnestrübungen wie die Wahrnehmung eines „Flecks“ und deren Reflex in bilingualen Redeautomatismen während Rostovs Flankenabritt vor der Schlacht von Austerlitz, wieder in übermüdetem Zustand und im Nebeldunkel (I/3/13): „Es kam ihm sogar so vor, als bewegte sich etwas über diesen weißen Fleck. ‚Offenbar Schnee, dieser Fleck; ein Fleck – une tache‘, dachte Rostov, ‚une tache … ne tasch… Natascha, Schwester, schwarze Augen. Na ...taschka...‘“ Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 1, 465. „Ему показалось даже, что по этому белому пятну зашевелилосъ что-то. ‚Должно быть, снег – это пятно; пятно – une tache‘ – думал Ростов. ‚Вот тебе и не таш... Наташа, сестра, черные глаза. На... ташка...‘“ Tolstoj, Sočinenie proizvedenij, Bd. 4, 328. Vgl. auch Rostov als Besucher im Hospital auf der Suche nach dem verwundeten Denisov (II/2/17): Er erschaudert angesichts der Verwundeten und der Leiche eines jungen Soldaten mit unter die Lider verdrehten Augen.

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tisierenden Erlebnisse kollidieren mit der euphorischen Ekstase beim Blick Pierres in den nächtlichen Himmel (IV/2/14).44 Vergleichbare Momentе des Außer-Sich-Geratens gibt es auch unter den einfachen Soldaten während der Gefechtsszenen. So wird etwa geschildert, wie nach jeder einschlagenden Kugel des Feindes eine allgemeine Munterkeit um sich greift. Der Gesichtsausdruck der Soldaten wird mit dem Aufstrahlen von Blitzen aus einer Gewitterwolke, die emotionale Vereinigung der Soldaten mit der Kraft des sich ausbreitenden Feuers verglichen. Аuch dies sind klassische Affekttopoi. Ein krasses Beispiel für kontrastive Affektmontage jenseits der militärischen Sphäre enthält die Erzählung Vater Sergij. Hier wird eine Szene maximaler erotischer Intensität, der Besuch der Verführerin Makovkina beim Mönchsasketen, mit einer Aktion der Selbstverwundung konfrontiert: ‚Gleich‘, sagte er, nahm das Beil in die rechte Hand, legte den Zeigefinger der Linken auf den Klotz, schwenkte das Beil hoch und hieb auf den Finger unterhalb des zweiten Gliedes. Der Finger sprang leichter ab, als ein Holzstück von gleicher Dicke abzuspringen pflegte, drehte sich um, schlug gegen den Rand des Klotzes und fiel dann auf die Erde. Er vernahm diesen Laut früher, als er den Schmerz fühlte. Doch kaum hatte er sich gewundert, dass er keinen Schmerz empfand, da hatte er schon das Gefühl eines brennenden Schmerzes und des warm rieselnden Blutes. Er wickelte den Stummel schnell in den Rand seiner Kutte, drückte ihn gegen die Hüfte, ging in die Zelle zurück und fragte leise, mit niedergeschlagenen Augen: ‚Was wünschen Sie?‘45

Die Szene ist interessant im Vergleich zum bereits erwähnten Bild des Axthiebs als Metapher für den leeren Schwulst der Rede in Der Überfall. Der Hieb des Mönchs Sergij ist ambivalent: real verwundende actio, zugleich aber nicht frei von einer Schattierung des Hypertrophen, des Verderbens der Askeseübung durch Eklatanz. Hier werden ethische Aspekte – Mönchsehrgeiz, Hybris – angesprochen, auf die später noch zurückzukommen sein wird. 44

Eine Gegenszene ist die Erschießung Platon Karataevs (IV/3/14). Hier unternimmt Pierre den Versuch einer Selbstanästhisierung – er entfernt sich von der Stelle, wo die Erschießung stattfinden wird, er hört den Schuss „von hinten“ („сзади“) und schweift im selben Moment mit seinen Gedanken ab zu trivialen Routinen des Armeealltags. Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd., 2, 815; Tolstoj, Sobranie sočinenij, Bd. 7, 163. 45 Tolstoj, L.N.: Vater Sergius. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von G. Drohla. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1961, 66-124, hier: 95. „‚Сейчас‘, сказал он и, взяв топор в правую руку, положил указательный палец левой руки на чурбан, всмахнул топором и ударил по нем ниже второго сустава. Палец отскочил легче, чем отскакивали дрова такой же толщины, перевернулся и шлепнулся на край чурбана и потом на пол. Он услыхал этот звук прежде, чем почувствовал боль. Но не успел он удивиться тому, что боли нет, как он почувствовал жгучую боль и тепло полившейся крови. Он быстро прихватил отрубленный сустав подолом рясы и, прижав его к бедру, вошел назад в дверь и, остановившись против женщины, опустив глаза, тихо спросил: – Что вам?“ Tolstoj, L.N.: Otec Sergij. In: Ders.: Sobranie sočinenij v četyrnadcati tomach. Bd. 12. Moskau 1951, 195-236, hier: 216.

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Neben solchen Affektkollisionen gibt es rhythmisch und kinästhetisch induzierte Ekstasen. Das gilt für diverse Tanzszenen, etwa den „Danilo Kupor“ des alten Grafen Rostov auf dem Namenstagsfest Natašas (I/1/17) oder Natašas und Denisovs Tanz auf dem Ball bei Iogel (II/1/12). Taumel- und Geschwindigkeitseffekte sind Auslöser für eine der markantesten Euphorisierungsepisoden des Romans, die Wolfsjagd Nikolaj Rostovs (II/4/5). Wieder haben wir es mit einer Intensitätssteigerung der Wahrnehmung mittels sensueller Selektion zu tun: visuelle Fixierung auf den laufenden Wolf, Nichthören des eigenen Jagdschreis, Nichtwahrnehmung der eigenen Galoppbewegung. Eine extreme Affektkollision tritt hinzu: Das maximale Glücksgefühl und das Erschaudern über den vom Wolf verletzen Jagdhund koinzidieren in ein und derselben Sekunde. Eine dritte Form des Außer-Sich-Seins sind atmosphärisch induzierte Rauschzustände. Ein Beispiel ist Natašas Ekstase in der Oper (II/5/9). Diese berühmte Szene ist mehr als nur ein Paradebeispiel der Verfremdung, d.h. des nicht verstehenden Blicks auf die ihres Zeicheninhalts entblößten Materien der Opernaufführung: Körpermaterien, Bühnenmaterien, Stimmenmaterien. Jenseits dieses Blicks auf die Bühne und ermöglicht durch dessen Verwilderung gewinnt die erotische Atmosphäre im Zuschauersaal erst ihre Intensität. Sie treibt die sich selbst libidinös in den Blicken der anderen spiegelnde Nataša in einen Rausch, der ein Austreten aus ihrem Körper über eine Kaskade von Transgressionswünschen provoziert: den Wunsch aufzuspringen,46 den Wunsch, auf die Bühne zu springen und sich der Sängerin zu substitutieren, ihre Arie zu singen, den Wunsch, einen vor ihr sitzenden Herrn mit dem Fächer zu stupsen, den Wunsch, die neben ihr sitzende Hélène zu kitzeln. Hier wird das transgressive Moment des Außer-Sich-Geratens, des aus den Grenzen des eigenen Körpers Hinaustretens, sinnfällig.

6. „Absolute Sprache“ und außerrhetorisches Pathos Dass höchste literarische Sensibilität für die soziale Redevielfalt nicht gleichbedeutend ist mit Dialogizität, hat Michail Bachtin in der berühmten Tolstoj-Passage seines Dostoevskij-Buchs nachhaltig deutlich gemacht.47 Bachtin wirft Tolstoj vor, dass dessen Autorenwort das Wort seiner Helden in sich einschließe und objektiviere, dass es keinen Raum für eine „Unabschließbarkeit des Helden“ in dieser monologischen Erzählstruktur gebe. Die 46

Vgl. Ėjzenštejn über das Aufspringen der Kinozuschauer aus den Sesseln: Eisenstein, S.M.: Das Organische und das Pathos. In: Ders.: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Hrsg. von F. Lenz und H.H. Diederichs. Frankfurt a.M. 2005, 202-237, hier: 224. 47 Bachtin, M.: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1985, 63f.

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Nachwirkungen dieser Passage sind beträchtlich und nicht unproblematisch. Von den wenigen Versuchen, sie zurückzuweisen oder zumindest zu relativieren, sei hier auf Gary Saul Morson verwiesen, der sich im ersten Kapitel seiner Studie Hidden in Plain View mit Tolstojs Ambition auf eine ‚absolute Sprache‘ auseinandersetzt. Vor dem Hintergrund des von Bachtin postulierten Sprachrelativismus des Romans und der Theorie des Romans als eines konstitutiv offenen, selbstparodistischen Genres betont Morson: Auch diese Erwartung selbst könne verfremdet und gestört werden, eben durch die gattungsdeviante Verwendung einer bedingungslosen und undialogischen Sprache.48 Diese Sprache gewinne eine umso größere Effektivität in einem Zusammenhang, wo man sie nicht erwartet. Die Verwendung autoritativer Redeformen – Sprichworte, Bibelzitate, mathematische Beweise, Syllogismen – und Tolstojs Neigung zur Ironisierung der beschränkten Wahrheiten seiner Protagonisten dienten der Etabliеrung einer „autorlosen Autorschaft“, d.h. einer Instanz, deren Aussagen den Charakter universaler Deduktionen haben, die eigentlich jeder Leser auch vornehmen muss.49 Diesem Streben nach einer absoluten, sich über die Individualperspektiven einzelner Sprecher erhebenden Sprache verdanke sich auch die Favorisierung postumer, gleichsam schon aus einer Sphäre jenseits menschlicher Partikularinteressen stammender Textformate: Sendschreiben vom Sterbebett und Tagebücher mit erkennbarer Ambition auf deren postume Rezeption. In diesem Zusammenhang einer absoluten Sprache erhält das Pathos eine neue Rechtfertigung. Es gehört einer Sprache, die sich über die interessengebundene Rhetorik einzelner Subjekte erhebt. Beides, Pathos und Antipathos, gewinnt nun eine besondere Funktion. Pathos und Antipathos dienen, je nach situativer Notwendigkeit, entweder als auktoriale Ausschaltung oder als auktoriale Auszeichnung der Erzählstimme. Im ersten Fall profiliert sich die Autorenrede in ihrer Exklusivität gegenüber der Erzählstimme, die gleichsam verstummt. Das gilt für Vor- und Nachworte, die Tolstoj vehement von ihrem Marginalstatus als Paratexte entbinden wollte. In Krieg und Frieden ging er so weit, seinen geschichtstheoretischen Kommentar direkt in den Romantext einzustellen. In diesem Verfahren ist ein Gestus des Antipathetischen vorherrschend – als Ausweis wissenschaftlicher, deduktiv objektivierbarer Wahrheit dessen, was in der Erzählung exemplarisch und evidentiell imaginiert wird.50 48

Мorson, G.S.: Hidden in Plain View. Narrative and Creative Potentials in War and Peace. Stanford 1988, 12. 49 Ebd., 24ff. (Kapitel „Authorless Authorship“). 50 Vgl. zum Zusammenhang dieser Strategien mit einer seit der Antike bekannten Skeptizismustradition: Love, J.: The End of Knowing in War and Peace. In: Tolstoy Studies Journal 15 (2002), 35-49. Zu Tolstojs szientistischen Erklärungsversuchen von Geschichte, besonders bzgl. der physikalischen ‚Mechanik‘ des Krieges (unter Bezugnah-

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Was den zweiten Fall, die auktoriale Auszeichnung der Erzählstimme, betrifft, sei hier auf ein spezifisches Verfahren verwiesen: die Rehabilitation des unzuverlässigen Erzählers. Tolstoj setzt einen unzuverlässigen Erzähler ein, dies aber nur, um die Relativität misstrauischer Einstellungen ihm gegenüber, die Abhängigkeit solcher Bewertungen von der beschränkten Perspektive des durch Vorurteile geblendeten Publikums solcher Erzähler deutlich zu machen. Ein markantes Beispiel ist der Binnenerzähler in Die Kreutzersonate. Hier nun gerade herrscht ein pathetischer Modus der Rede vor. Doch dieses Pathos ist unterschieden von rhetorischem Pathos. Gerade die fehlende Diskurssouveränität des Sprechers bewirkt die Macht seiner Rede und sie ist der performative Selbstausweis der Wahrheit dieser Rede. Unbeholfene, unkontrollierte, kommunikationsstrategisch unbedachte Pathosverwendung ist die Bedingung für das Zurückgewinnen einer vorrhetorischen Dimension pathetischer Rede – einer körperlich transgressiven Rede, verletzend und verletzlich, einem fast animalischen Leib entströmend. Es ist in jedem Sinn, sowohl hinsichtlich ihrer Inhalte als auch hinsichtlich ihrer Performanz, eine Rede der Gewalt. Der Erzähler, Pozdnyšev, erzählt im Zugabteil von seinem aus Eifersucht begangenen Mord an seiner Frau. Provoziert wird diese Erzählung durch die Debatte einiger Fahrgäste über Fragen der Sexualmoral und der Frauenemanzipation. Schon die Erzählung selbst, nicht erst das, was sie erzählt, ist ein Ereignis. Schon die schlichte Anwesenheit dieser Person, einer störenden, mit diesem Namen den debattierenden Fahrgästen bereits bekannten, skandalösen Figur, bedeutet das Ende von deren Diskurs. Man setzt sich weg von diesem Geächteten, nur Rahmen- und Ich-Erzähler bleiben übrig und verbünden sich in einer Verschwörung des Erzählens. Das Erzählen selbst, die Performance, ist eine Handlung, körperlich. Es ist ein konvulsivisches Erzählen, es bricht in Tiraden aus dem Munde Pozdnyševs heraus. Dessen Rede ist unterbrochen und unterlegt von nonverbalen Lauten, von motorischen Stockungen und Beschleunigungen (Aufstehen, Aus-demFenster-Sehen, Hinausgehen, Wiederkommen). Sie markieren die Einbrüche des Zauderns, überhaupt weiter zu erzählen, und die Selbsthypnotisierungen zum Weiterreden. Die Rede ist von stimmlichen Exzessen begleitet, etwa wenn der Erzähler seinen Zuhörer anschreit, weil er auf dessen Seite eine nur erheuchelte Zustimmung vermutet – als sei seine Erzählung essentiell ein Anlass des Dissens und der Empörung. Das Erzählen findet im Dunkeln statt – wir hören mit dem Rahmenerzähler nur die Stimme Pozdnyševs, sehen sein Gesicht nicht. Auch dieser Sprecher ist übererregt, auch seine Gesichtsmuskeln, auch seine Bewegungen sind neurasthenisch. Dies führt aber nicht, wie im Falle me auf das Geschichtskonzept Michail Pogodins) vgl. auch Köppen, M.: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg 2005, 116.

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Napoleons, zur Diskrepanz mit dem proklamierten Inhalt der Rede. Im Gegenteil – es belegt die Gewalt der das Sprechen überfallenden Affekte. Diese Erzählstimme weist sich, gerade in ihrer nur scheinbaren Unzuverlässigkeit, als Medium eines höheren Wissens aus – eines Wissens, das nur im diskursiven Abseits formulierbar ist. Sie ist das Medium einer absoluten Sprache, die sich gleichsam doppelt in ihrer Wahrheit beweist – kraft ihres häretischen Erkenntnispotentials und kraft ihrer Affektintegrität. Das Obsessive, überstiegen Rigoristische, fast schon Fanatische dieser Erzählstimme ließe sich jenseits des Monologismusverdachts als eine Form der Ghettoisierung der eigenen Rede verstehen, die auch für Tolstojs Autorenkommentare gelten könnte. Aus dem Zwang dieser Rede, das aptum diskursiver Akzeptanzregeln zu verletzen, ergibt sich ihre Aggressivität und Verletzlichkeit, ihr transrhetorisches Pathos. Zugleich ist diese Form des Unmöglichmachens der eigenen Rede signifikant vor einem kommunikationsethischen Hintergrund. Die Stimme mit Anspruch auf absolute Sprache befindet sich in einem ethischen Dilemma. Es ist das Dilemma der prophetischen Hybris. Eine Rede, die sich in der Sicherheit ihres Wahrheitsanspruchs exponiert, läuft Gefahr, ihren Sprecher, bloßes Medium dieser Wahrheit, zu spektakularisieren. Schon Charismatik kann hier prekär werden. Dass sich Tolstoj wiederholt mit diesem Problem auseinandersetzt, hat also tiefere Gründe als nur die Verspottung charismatischer Feldherren. Er scheint hier am neuralgischen Punkt seiner eigenen Ambition wahrheitsautoritativen Sprechens angekommen zu sein. In diesem Zusammenhang ist die Erzählung Vater Sergij von besonderem Interesse, da Tolstoj hier das seinen eigenen Status als lehrender Autor berührende Problem der prophetischen Hybris fiktional durchspielt. In dieser Geschichte einer Mönchwerdung lernt der Protagonist, dass das Wissen von der eigenen Demut bereits der Keim des Stolzes ist. Der Mönch Sergij gerät in eine Spirale der demonstrierten Demut, der ausgestellten Demut – widersinniger Konstellationen, wenn doch jegliches Ausstellen, und sei es der edelsten Absichten, bereits der in der Demut implizierten Bescheidenheit Hohn spricht. Die Erzählung ist auch deshalb in unserem Fragezusammenhang besonders interessant, weil sie zurückführt zum Komplex des rhetorischen Pathos. Sie zeigt die fatale Triade Artifizialität-Dissimulation-Pathos als eine universale Poetik des Verhaltens, die von der sprachlichen Ausdrucksweise über höfische, militärische, weltliche und kirchliche Rituale bis hin zur Wahl von gesellschaftlicher Stellung, Beruf und Amt reicht. Schon die Entscheidung des Fürsten Kasackij für den Verzicht auf eine höfische Karriere und sein Eintritt in den Mönchsstand, also eigentlich ein Entsagensentschluss, ist geprägt von diesem Gestus der Schaustellung: Eben dass er seine Verachtung des den Anderen Wichtigen „zeigte“ (pokazyval), war die

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eigentliche Motivation dieses Entschlusses.51 Die gesamte nun folgende Geschichte folgt einer Eskalationslogik. Das immer selbe Dilemma zwischen Entsagungsanspruch und Ruhm wird in einer Spirale hochgeschraubt, in der der jeweils notwendige Schritt eines noch radikaleren Entsagens mit einer umso größeren Ambition verbunden ist, ja eigentlich nur unter der Voraussetzung eines solchen Ambitionismus zu schaffen ist (Thema des „Mönchsehrgeizes“/ [monašeskoe čestoljubie]):52 zuerst der Gang ins Kloster, von dort als Klausner in die Einsiedelei, von dort als Inkognitus in die Pilgerschaft, von dort zur Niederlassung in Sibirien als Tagelöhner eines reichen Bauern. Es ist der wiederholte, fatale, unvermeidliche Rückfall des Mönchs in das Spektakel, sei es für die zur Messe versammelte Gemeinde, sei es für die Besucher seiner Einsiedlerklause, die diese Eskalationsspirale antreibt. Es ist die Spirale einer medial kontaminierten Wahrheit. Die Analogien zur Situation Tolstojs sind frappierend.

51 52

Tolstoj, Vater Sergius, 74; Tolstoj, Otec Sergij, 201. Tolstoj, Vater Sergius, 78; Tolstoj, Otec Sergij, 204.

TOMÁŠ GLANC

Slavische Bewegungsbilder Die tschechische Sokol-Bewegung und ihre mediale Wirkungsästhetik Der Verein Sokol (dt. Falke) wurde 1862 in Prag von Miroslav Tyrš und Jindřich Fügner als eine nationale Turnerbewegung nach deutschem Vorbild gegründet. Sie ist einerseits als eine zuerst tschechische Adaptation und Umkodierung der deutschen Turnerschaft, andererseits aber auch als eine Fortsetzung bzw. Steigerung – im Sinne eines neuen Instruments – der slavischen Ideologie zu verstehen. Vom wirkungsästhetischen Standpunkt aus betrachtet, ist in der Sokol-Bewegung die pathetische Disposition der slavischen Turnerschaft, d.h. der Fokus auf die Gefühle, die durch Ereignisse (kollektive Aktionen) initiiert werden, festzustellen. Es geht also um den performativen und transmedialen Charakter dieser Wirkungsästhetik, um ästhetisierte soziale Handlungen und ihre Semantik. Die Sokol-Ästhetik basiert nämlich auf performative Akte: Parade („slet“), Turnen, Ausflug, Spazierfahrt („vejšlap“), Narrenzug („šibřink“), Fackelzug, (Masken-)Ball. In der Geschichte der Ideologie des Slaventums gibt es nach der archäologischen und philologischen Phase der 1820er und 1830er Jahre und im Zusammenhang mit der Institutionalisierung der slavischen Bewegung (vor allem durch Matica-Institutionen und die ersten slavischen Lehrstühle in den 1830er und 1840er Jahren) eine Phase, die Performanz, Akt und Aktivismus als Realisierung einer Idee der slavischen Einheit privilegiert und durch zahlreiche kulturelle, mediale, sportliche, politische, architektonische (etwa der Ausbau der „Sokolovna“-Gebäude, Abb.1) und militärische Mechanismen entwickelt. Tätigkeit und Ideologisierung der Sokol-Turnerschaft bringen diese Tendenzen zum Ausdruck. Die Wirkung des Schönen im Sinne der körperlichen Vervollkommnung und des künstlerischen Ideals war die Hauptdevise von Miroslav Tyrš, der als Kunsthistoriker von Beruf und dezidierter Anhänger der slavischen Idee die sokolschen Konzepte formuliert, systematisiert und durchgesetzt hat.

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Tomáš Glanc Abb. 1: Turnsaal. Völkerkundliche tschechoslavische Ausstellung (Národopisná výstava českoslovanská, 1895). Foto: František Krátký.

1. Jenseits der Philologie Der ursprünglich philologische Schwerpunkt des Programms einer nationalen Wiedergeburt der slavischen Völker wird in der Sokol-Bewegung auf ein Kollektiv ausgeweitet, das nicht nur slavisch liest, schreibt und denkt, sondern sich auch slavisch bewegt, slavisch turnt, slavische Ausflüge macht, eine kollektive slavische Körperlichkeit gestaltet, kultiviert und sich für die Konstitution einer slavischen Gemeinschaft der Zukunft einsetzt.1 Die produzierten Inhalte sind nicht nur kulturelle und politische Werte, sondern auch physische Ereignisse. Sie sollen dem Teilnehmer nicht nur die nationale bzw. nationalisierte Kultur vermitteln, sondern ihn in eine neue Gefühlslage versetzen;2 die emotionale Wirkung, die Produktion von Gefühlen durch spezifische Veranstaltungen (Übungen und andere gemeinsame Aktivitäten und ihre Dokumentation) sollen seine Körperlichkeit neu definieren und ihn in eine spezifische Kollektivität eingliedern. In diesem Sinne lässt sich von einem Sokol-Pathos sprechen.3 Das Programm des Slaventums bekommt im Gymnastikverein Sokol und in der literarischen und künstlerischen Produktion, deren sich die Bewegung 1

In dieser Richtung hat vor allem der Verband slavischer Sokols (Svaz Slovanského sokolstva, SSS) agiert, eine Organisation, die von 1908 bis 1938 existierte und an der Sokol-Parade 1912 mit 4000 Gästen aus dem slavischen Ausland beteiligt war. Siehe Archiv Národního muzea Fond 315 (Josef Scheiner). 2 Die emotionale Dimension des Turnens betont auch der Autor der Tyrš-Biographie Jaroslav Krejčí, vgl.: Krejčí, J.: Miroslav Tyrš: filozof, pedagog a estetik českého tělocviku. Köln 1986, 136. 3 Vogl, J.: Über soziale Fassungslosigkeit. In: Gamper, M./ Schnyder, P. (Hrsg.): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper. Freiburg im Breisgau/Berlin 2006, 179; Zumbusch, C. (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010, 9.

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bedient, eine neue Dimension. Zu diesen ideologisch engagierten Kunstwerken gehören beispielsweise die Gedichte von Tyrš, die Sokol-Sonette Karel Hlaváčeks, Bilder, Grafiken und Plakate bis hin zur Gestaltung von Veranstaltungen, an denen bedeutsame Künstler wie Josef Mánes, Alfons Mucha oder František Svolinský teilnehmen. Die öffentlichkeitsorientierten Darstellungspraktiken beziehen auch die neuen Medien mit ein, zunächst die Photographie, später auch den Film und im Zusammenhang mit der Sokol-Parade von 1948 sogar das Fernsehen. Dadurch konstituieren sich körperliche Ausdrucksformen einer Sprache (eloquentia corporis) und ihre mediale Fixierung in dem Sinne, wie sie Ulrich Port in der Schlussbemerkung über die Zukunft des tragischen Pathos in seiner Re-Lektüre von Warburg, Panofsky oder Curtius anbietet.4 Die physische Präsenz der Teilnehmer in den Übungen und ihre abstrakt-symbolische Betrachtung als Einheit der Slaven schaffen durch einen einheitlichen Stil ein Erfolgsprodukt. Vor der Sokol-Bewegung suchten Intellektuelle die slavische Einheit vor allem in sprachlichen und philologischen Konstruktionen. Zwar wurde die Philologie breit verstanden, d.h. es wurden darunter neben philologischen auch architektonische, gastronomische, religiöse oder sexuelle Aspekte subsumiert (so z.B. in Slovanské starožitnosti [Die Slavischen Altertümer, 1837] von Pavel Josef Šafařík), doch war die Dominante der kulturellen (Selbst-) Definition die Sprache als eine absolute Grundlage des geistigen (kulturellen) Lebens im Sinne Johann Gottfried von Herders und Wilhelm von Humboldts.5 Der Sokol mit seiner performativen Kraft schuf und organisierte erstmals die slavische Masse, die nicht nur als Elite, die über das Volk spricht, sondern als eine kollektive Präsenz mit sozialer Relevanz in Erscheinung tritt. Die kollektive Präsenz wird zu einem physischen Ereignis. Bei der Metapher der Masse wird letztlich ein physikalischer Begriff adaptiert, wobei die Masse unter anderem als die Energetik der Gärung und Detonation verstanden wird.6 Der Sokol entwickelte sich allmählich zu einer Massenorganisation, wobei noch wichtiger als der rapide quantitative Zuwachs der Mitglieder das Konzept des nationalistischen Turnens war, bei dem die symbolische Ordnung der Staatlichkeit übersprungen bzw. getilgt wurde, wie Joseph Vogl in seiner Theorie der Masse schreibt.7 Die Sokol-Bewegung charakterisiert eine doppelte ideologische Fokussierung: auf die nationale, aber gleichzeitig auch auf die slavisch-transnationale Mannhaftigkeit. Die 4

Port, U.: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755– 1886). München 2005, 367-373. 5 Aus der umfassenden Literatur zum Thema vgl. z.B. die Einführung in Tschiževskij, D.: Vergleichende Geschichte der slavischen Literaturen, 2 Bde. Berlin 1968 oder Picchio, R./Goldblatt, H. (Hrsg.): Aspects of the Slavic Language Question. New Haven 1984. 6 Vogl, Über soziale Fassungslosigkeit, 179. 7 Ebd., 181.

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Nation ist eine Vorstufe der slavischen Masse. Auf diese Weise wurde eine ethnisch und körperlich ideale Gemeinschaft durch die „Dekorporierung des politischen Körpers“8 zur Masse etabliert. Anders als Ethos oder Prágma stellt Pathos ein emotionalisierendes Prinzip dar, das den Redner mit dem Hörer verbindet. Gerade diese verbindende, eine Gemeinschaft und eine neue Ästhetik gestaltende Kraft ist der SokolBewegung inhärent. Der menschliche Körper wird seit den 1860er Jahren als ein Bestandteil des nationalen sowie des slavischen Diskurses inszeniert. Das Slavische bleibt dabei eine hybride Kategorie: Sie etabliert eine neue slavische Nationalität, gleichzeitig stiftet sie aber auch eine transnationale Einheit, weil sie die einzelnen souveränen slavischen Nationalitäten vernetzt und verbindet und dadurch homogenisiert. Die Idee der Einheit, der Nähe und der Verwandtschaft wird durch die kollektive Kommunikation zu einer Körperhaltung, einer Gebärde. Anders als Buchveröffentlichungen, Zeitschriften und Zeitungen, Lesungen oder Vorträge ist Sokol eine Institution, die nicht auf die Verbreitung der Ideen, Informationen und Werte fokussiert ist, sondern auf die direkte Beteiligung. Auch derjenige Slave, der nichts von der literarischen ‚Wechselseitigkeit‘ oder der linguistischen Vergleichbarkeit der slavischen Sprachen und ihrer philologischen Verbindung mit dem Sanskrit und dem Griechischen versteht, kann im Sokol an der emotionalen und körperlichen Eintracht partizipieren. Diese performative, die philologische Argumentation transzendierende Inszenierung der Zusammengehörigkeit ist für alle verständlich, demokratisch und emotional intensiv. Sie ist keine wissenschaftliche These, sondern eine unmittelbare, gemeinsame Präsenz, die eine neue, durchtrainierte Zukunft entwirft.

2. Das bewaffnete moderne Turnen Tyrš, der Gründer der Sokol-Bewegung, entwickelte ein prägendes, an deutsche Muster gebundenes System der ideologisierten Gymnastik. Tyrš konzipierte seine Fassung der Gebärden prospektiv, d.h. als eine neue körperliche Kultur für die emanzipierte Zukunft einer selbstbewussten, starken und supranationalen Bluts-, bzw. Turngemeinschaft. Das Turnen war für ihn Ausdruck des Gemeinschaftsgeistes und zugleich Gestaltung einer alternativen (Körper-)Sprache (einer eloquentia corporis, die schon seit Cicero und Quintilian als ein relevanter Bestandteil der rhetorischen Strategie galt)9, genauer: einer Sprache der Zukunft eines kollektiven, transslavischen Körpers. Die Nationalisierung und Verkörperung des Pathos in der Turnerschaft ist eine Strategie, die besonders während der Intensivierung und Radikalisierung 8 9

Ebd. Berry, D./Erskine, A.: Form and Function in Roman Oratory. Cambridge 2010, 51.

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des kulturellen Selbstverständnisses aktiviert wird.10 Die Tätigkeit der SokolBewegung haben viele ihrer Protagonisten in Analogie zum Kriegszustand und zum Guerillakampf gesehen; für diese These spricht, dass sie im Deutsch-Deutschen Krieg 1866/1867 für den Zugang zur Waffe und für die Teilnahme an militärischen Operationen plädierten, obwohl sie eigentlich nicht für die Staatsidee der habsburgischen Monarchie, sondern für die slavische Emanzipation kämpfen wollten und den revolutionären Kampf bzw. den Unabhängigkeitskrieg mit ihrer Uniform, die an das rote Garibaldi-Hemd erinnerte, ausdrückten (Abb. 2).11 Abb. 2: Josef Mánes: Entwürfe für die erste SokolUniform, 1862.

Das slavische Pathos appellierte in der Sokol-Bewegung an die nationale bzw. ethnische Einheit des Kollektivs, an seine biologische Bruderschaft und an die archaisch inszenierte Tüchtigkeit der disziplinierten Masse. Gleichzeitig wurden dafür modernste technologische Mittel angewandt – der Sokol modellierte in dieser Hinsicht eine progressive, zukunftsorientierte gesellschaftliche Kraft, für die die Aufgeschlossenheit gegenüber neusten Technologien (Photographie, Film – erste kinematographische Experimente des Filmpioniers Jan Kříženecký, Fernsehen – Fernsehsendung während der XI. Sokol-Parade 1948) einen natürlichen Teil der generellen Fortschrittlichkeit darstellte. 10

Bolz, N. (Hrsg.): Das Pathos der Deutschen. München 1996; Betz, A. (Hrsg.): Französisches Pathos. Selbstdarstellung und Selbstinszenierung. Würzburg 2002. 11 Sak, R.: Miroslav Tyrš. Prag 2012, 84-87. Zum Militarismus im Sport siehe auch Arié Malz, A./Rohdewald, S./Wiederkehr. S. (Hrsg.): Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Osnabrück 2007, besonders die Themengruppe „Nation, Ethnizität, Identität und Sport“, in der die osteuropäische Problematik besprochen wird.

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Die beiden Gründer der Bewegung, Tyrš und Fügner, waren enthusiastische Aktivisten im Dienste des modernen Menschen, seiner Emanzipation und auch seiner neuen Kommunikationsmöglichkeiten: Fügner, ein erfinderischer ‚Freigeist‘, propagierte die Stenografie und war Vorsitzender der Vereinigung der Stenografen (Pražský spolek stenografů gabelsbergerských)12 – durch ihre Demokratisierung entwickelte sich die Stenografie ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur Mode (bis dahin wurden Kurzschriften nur von einer kleinen Elite genutzt). Fügner etablierte die progressive, geisteswissenschaftlich orientierte Körperkultur als ein prosperierendes Unternehmen. Er war Generalvertreter der italienisch-österreichischen Versicherungsgesellschaft „Nuova Società Commerciale d’Assicurazioni“, finanzierte die Sokol-Bewegung aus privaten Mitteln und kümmerte sich um die gesellschaftliche Resonanz der Bewegung.13 Seine Autorität beruhte nicht auf der Tätigkeit eines Wissenschaftlers, Dichters oder Philologen – er war Aktivist. Oft war er mit seinem Segelboot und amerikanischer Flagge auf der Moldau unterwegs. Fügner konzipierte gemeinsam mit Tyrš einen sozialen Plan des bürgerlichen Kollektivismus und Patriotismus, der in einer radikalen Strategie des Wandels aufgehen sollte: Der ländliche Patriotismus sollte die Akzeptanz und Aneignung der tschechischen Sprache sowie die Arbeit an ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung fördern. Religion spielte bei Fügner und Tyrš keine Rolle mehr bzw. sie wurde durch die Spiritualität der kollektiven Bildung einer neuen Form von Gemeinschaft, der Massenbewegung im Zeichen der slavischen Zusammengehörigkeit, ersetzt.14

3. Hroch und Sokol Miroslav Hroch, ein bekannter tschechischer Historiker, unterscheidet in seinem Werk über den mitteleuropäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts drei Stadien der Formierung einer nationalen Bewegung (Drei-PhasenModell):15 Die Phase A stellt die Periode des wissenschaftlichen bzw. akademischen Interesses einiger Gebildeter am Studium der Sprache, Kultur und Geschichte einer Nation dar. Dabei handelt es sich um eine Art philologischen Patriotismus aufklärerischer Prägung weniger Menschen ohne organisatorische 12

Sak, Miroslav Tyrš, 48. Scheier, J.: Dějiny Sokolstva v prvém jeho pětadvacetiletí. Prag 1887, 27. 14 Nolte, C.E.: The Sokol in the Czech Lands to 1914. Training for the Nation. Basingstoke 2003, 9. 15 Hroch, M.: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen. Prag 1968; ders.: Evropská národní hnutí v 19. století. Prag 1986, 63-65; ders.: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen 2005. 13

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Basis. Die Phase B ist die Zeit patriotischer Tätigkeit durch neue organisatorische Formen, bespielweise durch die sogenannten Matice, eine Art ‚Firma‘, die gleichzeitig als Verlag, Bildungsorganisation, Bibliothek, Lesesaal, Stiftung, Beratung, Akademie, Partyveranstalter, Lobbygruppe und politische Bewegung fungiert. Die dritte Phase (C) ist die Periode der Integration der breiten Masse. Die Bewegung hat auf dem gesamten nationalen Territorium eine stabile Kommunikationsstruktur geschaffen, wobei die Dynamik zwischen Zentrum und Provinz produktiv auf die Nationsbildung wirkt. Diese in der Forschung anerkannte Einteilung ist mit den Überzeugungsmitteln, die die antike Rhetorik bereitstellt, kompatibel: Die erste Phase ist durch das individuelle Ethos der Bewahrung und der wissenschaftlichen Entdeckung bzw. Erforschung der eigenen Nationalkultur charakterisiert. In der zweiten Phase steht die gegenstandsorientierte Praxis im Vordergrund. Es entstehen Institutionen – die pragmatische Basis des Unternehmens als eine überindividuelle Plattform. Erst die dritte Phase ist durch Pathos, durch die kollektive emotionale Beteiligung gekennzeichnet. Bei Hroch spielt dabei der quantitative Aspekt, die Integration der breiten Masse, eine zentrale Rolle. Natürlich können pathetische Konstellationen auch in der ersten und zweiten Phase festgestellt werden. Dominant wird aber die Orientierung auf konstitutive kollektive Gefühle, die durch absichtlich konzipierte und als Spektakel inszenierte und durchgeführte Ereignisse aktiviert werden, erst in der Phase der Massenbewegung. Pathos muss in diesem Sinne allerdings präzisiert werden: Gemeint ist gerade die überindividuelle Kraft der Produktion von Gefühlen, die Produktion nicht nur durch gymnastische performative Praktiken, sondern auch durch zahlreiche begleitende Aktivitäten wie Feste, Happenings (Spazierfahrten, Narrenzüge u.a.), spezifisch organisierte Versammlungen, Präsentationen, Bälle und andere Veranstaltungen (Abb. 3). Abb. 3: Sokol-Ausflug, Anfang des 20. Jahrhunderts. Foto: Ruda BrunerDvořák.

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Für unser Thema ist besonders diese dritte Phase relevant, die Hroch erst im 20. Jahrhundert beobachtet. Die Sokol-Bewegung ließe jedoch eine frühere Datierung der dritten Phase zu, die der Historiker bei den kleinen Völkern Europas erst in der Epoche der Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg feststellt. Die Zielgerichtetheit auf eine alle Bevölkerungsschichten einbeziehende nationale Souveränität und auf eine globale Kommunikation könnte somit schon in die 1860er Jahren datiert werden. Die pathetische Komponente dieses Projekts besteht vor allem in der Auflösung der Grenze zwischen Darstellern und Rezipienten einer Kultur sowie in der Etablierung einer Massenbewegung, eines kollektiven Körpers. In der Sokol-Bewegung geht es nicht ums Unterrichten, Forschen, Vortragen und Aufklären, sondern um die gemeinsame, synchrone Bewegung, um eine komplexe Performativität, zu der nicht nur Kunst, Sprache, Literatur, sondern auch Mode, Architektur und Leibeserziehung gehören. Die Ode oder die Elegie, also die klassischen Träger des Pathetischen, verwandeln sich in der Ästhetik der Sokol-Bewegung in die Kunst des Designs und der Dekoration und wurden von anerkannten zeitgenössischen Künstlern realisiert, z.B. von Josef Mánes und Alfons Mucha – also denjenigen, die das visuelle Handbuch der nationalen, und im Falle Muchas auch der slavischen Programmatik (Bilder für öffentliche Gebäude und für das Nationaltheater, Trachten, Plakate für wichtige nationale Feste usw.) gestaltet haben. Für die pathetische Wende im Rahmen des neuen gymnastischen nationalen Kollektivismus, der die Massen brüderlich (die Mitglieder duzten sich und nannten sich „Bruder“ und „Schwester“) organisieren sollte, wurden unterschiedliche Mechanismen (wie z.B. koordinierte Bewegung beim Turnen) eingesetzt, die die Einheit konstituieren sollten (Abb. 4). Abb. 4: Männerturnen am IV. Turnfest in Prag, 1901. Foto: Jan F. Langhans.

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Während die Teilnahme am philologischen Programm der slavischen Idee anspruchsvoll war, konnte doch jeder turnen – sowohl im In- als auch im Ausland: Die Sokol’schen Ideale wurden schon Mitte der 1860er Jahre durch tschechische Patrioten in die USA und später auch in andere Siedlungen der slavischen Diaspora verbreitet. Vor allem in Slowenien, Kroatien16, Polen, Bulgarien, Russland und in Galizien, wo auf der Basis der Sokol-Bewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts im Widerspruch zur Intention der Einigung durch Turnen aggressive nationalistische polnisch-ukrainische Auseinandersetzungen stattfanden, entstanden viele Sokol-Vereine. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand der sorbische Sokol-Verein.17

4. Der allgemeine Rausch Im Sinne von Hrochs dritter Phase scheint für Tyršs ästhetische und sozialpolitische Ambitionen vor allem das Kollektive eine organisierende Rolle zu spielen: Anders ausgedrückt, entwickelte der Sokol eine antiindividualistische Strategie. Das Kollektiv symbolisierte für Tyrš seit den 1860er Jahren vor allem ‚seine‘ schnell wachsende Sokol-Organisation, unter Umständen auch die Nation; doch gleichzeitig hatte das Kollektiv für Tyrš auch eine allgemeinere, transzendentale Bedeutung: Es war für ihn eine Form säkularisierter Religion. In seinen poetischen Texten aus den 1870er Jahren schreibt er, dass eine Mutter ihr Kind nicht für sich selbst, „sondern als Geschenk und Opfer für die ganze Menschheit“18 erzöge. Seiner Auffassung nach lebt der Mensch, um dem großen Ganzen zu dienen und dieses Ganze hält dem Individuum dann sein zuvor invalides Leben vor Augen: Dass du für dich lebst, ist Deine große Täuschung, Dein Leben ist dumpf, lückenhaft und nichtig Nur im Ganzen gibt es einen Zweck und einen Plan! Aus reinem Willen für die Menschheit leben, ja gar sterben, Hierin liegt der wahrhaft höchste Wert!19 16

Der Begriff Sokol verweist im Südslawischen auf die montenegrinischen Kämpfer gegen die Türken. Vgl. u.a. Rüffer, E.: Válka slovansko-turecká. Prag 1876, 115; Holeček, J.: Černohorské povídky. Prag 1880, 249. 17 Zur Verbreitung der Sokol-Bewegung vgl. Waic, M.: Byli jsme a budem. Prag 2012, 205-207. Zur Sokol-Bewegung in Ostmitteleuropa vgl. auch den Aufsatz von Marek Waic und Stefan Zwicker. In: Pope, S.W./Nauright, J.: Routledge Companion to Sports History. London 2013, 391-404. 18 „Než v dar a žertvu lidstvu celému“. In: Mikovec, F.B./Hálek, V./Sládek, J.V. (Hrsg.): Lumír. Svazek 2 (1874), 318. 19 „Žeť sobě žiješ, velký tvůj je klam, / Tvůj život temný, kusý, zmatečný, / Jen v celku účel jest a osnova! / Pro lidstvo z jasné vůle žít, ba mřít / V tom pravá nejvyšší je hodnota!“ Sak, Miroslav Tyrš, 257.

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Diese aktivistische Metaphysik gipfelte später in Tyršs didaktischer Poesie mit unverkennbar christologischen Anspielungen. Jeder Mensch sollte sich seiner Meinung nach durch zielgerichtete Aktivität für die Menschheit aufopfern und somit dem Messias ebenbürtig sein: „Nur durch Getümmel zur Ruhe, nur durch Strom zum Ufer strebe: / jeder ist Opfer, jeder ist Erlöser.“20 Tyrš selbst wurde in den Sokolské sonety (Sokol-Sonetten)21 von Karel Hlaváček,22 einem bedeutenden Dichter der Jahrhundertwende, als eine prominente spirituelle Autorität mit christologischen Zügen inszeniert. Die erste Strophe des Gedichts mit dem Titel Miroslav Tyrš schildert mit einer für die Dekadenz typischen Bildlichkeit die radikale Erschöpfung, die durch Schweiß und Blut charakterisiert wird, und die in einer „stumpfen Resignation“ (v tupé resignaci) gipfelt – mit diesem Vokabular wird die moderne Sprache der Poesie mit Fremdwörtern und Krankheitssymptomen der urbanen Zivilisation antizipiert: Verwundungen von Hunderten, wenn wir die Kraft verlieren, wenn wir die blutenden Hände in den Schoß legen und in stumpfer Resignation die Schläfen senken, wenn über unsere Stirn heiße Perlen rinnen.23

In den Versen 5 bis 8 kommt dann aber die Wende in Form einer Wiederbelebung, einer Erneuerung der Kräfte. Die Anregung zu dieser Reanimation ist „dein“ (Tyršs) „Gedanke“: Hier erheben wir zu Dir unsere gebündelten Blicke, und durch einen Blitz kehrt die alte Kraft in unsere Muskeln zurück; die Reihe schlagen wir nieder, im Kampf stürmen wir kühn nach vorn wir sind Dein durch unsere Gedanken, durch unsere Falken-Arbeit.24

Poesie und Lieder prägen die Sokol-Bewegung. Anders jedoch als während der philologischen Periode der nationalen Renaissance werden jetzt performative Formen zentral. Grundlegend für den Sokol-Aktivismus waren Veranstaltungen, die als Festivitäten verstanden werden können. Dazu gehörten: Turnen, Ausflüge, Spazierfahrten („vejšlap“), Fackelzüge, gegebenenfalls Beerdigungen oder öffentliche Begrüßungen von Krönungskleinodien, 20

„Jen ruchem v klid, jen proudem k břehu spěj: / Jeť každý oběť, každý spasitel. –“ Ebd. Hlaváček, K.: Sokolské sonety, Prag 1894. 22 Der symbolistische Dichter Hlaváček gehörte seit 1894 zu den Autoren der Zeitschrift Moderní revue, der Hauptplattform des tschechischen Modernismus. Zugleich war er mit dem politischen Anarchismus verbunden. Seine Sokol-Sonette hat er als juvenilia betrachtet, ein Werk, das er selbst später in seine Schriften nicht einbeziehen wollte. 23 „Ran ze sterých když síla nám se ztrácí, / když skládáme v klín dlaně zkrvavělé / a nížíme skráň v tupé resignaci, / když s čela krůpěje nám kanou vřelé“. 24 „[T]u k Tobě zvedném svoje zraky stmělé, / a bleskem stará síla v sval se vrací; / šik srazíme, v boj řítíme se směle / Tvou pro myšlenku, pro sokolskou práci.“ 21

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Grundsteinlegungen, (Masken-)Bälle, Geburtstagsfeiern bekannter Persönlichkeiten oder lebende Bilder.25 Zur höchsten Feierlichkeit zählte das Turnfest, die Sokol-Parade („slet“): eine Demonstration der Einigkeit und der erlangten kollektiven Fertigkeiten. Das Pathos einzelner Äußerungen, Reden und Ansprachen der SokolBewegung war durch einen Zustand der Ekstase gekennzeichnet: Václav Červinka hebt in der Schrift Z jarního rašení národního života v letech 1855–1865 (Vom Frühjahrssprießen des nationalen Lebens in den Jahren 1855–1865, 1912) bezeichnenderweise den „allgemeinen Rausch“ hervor, den er mit dem Ausdruck „ofáboření“ spezifiziert: Dieser verweist auf das Phänomen der „Fahnen“ („fábor“), d.h. Bänder und Flaggen, die die festliche Identifikation sowie gemeinsame Symbole materialisierten.26 Aus den kollektiven Happenings, bei denen die körperliche Anwesenheit symbolische Bedeutung generierte und ästhetische, politische und sportliche Dimensionen miteinander verschmolzen, ging auch eine eigene Wortschöpfung hervor: „šibřink“ (Fasching, Maskenball) bedeutet so viel wie „Possen“, „Narren“ oder „Teufel“.27 Das Pathos der Festivitäten und des Engagements für den kollektiven Körper einer Nation beinhaltete auch eine selbstzerstörerische Hingabe seiner Akteure für das gemeinsame Projekt. Die Aura des Opfers durch den Tod aus Erschöpfung aufgrund der Bemühungen um die gemeinsame Aufgabe28 umgab schließlich das Leben Božena Němcovás und auch das von Miroslav Tyrš, der an einer langjährigen Nervenkrankheit und an Anfällen litt, die zu seinem rätselhaften Verschwinden und seinem Tod in einem Alpenfluss unweit des Dorfes Oetz führten, wo er sich von einem Nervenzusammenbruch – und wahrscheinlich auch von einer langjährigen Vergiftung durch Chloralhydrat – erholen wollte. Mit der Sokol-Bewegung begann das Experiment einer physischen slavischen Zusammenfügung, die bis dahin nur in der Form eines intellektuellen Netzwerks existiert hatte. Mittel der Einheit waren nun nicht mehr nur das Wort, das Territorium, die angebliche gemeinsame Vergangenheit und das gemeinsame Vorhaben, sondern auch der Körper und seine Bewegungen, die Muskeln, die Übungen, die physische Kondition. 25

Tyrš übernahm z.B. die Leitung einer allegorischen Regatta, die den Aufbau des Nationaltheaters gefeiert hat. Sak, Miroslav Tyrš, 160. 26 Ebd., 75. 27 Das Wort war offenbar eine Verballhornung des deutschen Wortes Schabernack– Büberei, Schelmenspiel, Spitzbubenstreich. Ebd., 78. 28 „Das Pathos des erblühten nationalen Lebens [wurde] durch die innerlichen Dramen seiner Repräsentanten ausgeglichen“, schreibt z.B. Jaroslav Marek in seiner Monographie über den Historiker Jaroslav Goll. Zit. nach Sak, Miroslav Tyrš, 95.

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Der symbolistisch-dekadentistische Dichter Karel Hlaváček feiert in seinem Frühwerk Sokolské sonety (Sokol-Sonette) den gesunden Körper und verbindet zugleich die intellektuelle Tätigkeit mit Krankheit und psychischen Gebrechen. Als Ausweg und Rettung gilt bei ihm die Sokol-Ideologie, die eine Harmonie zwischen Körper und Geist propagiert: Sein ganzes vergängliches Alter beugt sich beschwerlich in seinen Arbeitszimmern, ist nervös und bleich, wo der Vater aufhörte, in seinen Spuren rätselt er treu über Gott, der Gesellschaft graues Problem. Und währenddessen sind die Irrenanstalten und die Kliniken voll, der kranke Nerv ist überspannt, der Körper verwahrlost – Welch ein Wunder? Mens sana in corpore sano!29

Die Sokol-Bewegung zeichnet sich durch das Zusammenspiel von körperlicher Betätigung und ästhetischen Werten aus. Die Körperlichkeit war dabei für Tyrš nicht allein eine kunsthistorische Metapher – er konzipierte nicht nur selbst Übungen und deren Ablauf, sondern war auch von Grund auf mit der Physiologie vertraut, die ihn Jan Evangelista Purkyně gelehrt hatte:30 „Der Zweck der Vereinigung liegt darin, Leibesübungen in Verbindung mit Gesang zu betreiben.“31

5. Namen, Gestaltung, Waffen Einen performativen Charakter hatten schon die tschechisierten Namen der Sokol-Hauptakteure – der ‚richtige‘ Name wurde zur Inszenierung der slavischen Zugehörigkeit. Durch den Akt des Namenwechsels sollte der Akteur eine neue Rolle, eine intentionale Identität gewinnen: Der Name wird zum Programm. Heinrich Fügner nannte sich Hynko oder Domoslav, später Jindřich Fügner. Miroslav Tyrš war als Friedrich Emmanuel Tirsch geboren worden. Durch theatralische Züge war auch die Kommunikation zwischen den Sokol-Vereinen gekennzeichnet, deren Mitgliedern sich im Widerspruch zu den zeitgenössischen kommunikativen Normen duzten und sich gegenseitig mit „Bruder“ und „Schwester“ ansprachen. Die Manifestation der SokolMitgliedschaft und ihre öffentliche Präsentation wurden durch ein Kostüm vermittelt. Das Grundelement der Uniform war das oben erwähnte signifi29

„Svůj celý jepičí věk hrbatí se perně / v svých pracovnách, jsa nervosní a bledý, / kde otec přestal, v jeho stopách luští věrně / o Bohu, společnosti problém šedý. // A zatím blázinec a kliniky jsou plny, / nerv chorý přepnut, tělo zanedbáno - / ký div? Mens sana in corpore sano!“ 30 Dvořáková, Z.: Miroslav Tyrš. Prag 1989, 9. 31 Štěpánová, I.: Tělocvičný spolek paní a dívek pražských. In: Lidé města 5 (2003), 10.

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kante rote Hemd.32 Die Kostüme wurden von prominenten Künstlern entworfen: Die erste Sokol-Bekleidung wurde vom Maler Josef Mánes gestaltet (siehe Abb. 1).33 Auch später prägten erstrangige Künstler die SokolÄsthetik: In den 1920er Jahren Alfons Mucha, der später zum Klassiker der tschechischen Malerei wurde, und seit 1945 der „Nationalkünstler“ Max Švabinský.34 Ende der 1940er Jahre konzipierte der spätere „Nationalkünstler“ Karel Svolinský die Schlussszene zur Sokol-Parade unter dem Titel Dožínky (Erntefest). Die Verse dazu schrieb der spätere Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert, die Tänze entwarf der Leiter des Balletts des Nationaltheaters, der bekannte Avantgarde-Choreograf Saša Machov.35 Svolinský war als Sokol-Designer der logische (und letzte) Nachfolger Alfons Muchas. In der Ära Klement Gottwalds und Antonín Novotnýs leistete er dem Staat ähnliche Dienste bei der grafischen Gestaltung der neuen Ära (z.B. Entwürfe für Briefmarken, Geldscheine oder Mosaike für die neue tschechoslowakische Botschaft in Moskau) wie dreißig Jahre zuvor Alfons Mucha. Die wichtigsten Merkmale der Performativität der Sokol-Bewegung waren aber zweifellos die öffentlichen Veranstaltungen, wie etwa das Turnen selbst, die Ausflüge, die Turnfeste, die öffentlichen Festivitäten, die Demonstrationen und die physischen Präsentationen der Einheit und der Tüchtigkeit. Der Sokol arbeitete mit der Gattung des tableau vivant,36 die gegen Ende des 18. Jahrhunderts populär geworden und im 19. Jahrhundert zu einem zentralen szenischen Gestaltungsmittel, z.B. im Theater, bei höfischen oder bürgerlichen Festen, geworden war. ‚Lebende Bilder‘ waren integrale Bestandteile von Militärparaden, Bühnen- und Gesellschaftstänzen.37 Diese inszenierte öffentliche Präsenz hatte durch Uniformen und patriotische Parolen eine eindeutig militärische Prägung. Die Konzeptualisierung der Sokol-Organisation als bewaffnete Einheiten reicht bis in die Zeit des Deutsch-Deutschen (preußisch-österreichischen) Krieges 1866-1867 zurück, als die tschechischen Patrioten nicht über ein ‚eigenes‘ Heer verfügten und 32

Fügner, Mitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft in Triest, begeisterte sich für Garibaldi. Die „Rothemden“ wurden in Italien seit 1843 getragen. Garibaldi hatte in seiner Planung der geopolitischen Zukunft Europas auch die Slawen einbezogen – er schlug zwei politische Konföderationen vor: eine nördliche mit der Hauptstadt Prag und eine südliche mit Konstantinopel als Hauptstadt. Vgl. Helan, P.: Hrdina v červené košili. Giuseppe Garibaldi a jeho mýtus. In: Dějiny a současnost 2008/2. 33 Sak, Miroslav Tyrš, 74. 34 Vgl. sein Plakat zum „IX. Slet všesokolský“ bei Waic, Byli jsme a budem, 168. 35 Dvořáková, Z.: T.G. Masaryk, Sokol a dnešek. Prag 1991, 53. 36 Macháček, F.: The Sokol Movement: Its Contribution to Gymnastics. In: The Slavonic and East European Review 17 (1938-1939), 77. 37 Ausführlicher dazu vgl. das Kapitel: Utopia of Images, The Logic of the Tableau vivant. In: Durham, S.: Phantom Communities. The Simulacrum and the Limits of Postmodernism. Stanford 1998, 76-79.

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nach Waffenübungen sowie nach einer Beteiligung am Schutz des Landes verlangten; Tyrš schrieb wörtlich von einer „Kriegsbegeisterung“ und thematisierte den Krieg in seiner persönlichen Korrespondenz, indem er betonte, dass er sich aufrichtig vor der deutsch-preußischen Organisation verneige. Zu dieser Zeit entstand auch das Verzeichnis tschechischer Militärkommandos, das bis dahin nicht existiert hatte.38 Eine dichterische Parallele zum Sokol-Militarismus sind die Texte von Karel Hlaváček, die die Waffen in den Händen des Sokol und den bewaffneten Wiederstand gegen den Feind adorierten: Wir fliegen umher, die Waffen im Arm, Kampf, wo es am meisten wirbelt, und wieder verwunden sie alle Verwundeten, jenen, die auf die Heimat zielen, antworten wir beherzt – als Helden!39

Im Zusammenhang mit der fünften Sokol-Parade im Jahre 1912 schrieb die britische Morning Post, dass die „Sokol-Anhänger eine Armee bilden, die besser trainiert und schlagkräftiger ist als die Mehrheit der Heere, die der Stolz eines Königs oder Kaisers sind“.40 Der Militarismus der SokolMitglieder, diese „Wehrbruderschaft“,41 äußerte sich massiv während des politischen Umbruchs bei der Entstehung der Tschechoslowakei im Jahre 1918, als die Sokol-Anhängerschaft bewaffnete Einheiten, die sogenannten „Nationalwachten“ (Národní stráže), bildete. Auf Initiative der Nationalwachten wurden nach dem Ersten Weltkrieg die tschechoslowakischen Legionen gegründet: Als erste entstand die Gruppe „Nazdar“ in Frankreich, die zahlenmäßig größte und bekannteste war jedoch die tschechoslowakische Legion in Russland – so nahmen beispielsweise im Juni 1918 1.200 Turner am Sokol-Tag in Vladivostok teil. Am Tag nach der Erklärung der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei im Oktober 1918 besetzten die SokolAnhänger die Prager Burg und der Sokol-Vorsitzende Josef Schreiner wurde zum höchsten Verwalter des tschechoslowakischen Heeres.42

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Sak, Miroslav Tyrš, 84-87. „Poletíme, v pažích zbraně, / boj kde nejvíc víří, / a zas ranou každé ráně, // která na Vlast míří, / odpovíme odhodlaně – jako bohatýři!“ 40 Sak, Miroslav Tyrš, 233. 41 Ebd., 234. 42 Ebd., 235. 39

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6. Mediale Selbstpräsentation Die pathetische Disposition der slavischen Turnerschaft hatte noch eine wichtige Dimension, die die Performativität der Sokol-Bewegung in einem anderen Licht erscheinen lässt – und zwar die mediale. Die photographische Dokumentation gehörte zu den Standardverfahren der sokol’schen Agitation und Selbstpräsentation – über die Photographie hinaus war Sokol sogar unmittelbar dabei, als neue Medien geboren wurden und seine Anhänger reagierten sofort auf die neuen Formen der medialen Repräsentation. Die erste Gelegenheit dazu hatten sie bei der Einführung der Kinematographie Ende der 1890er Jahre. Zu den ersten tschechischen Kurzfilmen überhaupt, die um 1898 gedreht wurden, gehört Übung mit den Kegeln im Sokol auf der Kleinseite (Cvičení s kuželi Sokola malostranského) des Pioniers der tschechischen Kinematographie Jan Kříženecký.43 Noch mehr gilt dieser ‚Wille zum Massenmedium‘ für das Fernsehen, das bekanntlich die Gesellschaft und ihr Selbstverständnis im 20. Jahrhundert radikal revolutioniert hat. Die Evolution des tschechoslowakischen Fernsehens war eng mit der nazistischen Forschung verbunden. Die Firma Fernseh A.G., die 1929 ins Berliner Handelsregister eintragen wurde, siedelte in den 1940er Jahren ins nordböhmische Sudetenland um, um dort im Rahmen eines Geheimprogrammes das neue Medium weiterzuentwickeln.44 Nach der Befreiung wurde das Forschungszentrum von der Roten Armee okkupiert und nach zahlreichen dramatischen Wendungen wurde schließlich Tanvald im Isergebirge die Zentrale der Entwicklung des Fernsehens. Als offizieller Beginn des tschechoslowakischen Fernsehens gilt zwar der 1. Mai 1955, tatsächlich aber haben die ersten erfolgreichen Versuche einer Fernsehsendung bereits sieben Jahre früher stattgefunden, nämlich während der letzten Sokol-Parade (XI. Všesokolský slet) 1948 (Abb. 5). Nach Proben während der technologischen Ausstellung MERVO im Frühling 1948 ging es um die erste Open Air Sendung der „TanvaldGruppe“. Zur dramatischen Atmosphäre der Parade, die nur wenige Monate nach der kommunistischen Machtübernahme und kurz vor der politisch motivierten Liquidation der Sokol-Organisation stattfand, hat ihre mediale Repräsentation entscheidend beigetragen. Die sechs Stunden lange LiveÜbertragung sahen insgesamt ca. 20.000 Zuschauer.45 Die Reproduktion der Masse in der realen Zeit war ein Phänomen, das in der bisherigen Geschichte der tschechischen Gesellschaft keine Analogie hatte. Es war die radikale Steigerung der Kraft des Sokol-Gedankens. Nicht 43

Štoll, M.: Český film: režiséři-dokumentaristé. Prag 2009, 301. Ebd., 76-77. 45 Ebd., 100-101. 44

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nur die bloße Idee von Tyrš und Fügner beherrschte Prag – die SokolFestzüge fanden im ganzen Zentrum und die Hauptvorstellungen im eigens für den Sokol 1926 gebauten Stadion unweit der Prager Burg statt, das bis zu 250.000 Zuschauer fasste und damit als das größte Stadion der Welt galt. Abb. 5: Plakat zum Film über das Sokol-Turnfest 1948 von Jiří Weiss.

Kurz vor ihrem Zusammenbruch vereinte die Sokol-Bewegung die Nation durch die technologische Erfindung, die als gesellschaftlich agierendes Medium zu der Zeit noch gar nicht existierte, und hinterließ damit ihre prägende mediale Signatur. Die (Fernseh-)Übertragung der Masse war gleichzeitig das Ende einer Geschichte der Selbsterfindung. Und für mehrere Jahre war sie auch das Ende der Fernseh-Forschung: Die strategischen Aufgaben des gerade begonnenen Kalten Krieges diktierten andere Prioritäten.

BERND STIEGLER

Physiologischer Materialismus Raoul Hausmann und Russland Raoul Hausmann schlug in einem Brief vom 30. März 1932 Walter Stern, dem Herausgeber der Avantgarde-Zeitschrift a bis z und Mitarbeiter des Westdeutschen Rundfunks, verschiedene Themen für Sendungen und Publikationen vor: Ein „Manuskript über Farbenklaviere“ habe er fertiggestellt und einen Beitrag über Film und „soziologische Themata“, wobei er hinzufügt: „Ich bin über Russland besser orientiert als über Deutschland. Ich könnte Ihnen über die Auswirkungen der Fourier’schen Gedanken in der Psychologie der russischen Aufbauarbeit z.B. etwas schreiben, aber ich weiß nicht, ob Ihnen das passen würde. Die bolschewistischen Kampfmethoden gegenüber dem Volk sind nämlich praktisch gar nicht marxistisch.“1 Stern publizierte Hausmanns Text über Farbenklaviere 1932 in a bis z und ermutigte ihn, weiterhin mögliche Themen zu nennen.2 Dieser schlägt ihm am 16.5.1932 dann ein „Manuskript über photographisches Sehen unter ganz neuen, allgemein interessierenden Gesichtspunkten“ vor.3 Stern sollte wie Hausmann 1933 Deutschland verlassen. Beide führte später ihre Flucht aus Nazi-Deutschland nach Ibiza. Doch während Stern weiter nach Kolumbien emigrierte und dort in einem Photolabor als Dozent für Kunstgewerbe und Hersteller von Wetterhäuschen arbeitete und schließlich eine Anstellung als Milchexperte in einer Pasteurisierungsanstalt erhielt, blieb Hausmann auf der Insel, erstellte umfangreiche ethnographische Studien über Land, Leute und Wohnformen, die er mit eigenen Photographien illustrierte, und setzte seine ästhetisch-theoretischen Arbeiten fort.4 Diese profilieren sich vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Regimes und seiner Schreckensherrschaft. Hausmanns Flirt mit dem revolutionären Russland um 1930 versucht, eine intendierte Revolution der Kunst und der 1

Brief vom 14.3.1932; BG-RH 798 [= Raoul Hausmann-Nachlass in der Berlinischen Galerie; im Folgenden mit Kürzel zitiert]. 2 Im Nachlass finden sich zwei Typoskripte (BG-RH 1446 und 1447-1448). Der Text erschien in: a bis z 22 (1932), ediert in: Hausmann, R.: Sieg Triumph Tabak mit Bohnen. Texte bis 1933. Bd. 2. Hrsg. v. M. Erlhoff. München 1982, 173f. 3 BG-RH 802. 4 Zu Sterns Vita: http://www.capriccio-kulturforum.de/film-etc-personen/323-verbotenvertrieben-ermordet-naziopfer-in-film-und-medien/ (09.02.2016). Stern war bei der WERAG als Redakteur angestellt.

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Wahrnehmung als politische auszugeben. Ästhetik soll in Politik umschlagen und zugleich sollen Synästhesie und Physiologismus der politischen Revolution auf den richtigen Weg verhelfen. Das ist die von Hausmann imaginierte Win-Win-Situation seiner russischen Lektüren: Politisierung der Kunst hüben und ihre Biologisierung drüben. Doch dies war wishful thinking, blieben doch seine Überlegungen in Russland ohne jede Resonanz wie auch seine russischen Transferbemühungen in Deutschland recht erfolglos. Es handelt sich daher, wenn nach den Beziehungen zwischen Raoul Hausmann und Russland gefragt wird, um eine unilaterale Bewegung, Umcodierung und transformierende Lektüre. Aufgabe wird es daher sein, ihre Logik im Kontext von Hausmanns Ästhetik dieser Zeit herauszuarbeiten. Russland steht bei Hausmanns Themenvorschlägen zwischen Farbenklavier und photographischem Sehen. Das ist durchaus programmatisch zu verstehen, nimmt Hausmann doch eine eigentümliche Umdeutung der russischen Avantgarde vor, die sich unter der Hand in eine synästhetische Wahrnehmungsschule verwandelt. Hausmann liest und deutet die Texte, Filme und Bilder im Sinne einer aktiven eigenen Aneignung. Beiden, der russischen Avantgarde und Hausmann, geht es um eine Neuprogrammierung und Neukonditionierung der Sinne, aber beide verfolgen dabei eine unterschiedliche Strategie. Während Hausmann auf einen physiologischen Biologismus zielt, geht es den russischen Avantgarden gerade um eine medial-technische Neuprogrammierung der Psychophysis. Und während Ėjzenštejn und Dovženko, auf die sich Hausmanns Überlegungen weitgehend beschränken, ein dezidiertes politisches Programm verfolgen, steht das bei Hausmann bestenfalls im Hintergrund. Es kann bei ihm eine höchst ambivalente Position konstatiert werden, bei der ein überzeitliches physiologisch-biologistisches Denken im Mittelpunkt steht, das mit politischen Konsequenzen und Überzeugungen kokettiert, aber zugleich Schwierigkeiten hat, diese auszubuchstabieren und systematisch zu integrieren. Hausmann war sich dieser Frontstellung durchaus bewusst. So schrieb er am 2. Mai 1930 an Adolf Behne: „Lieber Herr Dr. Behne[.] Es ist eine alte Idee von mir (die Sie auch schon an meinen Aufsätzen in der ‚Erde‘ von 1919 erkennen können), dass man dem historischen Marxismus und der Klassenkampftheorie die Biologie als Kontrolle gegenüberstellen müsste.“5 Programmatisch sei daher ein Physiologismus zu entwickeln, der dem Materialismus in Russland die Materialität der Sinne gegenüberstellt, sich aber dabei gleichwohl die Revolution auf ihre Fahnen schreibt. Hausmann präzisiert sein Vorhaben weiter: 5

Züchner, E. (Hrsg.): Scharfrichter der bürgerlichen Seele. Raoul Hausmann in Berlin 1900-1933. Berlin 1998, 281.

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Ich habe immer die Kunst aufgefasst als Erziehung des Menschen durch sich selbst im Unbewussten seiner Psychophysis: ziehen wir [daraus die] Konsequenz, so müssen wir mit Hilfe der Biotechnik den Weg der Biopsychologie, ja, der in dem einen Aufsatz [„Psychologie der Politik“, B.S.] angedeuteten Biosociologie gehen, um von da aus die Aufgabe des Künstlers zu erkennen.6

Raoul Hausmann entdeckt, wie in recht zahlreichen Texten in der Zeit um 1930 zu beobachten ist, in der zeitgenössischen russischen Kunst eine Wahlverwandtschaft strategischer Natur. Sie verleiht seinen Überlegungen ein revolutionäres Timbre, das über die von ihm bereits reflektierten Fragen der Medialität und der künstlerischen Techniken hinausgeht und sie scheinbar in politische verwandelt. Biologie und Physiologie sollen politisch werden. Das ist seine Aneignungsstrategie und firmiert zugleich als Versuch, um Ethos und Pathos miteinander zu verbinden. Auf der Seite des Ethos legitimiert Hausmann seine ästhetischen Entwürfe in klassischer Avantgardemanier als radikale politische wie weltanschauliche Neubegründung; auf jener des Pathos verknüpft er sie mit einer kalkulierten Wirkungsästhetik, die neue Pathosformeln auszubilden sucht. Die Assoziation von Politik und Physiologie dient genau diesem Zweck: Die Kunst, sei es in Gestalt der Photomontagen, Collagen oder Photographien, begreift Pathos als physiologische Ausdrucksform, die in Ethos umschlagen soll. Ethos und Pathos bilden Kippfiguren in diesem Spiel der kalkulierten visuellen und synästhetischen Effekte. Diese These sei anhand von drei Beispielen überprüft, die aus unterschiedlichen Bereichen stammen: die Photomontage, der Film und die Photographie.

1. Photomontage „Mit sozialistischem Gruss“, schreibt Hausmann an die Handelsdelegation der UdSSR: Anbei übergebe ich Ihnen 2 Belegexemplare von A-Z mit der Bitte, eines davon Gen. Dowshenko zu übermitteln. Weiteres mir sr.Zt. übergebenes Photomaterial habe ich mit Gen. Heisig zu Photomontagen verwendet, die ab 2. April in der Staatl. Kunstbibliothek, Prinz Albrechtstr. 7a ausgestellt sein werden, falls die Museumsleitung nicht Anstoss an dem ‚politischen‘ Thema nehmen wird. Mit soz. Gruss.7

Bei dem politischen Thema, von dem hier die Rede ist, handelt es sich um zwei Photomontagen: Das Rückgrat der Kultur ist die Sicherung der Ernährung für alle und Planwirtschaft (Abb. 1 und 2).

6 7

Ebd., 282. BG-RH 649-651.

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Bernd Stiegler Abb. 1: Rückgrat, aus: Züchner, E. (Hrsg.): Scharfrichter der bürgerlichen Seele. Raoul Hausmann in Berlin 1900-1933. Berlin 1998, 326.

Abb. 2: Planwirtschaft, aus: Hausmann, R.: Der deutsche Spießer ärgert sich – Raoul Hausmann 1886-1971. Berlin 1994, 237.

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Bei beiden Photomontagen hatten er und der mit ihm befreundete Maler Walter Heisig, den er in Jershöft kennengelernt hatte, Filmstills russischer Avantgardefilme verwendet, bei Planwirtschaft aus Dovženkos Erde (Zemlja), bei der anderen mit zusätzlichen Aufnahmen. Die Botschaft ist hier von großer Simplizität und die Komposition weit entfernt von den Experimenten der dadaistischen Zeit: Während bei der ersten Montage einer hochformatigen Röntgenaufnahme eines Rückgrats neun Filmstills mit Szenen aus der technisierten Landwirtschaft zur Seite gestellt werden, die mit den Rückenwirbeln entfernt formal korrespondieren, kommt Planwirtschaft mit noch weniger Elementen aus. Der Bildraum ist durch eine Diagonale strukturiert, auf deren rechten Seite unterschiedlich große Filmstills das Wort „planwirtschaft“ rahmen. Die erste Montage erinnert zudem an ähnliche Arbeiten John Heartfields, der auch Röntgenbilder einsetzte. Beide Arbeiten waren gedacht für die von César Domela Nieuwenhuis kuratierte Ausstellung Photomontage, die vom 25. April bis zum 31. Mai 1931 im Lichthof des ehemaligen Kunstgewerbemuseums in Berlin stattfand.8 Hausmann lieferte neben diesen beiden Arbeiten sechs Photomontagen aus der Zeit von 1919-1922 sowie drei jüngere Arbeiten. Bei den dadaistischen Montagen kann nur vermutet werden, worum es sich gehandelt haben könnte. Sicher zählte jedoch Tatlin lebt zu Hause aus dem Jahr 1920 dazu, da diese im Katalog abgebildet ist. Zu den jüngeren gehört vermutlich der Umschlag des Katalogs, eine Zusammenstellung von vier Photographien, die er auch für das in Das deutsche Lichtbild publizierte Gespräch mit Werner Gräff verwendete, und die Photomontage Augen, für die er wiederum auf einen Filmstill Dovženkos zurückgriff (Abb. 3 und 4). Erneut bedient sich Hausmann der Bildwelt der russischen Kultur und scheint zeigen zu wollen, dass diese bereits 1920 für ihn eine wichtige Referenz dargestellt hat. Abb. 3: Vier Fotos, aus: Züchner (Hrsg.), Scharfrichter der bürgerlichen Seele, 334.

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Angaben nach Züchner (Hrsg.), Scharfrichter der bürgerlichen Seele, 324.

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Bernd Stiegler Abb. 4: Montage aus 6 Photographien (Augen), aus: Hausmann, Der deutsche Spießer ärgert sich, 79.

Will man nun verstehen, in welcher Weise Hausmann die russischen Bilder montiert, so erweist sich die Auswahl als erhellend. Auf der einen Seite stehen die schematischen und wenig originellen explizit politischen HeisigArbeiten, auf der anderen die dadaistische Montage von 1920 sowie die jüngeren Photomontagen, die auf dem Register der Wahrnehmung spielen und politische Elemente als Versatzstücke integrieren. Die Heisig-Montagen waren, wie die Korrespondenz Hausmanns zeigt, nur in sehr begrenztem Maße durch eine politische Überzeugung motiviert, denn als die politische Botschaft der Photomontagen in die Kritik geriet, schrieb Hausmann an César Domela: Ich habe mit Heisig wegen der Photomontageausstellung gesprochen. Er sagt: er mache für keine Partei Propaganda, wie er auch keiner Partei angehöre, er wolle seine Photomontagen aufgefasst wissen als radikalen Pazifismus, der nicht verboten sei. Ferner weist er auf die Beteiligung der Vereinigten proletarischen Künstler und der Russen hin, und frägt, ob Du etwa erwartest, dass diese Gruppen unpoliti-

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sche Arbeiten einreichen werden. Die Russen jedenfalls dürften das gar nicht. Ferne frägt er, ob Du dann gezwungen wärst, alle politischen oder nur seine Photomontagen auszuscheiden. Diese Fragen muss ich als berechtigt anerkennen. Ich dachte zuerst, die Ausstellung werde von Dir geleitet, eine von Dr. Glaser geleitete Ausstellung hätte ich wahrscheinlich ebensowenig beschickt, wie die officielle Stuttgarter 1929, zu der ich eingeladen war. Da aber sowohl ich wie Heisig jeder 40-50 Mark in die Montage gesteckt haben, haben wir eingeliefert trotz des Dr. Glaser. Ich will Dir keine Schwierigkeiten machen, aber tu bitte Dein Möglichstes, um die Arbeiten durchzusetzen.9

Im Katalog der Ausstellung sind in der Tat 14 „Künstler der Sowjetabteilung“ vertreten, so etwa Aleksandr Rodčenko, Ėl’ Lisickij und Gustav Klucis. Hausmanns Brief legt zudem eine Koautorschaft bei den beiden Arbeiten nahe. Dafür spricht auch die Korrespondenz mit der russischen Handelsdelegation. Wenn man nun aber nach dem politischen Hintergrund der beiden Arbeiten fragt, so stellt sich alsbald heraus, dass zumindest Hausmann weit davon entfernt ist, sie als dezidiertes Engagement zu betrachten. So schreibt er an Walter Heisig: Anbei ein Brief, den ich an Domela sandte. Ich möchte dazu für Dich noch bemerken: schliesslich weisst Du so gut wie ich, dass die Vereinigung proletarischer Künstler weder für Dich, noch für mich eintreten wird. Ferner kommt für mich die Partei nur in Frage, wenn ich Mitglied bin (ebenso umgekehrt), wozu soll ich also der Partei Kastanien aus dem Feuer holen. Ferner sagst Du selbst, wir wollen etwas bekannter werden und, was unser Recht ist, auch mal [ein] paar Hundertmarkscheine verdienen. Die Partei braucht uns nicht, also sind wir ja gezwungen, bürgerliche Kompromisse zu schliessen. Was eine Ausstellung in einer staatlich-republikanischen Anstalt bedeutet, muss uns klar gewesen sein: wir hätten besser nicht mitgemacht, wenn wir Ueberzeugungen vertreten wollen (wie ich ja seit Jahren aus Ueberzeugung nichts mitmachte). Die Montagen zurückziehen und bei Nierendorf ausstellen, geht nicht, da Nierendorf mir sagte, jede Ausstellung koste ihn so viel Geld, dass er principiell nur Dinge ausstelle, die ihm die grösste Sicherheit eines Verkaufes böten. Also werden wir uns, da wir eingeliefert haben, (leider!) auch den Zurückweisungen aussetzen müssen. Herzliche Grüsse Hausmann.10

Es geht also bei den beiden Montagen dezidiert nicht um „Überzeugungen“, sondern um „bürgerliche Kompromisse“ und ökonomische Erwägungen. Das ist im zeitgenössischen Kontext von „Tendenzfilmen“ und politischen Photomontagen durchaus bemerkenswert. Hausmanns Interesse profiliert sich daher weitaus deutlicher in seinen anderen Arbeiten. Während Tatlin lebt zu Hause mit anderen Arbeiten aus dieser Zeit verwandt ist, hat sich zehn Jahre späte seine visuelle Sprache verwandelt: Sie ist nun eine photographische geworden (Abb. 5). 9

Brief o.D. (vermutlich März/April 1931), BG-RH 625. Hausmann, Brief ohne Datum, BG-RH 653.

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Bernd Stiegler Abb. 5: Tatlin lebt zu Hause, aus: Züchner (Hrsg.), Scharfrichter der bürgerlichen Seele, 332.

Die Tatlin-Arbeit entstand bereits 1920, im Jahr der ersten Internationalen Dada-Messe in Berlin, an der Hausmann federführend beteiligt war. Von dieser ist eine Photographie überliefert, die George Grosz und John Heartfield mit einem Schild zeigen, auf dem „Die Kunst ist tot. Es lebe die neue Maschinenkunst Tatlins!“ zu lesen ist. Auch Hausmann ließ sich mit Hannah Höch vor diesem, nun in der Ausstellung montierten Schild ablichten (Abb. 6). Abb. 6: Erste Internationale Dada-Messe, aus: Hausmann, Der deutsche Spießer ärgert sich, 127.

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Nun geht es den Dadaisten allerdings nicht um eine begeisterte Übernahme der russischen Bestrebungen zur Konstruktion eines neuen technischen Menschen, sondern um eine polymediale wie synästhetische Konfrontation des Menschen mit sich: „Im Dada werden Sie Ihren wirklichen Zustand erkennen“, heißt es in dem Manifest Synthetisches Cino der Malerei, das als Titel auch bei einer Montage wiederverwendet wird.11 Das Ich sei geprägt durch eine radikale Ambivalenz, durch ein fortwährendes Pendeln zwischen Gegensätzen und bilde ein „psycho-technisches Perpetuum mobile“.12 Doch während die bürgerliche und andere Ideologien danach trachten, Gegensätze aufzuheben, festzustellen oder zu zementieren, würden sie im Dadaismus programmatisch dynamisiert. Das „vielfältige“ Ich könne sich nicht an festen Begriffen und Ordnungen orientieren, sondern habe sich inmitten eines sich „immerfort wandelbaren, sich wandelndem Erzwingen, Erreichen lebendiger Beziehungen“ zu erfahren und zu entwerfen.13 Die Revolution des Menschen müsse so durch die Technik hindurchgehen, da die Aufgabe der Kunst sei: „Der Gesamtzustand des psycho-physisch (material) gefaßten Menschen muß von Grund aus geändert werden.“14 Wenn daher in der Tatlin-Montage das Gehirn durch technische Apparaturen ersetzt wird und der Tod der Kunst in Gestalt der Maschinenkunst Tatlins proklamiert und gefeiert wird, so dient der vermeintliche technische Konstruktivismus hier einer Neumontierung der Psychophysis des Menschen jenseits der Technik. Technik wird zur ästhetischen Psychotechnik, die aber nicht auf eine Konstruktion eines neuen technischen Menschen setzt, sondern auf ein „Sein in Widersprüchen“15 oder eine „lebendige Dynamik“.16 Es gehe um die Geburt eines „unerschrockenen und unhistorischen Menschen“.17 Raoul Hausmann versteht diese ästhetische Revolution als Freilegung des Elementaren, genauer als neues Verhältnis des Menschen zur Welt. Die Maschinen im Schädel und die Maschinenkunst sollen den Menschen in die lebendige Welt der Dinge zurückführen. Die von Hausmann für die Ausstellung ausgewählten Photomontagen führen dies in anderer Weise vor Augen. Zum einen sollen die vier Kameraphotographien (Abb. 3), mit denen auch das Gespräch mit Werner Gräff 11

Hausmann, R.: Synthetisches Cino der Malerei. In: Koch, A.: Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs. Raoul Hausmann. Dada und Neodada. Innsbruck 1994, o.S. 12 Hausmann, R.: DADA durchschaut die Gesellschaft/Schnitt durch die Zeit. In: Ders.: Am Anfang war Dada. Steinach/Gießen 1972, 95-103, hier: 101. 13 Ebd., 99. 14 Ebd., 100. 15 Hausmann, R.: Zur Weltrevolution. In: Ders.: Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933. Bd. 1. Hrsg. v. M. Erlhoff. München 1982, 50-54, hier: 51. 16 Hausmann, R.: PRÉsentismus Gegen den Puffkeismus der deutschen Seele. In: Ders., Sieg Triumph Tabak mit Bohnen, 24-30, hier: 24. 17 Ebd.

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illustriert war, in praxi zeigen, dass Photographie „lebendiges Sehen“ sein kann.18 Zum anderen nimmt die Photomontage Augen (Abb. 4) das Sehen unmittelbar in den Blick. Beide Arbeiten sind daher selbstreflexive Inszenierungen einer neuen Wahrnehmung, eines „Neuen Sehens“, das, wie zu sehen sein wird, in eigentümlicher Weise zwischen Physiologie und Konstruktivismus oszilliert.

2. Film Diese eigentümliche Theoriebildung, die sich Tatlins Maschinenkunst auf die Fahnen schreibt und doch die Wiederbelebung der Sinne meint, die den Dynamo als Emblem der Dynamisierung versteht, wird deutlicher, wenn man Hausmanns Rezeption der russischen Filme betrachtet. Sie ist beschränkt auf Ėjzenštejn und Dovženko und identifiziert diese als strategische Option: Man müsse zwischen beiden wählen und sich zwischen einem abstrakt-intellektualistischen und einem elementar-optischen Weg entscheiden. Der eine führe ins Reich der abstrakten Ideen, der andere in jenes der konkreten realen Dinge. Hausmann entwickelt diese programmatische Bestimmung vor allem in zwei Aufsätzen, die aufeinander aufbauen. Der erste ist eine ausführliche Besprechung von Dovženkos Film Die Erde, der zweite ein Vortrag am Bauhaus, in dem er den Regisseur als „Schöpfer des großartigsten Films des Jahres 1939“ preist.19 Erneut wandte sich Hausmann an die Russische Handelsvertretung und erbat „Schaubilder aus Eisenstein, Turin, Kaufmann-Werthoff und Dowshenko“20 für einen Vortrag mit dem Titel „Entwickelung des Films“. Dieser ist als Typoskript überliefert und diente ihm zugleich als Material für den deutlich kürzeren Aufsatz Filmdämmerung. Hausmann ist hier wie zumeist von programmatisch-manifestartiger 18

Das wird insbesondere im folgenden Text zu bestimmen versucht: Hausmann, R./Gräff, W.: Wie sieht der Fotograf? In: Hausmann, Sieg Triumph Tabak mit Bohnen, 184-195. 19 Haussmann, R.: Die Entwickelung des Films. In: Zürcher (Hrsg.), Scharfrichter der bürgerlichen Seele, 339-353, hier: 346. Hausmann schrieb am 8.1.1931 an Mies van der Rohe: „Natürlich entzieht sich die Beurteilung dieser Möglichkeit meiner Kenntnis. Trotzdem möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen: Heisig und ich möchten gerne durch einen Vortrag vor den Bauhausschülern die Entwickelungslinie des Films und seine Bedeutung für das aufbauende Element, das Struktursehen erleutern [sic!]. Ich habe dazu eine Menge Material aus Optik, Biologie, könnte sociologische Zusammenhänge aufzeigen, Ansichten der bedeutendsten Regisseure (Eisenstein, Dowshenko) zur Diskussion stellen, und so weiter. Ich bemerke dazu, dass Zeitschriften wie A-Z und Cercle et Carée Filmaufsätze von mir gedruckt haben.“ BG-RH 674. 20 Raoul Hausmann an die Handelsvertretung der UdSSR. Photo-Kino-Abteilung o.D. (Ende März 1931).

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Grundsätzlichkeit: „Das Leben und sein Werden, das Gegensätzliche in den sozialen und gefühlsmäßigen Ordnungen und Grundlagen ist das einzige Filmthema, dessen Darstellung lohnt. Den Massen dieses Riesenthema mit optisch-photographischen Mitteln zugänglich zu machen – diese Aufgabe haben sich planmäßig als erste und bisher einzige die Russen gestellt.“21 Die Filme der russischen Avantgarde bleiben in seinen Augen bei seiner kritischen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Filmproduktion als einzige übrig, wenn man nach dem Mut fragt, „Expeditionen in das Leben der Dinge, der Sitten, Soziologien und des Menschen selbst zu unternehmen“.22 Genau die Interferenz dieser Bereiche interessiert ihn, und zwar nicht in Gestalt einer intellektuellen Distanz im Sinne Ėjzenštejns, dessen Position mit einem langen Zitat aus „Der Film der Zukunft“23 vorgestellt wird, sondern in jener einer ästhetischen Distanz zwischen den Dingen, die hier als dynamische Spannung gefasst wird. Die Grundelemente des Films – „Raumdistanz, Lichtbewegung und Montagerhythmus“ – sind mit dem Stummfilm gegeben und müssen auch in den Tonfilm gerettet werden.24 Dies könne aber nicht in der Art und Weise Ėjzenštejns gelingen, der einer „Verwechslung von Formdialektik und Formfunktion“25 unterliege und dessen „intellektuales Kino […] keine Erleuchtung“ sei,26 sondern nur in jener Dovženkos, da sich bei ihm zeige, dass Film keine Wissenschaft, sondern „Gestaltungsform des Lebens“ ist.27 Oder noch einmal anders gewendet: „Optische Dinge lassen sich nicht zu Begriffen stempeln.“28 Hausmann zielt bei seinen russischen Filmlektüren auf eine Art ästhetischer Grammatik der optischen Tatsachen, mithilfe derer eine neue Sprache der Dinge gefunden wird und der Mensch sich inmitten dieser neu situieren könne. Erneut klingt der Einsatz konstruktivistisch: „Das Material des Filmes ist die Funktionalität der Formen im Licht.“29 Da die Formen aber im Film und seiner zweidimensionalen Gestaltung ihre „Organbedeutung“ verlieren, zugleich aber auf die Sinne der Betrachter zielen sollen, könne dies nur gelingen, wenn im Film Korrespondenzen und Spannungen zwischen den Elementen gestaltet würden. Damit meint Hausmann, dass der Film eine eigene Formsprache auszubilden habe, die „aus optischen Analogien oder optischen

21

Hausmann, Die Entwickelung des Films, 342f. Ebd., 343. 23 Der Essay „Der Film der Zukunft“ erschien am 15.9.1929 in der Vossischen Zeitung. 24 Hausmann, Die Entwickelung des Films, 343. 25 Hausmann, R.: Filmdämmerung: In: Ders., Sieg Triumph Tabak mit Bohnen, 119. 26 Raoul Hausmann an Hans Richter vom 12.6.1930. In: Scharfrichter der bürgerlichen Seele, 295f., hier: 295. 27 Hausmann, Filmdämmerung, 119. 28 Ebd. 29 Ebd., 117. 22

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Widersprüchen“30 bestehen solle. Diese könnten darüber hinaus nicht nur mimetischer Natur sein, sondern zu Elementen einer neuen Gestaltung werden. Diese sieht er in Dovženkos Erde umgesetzt. Der Film sei „langsam im Tempo, ganz materialhaft, beinahe materialistisch […] und doch spürt man das ganze Geheimnis des Lebens hinter jeder Form, die zum ersten Mal so in der Perspektive, in der Beleuchtung gewählt ist, daß man die Analogie von Pflanze, Tier und Mensch als lebendes Wesen auf der Erde erkennt“.31 Hausmanns Materialismus hat mit dem dialektischen Materialismus sowjetischer Färbung nichts mehr zu tun. Der in Sowjetrussland aufgekommenen Kritik, Dovženkos Filme seien konterrevolutionär und reaktionär, folgt er nicht, sondern deutet Erde vielmehr als „geglückte Einheit von Theorie, Leben und Sinnlichkeit“.32 Gerade das, was in der sowjetischen Kritik angeprangert wurde, ist für Hausmann dessen Stärke: die „Erdverwurzeltheit“ des Menschen und des Tieres, die „Bewegungs- und Wachstumsgleichheit alles Lebendigen“,33 kurz die „Legende vom Leben“.34 Erneut ist ihm Dovženkos Film Anlass, die beiden möglichen Wege einer Filmgestaltung zu skizzieren: Auf der einen Seite eine intellektuelle Abstraktion, für die Ėjzenštejn steht, auf der anderen eine vermeintlich dialektische Gestaltung, die aber in die Dialektik, in die Form und in die Materie hineinzuversenken sucht, um so „eine Gestaltung aus den Verwandlungen der Sinne und den Strukturen der Dinge“ zu entwickeln.35 Photomontage, Photographie und Film sind Möglichkeiten „einer neuen, auf voraussetzungslosen Materialien aufgebauten Gestaltung, die nicht von den ästhetischen oder abstrakten Begriffen abhängt“.36 Folgt man Ėjzenštejn, so verwandelt sich die Welt in eine intellektuelle Anschauung, die von Ideen regiert wird. Sie eskamotiert das Konkrete und die Materie zugunsten einer Visualisierung des dialektischen Materialismus als Erkenntnisprozess. Anders Dovženko, der den Materialismus als Arbeit mit der Materie versteht und daher ganz konkret die Erde in ein Spannungsfeld der Formdialektik verwandelt: „Unter der Einwirkung von Licht und Bewegung ergeben die Gegensätze neue dialektische Inhalte, neue Strukturen, neue Funktionen im Raum der Natur.“ So könne es zu einer „wirklichen Materialität, dem Physiologismus der Kunst“ kommen.37 Das ist Hausmanns Modell eines physiologischen Materialismus. 30

Ebd., 118. Hausmann, R.: Dowshenko: Erde. In: Ders., Sieg Triumph Tabak mit Bohnen, 122-126, hier: 122. 32 Ebd., 123. 33 Ebd., 122. 34 Ebd., 123. 35 Ebd., 125. 36 Ebd., 126. 37 Ebd., 126. 31

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3. Photographie Diese eigentümliche Ambivalenz seiner Position, die sich eine politische Revolution auf die Fahnen schreibt, dann aber auf Physiologie und Biologie setzt, zeigt sich auch in seinen zahlreichen Schriften zur Photographie. Hausmann verfasste in der Zeit um 1930 nicht nur mehr als zwei Dutzend Texte zu photographischen Fragen, sondern fertigte zahlreiche Photographien an und hoffte, diese an Zeitschriften verkaufen zu können und die Photographie zum Beruf zu machen. Die russische Photographie spielt dabei allerdings eine nachgeordnete Rolle; da keiner ihrer Vertreter ausdrücklich erwähnt wird, kann nur über Andeutungen gemutmaßt werden, wie Hausmanns Einschätzung ausgesehen haben könnte. Auch wenn er eine der profiliertesten Positionen des sogenannten „Neuen Sehens“ vertritt, steht er dem Mainstream dieser Bewegung kritisch gegenüber, bezeichnet ironisch die „Neue Sachlichkeit“ als „Neue Süßlichkeit“ und spottet über die Mode, mit starken Unter- oder Aufsichten zu arbeiten. Das ist nun genau jene Perspektive, die für Rodčenko die eigentliche Errungenschaft der Avantgarde darstellt und von ihm programmatisch für eine Neuerziehung der Sinne eingesetzt wird.38 Und es ist genau diese Position, die dann zum berühmten Photographie-Streit in Sowjetrussland führte.39 Doch während hier das vermeintlich plagiierende Übernehmen von Einstellungen bürgerlicher Photographen kritisiert wurde, geht es Hausmann erneut um eine Frontstellung zwischen dem proklamierten „Physiologismus“ und der ausgerufenen Erziehung der Sinne. Hausmann oszilliert wiederum zwischen einer Orientierung an wahrnehmungsphysiologischen Erkenntnissen einerseits und einem politischen Programm andererseits. Auf der einen Seite verschiebt er die Mimesis der Photographie vom Gegenstand auf das Verhältnis des Menschen zu den Dingen, auf der anderen mutmaßt er etwas raunend, dass der Überbau auch Rückwirkungen auf den Unterbau hätte: Es ist notwendig, auf ein von der Wissenschaft noch unentdecktes Gesetz hinzuweisen: die Grenzen der historisch wandelbaren Ausgleichung der Organmängel des Menschen gegenüber der Tier- und Pflanzenwelt verlaufen innerhalb des technischen und künstlerischen Überbaus. Dialektisch gesehen ergänzen Revolutionsperioden in Kunst, Technik und Soziologie sich gegenseitig.40

Oder noch einmal anders gewendet: Auf der einen Seite profiliert Hausmann die vermeintlich bisher unentdeckten, sicher aber in der Photographie unbefolgten Regeln eines „organisch natürlichen Sehens“, auf der anderen ver38

Vgl. dazu die Edition: Rodtschenko, A.: Schwarz und weiß. Gesammelte Schriften zur Photographie. Hrsg. von S. Schahadat und B. Stiegler. München 2011. 39 Ebd., 201-252. 40 Hausmann, R.: Formdialektik der Fotografie. In: Ders., Sieg Triumph Tabak mit Bohnen, 178-180, hier: 178.

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sucht er dann diese Naturalisierung der Kunst wieder zu historisieren. Daher kommen ihm die Positionen der russischen Avantgarde ganz recht, versuchen diese doch, die Psychophysis des Menschen zu revolutionieren und diesen neu zu programmieren. So etwas Ähnliches schwebt auch Hausmann vor, allerdings mit einer ebenso signifikanten wie weitreichenden Verschiebung: Verdrängt wird die Technik, die auf russischer Seite die Neuprogrammierung der Sinne zu leisten hatte, durch das „lebendige Sehen“, die technischen Konstruktionen durch den „Wahrnehmungsapparat“, der aber als Maschine nicht zu fassen ist. Verschoben werden die Konflikte: Die Dialektik des DiaMat wird zur „Dialektik der Form“. Verdichtet werden die Beziehungen des Menschen zu Welt, die in der Photographie als „Stellung des Menschen in der Welt der Beziehungen“ Gestalt finden sollen. Das ist Raoul Hausmanns russischer Traum. Doch er kommt wie Träume überhaupt nicht ohne Verdrängung, Verschiebung und Verdichtung aus.

IGOR’ P. SMIRNOV

Über Jurij Olešas Neid Eine der Funktionen des Romans besteht darin, dass diese Erzählform epochale Brüche und Übergänge konzeptualisiert. Im Roman kollidieren soziokulturelle Paradigmen, die ungleiche Werte in Bezug auf die Zukunft repräsentieren sollen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Romanautoren ihre Aufmerksamkeit auf die Träger einer Erneuerung (wie in Rabelais’ Dilogie) oder auf die Helden der glorreichen, aber nicht mehr relevanten Vergangenheit (wie in Cervantes’ Don Quijote) richten. Sowohl der Fortschrittsroman als auch sein nostalgisches Gegenstück schildern die Geschichte stadial und entdecken in der Phasenhaftigkeit einen Ideologiekampf um die Beherrschung der Zeit. In diesem Sinne ist jeder Roman ein mehr oder weniger historiosophischer Text. In Neid (Zavist’, 1927) bringt Jurij Oleša beide Romantypen zusammen. Die rabelaisianische Figur des sowjetischen Machthabers und „Vielfraßers“ (11)/„obžora“ (21)1 Andrej Babičev verkörpert den zivilisatorischen Progress. Die Sehnsucht nach der gewesenen (prärevolutionären) Zeit personifiziert sein Bruder Ivan, eine Don-Quijote-Karikatur (nicht zufällig erwähnt er in einer seiner Reden „Windmühlen“ [125])2. Diese Protagonisten sind nicht nur epochal, sondern auch für grundlegende Zugänge des Romans zur historisierten Welt repräsentativ. Neid ist ein Metatext, in dem Oleša versucht, das Wesen der Romankunst zu erfassen. Von seinem Standpunkt aus kann er nicht die Romantradition weiterführen. Der dritte Babičev mit dem aussagekräftigen Namen „Roman“ wurde vor dem Anfang der Texthandlung als Revolutionär-Terrorist hingerichtet. Der Autor des Romans Neid selbst tritt in seinem Lebenswandel als Romancier nicht mehr auf: Nach der Erscheinung seines Romans wird er Novellen, Dramen, Drehbücher und Memoiren schreiben. Die Hauptfigur des Romans, Nikolaj Kavalerov, ein gescheiterter Literat, alter ego des Autors, ist zwischen Andrej und Ivan (man darf sagen: zwischen der Renaissance und Barockzeit) hin- und hergerissen. In der Metaposition diagnostiziert Oleša die Quelle des Affekts, der seinem Text den Titel verliehen hat. Der Neid entsteht daraus, dass das Individuum sich an keiner historischen Bewegung (weder vorwärts noch 1

Im Folgenden zitiere ich die deutsche Romanübersetzung von Gisela Drohla: Olescha, Ju.: Neid. Frankfurt a.M. 1964 und das russische Original nach der Ausgabe: Oleša, Ju.: Povesti i rasskazy. Moskau 1965. 2 „[…] не всегда враги оказываются ветряными мельницaми“ (87).

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rückwärts) beteiligt. Jenseits der Geschichte kann man das Pathetische ins Ethische nicht umsetzen. Als Metaroman stellt Neid ein äußerst vielschichtiges Palimpsest dar, das auf zahlreiche Prätexte hindeutet. Viele intertextuelle Verbindungen des Romans wurden bereits entschlüsselt.3 Hier soll die Aufgabe darin bestehen, diese Untersuchungen zu ergänzen und die semantische Struktur des Romanpalimpsestes zu rekonstruieren. Entsprechend der Metafunktion seines Werks verallgemeinert Oleša den epochalen Gang der Geschichte. Andrej Babičev wird mit den allerersten Schritten des Menschen und gleichfalls mit seinen modernsten Initiativen assoziiert. Wie auch Adam ist Andrej aus der irdischen Materie geschaffen („[…] die untere Halbkugel seines Kopfs […] sieht aus wie eine bunte tönere Sparbüchse“, 29f.),4 er lebt in einem Garten Eden (unter dem Balkon seiner Moskauer Wohnung liegt „[…] ein Garten, ein verwilderter […] Garten, mit vielen Bäumen […]“, 10)5 und inkorporiert die urmännliche Naturkraft („Er ist ein mustergültiges Mannsbild […] Er hat prachtvolle Lenden […] Die Lenden eines Erzeugers“, 8).6 Trotz seiner prokreativen Potenz ist er ein Adam vor dem Sündenfall; er unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse (so der Einwand seines Pflegesohns Volodja Makarov) und nimmt nicht von den Früchten des Erkenntnisbaums: „Er nahm ein Messer und machte sich an einem Apfel, doch er zerschnitt nur die gelben Buckel um den Stiel und warf den Apfel weg“ (12).7 In der zweiten – gegenwärtigen – Gestalt ähnelt Andrej den avantgardistischen Dichtern, vor allem Majakovskij. So wie Majakovskij die Werbetexte für den Mossel’prom8 zusammengestellt hat, entwirft Andrej Brandings für Produkte der industrialisierten Küche, die er errichtet: „Das Einwickelpapier für Konfekt (12 Muster) machen Sie so, wie der Kunde es wünscht […], aber 3

Vgl. z.B.: Ingdahl, K.: The Artist and the Creative Akt. A Study of Jurij Oleša’s Novel Zavist’. Stockholm 1984, 47ff.; dies.: A Graveyard of Themes. The Genesis of Three Key Works by Iurii Olesha. Stockholm 1994, 20ff.; Desjatov, V./Kuljapin, A.: Prozračnye vešči. Barnaul 2003, 114-120; Grigor’eva, N.: Čelovečnoe, besčelovečnoe: radikal’naja antropologija v filosofii, literature i kino konca 1920-ch – 1950-ch gg. St. Petersburg 2012, 511-514. 4 „[…] нижнее полушарие головы […] она похожа на глиняную крашеную копилку“ (32). 5 „[…] сад […] деревастый сад, беспорядочное сборище […]“ (21). 6 „Это образцовая мужская особь […] Пах его великолепен […] Пах производителя“ (20). 7 „Потянулся к яблокам с ножом, но только рассек желтую скулу яблока и бросил“ (22). 8 Die Abkürzung steht für „Moskovskoe ob’edinenie predprijatij po pererabotke produktov sel’skochozjajstvennoj promyšlennosti“, dt.: „Moskauer Vereinigung von Einrichtungen zur Verarbeitung von Erzeugnissen der landwirtschaftlichen Industrie“.

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auf neue Art“ (14).9 In Andrejs Äußerungen tauchen die Titel des Gedichtbands von Majakovskij Prostoe kak mučanie (Einfach wie ein Gemuhe, 1916) und seines Poems Čelovek (Der Mensch, 1918) auf: Er spricht niemals normal mit mir, – beklagt sich Kavalerov, – […] Mir scheint immer, dass er mir mit einem Sprichwort, mit einem Couplet oder einfach mit einem Knurren [im Original: prosto myčanie = „einfach Gemuhe“, I.S.] antwortet. Statt mit gewöhnlichen Intonationen zu entgegnen: ‚Ein junger Mensch‘, skandiert er [als ob er ein Gedicht vorgetragen hätte, I.S.] und sagt fast rezitativ: „‚Ein juu-nger Meensch‘“, 25 [im Original: „če-loo-ve-ėk“ ohne Adjektiv, I.S.].10

Auch andere Verstexte der futuristischen Hyläa-Gruppe bilden das intertextuelle Feld, in dem Andrej dargestellt wird. So weist z.B. die Androgynie Andrejs auf ein Gedicht von David Burljuk hin: „Mir gefällt ein schwangerer Mann […] Mir gefällt ein schwangerer Turm.“11 Über Andrej bemerkt Kavalerov: „Er möchte am liebsten Essen erzeugen [im Original: rožat’ = „gebären“, I.S.]. Und so erzeugte er die ‚Kopeke‘ […] Die ‚Kopeke‘ wird ein Riesenhaus; der allergrößte Speisesaal, die allergrößte Küche“ (12).12 Während der zukunftsweisende Babičev als Stammvater der Menschheit (aber auch als Poet der Revolution) primär ist, wird sein Bruder Ivan, Vertreter des Vergangenen, durch seinen sekundären Charakter bezeichnet. Mit Andrej-Adam kontrastiert ein Antichrist, der das Jüngste Gericht vorwegnehmen und imitieren will. Übereinstimmend mit dem Antichrist in eschatologischen Legenden bewirkt Ivan falsche Wunder, welche entweder ihr Ziel nicht erreichen oder Schaden anrichten. Seinen Ingenieurberuf hat er vom negativen Nachahmer Christi, Apollonius, aus Vladimir Solov’evs Kratkaja povest‘ ob antichriste (Kurze Erzählung vom Antichrist, 1900) übernommen. Kavalerov vergleicht Ivans Tochter, Valja, mit „einem Kugelblitz“ (80)13 – gerade diese tödliche Feuerwaffe benutzt Apollonius bei Solov’ev. Weil der Antichrist seine historische Position zugunsten Christi verlieren 9

„Обертки конфет (12 образцов) сделайте соответственно покупателю […] но поновому“ (23). 10 „Он никогда не говорит со мной нормально […] Мне всегда кажется, что в ответ от него я получу пословицу, или куплет, или просто мычание. Вот – вместо того чтобы ответить обыкновенной модуляцией: ‚замечательный молодой человек‘, он скандирует, почти речитативом произносит: ‚че-лоо-ве-эк!‘“ (29). Andrej ist nicht nur mit der dichterischen Avantgarde, sondern auch mit der politischen verknüpft. Sein Leben entfaltet sich parallel zu Lenins Biografie, was bereits seit langem festgestellt wurde: Lauer, R.: Zur Gestalt Ivan Babičevs in Olešas Zavist’. In: Die Welt der Slaven, (1962/2), 45-54, hier: 46-47. Vgl. dazu: Vajskopf, M.: Babičev i ego proobraz v „Zavisti“ Jurija Oleši. In: Izvestija RAN. Serija literatury i jazyka LIII (1994), V, 62-73. 11 „Мне нравится беременный мужчина [...] Мне нравится беременная башня.“ Burljuk, D.: Strelec. Sbornik pervyj. Petrograd 1915, 57. 12 „Ему хотелось бы рожать пищу. Он родил ‚Четвертак‘ […] ‚Четвертак‘ – будет дом-гигант, величайшая столовая, величайшая кухня“ (22). 13 „[…] шаровидная молния…“ (61).

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sollte, bedeutet Ivans Figur ein nicht mehr nachholbares Zurückbleiben auf der temporalen Achse. Obwohl die Gebrüder Babičevs auf die christliche Geschichtsschreibung projiziert werden, revidiert Oleša die biblische Teleologie dadurch, dass kein Protagonist in seinem Roman die Rolle des vollkommenen Erlösers spielt. Christus ist in Neid nicht vorhanden. Oleša geht apophatisch so weit, dass der unsagbare Gott zur Leerstelle wird. Der Metaroman, der den Zusammenstoß der Epochen generalisiert, kann kein endgültiges Fazit dieses Kampfes ziehen. Olešas Narration präsupponiert eine diskursive, keine soziophysikalische Apokalypse. In der Welt, in der keine ultimative Wahrheit gegeben ist, wird jede Opposition zur unscharfen, relativen. Ivan ist seinem Bruder konträr, nicht aber kontradiktorisch. Die Antipoden nähern sich in ihren Versuchen, das Leben zu technologisieren, aneinander an. Wenn der eine die Großküchenfabrik in Betrieb setzten möchte, dann konstruiert der andere eine Wundermachine namens „Ophelia“, „die alles vermag“ (138)14 und dabei von Leidenschaften ergriffen wird. Es bleibt unklar, ob der Universalapparat, der die „Kopeke“ (Četvertak = fünfundzwanzig Kopeken) zerstören sollte, tatsächlich da ist. Im unscharfen Verhältnis zu diesem Phantom ist die „Kopeke“ real, aber existiert nur halbfertig. Darüber hinaus kompromittiert Oleša den sowjetischen Neubau mittels Reminiszenzen, die auf Valerij Brjusovs Gedicht V nekončenom zdanii (Im unvollendeten Gebäude) aus dem Sammelband Tertia vigilia (1900) verweisen. In ihrer Schiff- und Labyrinthartigkeit wiederholt die „Kopeke“ die gewaltige Errichtung im architektonischen Verstext, die bei Brjusov die Menschheit einzukerkern droht.15 Im Schatten des Prätextes verwandelt sich das utopische Projekt von Ivan in ein dystopisches. Der Automat mit dem weiblichen Namen führt uns, nach Kazimiera Ingdahls Beobachtungen, zur mechanischen Puppe Olimpia zurück.16 In E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann hatte auch Fritz Langs Metropolis (1926) seinen Ursprung. Diese Filmfolie scheint besonders wichtig für die Formierung des Technikkonzepts in Neid zu sein. Olimpia ist ein passives Opfer, wohingegen sowohl Ophelia als auch die falsche Maria in Metropolis agressiv und passioniert sind. Erfinder Rotwang stellt in Langs Film einen Roboter her, der – dem Allzweckapparat bei Oleša ähnlich – absolut ist und „keine Fehler macht“. Er stattet sein Geschöpf mit den Zügen der christlichen Predigerin Maria aus, damit der Klon die Arbeiter in der unterirdischen Stadt zum sinnlosen Aufstand verleitet. Die falsche Maria, Anführerin der Menschenmasse, wird in einem Montageschritt mit den kirchlichen Statuen asso14

„[…] умеет делать всё…“ (94). Vgl. dazu ausführlich: Smirnov, I.P.: Poslednie-pervye i drugie raboty o russkoj kul’ture. St. Petersburg 2013, 162-163. 16 Ingdahl, The Artist and the Creative Act, 101. 15

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ziiert, die sieben Todsünden darstellen. Es wird offensichtlich, aus welcher Quelle die Idee von Ivan entsteht, der vorhat, „[…] die letzte Parade der alten menschlichen Leidenschaften zu veranstalten“ (114).17 Im Unterschied zu Metropolis, wo die Maschinenfrau und ihr Erfinder umkommen und der christliche Frieden triumphiert, bleibt der Bruderzwist in Neid ungelöst. Das Fehlen der strengen Disjunktion, die die beiden Babičevs endgültig trennen könnte, schließt den Sieg von Andrej über Ivan aus, so dass sie jenseits des Textes nebeneinander bestehen dürfen. Insofern Ivans Ingenieurkunst auf das Medium Film hindeutet, sollte auch Andrej, sein Äquivalent, dieselbe intermediale Abstammung haben. Eine filmische Präfiguration des sowjetischen Potentaten ist der Titelheld im Werk von Paul Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam (1920). Andrej erweist sich nicht nur als Urmensch, sondern auch als Urautomat, den Rabbi Löw auf demiurgische Art und Weise kreiert hat: „Ich betrachte Sie, – schreibt Kavalerov in einem Brief an seinen gehassten Gönner, – und Ihr Gesicht wird seltsam groß, Ihr Rumpf wächst – der weiche Ton eines Götzenbildes, eines Idols, schwillt an und wölbt sich“ (60).18 In Wegeners Film, der stark von Gustav Meyrinks Roman abweicht, erledigt Löws Kreatur Küchendienste. Der Direktor des Trusts in Neid besucht die Küchen in einer proletarischen Siedlung am Rand von Moskau, um sich zu vergewissern, dass seine Ernährungsfabrik werktätige Frauen aus der Sklaverei befreit. Das Gebäck, das Andrej zu essen pflegt, sieht „[…] wie hebräische Buchstaben“ (68)19 aus. In Neid reproduziert Oleša auch die Figurenkonstellation des Films. Kavalerov und Volodja Makarov sind in ihrer Rivalität um Valja dem Ritter Florian und dem jungen Helfer von Rabbi gleich, die um Löws Tochter Myriam kämpfen. Aber ungeachtet aller Überschneidungen widerspricht der Roman dem Film Wegeners auf eine ähnliche Art und Weise, wie dieser das Finale von Metropolis aufhebt. Spielende Kinder berauben dem Golem seiner Lebenskraft. Kavalerov und Volodja Makarov versprechen einstimmig, Andrej umzubringen, setzen ihre Drohungen allerdings nicht in die Tat um. Die unvollständige Gegenüberstellung der Wert- und Ideenträger ändert sich nicht bezüglich jüngerer Protagonisten des Romans. Wenn auch der Neid das Wesen von Kavalerov ausmacht, ist zugleich seinem Gegenspieler – dem Günstling von Andrej, dem „l’homme machine“ – Volodja Makarov dieser Affekt auch gar nicht fremd. Er gesteht: „Ich beginne die Maschine zu beneiden, ja, so ists!“ (76).20 Emotio und ratio bilden in Olešas Text die Ge17

„[…] последний парад […] чувств […]“ (80). „Я смотрю на вас, и ваше лицо начинает странно увеличиваться, увеличивается торс, – выдувается, выпукляется глина какого-то изваяния, идола“ (50). 19 „[…] с печеньем, похожим на еврейские буквы“ (55). 20 „Зависть взяла к машине – вот оно что!“ (59). 18

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genpole, die für die ganze Romankonstruktion grundlegend sind. Trotz dieser Spaltung spiegeln die Romanfiguren einander wider: Eigentlich sind sie alle von Leidenschaften bewegt. Kavalerov summiert invidia und acedia, seinerseits ergänzt Volodja Makarov den Neid durch superbia (hochmütig deklariert er: „Ich will, dass die Arbeit mich stolz macht […]“, 7621). Aufs Konto von Andrej kommt gula, und Ivan ist von ira besessen. Zwei restliche Todsünden (luxuria und avaritia) personifiziert Anečka Prokopovič. Es ist bemerkenswert, dass die Vätergeneration im Roman nur von einzelnen Affekten beherrscht ist, während die jüngeren Menschen ihre Sünden verdoppeln. Die Sujetentfaltung neutralisiert die Passionen, die Kavalerov und Volodja Makarov zu Handlungen veranlassen. Ivan gibt in der Schlussszene des Romans dem frustrierten Kavalerov den Rat: „Seien wir gleichgültig…“ (183).22 Im Grunde genommen sieht Volodja Makarov die Zukunft aus derselben Perspektive: Seines Erachtens tilgt die Revolution den „[…] Unterschied zwischen Grausamkeit und Großmut“ (131).23 Kein Wunder, dass die partielle Aufhebung der Differenz zwischen den prärevolutionären und postrevolutionären Zeitschichten eine Übertragung avantgardistischer Merkmale von Andrej zu Ivan und Kavalerov zur Folge hat. Ivan, Kavalerov und Anečka Prokopovič wiederholen das dreieckige Familienexperiment im LEF-Quartier, welches Abram Room und Viktor Šklovskij ein Jahr früher als Oleša in ihrem berühmten Film Tret’ja Meščanskaja (Bett und Sofa, 1926) indirekt geschildert haben. Der Generationswechsel verstärkt im Metaroman eine literarische Abhängigkeit der Protagonisten. So ist Valja nichts mehr als das Ewig Weibliche im Sinne von Vladimir Solov’ev oder Aleksandr Blok. Als ein Wesen nach dem Vorbild des Ewigweiblichen darf sie nicht im Roman handeln, d.h. die ihr vorgegebene Grenze überschreiten. Der Weg in die Zukunft ist paradoxerweise regressiv, führt nicht zum Neuen, sondern zum nicht Originellen, seit langem Bekannten. Mit seiner Tätigkeit überwindet Andrej die bittere Not, in die die Hauptfigur des Romans Hunger (1890) von Knut Hamsun gerät. Der anonyme Held in Hunger (er versteckt sich unter dem Pseudonym „Tangen“) denkt sich sinnlose Neologismen aus (wie z.B. „Kuboaa“). Analog zu den futuristischen Dichtern beschäftigt sich Andrej auch mit der Onomatopoesie, aber seine Wortkunst referiert auf außersprachliche Bezugsobjekte: Er erfindet Markennamen für Lebensmittel. Im Gegensatz zu Andrej befindet sich Kavalerov in derselben Situation wie „Tangen“: Die beiden jungen Männer, die ihre Begierden nicht zu befriedigen vermögen, sind obdachlos, der Trunksucht verfallen und träumerisch. Ihre großen literarischen Ambitionen können sie nicht realisieren. Gleichfalls bleibt ihre Sehnsucht 21

„Хочу стать гордым от работы […]“ (59). „Будем равнодушны…“ (120). 23 „[…] нет разницы между жестокостью и великодушием“ (90). 22

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nach dem Ewig Weiblichen ungestillt. Der quasi-Sohn Kavalerov zieht also die väterliche Vernichtung des Prätextes zurück. Noch ein Beispiel für diese intertextuelle Technik liefert das Verhältnis von Neid zu Eugène Sues Roman L’Envie (1848), aus dem Oleša den Titel für seinen Text entlehnt hat (L’Envie gehört zur Romanreihe Les sept péchés capitaux). Sue erzählt vom Minderwertigkeitskomplex eines Halbwüchsigen aus einer bürgerlichen Familie, der mit einem gleichaltrigen Marquis in Streit gerät. Monsieur David, ein Mann mit Weltkenntnissen, kuriert den krankhaften Neid von Frédérik Bastien aus. Dagegen misslingt der Rettungsversuch, den Andrej macht: Kavalerov schlägt sich auf Ivans Seite. Kavalerov selbst ist Bastien vor seiner Umerziehung bloß identisch, mit dem Unterschied jedoch, dass der Neider bei Oleša keinem Hochadligen, sondern dem Vertreter der neuen sowjetischen Elite, Volodja Makarov, gegenübersteht. In Ivan findet Kavalerov eine Vaterfigur, die ihm Andrej in der Rolle des Mentors ersetzt. Das Paar, das Kavalerov und Andrej zusammen bilden, ist nicht gleichmäßig angelegt. Nach demselben Prinzip, wie Disjunktionen im Roman entschärft werden, verheimlichen Konjunktionen hier eine Gegensätzlichkeit ihrer Glieder. In seinem Zorn wirkt Ivan ressentimental, er will sich an der ihn überholenden Gesellschaft rächen. Zweifelsohne stellt Nietzsches Traktat Zur Genealogie der Moral (1887) eine der Hauptquellen des Romans dar.24 Parallel zu Max Schelers Buch Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1912), aber kaum davon wissen könnend, bestreitet Oleša die These von Nietzsche, der das Ressentiment dem jüdisch-christlichen Glauben in dem Maße zuschreibt, wie dieser sich durch das Bild des „bösen Feinds“25 konstituiert hat. Ressentimental in Neid ist der ewig rückständige Antichrist Ivan, eigentlich Nietzsche selbst. In seiner Predigt banalisiert Ivan die Lehre über den Willen zur Macht: „Wir sind die Menschheit, die bis an die äußersten Grenzen vorgedrungen ist [...] Starke Persönlichkeiten, Menschen, die entschlossen sind, auf ihre Weise zu leben, Egoisten, Starrköpfe, an euch wende ich mich, weil ihr die klügsten seid – meine Vorhut!“ (102).26 Das Ressentiment ist laut Oleša konterrevolutionär (Ivan wurde von der Geheimpolizei vorübergehend verhaftet). Andersherum bekundet sich der Neid von Kavalerov, aber auch von Volodja Makarov, als eine postrevolutionäre Passion, als Gefühl der Menschen, welche nicht mehr gegen die Zeit (egal, ob konservativ oder fortschreitend) rebellieren können. Unter dem Neid leiden die Personen, die aus der Geschichte weggeworfen sind, so dass die einen von ihnen (Andrejs Pflegesohn) nach der Identität im Reich der 24

Siehe auch: Grigor’eva, Čelovečnoe, besčelovečnoe, 511f. Nietzsche, F.: Werke in zwei Bänden. Bd. II. Darmstadt 1973, 195. 26 „Мы – это человечество, дошедшее до последнего предела […] Сильные личности, люди, решившие жить по-своему, эгоисты, упрямцы, к вам обращаюсь я, как к более умным, – авангард мой!“ (73). 25

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Maschinen suchen müssen und die anderen (Ivans Schüler) überhaupt keine eigene Position haben. In gewissem Sinne büßt der automatisierte Volodja Makarov seine menschliche Gestalt ein. Als Torhüter der sowjetischen Fußballmannschaft ist dieser Neider ein diabolus ex machina: „Bei Spielbeginn war er sauber und ordentlich gewesen, jetzt bestand er aus Fetzen, aus einem schwarzen Körper und aus dem Leder der riesigen fingerlosen Handschuhe“ (126).27 Seinerseits wird Kavalerov zum „Bettler in der Komödie“ (175),28 zum Nichts. Vom leeren Standpunkt aus, wo Oleša zusammen mit Kavalerov steht, kann man nur rekreativ und rekonstruktiv sein, einen ‚Romanroman‘ schreiben. Was ist der Neid? Ein Gefühl nach dem Ende der schöpferischen Zeit – ist Olešas Antwort auf diese Frage.

27

„Нарядный перед началом игры, теперь он состоял из тряпок, черного тела и кожи огромных беспалых перчаток.“ (110). 28 „[…] нищий в комедии […]“ (115).

DMITRI ZAKHARINE

Das Ethos und Pathos der E-Stimme Sowjetische Hörgemeinschaft zu Beginn der elektrischen Sound-Reproduktion Seit der Antike bilden Ethos und Pathos eine sensorisch-affektive Matrix der sozialen Kommunikation. Diese Matrix realisiert sich sowohl im stimmlichen Akt der Redeproduktion als auch im akustischen Akt der Redewahrnehmung. Was über die Stimme zum Ausdruck kommt, sind Affekte, die fähig sind, den Rahmen der Kommunikation zu stabilisieren (Ethos) oder umgekehrt zu sprengen (Pathos). Quintilians Institutio Oratoria weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Ethos milde Affekte des Sprechenden, wie Liebe und Zuneigung, vermittelt und die entsprechenden emotionalen Reaktionen beim Hörenden hervorruft. In kultursoziologischen Termini umformuliert, steht Ethos für einen bestätigenden Austausch zwischen Kommunikationspartnern: Es wird bestätigt, dass die Kommunikation stattfindet und nach bestimmten Regeln abläuft. Diese Regeln implizieren bei Aristoteles die Glaubwürdigkeit des Ausgesprochenen, während bei Quintilian der Aspekt der Sympathie im Zusammenhang mit dem Ethos in den Vordergrund rückt. Mit den beiden Begriffen wird vorausgesetzt, dass Sprechende und Hörende einen gewissen gemeinsamen Glaubensbezugspunkt besitzen. Andere Auslegungen des Begriffs Ethos in der römischen und griechischen Rhetorik lassen sich nahtlos an die bereits getroffene Unterschiedung anschließen. Ethos ist an der Dauer der Kommunikation zu erkennen, es weist eine bestimmte Kontinuität auf und wird im konfliktarmen Genre der Komödie manifest. Pathos ist wiederum für das Ausdrücken von starken, nicht zu bewältigenden Affekten wie Wut und Angst bestimmt, es besitze eine sofortige simultane Wirkung. Anders als Ethos, das in der komischen Fallhöhe zum Tragen kommt, führt Pathos einen tragischen Konflikt, für den es keine Lösung gibt, ein. Steht Ethos für einen bestätigenden Austausch, so impliziert Pathos eine Dynamik, einen Zusammenbruch des kommunikativen Rahmens, es stellt ein Korrektiv zu etablierten emotionalen Dispositiven des Individuums sowie der ganzen Gemeinschaft dar. Zusammenfassend werden die Unterschiede zwischen Ethos und Pathos in der folgenden Tabelle aufgeführt (Tabelle 1).

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Dmitri Zakharine Tabelle 1: Stimme und Affekt im Kontext der Unterscheidung von Ethos und Pathos Ethos

Pathos

Beruhigende Wirkung

Stimulierende Wirkung

Schwache Affekte: Neigungen Ewig

Starke Affekte: Wut; Angst Vergänglich

Kontext der Komödie

Kontext der Tragödie

Quintilian: Institutio Oratoria (VI-2) „Ethos besänftigt gewöhnlich, Pathos regt auf“ „Das eine ist schwächer, das andere ist stärker“ „Ethos ist dauerhaft, Pathos ist vorübergehend“ „Das eine ist vielmehr für die Komödie, das andere für die Tragödie geeignet“1

Die Postulate der antiken Rhetorik wurden über Jahrhunderte hinweg in der Praxis des Vortrags, im Bühnensprachenunterricht bei der Modellierung der affektgefüllten Stimmen umgesetzt. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmeten Anweisungen für Schauspieler den Details der stimmlichen Inszenierung der Affekte viel Aufmerksamkeit. Anhand der Analyse dieser Anweisungen kann man feststellen, dass die Befunde der antiken Sprechkunst eine bis in die entwicklungspsychologisch grundlegende Schicht der motorischen Schemata reichende Verschränkung der biologischen Reflexe und der ansozialisierten Praxis der Affektdarstellung beschreiben. Stimmliche Offenbarungen der Wut und der Angst, die dem Geist des Pathetischen entsprechen, überwältigen den Menschen im wahren Sinn des Wortes. Da das Gehirn für die Analyse des akustischen Datenflusses nur drei Millisekunden braucht, sprich zehnmal weniger als für die Bearbeitung des optischen Datenflusses (30 Millisekunden), vermag der Mensch auf stimmlich übermittelte Warnzeichen viel schneller zu reagieren als auf visuell wahrgenommene Drohgebärden. Aus der Perspektive der Sozioakustik lassen sich wuterfüllte und angstbesetzte Schreistimmen vom Menschen schon auf einer vorkognitiven unbewussten Ebene als Einsturz der Alltagsnormalität definieren.2 Obwohl die stimmlichen Ausdrücke der Wut bzw. der Angst dem Begriff des Pathos zu subsumieren sind, sind die beiden im Hinblick auf ihren Bildungsort und den Energieaufwand von Grund auf verschieden. Wuterfüllte Stimmen bedienen sich des tieferen Brustregisters: „Muskeln und Nerven sind aufs äußerste gespannt“, „die Eckzähne klaffen“, „in der Überanstrengung klingt die Stimme oft heiser und langsam“. Angstbesetzte Stimmen 1

Vgl. in meiner Übersetzung: […] πάθος concitavit,Ἦθος solet mitigare [...] illud maius sit, hoc minus [...]…Ἦθος perpetuum, πάθος temporale esse […] […] illud comoediae, hoc tragoediae magis simile (Quntilian, Institutio Oratoria, VI-2). 2 Pöppel, E.: Zeitlose Zeiten. Das Gehirn als paradoxe Zeitmaschine. In: Meier, H.: Der Mensch und sein Gehirn. Die Folgen der Evolution. München 1997, 84. Schick, A.: Schallwirkung aus psychologischer Sicht. Stuttgart 1979, 179.

Das Ethos und Pathos der E-Stimme

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werden umgekehrt im Kopfregister gebildet: „Schreck durchzuckt den Körper wie ein elektrischer Schlag“, „der Mund wird krampfhaft aufgerissen“ und ihm „entringt sich der laute, oft gellende Schrei“.3 Aufgrund ihrer biosozialen Natur bilden angsterregende und angstbesetzte Stimmen eine basale Form der vorsprachlichen Kommunikation, die sich der akustischen Signale bedient. Stimmen, die erschreckend wirken, und Stimmen von Erschrockenen lösen akustische Kettenreaktionen aus: Man hört eine furchterregende Stimme; schreit selber vor Angst, wird von einem Dritten gehört, versetzt diesen in Panik und lässt auch ihn vor Angst aufschreien. Die Fähigkeit, das Timbre der Aggression bzw. das Timbre der Angst akustisch zu unterscheiden, nimmt zahlreiche Unterscheidungen höherer Ordnung, wie die zwischen Gewalttätern und Gewaltopfern, vorweg. Kontraste zwischen aktivem Handeln und passivem Erleiden kommen sowohl auf der Theaterbühne als auch außerhalb der Theaterbühne in der symbolischen Umsetzung auf intuitiv wahrnehmbare Stimmnuancen zum Tragen. So stehen dunklen aggressiven männlichen Monsterstimmen die hellen, schrillen, schreckerfüllten Kinder- bzw. Frauenstimmen gegenüber. Der Übergang von der Wahrnehmung von natürlichen Stimmen zu elektroakustischen Stimmkulturen des 20. Jahrhunderts ist bisher kaum vergleichend untersucht worden.4 Wie haben elektroakustische Medien die ethischen und pathetischen Aspekte des stimmlichen Ausdrucks genutzt, umgeformt und den gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst? Wie konstituierten sich kollektive Deutungen der Stimme vor Beginn der elektrischen Soundaufnahme und welche von diesen Deutungen haben Eingang in die neuen Soundmedien gefunden? Wie veränderte sich die gesamtgesellschaftliche Stimmkultur, die man als Rahmen der akustischen Kommunikation mit der Stimme als Medium versteht? Auf diese und ähnliche Fragen fehlt bisher eine Antwort, wobei nahezu jeder zustimmen würde, dass der Medienwandel und der soziale Wandel die etablierten Vorstellungen von expressiven – ethisch angemessenen und pathetisch aufgeladenen – Stimmen radikal verändert haben. War die Vorstellung von der Stimme noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts generell an mechanisch produzierte Klänge gekoppelt, so versteht man darunter heute vielmehr ein Kontinuum von elektrischen Schwingungen, die in Form des Sounddesigns organisiert sind. Die Kultur von Radio- und Tonfilmstimmen in der Sowjetunion weist eine Reihe von Besonderheiten auf. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Ähnlichkeit von technischen Lösungen nicht automatisch die Ähnlichkeit von Medien bzw. von Medienkulturen impliziert. Im Prozess der Aneignung von 3 4

Winds, A.: Die Technik der Schauspielkunst. Leipzig 1919, 104. Vgl. den interessanten Ansatz von Schmölders: Schmölders, C: Frauen sprechen hören. Aufstieg einer Klanggestalt. In: Paul, G./Schock, R. (Hrsg.): Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen. Bonn 2013, 134-139.

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neuen technischen Lösungen legen die Gemeinschaften verschiedene Formen der Mediennutzung an den Tag. In Anlehnung an diese Nutzungsformen werden jeweils alternative Strategien der Wirklichkeitsdeutung und Kommunikation entwickelt.

1. Stimmenarrangement im Gesellschaftsvergleich Die Andersartigkeit des Stimmenarrangements im sowjetischen Radiogeschäft bezog sich auf die folgenden Unterschiede soziostruktureller Art, die hier kursorisch aufgelistet werden. Die erste Gruppe von Unterschieden betrifft die funktionale Opposition zwischen weiblichen und männlichen Stimmen. In den westlichen Ländern, wie Deutschland und Großbritannien, bezog sich diese Opposition auf die Unterscheidung von sozialen Aufgaben innerhalb der städtischen bürgerlichen Gesellschaft, wobei der Mann die Sphäre der Öffentlichkeit, die Frau die Sphäre des Privaten repräsentierte. Die beiden Formen von Repräsentation waren an Genderidentitäten gekoppelt. Die durch Erziehung sozialisierte Stimmlage verstand sich als Teil der Genderidentität. In Russland, dessen Bevölkerung zu 90% aus Bauern bestand, fehlten ökonomische und konsequenterweise auch soziale Ressourcen für die Befreiung der Frau von der Erwerbstätigkeit. Dementsprechend war die elaborierte weibliche Salonstimme (gekennzeichnet durch einen geringen Schalldruck und eine hohe Frequenz) nur im Kontext der Petersburger Salonkultur vertreten. Als sich der große Kenner der russischen Bühnenaussprache Sergej Fürst Volkonskij darüber beschwerte, dass „die weiblichen Stimmen bei uns meistens zu hoch sind“, meinte der Fürst die Stimmen der bilingualen französisch-russisch sprechenden Adelselite. Als Beispiel für ein Ensemble von zu hohen Frauenstimmen wird von Volkonskij Aleksandr Taneevs Operneinakter Mest’ amura (Die Rache des Amours, 1899) angegeben. Die Kulisse des Einakters sprach für sich: Die geschnörkelten Bäume eines französischen RokokoParks dienten darin als Bühnenbild.5 Die Stimmkultur, auf die Fürst Volkonskij in seinen Publikationen Bezug nimmt, war die Stimmkultur der dünnen Adelsschicht, die nach der Oktoberrevolte 1917 von der sozialen Bühne hinweggefegt wurde. Auch Fürst Volkonskij musste nach zahlreichen, durch die Bolschewiki verhängten Haftstrafen und einer drohenden Erschießung im Jahr 1921 nach Paris auswandern. Dort setzte er seine Forschung zur Akustik der russischen Stimmen fort. 5

Volkonskij, S.: Vyrazitel’noe slovo. St. Petersburg 1913, 74. „Женские голоса у нас в большинстве слишком высоки, что налагает на всю роль отпечаток какого-то каприза, привередничания. Помню, я раз видел пьесу ‚Месть Амура‘ (пять женских ролей); так прямо ушам было больно.“

Das Ethos und Pathos der E-Stimme

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Die zweite Gruppe von Unterschieden betrifft das Problem der Wechselwirkung zwischen schriftlichen und oralen Kulturen. Während verschriftete Kulturen des Westens ihr gemeinschaftsstiftendes Wissen sich im Wesentlichen aus Kanzleischriften, Literatur und Briefwechsel herbeiführten, wies das kollektive Wissen von russischen Bauern vor allem orale Strukturen auf. Orale Wissensstrukturen implizieren eine geringe Fähigkeit der Gemeinschaft zur Wissensreproduktion. Mündlich kommunizierende Gemeinschaften sind unfähig, gespeicherte Informationen erneut zur Verfügung zu stellen bzw. einen komplizierten Gedankengang im selben Wortlaut mehrmals zu wiederholen.6 Die Kultur der sekundären Oralität, die ihre Entstehung der Tonaufnahme- und Tonreproduktionstechnik, wie Radio, Telefon und Fernsehen, zu verdanken hatte, trug im Zeitalter der sowjetischen Elektrifizierung noch die Züge der herkömmlichen primären Oralität. Schon die vorrevolutionären Pädagogen Russlands verlangten „zum Schutz des lebendigen Wortes“ eine radikale Umorientierung des Sprachunterrichts an der nicht verschrifteten „lehrenden Stimme des ganzes Volkes“.7 Wie kein anderes System der sekundären Oralität diente das sowjetische Radio der Macht des Moments und wie kein anderes europäisches Radio fügte es sich dem Willen der Mächtigen, welche sich im Bewusstsein der gestrigen Bauern mit den Familienältesten assoziierten. Wie keine andere Audiokultur reproduzierte die sowjetische Audiokultur elaborierte tieffrequente weibliche und männliche Stimmen, die sich bei Zuhörern mit Stimmen der Mütter und Väter im Kontext der bäuerlichen Großfamilie assoziierten. Die dritte Gruppe von Unterschieden betrifft die stimmliche Repräsentation sakraler Macht. Der politische Inhalt des Prozesses der Machtsakralisierung bestand in der formalen Festlegung der Sonderstellung des Selbstherrschers innerhalb des Fürstenverbandes. Noch Ende des 17. Jahrhunderts bestellte der Zar Aleksej Romanov einen Reichsapfel und ein Diadem, was den Herrschaftsinsignien des strenggläubigen griechischen Kaisers Konstantin entsprach. Im russischen Krönungsreglement verschwand der Handkuss, den der Zar zuvor dem Patriarchen geleistet hatte. Stattdessen beanspruchte der Zar fortan für sich selbst eine bestimmte Position in der Kirchenhierarchie, indem er z.B. die Kommunion nach einem Priesterritus

6 7

Ong, W.: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London 1982, 11ff. Černyšev, V.: V zaščitu živogo slova. Stat’i o značenii i prepodavanii živogo jazyka. St. Petersburg 1912, 24. „У народа есть известное миросозерцание [...] вложенное в его пословицы, изречения, песни, сказки, предания, ходячие житейские рассказы [...] Здесь – учащий голос всего народа, и школа поступит неосторожно, если помешает прислушаться к словам наставника.“

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empfing.8 Im panegyrischen Schrifttum um die Mitte des 17. Jahrhunderts begann man den Zaren sodann als „heilig“ (svjatoj) und als „Gott auf Erden“ (zemnoj bog) zu bezeichnen.9 Nach einem byzantinischen Brauch wurde der Zar als sakrale Person bei öffentlichen Prozessionen während des Gehens beidseitig gestützt.10 Der russische Hof wurde als heiliger Ort betrachtet, an dem lautes Sprechen verboten war. Wenn der Zar nahte, wurde für Stille gesorgt. Heilige Stille (sacro-sanctum silentium), die die Sitzungen des alten russischen Parlaments begleitete, wurde mit der Ausstrahlung von Charisma assoziiert.11 Bis zum Niedergang der monarchischen Herrschaft im Februar 1917 traten die Zaren in der Regel ohne eigene Ansprachen in den Versammlungen von Volksvertretern auf. Die vierte Gruppe von Unterschieden bezieht sich auf die Sprachskepsis der russisch-orthodoxen Kirche. Über die Ausrichtung des Staatszeremoniells hinaus verhielt sich die russisch-orthodoxe Kirche äußerst zurückhaltend gegenüber der Tradition der römischen Eloquenz. Das Verharren im Glauben, dass die Wahrnehmung der Gottesbotschaft vorreflexiv und spontan ist, hielt und (hält heute noch) die russisch-orthodoxe Kirche davon ab, die Heilige Schrift aus dem Kirchenslawischen in die Volkssprache Russisch zu übersetzen.12 Geschützt durch kirchliche Dogmen ließen sich politische Autoritäten über Jahrhunderte hinweg durch Boten vertreten. Diese hatten das Recht und die Pflicht, öffentlich im Namen der charismatischen Machtinhaber zu sprechen. Als fünfte Gruppe von Unterschieden sei die imperiale Sprachpolitik des Zarenreiches genannt. Die oben bereits erwähnten geostrategischen und sozialpolitischen Ziele, wie die Aufrechterhaltung des brüchigen Friedens an den Grenzen des multiethnischen Reiches und die Entwicklung einer wenig effizienten extensiven Wirtschaft, die auf großen Landflächen betrie8

Popov, K.: Čin svjaščennogo koronovanija (istoričeskij očerk obrazovanija čina). In: Bogoslovskij vestnik 5/2 (1896), 191; Savva, V.: Moskovskie cari i vizantijskie vasilevsy. K voprosu o vlijanii Vizantii na obrazovanie carskoj vlasti moskovskich gosudarej. Char’kov 1901, 147; Uspenskij, B.: Car’ i Bog. Semiotičeskie aspekty sakralizacii monarcha v Rossii. In: Izbrannye trudy. Bd. 1. Moskau 1994, 124. 9 Uspenskij, Car’ i Bog, 132-151. 10 Vgl. Kämpfers dementsprechenden Bericht: „Den 15 August [1683] war ein grosses Fest in St. Mariae templo arcensi, wohin die Zaaren beyde gingen, in Begleit vieler Bojarum und Magnatum, der edelste voraus uns seine Ministri in guter confusion, dann der jüngste: Sie wurden von beyden Seiten unter den Armen also geleitet, dass eines jeden Hand auch auf des Begleiters Hand ruhete.“ Kämpfer, E.: Engelberti Kaempferi Diarium Itineris ad Aulam Muscoviticam indeque Astracanum suscepti. Anno 1683. In: Adelung, Fr.: 1827, 329-378. 11 Zakharine, D.: Von Angesicht zu Angesicht. Der Wandel direkter Kommunikation in der west- und osteuropäischen Neuzeit. Konstanz 2005, 386. 12 Uspenskij, B.A.: Otnošenie k grammatike i ritorike v Drevnej Rusi (XVI-XVII vv.). In: Literatura i iskusstvo v sisteme kul’tury. Moskau 1988, 208-224.

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ben wurde, wären vor dem Aufkommen des Radios mit der Politik des radikalen Sprachpurismus nicht vereinbar gewesen. Selbst die Staatseliten des Zarenreichs, deren beträchtlicher Teil slawophil und russisch nationalistisch orientiert war, hätten es sich vor der Revolution 1917 nicht leisten können, den türkischen, kaukasischen und finnougrischen Ethnien eine akzentfreie russische Aussprache aufzuzwingen. Am Vorabend der Revolution beschwerten sich russische Theatermanager, dass selbst die normsetzenden Redemuster von dramatischen Schauspielern an den Petersburger und Moskauer Bühnen zu „bunt“ und zu „grobschlächtig“ seien. So bemerkt der Theaterpädagoge Jurij Ozarovskij, dass es nicht so leicht fallen würde, zu bestimmen, welche Mundart in der einen oder anderen russischen Theatertruppe vorherrscht, denn Dialektunterschiede kontaminieren sich mit Unterschieden im Rollenrepertoire: Während „der Vater“ und „der Stutzer“ es versuchen, ihrer Aussprache den Charakter eines farblosen (im nationalen Sinn) Petersburger Jargons zu geben, zwitschert „die Ingénue“ [Jugendliche Naive, D.Z.] auf oberen Tonhöhen südlicher Mundart. Der Dümmling und die komische Alte passen ihre Aussprachen dem alltäglichen Couleur echter Moskowiter an, wobei der leidenschaftliche „Jeune Premier“ [Jugendlicher Liebhaber, D.Z.] immer wieder gutturale Knacklautе, welche seine jüdische Herkunft offenlegen, erzeugt.13

Eine entscheidende Voraussetzung für die Etablierung der Kultur von Radiostimmen wäre die Standardisierung des Wortausdrucks auf der Basis der städtischen russischen Aussprache gewesen. Für eine solche Standardisierung fehlten jedoch bis zur gewaltsamen Industrialisierung, dem Aufkommen des Radios und der forcierten Bildungsexpansion der 1920-1930er Jahre sowohl die technischen als auch die sozialen Bedingungen.

2. Institutionalisierung des Lebendigen Wortes Einerseits war es die Technik der Stimmreproduktion (das Mikrophon und der Lautsprecher), welche in den 1920er-1930er Jahren die Einbeziehung von großen Menschenmassen in einen kollektiven gemeinschaftsstiftenden Hörraum ermöglichte. Mithilfe des elektrischen Lautverstärkers konnte ein Sprecher Hunderte und Tausende von Hörern erreichen. Hitlers bekannte Sentenz „[…] ohne Lautsprecher hätten wir Deutschland nicht erobert!“ gibt 13

Ozarovskij, Ju.: Naše dramatičeskoe obrazovanie. St. Petersburg 1900, 6. „В то время, как фат и благородный отец придают своему говору характер бесцветнаго в национальном смысле петербургскаго жаргона, ingénue щебечет на высоких нотах южнаго произношения, простак и комическая старуха окрашивают свою речь в несомненный бытовой тон истых москвичей, а пылкий jeune premier то и дело издает звуки горлового оттенка, обнаруживающие его еврейское происхождение.“

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plastisch die Begeisterung der Zeitgenossen über die Leistung der Reproduktionstechnik wieder.14 Aber auch das Gegenteil trifft zu: Es war die urbane Gesellschaft, die Ende des 19. Jahrhunderts mit Fragen konfrontiert war, auf welche die Technik der Stimm-Reproduktion und Stimm-Mediation eine Antwort geben sollte. Eine der ungelösten sozialen Fragen war damals der Massenzustrom der entwurzelten Landesbevölkerung, die sich in den Städten herumtrieb und allmählich aus der Kontrolle der territorialen Herrschaft geriet. Im Hinblick auf die Kontrollübernahme über die Masse formulierte die wohl am weitesten in Russland rezipierte Monographie der Jahrhundertwende Die Psychologie der Massen (Psychologie des foules, 1895) von Gustave Le Bon das Programm, welches die Radio-Propaganda zwei Jahrzehnte später in die Praxis umzusetzen begann. Da die Massen nach Le Bon feminin sind, seien sie durch den Mangel an kritischem Denken, durch Einfalt und Leichtgläubigkeit gekennzeichnet.15 Ähnlich wie Heere von wilden Tieren stellen sich Menschenmassen instinktiv unter die Autorität eines Führers.16 Von der Auffassung, der entsprechend die kollektive Stimme der Masse weiblich und die des Führers männlich ist, lässt sich die Unzulässigkeit der Frauenstimmen im Kontext des politischen Vortrags ableiten. Ein wirksames Mittel, die Massen zu beeinflussen, seien nach Le Bon Wörter, allerdings nur solche, die von ihrem reellen Bedeutungsgehalt befreit sind. Nicht die Bedeutung solcher Wörter wie ‚démocratie‘, ‚socialisme‘, ‚égalité‘, ‚liberté‘ etc. überzeuge die Massen, sondern die „in der Tat magische Kraft, die man in die kurzen Silben einfließen lässt, als würden diese eine Lösung aller Probleme enthalten“.17 Um bestimmte Ideen in die Köpfe der Massen zu hämmern, sei es empfehlenswert, von Techniken der ‚Versicherung‘ (‚l’affirmation‘), Wiederholung (‚la répétition‘) und Ansteckung (‚la contagion‘) Gebrauch zu machen.18 Der Effekt der elektrischen Reproduktion der Stimmen wird im Kontext von Propaganda in der Psychologie der Massen bereits vorausgesagt. Die 14

Pohle, H.: Der Rundfunk als Instrument der Politik. Zur Geschichte des deutschen Rundfunks von 1923/38. Hamburg 1955, 230. 15 „Les foules sont partout féminines […].“ Le Bon, G.: Psychologie des Foules. Paris 1895. Nachdruck. Osnabrück 1972, 27. Und weiter: „La raison et les arguments ne sauraient lutter contre certains mots et certaines formules.“ Ebd., 91. 16 „Dès qu’un certain nombre d’êtres viwants sont réunis, qu’il s’agisse d’un troupeau d’animaux ou d’une foule d’homme, ils se placent d’instinct sous l’autorité d’un chef“. Ebd., 105. 17 „Tels par exemple, les termes: démocratie, socialisme, égalité, liberté, etc., dont le sens est si vague que de gros volumes ne suffisent pas à le préciser. Et pourtant il est certain qu’une puissance vraiment magique s’attache à leurs brèves syllabes, comme si elles contenaient la solution de tous les problèmes.“ Ebd., 91. 18 Ebd., 112.

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‚Versicherung‘ impliziert nach Le Bon eine Idee, die „frei von jeglichem Beweis“ ist. Dank der ‚Wiederholung‘ der ‚Versicherung‘ formt sich das, was man gewöhnlich als öffentliche Meinung bezeichnet. Die wiederholten Versicherungen haben etwa dieselbe Wirkung wie Mikroben. Ähnlich wie bei Menschen innerhalb der Menschenmasse werde der Tick eines Pferdes von anderen Pferden im Pferdestall reproduziert. ‚Die Ansteckung‘ setze keine gleichzeitige Anwesenheit von Individuen an einem bestimmten Ort voraus. Sie könne ihre Wirkung auch auf Distanz entfalten, vorausgesetzt die Gemüter seien erhitzt.19 Vieles deutet darauf hin, dass im Laut/Sprecher-Dispositiv der 1930er Jahre die Kontinuität der Redekultur der städtischen Unterschichten zum Tragen kam. Als Kriterium sozialer Differenzierung wurde das laute Sprechen in den deutschen, britischen und französischen Anstandsanweisungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Merkmal der „niedern Classen der Gesellschaft, deren Stimmton laut und rauh“ ist (wie auch ihr Lachen) erfasst.20 Zu Umgebungen, in denen das Auftreten mit gedämpfter Stimme als unbedingt erforderlich galt, zählten der Salon, die Promenade, das Restaurant und der Wartesaal – all die Orte also, welche vor allem von der Aristokratie frequentiert wurden. Rascher als Kavaliere gerieten lautstark sprechende Damen in den Verdacht einer „niedrigen Erziehung“. Im Kontext der adeligbürgerlichen Kultur signalisierte leises Auftreten im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr nur den Stand, sondern stand „auch ganz direkt im Dienst der Inszenierung von Weiblichkeit“.21 Es ist davon auszugehen, dass das laute Sprechen mit dem Aufstieg der städtischen Volksmassen zur gesellschaftlichen Macht umgewertet wurde. Als Medium der Kommunikation zwischen Masse und Führer trat die laute 19

„L’affirmation pure et simple, dégagée de tout raisonnement et de toute preuve, est un des plus sûrs moyens de faire pénétrer une idée dans l’esprit des foules. […] Lorsqu’une affirmation a été suffisamment répétée, et qu’il y a un animité dans la répétition, comme cela est arrivée pour certaines entreprises financières célèbres assez riches pour acheter tous le concours, il se forme ce qu’on appelle un courant d’opinion et le puissant mécanisme de la contagion intervient. Dans les foules, les idées, les sentiments, les émotions, les croyances possèdent un pouvoir contagieux aussi intense que celui des microbes. […] Ce phénomène est très naturel puisqu’on l’observe chez les animaux eux-mêmes dès qu’ils sont en foule. Le tic d’un cheval dans une écurie est bientôt imité par les autres chevaux de la même écurie. […] La contagion n’exige pas la présence simultanée d’individus sur un seul point; elle peut se faire à distance sous l’influence de certains événements qui orientent tous les esprits dans le même sens […].“ Ebd., 112-114. 20 Falkman, Ch.: Declamatorik oder: vollständiges Lehrbuch der deutschen Vortragskunst. Hannover 1836, 145; Linke, A.: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Weimar 1996, 159. 21 Rocco, E.: Der Umgang in und mit der Gesellschaft. Ein Handbuch des guten Tons. 11. Aufl. Berlin 1922, 132.

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Stimme nun zunehmend in Konkurrenz zum aristokratisch codierten Gebot, leise zu sprechen. In der elften Auflage von Roccos Handbuch des guten Tons (1922), die am Vorabend der Massenverbreitung von Reproduktionstechnik erschien, wurde die bezeichnete Umwertungstendenz wie folgt beschrieben: „Laut und verständlich zu sprechen, ist die erste Pflicht des Redenden.“22 Von nun an suchte die Gesellschaft nach einem technischen Medium, welches das Ideal des lauten Sprechens verwirklichen konnte. Das Aufkommen der elektronischen Methode der Stimmaufnahme (der sogenannten Lichttonaufnahme) verschob das öffentliche Interesse hin zu Phänomenen des Schreiens, Rufens und Jodelns, mithin zu unveränderlichen Charakteristiken der Stimme, die nicht durch das Raster der Sprache gefiltert sind. Und das Gegenteil trifft ebenso zu: Die Entwicklung von Lichttonaufnahmetechniken wurde von der intellektuellen Sprach- und Zivilisationskritik vorbereitet und angekündigt. Das physikalische Konzept der Tonfilmstimme als Sammelsurium von akustischen Schwingungen, wie es in der Theorie der Lichttonaufnahme der 1920er Jahre vorkommt, hat viele Parallelen im Konzept der Ur-Stimme, wie sie in der europäischen Soziologie Anfang des 20. Jahrhunderts definiert wurde. Der deutsche Soziologe Georg Simmel bezeichnete das Schreien und Jodeln als die reinsten und ursprünglichsten Manifestationen der menschlichen Stimme. Nur sie seien fähig, Aggression und sexuelle Energie zum Ausdruck zu bringen. „Je vereinsamter der Bergbewohner“, schrieb Simmel, „umso ungekünstelter ist sein Jodeln und desto weniger erinnert es an Gesang.“23 Mit der Darwinisierung des allgemeinen Zugangs zur Sprache (eine Tendenz, die in der Suche nach dem sprachlichen Ur-Erlebnis ihren Höhepunkt erreichte), wurden ethische Regeln für die Produktion des stimmlichen Ausdrucks den Bedürfnissen von ländlichen Unterschichten angepasst. Im Bauernland Russland manifestierte sich diese Tendenz noch vor der Revolution (1917) in der Gründung von Forschungszentren und Bildungsinstitutionen, deren ideologisches Programm die Propaganda der oralen Formen der Kommunikation umfasste. Die Eröffnung einer Vorlesungsreihe zu Techniken der theatralischen Rezitationskunst in St. Petersburg (damals Petrograd) im Jahr 1910 ist symptomatisch für diese Tendenz. Anfänglich setzte der Theaterpädagoge Ozarovskij seinen Hauptakzent auf die Förderung des Interesses am Theater bei der städtischen intellektuellen Elite. Seine Initiative stieß jedoch auf eine 22

Vgl. z.B. Hörburger, Ch.: Das Hörspiel der Weimarer Republik. Versuch einer kritischen Analyse. Stuttgart 1975, 40: „Die Reduktion der Sprache im Hörspiel auf ein phänomenologisches Urerlebnis […] ist eines der wesentlichen Merkmale, die die deutsche Hörspielkritik bis in die sechziger Jahre entscheidend bestimmte.“ 23 Simmel, G.: Psychologische und ethnologische Studien über Musik. In: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 13/3 (1882), 261ff.

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größere Resonanz, als sie auch die Mittelschichten anzusprechen begann. Im Jahr 1918 bald nach der Oktoberrevolte der Bolschewiki gelang es dem Theaterwissenschaftler und Nachfolger von Ozarovskij Vsevolod Vsevolodskij-Gerngross mit Unterstützung von Lenins Regierung, auf der Basis einer elitären Vorlesungsreihe das Institut des Lebendigen Wortes (Institut živogo slova) zu gründen.24 Klassifiziert man die Gasthörer des Instituts nach deren Bildungsstatus, so kann man vermerken, dass 64,5% von ihnen Nachweise für Mittlere Reife und 11,8% nicht einmal Nachweise für Mittlere Reife hatten. Nur 21,4% besaßen Nachweise über Hochschulabschlüsse bzw. 1,4% Nachweise über eine abgeschlossene Ausbildung.25 Lenins Kulturminister Lunačarskij war unter den ersten Gastprofessoren des Instituts. Es erscheint überraschend, dass das Interesse für die akustische Dimension des Sprechens mit der Erweiterung der sozialen Basis des Instituts das Interesse für phonetische und orthoepische Nuancen der Bühnenaussprache verdrängte. Auf Vorschlag des Musikwissenschaftlers Valerian Bogdanov-Berezovskij (vom 23.10.1918) wurden Vorlesungen zur Psychologie des Gehörs ins Programm des Instituts aufgenommen. Die frühen elektroakustischen Experimente mit Stimmaufnahme sind durch vorsowjetische Forschungen zu Sprachintonation, Sprachbetonung und Sprachrhythmus vorweggenommen worden. Ein Teil der entsprechenden Untersuchungen ist im Kontext der Dialektfeldforschung entstanden, wobei der andere Teil seinen Ursprung auf die Musik- und Gesangtheorie zurückführt.26 Als Erstes ist in den frühen russischen Untersuchungen zur Stimmakustik, in Anlehnung an die Theorie des französischen Vokalpädagogen François Delsarte (1811-1871), ein ausdifferenziertes kategoriales System für die Erfassung von akustischen Dimensionen der Stimme ausgearbeitet worden. So berücksichtigte das System, das Sergej Fürst Volkonskij in seiner Arbeit Die Ausdruckskraft des Wortes vorstellt, Kategorien wie die „Tonhöhe“, die „Kraft vs. Lautstärke“ der Stimme (hier wird konsequent zwischen der Spannung von Kehlkopfmuskeln einerseits und dem Effekt der Stimmlautstärke unterschieden), die „Qualität“ der Stimme (hier wird die Wechselwirkung von dargestellten Affekten und Stimmregistern behandelt) und

24

Čoun, E./Brandist, K.: Iz predystorii Instituta živogo slova: protokoly zasedanij kursov chudožestvennogo slova. In: Novoe literaturnoe obozrenie 86/2 (2007). http://magazines.russ.ru/nlo/2007/86/ch6.html. (12.02.2016). 25 Zapiski Instituta živogo slova. Petrograd 1919, 1, 14. 26 Bogorodickij, V.: Opyt fiziologii obščerusskogo proiznošenija. Kazan’ 1909; Brok, O.: Očerk fiziologii slavjanskoj reči. Ėnciklopedija slavjanskoj filologii. Vyp. 5. St. Petersburg 1919; Krassovskij, S.: O jazykach i nravach. O duševnych oščuščenijach, svjazannych s členorazdel’nymi zvukami. Moskau 1906.

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die „Stimmführung“ (hier wird die Intonierung oder der Tonhöhewechsel im Satz besprochen).27 Als Zweites enthielten die frühen Forschungen zur Stimmakustik die ersten, noch sehr unvollkommenen Ergebnisse von rudimentären Messungsmethoden, die jedoch eine wichtige Grundlage für die spätere elektroakustische Erfassung der Stimme geliefert haben. Die frühen empirischen Messungsmethoden beruhten auf Maßsystemen, die mit zeitgenössischen Einheitensystemen nicht konform sind. Nichtsdestotrotz erlaubten solche Maßsysteme eine angemessene Erfassung von den wichtigsten akustischen Phänomenen. Beispielsweise benutzte Sergej Fürst Volkonskij das allgemeine Schema von musikalischen Intervallen, wie Sekunde, Terz, Quinte und Oktave, für eine wenn auch nur grobe qualitative Analyse des Stimmhöhewechsels in der russischen gesprochenen Sprache. Obwohl die Unterscheidung zwischen Bühnensprache und Alltagssprache nicht besonders genau gehandhabt wird, gelingt es Volkonskij, die Formeln der russischen Intonation mit der Berücksichtigung der Ethos-Pathos-Unterscheidung aufzustellen. Während das Sekundenintervall die Grundlage des Ethos bildet, enthalten Terzen, Quinten und Oktaven pathetische Konnotationen. Die Sekunde (verstanden als große Sekunde oder als großer Ganzton) gibt der Rede „den Charakter einer ruhevollen Selbstbeherrschung und Würde“, wobei die „leidenschaftliche“ (strastnaja) Rede sich der größeren Intervalle wie Terzen, Quinten und Oktaven bedient.28 In seiner einige Jahre später in der Sowjetunion erschienenen Forschung zur Intonation der russischen gesprochenen Sprache (1922) benutzte der Gründer des Instituts des Lebendigen Wortes Vsevolodskij-Gerngross, in Anlehnung an Sergej Volkonskijs Arbeit, die Maßeinheiten, die wichtige Voraussetzungen für die Berechnung des Schallpegeldrucks von Mikrophonstimmen lieferten. Zentral für das Konzept von Vsevolodskij-Gerngross war die Vorstellung von Arbeit, die eine abstrakt gewählte (männliche oder weibliche) Stimme im leeren Raum leistet. Mit dem zeitgenössischen Internationalen Einheitensystem (SI – Système international d’unités) sind die Einheiten von Vsevolodskij-Gerngross nicht mehr konform. So beispielsweise wurde der Druck der Luft, die im Redefluss ausgeatmet wird, anhand der Wassersäule (in der Bundesrepublik Deutschland seit 1978 keine gesetzliche Einheit mehr) gemessen. Ein Meter Wassersäule würde dem Druck des Wassers in einem Meter Wassertiefe bei einer Temperatur von 4°C entsprechen. Dementsprechend erreiche der stimmlich erzeugte Luftdruck beim Flüstern 27

Volkonskij, Vyrazitel'noe slovo, 74-105. „Высота […] Сила и громкость […] Качество […] Голосоведение – Механизм.“ 28 Ebd., 106. „Секунда – основной интервал всякой спокойной, разумной речи (в отличие от страстной, которая приобретает к широким инвервалам терции, квинты и октавы) [...] сообщает речи характер спокойного самообладания.“

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30 Meter, bei Stimmen mit mittleren Tonhöhen 160 Meter, bei Stimmen mit großen bis sehr großen Tonhöhen 200 bis zu 945 Meter. Aufgrund des Luftdrucks wurde die in ERG (abgeleitet vom griechischen érgon) gemessene Arbeit der Stimme bemessen. „Beim Vortragen einer Rede im großen Raum ist die Arbeit der Stimme […] bei Frauen vier Mal geringer als bei Männern“, schreibt Vsevolodskij-Gerngross.29 Zu Beginn der elektrischen Stimmübertragung wurde der physische Begriff „Arbeit“ (berechnet wie Energie: Kraft x Strecke) mit sozialen Konnotationen versehen: Es hieß nämlich, dass der männliche Sprecher die vierfache Arbeit gegenüber dem weiblichen Sprecher leistet, indem er eine größere Kraft der Stimme in seinem Vortrag einsetzt. Den Ursprung der Stimme und von deren tragenden Elementen, sprich der Vokale, leitete Vsevolodskij-Gerngross (ganz im Sinne von Rousseau) von den „sinnlichen Ausrufen der Tiere, sowie den ersten Stimmäußerungen unserer Vorfahren“ ab. Solche Ausrufe sollten „die stärkste Spannung der Muskel des Kehlkopfes“ und „den höchsten Druck der ausgeatmeten Stimme“ vorausgesetzt haben. Der Mund der altertümlichen Jäger soll im Vergleich zum Mund des modernen Menschen immer geöffnet gewesen sein. Dementsprechend seien ausgestoßene Laute durch eine enorme Intensität gekennzeichnet gewesen. Mit der Zeit seien die sinnlichen Ausrufe der Urmenschen in Vokale transformiert worden. Der durchschnittliche Luftdruck und die durchschnittliche Tonhöhe sanken. Dies könne man „am Stöhnen, Gähnen und den Interjektionen“ beobachten. Die Struktur des Sprechapparats, der über dem Kehlkopf liegt, trage, so Vsevolodskij-Gerngross, die Spuren der ursprünglichen Formen der Affektäußerung. Die Vokale, die als Buchstaben U, O, A, E und I (Y) transkribiert werden, seien im Hinblick auf den Grad an Vokalität sehr verschieden. „Egal an welche Theorie der Vokale man glaubt“, unbestritten bleibe, dass „einem Laut von bestimmter Tonhöhe ursprünglich das eigene Vokaltimbre, sprich die eigene Vokalität entsprach“.30 In diesem Zusammenhang zitierte der 29

Vsevolodskij-Gerngross, V.: Teorija russkoj rečevoj intonacii. St. Petersburg 1922, 18. „При произнесении речи в большом зале она [работа – DZ] в 4 раза больше, у женщин – в 4 раза меньше, чем у мужчин.“ 30 Ebd., 37. „Чувственные выкрики животных, как и первые звуки голоса наших предков и детей, обязанные своим происхождением сильному активному страдательному чувству, а позднее – сложному сильному активному страдательному чувствованию – эмоции, аффекты, раздавались при сильнейшем натяжении связок, сильнейшем давлении столба выдыхаемого воздуха и совершенно открытой ротовой щели, отчего звук был исключительно сильным, высоким и сопровождался вереницей дисгармонических обертонов и шумов. Но тот же самый выкрик, по мере расходования данного запаса воздуха, к концу становился ниже, слабее и благозвучнее – мы это наблюдаем сейчас на стоне, зевании и междометиях. [...] Словом, какой бы теории происхождения гласных ни

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Wissenschaftler einen der bedeutendsten Professoren des Instituts des Lebendigen Wortes, Lev Ščerba, der die relativen Frequenzen von russischen Vokalen in Hertz wie folgt berechnet hat: U – 432, O – 756, A – 980, Y – 996, E – 1816, I – 3044. Die Überlegung, dass Vokale der modernen Sprache auf eine akustische Invariante der Ahnensprache als unveränderbare Größe zurückzuführen sind, brachte Vsevolodskij-Gerngross zur Herstellung einer Relation zwischen Vokalen der russischen Sprache und emotionalen stimmlich übermittelten Zuständen der Vorfahren. Die Interjektionen seien, seiner Sprachursprungstheorie folgend, „zwar mit Suffixen, Präfixen und Flexionen bewachsen worden“, trägen jedoch in sich „die Spuren eines ursprünglichen Gefühls, das sie erzeugt hatte“; […] egal was die Bedeutung des gebildeten Wortes ausmacht, immer wird es auch emotional wahrgenommen. […] Vom Wort ‚A‘ ist einem immer optimistisch und ruhig zumute, ‚U‘ wirkt unheimlich, Furcht einflößend, beängstigend, horrend, ‚I‘ wirkt schmerzhaft-verkrampft. […] Ein Teil der Konsonanten beherbergt auch lyrische Lautnuancen; beispielsweise drücken alle Zischkonsonanten und Reibelaute, die mithilfe unserer während des Angriffs- oder Verteidigungskampfs zusammengebissenen Zähne gebildet werden, Wut und Angst aus; ‚L‘, für dessen Bildung man die Zunge einsetzt (als würde darauf etwas Schmeckendes und Süßes zergehen) wirkt immer zärtlich und liebevoll […] Die labialen frikativen ‚V‘ und ‚F‘ sind immer luftig: ‚Wind‘ (veter); ‚R‘ klingt schwer, schlagartig, militant und tragisch: Mars, Perun.31

Bestimmte onomatopoetische Konnotationen der Sprachlaute sind schon in der älteren Rhetorik, so beispielsweise bei Lomonossov thematisiert wor-

держаться, несомненно, что первоначально звуку той или иной высоты всегда отвечал свой определенный гласный тембр, т.е. своя гласная.“ 31 Ebd., 101. „Эмоциональное воздействие лирических слов понятно. Под влиянием того или другого чувствования наши предки принимали тот или другой мимопластический вид, издавали звук определенной высоты и определенного тембра, т.е. гласности и согласности. Эти междометия, обрастая суффиксами, префиксами и флексиями, правда в уже несколько затушеванном виде, но все же хранят на себе следы первичного, их породившего чувствования, и какова бы ни была затем смысловая ценность образовавшегося слова, мы всегда воспринимаем его и эмоционально. От слова ‚А‘ всегда уверенно и спокойно-радостно. ‚У‘ – жутко, страшно, испуганно или устрашительно, ‚и‘ болезненно-напряженно. Часть согласных также несет лирические оттенки; например, все шипящие и свистящие, образующиеся на стиснутых зубах, стискиваемых при борьбе оборонительной или наступательной, выражают злобу, страх; ‚л‘, для образования которого мы действуем языком так, как если бы на него попало что-либо вкусное, сладкое, – всегда ласково-любовно. Слова звукоподражательные влияют эмоционально по ассоциации с звуковым образцом. Отсюда фрикативные губные ‚в‘ и ‚ф‘ – ветер, вьюга, эфир, флюид – всегда легковейны и воздушны, ‚р‘ всегда тяжело резкое, воинственно и трагично – труд, раб, гром, град, Марс, Перун.“

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den.32 Jedoch gingen die im Rahmen der Rhetorik ausformulierten onomatopoetischen Theorien nie so weit, die Bildung von allen Vokalen und allen Konsonanten mit bestimmten für den Ausdruck der Affekte zuständigen physiologischen Muskelbewegungen in Verbindung zu bringen. Im Kontext des Instituts des Lebendigen Wortes sind onomatopoetische Konnotationen russischer Sprachlaute unendlich erweitert, mit Ergebnissen von zeitgenössischen Messungen untermauert und auf eine radikale Art und Weise ‚ontologisiert‘ bzw. ‚darwinisiert‘ worden. Eine neue darwinistisch geprägte evolutionsanthropologische Ausrichtung der russischen Sprachtheorie, die in solchen Ansätzen, wie Die Physiologie der allrussischen Aussprache von Vassilij Bogoroditskij (1909) oder Die Physiologie der Slawischen Rede von Olaf Broch (1910) zum Ausdruck kam, implizierte eine radikale Abschwächung des indexikalischen und die Verstärkung des ikonischen Aspekts der Lautsemantik. Faktisch ging es um eine rekursive Beseelung der Laute der Nationalsprache, die fortan als unmittelbare Träger von physiologischen Stimuli behandelt wurden.33 An die physiologischen Ansätze von Broch und Bogoroditskij anknüpfend, bereitete Jakubinskij zum Vortragen am Institut des Lebendigen Wortes eine Reihe von Vorlesungen mit dem Titel Zur Evolution der Rede vor.34 Es erscheint symptomatisch, dass eine genaue Affektsemantik in den evolutionsanthropologischen Sprachansätzen darwinistischer Provenienz nicht nur den stimmhaften Lauten (Vokalen), sondern auch den Konsonanten zugewiesen wurde. Dementsprechend fragte z.B. Krassovskij (1906) nach „den seelischen Empfindungen, die mit artikulierten Lauten“ zusammenhängen, und stellte schlussfolgernd fest, dass z.B. „K“ beim „Bewusstsein der Gefahr“ vorkommt, wobei „W“ die „Bewegung ins Innere des 32

Schon die Anweisung zur Eloquenz von Michail Lomonosov (1748) enthielt gewisse sprachpoetische Beobachtungen, die daraufhin generalisiert wurden, dass beispielsweise der Buchstabe „A“, der im Russischen häufig vorkomme, zur Darstellung der großen Räume, der Tiefe und der Höhe dient. So ähnlich diene der häufigere Gebrauch von „E“ und „I“ zur Vermittlung der Zärtlichkeit, wobei die Buchstaben „O“ und „U“ die „furchteinflößenden“ und „starken“ Dinge, wie Zorn, Neid, Angst und Traurigkeit zum Ausdruck brächten. „В российском языке, как кажется, частое повторение письмени а способствовать может к изображению великолепия, великого пространства, глубины и вышины, также и внезапного страха; учащение письмен е, и, Ъ, ю – к изображению нежности, ласкательства, плачевных или малых вещей; через я показать можно приятность, увеселение, нежность и склонность; чрез о, у, ы – страшные и сильные вещи: гнев, зависть, боязнь и печаль.“ Lomonosov, M.: Kratkoe rukovodstvo k krasnorečiju. Kniga Pervaja. St. Petersburg 1748, Kapitel 2, § 172. 33 Brok, Očerk fiziologii slavjanskoj reči; Bogorodickij, Opyt fiziologii obščerusskogo proiznošenija. 34 Jakubinskij, L.: Ėvoljucija reči. Stenogramma lekcij, čitannych v Institute Živogo Slova v 1919 godu. St. Petersburg 1919.

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anderen Gegenstandes“ bedeutet.35 Eine solche Zuschreibung erscheint aus heutiger Sicht schon deswegen problematisch, weil die Schwingungen, die der Bildung von Sprachkonsonanten zugrunde liegen, keine Periode bilden. Anders als Vokale bestehen die Konsonanten aus Lautwellen unterschiedlicher Art und Länge. Die den Konsonantenprofilen zugrunde liegenden akustischen Variablen lassen sich daher weder auf den gemeinsamen Nenner bringen noch miteinander im Hinblick auf einen bestimmten dargestellten Affekt vergleichen. Die Urteile der Sprachevolutionisten implizierten vielmehr eine freie Assoziation von Zahnlippenlauten mit Zähnen als Waffe gegen eine äußere Bedrohung. Fasst man die Ergebnisse der vorsowjetischen philologischen Forschung zur Stimmakustik zusammen, so kann man deren Hauptleistungen mit den folgenden Stichpunkten erfassen: Vor dem Aufkommen von neuen Medien stellte diese Forschung ein rudimentäres kategoriales System zur Beschreibung der Wechselwirkung zwischen der Energie bzw. „Kraft“ der Stimme einerseits und der Stimmlautstärke andererseits, zwischen der Affektäußerung einerseits und Stimmführung andererseits anheim. Darüber hinaus stellte es die Ergebnisse der akustischen Stimmanalyse, die mithilfe von unvollkommenen und aus heutiger Sicht veralteten Messungsmethoden und Maßeinheiten erzielt worden waren, zur Verfügung. Von der ideologischen Prägung her war die vorsowjetische Forschung zur Stimmakustik am Konzept der körperlichen Arbeit orientiert. Sie verfolgte andererseits das Ziel der Beseelung der gesprochenen Nationalsprache. Über das Medium der Oralität sollten mündlich kommunizierende Bauernschichten in den Zusammenhang der russischen imperialen Herrschaft integriert werden.

3. Elektrifizierte Stimmen der Heldenfrauen, Heldenführer und Verräter Mit Experimenten zum Senden und Empfangen menschlicher Sprache wurde in der Sowjetunion nicht vor 1921 begonnen. Zwei Ingenieuren, den Genossen Uglov und Dikarev aus Kazan’, wurde von der Sowjetregierung der Auftrag verliehen, einen Lautsprecher zu konstruieren. Dies war Teil der Bemühung, Lenins Konzept von Radiogazeta (d.h. eine „Zeitung ohne Papier und Distanz“) zu realisieren. Das erste Probeexperiment fand auf dem Balkon des Radiolabors in Kazan’ statt. Während des Experiments konnte die Stimme eines Sprechers ohne Schwierigkeit innerhalb eines halben

35

Krassovskij, S.: O jazyke i nravach. O duševnych oščuščenijach, svjazannych s členorazdel’nymi zvukami. Opyt otyskanija zakonov slova. Bd. 1. St. Petersburg 1906, 66.

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Kilometers vom Labor entfernt verstanden werden.36 Der von sowjetischen Ingenieuren entwickelte Lautsprecher kam das erste Mal während des jährlich stattfindenden Maifeiertags 1921 in Kazan’ zum Einsatz. Aber schon am 8. Juni 1921 wurden Soundverstärker dieses Typs an sechs Plätzen in Moskau installiert. Dieses Datum gilt als Startpunkt der elektroakustischen Stimmmediennutzung in der Sowjetunion. Am 23. November 1924 begann der Moskauer Radiosender von Komintern Tagesnachrichten in Form der sogenannten Ustnaja Gazeta ROSTA (Die mündliche Zeitung ROSTA) zu übertragen. Die Zuhörerschaft bestand aus den Einwohnern Moskaus, die sich auf den Plätzen der Hauptstadt versammelten. Schon frühe Historiker des Radios wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die genaue Bedeutung des Begriffs gromkogovoritel’ (eng. loudspeaker, dt. Lautsprecher) in Russland wie sonst in keinem anderen Land wörtlich genommen und in die Praxis umgesetzt wurde. Gleich zu Beginn hat sich die übertragene Radiostimme in Russland mit einer großen Lautstärke und dem Ritual des kollektiven Zuhörens assoziiert. ‚Elektrifizierte‘ Stimmen waren also weniger am individuellen Geschmack als vielmehr an den Erwartungen einer großen Menschenmenge orientiert.37 Anfangs übernahmen einfache Arbeiter des Haupttelegraphenamtes die Aufgaben der Nachrichtensprecher. Schauspieler von Moskauer Theatern traten später in die Fußstapfen von unprofessionellen Vorlesern. Durch den anhaltenden Zustrom von Übersiedlern aus ländlichen Gebieten entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in den russischen Metropolen erstmals eine städtische Schicht, die von konservativen, liberalen und marxistischen Schriftmedien für die politische Redekunst sensibilisiert werden konnte. Der jungen Generation von öffentlichen Rednern, zu denen Lenin und Trockij zählten, ist es letztendlich gelungen, politische Macht außerhalb der Tradition der dynastischen Thronfolge einzunehmen. Im Rausch des Sieges strebten die Bolschewiki nach einem Medium, das den Erfolg der öffentlichen Redner stabilisieren und steigern würde. Wie sonst kein anderes Medium symbolisier36

Vgl. aus den Memoiren des Radioingenieurs Dikarev: „Телефон с рупором выставили на балконе радиолаборатории и стали читать газету […] Звуками громкой речи наполнилась вся площадь, собралась толпа прохожих, привлеченная неслыханным громкоговорением. Чтобы испытать дальность действия громкоговорителя, его подняли на мачту радиостанции на высоту около 23 метров и направили в сторону вокзала через лес. Когда стемнело, стали читать газету, и оказалось, что свободно понимать речь можно в полукилометре от рупора, а голос был слышен на вокзале.“ Zit. nach Ružnikov, V.: Tak načinalos’. Istoriko-teoretičeskij očerk sovetskogo radioveščanija. 1917–1928. Moskau 1987, 101. 37 Ebd., 107. „Появление термина ‚громкоговоритель‘ было связано с таким именно характером вещания, с особым стилем чтения материалов по радио, обращенного к множеству людей, собравшихся в одном месте (‚рупор усиливающий телефон и говорящий толпе‘).“

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te die Lichttonaufnahme einen direkten Kontakt zwischen den sprechenden Machtvertretern und der zuhörenden Volksmasse. Eine verträumte Poesie der Unmittelbarkeit, die dem Geist der primären Oralität entsprach, kommt in den frühen Experimenten mit Aufnahmen der Politikerstimmen ganz deutlich zum Vorschein. In dem Kamerateam, in welchem der Erfinder der ersten sowjetischen Tonfilmkamera Aleksandr Šorin und der Regisseur Dziga Vertov zusammenarbeiteten, wurden Vogelstimmen und die Stimmen sowjetischer Parteifunktionäre mithilfe ein und derselben tragbaren Kamera hintereinander aufgenommen. In seinen Memoiren verglich Šorin die Tonaufnahme (voraussichtlich 1929) mit einer Jagd, wobei er das mehrdeutige Verb „fangen“ für die Beschreibung beider Praktiken („fangen mit der Falle“ bzw. „fangen mit dem Mikrophon“) benutzte: Auf der Elagin-Insel, am Gebüsch, in dem […] von 3 bis 4 Uhr morgens die Nachtigallen singen, hat man einen Dreifuß mit der Tonkamera aufgestellt […]. Es war feucht und nebelig, wir waren ganz nass, […] Dziga Vertov kam an ein Mikrophon heran. […] Die Morgendämmerung begann sich aufzulösen. Plötzlich begann eine Nachtigall zu singen. Alle drei Mitarbeiter, welche die Mikrophone bedienten, schlichen über das nasse Gras zum gefiederten „Solisten“ und haben seine Stimme mit dem Mikrophon eingefangen. […] Inmitten unserer Übungen mit der Nachtigall haben wir die Nachricht erhalten, dass Valerian Vladimirovič Kujbyšev [Mitglied des sowjetischen Politbüros seit 1927, DZ] nach Leningrad gekommen ist. […] Gleich kamen die Kameraleute. […] Die Gruppe des Regisseurs Room [hatte] die Stimme von Valerian Vladimirovič einzufangen und seine Rede für den Tonfilm „Der Fünfjahresplan“ aufzunehmen.38

Für seinen Dokumentarfilm Drei Lieder über Lenin (Tri pesni o Lenine) nahm Dziga Vertov außerhalb des Studios als Erster in der Welt das synchrone Interview mit der Betonarbeiterin des Kraftwerks Dneprogess Maria Belik auf. Die Trägerin einer markanten nordrussischen Mundart verriet ihre Aussprache, die sich durch ein klar ausgesprochenes unbetontes „o“ kennzeichnete. Von Beginn an reflektierte der sowjetische Dokumentarfilm die doppelte Rolle der aufgenommenen Stimme: Zum einen ermöglichte die Stimmaufnahme eine öffentliche Zurschaustellung von „Helden der Arbeit“, denen sich die Sowjetbürger anzugleichen hatten; zum anderen diente die 38

Šorin, A.: Kak ėkran stal govorjaščim. Moskau 1941, 90. „На Елагинском острове, в стороне от кустов, где [...] от трех до четырeх часов утра поют соловьи, поставили треногу с записывающим аппаратом [...] Роса страшная, мы насквозь мокрые, [...] у одного из микрофонов – Вертов. [...] Началось утро. Вдруг вдали запел соловей. Все три микрофонщика поползли по мокрой траве к пернатому ‚солисту‘ и охватили его микрофонами. [...] В самый разгар наших ‚соловьиных записей‘ мы вдруг получили известие, что Валериан Владимирович Куйбышев приехал в Ленинград. [...] Моментально приeхали кинооператоры. [...] Группа режиссера Роома [должна была] заснять Валериана Владимировича и записать его речь для звуковой картины ‚План великих работ‘.“

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Stimmaufnahme zur Entzauberung der alten Gesellschaftseliten, deren Aussprache als Indiz für eine zweifelhafte Identität zur Schau gestellt wurde. Eine Tendenz zur Normierung der Ansagerstimmen lässt sich Ende der 1920er Jahre belegen. Nach dem Aufkommen der Lichttonaufnahme organisierte die Associacija rabotnikov revolucionnogo kinematografa (Vereinigung der Mitarbeiter des Revolutionären Kinematographen, 1923-1934) eine Reihe von Vorträgen von erfahrenen Spezialisten über Rezitation und Deklamation. Die meisten dieser Spezialisten kombinierten Methoden, die in der Sprachpsychologie von Vsevoldskij-Gerngross, der Theorie der Bühnenaussprache von Sergej Fürst Volkonskij und der Synton-Musik von Avraamov benutzt wurden. Der Fokus des Stimmtrainings lag auf einer vokal-betonten Deklamation von Prosatexten und Versen. Unter vielen anderen Pionieren des elektroakustischen Stimmdesigns, wie Evgenij Šolpo und Arsenij Avraamov, versuchte Aleksandr Prjanišnikov Prinzipien der Deklamation an die technischen Erfordernisse einer elektrischen Wortübertragung anzupassen. Am 29. Dezember 1929 hielt er in der Vereinigung der Mitarbeiter des Revolutionären Kinematographen einen Vortrag mit dem Titel Über das Hintergrundgeräuschdesign und Sprechdesign im Tonfilm.39 Zu universellen Gütekriterien, an denen die Qualität des Stimmklangs bemessen wurde, zählte Prjanišnikov in Anlehnung an Volkonskij und Vsevolodskij-Gerngross zum einen die Kraft (sprich das Stimmvolumen, das es erlaubt, „mit der eigenen Stimme den ganzen Hörerraum abzufüllen“); zweitens die „Expressivität“ oder „Bewegung“ (podvižnost: sprich die Fähigkeit der Stimme, von einem Register zum anderen zu wechseln); drittens die „Reinheit“ (čistota: sprich die Freiheit der Stimme von Störgeräuschen); viertens den „Wortwohlklang“ (slovozvučnost’: sprich die Abstimmung zwischen der Kraft der Stimme und Artikulation).40 Ein zentrales Anliegen in Prjanišnikovs Vortrag war die Bewegung, bei der sich der Ton von der Bruststimme zur hohen Kopfstimme und in der umgekehrten Richtung entfaltet. Da der Ton hauptsächlich in drei verschiedenen Resonanzräumen gebildet wird, dem tieferen (Brust), dem mittleren (Kehlkopf) und dem höheren Resonanzraum (Oralhöhlung, Nase), liege ein hohes Niveau der Radiodeklamation ganz klar auf dem bewussten Wechsel 39

Prjanišnikov, A.V.: Rečevoe i šumovoe oformlenie tonfil'ma. In: Associacija rabotnikov revoljucionnogo kinematografa. Doklad 29 dekabrja 1929. Rossijskij Gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva 1929, Nr. 2494. 40 Ebd. „Нормальные требования, предъявляемые к голосу актера, это 1) чтобы голос заполнял все помещение, а не потухал в первых рядах; 2) чтобы голос был выразителен, т.е. подвижен, гибок, а не звучал однотонно; 3) чтобы голос был чист по звуку, без примесей сиплости, сдавленности, тусклости, гнусавости и т.п. и 4) чтобы звук голоса не перекрывало звуков членораздельной речи. Итак, – сила (полнозвучность), чистота (благозвучность), подвижность (многозвучность) и согласованность силы звучания с артикуляцией (словозвучность).“

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zwischen den Registern. Die Stimmen, die unterhalb des tieferen Stimmenregisters gebildet werden, seien durch ein Pfeifen charakterisiert und den Signalen von Tieren ähnlich. Im Zusammenhang mit persönlicher Kommunikation würden Sprecher gewöhnlich ein tieferes Register benutzen, wenn sie sich an in ihrer Nähe befindliche Personen wenden. Die Stimme, die in einem tieferen Register gebildet wird, strahle mehr Wärme, erotische Spannung, Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit aus. Sobald man jedoch in ein Mikrophon spricht, sei man nicht in der Lage, die Adressaten zu sehen. Ebenfalls sei man nicht imstande, die Distanz zwischen den verschiedenen materiellen Objekten, auf die in der Rede verwiesen wurde, zu messen. Ansager vor dem Mikrophon stoßen deshalb, so Prjanišnikov, auf Schwierigkeiten, wenn sie das Register ihrer Stimmen den Adressaten anpassen, die sie nicht sehen können. Die Kunst der Radiodeklamation, welche auf einem bewussten Wechselspiel zwischen Brust- und Kopfstimme beruht, erfordere vom Sprecher, besonderen Regeln des Stimmencoachings zu folgen. Wie man Emotionen wie Kummer, Zweifel, Schock oder Freude akustisch ausdrückt, will gelernt werden. Das Zustimmungssignal „JA“ würde beispielsweise eine geringere Glaubwürdigkeit haben, wenn es mit einer in einem höheren Resonanzraum gebildeten Stimme ausgesprochen werden würde: Es „würde einen Schatten des Zweifels und der Zweideutigkeit enthalten“, „akustisch würde JA beinahe klingen wie NEIN oder zumindest wie JA, ABER“. Und umgekehrt würde eine Antwort, die mithilfe einer im niedrigen Register gebildeten Stimme ausgesprochen wird, ein „positives Feedback und Vertrauen“ übermitteln. „Die wichtigste Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können“, so Prjanišnikov, „ist, dass ein tiefes und wahres Gefühl mithilfe des Brusttons, der im niedrigen Register gebildet wird, ausgedrückt wird; spricht man über kleine und weit entferntere Objekte, so benutzt man das hohe Register und umgekehrt: Man benutzt das niedere Register, um über große und nahe Objekte zu sprechen.“ Die Phantasie werde mit einer in den hohen Registerkammern gebildeten Stimme ausgedrückt und Realität mit einer Stimme, die innerhalb der tieferen Registerräume gebildet werde.41 Zusammenfassend lässt sich eine Kontinui41

Ebd. „Игра регистров, как показатель того или иного состояния, отношения, принадлежит к одному из необходимейших способов выразительности. На вопрос ‚Можно ли положиться на этого кандидата?‘ – ответ ‚Да, конечно‘, на верхних тонах явно будет носить характер сомнения, уклончивости, текстуальное ‚да‘ тонально осмыслится как ‚нет‘, или по меньшей мере – ‚да, но…‘. Ответ же на низком регистре звучит положительной оценкой, доверием. Сергей Волконский, этот ‚следопыт тона‘, предлагал полушутливо своим слушательницам не верить признаниям в любви на высоких нотах. Серьезный вывод отсюда – глубокое, искреннее чувство и говорит на глубоких, грудных тонах. О предмете малом, далеком говорят на верхах, о большом, близком – на низах,

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tätstendenz beim Übergang vom Vsevolodsky’s Konzept einer durch die Stimme geleisteten Arbeit zum Konzept einer expressiven Mikrophonstimme im Konzept von Prjanišnikov belegen. In den beiden Konzepten wird der Akzent auf eine tiefe basshaltige männliche Stimme gelegt, die, wie geglaubt, vom wahren Gefühl getragen wird.

4. Weibliche und männliche Ansager Die Fokussierung der fachlichen Diskussion auf die Vorteile des niedrigen Stimmregisters hat die entsprechenden technischen Lösungen vorprogrammiert. Auch außerhalb des euroamerikanischen Kulturkontextes, dort, wo die bürgerliche Kernfamilie (mit einer nicht erwerbstätigen Frau im Zentrum der Privatsphäre) niemals an Boden gewinnen konnte, waren weibliche Stimmen in der Nachrichtenübermittlung unterrepräsentiert. Eine Reihe engagierter Sprecherinnen arbeitete im Sowjetradio in den späten 1920er Jahren, aber nichts weist darauf hin, dass diese Sprecherinnen jemals mit dem regelmäßigen Vorlesen der Reden von Machtinhabern wie etwa Stalin oder Molotov betraut waren. Obwohl das russische Dokumentarfilmarchiv der 1930er Jahre genug Ton- und Tonfilmaufnahmen mit Stimmen von karrierebewussten und erfolgreichen Sowjetfrauen enthält, kann diesen Prominenzenstimmen kaum eine äquivalente Anzahl von Stimmen der weiblichen Nachrichtensprecher zur Seite gestellt werden. Um 1925 wurde der erste Chef der zentralen Nachrichtensendung der Sowjetunion Radiogazeta Rosta (Die mündliche Zeitung Rosta) Alexander Gurin in ultimativer Form aufgefordert, „alle weiblichen Stimmen aus der Sendung zu entfernen“. Eine Ausnahme konnte nur für eine Ansagerin gemacht werden, „deren Stimme der Stimme eines männlichen Ansagers ähnlich klingen könnte“.42 Die im Fach versierte Radiojournalistin Natalia Barabaš kommentierte die genderbestimmte Sprecherverteilung im ersten sowjetischen Radionachrichtendienst Radiogazeta folgendermaßen: Zu Beginn bestand die Gruppe der Ansager nur aus Männern [offensichtlich etwa bis 1925, D.Z.]. Es herrschte die Ansicht, dass eine weibliche Stimme für eine Radiosendung nicht geeignet wäre. Die Direktion von „Radiogazeta“ lehnte alle Versuche, eine weibliche Stimme fürs Programm aufzunehmen, ab. Einer der Redakteure schrieb an den Vorsitzenden, dass weibliche Stimmen nicht in das Pressematerial passen würden, weil sie weder gut mit den Stimmen der männlichen Sprecher noch mit dem Inhalt der Radionachrichten harmonierten. Eine Ausnahme machte man für фантазия и реальность также ищут выражения в регистровых контрастах: ‚Что ты мне сулишь миллионы, да миллионы… – (на верхах) ты дай мне сотню, да чтобы я видел ее в руках‘ – (на низах).“ 42 Šerel, A.: Radiožurnalistika. Moskau 2000, 11.

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Radiosprecherinnen, die ein angenehmes niedriges Timbre hatten. Nichtsdestotrotz war es „Radiogazeta ROSTA“, welche die erste Ansagerin beschäftigt hatte. Die Frau hieß Zinaida Remizova. Sie hatte das ‚Lied vom Sturmvogel‘ [ein romantischheroisches Gedicht von Maxim Gorky, D.Z.] vorgelesen, und dies klang sehr schön. Deshalb erhielt Remizova ein Angebot, sofort nach ihrer Verspräsentation Zeitungsmeldungen vorzulesen, und sie war keinesfalls schlechter als männliche Ansager.43

Alle weiteren Ausnahmen sprechen für sich. Evgenija Goldina schloss sich dem Ansager-Team des Sowjetischen Allunionsradios im Jahr 1927 an. Vier andere Frauen, Valentina Solovjeva, Anastasia Golovina, Natalia Tolstova und Olga Vysotskaja wurden 1929 als Ansagerinnen angestellt. Tolstova las gelegentlich aktuelle Meldungen vor, aber in ihrer Hauptbeschäftigung konzentrierte sie sich auf die Moderation von Musikprogrammen, Programmen für Kinder sowie auf das Ansagen der Livesendungen von KlassikKonzerten. Vysockaja begann 1929 mit dem Ansagen des Programms der Morgengymnastik, aber sie arbeitete sich hoch und wurde ab 1932 gelegentlich für das Ansagen politischer Nachrichten eingesetzt. Die Aufteilung der Nachrichten in soft news und hard news fiel im sowjetischen Kontext scheinbar weniger streng als im Westen aus. Dementsprechend waren die öffentlichen und institutionellen Vorbehalte gegen die Beauftragung von Frauen mit dem Vorlesen von politischen Nachrichten weniger stark als im Westen ausgeprägt. Der Grund dafür lag sicherlich in der geringen Ausdifferenzierung von privaten und öffentlichen Sphären im sowjetischen Kulturkontext. Schließlich mussten sowjetische Frauen nach Stalins Staatskonzept aufgrund des Mangels an billigen Arbeitskräften nicht nur in Bereichen der Kinder- und Krankenpflege, sondern auch in Fabriken, auf Bauernhöfen, in der Medizin und Bildung gegen geringe Bezahlung arbeiten. Folglich widmete das sowjetische Radio weniger Zeit Extraprogrammen für Hausfrauen, als dies in Deutschland und Großbritannien üblich war. Erst um 1938 wurde in der UdSSR eine Radiosendung für Hausfrauen (peredača dlja domochozjaek) eingerichtet, die täglich um 11 Uhr morgens übertragen wurde. Darüber hinaus wurden am Vorabend des internationalen 43

Barabaš N.: Kak zavoevat’ doverie auditorii. Moskau 2011, 22ff. http://zhurnal.lib.ru/b/barabash_n/ipk-titlenew.shtml (12.2.2016). „Первое время группа чтецов состояла только из мужчин. Существовала даже версия, что женский голос не подходит для радиопередачи. Попытки использовать к передаче женский голос отклoнялись руководством радиогазеты. Один из редакторов писал руководителю дикторской группы, что женские голоса не подходят для газетного материала, так как не гармонируют ни с голосами чтецов, ни с содержанием газеты. В качестве исключения допускалось лишь появление в эфире женщинчтиц, обладающих приятным низким тембром. Тем не менее, первая женщинадиктор появилась именно в ‚Радиогазете РОСТА‘ – ею стала Зинаида Ремизова. Она читала ‚Песню о Буревестнике‘, и это звучало очень красиво, поэтому сразу после выступления ей предложили почитать газетный материал, и у нее это получилось ничуть не хуже, чем у дикторов-мужчин.“

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Frauentages (8. März) gesellschaftspolitische Sendungen für Frauen wie Das Gespräch zur Lage erwerbstätiger Frauen in den kapitalistischen Ländern (Beseda: položenie trudjaščichsja ženščin v kapitalističeskich stranach, gesendet am 05. März 1938 um 17.30 Uhr) oder Das Gespräch: Frauen im Kolchos sind eine große Kraft (Beseda: ženščiny v kolchoze – bol’šaja sila, gesendet am 05. März 1938 um 20.00 Uhr) oder Das Gespräch: Frauen und Religion (Beseda: ženščiny i religija, gesendet am 06. März 1939 um 16.45 Uhr) übertragen. Obwohl die Zusammenarbeit von männlichen und weiblichen Ansagern, die sich beim Vorlesen der täglichen Nachrichten am Mikrophon abwechselten, in den 1930er Jahren immer wieder praktiziert wurde, hat man für das Vorlesen von wichtigen Beschlüssen die männlichen Ansager bevorzugt. Zu Beginn (bis 1937) waren beispielsweise weibliche Bedienstete der Telefonzentrale im Einsatz, bei denen man sich per Anruf nach der aktuellen Uhrzeit erkundigen konnte. Junge Mädchen gaben mit piepsenden Stimmen die ‚genaue‘ Uhrzeit durch, nachdem sie einen Blick auf die eigene Armbanduhr geworfen hatten. Als 1937 ein automatischer Telefonrückmeldungsservice für die genaue Zeitansage eingerichtet wurde, waren jedoch die männlichen Stimmen von Emmanuel Tobiaš und Jurij Levitan die ersten, die aufgenommen wurden. Millionen Moskauer „riefen Tobiaš an“, bevor sie ihre Uhren aufzogen. Später wurde jedoch die sozial relevante Aufgabe erneut von erfahrenen Ansagerinnen übernommen. Bis 1970 sagte hauptsächlich Olga Vysotskaja den Moskauern die exakte Uhrzeit an.

5. Stimmen der Herrscher Von Anbeginn wurden Radio und Tonfilm als die am besten geeigneten Medien in Betracht gezogen, um ein offenes politisches Forum einzurichten. Wissenschaftler und Journalisten, die über die politischen Perspektiven der elektronischen Stimmübertragung schrieben, hegten keinerlei Zweifel daran, dass die sowjetischen Parteifunktionäre das Radio und den Tonfilm einsetzen würden, um nach dem Muster von amerikanischen Politikern frei mit den Massen zu kommunizieren. „Wir können mit vollster Zuversichtlichkeit behaupten, dass der mit dem Aufkommen des Tonfilms möglich gewordene Auftritt unserer politischer Führer und großer Gelehrten in allen gottvergessenen Orten der Sowjetunion das gesellschaftliche und politische Leben zum Erwachen bringen wird“, schrieb der sowjetische Filmwissenschaftler Nikolaj Anoščenko in seiner pionierhaften vergleichenden Studie Der Tonfilm bei uns und im Ausland (1930). Und weiter: Der Tonfilm, der im Vergleich zum Radio einen weiteren beeindruckenden Effekt (nämlich die Verbindung des Bildes und des Tons) gewährt, hat gegenüber dem Funk

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einen großen Vorteil: Er gibt die Möglichkeit, ein und derselben Person in verschiedenen Orten der Sowjetunion zuzuhören. Dies hat man im Ausland verstanden. Dort (z.B. in Amerika) sehen wir, wie der Tonfilm während der Präsidentenwahl zum Einsatz kam. Hoover und Smith wandten sich [über den Tonfilm] an ihre Wähler mit flammenden Ansprachen.44

Aber der Plan, Veranstaltungen mit den Führungskräften des Sowjetstaates in Echtzeit zu senden, wurde nur teilweise ausgeführt. Die erste Tonbildaufnahme des sprechenden Stalin (am 14. Mai 1935) fand lange nach dem Aufkommen des Radios (1924) und der Lichttonaufnahme (1928) statt. Davor waren die Tonaufnahmen von Stalin so gut wie verboten. Stalin wurde im Mai 1935 auf Anordnung des Vorsitzenden des Allunionskombinats der Film- und Fotoindustrie Boris Šumjatskij aufgenommen und war Augenzeugenberichten zufolge erschrocken und aus der Fassung gebracht, als er entdeckte, dass seine Stimme während seiner Rede in der Parteivollversammlung aufgenommen worden war. Im Jahr 1938 ist der Initiator der Aufnahme Šumjatskij verhaftet und bald darauf erschossen worden. Nach Kozlovs Bemerkung fühlte sich Stalin wegen seines starken georgischen Akzents unbehaglich. Darüber hinaus stellte die zeitliche wie räumliche Trennung der Machtstimme von der Machtperson das Charisma des „Roten Zaren“ in Zweifel.45 Bei der Ausstrahlung der wichtigsten Anordnungen und Richtlinien der Sowjetregierung wurde den Stimmen männlicher Ansager eine deutliche 44

Anoščenko, N.: Zvučaščaja fil’ma v SSSR i za granicej. Moskau 1930, 102. „[…] мы можем смело утверждать, что выступление при помощи тонфильмы наших политических вождей и крупных ученых в самых глухих местах Союза безусловно вызовет оживление в общественной и политической жизни страны [...] Звуковая фильма, дающая более впечатляющий эффект (образ и звук), чем радио, имеет перед последним еще одно колоссальное преимущество – это возможностъ равномерного слушания одного и того же лица в различных местах нашего Союза. Это поняли за границей, где мы уже видим (в Америке) использование звуковой фильмы при выборах президента, когда и Гувер и Смит с экранов произносили пламенные призывы к своим избирателям.“ 45 Kozlov, L.: Stalin: nekotorye uroki režissury (Po dokumentam 1935-go i drugich godov). In: Kinovedčeskie zapiski 27 (1995), 76-92, hier: 77. „[…] Am 14 Mai 1935 wusste Stalin nicht, dass Kameraleute, die auf ihn ihre Kameras richteten, nicht nur das Bild, sondern auch den Ton aufnehmen. Die synchrone Tonaufnahme wurde entsprechend einer mündlichen Anweisung von Boris Šumiackij, der das sowjetische Kino leitete, gestartet. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Aufnahme von Stalins Reden faktisch verboten. Stalin konnte nicht zulassen, dass sich seine Stimme von ihm trennt und irgendwo in der Ferne außerhalb von Kremlzimmern und offiziellen Sitzungsräumen erklingt. Er konnte nicht verkennen, dass er ein schlechter öffentlicher Redner (im Vergleich zu Trockij, Lunačarskij, Zinovjev und Kirov und nicht nur mit diesen) ist. Natürlich litt er wegen der Misere der eigenen Stimme, die dumpf, taub monoton war, er litt wegen seines unbesiegbaren georgischen Akzents und wegen des fehlenden rednerischen Temperaments.“

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Priorität eingeräumt. Sowjetische Ansager repräsentierten Stimmen der Macht, wobei die eigenen Stimmen der Mächtigen im sowjetischen Funk im Vergleich zu amerikanischen, britischen und deutschen Kontexten eher unterrepräsentiert waren. Im Gegensatz zu Großbritannien, den USA und Deutschland, wo man Autoritäten vor dem Mikrophon als obligatorischen Bestandteil der politischen Selbstdarstellung betrachtete, hatten sowjetische Machteliten eine problematische Beziehung zu öffentlichen Ansprachen. Trotz einer relativ frühen Entwicklung der Reproduktionstechnik in Sowjetrussland sind nur wenige Reden von Lenin und nur eine Rede von Trockij überliefert worden. Etwas häufiger (jedoch lange nicht so oft wie in Deutschland und den USA) wurden Reden von Randfiguren des sowjetischen Politbüros (Kalinin, Koganovič, Vorošilov) aufgezeichnet. Die publizierte Gesamtausgabe der Werke von Stalin verzeichnet Dutzende Reden, die Stalin zwischen 1929 und 1953 vorgetragen haben soll. Jedoch zeigen die Materialien russischer Audioarchive, dass nur wenige von diesen Reden aufgenommen worden sind. Summiert man die Daten, die im Archiv für Kino- und Fotodokumente sowie im Archiv für Phonodokumente gespeichert sind, so kann man von der Gesamtzahl von 13 aufgenommenen Reden und Redefragmenten ausgehen.46 Vor dem Hintergrund der defizitären Medialisierung der politischen Stimmenkultur im Russland der 1930er Jahre erscheint das Übergewicht von lispelnden, zischelnden, stotternden und ganz schlicht rhetorisch ungewandten Politikern im Zeitraum zwischen 1930 und 1999 (angefangen bei Stalin, Chruščev, Malinkov, Brežnev, Podgornyj, Černenko bis hin zu Gorbačev, Černomydrin und El’cyn) durchaus symptomatisch.

46

http://rgakfd.ru/catalog/films/ Zu ihnen gehören: 1) Stalins Rede über die StachanowBewegung (1932, Chiffre unbekannt, vgl. www.ivstalin.su (12.02.2016); 2) Stalins Rede anlässlich der Eröffnung der Moskauer U-Bahn (15.05.1935, – RGAKFD, Chiffre 5640; 3) Stalins Rede auf dem Kongress von Stachanowcy (17.11.1935, – RGAKFD, Chiffre 2845); 4) Stalins Rede über das Projekt der sowjetischen Verfassung (25.11.1936, RGAKFD, Chiffre 2841); 5) Stalins Rede vor den Wählern im Bol’šojTheater (11.12.1937, – RGAKFD, Chiffre 2839); 6) Stalins Rede im Radio anlässlich des Beginns des Krieges (03.07.1941, – RGAKFD, Chiffre 5532); 7) Stalins Rede anlässlich des 24. Jahrestags der Revolution (06.11.1941, RGAKFD, Chiffre 5672); 8) Stalins Rede anlässlich des 25. Jahrestags der Revolution (07.11.1942, – RGAKFD, Chiffre 6750); 9) Stalins Rede anlässlich des 27. Jahrestags der Revolution (November 1944, Chiffre unbekannt, vgl. www.ivstalin.su (12.02.2016); 10) Stalins Rede zum Sieg über Deutschland (09.05.1945, Chiffre unbekannt, vgl. www.ivstalin.su (12.02.2016); 11) Stalins Rede anlässlich der Kapitulation Japans (02.09.1945, Chiffre unbekannt, vgl. www.ivstalin.su (12.02.2016); 12) Stalins Rede in der Versammlung der Wähler im Bolschoj Theater (09.02.1946, RGAKFD, Chiffre 5587); 13) Stalins Rede im 19. Parteitag der Kommunistischen Partei der Bolschewiki (14.10.1942, Chiffre unbekannt; vgl. www.ivstalin.su (12.02.2016).

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6. Stimmen der Verräter Angesichts der unterentwickelten Kultur der medialisierten Herrscherstimmen erscheint der Einsatz der Tonaufnahme für Zwecke der Denunzierung und Anpragerung der Außenseiter in der Sowjetunion geradezu symptomatisch. In den undurchsichtigen Metropolen, die einen zunehmenden Zufluss der ländlichen Bevölkerung erlebten, konnte der Außenseiter von nun an nur anhand der unveränderten akustischen Charakteristiken seines stimmlichen Ausdrucks identifiziert werden. Verstanden als etwas Körpereigenes, verwandelte sich die aufgenommene Stimme in einen universalen (das heißt, nicht mehr anwesenheitsgebundenen) Generator der sozialen Ausgrenzung. Auf die Stimme wurde all das zugerechnet, was die Gesellschaft vom Individuum nicht wusste, aber wissen wollte. Durch das Wechselspiel von Tonaufnehmen und Tonlöschen wurde den staatlichen Kontrollinstanzen ein Zugriff auf die Person ermöglicht. Ihre erste große Bewährungsprobe haben die von Aleksandr Šorin entwickelten Tonaufnahmekameras der Marke Mikst während des fingierten Prompartija-Prozesses (Prozess gegen die Industriepartei) im November 1930 bestanden. Die acht Verdächtigen, die als Mitglieder einer angeblich aktiven Untergrundorganisation wegen des Versuchs eines Staatsstreichs und der Vorbereitung einer ausländischen Intervention in die Sowjetunion angeklagt waren, gestanden vor der Tonkamera ihre Schuld. Auf der Tonaufnahme von 25.11.1930 kontrastiert die laute donnernde Stimme des Staatsanwalts Andrej Vyšinskij mit dumpf, hohl und quasi ‚verstopft‘ klingenden Stimmen der acht Verschwörer.47 Der Ingenieur Professor Leonid Ramzin, der im Prozess nicht nur sich selbst, sondern auch die weiteren Unschuldigen in Verruf gebracht hatte, spricht ins Mikrophon mit einer sinkenden Intonation in der Stimme, wobei der Staatsanwalt seine Stimme rhythmisch anhebt. Würde man das Konzert der Stimmen in diesem ersten aufgenommenen Schauprozess als melodische Dreiklangbrechung reproduzieren, so würden die Stimmen der Angeklagten dem basshaltigen Grundton entsprechen, wobei die Stimme von Vyšinskij zur Subdominante (4 Ton) und Dominante (5 Ton) moduliert wird.

7. Stimmen der herrschaftlichen Boten In den 1930er Jahren setzte sich in der Sowjetunion, ähnlich wie in Deutschland, eine Tendenz durch, der entsprechend das spontane Sprechen für die Radioöffentlichkeit zunehmend untersagt wurde. Die Notwendigkeit der Sprecherschulung wurde als Vorwand für die Verbannung der unsicheren 47

Process po delu prompartii. Archiv kinofotodokumentov, Nr. 3952.

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Mikrofonstimmen aus dem Rundfunk genutzt. Von nun an sollte die Spontaneität von oralen Ausdrucksformen durch die vermeintliche Ausgrenzung des geschriebenen Textes simuliert werden, wobei der jeweilige für die Öffentlichkeit unsichtbare Sprecher seinen Text nach wie vor (wie bei den Salonrezitationen des 19. Jahrhunderts) vom geschriebenen Text abgelesen hatte. Der improvisierte mündliche Vortrag konnte in der offiziellen Audiokultur kaum geduldet werden. Wie keine andere europäische Radiokultur der 1930er Jahre, hat die sowjetische Radiokultur auf Stimmtraining und Stimmschulung der Sprecher gesetzt. Vor und während des Zweiten Weltkriegs assoziierte man die geschulte Stimme des Radiosprechers Jurij Levitan vom sowjetischen Informationsbüro mit der Stimme der zentralen Macht, der Stimme von Stalin.48 Es sollte nicht überraschen, dass solch eine Verbindung von Stalin höchstpersönlich geplant und gestützt wurde. Der Aufstieg des unauffälligen Radiosprechers jüdischer Herkunft begann Ende Januar 1934. Der 20-jährige Levitan war um diese Zeit noch zu jung für den Sprecherberuf, in dem sich damals nur erfahrene Bühnenmeister profilierten. Seinem eigenen Bericht nach wurde er nach einem Telefonanruf „von oben“ „bleich vor Angst“ ins Radioaufnahmestudio geschleppt. Im Studio wurde Levitan ein verschlossenes Dokument übergeben, das laut vorgelesen werden sollte. Es handelte sich dabei um Stalins Rede zum 17. Parteikongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Wenige Stunden zuvor hatte Stalin, der vorzugsweise in der Nacht arbeitete, sein Tischradio eingeschaltet. An der Ausdruckskraft von Levitans Stimme hatte das Staatsoberhaupt großen Gefallen gefunden. Aus psychoakustischer Perspektive lag das Geheimnis hinter der Wirkung von Levitans Stimme im hellen Bereich der Obertöne. Während die höchsten Obertöne seiner Stimme im Sopranbereich lagen, waren die niedrigen Frequenzen von tiefen Basstönen dominiert. Dabei enthüllte das Frequenzspektrum von Levitans Stimme eine gewisse Ähnlichkeit zum Frequenzspektrum von tiefen metallischen Tönen. Die Stimme des ersten Radiosprechers des Landes war die Stimme des Metalls, des gegossenen Eisens, des Stahls. Sie spielte auf das Material an, welches das siegreiche Zeitalter der sowjetischen Industrialisierung symbolisierte. Noch während des Krieges hat sich um 1943 eine weitere Analogie zwischen Levitans Radiostimme und einer Kanonensalve im Ritual der Siegerfeuerwerke etabliert. Levitans Stimme las den entsprechenden Befehl der Regierung vor und kündigte danach den Beginn des Siegerfeuerwerks an. Nachdem der Sprecher den letzten Kriegsbericht vom sowjetischen Informationsbüro über die deutsche Kapitulation 1945 vorgelesen hatte, wurden 1.000 Kanonen eingesetzt, um in jeder großen Stadt in der Sowjetunion 30 Salutschüsse abzugeben. 48

Vgl. die neueste Biographie zu Iurij Levitan: Taranova, Ė.: Levitan. Golos Stalina. Moskau 2010.

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Die Rezeption der Levitan-Stimme in der Sowjetunion und in Deutschland zeigt deutlich, dass die Schlagkraft der beiden Hörgemeinschaften während des Krieges in der Umsetzung auf die Stärke der Nachrichtensprecherstimmen symbolisch demonstriert wurde. Bezeichnenderweise hat der deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels eine Belohnung von 250.000 Reichsmark für einen deutschen Helden ausgesetzt, der Levitan gefangen nehmen und lebend nach Berlin bringen würde. Nach Goebbels Plan sollte der eloquente Jude den deutschen ultimativen Sieg zu Weihnachten 1941 in Berlin laut verkünden. Als solch ein Sieg unerreichbar schien, schwärmten SSSpezialkommandos aus, um den Radiosprecher zu liquidieren. Die sowjetische Radioagentur wurde insbesondere zu den Zeitpunkten bombardiert, als Levitan die Nachrichtensendungen im Radio vorlesen sollte. In einer geheimen Aktion musste der Besitzer der Stimme, die das ganze Land kannte, nach Ekaterinburg im Ural evakuiert werden. So konnte die bekannte Radiostimme vor dem Verstummen bewahrt werden.

8. Kanonen-Stimmen und der Bass-Fetischismus der 1930er Jahre Nach dem Aufkommen von Radio und Tonfilm kam die Signifikanz der wichtigsten politischen Ereignisse in der symbolischen Umsetzung auf die tiefe basshaltige Baritonstimme zum Tragen. Es ist symptomatisch, dass die Stimmen von Radiosprechern wie Harry Giese von der Wochenschau der deutschen Nazizeit und Leslie Mitchell von der britischen BBC in ihren jeweiligen Staaten während der 1930er Jahre alle zu akustischen Symbolen der kämpfenden Nation avancierten. Das Konzept einer expressiven Stimme wurde ja schon vor dem Aufkommen des Radios am Konzept der Arbeit ausgerichtet. Mithilfe der metallisch klingenden Männerstimmen wurden die Grenzen primordialer Gemeinschaftlichkeit definiert und symbolisch angezeigt. Eine solche Primordialisierung der Gemeinschaftsgrenzen implizierte die Reduktion von Makrosystemen auf Mikroelemente. Staatliche Institutionen wurden dabei als quasi-familiäre Kampfrudel inszeniert. Eine der primordialen Gemeinschaft wahlverwandte „dokumentarische“ Audiokunst setzte ihren Hauptakzent auf das scheinbar Vorsoziale: auf aggressive im niedrigen Brustregister gebildete Töne, auf unkomplizierte Sätze und die naturnahe Akustik des Kampfrauschs. Eine solche Kunst verachtete den barocken Überschwang und überladenen Symbolismus bürgerlicher Sprachetikette, indem sie metallische Baritonstimmen zum Kommentieren der Wirklichkeit einsetzte. Wie ist es allerdings erklärbar, dass die Synthese von Tier-MonsterStimmen in fiktionalen Filmprojekten einerseits und die Auswahl von Nachrichtensprecherstimmen für dokumentarische Filmprojekte andererseits ähn-

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lichen Selektionskriterien unterlegen waren? Um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu lenken und Konkurrenz mit Schriftmedien zu gewinnen, mussten das Radio und der Tonfilm akustische Horror-Marker setzen. Diese Horror-Marker wurden anfänglich im fiktionalen Genre entworfen. Während die Musik von Max Steiner in King Kong (1932) zum Abbau von Realitätsbezügen beitrug, verstärkten Explosionsgeräusche und das Gebrüll des Riesenaffen den Realitätsbezug des Films. Ein basshaltiges Geräusch der explodierenden Gasgranate begleitet in King Kong die Szene, in der es den Zuwanderern gelingt, das schreiende Untier zu betäuben, um es danach nach Hollywood zu bringen. Ähnliche Effekte kommen in nicht-fiktionalen Tonfilmdesigns zum Tragen. Siegfried Kracauer machte die Beobachtung, dass der Übergang von der Musikbegleitung zum aufgezeichneten Ton sich im dokumentarischen Film später als im fiktionalen Film vollzog. Dabei sollten die Wochenschauen „das Volk nicht informieren, sondern vor allem beeindrucken“. Zweckentsprechend hat man Schreie von an der Front sterbenden Soldaten im deutschen Rundfunk übertragen.49 Es ist symptomatisch, dass die erfolgreichsten dokumentarischen Propaganda-Filme der Nazi-Zeit, wie etwa Der Ewige Jude (1940) von Fritz Hippler, die Soundeffekte einsetzten, die kurz davor für die fiktionalen Tier-Monster-Filme entwickelt worden waren. Die Szenen des jüdischen Schächtens, die Hippler mit Naheinstellungen gedreht hat, haben aufgrund ihres Naturalismus Empörung in der damaligen deutschen Gesellschaft ausgelöst. Den Kern dieses Naturalismus bildet jedoch nicht das Bild, sondern der aufgezeichnete Ton, der anstatt der Musikbegleitung zur Geltung kommt. Das Stöhnen und Schnauben einer getöteten Kuh spielte auf die Gemeinschaft an, der angeblich ein grausamer Tod unter jüdischem Messer drohte. In der Postproduktion war der Film, der anfänglich nur mit Musik gedreht worden war, mit Geräuschuntermalungen und dem Sprachkommentar von Harry Giese (dem Hauptsprecher der deutschen Wochenschau) versehen worden. Die nach der moralischen Entrüstung klingende E-Stimme verstärkte den Realitätseindruck der Szenen. In den deutschen, britischen und sowjetischen Filmchroniken nach 1936 etablierte sich das tieffrequente Motorgeräusch zum beliebtesten Soundeffekt, mit dem das Voice-Over des Moderators untermalt wurde. Einen 49

Kracauer, S.: From Caligari to Hitler. A psychological history of the German film. Princeton 1966 [1947], 278-280, 306, 308. „to impress people rather than to instruct them“. Vgl. auch weiter: „The Nazis, while suppressing death in their films, once allowed a radio broadcast from the front to include the cries of a dying soldier. […] The Nazis knew that allusions may reach deeper than assertions and that the contrapuntal relation of image to verbal statement is likely to increase the weight of the image. […] The whole commentary of a propaganda film is a succession of such explicit verbal statements, each separated from the other by an interval during which visuals appear or continue to appear.“

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typischen Untermalungseffekt demonstriert z.B. die berühmte Wochenschau Nr. 451 (1939), die anlässlich des 50. Geburtstags Hitlers gedreht wurde. 40 Millionen Deutsche sahen im Kino diesen aufwendigen Propagandafilm, für den insgesamt 15 Kilometer Film verbraucht wurden. Entsprechend der Anordnung von Hitler durften dessen Reden in der Wochenschau nicht im Originalton wiedergegeben werden. Auch Stimmen anderer Prominenzen aus der nationalsozialistischen Partei wurden nicht im Originalton gesendet. Die Reden der großen Nazis wurden durch den Kommentar des Sprechers Harry Giese zusammengefasst. Richard Wagners Musik, die Gieses Stimme begleitet, ist mit basshaltigen Flugzeugmotorgeräuschen untermalt worden. Auch im Kontext des British Documentary Movement setzten sich vor dem Zweiten Weltkrieg Tondesigns durch, die ganz ohne Musik auskamen und einen bisher undenkbaren Realitätseindruck allein mithilfe von industriellen Geräuschkulissen und metallischen Sprecherstimmen erzielten. Dokumentarfilme von politisch links orientierten Drehmeistern, wie Paul Rotha, John Grierson, Alberto Cavalcanti und Humphrey Jennings, die enge Beziehungen zu Dziga Vertov und den sowjetischen Dokumentaristen pflegten, liefern Belege für solche musikfreien Tondesigns. Im Film Wenn der Krieg gekommen wäre (If War Should Come, 1939), den 2,3 Millionen Briten gesehen hatten, wurde die Atmosphäre des Krieges akustisch suggeriert. Man sieht Kriegshandlungen nicht, jedoch hört man Sirenen und Explosionsgeräusche, deren Aufnahmen das britische Ministerium für Information den Tondesignern zur Verfügung gestellt hatte. Üblicherweise wurden Kriegsgeräusche mit einer spannungsvollen metallischen Baritonstimme von Jack Livesey montiert. Nicht alle Umgebungssounds, die mit Stimmen der Wochenschausprecher montiert worden waren und für die Ästhetik des ‚Dokumentarismus‘ in den 1930er Jahren eine herausragende Rolle spielten, konnten live mit Tonfilmkameras der damaligen Zeit aufgenommen werden. Beispielsweise war der Schalldruck von Flugzeugmotoren für die Mikrophone der 1930er Jahre viel zu hoch. „Wenn Sie das Motorgeräusch eines Flugzeugs im Studio aufnehmen, wird das Geräusch wohl so stark sein, dass das Mikrophon platzt – es wird kaputtgehen“ – erklärte der Tonmeister V. Gladkov der Vereinigung der Mitarbeiter des Revolutionären Kinematographen.50 Demzufolge wurden Flugzeugmotorengeräusche mithilfe elektronischer Tischventilatoren nachgeahmt. In anderen Fällen lieh man Naturtonaufnahmen, die zuvor mit großem technischem Aufwand erzeugt worden waren, aus einer Soundeffektbibliothek aus. Da die Tonfilmkameras viel zu schwer für den Feldeinsatz waren, wurden die Kriegschroniken häufig erst als Stummfilme gedreht und nachträglich mit Geräuschkulissen und Stimmen unterlegt. 50

ARRK 1929: Archivdokument 247. Liste 5. „Если Вы будете снимать в студии мотор аэроплана, то он будет настолько силен, что микрофон лопнет, испортится, – пояснял слушателям Ассоциации революционного кинематографа.“

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Nach und nach wanderten Soundeffekte, die anfangs für das fiktionale Genre bestimmt waren, ins Genre der Wochenschau ab. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion wurde damit immer flüssiger. Während die vorprogrammierten Soundeffekte unverändert blieben, konnten die optisch wahrnehmbaren Bilder beim Wechsel vom Propagandafilm zur Kriegschronik ausgewechselt werden. Es waren in den Kriegschroniken nicht mehr Schauspieler, sondern reale Menschen, die zum Akkompagnement von Explosionen und dröhnenden Sirenen eine Rettung in den Schutzkellern suchten. Das öffentliche Interesse zum aufmerksamkeitslenkenden Potential der Naturgeräusche, die mit der Stimme montiert wurden, hat die Entstehung des Genres der Kriegschronik vorweggenommen. Roman Karmen, einer der prominentesten sowjetischen Dokumentalisten der Kriegszeit, benutzte nach Aussagen seiner Schüler das Geräuscharchiv kaum mehr: „Er sei in den Naturton verliebt gewesen.“ Aber für die Befriedigung seines Interesses reichte die Qualität der sowjetischen Tonaufnahmeapparatur nicht aus, daher setzte Karmen über seine Beziehungen in der Partei „[…] hartnäckig die Lieferung […] von zwei Tonaufnahmeapparaten aus der Schweiz“ durch. Symptomatisch ist Kotovs Bemerkung, dass sein Lehrer Karmen das Bild dem Ton und nicht umgekehrt den Ton dem Bild anpasste. „Er schnitt eine bestimmte Anzahl von Tonbildern aus oder zog, umgekehrt, eine oder andere Episode in die Länge hinaus um eine bestimmte Melodie, ein Motiv oder eine Geräuschkulisse […] festhalten zu können.“51 Als genreübergreifendes Organisationsprinzip, welches die filmische Realität der Vorkriegszeit prägte, etablierte sich der Bassfetischismus, dem die außerfilmische Realität spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs entgegenkam. Ab dieser Zeit starben jedoch wirkliche (nicht fiktionale) Helden in den Bildern unter Begleitung donnernder Flugzeugmotoren. Basierend auf dieser Interpretation rüttelte der Tonfilm die archaischen Soundlandschaften aus ihrem Schlummer und öffnete damit die Büchse der Pandora. Erst in den 60er Jahren, wie die Analysen Adornos zeigen, akkumulierte die europäische Gesellschaft genug Erfahrung, um einen gewissen Abstand zum Bassfetischismus mit seiner primordialen Logik zu gewinnen. Das Phänomen selbst wurde gezähmt, ästhetisch erfasst und sozial eingeschränkt. Die Ästhetik der akustischen Gewalt verlagerte sich in den Bereich der jugendlichen Musikkultur, wie Hard Rock und Heavy Metal, schien jedoch dadurch noch lange nicht überwunden zu sein. 51

Kotov, V.: Vsej zvukovoj palitroj mira. In: Vinogradova, A. (Hrsg.): Roman Karmėn v vospominanijach sovremennikov. Moskau 1983, 270-276. „почти не пользовался шумотекой, т.е. готовым, постоянно используемым в кино набором магнитных записей. Он поистине был влюблен в документальный звук [и] подчинял изображение звуку. Чтобы сохранить целиком какую-то мелодию, тему, шумо-вую гамму, он уменьшал количество кадров, подрезал или, наоборот, растягивал эпизод.“

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Der sanfte Zwang der Persuasion Zum CBS War Bond Day, 1943 Zur Kunst der Überzeugung gehören nicht nur argumentative und stilistische Mittel der Rede. Entscheidend ist auch, wie die Rede vorgetragen wird. Seit der antiken Rhetorik hat deshalb auch die Stimme einen wichtigen Platz in der Kunst der Beredsamkeit. Als Teil der pronunciatio, im letzten Produktionsstadium der Rede, helfen Stimmtechniken neben Mimik und Gestik, die Vortragssituation zu meistern, sind also Teil der Performanz einer Rede. Nach Quintilian lässt sich durch körperliche Merkmale wie Stimme und Lungenkraft unterscheiden, wer sich überhaupt zur Ausbildung als Redner eignet und wer nicht. Er unterscheidet also die Stimme vor jeder rhetorischen Übung als individuelles körperliches Merkmal von der geschulten Stimme und trennt Stimmen, die überhaupt trainierbar sind, von Stimmen, an denen alle Mühen verloren sind.1 Ganz im Gegensatz zu dieser Auffassung ist die Stimme nach Thomas Macho grundsätzlich ein Produkt von Körpertechniken. Auch wenn sie körperliche Voraussetzung der Zunge, des Kehlkopfs und Rachenraums benutzt, ist ihr Gebrauch von Schulung und rhetorischer Übung geprägt. Die Stimme bekommt so erst allmählich einen eigenen, unverwechselbaren Körper, der durch Volumen, Dynamik, Rhythmus und Klangfarbe mit dem Körper des Sprechenden assoziiert ist. Nur durch Techniken der Ver-Körperung entsteht eine individualisierte, wiedererkennbare und nachahmbare Stimme; und nur „so kann die Stimme zum Medium der Befehle, Belehrungen und Überzeugungen geformt werden“.2 Nicht nur Sprechende verkörpern Stimmen, auch Hörende, indem sie etwa den Stimmen von Autoritäten als ‚inneren Stimmen‘ in ihrem Gedächtnis einen Körper geben. Dass eine Stimme erst durch Kulturtechniken eine Verkörperung erfährt, ist in der Mediengeschichte der Stimme entscheidend, denn jede neue technische Konstellation bringt neue Formen einer solchen technischen Körperlichkeit hervor bzw. fordert neue heraus. Das trifft besonders auf das Radio zu. An ein unüberschaubares Publikum gerichtet, wird die Radiostimme in der Frühzeit des Mediums als körper- und distanzlos zugleich beschrieben, 1

Quintilian: Institutionis Oratoriae. Libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. u. übersetzt von H. Rahn. Zweiter Teil. Buch VII-XII. Darmstadt 1975, Buch XI, 618. 2 Macho, Th.: Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme. In: Kolesch, D./Krämer, S. (Hrsg.): Stimme. Frankfurt a.M. 2006, 130-146, hier: 132.

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lebensfern und unerträglich nah. Neue Maßnahmen der Verkörperung bringen die Stimme hervor: Es gilt, richtige Sprecher auszuwählen und zu schulen, aber auch die ‚Liveness‘ der Radiosendungen zu betonen und Radiostimmen so von ‚toten‘, gespeicherten Stimmen zu unterscheiden.3 Aber nicht nur neue rhetorische Strategien, sondern auch die Technik der Radiophonie und die medialen Bedingungen, in die sie eingebunden ist, prägen und formieren die Radiostimme. Sie ist zwar auch menschliche, aber ebenso technische Stimme, besteht aus hörbaren Lauten, aber ebenso aus nicht hörbaren Radiowellen, aus virtuellen oder imaginären ‚inneren Stimmen‘ wie auch ‚Bildern‘ der Hörenden und deren kulturellen und sozialen Relationen. Die Radiostimme ist eingewoben in ein soziotechnisches Geflecht und entsteht erst in diesem. Sie stellt neue Herausforderungen an das Wissensfeld der Kommunikations- und Wirkungsforschung, die zu dieser Zeit eine nicht unproblematische Nachfolge der Rhetorik antritt.4 In diesem Umfeld der frühen Radioforschung steht das Beispiel, an das sich die Frage nach dem Ethos und Pathos der Medien richtet. Schon früh beschäftigt man sich hier mit der Radiostimme und ihrer Wirkung auf den Hörer. Die erste empirische Radiostudie, die Paul Lazarsfeld 1932 in Wien durchführt, fragt die Hörer, wie angenehm sie eine Radiostimme empfinden. Die Befragten sollen auch Vermutungen über die Größe und Dicke der im Radio Sprechenden anstellen und mutmaßen, ob sie oder er gewohnt ist, Befehle zu erteilen. Der historische Kontext dieses Forschungsfeldes ist deutlich von der politischen Brisanz der Lautsprecher- und Radio-Stimme kurz vor und während des Nationalsozialismus geprägt sowie – im weiteren Verlauf – von der Radiopropaganda vor und während des Zweiten Weltkriegs.5 All diese Einflüsse, die unterschiedlich weit in die Medien- sowie in die Rhetorikgeschichte zurückgreifen, spielen eine Rolle in einer Studie mit dem Titel Mass Persuasion – mittlerweile ein Klassiker der Wirkungsforschung. Der Soziologe Robert Merton führt sie 1943 ausgehend von einem Zentrum der frühen Kommunikationsforschung durch: dem Bureau of Applied Social 3

Ebd., 132f.; Durham Peters, J.: The Uncaniness of Mass Communication in Interwar Social Thought. In: Ders. (Hrsg.): Tangled Legacies. Symposium: Communication in the 1940s. Journal of Communication 46/3 (1996), 108-123; Hagen, W.: Die Stimme als körperlose Wesenheit. Medienepistemologische Skizzen zur europäischen Radioentwicklung. In: Schneider, I./Spangenberg, P. (Hrsg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd. 1. Wiesbaden 2002, 271-286; ders.: „Blackface Voices“ – „First Person Singular“. Stimmpolitiken im amerikanischen Radio. In: Gethmann, D./Stauff, M. (Hrsg.): Politiken der Medien. Zürich/Berlin 2005, 287-303. 4 Knape, J.: Persuasion. In: Ueding, G. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Berlin 2003, 874-907. 5 Epping-Jäger, C.: Kontaktaktion. Die frühe Wiener Ausdrucksforschung und die Entdeckung des Radiopublikums. In: Schneider, I./Otto, I. (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung. Bielefeld 2007, 55-71.

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Research in New York. Auf Anregung von Paul Lazarsfeld, der kurz nach seiner Wiener Radiostudie in die USA emigriert, untersucht Merton ein Medienereignis, das er als exemplarisch für eine beängstigend gelungene Massenpersuasion herausstellt: den War Bond Day am 21. September 1943 im Radiosender Columbia Broadcasting System, CBS.6 In der Publikation der Untersuchung stellt Merton jedem Kapitel ein längeres Zitat aus einer klassischen Schrift der Rhetorik voran: Thomas Hobbes The Art of Rhetorick, Platons Dialoge Gorgias und Phaidros sowie die Aristotelische Rhetorik bilden so wichtige Referenztexte. Es geht um die Frage, inwiefern sich die Rhetorik unter den Bedingungen der technischen Verbreitungsmedien fortsetzen kann, welche Gefahren dies birgt und welche Rolle der Sozialwissenschaftler dabei spielen kann. Aufschluss über diese Fragen soll Merton die Radiostimme von Kate Smith geben, die an jenem 21. September von acht Uhr morgens bis zwei Uhr nachts die Hörer immer wieder zum Kauf von Kriegsanleihen aufruft. Diese soziologische Studie zur erfolgreichen Persuasion des War Bond Day bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Ethos und Pathos als Elemente der rhetorischen Überredung, so die These, die in dieser Fallstudie entfaltet werden soll, sind nicht einfach Techniken, von denen ein Redner Gebrauch machen kann. Sie sind Effekte einer medialen Konstellation und eingewoben in ein relationales Gefüge aus Rednern, Zuhörern, technischen Objekten und rhetorischen Praktiken. Vollständig beschreiben lassen sich die rhetorischen Appelle des CBS War Bond Day deshalb nur, wenn sie als Teil einer medialen Ökologie in den Blick rücken, der auch Mertons Wirkungsstudie angehört, einer medialen Umwelt, die Ethos und Pathos des Ereignisses mit verfertigt.

1. Die Vermessung von Ethos und Pathos Der CBS War Bond Day ist nicht die erste Aktion dieser Art. Seit Anfang der 1940er Jahre werben Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Auftrag der amerikanischen Regierung für den Kauf von Kriegsanleihen. Auch Kate Smith, deren Stimme als Broadway-Sängerin und Radiostar seit den 30er Jahren bekannt ist und die als Inbegriff einer patriotischen Amerikane6

Merton, R.K.: Mass Persuasion. The Social Psychology of a War Bond Drive [1946]. Westport (Conn.) 1971 (der Verweis auf die Anregung Lazarsfelds findet sich im Vorwort, xii). Vgl. zum War Bond Day bezogen auf die Transformationsprozesse des Mediums Radio und den sich daraus ergebenden Regulierungsbedarf von Propaganda: Otto, I.: „Such a Sincere, Patriotic Voice“. Lord Haw-Haw, Kate Smith und die Intimität des Radios. In: Schneider, I./Epping-Jäger, C. (Hrsg.): Formationen der Mediennutzung III. Dispositive Ordnungen im Umbau. Bielefeld 2008, 43-62.

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rin gilt, hat solche Aktionen schon durchgeführt. Doch keine Aktion zuvor war so erfolgreich. In etwa 65 über den Tag verteilten Radiobeiträgen fordert sie ihre Hörer zum Kauf von War Bonds auf. Sie erreicht eine Zeichnung von Anleihen im Wert von 39 Millionen Dollar.7 Da Kate die Hörer bittet, sich durch einen sofortigen Anruf beim Sender zur Zeichnung zu verpflichten, kann Merton die überzeugten Hörer ausfindig machen und befragen. Die Situation bietet ihm ein Experiment, in dem Stimulus (die Radiosendungen) und Response (die Interview-Antworten der überzeugten Hörer) klar getrennt vorzuliegen scheinen. Merton geht von einer gelungenen persuasiven Radiorede aus und fragt nach ihren Gründen. Welche rhetorischen Tricks hat Kate verwendet, um diese Wirkung zu erreichen? Als Soziologe ist er an sozialen und kulturellen Folgen der Massenpersuasion interessiert. Aus seiner Perspektive ist das Radio das Mittel, das aus rhetorischer Persuasion unter Anwesenden Massenpersuasion im Sinne des Begriffs mass communication macht. Analysiert werden Kate Smiths transkribierte Radio-Beiträge, nicht etwa eine Ton-Aufnahme ihrer Stimme. Dass diese ihm nicht vorlag, notiert Merton als bedauerlich, aber nicht weiter problematisch. Im Verlauf seines Berichts wird jedoch deutlich, dass die medialen Prozesse des Radios unabdingbar für ein Verständnis der Persuasion sind – dass es nicht einfach nur um das geht, was Kate gesagt hat und auch nicht bloß um die Themen und sprachlichen Figuren ihrer Rede. Entscheidend ist die radiophon vermittelte Stimme.8 Mit Hilfe des Skripts und der Interviewantworten ermittelt Merton zwei zentrale Gründe für die Wirkung der Persuasion: Erstens habe Kate ihre Hörer – gestützt durch ihr Starimage als patriotische Amerikanerin – durch ihre eigene Aufrichtigkeit, ihren Altruismus und ihre Glaubwürdigkeit überzeugt, also durch rhetorische Mittel, die im klassischen Verständnis unter dem Begriff Ethos des Redners fallen. Zweitens identifiziert Merton Strategien des rhetorischen Pathos: Smith habe durch affektive Anklagen ihre eigenen Emotionen herausgestellt, auf das Opfer verwiesen, das die Soldaten an der Front ebenso bringen, wie sie selbst in ihrem Radiomarathon, und auf diese Weise Gefühle wie Trauer, Schuld, Mitleid und Angst bei ihren Zuhörern ausgelöst.9

7

Merton, Mass Persuasion, 2f.; Horton, G.: Radio Goes War. The Cultural Politics of Propaganda During World War II. Berkeley/Los Angeles/London 2003, 104f. 8 Merton, Mass Persuasion, 3-17. 9 Zumbusch, C.: Probleme mit dem Pathos. Zur Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010, 7-24 sowie in Merton, Mass Persuasion, für die ethische Seite des Appels: Chapter 4: War Bonds and Smith Imagery: A Study in Congruence; für die pathische Seite: Chapter 5: Guilt-Edge Bonds: The Climate of Decision.

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Die Zuhörer mussten die Persuasion also passiv erleiden und ihr zwanghaft folgen – Merton verwendet die Bezeichnung „compulsive listening“.10 Diesen Rezeptionszwang erreicht Kate durch scheinbar persönliche Adressierung jedes Einzelnen in einer Gemeinschaft der Zuhörenden. Eine gemeinsame Tat, die Investition in den Krieg, könne den Krieg beenden und die amerikanischen Soldaten nach Hause bringen: Hello everybody… this is Kate Smith again. Will you help me to make a dream come true? It’s an amazing dream… a stupendous dream… a dream that may be out of reach… but it’s a dream I know can be true today if we all – everyone of us… do our part.11 That’s what war bonds are to every one of us, a chance to buy our boys back. We’ve all of us got boys we want back, sons or sweethearts or brothers or husbands or just friends, kids we knew from down the block. We want them back, all of them, and here, today, is our chance to do something about it.12

Ethos und Pathos der Radiorede widersprechen sich dabei nicht, sondern stützen sich wechselseitig. Das jedenfalls entnimmt Merton den Antworten der Befragten. Kate Smith sei zu einem Symbol für Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gradlinigkeit geworden. Gerade deshalb ist das patriotische Pathos ihrer Appelle als ‚echte‘ Emotion aufgefasst worden. Merton dagegen problematisiert dieses harmonische Zusammenspiel von Ethos und Pathos der Rede. Kate habe rhetorische Techniken zum Einsatz gebracht, die den vorherrschenden moralischen Code verletzen und Ängste ausbeuten. Sie habe in sentimentalen Appellen Handlungsaufforderungen versteckt, also nicht überzeugt, sondern manipuliert. In seiner Schlussbetrachtung bringt Merton Kate Smiths Radiorede mit einem Problem in Verbindung, das die amerikanische Medienkultur während des zweiten Weltkriegs umtreibt und ebenso die Herausbildung des neuen Forschungsfeldes, das den Herausforderungen der mass communication begegnen will, entscheidend bestimmt: Die Frage, ob in Anbetracht von zunehmender feindlicher Propaganda, die auch das amerikanische Radiopublikum über Kurzwellensender erreicht, Persuasionstechniken überhaupt für einen guten Zweck eingesetzt werden können oder nicht vielmehr aus moralischen Gründen zu vermeiden oder nur mit großem Bedacht und sparsam zu verwenden sind: „The techniques employed in mass persuasion have direct social implications and a code of morals immediately limits the choice of effective technique.“13 10

Merton, Mass Persuasion, 28. Ebd., 61. 12 Ebd., 58. 13 Ebd., 175. Vgl. zur Diskussion des Problems der Propaganda in der frühen Massenkommunikationsforschung Otto, I.: „Public Opinion and the Emergency“. Das Rockefeller Communications Seminar. In: Schneider/Otto, Formationen der Mediennutzung II, 73-91. 11

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Sowohl den Redner, der rhetorische Techniken gebraucht, als auch den Sozialwissenschaftler, der diese Techniken untersucht, konfrontiert dies aus Mertons Sicht mit einem moralischen Problem. Die Wissenschaft könne hier keinen neutralen Standpunkt der Beschreibung einnehmen, sondern müsse über die Angemessenheit der Persuasion urteilen und Stellung beziehen.14 Merton stellt das Ethos der Wissenschaft einer Persuasion entgegen, deren Pathos zur Pathologie geraten, zu manipulativer Propaganda werden kann. Diese klare Gegenüberstellung gelingt jedoch nur auf der Grundlage einer Implikation, die das Medium Radio als Bedingung von Persuasion oder Propaganda betrifft. Merton reflektiert diesen Aspekt nicht weiter, spricht jedoch implizit eine Frage an, die aus medienwissenschaftlicher Sicht von zentralem Interesse ist: Die Frage, ob Radio und Radiostimme überhaupt als bloße Mittel oder Instrumente der Persuasion zu verstehen sind, die ein Redner – zu guten oder schlechten Zwecken – intentional einsetzen kann; als einfache stimulus carrier, die rhetorische Strategien der Handlungssteuerung ohne Störung transportieren; oder ob sie nicht eher als konstitutiv beteiligte Akteure15 im rhetorischen Prozess der Beeinflussung zu bestimmen sind. Im letzteren Fall wäre nicht nach den inhaltlichen Stimuli der rhetorischen Beeinflussung zu fragen, sondern nach dem Ethos und Pathos der Medien.

2. Die Medienumgebung der Persuasion Mertons Bericht gibt über die konstitutive Beteiligung von Radio und Radiostimme durchaus Aufschluss. Zunächst einmal wird deutlich, dass Kates Appelle in die zeitliche Struktur eines Sendetags des Radios eingebunden sind. Ihre Aufrufe sind als penetrantes Insistieren in das laufende Radioprogramm gewoben. Immer wieder stellt Kate in ihren variierenden Appellen die eindringlich intonierte Frage „Will you buy a bond?“ Gerade den 18stündigen Marathon fassen die Befragten als Zeichen für Kates Ernsthaftigkeit, Selbstlosigkeit und Durchhaltekraft auf. Der Persuasions-Marathon ist nur als radiophoner Ablauf denkbar, gerade weil er in seiner Gesamtheit über die Dauer einer Vortragssituation weit hinausgeht und seine Effektivität über die stete Wiederholung von kurzen Appellen lanciert: „Continous listening to such varied appeals enhanced the likelihood of persuasion. A listener might ward off one attack, but a few minutes later another approach might 14 15

Merton, Mass Persuasion, 185-189. Vgl. zur Auffassung, dass auch nicht-menschliche Entitäten wie technische Objekte, aber auch Praxen und Diskurse als Akteure in Konstellationen verteilter Handlungsmacht sind, die Akteur-Netzwerk-Theorie im Sinne Bruno Latours. Vgl. Latour, B.: Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen. Auf dem Weg durch Dädalus’ Labyrinth. In: Ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a.M. 2000, 211-264.

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find the weak chink in his spiritual armor.“16 Kate Smith macht sich die für die Struktur des Radioprogramms typische Form der Serialität zu Nutze, um die Schwachpunkte ihrer Hörer zu treffen. Dem widerspricht keineswegs die familiäre Atmosphäre, in der jeder Einzelne in der Gemeinschaft des Zuhörenden sich persönlich angesprochen fühlen kann. Wie Jurij Murašov in seinen Forschungen zum Verhältnis von Schrift und Radio in der sowjetischen Medienkultur der frühen 1930er Jahre gezeigt hat, ist es ja gerade dieses persönliche Gespräch unter Anwesenden, das die Radiostimme verspricht; der Eindruck, die Unwahrscheinlichkeit der entkoppelten schriftlichen Kommunikation überwunden zu haben oder sie zu kompensieren. Gerade deshalb ist der Zwang der Persuasion sanft, die Politik der Propaganda bleibt in einer Nähe und Gemeinschaftlichkeit suggerierenden Anrede des Radiohörers verborgen.17 Wie sehr die Medialität des Radios die Voraussetzung und Ermöglichung von Kates Persuasion bildet, zeigt jedoch vor allem die Relevanz ihrer Stimme, ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch Mertons Bericht zieht. Gleich die Eröffnung des Sendetages bringt die Stimme ins Spiel: „This is Kate Smith and I’m going to talk to you every fifteen minutes as long as my voice holds out.“18 Merton findet zahlreiche Verweise auf Kates Stimme in den Antworten der Befragten: „She just thrilled me because she was so full of pep and so warmhearted. I prayed that her voice would hold out.“19 Ihre Stimme verbindet das Opfer der Soldaten an der Front mit Kates Opfer des Radiomarathons: „Her voice was not quite so strong later, but she stuck it out like a good soldier.“20 Bemerkenswert ist auch ein Beispiel, in dem Pathos der Stimme und Pathos als Affekt einer Hörerin miteinander in Verbindung gebracht werden – im Sinne einer emphatischen Übertragung: She [Kate] seemed to be getting exhausted. In the early afternoon, it seemed as if there were tears in her voice. My feelings were that she was overexerting herself. It seemed she was doing so much. I wonder: did she lie down? She sounded so tired, her voice was trembling. I had tears in my eyes.21 16

Merton, Mass Persuasion, 37. Murašov, Ju.: Sowjetisches Ethos und radiofizierte Schrift. Radio, Literatur und die Entgrenzung des Politischen in den frühen dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur. In: Frevert, U./Braungart, W. (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte. Göttingen 2004, 217-245. Die Intimität der Radiostimme ist auch ein wichtiges Thema in US-amerikanischen Radiodiskursen: Vgl. z.B. Matheson, H.: Broadcasting (1933), zit. nach: Scannell, P.: Introduction: the Relevance of Talk. In: Ders.: Broadcast Talk, London/Newbury Park/New Delhi 1991, 1-13, hier: 3. „The person sitting at the other end expected the speaker to address him personally, simply, almost familiarly, as man to man.“ 18 Merton, Mass Persuasion, 94. 19 Ebd., 31, Hervorhebung im Original. 20 Ebd., 91, Hervorhebung im Original. 21 Ebd., Hervorhebung im Original. 17

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Kates Stimme erzeugt überhaupt erst Ethos und patriotischen Pathos ihrer Rede: „She has such a sincere, patriotic voice.“22 Die Stimme ist nicht einfach nur ein Vehikel, das sich durch wiederholten Gebrauch in patriotischen Zusammenhängen mit seinem Inhalt identifiziert hat, wie Merton diese Aussage eines Befragten deutet. Es ist umgekehrt: Kates Stimme hat sich überhaupt erst als patriotische Stimme verkörpert, sie ist durch bestimmte Gebrauchsweisen erst zu einer identifizierbaren Stimme geworden. Sie identifiziert – man könnte sogar sagen: infiziert – ihre Inhalte als patriotische Botschaften. Um genauer zu fassen, was hier unter ‚Verkörperung‘ zu verstehen ist, ist es wichtig mit einzubeziehen, dass Kates Stimme zum einen durch Mikrophone, elektromagnetische Wellen, elektronische Signale und Empfangsgeräte hergestellt wird, also eine radiophone Stimme ist; und dass es sich zum anderen um eine Stimme handelt, die in erster Linie als Gesangsstimme hörbar geworden ist. Kate Smith hat für den War Bond Day das Federkleid des Songbird gegen den Mantel der Rednerin eingetauscht, so Mertons Formulierung.23 Aber tatsächlich hat sie dieses Federkleid nicht vollständig abgeworfen. Ihre Radiorede ist nicht zu isolieren von den Broadway-Musicals, Filmen und anderen Radiosendungen, in denen Kate gesungen oder gesprochen hat. Die Radiostimme des War Bond Day steht in Beziehung mit einem ganzen Geflecht aus Liedern und Reden in unterschiedlichen Kontexten und medialen Umgebungen. Kates Stimme ist nicht allein auf das zu reduzieren, was sie zur Sprache bringt. Sie geht den sprachlichen Formulierungen voraus und durchzieht diese. Mit Mathew Fuller lässt sich die Radiostimme des War Bond Day als Teil einer medialen Umwelt beschreiben, die diese Stimme überhaupt erst hervorbringt. In Fullers Verständnis formiert sich eine media ecology zwischen Menschen und Techniken und besteht aus vielfältigen Beziehungen zwischen Lebewesen, Techniken und ihren sozialen und kulturellen Umwelten.24 In diesem Verständnis ist eine einzelne mediale Formierung wie eine Rede oder ein Lied, eine Radiosendung, aber auch das, was wir als Einzelmedien bestimmen können, wie das Radio oder der Film als einzelnes Gebilde, nur vor dem Hintergrund dieses Beziehungsgeflechts einer Medienökologie zu verstehen. Im Verständnis einer medialen Ökologie geht es nicht darum, Einzelmedien zu bestimmen oder ein Aggregat aus diesen Einzelmedien. Es geht vielmehr darum, wie Timothy Scott Barker an diese Überlegungen anschließt, den medialen Prozess oder die Mediation zu beschreiben, der die Bedingung für Aggregationen bildet und der einer einzelnen medialen Entität überhaupt erst ihren Charakter als individuelles Einzelnes gibt: 22

Ebd., 106, Hervorhebung im Original. Ebd., 175. 24 Fuller, M.: Introduction: Media Ecologies. In: Ders.: Media Ecologies. Materialist Energies in Art and Technoculture. Cambridge, MA/London 2007, 1-12. 23

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Mediation, as a process, provides the conditioning for media entities to take form. Mediation is a process that draws one media entity into a relationship with other pieces of media. By this it establishes a media ecology, where the relationship within the ecology direct the becoming of the singular media entity.25

Wie Fuller am Beispiel von Piratenradios in London zeigt, ist die Radiostimme im Kontext einer medialen Ökologie nicht an einen bestimmten Körper gebunden. Sie ist eher eine Energie, Textur oder Kraft als die ‚Stimme‘ eines einzelnen Subjekts.26 Als Einheit – man könnte auch sagen: als Verkörperung – entsteht die Stimme erst im Beziehungsgeflecht ihrer Umwelt – die aus Rachen, Lunge, Mund, sprachlicher oder gesanglicher Formierung sowie kulturellem und technischem Milieu, also im Fall von Kate Smith, Radiotechniken, Mikrophonen, Transmittern, Lautsprechern, Empfangsgeräten, Musicals, Filmen sowie Diskursen über Radiopropaganda und die Intimität der Radiostimme in der amerikanischen Medienkultur der 1930er und 40er Jahre besteht. All dies bildet die Umwelt der Stimme, die diese hervorbringt. Was also Kates Radiostimme mitschwingt, ist mehr als das, was sie in ihrer aktualen Rede sagt. Virtuell sind in ihrer Stimme die Kontexte anwesend, die sie bereits zu hören gaben oder noch zu hören geben werden. Dies wird am Beispiel des Songs God Bless America besonders deutlich, Kate Smiths größter Hit, den sie auch im Verlauf des War Bond Day singt und der zum berühmtesten patriotischen Song, gar zur ‚inoffiziellen Nationalhymne‘ der USA wurde. Der Song wurde bereits 1918 von Irving Berlin geschrieben, 1938 im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs neu arrangiert und in einer Radiosendung am Gedenktag des Ersten Weltkriegs von Kate vorgestellt.27 Kate Smith betont, bevor sie das Lied anstimmt, welch großes Privileg es ist, diesen Song nun zum allerersten Mal präsentieren zu dürfen. Fast wortgleich ist diese Einführung wenige Wochen vor dem CBS War Bond Day in einer filmischen Übersetzung dieses Ereignisses erstmals zu hören – und, was entscheidend ist: auch zu sehen. Fünf Jahre später und kurze Zeit vor Smiths Radiomarathon wird genau die erste Präsentation des neu arrangierten Liedes filmisch re-inszeniert, und zwar in der Uraufführung des Films This is the Army (Regie: Michel Curtiz) am 14. August 1943: „Hello everybody. It is my happy privilege to introduce a new song: God Bless America“.28 Wenn Kate im Film – sich selbst darstellend – diese Worte spricht, ist sie im filmisch verfertigten CBS-Radiostudio zu sehen, dessen unterschiedliche Ak25

Barker, T.S.: Time and the Digital. Connecting Technology, Aesthetics, and a Process Philosophy of Time. Hanover (New Hampshire) 2012, 11. 26 Fuller, M.: The R, The A, The D, The O: The Media Ecology of Pirate Radio. In: Ders., Media Ecologies, 13-53. 27 American Treasures of the Library of Congress: God Bless America, 27.07.2010. http://www.loc.gov/exhibits/treasures/trm019.html (03.01.2016). 28 This is the Army (USA 1943, Regie: Michel Curtiz), TC: 0:23:22.

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teure – Sprecher, Manuskripte, Techniker, Moderatoren, Mikrophone, Equipment, Musikinstrumente, Musiker, Publikum etc. – ein Kameraschwenk eindrücklich ins Bild setzt und die Szenerie für Kates Auftritt bildet: in langem, wallenden schwarzen Kleid mit weißem, schleifenförmig auslaufenden Kragen. Sie spricht, vor einem Orchester stehend, nicht nur innerhalb der Filmhandlung durch Mikrophone diegetische Radiohörer und ein Saalpublikum an, das sie mimisch und mit ausladenden Gesten adressiert. Ihre Worte sind auch an ein Publikum im Kinosaal im Jahr 1943 gerichtet (erkennbar in direkten Kamerablicken) und damit in einer medienkulturellen Konstellation situiert, in der Fiktion und Nicht-Fiktion nicht zu trennen sind. Ihre filmisch re-inszenierten Worte rufen Erinnerungen an Kates Radioperformance des Songs im Jahr 1938 ebenso auf, wie sie den War Bond Day antizipieren (vgl. Abb. 1 u. 2). Abb. 1, 2: Gleichzeitige rhetorische Adressierung unterschiedlicher Publika: Kate Smiths Darbietung von ‚God Bless America‘ in This is the Army (USA 1943, Regie: Michael Curtiz) TC: 0:23:26 u. 0:23:31.

Die Filmhandlung in This is the Army spannt einen Bogen zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg. Kates Filmauftritt ist an einem historischen Sprung zwischen den beiden Kriegen in der Filmhandlung platziert, um die Notwendigkeit des erneuten Krieges in patriotischem Pathos zu unterstreichen. Zu hören und zu sehen ist zunächst die Assoziation ihrer Stimme mit dem Körper der Filmfigur Kate Smith, die dann im weiteren Verlauf des im Film dargebo-

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tenen Songs – gewissermaßen in einer Rückübersetzung – zur ‚körperlosen‘ Radiostimme wird und eine filmische Gemeinschaft der Hörenden konstituiert: Nostalgische Erinnerungsstücke und Kriegsversehrte aus dem Ersten Weltkrieg werden eingeblendet, besorgte Mütter, Soldaten der nächsten Generation an der Front – in der Montage verbunden durch den patriotischen Song, der aus Radiogeräten tönt. Der Film nimmt also genau das vorweg, was der War Bond Day leisten soll: Die Gemeinschaftsbildung von Hörenden über die Intimität einer sanft fordernden Radiostimme, die dazu aufruft, zusammenzustehen und einem gemeinsamen Ziel zu dienen (vgl. Abb. 3-5). Abb. 3-5: Präformierung des CBS War Bond Day: Eine durch Kate Smiths Radiostimme verbundene Gemeinschaft der Hörenden vor ihren Radiogeräten in This is the Army (USA 1943, Regie: Michael Curtiz) TC: 0:25:50, 0:26:35 u. 0:26:44.

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Geht man mit Dieter Mersch davon aus, dass in jeder Stimme „der Bogen zwischen der Leiblichkeit des Sprechenden und der Beziehung zum anderen gespannt wird“ und dass mit der Stimme daher eine „Ethizität“ verknüpft ist, ein „Moment des Bezugs und der Gerichtetheit auf den Anderen, welche stets die Möglichkeit des Antwortens einschließt“,29 so verdeutlicht diese filmische Darstellung darüber hinausgehend eine Verwobenheit der Stimme im soziotechnischen Geflecht einer medialen Umwelt. Die Leiblichkeit des Sprechenden bzw. der Singenden ebenso wie die Beziehung zum Anderen und die Möglichkeit der Antwort des Anderen ist durch technische Bedingungen und durch kulturelle und diskursive Formierungen geprägt. Die in der filmischen Montage erkennbare Zuschreibung, die das Radio zu einem Medium der Intimität formiert, das gemeinschaftliche Nähe über große Distanzen hinweg schaffen kann, stellt dem Ethos ein Pathos zur Seite, eine Disposition des Erleidens von Hören und Gemeinschaft.30 Auch wenn das, was in den Ohren der Radiohörer ertönt, eine ‚Stimme des Freundes‘ ist – um an Derridas Heidegger-Lektüre anzuschließen31 – und es sich ‚eigentlich‘ um freundliche Persuasion und nicht um feindliche Propaganda handelt, ist im Zuhören der Radiohörer – gerade durch die filmisch reinszenierte Intimität des Radios – eine ‚Hörigkeit‘ bzw. ein ‚Gehorchen‘ angelegt, eine Tendenz, die Stimme ‚passiv‘ zu erleiden, von ihr durchwoben zu sein und sich ihr nicht als aktiv bzw. eher: autonom Handelnde entziehen zu können.

3. Ein unabgeschlossener Prozess Wenn sich Ethos und Pathos der Medien in der beschriebenen Weise erst auf der Grundlage einer nur prozessual bestimmbaren Medienökologie herausbilden, in der ihr Ethos und ihr Pathos angelegt sind, dann ist dieser Prozess nicht abgeschlossen, wenn rhetorische Strategien der Persuasion befragt und erforscht werden, sondern setzt sich im Zuge der Untersuchung fort. Gleich am Tag nach der CBS War Bond-Sendung beginnt Mertons Forschungsteam mit der Befragung von Hörern, die Kate Smiths Aufruf nachgekommen sind und Kriegsanleihen gekauft haben. Die Interviewer besuchen die Hörer zu Hause und wenden die von Merton entwickelte Methode des ‚focused inter-

29

Mersch, D.: Präsenz und Ethizität der Stimme: In: Kolesch, D./Krämer, S. (Hrsg.): Stimme. Frankfurt a.M. 2006, 211-236, hier: 213 u. 232f. 30 Vgl. zum Aspekt des Erleidens in dem Pathos-Begriff Busch, K./Därmann, I.: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): „Pathos“. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld 2007, 7-31, hier: 7. 31 Derrida, J.: Heideggers Ohr. Philopolemologie (Geschlecht IV). In: Ders.: Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M. 2002, 411-492, hier: 428.

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view‘32 an, eine Methode, die nach einer genauen Analyse des Stimulus – also in diesem Fall Kates Radiorede – die Befragten durch geschickte indirekte Anspielungen während eines subtil gelenkten Gesprächs dazu bringen soll, möglichst freimütig so viel wie möglich über ihre Reaktionen zu offenbaren. Die Interviewer wiederholen damit in einer Verschiebung der Fragestellungen den sanften Zwang der Persuasion. Aus ‚Will you buy a bond?‘ wird ‚Why did you buy a bond?‘ Dabei wiederholt sich auch die Affektion der Zuhörenden: In many instances, our informants revealed more than they realized. […] At times, their emotional tension flowed over into tears. They spoke freely of their humiliation as they realized their own inadequate contributions to the war effort when measured by the sacrifices reported by Smith. They exhibited little resistance to describing in detail the routines of experience which culminated in their decision to pledge additional war bonds.33

Während Kates Radiostimme zu einer erinnerbaren, wiederholbaren inneren Stimme geworden ist, ist es hier die Stimme des Interviewers, die den Widerstand bricht und Hörigkeit bzw. Gehorchen evoziert. Die fragende Stimme wiederholt Ethos und Pathos der Radiostimme und reinszeniert sie. Mertons Studie ist Teil eines unabgeschlossenen medialen Prozesses, in den Kates Stimme eingewoben ist und in dem Ethos und Pathos dieser Stimme entstehen.

32 33

Merton, Mass Persuasion, 13. Ebd., 15.

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The Art of Hatred The ‘Noble Wrath’ and Violence in Soviet Wartime Culture One of the most striking features of Soviet culture during the Great Patriotic War (and especially the first phase of it) was a clear departure from the ideological and visual sterility of pre-war art. Before the war, any depiction of violence, suffering, death or victimization had been practically tabooed. The disastrous beginning of the war for the Soviet Union and the German atrocities both brought about major changes to Soviet ideology. The focus of this article will be the retuning of Soviet art according to this new ideological doctrine. This ‘translation’ of ideology into literature (first of all, poetry and journalism) and music was followed by visual arts such as poster, painting and film, which completely changed their narrative, style and tune. The war rapidly changed the optics of Soviet art. Before the war, it had been a purely ritualized phenomenon for many people. But now, the regime’s problem suddenly became a personal matter for everyone – a question of one’s own blood, of life and death. Artistic strategy was narrowed down, focusing on a maximum effort to bring political messages on a level with mass perception. This drastically increased the mobilizational potential of art. As early as the autumn of 1941, an intense internal restructuring of Soviet ideology was already underway. In September of 1941, one could still hear assertions like this: “In the mobilization of the masses of the people for the fight against Hitler’s hordes, the deciding role belongs to the Bolshevik Party”. Or, “The great Stalin and the Party organizations are the inspiration for military feats on the fronts and the working masses’ enthusiasm on the home front, and the organizers of both”.1 However, a different ideological line was clearly already perceptible. It was formulated by Central Committee Secretary Alexander Shcherbakov: “Our propaganda and agitation must in every way possible spell out the nationwide, patriotic nature of the war against the German invaders to the very

1

Usilit’ partiino-politicheskuiu rabotu (Editorial). In: Propagandist 1941, № 17, 1. “В мобилизации народных масс на борьбу с гитлеровскими полчищами решающая роль принадлежит большевистской партии”. “Великий Сталин и партийные организации являются вдохновителями и организаторами боевых подвигов на фронтах и трудового энтузиазма масс в тылу”.

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broadest masses”.2 The keywords here are no longer “the Party”: they are “propaganda,” “patriotic”, and “German.” But this new line differed in character, as well as in content. In fact, the new character of the ‘humanized’ wartime ideology was manifested in Stalin’s very first words that he addressed to the masses after the start of the war, in his very form of address: “Brothers and sisters!” This was the new voice of the regime, which appealed to the masses directly and swept aside the institutional barriers and ritualized conventions. Before our very eyes, an abrupt humanization of Soviet art takes place, as well as an intensive humanization of ideology. For a short while, ideology loses its doctrinaire nature, and its aesthetic formulation changes beyond recognition. The only well-established practice that ideology continued to resort to was historicization. The first and perhaps most famous wartime posters were The Motherland-Mother is Calling You! and Our Forces are Innumerable!3 The first one appeals to the maternal archetype, and the second one, to “triumphant Russian history”. In his speech given on November 6th, 1941 for the 24th anniversary of the October Revolution, Stalin touched on the theme of “national pride” of figures from the “great Russian nation”. As he put it, this was “the nation of Plekhanov and Lenin, Belinsky and Chernyshevsky, Pushkin and Tolstoy, Glinka and Tchaikovsky, Gorky and Chekhov, Sechenov and Pavlov, Repin and Surikov, and of Suvorov and Kutuzov”. The following day, he made a send-off speech on Red Square for the troops leaving to defend Moscow. In the conclusion, he said, “Let your inspiration in this war be the courageous image of our great forebears: Alexander Nevsky, Dmitry Donskoy, Kuzma Minin, Dmitry Pozharsky, Alexander Suvorov, and Mikhail Kutuzov.”4 At first, the historicization had been tied to an epic past, and Soviet soldiers were compared to bogatyrs, legendary characters of Russian epic folk tales. But after a very short time, the associations were linked to the quite specific “victorious” ideals of Russian military commanders and “Russian glorious imperial past”: Suvorov, Kutuzov, and Alexander Nevsky (Fig. 1).

2

Shcherbakov, A.: O nekotorykh zadachakh propagandistskoi raboty. In: Propagandist 1942, № 1, 11. “Наша пропаганда и агитация должны всемерно [...] разъяснять самым широким массам трудящихся всенародный, отечественный характер войны против немецких захватчиков”. 3 Windows on the War: Soviet TASS Posters at Home and Abroad, 1941-1945. The Art Institute of Chicago, Yale University Press 2011, Ill. 41. 4 Stalin, I.V. Sochineniia. Vol. 15. Moscow 1997, 78, 86.

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Fig. 1: P. Aljakhrinsky, Poster Let your inspiration in this war be the courageous image of our great forebears: Alexander Nevsky, Dmitry Donskoy, Kuzma Minin, Dmitry Pozharsky, Alexander Suvorov, and Mikhail Kutuzov, 1942.5

What is quite obvious here is that this assemblage of names does not include a single one that could be even remotely associated with the Soviet era. It is a prerevolutionary canon of heroes, through and through. The irony is that as the quarter-century anniversary of the proletarian Revolution approached (and to which Stalin’s speeches had in fact been dedicated), the Revolution was apparently ‘skipped’, historically irrelevant. We should remember, however, that these images were brought to life in Soviet art on the eve of the war. In Eisenstein’s film Alexander Nevsky, for example, the historical allusions and references to fascist Germany were absolutely transparent. The main thing, though, was that a specifically Soviet historical film and novel, which both had their real heyday on the eve of the war, both directly addressed the darker side of reality. Pre-war Socialist Realism, after all, simply did not know how to depict suffering, sacrifices, and death. On the contrary, 1930s Soviet art had created an atmosphere of joy, happiness, and the abundance of life. The events in it frequently unfolded in a holiday setting, one of relaxation. In that art, people sang, danced, and played. Only images and films that dealt with the world of the past had portrayals of a brutal reality. Alexander Nevsky, for example, is saturated with violence: in this film, people rape, cut off heads, and throw children into the fire (Fig. 2).

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http://www.gelos.ru/month/march2012book/bigimages/nb7103-14.jpg (last access: 12 February 2015)

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Evgeny Dobrenko Fig. 2: Sergey Eisenstein, Film still from the film Alexander Nevsky, 1938.

There is a similarity between the ‘humanized’ stylistics of Soviet wartime culture and pre-war ideology in the mobilizational functions of both. But the differences are far more significant. Pre-war ideology appealed to rationality (utopian as it might have been). Wartime culture was meant to evoke almost primal, atavistic instincts, like hate and vengeance. In order to call these forth, the culture had to resort to a peculiar sort of imagery. Painting horrible pictures of death and destruction became a characteristic ‘artistic strategy’ of the war period. The efficacy of this imagery was of course reinforced by the institutions of the Soviet regime – by the activities of the NKVD, SMERSh,6 military offenders’ battalions, tribunals, and camps. (Significantly, we can find no descriptions of the prisoners’ camps, or even the subject itself, in wartime literature. The exclusion of the Nazis’ concentration camps was probably intentional – they might have reminded readers of the GULAG.) In practically all of the Party documents dealing with matters of the press, there was a demand to issue as much material as possible “about the atrocities of the German-Fascist monsters in the areas they have temporarily captured, about the pillaging and devastation of our cities and villages, about the violence inflicted on women and children”. Another topic was “the tortures of Hitler’s blackguards of wounded Red Army men held captive”. There were “materials about the despicable bandit activities of German soldiers and officers”. The “simply-written stories of witnesses to the atrocities of the Fascist invaders” were to be printed. Party organizations were required to “extensively use the facts of the bloody crimes of the German-Fascist aggressors in agitation and propaganda work, make these crimes of the occupiers known to the entire population, and light the fires of hatred for the enemy in the masses”. War correspondents were obligated to shed light on “the 6

NKVD: Narodnyi Komissariat Vnutrennikh Del (People's Commissariat of Internal Affairs), SMERSh: Smert' shpionam (Death to the Spies – anti-retreat units).

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atrocities perpetrated by the German-Fascist aggressors, the pillaging and rape of the peaceful population of the areas they have occupied, and the Germans’ extermination of Soviet prisoners of war”.7 Of course, very few people – only those in the front lines of the war – could actually see what was happening. But the aim was to convey horrible scenes of the war by means of imagery – that is, by directly depicting them. Let us turn to a typical, vivid document. It is the headline story in the main Party journal, Bolshevik, published during the most acute period of the war – early August, 1942, on the eve of the Battle of Stalingrad. It was titled We Will Embody Hatred of the Enemy in Real Acts of War!, and it begins with these images: “Cities turned into ruins… Villages burnt to the ground… Gibbets with the corpses of peaceful Soviet people swinging in the wind… Yawning pits full to the brim with the bodies of people tortured and executed… Women and children wandering like shadows among the ruins.” This was, however, the visual part. What followed was tension-building, at first only on the verbal level: “The human imagination simply cannot imagine the monstrous tortures to which the Germans are subjecting the Soviet people.” This is further intensified by adding color to the original sketch. This latter process, however, proceeds in stages. First, photographs found with German soldiers are shown. One photograph has “a mob of Fritzes with diabolical smiles, standing in front of a Russian village being burnt down”. Another one has “German soldiery with a group of peaceful Soviet locals who were executed”, and another, a scene of five Soviet citizens being hanged. With the fourth photograph, the tension is increased with amplified eroticism: “A German man, stripped to the waist … lashes a naked girl.”8 Following 7 8

O partijnoi i sovetskoi pechati: Sbornik dokumentov. Moscow 1954, 492, 494, 499, 530. Nenavist’ k vragu voplotim v konkretnye boevye dela! (Editorial). In: Bol’shevik, 1942, № 15, 1-5. “Ненависть к врагу воплотим в конкретные боевые дела! […] Города, превращенные в руины... Села, сожженные дотла... Виселицы с раскачивающимися на ветру трупами мирных советских людей... Глубокие ямы, наполненные доверху телами замученных и расстрелянных... Женщины и дети, как тени, блуждающие среди развалин... […] Человеческое воображение не в силах себе представить тех чудовищных пыток, каким подвергают немцы советских людей […] толпа фрицев с дьявольскими улыбками на фоне догорающей русской деревни […] немецкая солдатня у группы расстрелянных мирных советских жителей […] обнаженный до пояса немец... бьет плеткой голую девушку […] высшей немецкой расы […] Мы приехали в Брянск. Жандармы пригнали 50 женщин для уборки вагонов и чистки сапог солдатам. Солдаты и жандармы грубо обращались с женщинами. Я видел, как одна усталая, изнуренная женщина лет 50 чистила сапоги немецкому солдату. По мнению солдата, она медленно чистила сапоги. Солдату это не понравилось, и он ударил женщину ногой. Женщина упала. Тогда солдат стал яростно топтать ее каблуками и бить по лицу. Женщина потеряла сознание. Остальные немецкие солдаты и офицеры смотрели на это избиение, смеялись и тоже издевались над другими женщинами […] обрушим же на головы захватчиков наш гнев”.

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this are quotes from German soldiers’ and officers’ letters about the preeminence, supremacy, and rights of the “superior German race”. After this, the ‘storytelling’ by witnesses to the scenes of violence begins. The slogans that came after these images (“But we will rain down our wrath upon the aggressors’ heads”, and the like) were deliberately redundant. Obviously, they pale in comparison with these images. Before our very eyes, the regime has stopped speaking in slogans and started telling stories through images. Thus, a tautology arises. The slogan loses its meaning, a merger of the image and the slogan takes place, and one turns into the other: the image mobilizes or challenges (like a slogan), and the slogan adds paint (like a picture). Soviet art, in wartime, unexpectedly ended up in a completely new aesthetic dimension. During the war master plot is much less relevant and expression is moved to forestage dominating cultural medium during the war. If before the war Socialist Realism had been narrative immersed in some kind of decorative style, then during the war, the art that arose that might be called Socialist Expressionism in content and Naturalism in form. By depicting Soviet prosperous life before the War the Soviet artist, ignoring the viewer, believed that the image of plentiful harvest will turn into real abundance. Now, by depicting German atrocities Soviet art appealed directly to the viewer aiming to translate the image into action. So the nature of the image here is purely functional – and it worked. For us, of course, images of horrors and violence both real and imagined, images of the terror and death that are taking place in different parts of the world have become a part of everyday life thanks to television and the Internet. Mass murders and wars are perceived as ordinary phenomena. Images of pain and suffering have become an important aspect of contemporary mass media from political propaganda to commercial advertisements, and are absolutely interchangeable. But they had a completely different effect on people in the 1940s. Graphic violence was a most powerful tranquilizer, called upon to quell fear, personal doubts and concerns; death, hardships, and the horror of war, by bringing individual experiences out onto the surface of collective action, transferred the affects of the self into the stereotype of mass behavior. Soviet wartime culture did not, of course, cease to be Soviet culture. It continued telling the stories of miracles and ‘unparalleled feats’, but this is not what determined its distinctiveness. What was new was the means itself of conveying this heroism. One example is particularly telling. Zoya Kosmodemyanskaya was a heroic partisan who was captured by the Germans and hanged. The mythology of this image is enormous - Paintings, epic poems, a novel, memoirs, a film. But it all began in 1942, when the newspaper Pravda published the journalist Sergey Strunnikov’s shocking photograph of Kosmodemyanskaya after she was hanged (Fig. 3).

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Fig. 3: Sergey Strunnikov, Photograph of Zoya Kosmodemyanskaya, 1942.9

Her body is pressed into the snow in the snapshot. What was new and shocking was the closeness of the camera to the victim. Owing to this, the viewer was drawn directly into the event and, consequently, could not distance himself (or herself) from the horror of the death through, one might say, the commander’s glance. This unaccustomed closeness to reality evoked horror and, at the same time, a sort of trance. Despite the state of shock to which this image subjected viewers, they could not tear themselves away from it. This photograph undoubtedly departed from the depictive tradition of Socialist Realism, in which women-as-heroines were presented either in the form of fighters or in the form of mothers. This photograph vividly expresses both erotic motifs uncharacteristic of Socialist Realism and the characteristic Christian/religious motifs.10

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http://albumwar2.com/the-body-of-zoe-kosmodemyanskaya-after-exhumation/ (last access: 12 February 2015) 10 Illustrations of naked, raped women occurred in the Russian illustrated press already in the 19th century during the Russian-Ottoman war 1877-78. They represented the South Slavic nations, suffering from the Turks. Cf. Baleva, M.: Martyrium für die Nation. Der slawische Balkan in der ostmitteleuropäischen Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Osteuropa 59/12 (2009), 41-52; Id., Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 2012; Id., Das Imperium schlägt zurück. Bilderschlachten und Bilderfronten im Russisch-osmanischen Krieg 1877-1878. In: Baleva, M./Reichle, I./Lerone-Schultz, O. (eds.): Image Match. Visueller Transfer, ‚Imagescapes‘ und Intervisualität in globalen Bildkulturen. München 2012, 87-108. On Kosmodemyanskaya myth see: Rathe, D.: Soja – eine „sowjetische Jeanne d’Arc“? Zur Typologie einer Kriegsheldin. In: Satjukow, S./Gries, R. (eds.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin 2002, 45-49; Harris, A.M.: Memorializations of a Martyr and Her Mutilated Bodies. Public Monuments to Soviet War Hero Zoya Kosmodemyanskaya, 1942 to the Present. In: Journal of War & Culture Studies 5/1, 73-90.

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Another thing that sets the photograph of Zoya apart is an unusual sensuality: the head thrown back, the neck stretched back, and the bare breasts that evoke associations with Delacroix’s Liberty and The massacre at Chios. In Stalinist culture, only the depiction of a dead woman could contain such a powerful erotic component. This phenomenon has, of course, its own cultural parallels: in English Victorian-era painting, the public depiction of eroticism was limited to the dead female body. Of course, partially-nude bodies figured also in pre-war Soviet photography. They were, however, limited to two public spheres: work and sports. However, the images of the nude body, owing to the specifics of Soviet “optics”, were deprived of eroticism by virtue of the fact that images of the beautiful bodies of young sportsmen and sportswomen, and of young female and male workers, lacked any individualization. But in Zoya’s photograph, the main thing is the individualization of her death and suffering. What the viewer was unaccustomed to seeing were the details that bore witness to the painful death of a young girl who had become the victim of violence: the breasts bared, and on which the signs of torture are visible, and the noose tightened around her neck. The female breasts here are perceived as a part of the body that was, against the victim’s will, laid bare to public view; hence they create a feeling of helplessness that is especially touching to the viewer. Filmmaker Lev Arnshtam re-created this blend of eroticism and religiously-exalted imagery in his 1944 film Zoya. Zoya, whose role is played by actress Galina Verbitskaya, is transformed here into a virginal creation, an irreproachable sexless beauty with whom both men and women can to differing degrees identify. The whole aesthetic of the film, which is restrained in an impressionist manner, is subordinated to this. In the scene where Zoya’s final journey is shown, as she walks at night in the snow toward her death, the viewer sees first her bare feet, her thin legs, and then the vague outline of her body that emerges through the heavy snowfall; only then does her inspired, radiant face appear on the screen. A few weeks after the photograph was published in Pravda, the caricature artists called Kukryniksy went to the village of Petrishchevo, where the execution took place, and afterwards created their painting The Feat of Zoya Kosmodemyanskaya (1942) (Fig. 4). One needs only to compare the post-execution photograph with the Kukryniksy painting to understand how significant the role of the close-up camera is: as soon as the optics are changed, the horror degrades into heroism and the painting fails to touch the viewer. Ilya Ehrenburg wrote: War is frenzy, the heat of hatred and self-abandonment. War without hatred is immoral, like cohabitation without love is. When I say ‘frenzy’, I’m not of course thinking about hysterics, affectation. I just want to remind you, once more, that extermination of an enemy is something extraordinary. When one’s thoughts, feel-

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Fig. 4: Tanya Kukryniksy, The Feat of Zoya Kosmodemyanskaya, 1942, Tretyakov State Gallery, Moscow.

ings, and will are concentrated on one thing – on destruction – then the nature of the heart also changes. When war becomes everyday existence, it disintegrates, it dies. This is the verdict on chroniclers of the everyday, when they want to describe war like a shock-worker’s successes or a kolkhoz wedding. War demands not so much to be described as to be supported: not ink, but something flammable… the writer’s duty is to fan the flames of indignation, alarm, and self-sacrifice.11

One would be hard pressed to more precisely understand and formulate the aesthetics and poetics of wartime literature. It would be difficult to name a more straightforward form of mass agitation than wartime poetry. Among the numerous texts of Soviet literature of this period, it would be equally difficult to find a more strongly influential text than Konstantin Simonov’s poem Kill him! The poem was published in Pravda in July of 1942, at the most desperate moment of the war, on the eve of the Battle of Stalingrad. We can see the entire poetics of Soviet wartime culture here:

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Erenburg, I.: V boevom poriadke. In: Znamia 1943, № 5-6, 235. “Война - это исступление, накал ненависти и самозабвения. Война без ненависти безнравственна, как сожительство без любви. Говоря ‘исступление’ я не думаю, конечно, об истерике, об аффектации. Я только хочу еще раз напомнить, что истребление врага – это нечто исключительное. Когда мысль, чувства, воля со-средоточены на одном: на уничтожении, тогда меняется и природа сердца. Снайперу нужна выдержка, хладнокровие, но чтобы стать снайпером, чтобы считать убитых немцев, помечая в записной книжке ‘67 фрицев’, для этого необходимо исступление. Когда война становится бытом, она разлагается, умирает. В этом приговор бытовикам, которые хотят описывать войну, как успехи ударника или свадьбу в колхозе. Война требует не столько, чтобы ее описывали, сколько, чтобы ее поддерживали: не чернил, но горючего... долг писателя – раздувать огонь негодования, тревоги, жертвенности”.

152 If your house means a thing to you Where you first dreamed your Russian dreams In your swinging cradle, afloat Beneath the log ceiling beams. If your house means a thing to you With its stove, corners, walls and floors Worn smooth by the footsteps of three Generations of ancestors. If your small garden means a thing: With its May blooms and bees humming low, With its table your grandfather built Neath the linden – a century ago. If you don't want a German to tread The floor in your house and chance To sit in your ancestors' place And destroy your yard's trees and plants... If your mother is dear to you And the breast that gave you suck Which hasn't had milk for years But is now where you put your cheek; If you cannot stand the thought Of a German's doing her harm Beating her furrowed face With her braids wound round his arm. And those hands which carried you To your cradle washing instead A German's dirty clothes Or making him his bed... If you haven't forgotten your father Who tossed you and teased your toes, Who was a good soldier, who vanished In the high Carpathian snows, Who died for your motherland's fate, For each Don and each Volga wave, If you don't want him in his sleeping To turn over in his grave, When a German tears his soldier picture With crosses from its place And before your mother's eyes Stamps hobnailed boots on his face. If you don't want to give away Her you walked with and didn't touch, Her you didn't are even to kiss For a long time you loved her so much, And the Germans cornering her And taking her by force, Crucifying her three of them

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Naked, on the floor, with coarse Moans, hate, and blood, – Those dogs taking advantage of All you sacredly preserved With your strong, male love... If you don't want to give away To a German with his black gun Your house, your mother, your wife – All that's yours as a native son – No: No one will save your land If you don't save it from the worst. No: No one will kill this foe, If you don't kill him first. And until you have killed him, don't Talk about your love - and Call the house where you lived your home Or the land where you grew up your land. If your brother's killed a German, If your neighbor's killed one, too, It's your brother's and neighbor's vengeance, And it's no revenge for you. You can't sit behind another Letting him fire a shot. If your brother kills a German, He's a soldier; you are not. So kill that German so he Will lie on the ground's backbone, So the funeral wailing will be In his house, not in your own. He wanted it so – It's his guilt – Let his house burn up, and his life. Let his woman become a widow; Don't let it be your wife. Don't let your mother tire from tears; Let the one who bore him bear the pain. Don't let it be yours, but his Family who will wait in vain. So kill at least one of them And as soon as you can. Still Each one you chance to see! Kill him! Kill him! Kill!12 12

Simenov, K.: Ubej ego! In: Moskva voennaia 1941-1945. Moskow 1995, 259-260. “Если дорог тебе твой дом, / Где ты русским выкормлен был, / Под бревенчатым потолком, / Где ты в люльке, качаясь, плыл... // Если дороги в доме том / Тебе стены, печь и углы, / Дедом, прадедом и отцом / В нем исхоженные полы… // Если

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The poem has seven stanzas, and is rather long (ninety-six lines). It is constructed by pure modeling of the possible and on the enactment of the potential. This shift of modality (the potential becomes, as it were, the actual) plays a pivotal role here. The conventional projection of the potential draws the reader into a state of emotional suspense of sorts; the change of modal perspective changes the optics; the text draws closer to the reader and becomes ‘humanized’. The pictures of what could happen as of what has already happened have a significantly stronger influence on the reader than do simple pictures of what actually has happened. Another aspect is the delay of the call itself to “kill him!” This call occurs in the twenty-fourth quatrain, but the preceding twenty-three quatrains, beginning with “if,” are completely subordinated to it. Constructing the poem on the “if … then” principle, when one part of the construct has a twentyfour to one ratio to the other, allows the poet not only to give tension to the images depicted but also to grammatically reinforce this process of tensionbuilding. The even more intensifying hierarchy of ‘objects’ that the reader should hold dear is also superimposed upon the ‘grammar’: the greatgrandfather’s house (first stanza), the parents (second stanza), the schoolteacher (third stanza), and, finally, the beloved (fourth stanza). The motherland (fifth stanza) figures here as a synthesis of these values. The hierarchy of Simonov’s poem is purely historic: great-grandfather and grandfather, mother and father, childhood (the schoolteacher), maturity (the beloved). Each stanza is constructed according to one and the same principle: the ‘object’ depicted grows abruptly dearer on account of the emphasis laid on its imperfections. The house is old, with a log ceiling, the floors are worn from many footsteps, and the whole structure is more than a hundred years old: but the German will trample the floors, will sit at the grandfather’s table, дороги в доме том / Тебе стены, печь и углы, / Дедом, прадедом и отцом / В нем исхоженные полы… // Если мил тебе бедный сад, / С майским цветом, / С жужжанием пчел, / И под липой сто лет назад / Дедом вкопанный в землю стол... // Если мил тебе бедный сад, / С майским цветом, /С жужжанием пчел, / И под липой сто лет назад / Дедом вкопанный в землю стол... // Если мать тебе дорога, / Тебя выкормившая грудь, / Где давно уже нет молока, / Только можно щекой прильнуть. // Если ты не хочешь отдать / Ту, с которой вдвоем ходил, / Ту, что поцеловать ты не смел – / Так ее любил, / Чтобы немцы ее втроем / Взяли силой, зажав в углу, / И распяли ее живьем / Обнаженную на полу,/ Чтоб досталось трем этим псам / В муках, в ненависти, в крови / Все, что свято берег ты сам / Всею силой мужской любви... // Так убей же немца, чтоб он, / А не ты на земле лежал, / Не в твоем дому чтобы стон, / А в его по мертвом стоял. / Так хотел он – его вина. / Пусть исплачется не твоя, / А его родившая мать, / Не твоя, а его жена / Понапрасну пусть будет ждать. // Если немца убил твой брат, / Если немца убил сосед, – / Это брат и сосед твой мстят, / А тебе оправданья нет. / За чужой спиной не сидят, / Из чужой винтовки не мстят. / Так убей же немца ты сам, / Так убей же его скорей. / Сколько раз увидишь его, / Столько раз его и убей!”

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and cut down the trees in the garden. The mother is old, her breast “hasn’t had milk for years”, and she is wrinkled: but when the German finds her, he will “beat her furrowed face / With her braids wound round his arm”, and the arms that bore you to the cradle will have to wash the German’s clothes and make his bed. The father has died on the front, but he will “turn over in his grave” when the German tears down his picture in uniform and “before your own mother's eyes” stamps his “hobnailed boots on his face”. Your schoolteacher is old, but he educated you: but the German will hang him on a post. The apogee of the tension from what could happen is reached in the stanza about the beloved. Everything is in it: recollection of the innocence and purity of feeling, the scene of rape, and, finally, the appeal to “strong, male love”. Forthright sensuality and eroticism permeate this stanza. Everything is brought into play to affirm the main idea addressed directly to “you” (this pronoun is repeated thirty-six times in the text). All of this will inevitably come to pass (indeed, it seems it might already be happening) if “you” do not kill the German. Simonov devotes a whole stanza to a single idea, the full import of which boils down to the fact that “you” – and only “you”, not your neighbor, not your brother – must do the killing. You cannot escape this killing; you must not hide from it, not even behind your brother. Simonov modeled the situation of the existential inevitability of the individual in wartime through maximal ‘humanization’ of this situation, by making it more immediate for the reader. In this respect, the last stanza is especially striking precisely because of its accessibility to anyone: let him die, not you; let his house burn, not yours; “Let his woman become a widow”, not yours. And only after this intense orchestration of the theme is the famous finale of the poem heard: “kill … / Each one you chance to see!” The force of aggression in this poem is immense: the author’s aggression against the reader is supposed to combine with the reader’s aggression against the enemy. The reader is just as much an object of aggression as is the enemy. Hence the corresponding attitude toward him: a mercilessness like that of a military tribunal, a disregard for individuality in generalization (one stanza speaks of a “beloved” and the next of a wife!). The recipient to whom Simonov’s text is addressed is above all an object of aggression. This is especially obvious in the posters from the early period of the war. Everywhere in them we see slaughtered or wounded children (Fig. 5) who cry out things like “Papa, kill the German!”, “Avenge the tears and blood of our children!”, “Destroy the murderers of our children without mercy!”; destitute mothers and dishonored sweethearts (Fig. 6) who urge the troops on: Red Army fighter! Don’t betray your beloved to shame and disgrace from Hitler’s soldiers!; and imprisoned sisters begging to be freed.

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Evgeny Dobrenko Fig. 5: L. Golovanov, For the honour of our women, for the life of our children, for the happiness of our homeland, for our fields and meadows – Kill the invader-enemy!, Poster, 1942.

Fig. 6: F. Antonov, Red Army soldier! Don’t betray your beloved to shame and disgrace from Hitler’s soldiers!, Poster, 1942.

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The very same motifs are repeated in Soviet painting. These images are so repetitive that the posters themselves ultimately become meta-images, as in the case of the two posters Red Army soldier, save us! and Fight to the death! (Fig. 7). In the second of these posters, the first one appears as a peculiar backdrop: the action depicted makes reference to the source, which is this backgrounded image. This visual circularity leads to a semantic tautology that is particularly obvious in painting, which for the most part continued within the range of poster images. In Arkady Plastov’s painting The German Flew Over (1943), for example, we again see a dead child: a German plane has just flown over, shooting the boy-shepherd. The very pose of the boy, and the autumnal surroundings, both evoke a feeling of profound melancholy (Fig. 8). Fig. 7: V. Korecky, Red Army soldier, save us!, Poster, 1942.

Fig. 8: Arkady Plastov, The German Flew Over, 1942, Tretyakov State Gallery, Moscow.

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But in Sergey Gerasimov’s painting The Partisan’s Mother (1943), we witness a horrible execution scene that depicts simultaneously both resistance and futility. This is one of the most famous of all Soviet wartime paintings. The most interesting thing in these paintings – despite all their differences – is the preservation of the poster-like quality: as the paintings of individual painters, they evoke simultaneously an oppressive sensation of pity and a ‘noble wrath’. These images are of course more complex, but their aim is still mobilizational. And their strategy – the same as it is in literature – is that of testimony. Typical in this respect is the postwar painting of the Kukryniksy, Testimony at the Trial (1945-46), in which these visual images are set into a prosecutorial trial discourse (Fig. 9). Fig. 9: Kukryniksy, Testimony at the Trial, 1945-46, Tretyakov State Gallery, Moscow.

Wartime culture is grounded in paradox. On the one hand, it demands a peculiar psychologism that, as we have seen, lies at the heart of the suggestiveness of these texts. On the other hand, it is anti-psychological. As Ilya Ehrenburg observed, “War does not allow nuances, it is built on black and white, on selfless devotion and on crime, on bravery and on cowardice, on self-oblivion and on turpitude. Anyone to whom it might occur to complicate the psychology of the enemy would knock the rifle from the hands of his own defender.”13 “The ink flows like blood and even if I had the dismal imagination of the devil himself”, wrote Aleksey Tolstoy in his article The Face of Hitler’s Army, “I wouldn’t be able to dream up the kind of revelries of torment, mortal screams, rapacious tortures and killings that have all become an everyday 13

Erenburg, I.: Dolg pisatelia. In: Novyi mir 1943, № 9, 114. “Война не допускает нюансов, она построена на белом и на черном, на подвижничестве и на преступлении, на отваге и на трусости, на самозабвении и на подлости. Тот, кто вздумал бы усложнять психологию врага, выбил бы винтовку из рук своего защитника.”

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phenomenon in areas of the Ukraine, Belorussia, and Great Russia, where the Fascist German hordes have invaded.”14 This ‘dismal imagination of the devil himself’ immerses us into a world of sadomasochistic mysteries in which the depiction of scenes of violence predominates. Alexander Korneichuk in his article entitled Terrible Retribution is Inevitable reports scenes like this: There were three officers living at Timofei Globa’s house. His daughter Galya hid among the orchards and gardens but didn’t escape. A fascist caught her. Hearing the screams of his daughter, the ailing Globa ran outside and struck her attacker with his crutches. Two more bandit-officers ran out of the hut and gathered up the soldiers, and they seized Galya and her father. They stripped the girl and humiliated her in a beastly fashion, all the while holding her father in a way that he would see all of this. They put out her eyes, cut off her right breast, and stuck a bayonet in her left one. Then they stripped Timofei Globa as well, set him atop his daughter’s body, beat him with ramrods, and shot him. … [I]n another village, the Germans hanged four kolkhoz women and hanged the son of one of them from her legs.15

Scenes such as these constituted the basis of the poetics of wartime literature and art. Short stories and epic poems, paintings and posters (especially in the earlier period of the war) are all full of imagery of unbelievable violence. In them, eyes are put out and skulls are crushed; they depict children’s corpses, rapes of young girls, beatings of old men and women. Corpses are jeered at and impaled on stakes; women are bayoneted, their stomachs are ripped open, their breasts cut off, and then their heads; they are left to lie in pools of blood alongside the corpses of their murdered children. Mothers are raped before the eyes of their children and parents; children are thrown into fires or buried alive before their mothers’ eyes; arrested Red Army men have their arms cut off, their eyes poked out, and their tongues cut out, and then fivecornered stars are made of the stumps and stuck back on. 14

Tolstoi, A.: Litso gitlerovskoi armii. In: Id.: Polnoe sobranie sochinenii. Vol. 14. Moscow 1950, 129. “Чернила наливаются кровью, и, будь у меня угрюмая фантазия самого дьявола, – писал Алексей Толстой в статье "Лицо гитлеровской армии", – мне не придумать подобных пиршеств пыток, смертных воплей, мук, жадных истязаний и убийств, какие стали повседневным явлением в областях Украины, Белоруссии и Великороссии, куда вторглись фашистско-германские орды.” 15 Korneichuk, A.: Groznaia rasplata neminuema. In: My ne prostim! Slovo nenavisti k gitlerovskim ubitsam. Moscow 1941, 14. “У Тимофея Глобы жили три офицера. Дочь его Галя пряталась по огородам и садам, но не спаслась. Фашист поймал ее. На крик дочери выбежал больной Глоба и костылем ударил насильника. Из хаты выбежали еще два бандита-офицера, созвали солдат, схватили Галю и ее отца. Девушку раздели и зверски над ней издевались, а отца держали, чтобы все видел. Выкололи ей глаза, правую грудь отрезали, а в левую вставили штык. Потом раздели и Тимофея Глобу, положили на тело дочери, били омполами и застрелили... в другом селе немцы повесили четырех колхозниц и на ногах одной из них – ее сына.”

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Here we find ourselves in a pure space of perverted violence. The endless detailed depictions of sufferings and executions are designed to dialectically reverse the perspective of the picture, through a principle of concentrated rapid-fire repetition: the viewer or reader is transformed into the object of extreme violence. This terrorist discourse is that of the executioner passed off as the voice of the victim. And, in fact, what we actually perceive is the language of the victim, a language that Soviet literature had never before spoken; the victimization here is above all a demand made of the soldier. And the depiction of violence here is always accompanied by a call for revenge and for punishment of the criminal. The victim never acknowledges himself (or herself) a victim; on the contrary, the victim displays not only his/her moral strength but also the ability to conquer and punish the oppressor. In wartime literature we almost never hear the voices of the victims themselves. They are mute; they entrust their pitiful, terrible stories to the ‘witnesses’, that is, to the writers. Small children are naturally mute, and that is why the stories about the killings of children are so widespread. Apart from everything else, the stories about torture of children are particularly capable of influencing the reader; this is because the child does not understand what is about to happen to him/her and is unarmed and defenseless, which of course means that s/he cannot by any means become an executioner. As we have seen, this scenario was often repeated in the posters. It was very popular in wartime literature as well. Since the unarmed, defenseless victim incites the oppressor in a particularly strong fashion, the incitement, on being transferred to the reader/viewer, is intensified. Images of tormented children permeate all wartime Soviet poetry and prose. Vanda Vasilevskaya’s novella Rainbow, which was about the partisan struggle in Western Ukraine, had many millions of readers, as it was published in Izvestiia. To give you an idea of the degree of naturalism in this story, we will turn to a single scene. The partisan Olena, who winds up in prison with her newborn child, is pressured to confess where the other partisans are hiding, but does not answer. The interrogation turned out to be her last: “Her face was yellow – an inhuman, repulsive yellowness pervaded it. A rivulet of blood flowed from her chapped lips and dried on her chin. Under her eye, an enormous bruise, which was black, red, and purple, was spreading. It looked like one eye had had rolled back in her head.”16 This is the portrait of the heroine when the German officer is trying to persuade her to tell the truth. Finally, he threatens to kill the child. The 16

Vasilevskaya, V.: Raduga. Moscow 1947, 115. “Лицо, желтое нечеловеческой, отталкивающей желтизной. Из растрескавшихся губ вытекла струйка крови и засохла на подбородке. Под глазом расплывался огромный кровоподтек, черный, красный, лиловый. Казалось, один глаз сдвинулся вверх.”

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whole scene is built on contrast: the terrifying German and the “peacefully sleeping tiny creature”, the “tiny little son, naked, with his legs drawn up to his stomach”.17 The officer grabs him “by the scruff, like a puppy, and held him aloft with two fingers. The tiny little feet fluttered in the air – wee little toes with transparent toenails that were pink like the petals of a flower”. And then “A shot rang out. Right into the tiny little face. There was a smell of gunpowder and smoke. The tiny little feet hung lifelessly, as did the little fists that were so, so tightly clenched. There was no face any more – a bloody wound yawned in its place… The captain noticed that blood was dripping from the child’s body to the floor. He shuddered in disgust. ‘Take this out of here!’… She did not hear him, did not respond. After all, everything was finished, everything. Her little son, for whom she had waited twenty years, didn’t exist anymore.” Then they take her, barefoot, out to the frozen-over river, to shoot her: Over the past four days, her feet had gotten covered all over with sores and abscesses, and had turned into bloodied meat with strips of skin hanging from them… Her feet, wounded all over, slipped on the ice, and little pieces of ice got stuck in the swelling holes… Unbearable pain tore her to the pit of her stomach. She felt warm rivulets of blood flowing down her legs… She clutched the tiny little dead body tightly to her breast. It was still warm, and the little arms and legs were not yet stiff. It wouldn’t be so terrible, if it weren’t for what was left instead of the face… “Give me the brat!”, the escort bellowed. Frightened, she clutched the tiny little dead body tightly to her breast. “Hand it over!” The tiny little body flew down into the snow. Olena fell to her knees beside it. Along the way, the little sticks of the toes had already turned blue; the little feet were blue, too, and the pink tinge of the skin had disappeared. The blood on what just an hour ago had been the little face had turned black and congealed in blackish clots. Before she could manage to pick up the little corpse, the soldier hooked it with his bayonet and threw it up in the air. The child fell at the very edge of the ice hole. Somebody else ran up and bayoneted the little one again, and threw him up again. This time he hit the mark--the water swallowed up the body… Werner took a step backward and then, with all his might drove home the bayonet into the woman’s back; she was still on her knees. She fell face-down at the edge of the ice hole… The captain yanked out the bayonet and drove it home again. The woman shuddered, then sprawled motionlessly on the snow-covered ice. The strands of her disheveled hair hung down, touching the water… The soldiers came running up and started to shove the body along with their buttstocks. The ice hole was too small: her head fell into the water, but her arms were sticking out along the sides… The soldiers pushed her arms in close and stuffed her by force under the ice, into the water; she was immersed to the chest, then to her stomach. Then they shoved her with their boots… only her swollen blue legs, which were now totally unlike a

17

A child killed in front of the eyes of her mother is a theme, spread during the RussianOttoman War 1877-78. See: Dostoevsky, F.M.: Sobranie sochinenii v deviati tomach. Tom sed’moi. Brat’ya Karamazovy. Moscow 2004, 366.

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human’s, were still sticking out from the ice hole. They beat these horrible deformed stumps with their buttstocks…18

This horrifying passage is only one of many. Children and women are murdered in Vasilevskaya’s novella. Scenes of violence, each one more horrifying than the last one, go from one book to another, from one poem to another, from one film to another. Mark Donskoy’s 1944 film Rainbow was based on Vasilevskaya’s book. The film, which brutally and naturalistically told the story of the unbelievable suffering and death of the pregnant partisan Olena Kostyuk (the role was played by the great Ukrainian actress Nataliya Uzhviy), became a classic of not only Soviet cinema but also of world cinema. It was hugely influential on Italian Neo-realism, and won not only a Stalin Prize, but also the American Association of Film Critics award. 18

Vasilevskaya, Raduga, 123-128, 131-132. “[...] спокойно спящее крохотное существо [...] маленький сыночек, голенький, с поджатыми к животу ножками, [которого офицер схватил,] как щенка за шиворот и двумя пальцами поднял вверх. В воздухе затрепыхались маленькие ножки, крохотные пальчики с прозрачными, розовыми, как цветочные лепестки, ногтями. [И вот –] грянул выстрел. Прямо в маленькое личико. Запахло порохом и дымом... Маленькие ножки безжизненно повисли, повисли крепко-крепко стиснутые кулачки. Личика не было - вместо него зияла кровавая рана... Капитан заметил, что из тела ребенка каплет на пол кровь. Он вздрогнул от отвращения - Вынести это!.. Она не слышала, не отвечала. Ведь все, все было кончено. Не было больше сыночка, которого она ждала двадцать лет... [...] Ноги за эти четыре дня покрылись сплошными ранами, нарывами, обратились в кровавое мясо с висящими лоскутьями кожи... Израненные ноги скользили по льду, мелкие льдинки впивались в опух ее тело... Невыносимая боль разрывала низ живота. Она чувствовала, как теплые струйки крови стекали по ногам... Она прижала мертвое тельце к груди. Оно было еще теплое, ручки и ножки еще не окоченели. Если бы не это страшное, что осталось вместо лица... – Давай щенка! – заорал конвоир... Она испугано прижала мертвое тельце к груди... – Давай! – ...маленькое тельце полетело на снег. Олена упала на колени около него. За дорогу уже посинели пальчики, посинели маленькие ноги, исчез розовый оттенок кожи. Кровь на том, что еще час назад было личиком, почернела и застыла черными сгустками. Прежде чем она успела поднять трупик, солдат поддел его штыком и подбросить вверх. Ребенок упал у самой проруби. Подбежал другой, снова поддел крошку на штык и снова подбросил. На этот раз метко – вода хлюпнула... Вернер отступил на шаг и изо всех сил воткнул штык в спину стоявшей на коленях женщины. Она упала лицом на край проруби... Капитан с усилием вытащил штык и воткнул еще раз. Женщина вздрогнула и неподвижно вытянулась на покрытом снегом льду. Пряди растрепанных волос свисли вниз, коснулись воды... Солдаты подскочили и стали прикладами сталкивать тело. Прорубь была мала, голова упала в воду, но руки торчали по сторонам... Солдаты выламывали ей руки, силком запихивали ее под лед, в воду, она погрузилась по грудь, потом по живот. Теперь они сталкивали ее са-погами... из проруби торчали только синие опухшие ноги, уже совсем не похожие на человеческие. Они били прикладами по этим ужасным, изуродованным культяпкам...”

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Soviet wartime culture is, more than anything else, a whole symphony of hatred. In it, the principal theme was richly orchestrated; it has a wealth of sophisticated key changes, and the instrumentation was brilliant. It is so well expounded and argued that this art might well be called not only an apologia for hatred. Literature in this instance, of course, merely repeats the ideological turns of the regime. Therefore, let us turn to an article in the journal Propagandist for an example. The article was published at the very height of the Battle of Stalingrad: A hut was ablaze, set afire by Germans. A one-year-old girl was still inside. Her twelve-year-old brother threw himself into the burning hut and brought out the child he managed to save. Then a German officer turned to the little boy and said, “Good boy! Show me!” But when the boy naively stretched out the bundle to him, the officer held the little girl high up in the air, stepped forward to the hut, and threw her straight into the flames… He could perform this horrible act of cruelty only because he is a German… This unfettered cruelty is not a personal trait of the officer who threw the child into the flames. It is a family trait. And not only a family trait. None of the German soldiers who were present at this scene even turned around, since all of them were no different at all from the accursed child murderer. But what about their wives, sisters, and mothers? A German woman who writes to her husband, “The children’s boots have arrived. If they are bloody, we can still just wash the blood off,” is just as much a devil incarnate as all these Erichs and Adolfs are. Enslavement of peoples has become the universal ideology of the Germans; pillaging and profiteering, their passion; murder, their profession; defilement and cruelty, their source of delight. The insatiable hunger for supremacy, blood, and violence has obsessed the German banker and the German schoolteacher, right along with the shop supervisor and the Gestapo man, the mothers of families, and Frau Klink… And German soldiers can no longer be separated out into workers, peasants, and intelligentsia: they are all robbers and beasts who bring death, poverty, and slavery to the peoples of the world. We cannot and must not assume that with new and changed circumstances the Germans could be any different. For now, instead of living Germans we want to see their corpses. And the more German corpses there are, the fewer human corpses there will be; and the more German-Fascist blood that is shed, the less human blood will be shed… There is nothing more human and more moral than to foster in yourself and in others a hatred and contempt for the German-Fascist blackguards. With this sacred feeling the moral courage of our army and of our people will grow.19 19

Grigor’ev, G.: O roli moral’nogo faktora v bor’be za razgrom vraga. In: Propagandist 1942, № 13-14, 35. “Пылает изба, подожженная немцами. В ней осталась годовалая девочка. Ее братец двенадцати лет, бросается в горящую избу и вы-носит оттуда уцелев его ребенка. Тогда немецкий офицер обращается к мальчику и говорит ему: “Ты есть молодец... Покажи!” А когда мальчик доверчиво протянул ему сверток, офицер высоко поднял девочку, шагнул вперед к избе и вырнул ее прямо в огонь... Он мог совершить этот страшный акт жестокости только потому, что он немец... Беспредельная жестокость – не личная черта офицера, бросившего ребенка в огонь. Она у него фамильная. И не только фамильная. Никто из присутствовавших при этой сцене немецких солдат даже не отвернулся, так как все они ничем не отличаются от проклятого детоубийцы. А их жены, сестры, матери? Немка,

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This text requires no particular comment: it is purely anti-German material. Characteristically, the class/internationalist rhetoric is not simply absent: it is explicitly rejected. In March, 1943, Ilya Ehrenburg penned an article with the typical title With His Blood. In it, he reproduced some fragments of a letter by the fallen German noncommissioned officer Karl Peters that describe the war and relate how Peters burned villages and killed Russians. Ehrenburg writes: I will repeat the words spoken in the most horrific days of last summer: Kill! Kill Karl Peters. Kill a German. He must not remain alive. The earth doesn’t want to harbor villains. Kill a German so that he won’t burn another hundred villages. Kill a German to save thousands of innocent people… Kill a German for everything he has done and for everything he wants to do. Kill a German if your son was killed. Kill a German if your son is alive: a German will try to kill him. If Karl Peters has not killed your son, remember this: Karl Peters will have a son, and this son will become a grenadier, an incendiary, and a murderer. Let’s make sure Karl Peters has no son… Everyone who actually loves humanity, all true humanists, all genuine peace-loving people will all tell you, “Go there, into the brigand’s nest, into the land of the cannibals, to Karl Peters’ house!” There you will find redemption. There justice will write its sentence: by iron, fire, and blood. Kill Karl Peters today… Kill him: your conscience demands it. He must not escape. There’s more than way to grow roses and nurse children, but what will you soothe your enraged conscience with? With one thing only: his blood.20

которая пишет мужу: “Пришли детские ботинки. Если они будут в крови, так ведь кровь можно смыть”, – такое же исчадие ада, как и все эти Эрихи и Адольфы. Порабощение народов стало всеобщей идеологией немцев, грабежи и нажива – их страстью, убийства – их профессией, надругательства, жестокость – их наслаждением. Ненасытная жажда к господству, крови, насилию свела вместе немецкого банкира и немецкого учителя, заводского мастера и гестаповца, мать семейства и фрау Клинк... И немецких солдат не приходится делить теперь на рабочих, крестьян, интеллигенцию: все они грабители и звери, несущие народам мира смерть, нищету и рабство. Мы не можем и не должны исходить из того, что при новых, измененных обстоятельствах немцы могут стать иными. Пока мы хотим видеть вместо живых немцев их трупы. И чем больше будет немецких трупов, тем меньше будет человеческих трупов, и чем больше прольется немецко-фашистская кровь, тем меньше будет пролито человеческой крови... Нет ничего более человечного и более нравственного, как воспитывать в себе и в других ненависть и презрение к немецкофа ист-ским мерзавцам. На этом святом чувстве будет расти моральный дух нашей армии и нашего народа.” 20 Erenburg, I.: Ego krov’iu. In: Id.: Voina (aprel' 1943 - mart 1944). Moscow 1944, 149150. “Я повторяю слово, сказанное в самые страшные дни прошлого лета: убей! Убей Карла Петерса. Убей немца. Его нельзя оставить живым. Земля не хочет носить злодеев. Убей немца, чтобы он не сжег еще сто деревень. Убей немца, чтобы спасти тысячи невинных... Убей немца за все, что он сделал, и за все, что он хочет сделать. Убей немца, если твой сын убит. Убей немца, если твой сын жив: на него покушается немец. Если твоего сына не убил Карл Петерс, помни: у Карла Петерса будет сын, и этот сын станет гренадером, факельщиком, убийцей. Пусть не будет сына у Карла Петерса... Все, кто действительно любит человечество, все

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In Soviet wartime culture the authorities, the masses, and art all stood face to face in this humanized ‘nakedness’ without any ideological face-painting. And this is precisely when the pre-war alienation of art from the regime and the masses was overcome. The circumstances of the war forced art and literature, for perhaps the first time ever, to briefly depart from the hallowed Socialist Realist conventions. With a wartime affectation, the regime and the masses began to speak (and shout) with a new, human voice. For a short while, art suddenly ceased to be a simple ritual. The horrifying and threatening reality of the war burst mightily into it. It was a triumph of estrangement: this reality succeeded in making the Socialist Realist canon something ‘strange’, something ‘unfamiliar’. It was not art that made life ‘strange’; on the contrary, life made art ‘strange’. This estrangement was, like an eruption, abrupt and unexpected. Life, in its most brutal forms, for a brief time, cut through the fog of Stalinism. When the war ended (or even as it was still drawing to a close), Stalinism came back to the aesthetic conventions of the 1930s, which were even more intensified in the Zhdanov era. Nevertheless, despite the policy of replacing war with victory in the late Stalinist era, the war experience remained in Soviet culture forever. It became a constant reminder that behind the aestheticized façade of Stalinism, there existed a reality that through its horror had at least once broken though this façade. A decade afterwards, in the post-Stalin era, a “new truth about the war” in literature, film, and painting would begin to enter this breach. It would constantly make use of the images of violence, suffering, and victimization that we find in a wartime culture. It is just this existential experience that would become the core of not only late Soviet memory but also of postSoviet historical consciousness. The latter is entirely based on references to The War and The Victory. This experience was needed again, at the time that the heroic Soviet era ended in the bitterness of historic defeat, when the national psyche, traumatized by the breakdown of empire, needed a new identity. This new identity is based on a hybrid of greatness and selfsacrifice, of heroism and suffering; an everyday life permeated with violence requires moral justification and historicization. This is especially true when no unquestionably positive event remained in twentieth-century Russian history except Victory in the War; and the greatness of this victory is the bedrock of the state ideology of contemporary Russia. Soviet wartime art which was the art of horror is the underlying foundation of post-Soviet истинные гуманисты, все подлинные миролюбцы, все они скажут: туда, в гнездо разбойника, на землю людоеда, в дом Карла Петерса! Там будет искупление. Там справедливость напишет свой приговор: железом, огнем, кровью. Убей Карла Петерса сегодня... Убей: этого трбует совесть. Он не должен уйти. Можно поразному растить розы и нянчить детей. Но чем укротирь разгневанную совесть? Одним: его кровью.”

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horror of art. So when one contemplates the political discourse in Russia over the last decade, when one examines post-Soviet art and literature, and when one looks at contemporary Russian cinema, then one will understand that the ‘art of hatred’ is almost the only aspect of the political/aesthetic practice of Stalinism that is still relevant today.

MARK LIPOVETSKY

The Pathos of Soviet Thanatology A Case of Alexander Fadeev’s The Young Guard Alexander Fadeev’s novel Molodaia gvardiia (The Young Guard), written in 1943-45, obviates a number of tendencies characteristic of the Soviet culture of the war period. Most importantly, it illuminates new aspects of Soviet ideology reflecting war experience, especially, the experience of the civil population’s life under the Nazi occupation. Having been published chapter by chapter in various journals and newspapers since 1945 and released as a book in 1946, Fadeev’s novel not only was awarded the Stalin Prize of the First Degree, but also had a print run of about two million copies by 1949. Characteristically, in this case, the state acknowledgement of the novel has coincided with the readers’ sincere interest in The Young Guard. In this article I will discuss peculiarities of its pathos, which in my view solidified the thanatology of Soviet culture by presenting it as the cornerstone of the Soviet identity. In 1947, Sergei Gerasimov, already a famed film director and professor at VGIK (All-Union Institute of Cinematography), produced with students in his course a theatrical version of The Young Guard on the stage of the Theatre-Studio of Cinema Actors in Moscow. Simultaneously, Gerasimov started working on the film production of The Young Guard with the same cast (which introduced a whole new generation of future Soviet movie stars such as Nonna Mordiukova, Viacheslav Tikhonov, Evgeny Morgunov, Inna Makarova among others); the film was released in 1948 and enjoyed sensational success.1 However, it was the theatrical production that changed the official perspective on Fadeev’s novel. On 3 December 1947, Pravda published an editorial Molodaia gvdardiia – v romane i na scene (The Young Guard on page and on stage), which maintained that Fadeev had downplayed the Party’s leadership in relation to the youth anti-fascist resistance in occupied territories. Automatically, other Soviet newspapers and journals reproduced these rebukes. As a soldier faithful to the party, Fadeev started revising the novel, while holding the position of the First Secretary of the Union of Soviet writers. The second edition was eventually published in 1951: the novel had ten new chapters and a new plot line involving Filipp Petrovich Liutik-

1

http://www.russkoekino.ru/books/ruskino/ruskino-0048.shtml (01.01.2016).

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ov, an old Party functionary, who remained in Krasnodon to organize the underground resistance.2 The first edition of The Young Guard effectively highlighted the initiative of teenagers, who either immediately after graduating school or while still in school found themselves under enemy occupation. At their own will, without any ‘guiding and directing’ adult force, and without any experience, they started the underground war against the Nazis and conducted it quite successfully. Tellingly, in this version of the novel the Gestapo quickly eliminated the ‘adult’ underground resistance due to the shortsightedness of the Party functionaries they relied on a person (Ignat Fomin) who betrayed the entire organization. In the new version of the novel, Liutikov re-appropriates all initiatives that the Young Guard carried out in the first edition. Now it is he who creates the Young Guard as a youth branch of the ‘adult’ underground organization. And it is he who serves as a warrant of its subjugation to the strict Party control: And then you’ve understood correctly that our Party organization could well do with a youth group attached to it. That’s really what I came to see you about. And now as we’ve already reached agreement on that point here’s some advice for you, or an order if you like: take no action without consulting me – otherwise you might get killed and spoil things for us. I myself am not working on my own initiative, I take advice, too. I ask my comrades for advice or else the people who are supervising our work; we’ve got them right here with us in Voroshilovgrad Region. You can tell your three friends this and you too must ask each other’s advice.3

As a result, the second edition of The Young Guard reads as an exemplary Socialist Realist novel, in which ‘sons’ and ‘daughters’ of the Great Soviet Family under the wise leadership of ‘fathers’ raise to heroism. If in the first 2

For a detailed comparison of the two editions of Fadeev's novels see: Manukian, O.G.: Dve redaktsii romana A. Fadeeva “Molodaia gvardiia”: istoriia i obraznye aktsenty. Moscow 2005. See also: Sarnov, B.: Stalin i pisateli. Book 4. Moscow 2011, 364-384. 3 Fadeyev, A.: The Young Guard. Transl. by V. Dutt, ed. by D. Sevirsky. Honolulu 2000, 261. Hereafter, all quotes in translation are cited by this edition with page number in parenthesis after the quote. “Ты очень разумно рассудил: надо дать понять каждому своему человеку, что за всеми нашими делами партия стоит, – продолжал Филипп Петрович, рассуждая уже как бы сам с собой. Умные, строгие глаза его прямо, спокойно глядели в самую душу Володи. – А потом ты правильно понял, что при нашей партийной организации хорошо иметь свою молодежную группу. Я с этим собственно и шел к тебе. И если уж мы об этом договорились, один вам совет, а если хочешь, – приказ: никаких действий, не посоветовавшись со мной, не предпринимайте, – можете и себя погубить и нас подвести. Я ведь и сам единолично не действую, а советуюсь. Советуюсь и с товарищами своими и с людьми, что поставлены над нами, – есть такие люди у нас, в Ворошиловградской области.” Fadeev A.: Sobranie sochinenii. In 5 vols. Vol. 2. Moscow 1959, 207. Hereafter, all original quotes are cited by this edition with page number in parenthesis after the quote.

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version of the novel the entire group of the Young Guard members functions as a collective protagonist, in the second edition the writer puts the figures of two leaders in the forefront: Liutikov and Oleg Koshevoi, the commissar of the Young Guard – symbolic father and son.4 In the wartime, the glorification of the youth’s initiative and courage was in high demand as an uplifting and mobilizing example. However, in the postwar years, the self-reliance and initiative of youngsters presented a potential threat to the symbolic (and consequently, political) hierarchy. As Katerina Clark has demonstrated, in Socialist Realist mythology, although ‘fathers’ oversee the ‘sons’’ growth, the latter never takes the place of the former: the place of power remains sacral and, thus, unchangeable.5 The first edition of The Young Guard obviously jeopardized this paradoxical principle of Soviet ideological system, while the novel’s second edition has safely restored it. This is why the second edition of the novel was officially established as a canonical version and in this capacity was republished hundreds times afterwards. By contrast, liberal Soviet intelligentsia has lionized the first version of The Young Guard (after the 1940s it was reprinted only in the 1990s), as a more spontaneous, sincere and passionate book, which, perhaps, even does not belong to Socialist Realism. This point of view was first articulated by Konstantin Simonov in his obituary for Fadeev who committed suicide in 1956.6 The Young Guard as a youth anti-fascist underground organization with a membership of more than 100 teenagers actually existed in Krasnodon from 1942 to 1943 and was brutally persecuted by the Gestapo.7 A special commission started investigating the group’s activity immediately after the liberation of the town in spring of 1943. During the same year, Fadeev came to Krasnodon and was commissioned to write about the Young Guard by the Central Committee of the Young Communist League.8 In his interpretation of the group’s fate, the writer heavily relied on the commission’s conclusions, which had mistakenly identified the group’s traitor (the mistake was fixed only in 1959, when Fadeev’s novel was already canonized). When in Krasnodon, Fadeev met relatives of executed Young Guardists and interviewed a few surviving members of the organization. 4

The logic of the rite of passage as foundational for Socialist Realism was first detected by Katerina Clark in her analysis of The Young Guard. See: Clark, K.: The Soviet Novel: History as Ritual. Chicago 1981, chapter 7. 5 Clark, The Soviet Novel: History as Ritual, 117. 6 Simonov, K.M.: Pamiati A.A. Fadeeva. In: Novyi mir 6 (1956), 3-6. 7 A large number of sources and documents on Molodaia Gvardiia can be found on following websites: http://molodguard.ru/index.htm; http://www.fire-of-war.ru/mg/index.htm (01.01.2016). 8 Apukhtina, V.A.: Primechaniia. In: Fadeev, Sobranie sochinenii, 557-559.

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Yet, the most crucial source of Fadeev’s novel can be found in a book Serdtsa smelykh (Hearts of the Brave) written by two journalists, M. Kotov and V. Liaskovskii.9 Fadeev borrowed not only the set of central characters and narrative composition from this book, but also specific episodes. In general, this book reads as a journalist outline of the novel. The comparison to it highlights the direction of Fadeev’s transformation of the factual material. As opposed to stereotypical Komsomolists as represented by Kotov and Liaskovsky, the writer molded the members of the Young Guard as ideal romantic characters born for heroic feats and self-sacrifice. In agreement with this approach, Fadeev describes his characters in a language of sentimental/neo-Romantic belles lettres of the late 19th century from the very beginning of the novel. (Possibly, his style was influenced by the language of the Russian translation of Ethel Lillian Voynich’s novel Ovod (The Gadfly, 1897), which was sensationally popular in Russia during the pre- and postrevolutionary periods alike). This is how Fadeev describes his positive characters: “She had wavy black hair gathered in plaits emphasizing the whiteness of her blouse, and her lovely, dark eyes were so alight with sudden radiance that she herself was not unlike the water-lily reflected in the shadowed water” (11); “drawn by a secret, girlish adoration of Maya Peglivanova whom she trailed alter, as the girls put it, ‘like the threat after the needle’”(20); “she had a sudden mental picture of this girl swaying to the strains of a waltz. She could even hear the tune played by a brass band. The vision made her heart contract with sweet, sudden pain, as in a dream of happiness” (26); “A man getting on in years dressed in unbecoming overalls, his face and hands black with coal-dust, he nevertheless gave the impression of being well-built, strong and goodlooking in an old Russian way” (31); “The mother was old and her back was bent, but her hair was still black; her dark eyes were still beautiful and, although she was a little woman, made one think of some huge wild bird” (47); “There were only those full, cool soft arms round his neck and that roughly passionate, tear-soaked kiss on the lips” (91); “For a moment nobody knew what to say. Then Volodya had burst into tears and kissed Tolya and a second later they were all filled with happy excitement” (102); “now a sweet pang shot through his heart, now his whole being was suffused afresh with the savage urge for battle mounting in his blood” (158); “There was something artless and beautiful like life itself about this girl, lying in a garden with an open book in her hands on one of the most terrible days since the world began” (160); “He looked at her strong, brown legs with the golden down on them. A wave of warmth filled his heart” (193); “Their hearts were full of 9

Kotov, M./Liaskovskii, V.: Serdtsa smelykh. Moscow 1944. Available on a website dedicated to The Young Guard. See: http://www.molodguard.ru/book20.htm (01.01.2016).

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reverent awe as they tiptoed over the floor of one of the class-rooms to the corridor” (193); “Like a mother eagle with an eagle fallen from the nest she hovered round her boy” (225), etc.10 As if the action of The Young Guard takes place not in 1942 but in 1812, retreating Red Army soldiers say about Uliana Gromova: “may God and the whole Church of the True Faith preserve her beauty” (64), adding “we need a girl like that, believe me, to teach us to speak properly and improve our manners…” (65).11 Not by accident, Ivan Zemnukhov writes poetry reminiscent of the abloom lyrics of the 19th century: “Ahead of us the road through life / We have no fear or qualm!/ No passions of a nameless strife/ Assail our conscience calm” (107).12 Notable is the first appearance of a romantic hero, Oleg Koshevoi, who, in a suit and with a necktie, imperturbably stops horses running rampant: Seizing the reins close to the bit of one of the snorting bays with one hand, he placed between the horse and the middle shaft, leaning heavily against the animal to avoid being bruised by the shaft. There he stood, tall and unruffled, in a well-pressed grey suit and dark red tie, with the white, ivory end of a fountain-pen protruding from his breast pocket. With the other hand he was straining over the middle shaft, endeavoring to grasp the reins of the second horse. Only the muscles bulging through the sleeves of his jacket and the veins standing out at the brown wrists showed the strain he was putting on himself […] As soon as he managed to grasp the reins of the second horse both animals began to quieten under his control. They still tossed their ma10

“девушка с черными волнистыми косами, в яркой белой кофточке и с такими прекрасными, раскрывшимися от внезапно хлынувшего из них сильного света, повлажневшими черными глазами, что сама она походила на эту лилию, отразившуюся в темной воде” (3); “она была тайно, по-девичьи, влюблена в Майю Пегливанову” (13); “Уля в каком-то мгновенном озарении увидела эту девушку кружащейся в вальсе. Уля слышала даже музыку вальса, исполняемую духовым оркестром, и это видение вдруг больно и сладко пронзило сердце Ули, как видение счастья” (19); “чувствовалось, что он хорошо сложен и крепок, и красив старинной русской красотой” (24); “Мать все еще была чернява, хотя и стара и начала гнуться к земле. Она была чернява, и черные глаза у нее были красивые, как у большой дикой птицы, хотя сама она была маленькая” (31); “охватила его шею своими большими полными, прохладными руками и страстно прильнула к его губам” (74); “этого терпкого, страстного, смоченного слезами поцелуя на губах его” (75); “потом Володя прослезился и стал целовать Толю Орлова, и всеми овладело радостное возбуждение” (87); “все его существо снова захлестывалось жестокой жаждой боя, кипевшей в его крови” (143); “что-то наивное и прекрасное, как сама жизнь, было в этой девушке с раскрытой книгой в сады в один из самых ужасных дней существования мира” (144); “теплая волна прошла у него по сердцу… сердца их благоговейно замерли” (175); “как орлица над выпавшим из гнезда орленком, кружила она над своим сыном” (204). 11 “храни господь и православная церковь ее красоту” (48); “нам такая девушка очень нужна для прививки настоящей речи и благородства поведения” (49). 12 “Бегут мятежной чередою/Счастливой юности лета, / Мечты игривою толпою, / Собой наполнили сердца” (92).

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nes and rolled their wild eyes in his direction, but the youth kept his hold on the reins until they were perfectly calm. Then he let fall the reins and, to Ulya’s great astonishment, began with his big hands to smooth his sleek fair hair, the side parting of which had scarcely been disturbed. Then he raised his sweaty, boyish face with its prominent cheek-bones, large eyes and long dark lashes and beamed broadly. (56)13

Numerous authors’ highly emotional appeals to the readers along with socalled “lyrical retardations” reinforce this stylistic trend: “I remember your hands, mother mine, from the first moment I was conscious of being alive in the world…” (60);14 “How would you conduct yourself, dear reader, if you had an eagle’s heart full of courage and daring and a burning desire to perform heroic deeds, yet you were still a small boy running about with bare feet with scratches on your legs…” (130);15 “Have you ever, dear reader, stayed at night in the depth of a forest or found yourself alone in a strange land, or faced danger alone?” (269).16 Paradoxically, these romantic clichés do not contradict Tolstoy-like repetitions of a same descriptive details, also broadly used by Fadeev – e.g., blue and shining eyes of Lyubov’ Shevtsova, golden eye-lashes of Oleg Koshevoy, Uliana’s “curious cut of the nostrils, the long shapely brown legs”, Oleg’s grandma’s similarity to Dante, etc. All these elements taken together produce the effect of the old-style literariness and illuminate the novel’s characters with a light of peculiar stylized aristocratism. Sporadically, Fadeev emphasizes the Soviet features of his heroes, failing to notice comical effects of these accents in combination with their emphatic 13

“Схватив сильной рукой одного храпящего коня за вожжу у самых удил, юноша стоял между конем и дышлом, больше напирая на коня, чтобы не быть сшибленным дышлом. Юноша стоял, рослый, аккуратный, в хорошо выглаженной серой паре с темно-красным галстуком и выглядывавшим из карманчика пиджака белым костяным наконечником складной ручки. Другой рукой он поверх дышла пытался поймать за вожжу другого коня. Только по вздувшемуся под серым пиджаком бугру мускулов и по резко обозначившимся жилам у загорелой кисти руки, которой он держал коня, видно было, каких усилий это ему стоило. […] И в тот момент, как ему удалось схватить за вожжу другого коня, оба коня вдруг сразу присмирели в его руках. Они еще встряхивали гривами, косясь на него звериными очами, но он не отпускал их, пока они вовсе не притихли. Юноша выпустил вожжи из рук, и первое, что он сделал, к немалому удивлению Ули, – он большими ладонями аккуратно пригладил свои почти не растрепавшиеся, расчесанные на косой пробор светло-русые волосы. Потом он поднял на Улю совершенно мокрое от пота скуластое лицо мальчика с большими глазами в длинных темных золотистых ресницах и широко, простодушно и весело улыбнулся.” (39-40). 14 “Мама, мама! Я помню руки твои с того мгновения, как я стал сознавать себя на свете…” (44). 15 “Как бы ты повел себя в жизни, читатель, если у тебя орлиное сердце, преисполненное отваги, дерзости, жажды подвига…” (115). 16 “Случалось ли тебе, читатель, плутать в глухом лесу в ночи, или одинокому попасть на чужбину…” (226).

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aristocratism. Sometimes, as if suddenly realizing that his favorite characters’ features are “too far from the masses”, Fadeev adds to the description of his personages signifiers of their working origins, such as a colloquial word “zhmenia” applied to otherwise “proper” Uliana Gromova or mentioning of “the firm supple waist of the village girl accustomed to harvest work in the fields” (58).17 For the same purpose, the heroes’ speech is peppered with Ukrainianisms, which look peculiar next to the lofty, bookish lexicon dominating the novel. Yet they create a precarious illusion of the “proletarian” speech. Subsequently, Fadeev defacto introduces an oxymoronic concept of Soviet aristocracy, which in his description differs from the prerevolutionary aristocracy only by different class origins. However, the criteria of aristocratism still lay in the family history, which was either marked by the military glory, or just by a glorious family line. Thus, many members of the Young Guard have fathers who fought against the Whites during the Civil War (as Oleg’s stepfather Kashuk, whose name the youngster adopts as his pseudonym), or belong to the “lineage of old Russian workers” (“rod starykh russkikh masterovykh”) – the formula repeated by Fadeev several times. Notably, when learning about Stakhovich’s unworthy behavior in the partisan unit, Liubka exclaims with no trace of irony: “His family are all good people; the father’s an old miner, the brothers are Party members and in the army now…No, it can’t be!” (423).18 Naturally, noble, high-spirited and sentimental youths, as if transferred from 19th century novels, simply cannot co-exist with Nazis. By contrast, Germans are represented in the novel as a species different from homo sapiens. Characteristically, Oleg Koshevoy’s sister-in-law Marina looks at a German officer staying at their house with the utmost disgust: “to her he was not only inhuman but something below a brute beast – as loathsome as a toad, lizard, or any other reptile” (224).19 Oleg seconds her in his emotional speech about Germans: “They’re worse than animals; they’re degenerates, that’s what they are!” he said fiercely… “We ought to despise these degenerate monsters if for the time being we can’t defeat and annihilate them. Yes, treat them with contempt instead of degrading ourselves and crying and moaning like old women!” (266).20 Other novel’s characters express similar opinions: “This Hitler fellow can fool the whole German nation if he likes, but I can’t believe he can have outwitted Ivan Protsenko, oh no, he couldn’t 17

“стройный стан с гибкой и сильной талией деревенской девушки, привычной к полевой страде” (42). 18 “У него семья такая хорошая, отец старый шахтер, братья – коммунисты в армии... Нет, не может того быть!” (358). 19 “Она брезговала им, как брезгуют в нашем народе лягушками, ящерицами, тритонами.” (206). 20 “Мы должны презирать этих выродков, если мы не можем пока их бить и уничтожать, да, да, презирать, а не унижаться до плача, до бабьих пересудов.” (223).

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have done that!” (325),21 “They’ve no idea how to manage anything… They’ve made a habit of living by robbery and with that kind of ‘culture’ – God forgive me – they hope to conquest the world, the stupid brutes” (420),22 “The enemy’s weak spot is that he’s dull-witted; they do everything by order, according to a time-table; they live and operate among our people in complete darkness and understand nothing…” (421).23 These invectives are supported by the author’s “objective” representation of Germans, in which, by contrast to the protagonists’ lofty aristocratic spirituality, dominates physiological naturalism. On one end of the spectrum, the reader finds a German general who was “very clean about his person” (206)24 and who “went to the lavatory at exactly the same time every morning and the batman would stand guard nearby and listen for the general to cough, when he would hand him the special soft paper. But for all his cleanliness the general would belch loudly after meals unashamed by the presence of Grandma Vera and Yelena and when alone in his room he would break wind, without any thought for Grandma Vera or Yelena in the next room” (206).25 In a position seemingly opposite to the general but in fact supplementary to it, Fadeev situates an executioner Peter Fehnbong who emits an odor so disgusting that other Germans avoid his company. He does not change his underwear for months: His underwear, which had not been changed for several months, had become greasy and stinking from the sour sweat which had saturated it and had turned a yellowishblack from dye off his uniform […] he wore curious strappings on his body. It was not exactly penance chains, but rather something in the nature of the long cartridgebelt which Chinese soldiers carried in olden days […] Here was the coin of many lands – American dollars, English shillings, French and Belgian francs, coins from Austria, Czechoslovakia, Norway, Romania, Italy […] Here also were small heaps of 21

“Пусть этот Гитлер оглупил целую немецкую нацию – на то ж они и немцы! А не думаю я, щоб вин передурив Ивана Проценко, не може того буты!” (273). 22 “Не умеют они хозяйничать. Привыкли сорвать с чужих, как жулики, с того и живут, и думают с такой, прости господи, культурой покорить весь свет – глупые звери, – беззлобно сказал он.” (354). 23 “У наших врагов есть слабое место, такое, как ни у кого: они тупые, все делают по указке, по расписанию, живут и действуют среди народа нашего в полной темноте, ничего не понимают... Вот что надо использовать! – сказал он, остановившись против Любки, и снова зашагал из угла в угол. – Это все, все надо объяснить народу, чтобы он не боялся их и научился их обманывать” (356). 24 “очень чистоплотный генерал” (188). 25 “Генерал ходил в уборную по утрам всегда в одно и то же время, а денщик караулил возле и, услышав покашливание генерала, подавал ему специальную вафельную бумажку. Но при этой своей чистоплотности […] не стеснялся при бабушке Вере и Елене Николаевне громко отрыгивать пищу после еды, а если он находился один в своей комнате, он выпускал дурной воздух из кишечника, не заботясь о том, что бабушка Вера и Елена Николаевна находятся в комнате рядом.” (188).

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gold trinkets; rings, scarf-pines, brooches with precious stones or without, and, in separate piles, precious stones and gold teeth. (384-385)26

As a result, The Young Guard postulates the anthropological superiority of Soviet people over the Germans. By this means, Fadeev substantiates the interpretation of the war not as a battle between two regimes or between Nazi invaders and defenders of the Soviet motherland, but as the clash between “stupid beasts”, “lizards, frogs, and tritons”, on the one hand, and the best of humans, on the other. Thus, “aristocratism” in the representation of heroes serves as a form of newly-found wartime nationalism. Soviet aristocratism demonstrated by the Young Guard members is also contrasted by characteristics, which Fadeev attributes to those personages that will expose their enemy “nature”. Tellingly, their evil “nature” shows up at the very first appearance of these characters, when neither of them had done anything treacherous yet. For instance, Vyrikova is immediately betrayed by her devilish “horn-like braids”, Ignat Fomin causes an association with “a long worm”, Stetsenko is presented as a seasoned kiss-up “who, in happier days, had used flowery, flattering words to them [communists], should now censure the same people when they could no longer speak up for themselves” (83).27 Instantaneously, Stakhovich appears suspicious due to his elevated sense of self-respect and love of foreign words: “Thus, from his earliest years he had become accustomed to regarding himself as someone above the ordinary run of people, for whom the ordinary rules of communal living were not binding” (450).28 Only after these introductory remarks and much later in the novel, the author presents the “explanations” for these characters’ inevitable betrayal. Revealingly, Fomin turns out to be a “kulak” hiding under the guise of a proletarian. Stetsenko, who has agreed to serve as a mayor of the town under German occupation, was predestined to his trea26

“Белье, не сменявшееся несколько месяцев, стало склизким и вонючим от пропитавшего его и прокисшего пота и изжелта-черным от линявшего с изнанки мундира. […] он носит на теле своеобразные вериги. Это были даже не вериги, это походило скорее на длинную ленту для патронов, какую носили в старину китайские солдаты. […] Здесь была валюта многих стран света - американские доллары и английские шиллинги, франки французские и бельгийские, кроны австрийские, чешские, норвежские, румынские леи, итальянские лиры. […] Здесь были кучки мелких золотых предметов - колец, перстней, булавок, брошек - с драгоценными камнями и без них и отдельно кучки драгоценных камней и золотых зубов.” (403-404). For a detailed analysis of the representation of German soldiers in Fadeev's novel see: Ryklin, M.: Nemets na zakaz: Obraz fashista v sotsrealizme. In: Id.: Prostranstva likovaniia. Moscow 2002, 225-242. 27 “приближенный к власти, немало хлеба-соли съевший с ее представителями и сказавший им в хорошие времена немало льстивых, витиеватых слов, - этот человек теперь осуждал этих людей, когда они уже не могли заступиться за себя.” (64). 28 “с детских лет… привык считать себя незаурядным человеком, для которого не обязательны обычные правила человеческого общежития. ” (373).

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son by his pre-war tastes: “He praised foreign films although he had never seen any and would spend hours every day poring over foreign magazines – not the technical mining journals which occasionally arrived at the Trust, for they could be of no interest to him as he knew no languages and did not try to learn any, but magazines which his colleagues sometimes brought back with them, fashion magazines and others which contained numerous pictures of women in elegant attire or others in almost none at all” (300).29 Vyrikova’ and Liadskaya’s transformation into traitors is justified by their dangerous inclination to individualism, detectable since their childhood: “From early childhood both had acquired ideas about the world from their parents and the people their parents associated with, which led to their believing that all people really live for personal gain and that the aim and purpose of life was to strive not to be the loser but to prosper at the expense of others” (621).30 All these factors allegedly are sufficient for the explanation of the fact that these Soviet people became traitors, “enemies of the people”. Notably, Protsenko reminds about the relevance for the wartime of the latter category marked by the association with Great Terror; Fadeev also twice uses the term “an invisible man” (chelovek-nevidimka) unmistakably branded by the same set of historical references. In other words, romantic and heroic ‘predisposition’ for great exploits displayed by the members of the Young Guard matches an analogical penchant for treason demonstrated by those whom the novelist has casted for the roles of villains. Although Fadeev accentuates ‘social’ factors allegedly responsible for the formation of characters, the immutability and monumental ‘completeness’ of both heroes and evildoers, suggest the “natural” factors at play: the reader sees angelic images of ‘absolute good’ paralleled by demonic manifestations of ‘absolute evil’. If a touch of individualism, no matter how insignificant (or exaggerated) its symptoms are, automatically leads to treason in Fadeev’s novel, Soviet aristocratism, displayed by the Young Guard members in a similar ‘providential’ manner, leads to a fanatical cult of self-sacrifice. This is the cornerstone of the ideal Soviet identity epitomized by the Young Guard members. The author says about Liubka Shevtsova: “Her reckless courage and her feeling of childlike playfulness and deep happiness continually urged her onwards so that there should always be something to strive for. Now she dreamed of 29

“хвалил заграничные кинокартины, хотя их не видел и любил заграничные журналы, в которых было много элегантных женщин и просто женщин, возможно более голых. ” (252). 30 “с детских лет … перенимали у своих родителей и у того круга людей, с которым общались их родители, то представление о мире, по которому все люди стремятся только к личной выгоде и целью и назначением человека в жизни является борьба за то, чтобы тебя не затерли, а наоборот, – ты преуспел бы за счет других. ” (476).

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achieving great exploits at the front… But it all ended with her becoming an intelligence radio operator working in the rear of the enemy – which was best of all of course!” (275).31 Oleg Koshevoy preaches: “…d’you realize what it means to be a partisan? His work is never spectacular but how noble it is! He kills one fascist, another, then the hundredth – but the hundred and first might kill him!” (292).32 As a sacred oath the Young Guardists repeat: “Since now, our life doesn’t belong to us but to the Party and to the people.” The characters’ mercilessness appears in the novel as a flipside of their preparedness for heroic self-sacrifice. Notably, the kindest Zhora Arutiunov, when discussing with Vanya Zemnukhov their future careers, prefers a career as a prosecutor to that of a defense lawyer: ‘Still it would be silly to become, say, a defense lawyers,’ said Zhora. ‘Remember the trial of that gang of saboteurs, for example? I’m always thinking about the defense counsels. Stupid position they’re in, aren’t they?’ Zhora laughed and showed his dazzling white teeth. ‘Well, of course, a defense lawyer’s job isn’t very interesting, because we’ve got People’s Courts, but I think it would be interesting to be a persecutor; you’d meet all sorts of people.’ (105)33

The reader finds another stunning example of such heroic cruelty in a scene where Uliana Gromova, who has learned that her best friend, Valya Filatova, could be driven away to Germany as a forced laborer, blames not Germans but Valya: “It’s disgusting, the way you talk! It’s… it’s vile and disgraceful – I despise you!... Yes, I have nothing but contempt for your helplessness and tears” (350).34 At the same time, while depicting teenage characters, between whom romantic relations would be only natural, Fadeev methodically replaces Eros 31

“Безумная отвага и чувство детского, озорного, пронзительного счастья – все звало и звало ее вперед, все выше, чтобы всегда было что-то новое и чтобы всегда нужно было к чему-то стремиться. Теперь она бредила подвигами на фронте: она будет летчиком или военным фельдшером на худой конец, – но выяснилось, что она будет разведчицей-радисткой в тылу врага, и это, конечно, было лучше всего.” (232). 32 “Нет, ты представляешь, что такое партизан? Работа партизана совсем не показная, но какая благородная! Он убьет одного фашиста, убьет другого, убьет сотню, а сто первый может убить его.” (248). 33 “Все-таки глупо, например, быть защитником на нашем суде, – сказал Жора, – например, помнишь, на процессе этих сволочей-вредителей? Я все время думаю про защитников. Вот глупое у них положение, а? – И Жора опять засмеялся, показав ослепительно белые зубы. – Ну, защитником у нас быть, конечно, не интересно, у нас суд народный, но следователем, я думаю, очень интересно, можно очень много разных людей узнать. – Лучше всего – обвинителем, – сказал Жора. – Помнишь, Вышинский! Здорово!” (90). 34 “Это отвратительно, что ты говоришь, это… это позорно, гадко.. Я презираю тебя! – со страшным, жестоким чувством сказала Уля. – Да, да, презираю твою немощность, твои слезы…” (295).

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with Thanatos. The single scene with a definite sexual subtext is when Klava proposes to Vanya Zemnukhov to spend a night with her: “’Why must you go there? I’m yours, don’t you understand? Absolutely all yours,’ whispered Klava’s warm lips close to his ear” (498).35 The scene appears immediately after Vanya’s recruitment of Klava into the organization, which entailed preparedness for heroic death. Sergei Tiulenin writes a love note to Valya Borts only after killing Fomin. Liubka Shevtsova, the most erotic character in the novel, uses her charms for extracting intelligence information from German officers and emphatically restrained in her relationship with her boyfriend. Their strongest erotic-like sensation is associated with a dangerous operation, when they both hang red banners suggestively made of bed sheets colored with red paint. The strategy of narrative representation chosen by Fadeev, also reveals the thanatological pathos of the novel. Characteristically, the writer names many operations of the Young Guard, but shows – which is significantly stronger in its effect on the reader – only two types of operations. First, these are symbolic actions – such as the Young Guard’s oath, acceptance to Komsomol of new members, joint listening of Stalin’s speech over a radio transmitter – the latter is accompanied by collective excitement and dances; the distribution of leaflets with (practically meaningless) texts like “Down with Hitler’s 200 gram, hale to Stalin’s kilogram” or the aforementioned hanging of red flags on the anniversary of Bolshevik revolution. In all these acts a sense of symbolic belonging to the Soviet regime is predominant– “our life belongs not to us but to the party and the people!”. Yet, despite their purely symbolic meaning, all these situations entail very real dangers for young people of being caught, exposed and brutally persecuted. Yet, for Fadeev’s protagonists, the very prospect of potential self-sacrifice paradoxically serves as the main incentive for these acts. This hypothesis can be illustrated by the following episode of the novel: Oleg Koshevoi escapes the town under the threat of arrest. But before the escape he hides blanks of Komsomol membership cards (printed by the Young Guard and exposing the organization) behind his jacket lining, although he could certainly bury these dangerous documents in the backyard or just destroy them as dangerous evidence. Naturally, these blanks expose Oleg as the underground activist when the police stops him and checks his clothing. What is a rationale behind Oleg’s irrational self-betrayal? The author presents no rationale, but the reason obviously lies in the unconscious drive to death, or rather, Oleg’s (as well as other Young Guard members’) drive to heroic, self-sacrificial death. 35

“Ведь я же твоя, ну, понимаешь, совершенно твоя, - шептала ему на ухо Клава своими теплыми губами.” (415).

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The motif of death or, more precisely, murder, encompasses another type of the Young Guard’s actions pictured by Fadeev. An execution of the traitor Fomin in this respect fulfills the same function as a bloody slaughter of the cattle driven away to Germany. The only exception that does not fit this logic is the arson of the labor archive comprising cards of Soviet citizens soon to be sent to Germany. The significance of this operation – perhaps, the most practically significant among the Young Guard’s actions – symptomatically is downplayed by Uliana’s doubt whether this action is inspired by her own “individualistic” guilt towards her best friend Valya whom she had failed to save from slavery. The organization is exposed after stealing unguarded Christmas presents for German soldiers. Yet this apparently trite act serves as a trigger to brutal persecution of the Young Guard. However, in the novel’s context this accident obtains the meaning of the tragic error, hamartia, i.e., it manifests the profound fatal force corresponding to the protagonists’ predestination. Suffering and heroic death is indeed the main predetermination of the Young Guard, and this is why horrific scenes of torture – depicted by Fadeev with the greatest degree of naturalism acceptable in Soviet literature – are indeed the apotheosis of the Young Guard’s activities and the highpoint of the novel’s thanatalogical pathos. While describing the suffering of the Young Guard’s members (Uliana had a star carved on her back, Anatolii Popov’s foot and Volodia Osmukhin’s arm were chopped off, and Vitya Petrov’s eyes poked off), Fadeev twice uses the same rhetorical device: “And the tortures to which they were now subjected were of a kind the human mind could not possibly imagine, tortures that were inconceivable to all human reason and conscience” (664).36 And once again, ten pages later: “Oleg was then thrown into the Gestapo torture-chamber and there began for him the terrible existence which was not only beyond human endurance, but about which no human being with a heart could possibly write” (673).37 The tortures that heroes undergo, their martyrdom are placed on a level unattainable for the verbal description. This is pure and absolute sublime in its classical form: “whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger... Whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror”.38 36

“И мучения, которым их подвергали теперь, были мучения, уже не представимые человеческим сознанием, немыслимые с точки зрения человеческого разума и совести.” (508). 37 “После того Олег был брошен в застенок гестапо, и для него началась та страшная жизнь, которую не то что выдержать, о которой невозможно писать человеку, имеющему душу.” (517). 38 Burke, E.: A Philosophical Inquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. Transl. by A. Mills. New York 1856, 51.

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Oleg Koshevoi, when already under arrest, delivers the following soliloquy, which obviously relates to other members of the Young Guard as well: ‘All right, I may be only sixteen, but it’s not my fault that my road through life has turned out to be so short… What’s there to be scared of? Death? Torture? I can face that. Of course, I should have liked to die in such a way that my memory would live on in people’s hearts. But suppose I do die in obscurity – millions are dying like that now, people like myself, full of strength and love of life. Have I anything to reproach myself for? Sometimes I’ve been flippant – maybe, weak, too, out of kindness of my heart. Oleg, my friend, that’s no crime when you’re sixteen! I haven’t even tasted all the happiness that was my due. All the same, I’m happy!’ (671).39

In this monologue, there is no fear of death and suffering. On the contrary, Oleg interprets the martyrdom as the reward for a worthy life and as a warrant for subsequent immortality. A perception of torturous death as the highest realization of a heroic personality also informs a scene added by Fadeev to the second edition of the novel – this is the scene where Oleg and Liutikov meet during the Gestapo interrogation. The meaning of this scene is obvious: this is where Oleg finally reaches the level of his symbolic ‘father’. However, this emblematic equivalence with Liutikov– emphasized by the grey hair at Oleg’s temples – is established only at the moment of their joint martyrdom: With their wrists bound, Filipp Petrovich Lyutikov and Oleg Koshevoi stood facing Feldkommandant Klehr […] The grey hair on Lyutikov’s head was matted with dried blood; his torn clothing stuck to the wounds on his large body and every movement caused him agonizing pain […] Oleg’s right arm had been broken, and it hung limp at his side. His face has scarcely changed, but his hair at his temples had turned quite grey. His large eyes, under the dark-golden lashes, held a clear expression, clearer than even before. So they stood before Feldkommandant Klehr – leader of the people, one old and one young. Feldkommandant Klehr, hardened to murder because there was nothing else he was capable of doing, subjected them to more frightful tortures, but one might say that they no longer felt anything: their spirit had soared to those boundless heights which only the great creative spirit of man can attain. (705)40

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“Пусть мне шестнадцать лет, не я виноват в том, что мой жизненный путь оказался таким малым... Что может страшить меня? Смерть? Мучения? Я смогу вынести это... Конечно, я хотел бы умереть так, чтобы память обо мне осталась в сердцах людей. Но пусть я умру безвестным... Что ж, так умирают сейчас миллионы людей, так же, как и я, полные сил и любви к жизни. В чем я могу упрекнуть себя? Я не лгал, не искал легкого пути в жизни. Иногда был легкомыслен, – может быть, слаб от излишней доброты сердца... Милый Олежка-дролежка! Это не такая большая вина в шестнадцать лет... Я даже не изведал всего счастья, какое было отпущено мне. И все равно я счастлив! Счастлив, что не пресмыкался, как червь, – я боролся... Мама всегда говорила мне: ‚Орлик мой!..‘ Я не обману ее веры и доверия товарищей. Пусть моя смерть будет так же чиста, как моя жизнь, – не стыжусь сказать себе это... Ты умрешь достойно, Олежка-дролежка...” (515). 40 “Они стояли перед фельдкомендантом Клером, связанные за кисти рук, Филипп Петрович Лютиков и Олег Кошевой. […] Седые волосы на голове Филиппа

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The symbolic economy of martyrdom as a self-sufficient value has transcended the limits of Fadeev’s text. Thanks to The Young Guard, the members of the organization were posthumously glorified as national heroes. Furthermore, the novel which by default allowed and even suggested fictionality, was universally treated as a document and in this capacity influenced lives of real people. While introducing the members of the Young Guard into the Soviet pantheon of national heroes, Fadeev at the same time slandered innocent people, such as Zinaida Vyrikova and Olga Liadskaia, who, after the publication of the novel, were arrested and sent to the Gulag as traitors, although their “crimes” were substantiated by nothing but Fadeev’s novel. Their names were cleared only during the Perestroika. It is illuminating that, according to Liadskaia, Fadeev attended her interrogations in the NKVD, and according to Vyrikova, he did not respond to her pleas to review her representation in the novel or at least to change the name of the treacherous character in the novel.41 Also, Fadeev’s main collaborator Stakhovich regarded Viktor Tretyakevich as a prototype despite being a fictional character. In fact, Tretyakevich, not Koshevoi, was the commissar of the Young Guard; he had also undergone the Gestapo tortures but, unlike Stakhovich, betrayed no one.42 The truth about Tretyakevich’s role in the Young Guard was established only in 1959 (in 1960 he was posthumously awarded the Medal of the Great Patriotic War), when Fadeev was already dead and Stakhovich had become the integral part of the Young Guard cultural myth. Fadeev does not bear the entire responsibility for these fateful mistakes – he just followed hasty conclusions that the state commission had produced in 1943. However, the cultural resonance of Fadeev’s novel not by accident resonated with and aggravated the effect of these errors. The thanatological pathos of mandatory and desirable self-sacrifice required, along with heroic martyrs, symmetrical characters of enemies and traitors, who either refused to sacrifice themselves, or were broken by tortures – Fadeev invariably deПетровича слиплись в засохшей крови, истерзанная одежда прилипла к ранам на его большом теле, и каждое движение доставляло ему мучительную боль, но он ничем не выдавал этого. […] Олег стоял, бессильно свесив правую перебитую руку, с лицом, почти не изменившимся, только виски у него стали совершенно седые. Большие глаза его из-под темных золотящихся ресниц смотрели с ясным, с еще более ясным, чем всегда, выражением. Так стояли они перед фельдкомендантом Клером, народные вожаки – старый и молодой. И Клер, закосневший в убийствах, потому что ничего другого он не умел делать, подверг их новым страшным испытаниям, но можно сказать, что они уже ничего не чувствовали: дух их парил беспредельно высоко, как только может парить великий творческий дух человека.” (546). 41 Mokrishchev, N.: Radost’ so slezami: http://www.molodguard.ru/article137.htm (01.01.2016); Kozovskii, Iu.: Zinaida Vyrikova: Zhizn’ i sud’ba: http://www.molodguard.ru/article207.htm (01.01.2016). 42 About Tretyakevich see: http://www.molodguard.ru/guardian0.htm (01.01.2016).

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picts both paths as manifestations of the criminal weakness. The cultural significance of The Young Guard thus illuminates the ethical consequences of its pathos. While elevating heroic martyrdom, it simultaneously demonized those who had survived the occupation and did not perish in the Gestapo torture chambers. The thanatological pathos, in this respect, serves as a powerful tool in denigrating an individual life; the life becomes valuable only if it leads to heroic death. Obviously, in this case the value of an individual life emerges only posthumously; it is constantly deferred, and, hence, the immediate existence of a living person appears to be always questionable in terms of its value. Besides, the life’s value in this ethical system can be established only by institutions of power, which alone have the right to acknowledge the person’s heroism. Alternatively, the lack of the state acknowledgement devalues human suffering, no matter how great it is, by placing it on a level where it can be easily confused with treason.

SUSI K. FRANK

Pathosformel ‚tote Mutter‘ 1. ‚Pathosformel‘1 Unter dem Begriff ‚Pathosformel‘ verstand Aby Warburg eine „pathetische Gebärdensprache“, die die Kunst der Renaissance aus der Antike übernahm und damit die „echt antiken Formeln gesteigerten körperlichen und seelischen Ausdrucks“ in eine universale Sprache bewegter „Lebensschilderung“ überführte.2 Während es Warburg – typisch für seine Zeit – um die Aufdeckung bzw. das Postulat einer ikonographischen Kontinuität der Antike und ihre ‚Wiederbelebung‘ in der Renaissancekunst ging,3 werden in der aktuellen bildwissenschaftlichen Rezeption des Warburgschen Begriffs v.a. drei Aspekte hervorgehoben: Georges Didi-Huberman4 und Giorgio Agamben5 beschäftigen sich mit dem ‚Geisterhaften‘, das Warburgs Auseinandersetzung mit der europäischen, historische Brüche überbrückenden Bildtradition hervorgetrieben hat, und fragen nach den Implikationen einer im Gedächtnis insistierenden Präsenz. Für Horst Bredekamp, für dessen Verständnis der Macht der Bilder und des ‚Bildakts‘ Warburgs bildwissenschaftlicher Ansatz insgesamt einen wichtigen Ausgangspunkt bildet, steht der funktionale Aspekt des Formelhaften bzw. Topischen der ‚Pathosformel‘ im Vordergrund. Warburg, so Bredekamp, beschreibt mit dem Begriff ‚Pathosformel‘ eine Technik der „bildenergetischen Bewältigung“ von größter Angst, Todesangst, von Ereignissen von höchster, die Grenzen des Erträglichen über1

Die Langversion dieses Beitrags, in welcher auch Beispiele aus der Bildkunst ausführlich diskutiert werden, findet sich in dem Band: Frank, S./Hänsgen, S. (Hrsg.): Bildformeln. Der Schauplatz Osteuropa. Bielefeld 2016 (im Erscheinen). 2 Warburg, A.: Dürer und die italienische Antike. In: Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905. Leipzig 1906, 55-60. 3 Georges Didi-Huberman spricht bezogen auf Warburgs aufgedeckte Bild-Reihen vom „Symptom einer sich auflösenden Erinnerung“, von der nur das Pathos übrig geblieben ist. Vgl. Didi-Huberman, G.: Préface. Savoire-Mouvement (L’homme qui parlait aux papillons). In: Michaud, Ph.-A.: Aby Warburg et l’image en mouvement. Paris 1998, 7-20. 4 Didi-Huberman, G.: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Berlin 2010. 5 Vgl. die von Warburgs Pathosformel inspirierte Arbeit von Giorgio Agamben zu einem Dialog zwischen Warburg und Jolles über ein Frauenbildnis, „Nymphea“, das Jolles Zeit seines Lebens fasziniert hat und von Warburg in den Mnemosyne-Atlas aufgenommen wurde. Vgl. Agamben, G.: Nymphs, übers. v. Amanda Minervini, Kalkutta 2013.

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schreitender emotionaler Wirkung bzw. Intensität. „Die Pathos-Formel“ – so Bredekamp – „begründet im Verständnis von Warburg die Möglichkeit, nicht zu bewältigende, zerstörerische Energien des Psychischen und Sozialen durch visuelle Formen zu entäußern und damit beherrschbar zu machen […].“6 Dabei geht es jedoch nicht darum zu entschärfen, „vielmehr geht es um eine bildenergetische Bewältigung von tödlicher Naturangst. Indem die Angst distanziert wird, entsteht Kultur.“7 Dieses Unfassbare, über alle Maßen Erschreckende wird – so die Warburg explizierende These – mithilfe ikonographischer Formeln, die über Jahrhunderte tradiert werden, in den Rahmen des Erfahr- und narrativ Bearbeitbaren integriert. Die Herausgeber der einbändigen Warburg-Ausgabe, Sigrid Weigel und Martin Treml,8 akzentuieren die intermediale Dimension des Begriffs ‚Pathosformel‘, die bei Warburg kaum (und wenn dann eher anders9) akzentuiert worden war,10 und verstehen ‚Pathosformel‘ als eine Art medial invertierte 6

Interview 6.4.2005, Die Zeit online: http://www.zeit.de/2005/15/Interv_Bredekamp (09.02.2016). 7 Ebd. Bredekamp verweist auf Warburgs Bericht über den Tanz der Hopi-Indianer beim Schlangenritual, wo durch Bilder der Schlangen und Bildgesten eine Distanz geschaffen wird, die es schließlich ermöglicht, die Giftschlange furchtlos in den Mund zu nehmen. 8 Weigel, S./Treml, M. Einleitung. In: Aby Warburg. Werke in einem Band. Hrsg. und komm. von Sigrid Weigel, Martin Treml und Perdita Ladwig. Berlin 2010, 9-30. 9 Vgl. dazu Isolde Schiffermüller, die den analytischen Stil Warburgs ‚intermedial‘, in Hinblick auf die analytische Bezugnahme auf das pathetische Bildmaterial, interpretiert: Schiffermüller, I.: Wort und Bild im Atlas „Mnemosyne“. Zur pathetischen Eloquenz der Sprache Aby Warburgs. In: Kofler, P. (Hrsg.): Ekstatische Kunst – Besonnenes Wort. Aby Warburg und die Denkräume der Ekphrasis. Bozen 2009, 7-21. 10 Das beste Beispiel hierfür liefert Warburgs bekannter Düreraufsatz, in welchem der Begriff ‚Pathosformel‘ erstmals ausführlich zur Anwendung kam. Seine Argumentation macht deutlich, dass er Bilder häufig als Illustrationen bzw. bildlich performative Inszenierungen von Textvorlagen auffasste und gerade dieses intermediale Verhältnis mit dem Begriff Pathosformel bezeichnete. In der Beschreibung der Wanderung und Wandlung der Darstellung des Todes von Orpheus in der europäischen Tradition – die Pathosformel besteht in ihrem ikonographischen Kern hier in der erschrockenen Armgeste, mit der Orpheus versucht, die Angreifer abzuwehren und den eigenen Körper zu schützen – schenkt Warburg dem Aspekt der intermedialen Bezüge große Aufmerksamkeit, ohne ihn dabei zu explizieren oder gar zu problematisieren: „auch andere, ganz verschiedenartige Kunstwerke mit Bildern vom Tode des Orpheus, […] zeigen fast völlig übereinstimmend, wie lebenskräftig sich dieselbe […] Pathosformel, auf eine Orpheus- oder Pentheusdarstellung zurückgehend, in Künstlerkreisen eingebürgert hatte; vor allem beweist dies aber der Holzschnitt zur Venezianischen Ovidausgabe von 1497 […], da diese Illustration gleichfalls […] auf dasselbe antike Original zurückgeht […]. Hier ertönt zum Bild die echt antike, der Renaissance vertraute Stimme, denn daß der Tod des Orpheus [ein] leidenschaftlich und verständnisvoll nachgefühltes Erlebnis aus dem dunkeln Mysterienspiel der Dionysischen Sage war, beweist das früheste italienische Drama Polizians, sein in ovidianischen Weisen sprechender ‚Orfeo‘ […].“ Warburg, Dürer und die italienische Antike, 55-60.

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Ekphrasis, als „eine Ekphrasis, deren performatives Element – die in der Zeit stattfindende dramatische Aufführung – im Modus des Vor-Augen-Führens als Bewegung im Bild festgehalten ist“.11 Sowohl Bredekamp als auch Weigel und Treml verweisen in ihren Warburg-Lektüren12 auf Dimensionen des Begriffs ‚Pathosformel‘, die auch für den Pathosbegriff der Rhetorik relevant waren bzw. sind: Denn auch in der Rhetorik dienten Pathosverfahren der darstellerischen, kommunikativen und manipulativen Bewältigung von undarstellbar bzw. unsagbar Großem, Schrecklichem, Mächtigem oder Schönem. Und auch in der Rhetorik fungieren intermediale Figuren, die z.B. auf eine ‚Visualisierung‘ zum Zweck der Vergegenwärtigung abzielen, als wichtiges Pathos-Instrument. Im Folgenden soll anhand einer speziellen Pathosformel den Dimensionen des Pathos im Kontext solcher topischer Konstellationen weiter nachgegangen werden. Es handelt sich um das Motiv der toten, hingestreckt liegenden Mutter, an deren Seite sich ihr lebendiges Kind befindet, das die Situation nicht versteht und die Mutter als Lebendige behandelt. William J. Th. Mitchell hat dieses Motiv jüngst als „Ikone für den totalen Krieg, für Genozid und ethnische Säuberungen“13 bezeichnet und es zum Kernbestand der Ikonographie ziviler Kriegs- und Katastrophenopfer im europäischen Bildgedächtnis gezählt. Ohne auf den Begriff ‚Pathosformel‘ zurückzugreifen, hat Mitchell auf eine europäische Tradition verwiesen, die bis in unsere unmittelbare Gegenwart reicht. Als aktuelle Beispiele nannte Mitchell Kriegsreportagen aus Gaza. Obwohl in Bezug auf dieses Motiv nicht durchgehend im Sinn Warburgs von einer „Gebärdensprache“ gesprochen werden kann, bezeichne ich dieses Motiv doch als Pathosformel, weil ich mich erstens der Meinung Mitchells anschließe, dass es hier um einen in der gesamten abendländischen Ikonographie wiederkehrenden Topos, eine Bildformel, geht, die zum Einsatz kommt, wenn es um die Darstellung einer größtmöglichen menschlichen Tragödie im Kontext von Krieg oder Katastrophen geht; weil ich zweitens darin im Sinne Bredekamps eine energetische und bildökonomische Pathos-Strategie erkenne, mit der Unfassliches ikonographisch erfasst und damit verarbeitbar gemacht wird; und weil ich drittens in den einzelnen Realisierungen dieser Formel ein für die Tradition des rhetorischen Pathos typisches intermediales Moment erkenne, welches – zumindest unterschwellig – auch für Warburgs Begriffsschöpfung relevant war. Im vorliegenden Zusammenhang werde ich dieses Moment anhand textueller Realisierungen der Formel verdeutlichen.

11

Weigel/Treml, Einleitung, 37. Ebd. 13 Mitchell, W. J. T.: Idolatrie. Nietzsche, Blake und Poussin. In: Trajekte 21 (2010), 20-30. 12

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2. ‚Pathosformel‘ vor dem Hintergrund des rhetorischen Pathosbegriffs Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Inbezugsetzung von Warburgs ‚Pathosformel‘ zum Pathosbegriff der Rhetorik. Als Begriff der Rhetorik bezeichnet pathos (lat. affectus) die Darstellung von intensiven, plötzlich aufgrund eines Ereignisses auftretenden (negativen oder positiven) Gefühlen zum Zweck der Übertragung derselben auf den Rezipienten. Seit der Antike wird zwischen echtem und falschem pathos unterschieden in Abhängigkeit von seiner Angemessenheit (Gebot des aptum) in Bezug auf den Gegenstand der Darstellung und in Bezug auf die Aufrichtigkeit bzw. Autorität des Sprechers.14 In Bezug auf das aptum galt insbesondere seit der hellenistischen und lateinischen Antike (Longin, Cicero, Quintilian), dass das pathos in der hierarchischen Skala der Gattungen der höchsten Ebene, dem genus grande, zugeordnet wurde, dem nur höchste Themenbereiche vorbehalten waren. Zu diesen Themenbereichen gehörten das Heroische, Übermenschliche, Mächtige, Göttliche, das Tragische, Schreckliche, die höchste Leidenschaft bzw. alles, was durch Überschreitung (des Menschlichen, des Fassbaren etc.) definiert ist. Das kann semantisch, in Hinblick auf die Positionierung des Menschen und seine moralischen Werte weit auseinander liegen: Das Heroische oder die Ohnmacht des Menschen, unerträgliches Leid, Schrecken und Tragik oder aber ein unfassbares Verbrechen oder eine unfassbare, die gesamte Menschheit betreffende Katastrophe (wie z.B. Krieg oder Naturkatastrophen) können gleichermaßen erhabene bzw. hohe Themen sein. Dieser dem genus grande zugeordnete Themenbereich erfordert zu seiner Darstellung pathos-Verfahren, deren Wirkziel im movere, in der Übertragung des pathos auf den Rezipienten besteht. Die Palette von pathos-Verfahren ist extrem breit, keineswegs alle haben mit überbordendem Figurenreichtum zu tun, manche sind auch negativ maximalistisch: Sowohl Figurenvielfalt und -Anhäufung (copia) als auch ‚Minusfiguren‘ wie Verstummen und Schweigen gehören dazu.15 Entscheidend ist allein, dass ihre Form die Dimensionalität und das Moment der Überschreitung (des Sagbaren) – positiv oder negativ – zum Ausdruck bringt. Somit werden drei Dimensionen rhetorischer Kommunikation als pathoskonstitutiv betrachtet: Redner bzw. Autor, Gegenstand bzw. Thema und die 14

Longin nennt als Voraussetzung des Erhabenen auf Seiten des Redners bzw. Autors megalophrosyne („Seelengröße“). Vgl. Peri hypsous 2.1ff., insbesondere ab Kap. 9, wo es als „Schlüsselterminus für die ethische Fundierung der Longinschen Erhabensheitstheorie“ erkennbar wird. Fritz, M.: Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011, 46. 15 Zu den Möglichkeiten eines „minus-pathos“ vgl. den Beitrag von Sabine Hänsgen in diesem Band.

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Darstellung. Nur sofern alle drei in angemessener Relation zueinander stehen, kann das dem genus zugeschriebene Wirkziel erreicht werden. Da pathos-Verfahren prinzipiell wirkungsästhetisch fokussiert sind, bildet neben der Darstellung eines Ereignisses oder einer Handlung selbst die Darstellung von höchst affizierten, emotionalen Reaktionen auf das Geschehen ein wichtiges pathos-Verfahren. Obwohl es Warburg weniger um das wirkungsästhetische Moment des pathos, sondern mehr um die Formelhaftigkeit im Gedächtnis der Kunst geht, nimmt er mit der Akzentuierung auf eine „Gebärdensprache“ doch genau dieses Moment in den Blick, durch welches auch der Mehrwert des Begriffs ‚Pathosformel‘ gegenüber ‚Motiv‘ oder ‚Topos‘ legitimiert wird: Als Elemente einer „Gebärdensprache“ stellen Pathosformeln zugleich mit einem Geschehen auch die affektive Reaktion darauf dar, laden das Geschehen affektiv auf und zielen darauf ab, ein unmittelbares Verständnis des Unfasslichen mithilfe von Affektübertragung zu erreichen. Obwohl etwa Longin die Kategorie des hypsous, des Erhabenen, in ganz engen Zusammenhang mit pathos bringt, lässt er doch die Möglichkeit einer (angemessenen) Darstellung des Erhabenen ohne pathosVerfahren, d.h. ohne Affektdarstellung offen. Dies ist für den vorliegenden Zusammenhang insofern wichtig, als einige Realisierungen der ‚toten Mutter‘ ebenfalls ohne pathos-Verfahren auskommen. Da es in diesen Fällen aber ganz genauso darum geht, die pathos-Wirkung des movere zu erreichen, oder sogar noch zu steigern, möchte ich auch diese Fälle in meine Betrachtung mit einbeziehen und der Frage nachgehen, ob die Subsumierung dieser Motiventfaltungen unter den Begriff ‚Pathosformel‘ in diesen Fällen anzuzweifeln ist oder nicht. Ein Argument dafür, auch diese Fälle unter dem Begriff ‚Pathosformel‘ zu fassen, könnte sein, dass der kleinste gemeinsame Nenner aller pathos-Verfahren die Strategie des Vor-AugenStellens (enárgeia bzw. evidentia) ist. Und diese bedarf nicht notwendigerweise der Darstellung von Affektreaktionen. Es können auch andere darstellerische Mittel diesem Ziel dienen.

3. Bezogenheit und Beziehbarkeit von ‚Pathosformeln‘ auf Texte Zur Frage der Übertragbarkeit des Begriffs ‚Pathosformel‘ auf Texte gibt es ältere und neuere Überlegungen. Schon Warburgs Mitarbeiterin, Gertrud Bing, sah eine Parallele zum Begriff ‚Topos‘ und schrieb 1965: „In der Rhetorik wird eine zur Konvention gewordene Formel, die laufend verwendet wird, um eine Bedeutung oder eine Stimmung mitzuteilen, Topos genannt. Warburg stellt das Vorhandensein von etwas analogem in der bildenden

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Kunst fest.“16 Auch Ernst-Robert Curtius, der eine sehr ‚vereinfachte‘ Perspektive auf die Bildkunst als im Vergleich zur Literatur ganz unmittelbar rezipierbares Medium hatte, ging von einer völlig unproblematischen Äquivalenz zwischen Topos – in der Literatur – und Pathosformel in der Bildkunst aus. Kritik an diesem einfachen ‚Kurzschluss‘ wurde in neuerer Zeit vor allem von Seiten der Kunsthistoriker geübt. So weist Pfisterer auf eine prinzipielle Differenz zwischen dem auf einen konkreten Gehalt fixierten ‚Topos‘ und dem Warburgschen Verständnis der ‚Pathosformel‘ hin, bei welcher es mehr um den Grad an Emotionalität geht. Worauf es Warburg ankam, war ja zu zeigen, dass dieselbe Formel historisch für verschiedene und mitunter entgegengesetzte Inhalte verwendet wurde.17 Jüngst hat nun Joachim Knape einen Versuch unternommen, Warburgs Konzept mit dem Begriff „Pathosnarrative“ für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen. „Pathosnarrative“ soll als Bezeichnung einer textuellen Parallele zu Pathosformeln im Bild dienen. Knape versteht darunter „spezifisch konturierte verbalsprachliche Vollzüge einer Affekthandlung im Erzählkontext“.18 Ausgehend von Lessings Differenzierung zwischen Raum- und Zeitkünsten schreibt er: „Pathosnarrative müssen als Handlungen formuliert sein“ und benennt eine ganze Reihe solcher Pathosnarrative: „Körperharmonie, Affektspiegelung, Entscheidungsunruhe, Bewegungsirritation, Unsagbarkeitsnarrativ, Echonarrativ, Verdinglichungsnarrativ, Liebesflucht-Reise.“19 In dieser Aufzählung wie auch an den Beispielen, die Knape anführt, fällt auf, dass das eigentlich narrative Moment in ihnen – d.h. die narrative Rahmung eines Ereignisses, d.h. des einschneidenden Bruches einer Kontinuität, in ein Davor und ein Danach – eher schwach ausgeprägt ist, da es sich eher um Situationen, Zustände, Momente vor oder nach einem Ereignis oder um den Moment desselben handelt, also um Momente von erkennender Wahrnehmung aus der Position eines erschreckenden Beobachters. Und es stellt sich die Frage, ob die narrativ-deskriptiven Darstellungen dieser Situationen tatsächlich so weit von ihren bildnerischen Pendants entfernt sind, geht es doch in beiden um einen ereignishaften Moment, den – um mit Lessing (Laokoon) zu sprechen – dramatischen Augenblick. Der einzig wichtige Unterschied ist, 16

Bing, G.: Aby M. Warburg. In: Wuttke, V. (Hrsg.): A.M. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Baden-Baden 1992, 437-454. Vgl. neuere Überlegungen zur Differenzierung zwischen Pathos und Topos in der Bildkunst bei Pfisterer, U./Seidel, M. (Hrsg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Berlin/München 2003. 17 Pfisterer, U.: „Die Bilderwissenschaft ist mühelos“. Topos, Typus und Pathosformel als methodische Herausforderung der Kunstgeschichte. In: Ders./Seidel, Visuelle Topoi, 21-47. 18 Knape, J.: Rhetorischer Pathosbegriff und literarische Pathosnarrative. In: Zumbusch, C. (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010, 34. 19 Ebd., 43.

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dass im narrativen Text die Diskontinuität, die das Ereignis ausmacht, als solche besser markiert werden kann, während das Bild an sich diskontinuierlich ist. Pathos-Verfahren unterbrechen die narrative Kontinuität des Textes und verleihen ihm dadurch eine Bildlichkeit, die als evidentia das Dargestellte vergegenwärtigt. In der antiken Rhetorik ist evidentia/enárgeia die wichtigste pathos-Strategie. Als vergegenwärtigende Visualisierung erzielt sie eine Überschreitung des Textes zum Bild. Eine besondere, Text und Bild betreffende Relevanz des Visuellen ist im pathos-Begriff von Anfang an präsent. Im Folgenden möchte ich nun gezielt Textbeispiele untersuchen, in denen die Pathosformel ‚tote Mutter‘ zum Einsatz kommt und in denen in je spezifischer Weise mithilfe von Pathosverfahren narrative Diskontinuität und dadurch Bildhaftigkeit/Evidenz erzeugt wird. Am Beispiel dieser Pathosformel werde ich auch immer wieder darauf hinweisen, dass Pathosformeln im intermedialen Dialog modelliert werden und Pathosformeln in Texten stets als Ekphrasis fungieren und als solche stets auch eine Dimension medialer Selbstreflexivität aufweisen.

4. Exemplarische Analysen einzelner Realisierungen der Pathosformel ‚tote Mutter‘ 4.1. Plinius William J. Th. Mitchell verweist darauf, dass das Motiv der toten Mutter mit lebendigem Kind zunächst in Plinius’ d.Ä. Naturgeschichte (Naturalis historia) Erwähnung findet. Sie taucht gerade in jenem Kapitel auf, wo Plinius über die Wirkungsmacht der Malerei schreibt, darüber, dass mithilfe bildnerischer mimesis der berühmte Täuschungseffekt erzielt werden kann, und darüber, dass die Malerei endlich auch das Schwierigste gelernt hat: Gefühle auszudrücken. Als Begründer dieser Kunst, Gefühle bildnerisch auszudrücken, führt Plinius den Thebaner Maler Aristides an: Er hat zuerst das Gemüth (ḗthē) geschildert und alle Gesinnungen ausgedrückt, welche die Griechen den Charakter nennen: ebenso auch die Leidenschaften (perturbati-

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ones)“.20 Und als Beispiel führt Plinius eben dieses Motiv der toten Mutter an: „Von diesem ist das Gemälde, da eine Stadt eingenommen ist, und ein Kind an die Brust seiner Mutter, welche an einer Wunde stirbt, herankriecht.21

Zunächst fällt hier auf, dass Plinius ungewöhnlicherweise den von ihm extra griechisch zitierten Begriff „ḗthē“ für „Gemüth“ im Plural und als übergeordneten Begriff verwendet, unter welchen er auch die heftigen Gefühle, die „perturbationes“, was im Griechischen ungefähr „páthe“ entspräche, subsumiert.22 Zur Illustration für die bildnerische Darstellung von Gefühlen resp. „Gemüth“ führt Plinius das Beispiel der sterbenden Mutter an und weist darauf hin, dass das Bild zeigt, dass die Sterbende das Kind „noch fühle“ und dass sie „fürchte, es möchte das Kind, da die Milch erstirbt, ihr Blut in sich lecken“.23 Plinius entdeckt in diesem Bild also die Gemütsdarstellung in der Figur der sterbenden Mutter. Dabei fällt weiterhin auf, dass wenigstens eines der laut Plinius dargestellten Gefühle, nämlich „Furcht“, der Ordnung der antiken Rhetorik nach klar dem Bereich des pathos bzw. der „páthe“, der besonders starken und besonders negativen Gefühle zuzuordnen ist. Besonders interessant scheint an dieser Stelle, dass der in Plinius’ Zeit noch nicht zum Topos oder zur Formel geronnene Motivkomplex der toten Mutter mit lebendigem Kind bereits hier, an seinem Ursprung, mit dem Thema Krieg verbunden wird und gewissermaßen als verdichtete Veranschaulichung, als Figur für die Schrecken des Krieges fungiert. Indem Plini20

„Aequalis eius fuit Aristides Thebanus. is omnium primus animum pinxit et sensus hominis expressit, quae vocant Graeci ηθη [sic!], item perturbationes, durior paulo in coloribus.“ (Naturalis historia, Buch XXXV, Kapitel XXXVI, Abschnitt 98). http://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/Pliny_the_Elder/35*.html (12.02.2016). Übersetzung aus: Plinius d.Ä.: Plinius Naturgeschichte, Buch XXXV, Kapitel 10: „Von Vögeln, welche durch Malerei betrogen sind, und was das Schwerste ist in der Malerei“. Übersetzt von Johan Daniel Denso. Rostock/Greifswald 1765, 744ff. 21 „[…] oppido capto ad matris morientis ex volnere mammam adrepens infans […].“ (Naturalis historia, Buch XXXV, Kapitel XXXVI, Abschnitt 98). 22 Plinius’ Verwendung des Ethos-Begriffs unterscheidet sich damit grundlegend von jener in der Rhetorik des Aristoteles, denn dort verwies die Kategorie des Ethos auf den Charakter des Redners. Bekanntlich galt „Ethos“ als Selbstrepräsentation des Rhetors, die Aristoteles neben „Logos“ und „Pathos“ als eines der Überzeugungsinstrumente des Redners ansah. Ebenso wenig entspricht die Verwendung von „ḗthē“ bei Plinius der bereits in der Antike aufgekommenen (aber v.a. seit der Renaissance dominanten) innerrhetorischen, genauer: affektrhetorischen graduellen Differenzierung zwischen „Ethos“ und „Pathos“ als „abgemilderter, milder“ („Ethos“ als „affectus mitis atque compositi“) vs. „akuter, hoher“ Affektstufe, die jeweils einer Stilebene, nämlich der mittleren oder der hohen nach dem Gesetz des aptum zugeordnet wurden. Vgl. dazu Robling, F.H./Fortenbaugh, W./Mouchel, Ch.: Ethos. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen 1994, 1516-1543, hier: 1517. Danach hätte Plinius hier nicht „ḗthē“, sondern „páthe“ schreiben müssen. 23 „[…] intellegiturque sentire mater et timere, ne emortuo e lacte sanguinem lambat.“ (Buch XXXV, Kapitel XXXVI, Abschnitt 98).

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us diese Verbindung in der einleitenden Formulierung „oppido capto“ lakonisch anspricht, bringt er noch eine weitere, den Rezipienten und damit die wirkungsästhetische Dimension des Motivs betreffende Dimension ins Spiel, die allerdings nicht expliziert wird: Durch das Rahmenthema ‚Krieg‘ erhält das im Bild dargestellte ‚Gefühl‘ (pathos) eine wirkungsästhetische Dimension, die auf einer anderen Ebene liegt: Es ist dazu angetan, im Rezipienten die Furcht und den Schrecken vor den Gräueln des Kriegs zu evozieren. Diese Wirkungsdimension bleibt jedoch – laut Plinius’ Ekphrasis – implizit, ohne Darstellung im Bild. Im weiteren Verlauf wurde Plinius zum Ausgangspunkt der Etablierung der ‚toten Mutter‘ zu einem ikonographischen Topos der europäischen Bildkunst seit der Renaissance.24 Unter dem gemeinsamen Nenner des Katastrophischen wurden mithilfe dieser ‚Formel‘ lange Zeit bevorzugt Naturkatastrophen in ihrer Bedeutung für die Menschheit auf den Punkt gebracht und z.T. als Gottesstrafen interpretiert. Im späten 19. Jahrhundert findet sich die ‚tote Mutter mit lebendigem Kind‘ auf mehreren Gemälden im Kontext des Russisch-Osmanischen Krieges, deren Ziel die Modellierung Bulgariens als Opfer ist.25 Und auch im 20. Jahrhundert findet die Formel immer wieder im Kontext von Kriegen, insbesondere zur Darstellung des Leids der Zivilbevölkerung, Anwendung sowie zur Symbolisierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So zeigt z.B. das Monument von Sant’Anna di Stazzema, welches an ein Massaker von SS-Offizieren 1944 gemahnt, bei dem innerhalb kürzester Zeit 560 Menschen, v.a. Frauen und Kinder, ermordet worden waren, eine tot hingestreckte Mutter mit einem lebenden Säugling an der Brust, d.h. dieselbe Anordnung der Figurengruppe, die wir von Plinius (und auch aus der Malerei von Raffael26 und Poussin27) 24

Mitchell, Idolatrie. Nietzsche, Blake und Poussin, 20-30. Baleva, M.: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 2012, 156ff. Sehr interessante Variationen der Formel ‚tote Mutter‘ finden sich etwa im Zyklus Bulgarische Märtyrer (Bolgarskie mučenicy) (1877) des russischen Malers der Gruppe peredvižniki Konstantin Makovskij sowie im Nocturno des Grauens (aus dem Zyklus Unter dem Joch von 1897) des tschechischen Bulgarien-Malers Ivan Mrkvička. Während bei Makovskij eine andere weibliche Figur das lebende Kind von der toten Mutter weggenommen hat (es schreit auf deren Arm und blickt entsetzt zu seiner toten Mutter hinunter) – eine Variante, die durchaus als Zitat von Raffaels Il Morbetto gelesen werden kann, wo auch andere das Kind wegziehen und mit dieser Geste des entsetzten Wegziehens ein weiteres Pathos-Element hinzukommt –, liegen bei Mrkvička Mutter und Kind ohne Lebenszeichen am Boden und werden von einer dritten Figur beweint. Vgl. dazu Baleva, Bulgarien im Bild, Tafel XI und Tafel XIII (ohne Seite). 26 Vgl. Marcantonio Raimondi: Il morbetto (dt. Die Pest in Phrygien), Kupferstich „nach Raffael“ ca. 1515. Dieses Bild findet sich auch in Warburgs Mnemosyne-Atlas auf der 45. Tafel rechts unten, vgl.: http://warburg.library.cornell.edu/panel-image/panel-45image-19 (12.02.2016). 25

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kennen. Dass hier mithilfe der Pathosformel ‚tote Mutter‘ ein Monument gestaltet wird, bestätigt den ikonographischen Status und die fortdauernde Produktivität des Motivs. Im Vergleich zu Plinius weist es eine Verschiebung in Hinblick auf die Affektdarstellung auf: Hier ist es der Säugling, der, offensichtlich verzweifelt, schreit und weint, während er mit der Hand an der Brust der toten Mutter zieht (Abb. 1). Abb. 1: Tito Salvatori, Monument in Sant’Anna di Stazzema (Toskana), 1948.28

4.2. Pathosformel ‚tote Mutter‘ in der Literatur Zahlreiche Realisierungen dieser Pathosformel können auch in der Literatur nachgewiesen werden. Obwohl, wie bereits die angedeuteten bildhistorischen Zusammenhänge zeigen, generell davon auszugehen ist, dass diese Formel sowohl von transmedialer als auch von (trans-)europäischer Reichweite ist, werde ich mich im Folgenden auf die russische, genauer gesagt, die sowjetische Literatur konzentrieren.29 Neben dem Nachweis der Formel 27

Vgl. Poussins Die Pest von Ashdod oder, mit einem anderen Namen, Die Pest der Philister (1630), Musée du Louvre. 28 http://www.gedenkorte-europa.eu/content/list/247/ (12.02.2016). 29 Wichtige Beispiele für die Pathosformel ‚tote Mutter‘ in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts wären z.B. Gogol’s Taras Bul’ba, wo in dem mit ekphrastischen Bezugnahmen auf die bildende Kunst nur so gespickten sechsten Kapitel (Version von 1842) über Andrijs geheime Flucht in das von den Kosaken belagerte und vom Hungertod bedrohte polnische Dubno Andrijs Blick in der Stadt als Erstes auf eine tot auf der Straße liegende Mutter fällt, deren Säugling verzweifelt an ihrer Brust saugt. Ein anderes Beispiel wäre Dostoevskijs Erzählung Mal’čik u Christa na elke (Der Knabe bei Christus zur Weihnachtsfeier, 1876), die mit einer narrativen Entfaltung der Formel eingeleitet wird und damit das ausweglos tragische Ende, den Tod des Kindes, bereits in Sichtweite rückt.

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geht es hier zum einen darum zu zeigen, wie auch in den narrativen Texten die intermediale Dimension der Pathosformel inszeniert und variiert wird, und zum anderen darum, dass sich diese Formel nur in ganz bestimmten Kontexten und auch da nur eingeschränkt zu jener Heroisierung instrumentalisieren lässt, die in den sowjetischen Darstellungen des Krieges Norm war. Hier kommt es dann darauf an, die jeweilige Transformation der Formel zu analysieren. Vorab jedoch ist es zum Verständnis der sowjetischen Realisierungen der Formel nötig, die Bedeutung pathos und pathos-Verfahren im stalinistischen und poststalinistischen sowjetischen Kontext zu berücksichtigen. Denn im krassen Gegensatz zur Pathoskritik der westeuropäischen Moderne30 fungierte pathos im Kontext der sowjetischen Ideologie und der mit ihr verbundenen Kultur- und Kunstpolitik, bei der die didaktisch-erbauliche und die politisch identitätsstiftende Funktion der Kunst explizit im Vordergrund stand, als Leitbegriff, als darstellerische Maxime. Dies galt insbesondere für jene zentralen historischen Ereignisse, um die herum das heroische Narrativ des Aufbaus und der Verteidigung der sowjetischen Idealwelt entwickelt wurde. Nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg war das insbesondere der als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnete Zweite Weltkrieg, der zum wichtigsten Instrument der Modellierung kollektiver Identität über alle historischen Brüche der letzten 60 Jahre hinweg avancierte.31 Die gesamte Palette der traditionellen rhetorischen und bildnerischen pathosVerfahren stand zur Verfügung, um das sowjetische Volk zu heroisieren, es zugleich als Opfer der Nazis und als Sieger über dieselben zu modellieren und dabei den zentralen symbolischen Status dieses Themas zu unterstreichen. Im Zusammenhang des Krieges avancierte die Mutter in den 1940er Jahren zu einer der am meisten symbolisch und ideologisch zu Zwecken von Propaganda und Heroisierung aufgeladenen Figuren. Die „Mutter-Heimat“ (mat’-rodina) und die heroische Mutter-Kriegerin gehören zum Kernbestand der stalinistischen und post-stalinistischen sowjetischen Ikonographie. Es ist bezeichnend, dass das Motiv der ‚toten Mutter‘ ab den 1930er Jahren nur sehr eingeschränkt eingesetzt wurde: Die ‚tote Mutter‘ taugte kaum für eine agitierende Heroisierung. Symptomatisch für die stalinistische Schwelle Mitte der 1930er Jahre erscheint Andrej Platonovs Umgang mit dem Muttermotiv. Seine frühe Erzählung Kotlovan (Baugrube, 1930) greift die Formel der ‚toten Mutter‘ auf und entfaltet sie narrativ weit und in Hinblick auf die kontinuierliche Grundsemantik der Formel konsequent. Das fatale Ereignis des Todes der Mutter 30

Zur „nachhaltigen Krise des Pathos“ im 20. Jh. vgl. Zumbusch, C.: Probleme mit dem Pathos. In: Dies. (Hrsg.): Pathos, 7-24, hier: 7. 31 Gudkov, L.: Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg. In: Osteuropa 4-6 (2005), 56-73.

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bildet hier den narrativen Kern der dystopischen Darstellung des sowjetischen Aufbaus. Die Darstellung des Todes der Mutter von Nastja – des kleinen Mädchens, dessen Schicksal den roten Faden der Handlung bildet – greift die für die Figurenkonstellation der Pathosformel ‚tote Mutter‘ konstitutiven Momente des Nichterkennens (Dunkelheit) und des Nichtverstehens (Kind) deutlich erkennbar auf und führt im zweiten Teil der Erzählung konsequent und ausweglos auf den Tod des Kindes selbst hin. Hier, 1930, dient die Formel der allegorischen Gestaltung einer pessimistischen Sicht der sowjetischen Aufbau-Utopie.32 Im Kontext der pathetischen Kriegsdarstellung und Pflege des Andenkens an den heroischen Sieg der Sowjets konnte die Pathosformel ‚tote Mutter‘ nur entweder narrativ aufgelöst werden, so dass die Ausweglosigkeit, die sie symbolisiert, aufgehoben und überwunden wird, oder in wenigen, ganz besonderen thematischen Kontexten zum Einsatz kommen. Ein solcher Kontext ist die Blockade Leningrads, welche die sowjetischen Darstellungen zwar ebenfalls heroisierten – z.B. indem sie sie als eine Art zweite, andere Front zur eigentlichen Front parallel setzten –, bei deren Inszenierung es jedoch um die Auffassung des Geschehens als unfassbare, ausweglose Leidenssituation ging. Ich komme darauf weiter unten zurück.

4.2.1. Vasil’ Bykaŭ Voŭčaja zgraja (Wolfsrudel, 1975) Die Partisanen-Mutter stellte im sowjetischen Kontext eine zentrale topische Variante der kriegerischen ‚Mutter-Heimat‘ dar, in der Malerei, im Film und in der Literatur. Auch für den Klassiker der weißrussischen Sowjetliteratur, Vasil’ Bykaŭ, dessen Werke sich zum großen Teil mit dem Krieg auseinandersetzen, trifft dies zu. Bykaŭ reflektierte dies auch, indem er das Gemälde Partisanenmadonna seines Landsmanns Michail Savicki in einer Laudatio als dessen wichtigstes Werk nobilitierte (Abb. 2). Das Gemälde stellt eine stillende Partisanin-Mutter direkt an der Front dar und modelliert damit eine krasse Kontrafaktur der Pathosformel ‚tote Mutter‘.

32

In krassem Gegensatz zu Kotlovan stehen die in den Kriegsjahren entstandenen Erzählungen Platonovs, in denen er eine der offiziellen Propaganda entsprechende Mutterikone geradezu idealtypisch narrativ entfaltet. Platonovs Kriegserzählungen aus dem Jahr 1943, Mutter (Ahndung der Umgekommenen) (Mat’ [Vzyskanie pogibšich]) und Leinenhemd (Polotnjanaja rubacha), inszenieren programmatisch die Ablösung zwischen konkreter Mutter und symbolischer Mutter-Heimat.

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Abb. 2: Michail Savicki, Partisanenmadonna (Partyzanskaja madonna, 1967).33

Bykaŭ selbst nimmt in seiner Erzählung Voŭčaja zgraja (Wolfsrudel, 1975) Bezug auf die Partisanenmadonna, in welcher er zugleich – deutlich erkennbar – die Pathosformel der ‚toten Mutter‘ aufgreift und zum Zwecke einer optimistischen Heroisierung auflöst. Er erzählt die Geschichte einer Partisanentrojka, zweier Männer und einer jungen Frau mit Säugling, die diesen stets in den Kampf mitnimmt. In einem Gefecht mit den Deutschen werden die Frau und einer der beiden Männer tödlich getroffen. Der zweite Protagonist – zugleich der Erzähler – rettet das Baby. Interessant und symptomatisch ist hier erstens, dass die Pathosformel nicht komplett auftaucht – der Mann findet die tote Mutter nicht, die Darstellung verweigert das topische Bild der grausigen Einheit von toter Mutter und lebendigem Kind –, und zweitens, dass der Zusammenhang zu diesem Topos dennoch auf der Metaebene deutlich hergestellt wird, indem in der Narrativisierung des Motivs Sichtbarkeit und, allgemeiner, Wahrnehmbarkeit verhandelt wird. Während Sichtbarkeit und Sehen bei Bykaŭ dem mithilfe von Leuchtraketen das Gelände durchforstenden faschistischen Feind zugeordnet werden, agieren die Partisanen im Dunkeln: Das Dunkel der Nacht birgt sowohl die tote Mutter wie das überlebende Kind und auch den das Kind rettenden Partisanen. Was Letzterem dazu verhilft, das Kind zu retten, ist nicht das Sehen, sondern das Hören eines leisen Wimmerns. Die Partisanenmutter stirbt und lässt ihr Kind lebend zurück. Damit scheint gewissermaßen die Situation des Topos erfüllt. Aber Bykaŭ bestätigt ihn gerade nicht, sondern konterkariert ihn gleichsam, indem er – wie alle textuellen Entfaltungen des Topos – Wahrnehmung verhandelt und reflektiert, dabei aber an die Stelle der die Katastrophe, das Endgültige des tragischen Ereignisses besiegelnden und sich daher tief einprägenden Visualität die auditive Wahrnehmbarkeit setzt, die die Rettung – und damit 33

Vgl.: http://www.gazetaby.com/cont/art.php?sn_nid=32249 (12.02.2016).

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letztlich auch den Sieg der Partisanin bzw. aller Partisanen – bringt. Eine schlichte Wiederholung des Topos der toten Mutter mit dem lebendigen Kind hätte zur Heroisierung der Partisanin als aktive Kriegsheldin nicht getaugt. So aber wird ihr Tod im Verschwinden des Leichnams gleichsam sublimiert und im sicheren Überleben des Kindes schließlich aufgehoben. Als auch diese Leuchtkugel ausgebrannt war, sprang er auf und rannte durch den Roggen zum Erlengehölz. Aber etwas beunruhigte ihn, er zögerte unschlüssig, hockte sich hin und hielt Umschau. Ihm war, als habe er eine Stimme gehört, ein klägliches Kindergreinen, er war ganz still, hielt den Atem an und lauschte. Gibt es denn hier im Roggen Gespenster? dachte er betroffen und hörte wieder, deutlicher als beim ersten Mal, schwaches Weinen ganz in der Nähe. Doch er durfte keine Minute verlieren, sie kreisten ihn offensichtlich im Roggen ein, bald konnten Hunde auftauchen; er kam zur Besinnung und rannte zum Erlengehölz. Er wäre auch in den Wald entkommen, hätte ihm nicht plötzlich eine Leuchtspurgarbe, die über den Roggen fegte, den Weg versperrt. Um sich zu decken, legte er sich flach auf die mürbe Erde des Roggenfeldes und hörte, wie die Sprenggeschosse im nahen Erlengehölz einschlugen, gleichsam ein Echo des fernen hitzigen Geratters. Jetzt wußte er genau, daß sie ihn entdeckt hatten und von der Straße aus schossen, also mußte er sich auf dem gleichen Weg retten wie gestern – im weiten Bogen durch den Roggen zum Erlengebüsch. Kaum daß der Feuerstoß abriß, sprang er auf. Aber ehe er losrannte, wandte er sich seitlich, lief einen Bogen, duckte sich, horchte und sah plötzlich gar nicht weit einen weißen Fleck auf der Erde. Mit einem Gefühl, das halb Staunen, halb Hoffnung war, stürzte er hin, er ahnte schon, was das war, ergriff das warme, lebendige Bündel, drückte es an seine Brust und lief einen weiten Bogen, des Glaubens, irgendwo werde vielleicht auch Klawa liegen. Doch sie war nicht zu finden, nur der Kleine war wer weiß wie hier liegengeblieben. Sprachlos vor Staunen rannte Ljautschuk übers Feld zum Erlengehölz. […] Kaum war er mit dem Kleinen auf dem Arm in das schützende Dunkel getaucht, da zischte hinter ihm die nächste Leuchtkugel in den Himmel, und ein Feuerstoß von Sprenggeschossen fuhr knatternd durch die Zweige. Grelles Licht, vermischt mit einem seltsamen Gewirr von Schatten, fiel von hinten über ihn, ein paar Leuchtspurketten huschten über seinen Kopf, hüllten ihn in das Geknatter der Sprenggeschosse und Geprassel der Zweige. Er fiel auf die Seite, entsetzt, daß er so nicht weit kommen, daß mit dem Jungen zu laufen hier unmöglich sein werde. Er brachte es jedoch einfach nicht fertig, ihn jetzt liegenzulassen, da die Hunde hinter ihm her waren. Er wußte nicht, ob er die nächsten Minuten überleben würde, und stürmte blindlings ins Gebüsch, mit der linken Schulter die Zweige teilend und im Jackett den Kleinen schützend, der nun im Warmen steckte, deshalb still und friedlich geworden war und nur die Beinchen in der nassen Windel bewegte.34

34

Bykau, W.: Das Wolfsrudel. In: Ders.: Novellen. Bd. 2. Berlin 1976, 552-554. „Калi i гэтая ракета згарэла, ён шыбануў праз жыта да алешнiчку, ды раптам спынiўся, прысеў. Здалося, пачуўся голас, нават нiбыта далёкi дзiцячы плач, i ён ацiх, затрымаў дыханне, услухаўся. Цi не зданi завялiся ў гэтым жыце, дзiвячыся, падумаў ён, як зноў зусiм выразна данёсся аднекуль цiхi, поўны жальбы плач зусiм яшчэ малой iстоты, i ён, жахнуўшыся, кiнуўся далей у жыта. Ён, мусiць, i ўцёк бы ў лес, калi б у той час амаль перад ягоным тварам не разанула цемру трасiрная чарга. Блiзкiя разрывы куль у алешнiку, нiбы рэха, з абсалютнай

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4.2.2. Die Pathosformel ‚tote Mutter‘ in der Darstellung der Blockade Leningrads Im Kontext der pathetischen Heroisierung der Blockade Leningrads als zweite Front wurde die Pathosformel ‚tote Mutter‘ nur in abgewandelter Form realisiert. So etwa in Michail Eršovs Verfilmung der Romanepopöe von Aleksandr Čakovskij Blokada, die 1973-77 gedreht wurde. In diesem offiziösen Film der Brežnev-Ära bildet der Tod einer Mutter einen der dramatischen Höhepunkte.35 Wichtige Elemente, die für das Pathos der Formel ‚tote Mutter‘ konstitutiv sind, tauchen auch in dieser filmisch-narrativen Auflösung der Formel auf: Die vorangehende Szene zeigt die Situation des Anstellens um die Brotration auf der Straße. Dann folgt eine Einstellung, in der das für die Formel konstitutive Moment des Nichtverstehens aufgegriffen und dabei invertiert wird: Hier ist es der aus der Brotschlange nach Hause zurückkehrende Großvater, der von dem Kind aufgeklärt wird, dass dessen Mutter, seine Tochter, gestorben ist. Die ruhig-tragische Szene der Trauer des Vaters und des Kindes wird akustisch beendet und aufgelöst durch die Rezitation der berühmten Hymne des kasachischen Nationaldichters der Stalinära, Džambul Džabaev, auf die Bürger Leningrads: Leningrader, meine Kinder! (Leningradcy, deti moi). Zuvor schon, als der Großvater nachhause ging, war das Bild des Dichters in Gestalt eines auf den Zaun geklebten Plakats im Hintergrund aufgetaucht. Nun, als die Rezitation einsetzt, werden die дакладнасцю паўтарылi яе далёкi iмклiвы трэск, i ён зноў распластаўся на мулкiх грудах жытняе нiвы. Цяпер ён ужо ведаў пэўна, што яго заўважылi i што стралялi па iм з дарогi i ад вёскi; значыць, ратавацца трэба ўсё тым жа ўчарашнiм шляхам у лес. Калi чарга сцiхла, ён тут жа ўскочыў, але, перш чым пабегчы, завярнуў па жыце ўбок, трохi нават назад, прыпынiўся, услухаўся i ўбачыў непадалёк белую плямку ля самай зямлi. 3 нечаканай надзеяй ён кiнуўся да гэтае плямкi, ужо пэўна ведаючы, што гэта, падхапiў цёплы жывы камячок на рукi i, прытулiўшы да грудзей, аббег трохi шырэйшае кола па жыце. Гэта было i дзiўна, i зусiм недарэчна: ён думаў, што дзесь тут павiнна ляжаць i Клава, забiтая цi жывая. Але Клавы не было. Адчуваючы тлумнае замяшанне ў галаве, Ляўчук пабег упопе рак нiвы да алешнiку. – Ух, гады! Ух, гады! – роспачна казаў ён сабе, слухаючы, як недзе паблiзу гаўкалi, скавыталi сабакi. Але ўжо побач быў лес, i ён разам з малым на руках неўзабаве ўбег у алешнiк. У той самы момант ззаду стрэлiлi новай ракетай, i па алешнiку прайшла доўгая чарга. Яркае святло, перамешанае з дзiвоснай блытанiнай ценяў, рынулася на яго ззаду, некалькi трас блiзка прашылi начны хмызняк, абдаўшы яго трэскам разрыўных куль i абабiтым галлём. Ён упаў на адно калена, жахнуўшыся, што так не ўцячэ, што бегчы па лесе з малым немагчыма. Але па полi ён не ўцячэ тым болей, там яго дастануць першай чаргой. I ён пабрыў у цемры навобмацак, левым плячом рассоўваючы голле, захiнуўшы крысом пiнжака малога, якi трохi неяк ацiх i толькi перабiраў ножкамi ў мокрай пялёнцы.“ Bykaŭ, V.: Voŭčaja zgraja. Minsk 1975. 35 Blokada 2/2, serija 1/2, 1:19:54 – 1:21:41. Vgl.: http://www.youtube.com/watch?v=diZGCqzZr8M&feature=relmfu (12.02.2016).

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Einstellung auf das im Vorzimmer der Wohnung wartende, trauernde Kind und das Portrait des Dichters zusammenmontiert und so auf visueller Ebene der akustisch vernehmbare semantische Sprung von der konkreten Ebene des Leidens (des Kindes) auf die symbolische Ebene der Leningrader als „Kinder“, d.h. als Schützlinge des Sängers, der ihnen mithilfe seines heroischen Poems die Kraft zum Überleben bringt, gestützt. Dementsprechend werden während der weiteren Rezitation des gesamten Gedichts dokumentarische Szenen der Katastrophe der Blockade mit dem Portrait des kasachischen Nationaldichters überblendet. So wird in diesem offiziös-heroisierenden Film die Pathosformel ‚tote Mutter‘ anzitiert und wiederum im Sinne eines optimistischen Heroismus aufgelöst. Eine wichtige Pathosstrategie besteht auch hier im Verfahren einer intermedialen Grenzüberschreitung, im Gegeneinander-Führen von Visualität, von Sichtbarkeit und Hörbarkeit (hier gleichbedeutend mit Text). So wird die Tragik dessen, was das Bild zeigt, durch die Stimme aus dem Off aufgelöst, die wiederum im übergeblendeten Dichterportrait eine magische Visualisierung erhält. Eine genaue Realisierung der Pathosformel ‚tote Mutter‘ findet sich dagegen im Blockadebuch (Blokadnaja kniga, 1979ff.) von Daniil Granin und Ales Adamovič, dessen Publikation in sowjetischer Zeit lange verhindert wurde. Auch in dieser textuell-narrativen Umsetzung der Pathosformel erhält die intermediale Dimension eine zentrale Funktion in der Pathosstrategie. Das Motiv der ‚toten Mutter‘ mit dem lebendigen Säugling ist hier im 15. Kapitel, das den Titel Leningrader Kinder (Leningradskie deti) trägt und bereits einen Teil des Finales des ersten Teils bildet, platziert und erhält dadurch eine symbolische Schlüsselfunktion. Wie in anderen Kapiteln des ersten Teils werden auch hier Zeugenberichte zitiert. Der Bericht der Marija Ivanovna Dmitrieva kulminiert in der Geschichte der Entdeckung einer toten Mutter mit lebendigem Säugling, der an ihren Brüsten saugt. Aus der Perspektive der Rhetorik wird die Dramatik der Szene mithilfe des Verfahrens der gradatio entfaltet, die hier im Wechsel von erzählerischer auf visuelle Akzentuierung besteht: Auf die Erzählung einer schrittweisen, durch Hindernisse wie verschlossene Türen blockierten Entdeckung einzelner tragischer Schicksale mitten im schrecklichen Leid der gesamten Blockade folgt die Beschreibung einer sich schließlich eröffnenden Szenerie als „Bild“ (kartina), in dem das gesamte Grauen verdichtet zutage tritt. Dieses „Bild“ ist eine tote Mutter mit verständnislosem Säugling an der Brust: Und hier noch ein Fall, die Schwezowstraße sechsundfünfzig, meiner Meinung nach wurde dieses Haus später völlig zerstört. Da kam auch niemand mehr aus der Wohnung. Im Erdgeschoß. In den Häusern waren nur noch wenige Leute geblieben. Ich gehe rein. Ich bin ja nicht allein, hab zwei Leute mitgenommen: Wer weiß, was dort los ist, fast niemand lebt mehr da, das Haus ist praktisch zerstört. Da, ein verschlossenes Zimmer. Wir hämmerten gegen die Tür. Die Hausmeisterfrau brachte viele

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Schlüssel, und wir probierten sie durch. Dann war die Tür offen. Und was sahen wir, was für ein Bild? Da stand ein Bett. Auf dem Bett eine tote Mutter. Eine junge Frau, Belowa hieß sie. Ihr Mann war an der Front. Und das Kind lebt – weiß nicht, es muss wohl so anderthalb sein. Und da, es kriecht auf ihr herum, es zieht ihre Brüste in den Mund und saugt daran. Was für ein Albtraum! Na, wie finden Sie das?! So ein Bild stand uns da vor Augen.36

Das stilistische Pathos der Stelle ist bemerkenswert. In ihm werden die vorhergehenden Schilderungen überboten: Die Emphase des Ausdrucks, die durch rhetorische Fragen und affektgeladene Ausrufe erzielt wird, aber auch durch die Betonung des Sehens, der sehenden Entdeckung, der Offenbarung, der Evidenz des Unheils in diesem einen „Bild“. Die Darstellung bedient sich hier der enárgeia bzw. evidentia als eines klassischen Pathosverfahrens der antiken Rhetorik, das speziell auch der Darstellung des Unerhörten, des Unglaublichen und des die Vorstellungskraft Übersteigenden, Undarstellbaren mithilfe des Textes diente. Nach all dem, was bereits zuvor erzählt wurde, dringt die Erzählung hier – räumlich veranschaulicht durch den zunächst vielfach verschlossenen, schwer zu öffnenden Raum – vor zur momentanen Einsicht in die ganze Tragweite des Leids. Im Verfahren der enárgeia/evidentia konkurriert das rhetorische Pathos der Textkunst – so haben es die alten und neuen Theoretiker der Ekphrasis gesehen – mit der Bildkunst. Während Warburg die Text-Bild-Relation nicht weiter reflektiert, sondern davon ausgeht, dass Pathosformeln oft aus Texten kommen und quasi bildlich inszenierte Ekphrasen sind, geht Mitchell auf die für gerade diese hier interessierende Pathosformel spezifische Kombination aus Pathos und Visualitäts- bzw. Visualisierungskritik ein, die dieser Formel eine symbolische Doppelfunktion verleiht, Bedeutung auf der primären und der Metaebene. In der textuellen Narrativisierung der Formel verschwindet diese (für die bildlichen Inszenierungen in gewissem Sinn selbstzerstörerische) Spannung und die Quasi-Bildlichkeit des Textes wird als gradatioVerfahren genutzt, um Evidenz zu erzeugen. 36

Mit leichten Korrekturen, die den Text dem Original annähern, zitiert nach Adamowitsch, A./Granin, D.: Das Blockadebuch. Bd. 1. Berlin 1984, 289-290. „А вот еще случай, улица Швецова, пятьдесят шесть, по-моему, дом этот потом весь разбило. Тоже не выходят и не выходят из квартиры. А нижняя квартира. Людей-то ведь мало осталось в домах. Иду. Да не одна я, взяла двух человек с собой: ведь кто его знает, там почти никто не живет, дом-то разбитый весь. Вот закрытая комната. Уж мы бились-бились. Дворничиха принесла много ключей, и вот мы стали открывать. Открыли. И что увидели, какую картину? Открыли дверь – стоит кровать. Мать лежит мертвая. Молодая женщина, Белова ей фамилия. А муж на фронте. А ребенок – не знаю, ему года полтора – живой. И вот по ней лазает, причем тащит ейные груди в рот и сосет их. Кошмар какой-то! Ну, как вы думаете?! Вот такая картина перед глазами.“ Adamovič, A./Granin, D.: Blokadnaja kniga. St. Petersburg 2013, 223f.

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5. Resümee Ich hoffe mit den obigen Ausführungen nicht nur nachgewiesen zu haben, dass die tote Mutter mit dem lebendigen Kind in der abendländischen Tradition als Pathosformel fungiert, die gleichrangig neben den anderen kodierten Mutter-Kind-Topoi einzuordnen ist: der stillenden Mutter, die für Hoffnung steht, und der Pietà, der um ihr Kind trauernden Mutter, deren Trauer jedoch – zum einen weil sie die Hoffnung auf andere Nachkommen belässt, und zum anderen weil sie im christlichen Kontext in Verbindung mit der Idee der Auferstehung Christi kodiert ist – überwindbar ist. Vielmehr sollte am Beispiel der Analyse dieser einen Formel auch deutlich geworden sein, dass Pathosformeln zwischen bildender Kunst und Literatur wandern, und dass sie dabei eine intermediale Reflexivität gewinnen, die je spezifisch ausagiert wird. Den symbolischen Kern der Figurengruppe der toten Mutter mit dem lebendigen Kind, der sie von den anderen „Mutter“-Formeln unterscheidet, bildet in allen angeführten Beispielen die Katastrophe, die hoffnungslose Situation eines übermächtigen Unheils. Diese Figurengruppe lässt – im Gegensatz zu den beiden anderen – Heroisierung nur sehr bedingt zu und lässt sich nur bei deutlicher Modifikation als Instrument einer zum Handeln ermunternden Agitation verwenden. Die über die Jahrhunderte und Kulturen verteilten Beispiele aber haben die kontinuierliche Produktivität dieser Pathosformel gezeigt. Besonders erwägenswert auch in Hinblick auf andere Pathosformeln scheinen erstens die durch die Transposition vom narrativen Text ins Bild und umgekehrt bedingten Modifikationen, zweitens die jeweiligen Bezugnahmen auf Visualität, die in allen Fällen als Pathosverfahren und als Strategien der evidentia zu werten sind, sowie drittens die Veränderungen in Hinblick auf die Pathosträger im Bild bzw. auf der Ebene der Fiktion und in der Relation zwischen Bild bzw. Text und Rezipient. Zum ersten Punkt: Im Unterschied zur These von Knape, der in seinem Aufsatz eine Reihe von für das narrative Textmedium spezifischen Pathosnarrativen benannt hat, kann ich keine Beschränkung der Pathosformel ‚tote Mutter‘ auf das Bild- oder das Textmedium feststellen. Differenzen zwischen den bildlichen oder aber textuellen Realisierungen der Pathosformel ergeben sich gleichwohl durch die Möglichkeiten der narrativen Auflösung des Motivs in einem zeitlichen Kontinuum im Text. Eingeschränkt werden diese Differenzen jedoch durch die dem Pathos selbst eignende zeitliche Dimension. Denn Pathos ist generell eine Kategorie, der Dauer, zeitliche Erstreckung und Verlauf fremd sind, da es um momentane, augenblickliche Situationen höchster Anspannung und Erregung bzw. um plötzlich stattfindende oder besser: hereinbrechende Ereignisse geht. Deshalb entsprechen den von War-

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burg mit dem Begriff ‚Pathosformel‘ bezeichneten Bildszenen auch nur momentane Situationen, deren Darstellung im Text durch Beschreibung bzw. abrupte Unterbrechung der narrativen Kontinuität erreicht wird. In der Diskussion der Textbeispiele wurde deutlich, dass es nur hinführende Narrative gibt, die sich freilich der Pathosverfahren wie z.B. der gradatio bedienen. Und auch Knapes eigene Beispiele für „Pathosnarrative“ zeigen, dass nicht Verläufe, sondern nur momentane dramatische Situationen eine Entsprechung zu den Pathosformeln darstellen. In den von mir angeführten Beispielen geht es in Texten und Bildern um die Darstellung einer momentanen, einer plötzlich eingetretenen, überwältigenden Situation, deren semantischen Kern die Figurengruppe bildet, bzw. um das Ereignis der Erkenntnis einer übermächtigen Bedeutung (der Katastrophe). Mithilfe der Pathosformel wird die Erkenntnis der Unausweichlichkeit und Fatalität der Situation dem Rezipienten zur Einsicht gebracht. Dies wird dadurch evident, dass gerade die Mutter-Kind-Figurengruppe, die kulturell kodiert ist, als symbiotische Einheit und als Symbol der Garantie des Lebens und Weiterlebens, in dieser Formel durch die Grenze zwischen Leben und Tod auseinandergerissen ist. Dadurch, dass bereits der eine, der stärkere Teil der Gruppe, die Mutter, dem Tod anheimgefallen ist, wird die Unausweichlichkeit des Todes auch des zweiten, schwächeren Teils, des verzweifelten, aber nicht verstehenden Kindes (welches symbolisch auf die Zukunft verweist), offensichtlich. Die skizzierte historische Reihe belegt die fortdauernde Produktivität dieser Formel sowohl in den textuellen als auch in den bildlichen Inszenierungen. Dabei fällt auf, dass es in den meisten Fällen eine Metaebene der Darstellung gibt, auf der das in der rhetorischen Tradition für Evidenz (evidentia) stehende Moment der Visualität verhandelt wird. Gerade auch in den textuell-narrativen Arbeiten mit der Pathosformel ‚tote Mutter‘ wird die Thematisierung und Problematisierung von Sichtbarkeit als evidentia-Verfahren eingesetzt, bei dem es darum geht, die Möglichkeiten des Mediums zu reflektieren und seine Grenzen zu zeigen und zu überschreiten. Bei Adamovič/Granin kulminiert die als gradatio aufgebaute Inspektion des Leids der Blockade in einer Ekphrasis der Pathosformel. Im Erzähltext geht es nicht um das Nicht-sichtbar-zu-Machende, sondern um die Überschreitung der Möglichkeiten des Erzählens hin zum imaginär-visualisierenden Zeigen im klassischen Sinn der rhetorischen evidentia-Strategie, durch welches der Text die Möglichkeit des Bildes beansprucht. Diese Strategie wird – wie bereits angemerkt – durch die wiederholte Betonung des Bild-Charakters des Beschriebenen unterstrichen. Bei Platonov wird die Pathos-Wirkung gerade dadurch verstärkt, dass die Figurengruppe der Pathosformel ins Dunkel gesetzt ist. Unsichtbarkeit als Moment der fiktiven Welt fungiert (paradoxerweise?) als Verstärker des auf Affektion abzielenden evidentia-Verfahrens. Auch das zweite erwähnte Textbeispiel spielt auffällig mit Licht und Dunkel,

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mit Sichtbarem und Unsichtbarem. Bei Bykaŭ dient es jedoch dazu, die Pathosformel aufzulösen und das Motiv so der Heroisierung zugänglich zu machen. Und bei Adamovič/Granin wird die Überschreitung der narrativen Textqualität hin zu einer imaginären Visualität durch die Bildlichkeitsmetaphorik und das Anhalten der Erzählung in einer Bildbeschreibung markiert. Somit ist deutlich geworden, dass sich die medienreflexive Thematisierung der Sichtbarkeit auch durch sämtliche textuellen Inszenierungen der Pathosformel ‚tote Mutter‘ zieht. Während sie in den an anderer Stelle diskutierten bildlichen Darstellungen der Überschreitung und zugleich Problematisierung der Grenzen des visuell Darstellbaren dient, wird in den textuell-narrativen Entfaltungen die Überschreitung des Narrativen im Sinne der rhetorischen evidentia vollzogen. Im Kontext der Kategorie Pathos erstaunt dies nicht, sondern bestätigt das Moment der Überschreitung als Konstitutivum des Pathos. Neben Hyperbeln und Figurenhäufung aller Art sind ‚negative‘ Figuren, die auf das Unsagbare und – weil alle Vorstellung übersteigende – Undarstellbare verweisen, immer schon zentrale Pathosverfahren. Es ist daher nur konsequent, dass die Pathosformel ‚tote Mutter‘, die als extrem negative Variante der Mutter-Kind-Figurenkonstellation angesehen werden kann, sich dieser Verfahren besonders stark bedient.

NATASCHA DRUBEK

Ėjzenštejns Pathos

Verweltlichtes Wunder und ekstatische Dialektik1 Sergej Ėjzenštejns Pathos-Begriff machte von den 1920ern bis in die 1940er Jahre eine Entwicklung durch:2 Während zu Beginn das filmtechnische Moment der Pathosgeneration und der Affekt im Vordergrund steht, findet sich beim späten Ėjzenštejn ein komplexer Pathosbegriff, der sowohl rhetorische als auch die Realität betreffende Wirkungen meint – die Natur selbst wird pathetisch, ein Vorgang, der am anschaulichsten im Medium Film gezeigt werden kann. Der Regisseur beschreibt seine Auffassung von Pathos in metaphorischen Worten: Er spricht von „Punkten in einem Prozess, wenn Wasser zu Dampf, Eis zu Wasser, Eisenerz zu Stahl wird“, und bezeichnet diese Momente des „Sprungs“ als „Ekstase“ oder auch „Pathos“ der Materie.3 Ging es beim frühen Ėjzenštejn um Herstellung von Pathos (als Wirkung, die ein Objekt auf den Menschen hat, etwa ein Film auf den Zuschauer), interes1

Dieser Aufsatz ist im Rahmen des Heisenbergstipendiums DR 376/6 entstanden. Hierauf weist bereits Anna Bohn in ihrer Dissertation hin: Bohn, A.: Film und Macht. Zur Kunsttheorie Sergej Eisensteins 1930-1948. München 2003, 218-219. Sie unterscheidet zwischen strukturellen, wirkungs- und produktionsästhetischen Pathosfragen und sieht in den 1930er Jahren das Thema des Pathos zugunsten der Ekstase zurückgedrängt. Zur Produktions- und Rezeptionsästhetik, die Ėjzenštejn in den 1920er Jahren bei der „Herstellung von Pathos“ interessierte, vgl. Sasse, S.: Pathos und Antipathos Pathosformeln bei Sergej Ėjzenštejn und Aby Warburg. In: Zumbusch, C. (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010, 171-190. 3 Ėjzenštejn, S.: O stroenii veščej. In: Ders.: Neravnodušnaja priroda. Bd. 2 (O stroenii veščej). Moskau 2006, 44. Der Übergang von Wasser in Dampf findet sich bereits in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830; Kap. „Die Lehre vom Sein“) zur Illustration des Gesetzes des Umschlagens des Quantitativen ins Qualitative: „Die im Maß vorhandene Identität der Qualität und der Quantität ist nur erst an sich, aber noch nicht gesetzt. Hierin liegt, daß diese beiden Bestimmungen, deren Einheit das Maß ist, sich auch eine jede für sich geltend machen, dergestalt, daß einerseits die quantitativen Bestimmungen des Daseins verändert werden können, ohne daß dessen Qualität dadurch affiziert wird, daß aber auch andererseits dies gleichgültige Vermehren und Vermindern seine Grenze hat, durch deren Überschreitung die Qualität verändert wird. So ist z.B. der Temperaturgrad des Wassers zunächst gleichgültig in Beziehung auf dessen tropfbare Flüssigkeit, es tritt dann aber beim Vermehren oder Vermindern der Temperatur des tropfbar flüssigen Wassers ein Punkt ein, wo dieser Kohäsionszustand sich qualitativ ändert und das Wasser einerseits in Dampf und andererseits in Eis verwandelt wird.“ Hegel, G.W.F.: Werke in 20 Bänden. Bd. 8, Frankfurt a.M. 1970, 225. 2

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Natascha Drubek

siert ihn in den späteren Schriften die Einwirkung auf die Natur, die durch Hinzufügung von Hitze bzw. durch Veredelung (d.h. Wissen und Energie) in einen anderen Zustand gebracht, pathetisiert wird. Ėjzenštejn stellte sich die „träge organische Materie“ („organic matter“) als etwas vor, das „zielgerichtete Initiative“ („purposeful initative“) brauche, um aus Ėjzenštejns posthumem Buch Film Form zu zitieren.4 Der Mensch beherrscht in dieser an Friedrich Engels orientierten dialektischen Weltsicht nicht nur die Natur, sondern auch die Geschichte. Materie und Geschichte unterwerfen sich dem Menschen, so wie die Zuhörer das Pathos des Redners erleiden.

1. Die nichtgleichmütige Natur und das Pathos der Bombe im Sommer 1945 Im vorliegenden Aufsatz soll den philosophischen, religiösen und politischen Konzepten des Pathos im Spätwerk Ėjzenštejns nachgegangen werden, die man aufgrund von Naum Klejmans Neuausgabe der z.T. unveröffentlichten Schriften nun in ihren Originalzusammenhängen wahrnehmen und untersuchen kann. Das Buch, um das es hier in erster Linie geht, trägt den von Klejman gewählten Titel Neravnodušnaja priroda (Die nichtgleichmütige Natur).5 Es handelt sich hier genauer genommen um den zweiten Teilband dieses Werkes, der vom Herausgeber mit dem Titel O stroenii veščej (Über den Bau der Dinge) überschrieben ist. Der erste Teilband der Neravnodušnaja priroda trägt den ins Russische übersetzten Titel der ersten amerikanischen Buchausgabe Ėjzenštejn, The Film Sense (1942) („Čuvstvo Kino“/ „Der Film-Sinn“).6 Ėjzenštejn schenkt dem Begriff des Pathos in seinen reifen Arbeiten einige Aufmerksamkeit. In dem im letzten Kriegsjahr geplanten Buch Neravnodušnaja priroda sollte ein umfangreiches Kapitel mit dem Titel „O stroenii veščej“ ein Unterkapitel „Pafos“ („Pathos“) enthalten. Dieses wiederum enthält insgesamt elf Abschnitte, von „Separator i čaša Graalja“ („Der Separator und der Gralskelch“) bis „Kenguru“ („Känguruh“).7 Zudem findet sich in dem 1949 posthum in New York erschienenen zweiten englischsprachigen Ėjzenštejn-Buch mit dem Titel Film Form ein Unterkapitel „Organic-ness and Pathos“ (ein Kapitel in „The Structure of the Film“), das – wie auch der für Neravnodušnaja priroda überarbeitete Text – 4

Eisenstein, S.: Film Form: Essays in Film Theory. New York (übers. von Jay Leyda) 1949, 46. 5 Klejman, N.: Kommentarii. In: Ėjzenštejn, Neravnodušnaja priroda, 536. 6 Ebd., 614. Man könnte auch übersetzen: „Film-Gefühl“. 7 Ebd., 538. Zum Teil fertiggestellt wurden auch die geplanten Abschnitte zu „Voskresenie El’ Greko“ („El Grecos Auferstehung“) und „,Tjur’my‘ Piranezi“ („Piranesis Kerker“).

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auf dem Artikel „O stroenii veščej“ basiert, der im Juni 1939 in der Zeitschrift Iskusstvo kino unter dem Titel „Organičeskoe i pafos“ erschienen ist.8 Man kann also sagen, dass der Pathos-Begriff in den Nachkriegsjahren und auch in Ėjzenštejns letzter Buchpublikation auf Englisch eine überdurchschnittlich wichtige Rolle spielt. Zugleich fiel die Beschäftigung mit diesem Thema in eine Zeit der sich nach der Lockerung der Zensur während des Kriegs verstärkenden stalinistischen Repressionen und der Ungnade gegenüber dem inzwischen schwerkranken Regisseur, der am 11.2.1948 an den Folgen eines zwei Jahre zuvor erlittenen Herzinfarkts starb. Die berechtigte Frage, inwieweit Ėjzenštejns spätes Interesse am Pathos mit dem nach dem Krieg sich verstärkenden Personenkult Stalins zusammenhängt, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben.9 1945 nahm sich Ėjzenštejn nach den früheren Äußerungen zum Pathos das Thema erneut vor, als er einen Sammelband zum Jubiläum des Films Bronenosec Potemkin (Panzerkreuzer Potemkin) zusammenstellte.10 Dieses Unterfangen wurde aufgrund des Verbots des zweiten Teils des Films Ivan Groznyj (Ivan der Schreckliche) im Februar 1946 jedoch nicht verwirklicht. Der Regisseur plante daher ein alternatives Buch, in dem das Thema des Pathos eine wichtige Rolle spielen sollte. Ėjzenštejn erstellt eine Analyse seines früheren Films Bronenosec Potemkin, dem einst in Berlin vorgeworfen wurde, er wäre „zu pathetisch“.11 Er nimmt diese Kritik zum Anlass, den Begriff des Pathos auf die ihm eigene Art mit Semantiken anzureichern und sich ihn so anzueignen. Die Argumentation, die hier entwickelt wird, findet auf verschiedenen Ebenen statt: Sie ist filmtechnisch, wirkungsästhetisch, philosophisch, physikalisch und – wie argumentiert werden soll – post-religiös. Daher wird es in diesem Aufsatz um das Dreieck der Begriffe – Pathos, Sprung, Religion – gehen, die in diesem Text und ausgewählten Filmbeispielen aus dem Werk Ėjzenštejns eine Rolle spielen. Der in „Organičeskoe i pafos“ bzw. „Organic-ness and Pathos“ zentrale Begriff des Sprungs ragt sowohl in religiöse Sphären hinein als auch in den Komplex der Dialektik, denn „Pathos“ erfordert eine „Einheit der Gegensätze“, ein Ergriffensein (ochvačennost’) und eine Fähigkeit zur „Eks-

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In der russischen, von Klejman neuedierten Variante fehlt diese Überschrift. Der von Ėjzenštejn für Film Form ausgewählte Pathos-Text geht auf das Jahr 1939 zurück und sollte Bestandteil der unveröffentlichten Neravnodušnaja priroda werden, die 1964 im dritten Band der Izbrannye proizvedenija und dann im zweiten Band der Neuausgabe der Schriften 2006 ediert wurde; in der gekürzten englischen Ausgabe ist sie mit einem aktualisierenden Postscriptum versehen. 9 Sylvia Sasse (Pathos und Antipathos, 187) schreibt, Ėjzenštejn hätte sich gegen das „bloß darstellerische Pathos“ des sozialistischen Realismus gestellt. 10 Klejman, Kommentarii, 538. 11 Berliner Tageblatt, 7.7.1926.

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tase“, verstanden als „ex-stasis“, ein Heraustreten (vychod iz sebja).12 Pathos und Sprung werden in der späteren Abhandlung des Themas auch verbunden mit Beispielen aus der Physik, die 1945 in Gestalt der Atombombe stärker ins öffentliche Bewusstsein treten. Nach dem Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 formuliert Ėjzenštejn im September desselben Jahres ein Plädoyer für die Atombombe als Etappe in der Natur- und Menschheitsgeschichte: „Die Explosion der Atombombe, die die Eisen (okovy) der Materie zerschlagen und scheinbar auch die Nationen der Welt im Bewusstsein der Unteilbarkeit der Völker zusammengeschweißt hat, die die künftige Undenkbarkeit des Kriegs verstanden haben.“13 Klejman hat diesen kurzen Text mit dem Untertitel „statt einem Vorwort“ dem „Pathos“-Kapitel von „Über den Bau der Dinge“ vorangestellt. Das Atomthema wird also mit Motiven und Verfahren des Pathos verknüpft – und in erster Linie anhand von physikalischen Beispielen, die Ėjzenštejn immer wieder erkundet hat, wie etwa in dem Sich-Verwandeln von Milch in Sahne im Film Staroe i novoe (Das Alte und das Neue, 1929). So verbindet sich in Ėjzenštejns Schriften die dem Menschen gefügige Natur (das Organische) mit der Dialektik der Geschichte, die auch der Natur eine dialektische Entwicklung vorschreibt, und dem Pathos der qualitativen Sprünge, welche die Welt verändern. Die Natur verliert ihre Indifferenz und wird „nichtgleichmütig“. Die „explosive Kraft“ (vzryvnaja sila) wird von Ėjzenštejn, der sich im Sommer 1945 mit seinem 20 Jahre zurückliegenden ersten Revolutionsfilm beschäftigt, als positiv gewertet. Die Atomspaltung überwinde zum einen die Natur und transformiere die Materie, zum anderen mache sie einen künftigen Krieg unmöglich. Ėjzenštejns politische Position ist hier noch nicht von dem Auseinanderdriften der Alliierten und dem sich bereits abzeichnenden Kalten Krieg gezeichnet. Das Phänomen der Spaltung eines Atoms und der Freisetzung großer Energie wird zu anderen analytischen Vorgängen, die in Ėjzenštejns avantgardistischem Denken eine wichtige Rolle spielen, parallel gesehen. So etwa dient die Atomkernexplosion als eine Metapher der Ekstase (ex-stase / vychod iz sebja) eines vom Pathos Ergriffenen, ähnlich wie König Lears Raserei (isstuplenie) auf die „vom Pathos ergriffene Natur, einen Sturm“ übergeht.14 Der Übergang der Ekstase vom Menschen auf die Natur ist ein Kerngedanke des späten Pathosdenkens von Ėjzenštejn, in dem es nicht um das Affizieren des Menschen geht (Produktions- und Rezeptionsästhetik), sondern umgekehrt der Mensch die Natur transformiert, pathetisiert. Der Kernspaltung folgt die Kernfusion in den 1950er Jahren. Auch wenn die erste Kernfusion nach Ėjzenštejns Tod stattfand, beschäftigten diese 12

Ėjzenštejn, O stroenii veščej, 36. Ėjzenštejn, S.: Mir i atomnaja bomba. In: Ders.: Neravnodušnaja priroda, 8-9, hier: 8. 14 Ėjzenštejn, O stroenii veščej, 38. 13

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Ideen die Physiker bereits seit Jahrzehnten. Das Verschmelzen von zwei Kernen entspräche dem Montageprinzip des Films oder auch der dialektischen Aufhebung von These und Antithese. Jene spektakulären Wirkungen von Spaltung und Schmelze werden umschrieben mit dem Begriff des Sprungs oder des Umschlagens, die quasi als eine Revolution (in) der Materie interpretiert werden. Ein wichtiger Aspekt des Pathetischen in „Organicness and Pathos“ ist seine Verbindung mit einer Zustandsveränderung – auch dies u.U. als Verschmelzen der Gegensätze im synthetisierenden Denken des späten Ėjzenštejn, das hier in einer längeren Passage aus der englischen Version angeführt wird: […] the organic-ness of Potemkin appears before us, for that leap which characterizes the structure of each compositional link and the composition of the film as a whole, is an infusion into the compositional structure of the most determining element of the content’s very theme – the revolutionary explosion, as one of the leaps which function as inseparable bonds of the conducting consciousness of social development. But: A leap. A transition from quantity to quality. A transition to opposition.15

Ėjzenštejn (bzw. auch Leyda in seiner Übersetzung) verbindet in diesem mit dem Datum 1.1.39 versehenen Text zum Pathos heterogene Vokabulare: zum einen die Begrifflichkeit aus der Engelschen Dialektik, zum anderen den naturwissenschaftlich orientierten Begriff des Organischen und durch das Kollektive und Soziale zu überwindende Vegetative wie auch Beispiele aus der Physik, wie sie sich bereits im Text zur Atombombe angekündigt haben. Hinzu kommen Wendungen und Begriffe, die religiösen Ursprungs sind, wie ,Ekstase‘. Der Begriff der „Substantiation“ gemahnt im Sinne des Überspringens von einem Zustand zum anderen an die Beschreibung einer Trans-Substantiation, der eucharistischen Verwandlung von Brot in Fleisch. Auch Engels’ Begriff des „Formwechsels“ scheint hier anregend gewirkt zu haben (s.u.).

2. Sprünge der Natur: Die Magie der Dialektik Die zentralen Begriffe in dem auf das Jahr 1939 zurückgehenden Text über das Pathos versammeln sich also um eine Veränderung oder einen Wechsel der Form – als (qualitativer) Sprung (skačok, skok, leap) oder als Ekstase (skačok iz sebja), in der Tradition der Dialektiker meist demonstriert an Naturphänomenen. Während die Ekstase und das Ergriffensein aus dem religiösen bzw. mystischen Bereich stammen, bezeichnet der „Sprung“ etwas Technisches und gleichzeitig etwas im übertragenen Sinne Abstraktes. 15

Eisenstein, Film Form, 172-173. Hervorhebung (Fettdruck) von der Verfasserin.

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Ėjzenštejn war in seinem Denken sowohl Ivan Pavlovs Experimenten16 verpflichtet als auch Friedrich Engels dialektischen „Grundgesetzen“ – allein in Film Form (1949) zitiert er Engels sechsmal. Engels ging in seiner materialistischen Transformation der Hegelschen Dialektik davon aus, „daß die dialektischen Gesetze wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Naturforschung gültig sind“. Engels schreibt weiter über das „Gesetz vom Umschlagen von Quantität in Qualität“: …daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sog. Energie). Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden. Es ist also unmöglich, ohne Zufuhr resp. Hinwegnahme von Materie oder von Bewegung, d.h. ohne quantitative Änderung des betreffenden Körpers, seine Qualität zu ändern. In dieser Form erscheint also der mysteriöse Hegelsche Satz nicht nur ganz rationell, sondern selbst ziemlich einleuchtend.17

Weiter schreibt Engels, jenes sprunghafte Umschlagen wäre bisher als „Mystizismus und unverständlicher Transzendentalismus verschrien“ gewesen.18 Die Natur mache keine Sprünge, meinten schon Jan Amos Komenský (Comenius) in De sermonis Latini studio (1638): „Natura et Ars nusquam saltum faciunt, nusquam fecerunt“ (Natur und Kunst machen nirgendwo einen Sprung, haben ihn nirgends gemacht), oder Linné verkürzt in Philosophia Botanica (1751): „Natura non facit saltus“, aufgegriffen auch von Darwins Theorien, denen der „Evolutionist“19 Ėjzenštejn nahestand. Eben diesem Satz widersprach Engels in der 1883 entstandenen Dialektik der Natur und wurde hier durchaus durch die Entwicklung der modernen Physik bestätigt. 1927, übrigens während der Entstehung von Staroe i novoe, wurde die Heisenbergsche Unschärferelation formuliert, die mit Denkfiguren des Quantensprungs arbeitet.20 Engels sieht den „Formwechsel“ 16

Wie Sasse (Pathos und Antipathos) gezeigt hatte, interessierte er sich ja zuallererst dafür, wie man auf vorhersehbare Weise Pathos erzeugen kann, und wie Pathos wirkt. 17 Engels, F.: Dialektik der Natur. In: Ders./Marx, K.: Werke. Bd. 20. Berlin 1962, 349. 18 Ebd., 353. 19 Bohn, Film und Macht, 238. 20 Die Unschärferelation setzt eine grundlegende Voraussetzung der klassischen Physik außer Kraft, nämlich dass einem Körper zu jeder Zeit ein bestimmter Ort und eine bestimmte Geschwindigkeit zugeschrieben werden können. Sie beruht auf Max Plancks Quantentheorie (1900), die den bisher als kontinuierlich gedachten Begriff von Energie verändert. Bewegung von Strahlungsenergie der Atome geschieht stoßweise in Energiequanten. Energie konnte man sich nun als ,gequantelt‘, d.h. in diskreten (nicht kontinuierlichen) Größen messbar, vorstellen, was u.a. auch jenes Axiom, die Natur mache keine Sprünge, außer Kraft setzte.

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immer als dialektisches, hier erotisches21 Zusammenwirken von mindestens zwei Körpern: Wenn wir Wärme in mechanische Bewegung verändern, oder umgekehrt, da wird doch die Qualität verändert und die Quantität bleibt dieselbe? Ganz richtig. Aber Formwechsel der Bewegung ist wie Heines Laster: Tugendhaft kann jeder für sich sein, zum Laster gehören immer zwei. Formwechsel der Bewegung ist immer ein Vorgang, der zwischen mindestens zwei Körpern erfolgt, von denen der eine ein bestimmtes Quantum Bewegung dieser Qualität (z.B. Wärme) verliert, der andre ein entsprechendes Quantum Bewegung jener Qualität (mechanische Bewegung, Elektrizität, chemische Zersetzung) empfängt. Quantität und Qualität entsprechen sich hier also beiderseits und gegenseitig. Bisher ist es noch nicht gelungen, innerhalb eines einzelnen isolierten Körpers Bewegung aus einer Form in eine andre zu verwandeln.22

Der Engelsche „Formwechsel“ als Vorgang zwischen mindestens zwei Körpern, bei dem „die Qualität sich ändert und die Quantität gleich bleibt“, hat Ėjzenštejn in mehrfacher Weise inspiriert – er zitiert Engels’ physikalische Beispiele und nimmt das saltus-Motiv dankbar auf, um es mit dem Begriff der Ekstase zu verbinden. In „O stroenii veščej“ heißt es in der Fortsetzung der bereits zitierten Passage zur Sprung-Pathos-Ekstase: A leap. A transition from quantity to quality. A transition to opposition. All these are elements of a dialectical movement of development, elements which enter into the comprehension of materialist dialectics. […] we can say that a pathetic structure is one that compels us, echoing its movement, to re-live the moments of culmination and substantiation that are in the canon of all dialectical processes. We understand a moment of culmination to mean those points in a process, those instants in which water becomes a new substance–steam, or ice–water, or pig-iron-steel. Here we see the same going-out of oneself, moving from one condition, and passing from quality to quality, ecstasis. And if we could register psychologically the perceptions of water, steam, ice, and steel at these critical moments – moments of culmination in the leap, this would tell us something of pathos, of ecstasy.23 21

Zwischen dialektischem Materialismus und Sexualität bestand ein steter Nexus, dem Ėjzenštejn jedoch widerstehen wollte. Als Wilhelm Reich, Verfasser von Die Funktion des Orgasmus (1927) und Freudomarxist, 1934 an den Regisseur schrieb, dass „der rationale Gedanke des Kommunismus filmisch sich dann am besten auswirke“, wenn er „mit dem biologischen Rhythmus verknüpft werde“, antwortete dieser: „der sexuelle Orgasmus als solcher sei bloß eine Einzelerscheinung des Ekstatischen.“ Zitiert in Bohn, Film und Macht, 237. 22 Engels, Dialektik der Natur, 349. 23 Ėjzenštejn, O stroenii veščej, Neravnodušnaja priroda, 44. „Скачок. Переход из количества в качество. Переход в противоположность. Все это – элементы того диалектического хода развития, какими они входят в понятие материалистической диалектики. […] Момент свершения мы понимаем здесь в смысле тех точек процесса, через которые проходит вода в мгновение становления паром, лед – водой, чугун – сталью. Этот тот же выход из себя, переход из качества в качество, экстаз. И если бы вода, пар, лед и сталь могли психологически регистрировать свои оущущения в эти критические моменты –

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Bereits Engels’ materialistische Dialektik setzt Sprünge im Erkenntnisprozess voraus. Hiermit ergibt sich tatsächlich ein „Mystizismus“ und „Transzendentalismus“, der dem Denken in der Kategorie des Wunders ähnelt. Bei der Anwendung der Pathostheorie sowohl in den Filmen als auch den Texten Ėjzenštejns scheint es sich um eine Form der Säkularisierung von religiösen ,Sprüngen‘ zu handeln. Das Wunder als saltus wird in der Montage dialektisch bearbeitet, sodass das ureigenst Religiöse oder Transzendente in ein Künstlerisch-Filmisches oder gar Politisches überführt wird. In Ėjzenštejns Texten lässt sich also eine Parallele zur Umarbeitung von Hegels idealistischer Dialektik zu einer materialistischen Denkweise durch Engels aufzeigen. Ėjzenštejn verhält sich zu den religiösen Denkformen, Rhetoriken und Begrifflichkeiten ähnlich wie Engels zu denen der idealistischen Philosophie. Beide streben eine Säkularisierung bzw. materialistische Läuterung dieser Instrumente an, etwa am Beispiel der (Trans-)Substantiation: – das Wunder der (Ver-)Wandlung wird zum „Formwechsel“. Ėjzenštejn entwirft mit Hilfe von Engels’ Dialektik der Natur eine ekstatisch-magische Dialektik, die – wie im Wunder – den Wechsel der Formen ermöglicht. Diese ist nicht nur auf das Filmmedium beschränkt. Ėjzenštejns besonderer Beitrag zur Philosophie und Theorie des Films jedoch ist, dass er die technisch-künstlerischen Fragen hierzu stellt und auch beantwortet. Wie vollbringt man säkulare Wunder im Kino? Was bleibt vom Wunder in der irreligiösen Welt der UdSSR: Es ist der Sprung des Pathos, der sich in der „Komposition“ des Films findet, wenn Ėjzenštejn eine ungewöhnliche Verknüpfung von Filmtechnik und technischer Seite des Pathos etabliert.

3. Pathos im Filmschnitt Ėjzenštejn umreißt sein Interesse am Pathos-Begriff in dessen Verankerung in der „Komposition“ des Films: „We are not discussing here pathetic content in general, but rather the meaning of pathos as realized in composition.“24 Es handelt sich also nicht um „darstellerisches Pathos“,25 sondern Pathos als Struktur. Pathos ist für Ėjzenštejn mit dem saltus, konkret im Film dem Schnitt und seinem Rhythmus verbunden. In der englischen Version моменты свершения скачка, они сказали бы, что они говорят [с] пафосом, что они в экстазе. […] Это переживание момента истории есть величайший и ощущение спаянности с этим процессом. […] становление вселенной, и через сопричастие с этой закономерностью.“ Eisenstein, Film Form, 172-173. Hervorhebung von der Verfasserin. 24 Eisenstein, Film Form, 167. 25 Sasse, Pathos und Antipathos, 177.

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beschreibt „leap“ in der Analyse von Bronenosec Potemkin verschiedene Sprünge: Sprünge der Kamera „zwischen den Bewegungen, verschiedener Kameraeinstellungen ineinander, von der „rhythmischen Prosa“ des Films zu seiner „visuell poetischen Rede“ kulminierend im „Überspringen“, im „aufsteigenden Sprung von Qualität zu Qualität“: leap to the downward movement upwards […] a leap in display method from the figurative to the physical, taking place within the representation of rolling. Close-ups leap over into long-shots. […] … a narrative type of imagery is replaced (in the montage rousing of the stone lion) and transferred to the concentrated structures of imagery. Visually rhythmic prose leaps over into visually poetic speech. in the grip of pathos […] an ascending leap from quality to quality […] caesurae ‘leaping over’ or ‘transferring’ to a new quality […]26

Diese Beschreibung der Kamera und des Schnitts, „erfasst vom Pathos“ („in the grip of pathos“),27 wird sodann im Sinne einer „Wachstumsformel“ auf soziale Phänomene ausgeweitet: Here is another organic secret: a leaping imagist movement from quality to quality is not a mere formula of growth, but is more, a formula of development – a development that involves us in its canon, not only as a single ‘vegetative’ unit, subordinate to the evolutionary laws of nature, but makes us, instead, a collective and social unit, consciously participating in its development. For we know that this very leap, in the interpretation of social phenomena, is present in those revolutions to which social development and the movement of society are directed.28

Auch im späteren Postscriptum wird das Thema des Sprungs aufgenommen: Es kommt in Form von leap, jump, somersault und salto mortale29 wiederholt vor: einmal als in Zirkus „überspringendes“ Theater, dann als „innerer Sprung des Verständnisses der Methode“: „die Methode des Sprungs, der unter den Bedingungen der statischen Erscheinung komisch erscheint, unter den Bedingungen eines dynamischen Prozesses jedoch pathetisch“.30 Das Komische ist also die statische oder angehaltene Kehrseite des dynamischen Pathetischen. Diesen Effekt hatte der Regisseur auf wirksame Weise in seiner Gegenüberstellung von altem und neuem Pathos in Staroe i novoe (begonnen im Jahr 1926) demonstriert: so etwa die komisch wirkende, da von hinten (in umgekehrter Perspektive) aufgenommene Proskynese eines sich während der Prozession ehrfürchtig verneigenden Bauern. (Abb. 1) 26

Eisenstein, Film Form, 171-172. Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd., 176. 30 Ebd. 27

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Natascha Drubek Abb. 1: Sergej Ėjzenštejn, Staroe i novoe (Das Alte und das Neue), 1926-29, Kniefall.

4. Sowjetisches Pathos aus dem Wunder: Staroe i novoe (Das Alte und das Neue) Sylvia Sasse weist darauf hin, dass Ėjzenštejn seine Beschäftigung mit dem Pathos mit der Arbeit am Drehbuch des Films Staroe i novoe begann.31 In Separator i čaša Graalja (Der Separator und der Gralskelch), einem für das Pafos-Werk geplanten Text aus den 1940er Jahren, analysiert Ėjzenštejn seinen Film aus den 1920er Jahren und gibt indirekt Hinweise auf Kontexte der Darstellung von Religion im russisch-sowjetischen Kino der Dekade, die im Revolutionsjahr 1917 begann. Ėjzenštejn schreibt, er hätte damals keinen „spontanen Tanz“ (stichijnyj pljas) in einer Kolchose inszenieren können – in diesem Kontext erwähnt er den „Tanz um das goldene Kalb“ und „Rituelle Chlysten-Orgien“ (chlystovskoe radenie) –, denn das wäre die alte Welt. Er spricht von „zwei verschiedenen Welten des Pathos und der Ekstase – dem ,Alten‘ und der es wegfegenden ‚neuen‘ Welt“.32 Bemerkenswert ist hier der Hinweis auf die Sekte der Chlysten. Ausführlich, nahezu ethnografischdetailliert, hatte Ėjzenštejn nämlich in Staroe i novoe die religiöse Ekstase russischer Volksfrömmigkeit (izuverskij i neistovyj religioznyj ekstaz33) vorgeführt. Die im Film dargestellten Handlungen wie etwa das SichVerneigen34 bis zur Erde (klanjat’sja v pojas) sowie andere Betonungen der Körperlichkeit dieser Riten erinnern an ein Filmkorpus, das nach der Aufhebung der geistlichen Zensur in den Jahren 1917-1919 entstand (Abb. 2). 31

Sasse, Pathos und Antipathos, 172. Ėjzenštejn, S.: Separator i čaša Graalja. In: Ders.: Neravnodušnaja priroda, 62. 33 Ebd. 34 Sasse (Pathos und Antipathos, 186) betont das „Antipathos“ der im Film ins Lächerliche verkehrten frommen Gesten. 32

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Abb. 2: Sergej Ėjzenštejn, Staroe i novoe (Das Alte und das Neue), 1926-29, Die Prozession.

Diese beim Publikum erfolgreichen Skandalfilme über russische Sekten enthielten Inszenierungen von rituellen Handlungen, v.a. ekstatischen Tänzen (radenie), und sexuellen Handlungen. Einer der Filme hatte die Chlysten (Geißler) im Titel: Lguščie Bogu. (Chlysty. V truščobach Moskvy) (Die Gott anlügen [Chlysten. In den Armenvierteln Moskaus], 1917, A. Čargonin).35 Lguščie Bogu ist der erste Teil der Sektenserie, die von dem Studio Rus’ sogleich nach der Februarrevolution in Angriff genommen wurde36 und am 6.11.1917 Premiere hatte, 1918 folgten Belye golubi/Weiße Tauben (Bezeichnung der Sekte der Skopzen; Premiere am 3.4.1918; R: N. Malikov) und Beguny. Iže ne imate ni grada, ni sela, ni domu) (Begunen. Die ihr weder Stadt, Dorf noch Haus habt, R: A. Čargonin) über die priesterlose Sekte der altgläubigen Begunen („Läufer“). Diese Filme nehmen eine quasi-orthodoxe Position ein, wenn sie sich gegen häretische Strömungen richten bzw. die obszöne Ritualität der Sekten ,enthüllen‘. In dem Film Belye golubi wird ein Skopzenthron gezeigt, dahinter ein schwarzes Tuch mit aufgenähten weißen Tauben (emporfliegende Tauben und ein entweihter Thron werden – zum Leidwesen der sowjetischen Zensur – auch in Ėjzenštejns Bežin lug auftauchen). Weitere Motive dieser Filme waren das Blut der „Prophetin“, das in einen Kelch gegossen wird, und ekstatische Kreisbewegungen der Skopzen,

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Rasputin wurde vorgeworfen, ein Chlyst gewesen zu sein. Russische Sekten waren bis zum Toleranzedikt 1905 (Ukaz Ob Ukreplenii Načal Veroterpimosti) offiziell verboten. Vgl. http://www.oei-dokumente.de/filmDB/filmdbview.php?ID=13 (12.02.2016). Vgl. auch Etkind, A.: Chlyst. Sekty, literatura i revoljucija. Moskau 1998. 36 Der Film Masony (Freimaurer, 27.3.1918) von A. Čargonin gehört auch dazu. Der Grundstein für die Produktionsstätte Rus’ wurde 1915 von dem Kaufmann Michail Trofimov aus Kostroma gelegt, 1924 wurde das Studio in Mežrapom-Rus’ umbenannt und später in Mežrapom-Fil’m bzw. Gor’kij-Studio.

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die daraufhin wie Derwische zu Boden fallen.37 Anna Bohn erläutert die drei Techniken des Herstellens ekstatischer Zustände als die physische Motorik (Kreisbewegung der Derwische), die psychische Gymnastik (Ignatius von Loyolas geistliche Übungen) und die toxische Technik (Drogen).38 Ėjzenštejns Interesse für diese Techniken und Massenhypnose betrifft also neben den russischen Sekten auch spezifische Kulte des Katholizismus in Lourdes oder Mexiko. Das ideologische Kernstück des Films Staroe i novoe sind die spiegelverkehrt gestalteten Sequenzen einer vom Dorfgeistlichen angeführten Prozession (krestnyj chod) und der ersten Inbetriebnahme des Apparats der genossenschaftlichen Maschine. Die atheistischen Kampagnen der frühsowjetischen Zeit stützen sich auf die Enttarnung des sittlichen Versagens des Klerus, der die Gläubigen betrüge, indem er Wunder nur vortäusche und die wissenschaftliche Sichtweise auf die Natur verunmögliche. In den antireligiösen Periodika der 1920er Jahre finden sich regelmäßig Texte zur Erklärung naturwissenschaftlicher Phänomene oder der Evolution, wie etwa „Woher der Mensch stammt“ („Kak proizošel čelovek“, Bezbožnik 1923, 5). Eine Kolumne in der Zeitschrift Bezbožnik („Der Gottlose“) trägt den Titel „Nauka i technika“ („Wissenschaft und Technik“). Im Bezbožnik 1929, 2 findet man einen Artikel mit dem Titel „Frische Milch durch Elektrizität“ („Svežee moloko pri pomošči električestva“). Die auf die Technik der Moderne gestützte antireligiöse Argumentation wird in Staroe i novoe vorgeführt: Der von der Gemeinde erbetene Regen findet nicht statt, der Separator jedoch funktioniert und vollbringt ein Wunder – jedoch eines der Technik. Die Prozession findet von der 31. bis zur 36. Filmminute statt und wird verbal durch den Zwischentitel „Betrug“ (obmanstvo) zusammengefasst. Direkt danach beginnen die Einstellungen mit dem Separator, der nach dem Prinzip einer Zentrifuge funktioniert. Durch den Zwischentitel „Betrug oder Geld?“ (obmanstvo ili den’gi?) wird die Regenprozession mit dem Sahnemachen gleichgesetzt – beide Prozesse dauern etwa fünf Minuten. Die aufwärtsstrebende zweite Entwicklungsrichtung verkehrt die erste, abwärtsweisende:

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Im Roman Serebrjanyj golub (Die silberne Taube, 1910) des Symbolisten Andrej Belyj wird der Protagonist Darjal’skij Opfer der gleichnamigen Sekte, die den Chlysten (Serye golubi/Graue Tauben) nachempfunden ist. Das öffentliche Interesse an den russischen Sekten in den 1910er Jahren ist nicht spurlos am heranwachsenden Ėjzenštejn (*1898), der russisch-orthodox getauft war, vorbeigegangen. Zu seinem Interesse an okkulten Lehren und der Aufnahme in eine Freimaurerloge (1920) vgl. Bulgakowa, O.: Sergej Eisenstein. Eine Biografie. Berlin 1998, 26 und Bohn, Film und Macht, 225. Bohn erwähnt hier auch Ėjzenštejns Anfang der 1930er Jahre verstärktes Interesse für die Schriften der russischen Symbolisten. 38 Bohn, Film und Macht, 223.

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Spiegelung der verlorenen Religion in der kommunalen Maschine Glaube/Hoffnung Prozession/Gebet Pope Regen Enttäuschung „čaša Graalja“

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Freude/Wohlstand Maschine Marfa Sahne Skepsis „separator“

Die beiden Sequenzen verlaufen auch in ihrem emotionalen Affekt in entgegengesetzten Richtungen: Die Prozession beginnt mit Manifestationen von Volksfrömmigkeit, also positiv-affirmativen religiösen Gefühlen, die nach und nach in einer absteigenden Linie in Enttäuschung und Ärger übergehen. Ėjzenštejn schildert dies später in Kategorien der Beleuchtung: „Quasi zufällig und kaum merkbar hellen die Einstellungen der wachsenden Hoffnung auf, die des sich verstärkenden Mißtrauens werden dunkler.“39 Die Maschinenszene zeigt negative, kritisch-höhnische und dann später lachende, glückliche Gesichter, auf denen sanfte „Lichtreflexe“ (svetovye ,zajčiki) spielen, die scheinbar durch die Bewegung des Separators, am Filmset durch „Spiegelscherben auf einem sich drehenden Ball“,40 generiert werden. Ėjzenštejn beschreibt diese Komposition in seinem Aufsatz „Separator i čaša Graalja“, dessen Titel dieselbe Zweiteilung aufgreift. Das missglückte Regengebet führt die Gemeinde in die Tiefen des Zweifels. Der Aufstieg von der Ungläubigkeit an die Maschine („wird die Milch eindicken?“/sgusteet?) zum triumphierenden Moment des ersten Sahnetropfens („eingedickt“/sgustelo!) ist graduell und überaus spannungsvoll, wobei der Kulminationspunkt des Prozesses mit einer Entladungsbewegung zusammenfällt, die mit Hilfe einer Nahaufnahme als Sahneausstoß sichtbar gemacht wird: Der hinabfallende erste Tropfen weißer Flüssigkeit im magischen Dunkel – verstärkt wird dies durch den Gegensatz zu der staubigtrockenen Helligkeit der Prozession auf dem Feld zuvor. Es handelt sich hier um ein sowohl ideologisches als auch um das emotional wirkungsvollste Montage-Ensemble in Ėjzenštejns Werk. Seine Wirkung ist deshalb so stark, da es auf dem Verschmelzen der Trümmer alter Religion mit dem neuen, genossenschaftlichen Apparat beruht – beide beruhen auf Gemeinschaft, die neue Maschine fügt die gerichtete Bewegung hinzu, die die chaotischarchaischen Gesten der Dorfbewohner am Strahl des dialektisch verstandenen Geschichtsfortschritts ausrichtet. Ėjzenštejn erwähnt seinen Wunsch an die Musiker, zu der Bittprozession eine Begleitung aus Wagners Götter39

„Как бы случайно и еле заметно кадры нарастающей надежды постепенно светлеют, кадры усугубляющего подозрения – темнеют.“ Ėjzenštejn, S.: Separator i čaša Graalja. In: Ders.: Neravnodušnaja priroda, 63. 40 Ebd.

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dämmerung (Gibel’ bogov) zu spielen,41 einer Oper „voll tragischen Pathos“.42 Die alten Götter sollen vergehen, auf dass der neue Gralskelch sich nicht mit symbolischen Blut, sondern mit echtem Rahm fülle (Abb. 3). Abb. 3: Sergej Ėjzenštejn, Staroe i novoe (Das Alte und das Neue), 1926, Marfa Lapkina vor der Maschine.

Ėjzenštejn fermentiert in seinem Film die neue sowjetische Technik mit transformiertem Glauben: ein technologisches Exempel wird an einem tierisch-vertrauten Stoff statuiert – der Milch. Es ist kein Zufall, dass in diesem Film eine Frau namens Marfa Lapkina43 die Sache anpackt und zum Erfolg führt. Während der Film Oktjabr’ (Oktober, 1927) noch weitgehend gegen die Frau als Repräsentation des Alten polemisiert – etwa in der höhnischen Schilderung des weiblichen Todesbataillons der Provisorischen Regierung –, zeigt sich in Staroe i novoe bereits eine andere Gender-Politik. Auf dem Land galt es, die Frauen davon zu überzeugen, dass man dem Glauben und dem Aberglauben abschwören muss und der sowjetischen Macht vertrauen kann; hier genügte die „Generallinie“ nicht (General’naja linija war der ursprüngliche Titel des Films, der während der Produktion an Aktualität verlor). Das „Alte“ aus dem Filmtitel konnte nur mit Hilfe der das Archaische verkörpernden Frau zum „Neuen“ geführt werden. Die Frauen waren es, die in der UdSSR Religion und Aberglauben hüteten, und sie mussten daher vorrangig in Filmen mit antireligiöser Botschaft angesprochen werden. So lassen sich auch der emotionale Appell und jenes religiöse, sich aneignende kollektivistische Pathos erklären. Marfa Lapkina als Agitatorin verkörpert die neue ländliche Gesellschaft als eine genossenschaftliche, gegen die männliche Geistlichkeit gerichtete. 41

Ėjzenštejn, S.: Dvadcat’ opornych kolonn. In: Ders.: Neravnodušnaja priroda, 78. Klejman, Komentarii, 552. 43 Der Name Lapkina verweist sowohl auf lapot’ (Strohschuh) als auch auf lapki (Händchen). 42

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Somit wird ein Gegensatz aufgebaut, den es in der sowjetischen Realität kaum gab: Die Frau steht auf der einen, Klerus, reiche und mittlere Bauern (Kulaken und Serednjaken) auf der anderen Seite.44 Der als Betrug enthüllte christliche Glaube (orthodox oder häretisch), aber auch der Aberglaube werden durch eine weibliche Protagonistin disqualifiziert. Sobald die Frau (unterstützt vom kommunistischen Kader) auf die Seite der Maschine gerückt ist, kann die neue Gesellschaft auch im Dorf beginnen. Das einst religiöse Pathos des Wunderglaubens überträgt sich durch die weibliche Erdung auf die Wundermaschinen und -traktoren. Diese Verquickung von Religion und Technik funktioniert als Montagekonstruktion, da in ihr religiöses und technisches Pathos im hervorgehobenen Moment der wundersamen Sahneproduktion verquickt werden. Das Religiöse des Wunderglaubens verschmilzt mit der Idee der technisierten Genossenschaft. Die Gemeinde wird zum Kollektiv. Während die Regenprozession Kosten verursacht, bringt der Separator Geld und Wohlstand. Ähnlich wie in der in den 1940er Jahren die Fantasien in West und Ost beherrschenden Atomphysik geht es hier um den Qualitätssprung, der strukturell einem Wunder nachgebaut ist. Ein Wunder kann man als ein Ereignis definieren, das sowohl den Naturgesetzen als auch der menschlichen Alltagserfahrung widerspricht. Im Bereich der Wunder gibt es Ikonen, die heiltätig sind45 oder Blut separieren. Auch der Separator scheidet Flüssigkeit aus. Ėjzenštejn wählt hier – das im sowjetischen Film häufige Traktormotiv übertreffend – einen Arbeitskraft einsparenden Prozess innerhalb der Landwirtschaft, der überdies in angewandter und anschaulicher Dialektik zeigt, wie eine Maschine aus einem einfach-natürlichen ein Milchprodukt besonderer Güte schafft. Es geht hier also nicht nur um Quantität (ein Traktor ersetzt 20 Arbeiter), sondern um Qualität: Der Separator erleichtert vielen Arbeiterinnen das manuelle Butterstampfen und die Milch wechselt in der Zentrifuge ihre Form bzw. wird in fotogener Weise zu Sahne auf der einen und unsichtbarer Magermilch auf der anderen Seite – diese wird vertreten durch die hineingeschnittenen Einstellungen von Wasserfontänen. Aus der Perspektive des Laien scheint der Separator ebenso Wunder zu vollbringen wie die Atomphysik, die Kerne spaltet und die dabei entstehende Energie in Raketen zu gigantischen Atompilzen verwandelt. In diesem Sinne ähnelt Ėjzenštejns Film einem Mirakelbericht über eine Wundermaschine, 44

Young, G.: Power and the Sacred in Revolutionary Russia. Religious Activists in the Village. University Park, Penn. 1997. 45 Vgl. dieses Motiv im ersten sowjetischen, vom Moskovskij Kinokomitet produzierten antireligiösen Film O pope Pankrate, tetke Domne i javlennoj ikone v Kolomne (Über den Popen Pankrat, die Tante Domna und der erschienenen Ikone in Kolomna; R: N. Preobraženskij, A. Arkatov, 1918), in dem die vorgetäuschten Heilkräfte einer betrügerischen Ikone entlarvt werden: http://www.oei-dokumente.de/filmDB/filmdbview.php?ID=23 (12.02.2016).

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die sich der religiösen Pathosverfahren des Wunders und ihrer rhetorischen Effekte bedient. Weitere Wunderparallelen bestehen zwischen der Milchveredelung (Staroe i novoe) und dem Johannesevangelium 2,1-12, in dem Wasser in Wein verwandelt wird. Anna Bohn argumentiert, dass Ėjzenštejn sich „vorgegebener Formen“ bediene, die er „mit wissenschaftlichen Theorien unterlegt“, um seine „eigene ästhetische Theorie“ zu bilden.46 Die pathoshaltigen oder pathosgenerierenden Vorbild-Diskurse sind die religiösen des Wunders auf der einen, die naturwissenschaftlichen der Physik auf der anderen Seite. Dies gilt auch für die Produktion der Filme selbst. Ėjzenštejn nimmt bei seiner Pathosgeneration spätestens ab Staroe i novoe religiöse Diskurse, Rituale und ihre rhetorischen Verfahren zum Vorbild. Die (anti-)religiöse Motivik in seinen Filmen nimmt ab diesem Punkt stetig zu. Sie mündet zunächst in eine säkulare Märtyrergeschichte, welche von der stalinistischen Zensur nicht als tragbar empfunden wurde.47 Der Film Bežin lug (Bežinwiese, 1935-37) konnte nicht vollendet werden und existiert heute in einer in den 1960er Jahren angefertigten Abfolge von Einzelbildern, die auf künstlich pathetisierende Weise die einzelnen Momente herausheben und sich gleichzeitig dem vorrevolutionären Verbot des bewegten Heiligenbilds unterwerfen.48 In Bežin lug erhält der ermordete Knabe als Märtyrer der Kollektivierung durch eine besondere Beleuchtung einen natürlichen Nimbus aus flachsblondem Haar (Abb. 4, 5). Abb. 4: Sergej Ėjzenštejn, Bežin lug (Bežinwiese), 1935-37, Nimben.

46

Bohn, Film und Macht, 252. Eine Studie der Zensurtexte, die u.a. die Verwendung von Partisanen- und Kirchenlied bemängeln, findet sich in Bohn, Film und Macht, 257-258. 48 Drubek, N.: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. Köln/Weimar/Wien 2012, 134ff. 47

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Abb. 5: Sergej Ėjzenštejn, Bežin lug (Bežinwiese), 1935-37, Nimben.

Nach diesem gescheiterten Projekt vollzieht Ėjzenštejn eine Wende und macht einen Film über einen Nationalheiligen (Aleksandr Nevskij) bzw. etabliert in seinem letzten Filmwerk, Ivan Groznyj, einen Geistlichen als ernstzunehmenden Gegenspieler des Zaren.

5. Resümee Auch wenn Ėjzenštejns Schriften und Filme aufs innigste miteinander verschränkt sind, soll in dieser Zusammenfassung versucht werden, diesen getrennt Rechnung zu tragen. Zunächst zu Ėjzenštejns theoretischen Schriften: In dem für das PathosThema des reifen Ėjzenštejn zentralen Aufsatz „O stroenii veščej“, der in ein Pathos-Buch eingehen sollte, nähert sich der Denker und Regisseur dem Pathosbegriff aus verschiedenen Richtungen, die zum Teil in ihrer Ausarbeitung auf frühere Standpunkte rekurrieren: a) Ėjzenštejn ortet in seinem Filmwerk Pathos in der „Komposition“, so etwa wenn er eine ungewöhnliche Verknüpfung von Filmtechnik (Schnitt) und der technischen Seite des Pathos etabliert. b) Die bereits in den 1920er Jahren erarbeitete Affekt-Frage leitet zum Komplex der Ekstase über,49 die zugleich den Punkt c) bestimmt.

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Es sind dies „the superficial signs of external behavior spectator gripped with pathos“, wenn der Zuschauer etwa von seinem Stuhl springt. „Pathos shows its affect – when the spectator is compelled to jump from his seat. When he is compelled to applaud, to cry out. […] when the spectator is forced to go out of ‘himself’.“ Eisenstein, Film Form, 166. Dies beschreibt er auch mit dem „prettier term“ der „Ekstase“ („ecstasy“).

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c) Ėjzenštejn erkennt Prozesse der materialistischen Dialektik in Natur, Geschichte und im Film. Pathos-„Punkte“ (točki processa) finden dann statt, wenn die Natur ekstatisch wird und „aus sich herausgeht“. Dies führt zu einer „neuen Qualität“, die als „Sprung“ in der materiellen Welt verstanden und in dialektische Kategorien gefasst wird. Das Engelssche Umschlagen oder das (Über-)Springen selbst ist jener pathetische Moment, den Ėjzenštejn zu generieren, fassen und beschreiben sucht. d) Der seit den 1930ern in den Vordergrund gerückte Begriff der Ekstase führt unerwartet religiöse Rede- und Argumentationsmuster ein. Der Sprung, die Synthese, das Umschlagen widersprechen dem gesunden Menschenverstand und gleichen einem verweltlichten Wunder. Pathos entpuppt sich als Resultat einer weniger materialistischen denn ekstatischen Dialektik. Nun zu Ėjzenštejns Filmwerk: Die frühe antireligiöse Haltung des Regisseurs geht Hand in Hand mit einem intensiven Interesse an vorgängiger Pathosgeneration. Ėjzenštejn arbeitet an der Säkularisierung von religiösen Pathosverfahren. Die Verschränkung des verweltlichten Wunders mit dem qualitativen Sprung im Film nimmt philosophische und politische Gestalt an. Filmmontage wird durch den Pathos-Sprünge generierenden Schnitt ein dialektisches Performieren der Geschichte. Die Entwicklung von Ėjzenštejns Pathosbegriff lässt sich überdies anhand einer Periodisierung des Filmwerks fassen: In der frühen Phase findet man die Reihung („Montage“) der Attraktionen. Aufbauend auf der Analytik dieser spaltend-avantgardistischen Montage entsteht die synthetisierende filmische Dialektik der mittleren Phase: a + b = c. In der darauffolgenden Phase wird aufbauend auf dieser Synthese eine Form der Verschmelzung (Fusion) von a und b zu c konzipiert, die Pathos generiert. Es sei daran erinnert, dass laut Ėjzenštejn das Zusammenfallen der Gegensätze Pathos schafft. Dialektik und Pathos sind im Ėjzenštejnschen Verständnis von Film also eng miteinander verschränkt. Die avantgardistische Verschränkung des verweltlichten Wunders mit dem Sprung als Grundsatz filmischer Montage nimmt im Spätwerk eine postavantgardistische ästhetisch-philosophische Gestalt an. Diese erlaubt eine Inklusion des Transzendentalen in die sowjetische Politik des Hochstalinismus bis hin zu den wunderlichen linguistischen Thesen eines Marr oder den biologischen Projekten eines Lysenko, der „Natura non facit saltus“ widerlegen wollte.50

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Drubek-Meyer, N./Meyer, H.: Ausgerechnet – die Sprache (‚Stalin‘, Lotman und die Sprachmaschinerie). In: Okuka, M./Schweier, U. (Hrsg.): Germano-Slavistische Beiträge. Festschrift für P. Rehder zum 65. Geburtstag. München 2004, 77-97. Zu Darwin, Marr und Lysenko vgl. Sériot, P.: The Impact of Czech and Russian Biology on the Lin-

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Ėjzenštejns spätere Auseinandersetzung mit Religion läuft ab dem nach außen hin gescheiterten Film Bežin Lug auf einer neuen Ebene ab, sie verknüpft die Kirche mit Fragen der Staatlichkeit und Macht. Es geht nicht mehr um Enthüllung des falschen Pathos der Kirche, sondern umgekehrt um ein Transferieren des religiösen Pathos auf den Diktator. Ėjzenštejns intime Auffassung von Religiosität lässt den Regisseur in Bežin lug das kommunistische Kind opfern, das so zum weltlichen Märtyrer mit religiösen Attributen werden kann. Ende der 1930er Jahre, gerade als der Aufsatz „O stroenii veščej“ entstand, sind die aus religiösen Ritualen und Rhetoriken stammenden Verfahren der Affektgeneration ausprobiert worden und können in den Baukausten des sowjetischen Pathos eingefügt werden. Das Projekt der politischen Religion sowjetischer Prägung ist damit voll entwickelt und kann in der Filmtrilogie zur nationalen russischen Religion Aleksandr Nevskij oder Ivan Groznyj (Teil 1 und 2) angewendet werden. Ėjzenštejns national-pathetische Filme sind zentraler Bestandteil jener „Entgrenzung des Politischen“, die Jurij Murašov in den „dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur“51 festgestellt hat. Diese Entgrenzung ist es, die den Gegensatz von Kirche und Sowjetmacht in geradezu dialektischer Form aufhebt, übrigens ein Thema, das uns gerade heute aktuell als neue Symphonie von Staat und Kirche im zeitgenössischen Russland vorgeführt wird.

guistic Thoughts of the Prague Linguistic Circle. In: Hajičová, E. u.a. (Hrsg.): Travaux du cercle linguistique de Prague nouvelle série, 3. Amsterdam 1999, 15-24, hier: 22. 51 Murašov, Ju.: Sowjetisches Ethos und radiofizierte Schrift. Radio, Literatur und die Entgrenzung des Politischen in den frühen dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur. In: Frevert, U./Braungart, W. (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Göttingen 2004, 217-245.

BEATE OCHSNER

Pathos und Ekstase Zum filmischen Werk Werner Herzogs Pathos bedeutet, dass wir von etwas getroffen sind, und zwar derart, dass dieses Wovon weder in einem vorgängigen Was fundiert, noch in einem nachträglich erzielten Wozu aufgehoben ist. Bernhard Waldenfels1

In seiner 1974 fertiggestellten Dokumentation Die große Ekstase des Bildschnitzers Walter Steiner (D 1974, 41 min.) lässt der Regisseur Werner Herzog seinen Protagonisten, den Toggenburger Skiflieger und Holzschnitzer Walter Steiner, die Geschichte eines jungen Raben erzählen, den er, Steiner, in seiner Kindheit gefunden und gepflegt habe. Aufgrund einer Erkrankung flugunfähig geworden, wurde der Vogel von seinen Artgenossen gequält, und letztlich musste Steiner ihn erschießen. Plötzlich wird die Erzählung ausgesetzt und übergangslos auf die Aufzeichnung eines skifliegenden Walter Steiners „in place of his raven“ – umgeschnitten: „And then […] we see Steiner flying, in a terribly aesthetic frame, in extreme slow motion, slowed to eternity. This is the majestic flight of a man whose face is contorted by fear of death as if deranged by religious ecstasy“.2 Das ekstatische Potential dieser Flugsequenz entsteht im Zusammenspiel des auf ‚Unmittelbarkeit‘ zielenden Aussetzens der Narration, der durch extreme Zeitlupe entschleunigten, dem Raum und der Zeit enthobenen Aufnahmen und der kongenialen kosmischen Musik – „atmosphärisch dichte Klangteppiche in Stücke von oft meditativer, gar spiritueller Konnotation oder großem Pathos“3 – der 1969 gegründeten deutschen Krautrockband Popol Vuh. Nach der Landung Steiners in der Auslauffläche zoomt die Kamera aus und zeigt ihn aus der Vogelperspektive in einem nahezu grenzenlos erscheinenden, weißen Schneefeld (Abb. 1). Sodann werden Zeilen eines Gedichts eingeblendet, das

1

Waldenfels, B.: Zwischen Pathos und Response. In: Ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006, 34-55, hier: 43. 2 Herzog, W.: On the Absolute, the Sublime and Ecstatic Truth: http://www.bu.edu/arion/on-the-absolute-the-sublime-and-ecstatic-truth/ (05.01.2016). 3 Patrick Weber, zit. aus dem Nachruf zu Florian Fricke: http://www.patrickweber.info/FlorianFricke.html (05.01.2016).

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jedoch nicht, wie es scheinen mag, der Erinnerung des Skifliegers, sondern der Feder Robert Walsers entstammt (Abb. 2): Ich sollte eigentlich ganz allein auf der Welt sein, ich, Steiner, und sonst kein anderes lebendes Wesen. Keine Sonne, keine Kultur, ich nackt auf einem hohen Fels, kein Sturm, kein Schnee, keine Straßen, keine Banken, kein Geld, keine Zeit und kein Atem. Ich würde dann jedenfalls keine Angst mehr haben.4 Abb. 1, 2: Werner Herzog: Die große Ekstase des Bildschnitzers Walter Steiner (D 1974).

Wie das Raben-Gleichnis dient auch die filmästhetische Stilisierung der Darstellung „ekstatisch-pathetische[r] Erhabenheit“5 des „modernen Gladiators“6 Walter Steiner. Jener, so ein Journalist der NZZ, sei eine typische Herzog-Figur, ein monomanischer Einzelgänger, der sich selbst an die Grenzen treibt, die Angst vor Tod und Abgeschiedenheit bemeisternd. In Herzogs Worten ist Steiner ‚ein enger Bruder Fitzcarraldos, ein Mann, der ebenfalls die Gesetze der Schwerkraft herausfordert, indem er ein Schiff über einen Berg zieht‘.7 4

Aus: Die große Ekstase des Bildschnitzers Walter Steiner. R: W. Herzog, D 1974, frei nach Robert Walser: Kleine Dichtungen. Leipzig 1914. 5 Manfred Fuhrmann verortet den „ekstatisch-pathetischen Ursprung des Erhabenen“ bei Longin, dem von Herzog mehrfach zitierten antiken Autor. Vgl. Fuhrmann, M.: Die Dichtungstheorie der Antike. Darmstadt 1973, 154; vgl. ebenso Herzog, On the Absolute, the Sublime and Ecstatic Truth. 6 Anonym: Die große Ekstase. In: Filmdienst 13 (2010). 7 Buruma, I.: Ekstase der Wahrheit oder Der Dokumentarfilm als Fiktion. Der Filmemacher Werner Herzog und seine Helden. In: NZZ v. 15.12.2007. http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/ekstase-der-wahrheit-oder-der-dokumentarfilm-alsfiktion-1.599132 (05.01.2016).

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Herzogs Begeisterung für den „Schweizer Vogelmenschen“, seine Faszination für die elegante Leichtigkeit, die Erhabenheit und die ‚spirituelle‘ Dimension des Skifliegens manifestiert sich in wiederkehrenden Zeitlupenaufnahmen der Flüge: „Ski-jumping is not just an athletic pursuit, it is something very spiritual too, a question of how to master the fear of death and isolation.“8 Von der für das Erhabene charakteristischen Koppelung mit der Angst vor dem Scheitern erzählt die Dokumentation in einer nahezu endlos erscheinenden Montage spektakulärer und in äußerster Zeitlupe zerdehnter Stürze: „These are men who step outside all that we are as human beings, and overcoming this mortal fear, the deep anxiety these men go through, this is what is so striking about ski-jumpers.“9 Kein anderer Regisseur des Neuen Deutschen Films sei „derart besessen vom Pathos des Scheiterns aller Aufbrüche“10 wie Werner Herzog, so der Filmkritiker Bernd Kiefer. Doch was jener als romantischen Impuls eines generellen Ungenügens an der Normalität beschreibt, stellt für Alexandra Seitz „allenfalls und annäherungsweise […] emphatische Erkenntnis des kreatürlichen Ausgeliefertseins“11 dar. Scheint der Pathosbegriff zu einem inflationär eingesetzten und mithin abwertenden Schlagwort von Literaturund Filmkritik geworden zu sein, bleiben doch Herzogs „Aura heiliger Ernsthaftigkeit“12, seine emotional aufgeladene Überwindungsrhetorik oder seine Audiokommentare, die „mit dem ihm eigenen pathetischen Gestus jede Geschichte zu einem Drama epischen Ausmaßes“13 gestalten, ebenso umstritten wie die Un/Angemessenheit pathetisch-erhabener Gesten in den Filmen selbst oder die tragikomischen (Selbst-)Inszenierungen, die zuweilen die ethische Integrität des Regisseurs in Frage stellen. Wo die einen ‚echtes‘ Pathos zu erkennen glauben, vermuten andere reine Ironie, und so spannt sich für Filmwissenschaftler und -kritiker die Frage nach dem pathetischen Potential der Herzog’schen Filme zwischen Begriffen wie Authentizität und Künstlichkeit, ekstatischer Wahrheit und ironisierter Erhabenheit oder ernsthafter Selbstreflexivität und Parodie auf. Während sich Brad Prager zuletzt mit der Relation zwischen ästhetischer Ekstase und 8

Cronin, P.: Herzog on Herzog. London 2002, 96: „It is a sport that is at least partially suicidal, and full of utter solitude. […] It is as if they are flying into the deepest, darkest abyss there is.“. 9 Cronin, Herzog on Herzog, 96. 10 Kiefer, B.: Die ewige Fremdheit der Welt. Werner Herzog und die Impulse der Romantik. In: Screenshot 5 (19/03) 2002, 11-13. 11 Seitz, A.: Die ekstatische Wahrheit eines Filmbildners. In: RAY 11/2007. http://www.ray-magazin.at/magazin/2007/11/werner-herzog-die-ekstatische-wahrheiteines-filmbildners (05.01.2016). 12 Ames, E.: Werner beinhart – Herzogs Komik und Herzog-Parodien. In: Wahl, Ch. (Hrsg.): Lektionen in Herzog. München 2012, 190-210, hier: 195. 13 Seitz, Die ekstatische Wahrheit eines Filmbildners.

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Wahrheit beschäftigt hat, arbeitete Chris Wahl über die Differenz von authentischer Ekstase und stilisierter (Selbst-)Ironisierung.14 In einer Rezension zu Werner Herzogs Tagebuch Eroberung des Nutzlosen15 erkennt Stephan Landshuter die Qualität des Prosaautors Herzog, der trotz eines „quasireligiösen, etwas pathetischen Naturdiskurs[es]“, über „den man sich mokieren [könne] oder auch nicht […] immer authentisch“16 bleibe. Bezugnehmend auf den Film Die Höhle der vergessenen Träume (USA/F/D/CA 2010, 90 min.) spricht der Filmkritiker Ekkehard Knörer in seinem Berlinale-Blog vom „Menschheitspathos“, das sich „hoch hinaus ins Gebirge [hinausschwingt] – und […] sich dann als getragen von einem untermotorisierten kleinen Modellflugzeug [erweist]“.17 Tatsächlich lässt sich in der Anfangssequenz des besprochenen Filmes der Schatten eines kleinen Fluggerätes erahnen, dem die Kamera in ihrem von archaischem Sound Ernst Reijsegers begleiteten Höhenflug aufgeschnallt wurde.18 Im selben Film erkennt Thomas Schmid hingegen das „nüchterne Pathos“, mit dem Herzog „die wunderbaren, 30.000 Jahre alten Höhlenmalereien von Chauvet in der Ardèche dem Publikum zugänglich“19 mache. Immer noch in Bezug auf Herzogs erfolgreichen 3D-Film bewundert der Berlinale-Blogger Christoph Petersen die Hemmungslosigkeit Herzogs, die, „ausgehend von einigen Höhlenmalereien voller Pathos über das Wesen der Menschheit [philosophierend] […] Hirn und Lachmuskeln gleichermaßen“20 strapaziere. Auch im Falle des im Jahr 2005 publizierten Films Grizzly Man (USA 2005, 103 min.) können sich die Rezensenten nicht darüber einigen, ob der Film nun ob des patheti14

Wahl, Ch.: Das Authentische und Ekstatische versus das Stilisierte und Essayistische – Herzogs Doku-Fiktionen. In: Ders. (Hrsg.), Lektionen in Herzog, 282-330. Die ironische Selbstinszenierung zeigt sich u.a. in Werner Herzogs Synchronisierung des Pharmavertreters Walter Hottenhoffer in der Simpsonsepisode The Scorpion’s Tale (Staffel 22, Episode 15). Eine ähnlich ironische Entmystifizierung des eigenen Abenteuerdaseins stellt Werner Herzogs Hauptrolle in Zak Penns Doku-Fiction mit dem Titel Incident at Loch Ness (2004) über eine Fake-Documentary in Schottland dar. 15 Herzog, W.: Eroberung des Nutzlosen. München 2004. 16 Landshuter, St.: Vom Drehen im Schweiß. Werner Herzogs Aufzeichnungen der irrwitzigen ‚Fitzcarraldo‘-Zeit. In: literaturkritik.de 4/2005: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7987 (05.01.2016). 17 Knörer, E.: Raunen und Staunen: Wim Wenders und Werner Herzog in 3D: https://www.perlentaucher.de/berlinale-blog/180_raunen_und_staunen%3A_wim_ wenders_und_werner_herzog_in_3d.html (05.01.2016). 18 Vgl. Abb. 11-14. Der gleiche Komponist, Ernst Reijsegers, zeichnete bereits bei Herzogs Filmen The White Diamond (D/J/UK 2004) und dem 2005 veröffentlichten Science-Fiction The Wild Blue Yonder (D/F/USA/I 2005) für die Musik verantwortlich. 19 Schmid, Th.: Werner Herzog als strenger Liebhaber des Bizarren. In: Die Welt 5.9.2012: http://www.welt.de/kultur/kino/article108983658/Werner-Herzog-als-strengerLiebhaber-des-Bizarren.html?config=print# (05.01.2016). 20 Vgl.: http://www.filmstarts.de/specials/633.html?tab=1 (05.01.2016).

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schen Vortrags- und Kommentarstils des bayrischen Regisseurs als ‚ernsthafte‘ Dokumentation oder doch als mockumentary zu betrachten sei. Und während Patrick Weber die pathetische Seelenverwandtschaft zwischen den Bildern Werner Herzogs und der Musik Popol Vuhs hervorhebt, lobt Thomas Groh, dass Herzog zumindest in Aguirre, der Zorn Gottes (D 1972, 93 min.) gerade nicht dem Pathos erliege, sondern „die Geschichte des großen Verrats in schon beinahe ‚langweilige‘ Momentaufnahmen der Agonie“21 verpacke. Ekkehard Knörer hingegen betrachtet das unentscheidbare Oszillieren als Herzog’sches Programm, sei doch die besondere Kunst des bayrischen Regisseurs gerade und nur in solcherart unwahrscheinlichsten Balancen möglich […], […] kommt [sie] als Verbindung des Lächerlichen mit dem Großartigen, des Bajuwarischen mit dem Kosmischen, des Naheliegenden mit dem sternfern Spekulierten, der naiven Weisheiten mit schalkhafter Scharlatanerie [zu sich]. Ansatzlos spielt Herzog Gedanken und Worte mit kühngenialen Pässen in die Tiefe des Raums, wo freilich stets die Gefahr besteht, dass da gar keiner mehr steht. Meistens ist aber tatsächlich einer da, zum Beispiel ein bezopfter Archäologe, der vom Zirkus kommt und Herzogs Seelenerkundungen mit Hilfe der Wissenschaft lässig aufnimmt.22

Etymologisch ist der griechische Begriff ‚Pathos‘ mit ‚Widerfahrnis‘ zu übersetzen und bezeichnet all das, „was einem Seienden zukommt bzw. zustößt“, wobei „jede Form des Erleidens im Gegensatz zum Tun“ und der „gesamte[…] Bereich der Leidenschaften und Affekte“23 eingeschlossen sind. Während Aristoteles Pathos mit Passivität gleich- und mithin dem Handeln entgegensetzt, rehabilitieren Kathrin Busch und Iris Därmann den Begriff und weisen nach, dass Pathos immer auch Empfänglichkeit oder Affizierbarkeit bedeutet. Gleichzeitig vermeiden sie eine Gleichsetzung von Pathos und Handlung, vielmehr wird das chiastische Ineinandergreifen von Praxis und Pathos, Handeln und (Er-)Leiden hervorgehoben.24 In diesem Sinne könnte die vermeintliche Passivität des Zuschauers im Kinodispositiv als aktivische Zurückweisung der Fähigkeit zum Handeln sowie ein den kinematographischen Praktiken unterliegendes „Sich-Angehen-Lassen“25 begriffen werden. Herzog konnotiert die filmische Praxis des Pathetischen mit dem Begriff der „ecstatic truth“,26 die er – (mehr oder weniger) frei nach 21

Groh, Th.: Die Zeichen der Macht – die Macht der Zeichen. In: kinolounge.de, September 2002: http://www.kinolounge.de/pn/modules.php?op=modload&name=Reviews&file= index&req=showcontent&id=89 (05.01.2016). 22 Knörer, Raunen und Staunen: Wim Wenders und Werner Herzog in 3D. 23 Mayer-Kalkus, R.: Pathos. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel/Stuttgart 1989, 193. 24 Busch, K./Därmann, I.: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): ‚Pathos‘: Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs. Bielefeld 2007, 13. 25 Ebd. 26 Herzog, On the Absolute, the Sublime and Ecstatic Truth.

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Longins Ästhetik des Erhabenen27 – als ästhetisch-epistemologisches Moment des Aufeinandertreffens von Pathos und Erhabenem beschreibt: „[I]n the fine arts, in music, literature, and cinema, it is possible to reach a deeper stratum of truth – a poetic, ecstatic truth, which is mysterious and can only be grasped with effort; one attains it through vision, style, and craft.“28 Mit Rekurs auf kinematographische Pathostheorien von Sergej Ėjzenštejn bis Gilles Deleuze wird es im Folgenden darum gehen, jene medialen Prozesse zu fokussieren, die im Pathos als der „Grundformel des Ekstatischen“29 eine Aktivierung des Zuschauers, sein „Außer-sich-Geraten“ als Sprung in den „reinen Film“30 zu bewirken vermögen.

1. Sergej Ėjzenštejn und das filmische Pathos Seit dem Ende der 1920er Jahre operiert Sergej M. Ėjzenštejn mit der Doppelfigur von Pathos und Ideologie bzw. ihrer Wirkweise. Ausgehend von der vorausgesetzten Existenz pathetischer Kunstwerke und ihrer Wirkung schließt der russische Kinopionier auf die erforderlichen Merkmale und die Funktionsweise zurück. Pathos ist das, was den Zuschauer von einem Sitz auffahren lässt; das, was ihn von der Stelle springen läßt; das, was ihn Beifall klatschen und schreiben läßt; das, was seine Augen vor Begeisterung erglänzen läßt, bevor sie sich mit den Tränen der Begeisterung füllen… Mit einem Wort: Pathos ist alles, was den Zuschauer ‚außer sich geraten läßt‘.31

Wie Sylvia Sasse nachzuweisen versucht,32 entwickelt Ėjzenštejn auf dieser Basis und ohne Bezugnahme auf die Arbeiten Aby Warburgs eine eigene Pathosformel. Während jener den Mnemosyne-Atlas zum organisierenden Prinzip wählt, ist es beim russischen Regisseur die Montage, die jene „fundamentale ekstatische Explosion [erzeugt], auf der der pathetische Effekt des Ganzen beruht“.33 Anfänglich von einem aszendenten, d.h. von niederen zu immer höheren Formen aufsteigenden Montagekonzept ausgehend,34 kon27

Ebd. Vgl. auch Augner, Ch.: Gedichte der Ekstase in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. Tübingen 2001, 29. 28 Herzog, On the Absolute, the Sublime and Ecstatic Truth. 29 Eisenstein, S.: Das Organische und das Pathos (1939). In: Ders.: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Frankfurt a.M. 2006, 202-238, hier: 235. 30 Ėjzenštejn, zit. nach Sasse, S.: Pathos und Antipathos. In: Zumbusch, C. (Hrsg.): Pathos: zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010, 171-191, hier: 177. 31 Eisenstein Das Organische und das Pathos, 224. 32 Vgl. Sasse, Pathos und Antipathos, 172. 33 Ėjzenštejn, zit. nach Sasse, Pathos und Antipathos, 172. 34 Vgl. Smith, G.: Moving Explosions: Metaphors of Emotion in Sergei Eisenstein’s Writings. In: Quarterly Review of Film and Video 21/4 (October-November 2004), 303-315.

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zentrieren sich Ėjzenštejns spätere Arbeiten zur „Grundformel des Ekstatischen“ auf das „Außer-sich-Geraten“ des Zuschauers wie auch dasjenige der Umgebung, d.h. des Materials und der Form.35 Doch zeigt sich der Filmtheoretiker weniger an ‚echten‘ Gefühlsausbrüchen der Zuschauer denn an der „Kinofizierung“36 des Pathos interessiert, und so versucht er, dem „technisch-ausgeklügelte[n]“37 wirkungsästhetischen Aufbau und der resultierenden affektbildenden Macht des kinematographischen Repräsentationssystems auf die Spur zu kommen. Gilles Deleuze zufolge entsteht das filmische Pathos durch die Zäsurierung bzw. die Zerlegung der organischen Darstellung in einzelne Abschnitte: „[D]araus wird das Pathetische, das die ‚Entwicklung‘ gewissermaßen akkumuliert, bis es sich zwischen zwei auf die Spitze getriebenen Momenten in einem qualitativen Sprung entlädt.“38 Als Beispiel dient ihm die berühmte Separatorszene aus der Generallinie (R: Grigorij Aleksandrov/Sergej M. Ėjzenštejn, UdSSR 1929, 141 min.39), bei der Deleuze von der Pathetisierung banaler Szenen spricht.40 Eine derartige Phasenartikulation verweist darauf, dass die filmische Affektbildung auf den kalkulier- und mithin reproduzierbaren Gesetzmäßigkeiten und Modalitäten der jeweiligen Repräsentationspraktiken beruht. Dabei erweist sich die Ėjzenštejn’sche Pathosformel – so Felix Lenz – als auf die Ekstase rekurrierendes, zeit- und bewegungsbildbasiertes Phänomen, das die dialektischen Gesetze des Universums kopiert und den Zuschauer mit dem Zeitbau der Komposition synchronisiert:41 We discovered a certain formula according to which works of pathos are constructed. We found an extremely clearcut condition for that state, in which all elements […] of a given work must appear, in order that the pathos effect of the whole be achieved. This condition was the ecstatic state of all its elements – a state that presumes the continuous spasmodic transition from quantity to quality.42

Ėjzenštein zufolge basiert Pathos mithin auf einem vorausgesetzten ekstatischen Zustand, der – wie z.B. in der Dokumentation Die große Ekstase des Bildschnitzers Walter Steiner – durch das Aussetzen, die Unterbrechung oder Störung der narrativen zugunsten einer ekstatischen Zeit als Modus für die 35

Eisenstein, Das Organische und das Pathos (1939), 235. Sasse, Pathos und Antipathos, 177. 37 Eisenstein, Das Organische und das Pathos (1939), 235. 38 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Frankfurt a.M. 2005, 244. 39 In der im Auftrag von ZDF und arte 1998 hergestellten Rekonstruktion dauert der Film 131 min. 40 Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 245. Vgl. hierzu auch Sasse, Pathos und Antipathos, 177ff. 41 Lenz, F.: Das Pathosproblem. In: Ders.: Montagezeit. Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos. München 2008, 385-403, hier: 385. 42 Ėjzenštejn, zit. nach Lenz, Das Pathosproblem, 385. 36

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Empfindung einer temporalen Differenz, eines Intervalls oder Affekts,43 erzielt wird. Die „Metamorphose[n] oder Explosion[en] von einem Moment zum anderen“44 entstehen dabei in und durch filmische Praktiken wie antithetische Parallelismen von Ton und Bild (Lektionen in Finsternis, D 1992, 50 min.), eine bestimmte Einstellungsgrammatik, Kamerafahrten, prophetische Figuren wie z.B. Fini Straubinger in Land des Schweigens und der Dunkelheit (D 1971, 85 min.), Expertendemontage (Grizzly Man), die Verdichtung verschiedener Tempi zu einer magischen Zeit (La soufrière, D 1977, 30 min.; Ten Thousand Years Older, D 2001, 10 min.), die Vermischung von eigenen und Archivbildern, die Erhabenheit von Naturbildern (White Diamond, D/J/UK 2004, 90 min.; Encounters at the End of the World, USA 2007, 99 min.) oder die zumeist von Herzog selbst in bajuwarischer Färbung eingesprochenen Voice-Overs.

2. Deleuze und das Moment des Übergangs Während Ėjzenštejn das Pathos als höchste Form des Organischen bezeichnet, differenziert Deleuze zwischen dem Organischen als Spiralbildung und dem Pathetischen als Übergang. Dabei zeigt sich der französische Kinophilosoph im Rahmen seiner Konzeption von kleinen und großen Formen speziell am Moment des Umschlagens und des Auftauchens einer neuen Qualität interessiert. Pathos bzw. das Ekstatische sind somit als Figurationen des Übergangs und des Werdens zu verstehen, in denen „das Kleine und das Große […] in Beziehung zueinander treten, […] beide Ideen miteinander kommunizieren und in ihrem Austausch Figuren ausbilden. Das erhabene Projekt des Visionärs scheitert in seiner großen Form, und seine gesamte Realität geht über ins Kümmerliche.“45 Dabei geht Deleuze davon aus, dass zwischen den verschiedenen von der Kunst adressierten Sinnen interne Relationen entstehen, die den pathetischen und damit jenen Moment der Sinneswahrnehmung ausmachen, der – synthetisch und pathetisch zugleich – gleichermaßen Zuschauer wie auch filmisches Material bewegt:46 „Umgekehrt haben die in der kleinen Form wandernden Gebrechlichen ein derart taktiles Verhältnis zur Welt, dass sie das Bild selbst vergrößern und beseelen […].“47 Zur Veranschaulichung des von ihm bezeichneten Übergangs wählt Deleuze die Aktions-Filme Werner Herzogs, da „dieses Oeuvre in zwei hartnä43

Vgl. Angerer, M.-L.: Affekt Klammer auf. Effekt Klammer zu, vgl.: http://blog.zhdk.ch/darstellungsformate/files/2013/01/89.pdf (05.01.2016). 44 Ėjzenštejn, zit. nach Lenz, Das Pathosproblem, 386. 45 Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 251. 46 Deleuze, G.: Logique de la sensation. Paris 2002, 45. 47 Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 251.

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ckig verfolgte Themen [zerfällt], die wie visuelle und musikalische Motive aufzufassen sind“.48 So sieht er im Werk des größten „Metaphysikers“49 unter den Autorenfilmern das pathetische Scheitern des erhabenen Projektes in der großen Form bei gleichzeitiger Überhöhung oder Sublimierung in der kleinen (oder umgekehrt), wie er am Beispiel der Filme Land des Schweigens und der Dunkelheit (D 1971, 85 min.) und Woyzeck (D 1979, 82 min.) erläutert: „Diese Befreiung taktiler Werte [bei Fleischmann, der den Baum berührt, oder Woyzeck beim Holzschlagen, B.O.] […] öffnet eine Lücke und führt in sie weiträumige halluzinatorische Visionen ein. Alles Erhabene findet sich auf seiten des Kleinen wieder.“50 Das Pathos ist mithin genau zwischen diesen beiden Momenten oder Formen des Kleinen und des Großen zu situieren. Doch möchte Deleuze es nicht als Moment des Umkippens bestimmen, vielmehr hebt er den Prozess des Umschlagens selbst und damit die Bewegung des „Übergang[s] von einer Entgegensetzung zur anderen“51 hervor: „Das […] Pathetische ist […] das plötzliche Auftauchen der neuen Qualität, ihre Erhebung ins Quadrat, in die zweite Potenz“.52 Die von Werner Herzog immer wieder thematisierte „ekstatische Wahrheit“53 ist als jene „zweite Potenz“ zu verstehen, die durch, mit oder im Pathetischen zur Erscheinung kommt. Diese Form der Wahrheit hat nun nichts mit Fakten zu tun, vielmehr sucht Herzog immer wieder nach etwas, „das mehr einer Ekstase der Wahrheit gleicht, etwas, bei dem wir aus uns heraustreten, etwas, das manchmal in der Religion geschieht, etwa in mittelalterlicher Mystik“,54 wie er bei einem Auftritt in der New York Public Library erzählt. Ebenso, wie er die gefühlvolle ‚Erinnerung‘ Fini Straubingers an ein Skispringen, das sie in ihrer Jugend besucht habe, in einer pathetischen Bild- und Tonfolge inszeniert,55 erzeugen die Bilder von auf dem gefrorenen See kriechenden und nach unten durch das Eis blickenden Menschen in Glocken aus der Tiefe – Glaube und Aberglaube in Russland (D/USA 1995, 60 min.) eine mythisch-mystische Wirkung. Herzog erzählt, 48

Ebd., 248. Ebd., 250. Pauline Kael bezeichnet Herzog als einen „metaphysical Tarzan“. Elsaesser, Th.: Werner Herzog: Tarzan meets Parsifal. In: Monthly Film Bulletin 55 (1988), 132134, hier: 132. 50 Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 251. 51 Ebd., 256. 52 Ebd., 257. 53 Herzog, On the Absolute, the Sublime and Ecstatic Truth. 54 Buruma, Ekstase der Wahrheit. 55 Vgl. Land des Schweigens und der Dunkelheit (1971). Vgl. dazu Ochsner, B.: ‚Ich wollte, Sie könnten das auch einmal sehen‘ (Fini Straubinger). Zum Widerstand der Bilder in Land des Schweigens und der Dunkelheit. In: Ochsner, B./Grebe, A. (Hrsg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld 2013, 261-280. 49

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dass die Suchenden einer Legende folgend nach der untergegangenen Stadt Kitež Ausschau halten; tatsächlich jedoch hat er einige Besucher einer Dorfkneipe angeheuert und dafür entlohnt, dass sie sich auf das Eis legen. Doch nicht als Betrug, sondern als Intensivierung versteht Herzog diese Strategie, die die Wahrheit weniger an Fakten oder am Grund der filmischen Narration denn am Ursprung des Filmischen als Kunst der (Un-)Sichtbarmachung und Entbergung verortet: Etymologically speaking, it [alêtheia, B.O.] comes from the verb lanthanein, ‘to hide’, and the related word lêthos, ‘the hidden’, ‘the concealed’. A-lêtheia is, therefore, a form of negation, a negative definition: it is the ‘not-hidden’, the revealed, the truth. Thinking through language [im sprachlichen Denken], the Greeks meant, therefore, to define truth as an act of disclosure – a gesture related to the cinema, where an object is set into the light and then a latent, not yet visible image is conjured onto celluloid, where it first must be developed, then disclosed.56

Der Akt der Entbergung wird dabei vom Zuschauer oder Zuhörer selbst vollzogen, „the soul actualizes truth through the experience of sublimity: that is, it completes an independent act of creation“.57 In seinem Aufsatz zu Ėjzenštejn betont Greg Smith die Relevanz der Bewegung bzw. die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Emotion und Imitation von Bewegung, was sich analog zum athletisch-poetischen Kino Herzogs lesen lässt. Während Ėjzenštejn auf inhaltlich konfliktuelle Strukturen rekurriert, die für die Bewegung und den Übergang in eine andere, höhere Dimension verantwortlich zeichnen, so betont Herzog immer wieder die körperliche Dimension seiner „zu Fuß gemachten“58 Filme, in denen sich – so z.B. in der anfänglich erwähnten Dokumentation über Walter Steiner – nicht nur die Protagonisten, sondern auch das Kamerateam59 und im körperlichemotionalen (Nach-)Vollzug auch der Zuschauer vor enorme Herausforderungen gestellt sehen. Ein weiterer Unterschied zur Pathos-Konzeption Ėjzenštejns ist darin auszumachen, dass der russische Regisseur die Opposition durch organische Zusammenführung auf höherem Komplexitätsniveau auflöst bzw. sie zur Explosion gelangt. Herzog hingegen versucht, die Spannung des Widerspruchs – z.B. in der Aufhebung der filmisch-narrativen Zeit – auszuhalten. Wenn auch für unterschiedliche Konzeptionen, so bedienen sich beide dabei auffallend häufig der Grundelemente wie Wasser (Herzog) und Feuer (Ėjzenštejn) als Bilder des prozesshaften Werdens und Vergehens. 56

Herzog, On the Absolute, the Sublime and Ecstatic Truth. Ebd. 58 Werner Herzog. Selbstportait (R: Werner Herzog, D 1986, TC 02:37). Vgl. hierzu auch Wahl, Das Authentische und Ekstatische oder auch Carrère, E.: Werner Herzog. Paris 1982. 59 „We had five cameramen and special cameras which could shoot in extreme slow motion [...]. Shooting at this speed on film is a real challenge.“ (Cronin, Herzog on Herzog, 96.) 57

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Die ständige Bewegung, die Übersetzung in immer andere Zustände und der Fluss ästhetischer Elemente zielt auf eine allumfassende Transmutabilität der Bilder, wie sie in Die große Ekstase des Bildschnitzers Walter Steiner und in anderen filmischen Träumen vom Fliegen, vom Ab- und Sich-Erheben erzielt wird. Das Umschlagen bzw. der Sprung in einen anderen, nahezu mythischen Zustand wird auch in White Diamond sichtbar. Der Film dokumentiert eine Expedition, in der von Herzog erneut der Menschheitstraum vom Fliegen thematisiert wird. In einer ihm typischen Kraftanstrengung dringen Herzog und sein Kamerateam zusammen mit dem Forscher Graham Dorrington in den Dschungel von British Guyana vor. Dort soll der von Dorrington gebaute Mini-Zeppelin eigentlich Flora und Fauna des tropischen Regenwaldes erkunden. Letztlich aber steht der Versuch Dorringtons im Vordergrund, die traumatische Erfahrung zu überwinden, die er einige Jahre zuvor durch den Tod seines Freundes, des Tierfilmers Dieter Plage, erleben musste, der mit dem Prototyp des Luftschiffes verunglückte. Dorrington und der Rastafari Marc Anthony Yhab diskutieren über die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung von Menschen und den am Wasserfall lebenden Mauerseglern. Sie verstummen, als vor ihren Augen ein riesiger Vogelschwarm unterstützt von den kosmischen Klängen Ernst Reijsegers und Eric Spitzers in einer Höhle bzw. ihrem „geheimen Königreich“ in den gewaltigen und tosenden Kaieteur-Wasserfällen verschwindet. Abb. 3, 4: Werner Herzog: White Diamond (D/J/UK 2004).

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3. „Antipathos“60 Mit seiner Pathosformel hat Ėjzenštejn primär wirkungsästhetische Aspekte sowie die filmischen Übersetzungsprozesse im Blick. Dabei orientiert er sich an den Reiz-Reaktionsschemata bzw. der engraphischen Wirkung eines Reizes auf die organische Substanz, wie u.a. Ivan Pavlov oder auch Lev Vygotskij sie beschrieben haben, und entwickelt das filmische Pathos als eine Art Gebärdensprache des Filmes. Herzog hingegen scheint weniger an didaktisch-wirkungsorientierten Maßnahmen denn am Phänomen der filmischen Transformationen selbst interessiert. Die von ihm häufig kaskadenartig in Bild und Ton aufgebauten Assoziationsketten generieren romantische Visionen eines Wagnerianischen Gesamtkunstwerkes und setzen der ideologischen Persuasion eine ekstatische Dauer entgegen.61 So spricht Raymond Durgnat folgerichtig von einem „‘Wagnerian’, spiritual vitalism“62 und vergleicht Herzog u.a. mit Leni Riefenstahl, den Expressionisten oder den Romantikern. Auch Chris Wahl greift, unterstützt von Rüdiger Safranskis Diktum, die Romantik sei als Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln zu begreifen, auf diesen Vergleich zurück.63 Herzog selbst verweigert diese Zuschreibungen, wenn er sich jedoch als mittelalterlichen Handwerker bezeichnet, scheint eine Nähe zumindest zur deutschen Frühromantik durchaus denkbar. Versucht der deutsche Autorenfilmer im Allgemeinen in der Schwebe, dem Unbestimm- oder Unbenennbaren zu verharren, so gibt es doch – wie Chris Wahl zeigen konnte – immer wieder Momente, in denen – ähnlich wie z.B. in Ėjzenšteins Film Die Generallinie (Sowjetunion 1929) – das Pathetische ins Komische kippt und als Antipathos oder als „Bloßstellung durch Pathetisierung“ bzw. „Bloßstellung der Pathetisierung“64 zu bezeichnen ist, denn verschiedene Szenen oder Sequenzen lassen sich kaum anders als ironisch oder entblößend verstehen. Nun scheint diese Tendenz weder eine Entwicklung der neueren Filme zu sein noch – wie Chris Wahl vermutet – als Genrespezifik der Herzog’schen Dokufiktionen herhalten zu können.65 Vielmehr kann das pathetische Moment, das durch die bzw. in der Wechselwirkung zwischen filmischen Praktiken und Zuschauer hergestellt wird, in nahezu jedem Film ins Ironische oder Komische kippen, Zeichen und Sinn

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Sasse, Pathos oder Antipathos. Vgl. Smith, Moving Explosions. 62 Durgnat, R.: The enigma of Werner Herzog. In: Studio International 199 (1986), 44-47, hier: 45. 63 Zit. nach Wahl, Das Authentische und das Ekstatische, 319. 64 Sasse, Pathos und Antipathos, 186. 65 Wahl, Das Authentische und das Ekstatische, 319. 61

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auseinanderklaffen,66 wie eine häufig beschriebene Szene aus Encounters at the End of the World (USA 2007) beweist. Während eines Interviews mit einem ‚Pinguinexperten‘ stellt ein offensichtlich gelangweilter Herzog die etwas flapsig anmutende Frage, ob Pinguine denn verrückt werden können. Anstelle einer Antwort wird in der folgenden Szene eine Pinguingruppe gezeigt, aus der ein einzelnes Tier plötzlich ausschert und allein zu den Bergen watschelt. Anfänglich zoomt die Kamera noch mit, dann wirft das Tier einen letzten Blick zurück und entschwindet als immer kleiner werdender Punkt am Horizont (Abb. 5-7). Der Experte erklärt, dieser Pinguin habe die Orientierung verloren und werde sich mit der gleichen Kraft zu dem Berg aufmachen, mit der er das Versprechen auf Fortpflanzung verfolge. Eine Rettung sei unmöglich: „He’s heading towards certain death“, so das Voice-Over. Abb. 5-7: Werner Herzog: Encounters at the End of the World (USA 2007).

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In einer pathetischen Konstruktion vereint der erfolgreiche 3D-Film Die Höhle der vergessenen Träume (USA/F/D/CA 2010) die große Vision einer von Herzog selbst im Voice-over erzählten Entdeckungsgeschichte mit der erneut von Ernst Reijseger komponierten Filmmusik. Die Lust an einer als ornamental zu bezeichnenden Selbstbespiegelung der filmischen Praktiken, die, gelöst von narrativen Funktionen, auf die Darstellung der Dinge und Räume in ihrer Autonomie zielt, zeigt sich dem genauen Beobachter im deutlich wahrnehmbaren Schatten einer ferngesteuerten Modellhubschrauberkamera, die sich metaphorisch über die Weinreben bis zum Eingang der Höhle in den Himmel erhebt und – gleich ob willentlich oder nicht! – nach einem Linksschwenk selbst ins Bild eindringt (Abb. 8, 9). Abb. 8, 9: Werner Herzog: Die Höhle der vergessenen Träume (USA/F/D/CA 2010).

Zum Kippen der pathetischen Gesamtkonstruktion, zu der nicht nur die Filme, sondern in bester Autorenmanier auch der Regisseur selbst gehören, tragen in nicht unerheblichem Maße die zahlreichen Fernsehauftritte und -interviews Werner Herzogs bei, im Rahmen derer der deutsche Filmemacher ein um das andere Mal die Lacher auf seiner Seite verbuchen kann. So enthüllt er anlässlich eines Auftritts in der amerikanischen TV-Talkshow The Colbert Report (6.6.2011) die Funktion der Albino-Alligatoren, die eher unmotiviert zum Schluss des Films Die Höhle der vergessenen Träume auftauchen. Während Colbert den Film aufgrund der großen Brüste der Höhlenstatuetten als Cave-Porn verstehen möchte, expliziert Herzog, ohne

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auf die Provokation einzugehen, das filmische Subskriptum mit den eigenartig anmutenden, weißen Krokodilen. Er berichtet, noch während der Aufnahmen seinen Produzenten angerufen zu haben, der sich just zu diesem Zeitpunkt in einer Tierhandlung in Vancouver befunden und einen Hamsterkäfig erstanden habe. Als er Herzog erzählen hörte, dass jener gerade dabei sei, mutierte radioaktive Albinoalligatoren zu filmen, ließ er den Käfig fallen und fragte ungläubig: “You are shooting WHAT?” – “I want the audience with me in wild fantasy, something that illuminates them. If I were only fact-based, you see […] the book of books in literature would be the Manhattan phone directory. 4 million entries, everything correct. […] but I do not know if Mr Jonathan Smith cries in his pillow at night […] I’m not that kind of a film-maker.” – “I wanna party with you […]”.67

So die lapidare Antwort des Showmasters, die im lauten Gelächter des Publikums untergeht. Ins gar Tragikomische kippt ein für das Fernsehen der BBC in Los Angeles aufgenommenes Interview. Während Werner Herzog mit tiefer, hypnotisierender Stimme zu erzählen beginnt, dass in Deutschland niemand mehr seine Filme schätze, ist plötzlich ein lauter Knall zu vernehmen. Herzog ist mit einem Luftgewehr angeschossen worden, sein Oberkörper kippt vornüber. Nach dem Interview demonstriert er vor laufender Studiokamera die Einschusswunde: „Es hat nichts zu bedeuten, es überrascht mich nicht, dass man auf mich schießt.“68 Dieser „typische Herzogaugenblick“ lässt den bereits zitierten NZZ-Journalisten Buruma die Vermutung hegen, Herzog könne „das ganze Ding selber inszeniert“69 haben.

4. Pathos als Affizierbarkeit Postmodernes (Anti-)Pathos oder doch romantisches Gesamtkunstwerk? Die Entscheidung, der Herzog selbst immer wieder ausweicht, ist womöglich irrelevant. So gibt es auch nicht die Dokumentation oder den fiktionalen Film, sondern filmische Praktiken, die Widersprüche und inkommensurable Formen erzeugen, ohne von einem intellektuellen Akt gekontert oder eingeholt werden zu können. Manchmal, so Herzog, scheint es „einen Widerspruch zu geben zwischen dem, was man sieht, und dem, was man hört, aber für mich führt genau das zu einer Art Spannung, die viele Dinge transparent macht, die es sonst nicht wären“.70 Nicht die explosive Zäsur, an der der Ėjzenštein’sche Übergang sich ereignet, sondern vielmehr das Aushalten der 67

Vgl.: http://www.colbertnation.com/the-colbert-report-videos/388586/june-06-2011/ werner-herzog (05.01.2016). 68 Vgl.: http://www.youtube.com/watch?v=ylXqc8TQ15w (05.01.2016). 69 Buruma, Ekstase der Wahrheit. 70 Herzog zit. nach Wahl, Das Authentische und das Ekstatische, 325.

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ekstatischen Dauer eines in der Deleuze’schen kinematographischen Logik verstandenen beliebigen Moments ist es, in dem die wechselseitige Konfiguration von Film und filmischen Praktiken, (Film-)Regisseur und (Film-) Zuschauer in Erscheinung tritt. Und diese kann jederzeit ins Komische übergleiten, wie im Falle des vor allem in den USA häufig parodierten Films Grizzly man (USA 2005), der mit seiner „Film-beobachtet-Film“-Konstruktion, in der Herzogs Filmaufnahmen das ca. 100-stündige Videomaterial des Grizzly-Mannes Timothy Dreadwell zugleich rahmen und entgrenzen, von besonderem Interesse ist. „Bis ans Ende der Welt und dann noch weiter“, mit diesen Worten Herzogs ist eine wunderbare Dokumentation Peter Buchkas über den deutschen Regisseur betitelt. In seiner ein- und doch gleichzeitig ausgrenzenden Geste scheint gerade jenes „und dann noch weiter“ pathetisch und gleichermaßen antipathetisch zu sein und somit dem Kino Herzogs die bereits von Eisenstein geforderte Beweglichkeit der Bilder wie auch jenes radikal politische und emotionale Potential zu verleihen, wie die Aufnahmen der brennenden Erdölquellen Kuwaits, eine apokalyptische Landschaft, deren Ungeheuerlichkeit von spätromantischer Musik im umstrittenen Film Lektionen in Finsternis (F/GB/D 1992) unterstrichen wird: Alle Kunst […] bezeichnet […] den Ort, wo den Affekten nicht nur jedermann zugängliche Sichtbarkeit und Prägnanz verliehen, sondern wo sie – auf stets unkalkulierbare Weise – hergerichtet, ausgestellt, aufgeführt, aufgerührt, gebildet und hervorgebracht werden. Jede Repräsentation, in der der Affekt auf diese Weise insistiert, ist ein Pathem, ein affizierendes Ereignis, das fassungslos macht […].71

Eine ähnliche Reaktion erzeugt einer der eigentümlichsten Filme Werner Herzogs, Fata Morgana (D 1968/70), der in einer minutenlangen Kamerafahrt die vor laufenden Wüstenbildern zu hörende Stimme der aus dem Maya-Mythos Popol Vuh rezitierenden Filmhistorikerin Lotte Eisners zu einer ekstatischen Ton-Bild-Orchestrierung verdichtet, bis sie schließlich von Aufnahmen von Sanddünen und Mozarts Kyrie aus der Krönungsmesse (KV 317) abgelöst werden. Mit Busch und Därmann wurde bereits zu Beginn darauf verwiesen, dass Pathos immer auch als Affizierbarkeit zu verstehen ist. Anhand zahlreicher Filmbeispiele konnte Michaela Ott demonstrieren, dass mediale Figurationen, wie die Filme Werner Herzogs sie in den weiter oben beschriebenen Beispielen ins Bild setzen, jene Momente einer bestimmten Affizierung herstellen, die die Vermittlung stören oder gar aussetzen: Affizierung wird hier also gerade nicht als quasi-automatische und unwillkürliche Trieb- oder Reizabfuhr oder emotionale Entladung, sondern als Disjunktor verstan-

71

Busch/Därmann, Einleitung, 22-23.

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den, der mittels Unterteilung und Besetzung artikulatorische Strukturen vorzeichnet und Differenzen auf verschiedenen Ebenen sichtbar und hörbar werden lässt.72

Dabei zielen die kurzfristigen Unterbrechungen nicht auf einen endgültigen Abbruch, vielmehr intensivieren sie die Wahrnehmungsfähigkeit, die das ekstatische Potential oder die Wahrheit filmischer Bilder offenlegt und das Sich-Angehen-Lassen bzw. die Teilhabe des Zuschauers ermöglicht, wie Herzog selbst reichlich pathetisch formuliert: Man blickt nicht durch die Bilder hinaus, sondern die Bilder schlagen Öffnungen in uns hinein und schauen mit fahlem, bangen Leuchten bis in unser Innerstes hinab. Es ist wie ein hypnotischer Sog nach innen; in einem Abgrund angelangt, finden wir jemanden, der uns bekannt scheint: uns selbst.73

72 73

Ott, M.: Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur. München 2010, 17. Herzog, zit. nach Stiglegger, M.: Öffnungen in uns hinein. In: Filmdienst 12 (2001).

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Affekttherapie durch die Form? Zu Texten von Karl Steiner/Karlo Štajner und Danilo Kiš 1. Aufarbeitung des GULAG-Geschehens Der sowjetische Totalitarismus, die stalinistischen Säuberungen, der Große Terror1 waren und sind Gegenstand der auf Initiative von Andrej Sacharov Ende der 80er Jahre gegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial, die ihre zentrale Aufgabe in der Dokumentation und der Aufdeckung des Systems der sowjetischen Zwangslager sieht. Verschiedene, das Schicksal der Gulag-Opfer betreffende Einrichtungen sind entstanden: Archiv, Museum, Bibliothek. Die Sammlung der Opfernamen, die Suche nach den Massengräbern, das Aufstellen von Denkmälern und Gedenktafeln, die Veröffentlichung von Knigi pamjati (Gedächtnisbüchern), in denen Namen, Herkunft und Schicksale der ermittelten Opfer aufgezeichnet sind, werden fortgesetzt.2 Dieser Memorial-Arbeit sind in den 60er und 70er Jahren Texte der Opferzeugen vorausgegangen, in denen Darstellungsversuche unternommen wurden, um das Unglaubliche der Geschehnisse zu vermitteln, das Schweigen zu brechen, dem Verstummen entgegenzuarbeiten. Dies bedeutete zweifellos, eine literarische Entscheidung zu treffen, die der Wahl des Genres und der Stilistik galt. Die Frage danach, ob man dem Unsäglichen eine Sprache widmen darf und wenn ja, welche, eine dokumentarisch schlichte oder eine literarisch anspruchsvolle; die Frage danach, ob überhaupt eine Gestaltung erlaubt sei, erscheint aus der Perspektive der Schreibenden, die der Pflicht zum Zeugnisablegen und der unabweisbaren Forderung nach dem Erinnern folgten, – den Bedenken der philosophischen Interpreten zum Trotz – obsolet. Der Zwang zur Äußerung mag dabei zwar stärker wiegen als Erwägungen zur ästhetischen Wertigkeit oder generell zur Form, dennoch belegen viele Texte, dass die Suche nach dem adäquaten Ausdruck, nach einer Sprache der Unmittelbarkeit ihr Schreiben begleitete. Das letztlich Unbeschreibbare, das erlebt und überlebt wurde, die Diskrepanz zwischen Erleben und Beschreiben, zwischen Erleiden und Sprechen, zwischen der Ungeheuerlichkeit des Geschehens und dem Zwang, die Sprache so zuzurichten, dass sie dieses im 1 2

Dazu die Darstellung von Schlögel, K.: Terror und Traum: Moskau 1937. München 2008. 2012 ist im Kontext einer Ausstellung in Deutschland eine Dokumentation mit Bildzeugnissen und historischen Beiträgen erschienen: Knigge, V./Scherbakova, I. (Hrsg.): GULAG. Spuren und Zeugnisse 1929-1956. Weimar 2012.

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Nachhinein in einer neuen Gegenwart, der Gegenwart des Schreibens, zu treffen vermag, sind Themen vieler Lagertexte. Darin ist ein Bemühen um Repräsentation deutlich, das von Motiven wie Erinnern, Aufklären, kathartisches Verstehen geleitet ist. Der Rückgriff der Schreibenden auf traditionelle Genres wie Tagebuch, Memoiren, faktographischer Bericht, Autobiographie, Erzählung ergab sich aus ihrem literarischen Horizont, zugleich aber auch aus der Entschlossenheit, das Erfahrene dem Verstehen der Nichtbetroffenen zugänglich zu machen, d.h., das Erlebte in Formen zu vermitteln, die in ihrer Struktur und Sprache wiedererkannt werden konnten. Die Nachwirkung der realistischen Tradition und der darin sanktionierten Verfahren hat dazu geführt, dass Formexperimente, die das Reale der Mitteilung hätten verdecken und verzerren können, vermieden wurden. Die Berichte der Gulag-Überlebenden, in denen es gelungen ist, dem sprachlos Erlittenen eine Sprache zu geben, haben Autoren einer nicht zu den Opfern gehörenden Generation zu Erwiderungen mit eigenen Texten veranlasst, in denen der Versuch spürbar ist, am Gedächtnis der Überlebenden zu partizipieren, es zu einem Teil des eigenen Gedächtnisses zu machen. Die Nachgeborenen, infiziert vom Trauma der älteren Generation, scheinen bereit, sich dieser in Erinnerungstexten festgehaltenen ‚fremden‘ Erfahrung in Erzählungen und Romanen zuzuwenden. Das gilt insbesondere für den aus Subotica – an der ungarischen serbischen Grenze – stammenden „jugoslawischen“ Autor Danilo Kiš, den die Lektüre der Lagertexte – er selbst nennt Autoren wie Aleksandr Solženicyn, Evgenija Ginzburg und insbesondere Karl Steiner – zu einer Replik veranlasst hat, in der das Faktographische der Zeugnistexte durch Fiktionalisierung geprägt und umgeprägt wird, wobei die realistische Konvention durch die Reduktion des narrativen Moments, d.h. durch den Verzicht auf die Entfaltung eines Sujets, durchbrochen wird.

2. Aspekte der Affektenlehre Die ‚Konfrontation‘ von Karl Steiners autobiographischem Bericht 7000 dana u Sibiru, 1972 (7000 Tage in Sibirien, 1975) mit Kiš’ Erzählungen aus Grobnica za Borisa Davidoviča, 1976 (Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch, 1983), die im Folgenden Gegenstand sein soll, hat nicht nur die Spannung zwischen Fakt und Fiktion einzuschließen, sondern auch der Frage nachzugehen, welche Darstellungsmodi die beiden durch Generationszugehörigkeit und Erfahrung unterschiedenen Autoren für das letztlich beiden gemeinsame Thema, die Perversion des Kommunismus und die Lagerrealität, einsetzen. Sowohl in Steiners Sibirienbericht als auch in Kiš’ Erzählband ist eine affektische ‚Färbung‘ der Darstellung auszumachen, die von der jeweiligen

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Erzählinstanz (autobiographischer Ich-Erzähler, auktorialer Erzähler) ausgeht. Beide Autoren rekurrieren auf emotionale Reaktionen – wie Mitleiden, Abscheu, Entsetzen, Verstörung – hervorrufende Verfahren, deren Bestimmung einen Blick zurück auf die Tradition der Affektenlehre legitimiert, zumal ein solcher Blick bei der Beschreibung der divergierenden Darstellungsmodi auf die Begrifflichkeit und Verfahrenslehre der Rhetorik zurückzugreifen und die Art und Weise zu beleuchten erlaubt, wie Spannung erzeugt wird, Empathie entsteht, und wie Variationen in der Evokation der Affekte zustande kommen. Man kann die Affektenlehre wie einen Kommentar zur Herstellung und Rezeption von Texten über ‚sensationelle‘ Ereignisse, über Personen mit überbordenden Temperamenten, wie sie seit der Antike in unterschiedlichen Genres bekannt sind, lesen, ohne die Kenntnis der Lehre bei Autoren annehmen zu müssen, die sich einer bestimmten Affektstilistik bedienen, wie dies für Steiner einerseits und Kiš andererseits zutrifft. Allerdings ist im Fall des Letzteren von einer expliziten Poetologie auszugehen, die Aussagen über Ausdruck und Appellfunktion seiner Texte enthält. Kiš antwortet auf die Schrecken der Berichte mit dem Versprechen ihrer ästhetischen Bewältigung, was einer Therapieverheißung nahekommt. Die Rhetorik, die das Anthropologicum der Gefühle, deren Äußerung und Unterdrückung bearbeitet, hat in der Affektenlehre in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen einen Katalog vorgelegt, der traditionsbildend wurde. Dieser führt nicht nur in variierenden Listen die Namen der Affekte auf, sondern nennt die Verfahren ihrer Erzeugung sowie die Stiltypen, welche die Affekte in den oratorischen und poetischen Gattungen in unterschiedlicher Stärke zu realisieren haben. Indem die zunächst (spontanen) Äußerungsformen der Affekte benannt, definiert und systematisiert werden, werden sie zu einsetzbaren Formen: zu Stilformen des Gefühls, der Leidenschaft. Die Appellfunktion der Affektdarstellung steht im Mittelpunkt dieser Lehre: Es geht um Rührung, Bestürzung, Erschütterung, Schock, Mitleid, Entsetzen, Furcht und Schrecken. (In den Redegattungen ist es die Aufgabe des Rhetors, in den poetischen Gattungen Epos und Drama diejenige des Erzählers oder Schauspielers, diese Stimmungen beim Hörer bzw. Zuschauer zu evozieren.) Dabei ist der verbal und gestisch inszenierte Selbstausdruck auf Reaktion ausgerichtet und bringt eine Art Affektdialog, eine sympathetische Beziehung zwischen den Agierenden und den Rezipienten hervor.3 Das Regelwerk der Affektenlehre ist in Traktaten der Rhetorik, aber auch der Poetik überliefert und hat eine konsistente, nicht abreißende Tradition erlebt, wie sie entsprechende Texte bis ins 18. Jahrhundert belegen, 3

Der später eingeführte, nicht zur rhetorischen Terminologie gehörende Begriff der Empathie (die Gräzisierung von Mitfühlen, Einfühlung) betont die Rolle der durch die Affektdarstellung herausgeforderten Lesenden.

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wo sich andere Disziplinen der Affekte annehmen, etwa die Seelenlehre. Das Wissen, das in der Lehre der Erzeugung und Wirkung transportiert wird, ist dabei ebenso wenig verloren gegangen wie die Kenntnis der unterschiedlichen Auslegungen der Affekte, ihrer variierenden Terminologien und Systematiken. Bereits in der Antike lassen sich gegenläufige Richtungen ausmachen: Neben der Lehre, die Aristoteles in seiner Rhetorik und seiner Poetik entwickelt und der er in der Schrift De anima nachgeht, hat sich die stoische Lehre entwickelt, der es weniger um Ausdruck als um Unterdrückung oder zumindest Zügelung der Affekte zu tun ist, und die moralische Vorstellungen bezüglich ihres Werts und Unwerts formuliert; Vorstellungen, die im christlichen Kontext (die ‚bösen‘ Leidenschaften) wieder aufgenommen werden. Die Anweisungen zum Einsatz der Affekte und jene zu ihrer Mäßigung konkurrieren also in der Geschichte der Affektenlehre. Ihre epochengebundene Auslegung, besonders in Renaissance- und Barocktraktaten, lässt die beiden Tendenzen zutage treten. Mahnungen zur Mäßigung verweisen häufig auf vom Epochenstil provozierte Übertreibungen, wie eben im Barock und anderen nicht-klassischen Perioden. Die Berührung von rein rhetorischen Begriffen mit solchen der Moral, der Psychologie und der Physiologie, die dabei deutlich wird, verweist auch hierin auf einen bereits in der Antike bestehenden Kontakt zwischen den Disziplinen, die dem anthropologischen Faktum der Affekte, Leidenschaften und leidenschaftlichen Gefühle gewidmet sind, also dem, was als Seelenvermögen, facultas animi, bezeichnet wird.4 Was in der Lehrtradition auffällt, ist der Versuch, Systeme zu errichten, in denen die Begriffe für affektische Äußerungen, ihre Wirkung sowie ihre stilistische Verarbeitung aufeinander bezogen werden. Entsprechend den Funktionen der Redegattungen wird zwischen sanfteren und heftigeren Affektstufen unterschieden: ēthē und pathē. Ethos bezeichnet den von mäßigen, maßvollen Affekten beherrschten Charakter, während Pathos wilde, hinreißende, erschütternde, entsetzende Seelenbewegung hervorrufen soll. Cicero unterscheidet recht genau zwischen Ethos als vermittelndem, temperierten, menschlich-verbindlichen, also Nähe herstellenden Affekt (wie Milde, 4

Als Quellen für die rhetorische Triade der Funktionen „lehren, bewegen, erfreuen“ (docere, movere, delectare) standen den Traktatisten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts die in der aristotelischen Tradition stehenden Abhandlungen Ciceros, De oratore, und Quintilians, Institutio oratoria, und für den Pathos-Begriff insbesondere das II. Buch der aristotelischen Rhetorik (II-XI; 1378a-88b) zur Verfügung. Für die Einflussnahme der Affektrhetorik auf die Theorie der Wirkung in den Poetiken war zunächst Horaz’ Ars poetica die Hauptquelle, dann ab dem 15. Jahrhundert die aristotelische Poetik, in der die Rolle der Affekte in den diegetischen Genres behandelt und die kathartische Wirkung von Furcht und Jammer (phóbos und éleos) in der Tragödie hervorgehoben wird. Vgl. dazu Plett, H.F.: Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance. München 1983, 25-47.

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Frömmigkeit, Liebenswürdigkeit, Freimütigkeit) und Pathos als ungezähmt, das temperiert Menschliche brüskierend (wie Liebe, Hass, Zorn, Neid, heftiges Mitleiden, Hoffnung, Angst), die in ihrer Heftigkeit ‚abstoßend‘ sein können, grenzüberschreitend. Die unterschiedlichen Affektstufen werden in unterschiedlichen Stilstufen (genera dicendi) realisiert, vom niedrigen, über den mittleren zum hohen Stil (genus subtile, genus medium oder temperatum und schließlich genus grande, grave). Bei dem Letzteren dürfen die Emotionen des Zuhörers nicht nur angerührt, sondern sie müssen von Grund auf erschüttert werden, d.h. aus der Trias der Funktionen lehren, bewegen (bzw. erschüttern), erfreuen (docere, movere, delectare) wird das movere privilegiert. Es entstehen gelehrte Diskussionen über die Anzahl und Anordnung der Affekte. Neben einer Einteilung in ursprüngliche Affekte wie Liebe und Hass und abgeleitete, die gemischt sind, gilt die Nennung der klassischen Affekte: Liebe, Trost, Freude, Hoffnung, Mitleid, oder die ciceronianische Vierergruppe: Freude, Hoffnung, Schmerz und Trauer (gaudium, spes, metus und dolor). Das Ganze ergibt ein Entsprechungssystem, das den Regeln der Angemessenheit unterworfen ist. Decorum bzw. aptum ist das Schlüsselwort für dieses Zusammenspiel von Affektklasse, Affektstufe, Redegattung, Redefunktion, Stilart, Tropen und Figuren, das zudem die Disposition des jeweiligen Publikums zu berücksichtigen hat.5 Aber auch damit sind die Kataloge und Listen der Zuordnungen nicht abgeschlossen. Es werden spezifische Verfahren aufgerufen, welche die sprachliche Inszenierung gemütsbewegter Rede und die Erregung korrespondierender Emotionen zu realisieren haben. Genannt werden Anakoluth, Aposiopese, Ellipse, Abbreviatur, Allusion, exclamatio, Schweigen u.a. Als Intensivierung der Aposiopese, des Abbruchs eines begonnenen Satzes, wird eigens die Affekt-Aposiopese genannt. Dem entgegengesetzte Verfahren sind die Vergegenwärtigungsaffekte, die vor allem durch eine Figur realisiert werden, die in den Traktaten als hypotyposis oder enárgeia (das lateinische Äquivalent lautet evidentia) bezeichnet wird und eine Art Voraugenführung eines erschreckenden, schockierenden Ereignisses meint. Es ist das Verfahren einer „lebhaft detaillierten Schilderung eines Gesamtgegenstandes durch Aufzählung sinnfälliger Einzelheiten“, wie Heinrich Lausberg in seinem Handbuch der literarischen Rhetorik formuliert, ein Verfahren, „das an die Vorstellungskraft appelliert“.6 5

Plett weist auf englische Renaissancerhetoriken hin, in denen „dem Redner eingeschärft wird, auf die psychische Konstitution des Publikums, Art und Umfang der Affekte und den geeigneten Anlaß zu ihrer Auslösung zu achten. Ohne die Beachtung des aptum ist eine Rede unwirksam“. Plett, Rhetorik der Affekte, 26. 6 Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik. 2 Bde. München 1973, § 810, 399-400.

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Fuhrmanns Begriff der Vergegenwärtigung in seiner Longin-Interpretation bezieht sich auf den nämlichen Vorgang, der Bestürzung, Entsetzen (ekplēxis) hervorrufen kann.7 In allen Phasen der Lehre und ihrer Auslegung ist der Topos der Affektbeherrschung präsent. Zunächst bei Aristoteles, der sich mit der Zügelung, genauer: Kontrollierung der Affekte beschäftigt und dafür den Begriff Metriopathie (Politik, 1254b) eingeführt hat. Die Lehre macht deutlich, dass Gefühlssensationen, extreme Erfahrungen (Schmerz, Glück) verbale Ausdruckform finden können, dass diese jedoch in doppelter Hinsicht Restriktionen unterliegen: einer moralischen und einer ästhetischen. Im decorum verdichten sich die jeweils geltenden ästhetischen und moralischen Konzepte und es sind die Dekorumsverstöße, die neue Richtungen in der Affektstilistik anzeigen. Das gilt insbesondere für die Rolle, die ēthos und pathos in der Stilgeschichte im Kontext variierender ästhetischer Kriterien spielen. Während Ethos die Bedeutung des milderen Affektausdrucks nach dem Geltungsverfall der Rhetorik zugunsten einer rein moralischen Bedeutung verloren hat, ist im Pathosbegriff, wenngleich aus der Bindung an die Affektenlehre gelöst, die Konnotation des heftigen Gefühlsausdrucks erhalten, die allerdings mit Wertungen wie ‚unecht‘, ‚schlechter Geschmack‘, ‚Affektiertheit‘ zusammengeht – das Pathetische wird zum negativen Attribut verbaler und gestischer Gefühlsäußerung. Aby Warburgs wertungsfreier Begriff der ‚Pathosformel‘ ist zwar nicht auf die Terminologie der Affektenlehre reduzierbar, doch passt die Annahme einer Tradition der Gebärdensprache, wie sie die Beobachtung einer Ausdruckstopik in den bildenden Künsten von der Antike bis in die Renaissance nahelegt, zur Lehre von der Wiederholbarkeit der Affektdarstellung und -erzeugung in den verbalen Künsten, die epochenspezifischen Variationen eingeschlossen. Dass kulturelle Prägungen den Gefühlsausdruck bestimmen, bzw. dass religiöse, moralische und ästhetische Konventionen die spontanen Äußerungen von Trauer, Wut, Angst, Mitleid, Scham etc. in einer Gesellschaft reglementieren,8 widerspricht nicht der Geltung einer Affektenlehre, die Regeln für die Darstellung der Gefühle formuliert, in denen sich diese Konventionen widerspiegeln. Es ist eine der Möglichkeiten der Literatur, diese Konventionen zu brüskieren, was in allen Stilepochen der Fall ist.

7

Fuhrmann, M.: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles. Horaz. Longin. Darmstadt 1973, 177. 8 Vgl. Kimmich, D./Schahadat, S.: Positionen der Emotionsforschung. In: Dies. (Hrsg.): Kulturen der Leidenschaften. Leidenschaften in den Kulturen. arcadia 44/1 (2009), 4-7.

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3. Affektstilistik Von einem Weiterwirken der Affektenlehre, als Regulativ und als Provokation, dieses zu unterlaufen, kann man angesichts von Texten sprechen, die sich die Darstellung von aus extremen Lebensumständen rührenden Gefühlen zur Aufgabe gemacht haben. Gemeint sind Berichte, Memoiren und Erzählungen über die Lagerhaft im Gulag, in denen die Schilderung von Ereignissen im Mittelpunkt steht, die Menschen zu Opfern gemacht haben. Sie werden als Leidende gezeigt. Die von ihnen ‚ausgetragenen‘, sie heimsuchenden, aus einer Schmerzerfahrung wie Unfreiheit, Folter, Hunger, Kälte, Demütigung, Erschöpfung rührenden Gefühle wie Angst, Wut, Mitleid (mit den andern), Scham, Nostalgie, Sehnsucht (nach Freiheit, den Angehörigen), Trauer, Verzweiflung, Hass, von denen die beschreibenden Texte handeln, entsprechen den Anthropologica, von denen die Affektenlehre ausgeht und zu deren Gestaltung sie Anweisungen gibt. Es ist eine Frage der jeweils eingesetzten Affektstilistik, mit welcher Intensität Leid gezeigt wird, d.h., mit welcher Sprache sich der Beschreiber auf seinen Gegenstand einlässt und korrespondierende Affekte bei den Lesenden auszulösen vermag: Empörung, Erschütterung, Gleichgültigkeit. Dabei bleibt im Einzelfall zu entscheiden, ob die Ethos- oder die Pathosstufe diese Reaktionen hervorrufen kann und welche Rolle dabei die Präzision der Beschreibung, die Akribologie, die Voraugenführung der Leid verursachenden Ereignisse und der Leidenden spielt. In allen Phasen der Lehre und ihrer Auslegung ist der Topos der Affektbeherrschung präsent. Höchstes Ideal ist die apátheia, die den Leidensausdruck verhindert, während éleos und phóbos letztlich kathartisch gelöst werden. In vielen Texten, die über die Lagergräuel berichten, geht es allerdings keineswegs um Katharsis, ebenso wenig wie es zu Affekttherapien kommt. Das Ziel der Psychagogie, die Reinigung von den Leidenschaften (ton pathematon katharsis) als eine allgemeine Lust (oikeia hedone) zu vollziehen, dürfte hier schwerlich erreicht werden, auch wenn Berichte über ihr Leiden als Erlösung still hinnehmende Häftlinge – zumeist durch starke Glaubensbindung geprägte Personen – zu finden sind. Wie lassen sich nun die beiden Affektstufen Ethos/Pathos in den Texten von Steiner und Kiš bestimmen? Steiners 7000 Tage in Sibirien ist ein Text der Faktographie, der dokumentarischen Literatur mit dem Anspruch des Augenzeugenberichts, der das Ethos der Angemessenheit mit den entsprechenden stilistischen Erfordernissen verlangt. Kiš’ Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch ist ein fiktionaler Text, der Steiners dokumentarisches Material verarbeitet und Verfahren einsetzt, die eine heftige Appellfunktion zu entwickeln vermögen. Dennoch lässt sich die von der Rhetorik nahegelegte Annahme, Ethos dominiere die dokumentarische Literatur (ethosgebunden sind der Dokumentarist, der Memoirenschreiber, der Historiker) und Pathos die

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fiktionale Literatur, im Falle der beiden Autoren nicht aufrechterhalten, d.h., die Opposition Faktographie-Ethos vs. Fiktions-Pathos funktioniert in dieser Einfachheit keineswegs. Steiners Gulagmemoiren erzielen gerade durch stilistische Zurückhaltung, aber eindringliche Präzision der Beschreibung starke Wirkung, wie die Rezeptionsgeschichte belegt. Kiš versucht durch Verfahren der Pathosvermeidung, etwa durch ironische Distanzierung zum Dargestellten, durch Verzicht auf eingängiges Erzählen und durch Verfahren der Litotes, der Ellipse oder ‚Unterrepräsentation‘, seinem poetologischen Konzept einer „Po-Ethik“ zu entsprechen, in der es um ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Realen und dessen Bearbeitung geht. Karl Steiners Autobiographie ist das Ergebnis einer ungeheuren Erinnerungsanstrengung und der Entscheidung, diesen Bericht eines Opfers und Augenzeugen so verlässlich wie möglich zu gestalten. Der Text, den man als Gedächtnisprotokoll bezeichnen könnte, das Steiner nach seiner Entlassung aus der Lagerhaft und Rehabilitation 1956 niederschrieb, gilt der Rekonstruktion der in Gefängnissen und Arbeitsstraflagern durchlittenen Zeit. Sein Bericht, der zu den von Leona Toker zur Gattung zusammengefassten „Gulag Narratives“9 gezählt werden kann, wurde erst 1972 veröffentlicht, obwohl das Buch bereits zwei Jahre nach Steiners Rückkehr nach Jugoslawien beendet war, im selben Jahr wie Solženicyns Archipel Gulag. Nur mit persönlicher Zustimmung Titos konnte der Text publiziert werden. 1975 erschien eine deutsche Ausgabe, 1983 die französische mit Kiš’ Vorwort, 1988 erfolgte eine amerikanische Publikation. In Jugoslawien rief die Autobiographie eines Gulag-Überlebenden eine heftige Reaktion hervor, das Buch wurde prämiert, der Autor berühmt. Steiners genaue Rekonstruktion seiner Gerichtsverfahren, der Verhöre, der Versuche, ihn zu einem falschen Geständnis zu zwingen, die Schilderung der Zwangsarbeit mit primitivster Ausrüstung bei Kälte-Graden unter –50°C, des Hungers, der Pritschenlager, der Baracken, der schweren Erkrankungen, der Krankenstation, der Ärzte, der Wächter, der Denunzianten, der politischen und der kriminellen Insassen schockierten. Steiners Verzicht auf starke Gefühlsbekundungen, wenn er für den Leser unvorstellbare Szenerien von Leid, Demütigung, Folter mit Vokabeln mittlerer Stillage beschreibt und auch bezüglich des ihm physisch und psychisch Zugefügten einen moderaten Selbstausdruck pflegt, hinterließ bei den Lesenden nachhaltige Spuren. Als Beispiel mag hier die amerikanische Rezeption gelten. Sie bezog sich sowohl auf den Inhalt wie auf die Darstellungsweise, wobei Folgendes hervorgehoben wird: „the startling precision“ und „the deliberately understated manner in which he describes Gulag-life“. Dann heißt es: 9

Toker, L.: Return from the Archipelago. Narratives of the Gulag Survivors. Bloomington 2000.

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Written with calm courage in a matter of fact style, this searing diary is one of the fullest, most shocking accounts yet of the Soviet prison camp system. In the tradition of such writers as Aleksandr Solshenicyn’s The Gulag Archipelago, and Varlam Shalamov’s Kolyma tales, Karlo Štajner chronicles here his twenty year imprisonment in a Siberian labour camp. Štajner recounts his ordeal in haunting detail, from the initial detainment and interrogation to the eventual internment in a labour camp.10

„[S]earing“ (in der Bedeutung von ätzend und brennend) lässt an ekplēxis denken, auch „shocking“ und „haunting“ gehören in den Kontext einer ‚affektierten‘ Rezeption. Entscheidend ist, dass die Affekterzeugung durch das vermittelte Augenzeugnis, durch die Autorität des glaubwürdigen Schreibers erfolgt, durch das Ethos der Überzeugung. Doch verlangt der Chronikstil, zu dem Steiner sich entschlossen hat – über seine literarischen Kenntnisse und Vorbilder lässt sich nur spekulieren –, eine Folgerichtigkeit der Ereignisse und schafft Kausalzusammenhänge. Das heißt, hier hat Steiner mit ordnender Hand Erzählbarkeit hergestellt, sein Erleben gebündelt, im Versuch, die Erfahrungen von Kälte, Hunger, Demütigung, Schmutz, Denunziation, Bosheit, Altruismus, Krankheit und Überlebenskunst zu vermitteln, wobei er die Leidensgeschichten von Mithäftlingen, besonders jener, die er von früher kannte oder nach gemeinsam Erduldetem und längerer Trennung wieder traf, einfügte, was seiner persönlichen Chronik eine gewisse Mehrschichtigkeit verleiht. Die Anteilnahme am weiteren Schicksal dieser anderen – er erfuhr von Hinrichtungen, vom Zugrundegehen aus Schwäche, von Selbstmorden – ließ ihn emotionale Töne der Betroffenheit und Trauer finden. Steiner hat im Vorwort seiner Chronik von der Gedächtnisleistung geschrieben, die er in ihrer nötigen Gesamtheit nicht zu erbringen vermöge. Sein Fassungsvermögen sei überfordert, was er berichte, sei nur ein Teil, das Ganze, was er erlebt hat, würde Bände füllen. Daher bündelt er, rekonstruiert ihm besonders eingeprägte Fälle und lässt durch die Beschreibung der Alltagsroutine, deren jeweilige Höhe- und Tiefpunkte (Essenfassen, Schlafen und Ausrücken zur Arbeit in markerschütternder Kälte) in ihren Wiederholungen registriert werden, die Ratio des Lagersystems hervortreten. Steiners Anliegen, einen Augenzeugenbericht vorzulegen, verlangt den Verzicht auf eine Stilistik, die den Fakten ihre Realität austreiben könnte. Das heißt, hier geht es um die Vermittlung einer Authentizität, das Literarische als Medium steht nicht im Vordergrund. Zur Mehrdeutigkeit des Authentischen formuliert Leona Toker in Return from the Archipelago: A memoir reflects extratextual reality in an at-least-thrice-mediated way: any personal perception is selective; memory effects a further sieving; and the process of composition involves further choices between things to include and things to leave out. 10

Seven Thousand Days in Siberia. Übers. v. Joel Agee, Einführung Danilo Kiš, Zitat aus dem Umschlagtext. New York 1988.

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Authors who use the chronology of their camp ordeal as a basis for the sequence of materials in the memoir allow external reality a greater degree of influence over their narratives and also produce the sense of a greater fidelity to fact.11

Eben das gilt für Karl Steiner. Seine präzise Erinnerungsleistung ist zwar ausschlaggebend für seine Schreibweise, doch hat diese auch Anteil an der Art, wie über die Straflagerereignisse gesprochen und geschrieben wurde, also an einem allgemeinen Bestand von zu Topoi geronnenen Beschreibungen der von allen Mitgefangenen geteilten Erfahrungen: Hunger, Folter, Kälte und noch genauer: die Brotration, die Qualität der täglichen Suppe, der Zustand der Latrinen, der Besitz oder Nichtbesitz eines Essgeschirrs, einer Wattejacke, eines Filzstiefelpaars, das Einhalten oder Nichteinhaltenkönnen der Arbeitsnorm, das Verhalten der Wachpersonen. Bis in die Formulierung hinein stimmen die Erfahrungsberichte hierin überein, d.h., es hat sich ein bestimmter Modus, über die Lagerrealität zu schreiben, herausgebildet. Allerdings muss auch die Vorbildwirkung eines literarischen Textes mit einbezogen werden, der bereits 1962 in einer kurzen Tauwetterperiode in Sowjetrussland erschien und in Erzählform erstmals das Straf- und Zwangsarbeitslagerleben darstellte, Solženicyns Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič.12 Kiš knüpft in Ein Grabmal an bestimmte Konstellationen in Steiners Text an, wobei er weniger an dessen Reportagen über die Lagerhaftroutine interessiert ist als an den darin skizzierten Ereignissen, wie Mord, Selbstmord, Folter und das Erzwingen falscher Geständnisse. Er betont die Wichtigkeit des Sibirienberichts beim Verfassen seines Erzählbandes und dediziert eine Erzählung seinem Autor.13 Allerdings setzt er auf das Wechselspiel zwischen falschen und echten Dokumenten, den zweideutigen Status des Dokuments, seine zweifelhafte Echtheit. In Anatomiestunde, einem Form und Verfahren diskutierenden Traktat von 1978, heißt es: „die literarischen Fakten werden vom ‚historischen‘ Material gestützt, die historischen vom literarischen“.14 In seinen in Homo poeticus gesammelten poetologischen Essays wird die Opposition historisch-literarisch in der Opposition echt-falsch zugespitzt wieder aufgenommen: „Zu unterscheiden, was hier falsch und was echt ist, was ein 11

Toker, Return from the Archipelago, 125. Ob Steiner diesen Text kannte, habe ich nicht ermitteln können. 13 In Homo poeticus. Gespräche und Essays. Hrsg. v. Ilma Rakusa. München/Wien 1994, 79-88 hat Kiš im Kapitel „Belastungszeuge Karlo Štajner“ seine Begegnung mit dem Gulagüberlebenden geschildert, dessen Kommentar zu Ideologie-Enthusiasten wiedergegeben, in denen Steiner als ideologieverneinender ‚Realist‘ mit seiner gewaltigen Lagererfahrung erscheint. Kiš’ Porträt Steiners trägt Züge der Bewunderung und des tiefen Respekts. 14 Kiš, D.: Anatomiestunde. Übers. v. Katharina Wolf-Grießhaber. München 1998, 120. […] književne (psihološke) činjenice podupiru se ‚istorijskom‘ graᵭom, a istorijske – književnom. Kiš, D.: Čas anatomije. Belgrad 1981, 114. 12

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echtes oder falsches – einem echten nachgebildetes – Dokument ist, das alles ist irrelevant; wesentlich ist, Überzeugungskraft zu erlangen, die Illusion der Wahrhaftigkeit zu erzeugen.“15 Entstehen „Lücken“ zwischen zwei Angaben, so gilt es, sie auszufüllen „mit der soliden Materie der Phantasie, einer Materie, die in bezug auf ihre Überzeugungskraft dem Dokument gleichkommt“.16 Das fiktive und das authentische Dokument gehören – gemäß dieser Poetik – in dasselbe Bedeutungsfeld, wobei das Fiktive das Authentische durch eine „größere Authentizität“17 zu übertrumpfen vermag. Das sind apodiktische Äußerungen, die dem Bekenntnis zur Fiktion ein erkleckliches Gewicht verleihen. Ebenso gewichtig ist auch ein Formverständnis, das Kiš in Homo poeticus formuliert: Hier spricht er von der „Form als Streben, dem Leben und den metaphysischen Zweideutigkeiten Sinn zu verleihen; Form als Möglichkeit der Wahl; Form als Suche nach dem archimedischen Punkt im uns umgebenden Chaos, Form als Gegengewicht zur Desorganisation der Barbarei und irrationalen Willkür der Instinkte“ und bekennt sich zu seinen diesbezüglichen „literarischen Obsessionen“.18 Dieses Formverständnis hat pathetische Züge, es scheint jene Therapie zu verheißen, von der anfangs die Rede war. Es ist Joseph Brodsky, der den therapeutischen Aspekt eines solchen Formkonzepts aufnimmt.19 Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Kiš’ Erzählband, offensichtlich affiziert von diesem Text, schreibt er 1980: Perhaps the only service a real tragedy renders in leaving its survivors as speechless as its victims is that of furthering its commentators’ language. The least that can be said about A Tomb for Boris Davidovich is that it achieves aesthetic comprehension where ethics fail. Of course, the mastery of language can hardly pass for a safeguard in our enterprising century; but at least it creates a possibility of response, without which people are bound to remain slaves of their experience. By having written this book,

15

Kiš, Homo poeticus, 208. A razabrati šta je tu krivo a šta je pravo, šta je pravi a šta je lažni dokument – to jest napravljen po uzoru na pravi – sve je to irelevantno; bitno je da se postigne uverljivost, iluzija istinitosti. Kiš, D.: Život, literatura. Sabrana dela Danila Kiša. Hrsg.v. Mirjana Miočinović. Knj. 14. Belgrad 2007, 167. 16 Kiš, Homo poeticus, 20. […] čvrstom materijom mašte; materijom koja će po snazi uverljivosti imati snagu dokumenta. Kiš, Život, literatura, 16. 17 Kiš, Anatomiestunde, 101. „dublja istinitost“; Kiš, Čas anatomije, 96 (eigentlich: „tiefere Wahrhaftigkeit“). 18 Kiš, Homo poeticus, 78. „form[i] kao težnji za osmišljenjem života i metafizičkih ambigviteta, formi kao mogućnosti izbora, formi koja je pokušaj traženja neke arhimedovske tačke u haosu koji nas okružuje, formi koja je protivnost rasulu barbarstva i iracionalnoj proizvoljnosti nagona.“ Kiš, Život, literatura, 54. 19 Brodsky war die zentrale Figur in einem der spektakulärsten Prozesse, die in der Sowjetunion unbotmäßigen Schriftstellern bereitet wurden. Vgl. Efim Etkinds Bericht in Unblutige Hinrichtung (Zapiski nezagovorščika,1977). München 1978. Brodsky wurde nicht ins Straflager verschickt, sondern aus der Sowjetunion ausgewiesen.

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Danilo Kiš simply suggests that literature is the only available tool for the cognition of phenomena whose size otherwise numbs your senses and eludes human grasp.20

Brodsky berichtet ausführlich über das Schicksal des Buchs, das 1976 in Serbien einen politisch motivierten Skandal verursachte. Empört über das Erscheinen eines Erzählbandes, der die Ungeheuerlichkeiten des GulagSystems publik machte, zeigten sich die „konservativen ‚Stalinisten‘“, „die traditionell prorussischen und traditionell antisemitischen serbokroatischen Nationalisten“. Das literarische Establishment beschuldigte Kiš des Plagiats, um ihn literarisch auszuschalten, was ihn zum Abfassen seines Traktats Anatomiestunde inspirierte und zur Emigration nach Frankreich bewegte, wo er zusammen mit Camus gegen die Borniertheit der französischen Linken auftrat, die den Gulag verleugneten. In Frankreich wurde sein Buch ein Bestseller. Brodsky schreibt in demselben Vorwort: [Kiš’s] art is more devastating than statistics. […] Kiš writes in an extremely condensed and therefore highly allusive fashion. Since he deals in biographies21, the last bastions of realism, each of his vignettes sounds like a miniaturized Bildungsroman accomplished by a movie-like montage of shrewdly chosen details that allude both to the actual and to the literary experiences of his reader.22

Brodskys analytische Bemerkung hebt nicht nur den künstlerischen gegenüber dem rein dokumentarischen Aspekt in seiner Poetologie hervor, sondern macht auch auf die durch Kiš bewusst gelenkte Rezeption aufmerksam.

4. Faktographie und/oder Fiktion Mit der oxymoralen Formulierung, er nutze Fabeln, an deren Authentizität nicht zu zweifeln sei,23 charakterisiert Kiš seine faktisch-fiktionale Erzählstrategie, die sowohl für den genannten Erzählband als auch für seinen dem Auschwitz-Tod seines Vaters gewidmeten Roman Die Sanduhr prägend ist: die Transformation historischen Materials und die Fabrikation fiktiver Figuren aus Elementen tatsächlicher Personen. Wie Passagen aus Steiners FaktenBericht in authentische Fabeln transformiert werden, soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Steiner berichtet von einem Kartenspiel, das die kriminellen Lagerinsassen zu spielen pflegten und das den Gewinner im 20

Brodsky, J.: Introduction to ‘A Tomb for Boris Davidovich’. New York 1980, XVII. Vgl. den Versuch, diese Biographien als Thanatographien zu lesen: Lachmann, R.: Danilo Kiš’s Thanatographie. Non omnis moriar. In: Wiener Slawistischer Almanach 60 (2007), 433-454. 22 Brodsky, Introduction, XIV. 23 Kiš, Anatomiestunde, 69. „Ja sam bio primoran […] da se poslužim fabulama u čiju se autentičnost ne bi smelo posumnjati.“ Kiš, Čas anatomije, 65. 21

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Hasardspiel ermächtigte, dem Verlierer ein Verbrechen zu diktieren, zum Beispiel Mord. Das klingt bei Steiner wie folgt: Gelegentlich wurde auch um ein Menschenleben gespielt. Wenn kein Einsatz zur Hand war oder wenn unter den Kriminellen ein Konflikt ausgetragen wurde, setzte man das Leben des zum Opfer Ausersehenen ein. Wer verlor, musste den Mord durchführen. War das Opfer zur Stelle, stand der Mörder auf, holte ein Werkzeug oder einen Stein und erledigte die Angelegenheit unverzüglich. Befand sich das Opfer nicht in der Zelle oder gar in einer anderen Lagerabteilung, so mußte der Mörder trachten, dorthin zu gelangen, wo der Todeskandidat sich aufhielt. Wurde das Opfer gewarnt, begann eine richtige Menschenjagd. In manchen Fällen dauerte es Jahre, bis der Mörder sein Opfer zu fassen kriegte. Weigerte sich aber einer, den es getroffen hatte, den Mord zu begehen, wurde er selbst zum Opfer[.]24

Aus Steiners Satz „Gelegentlich wurde auch um ein Menschenleben gespielt“ entwickelt Kiš seine Geschichte „Der Magische Kreislauf der Karten“25 mit konkretem Täter, dem kriminellen Georgier Korschunidze, und konkretem Opfer, dem Arzt Dr. Taube. Die Schilderung der Lebensstationen des Dr. Taube nimmt die Züge eines Mini-Romans an. Taube wird als Sohn eines Rabbi vorgestellt, der sich aus seinem Milieu, einer ungarischen Provinzstadt, gelöst hat (die im Übrigen mit knappen Strichen in ihrer Architektur und Atmosphäre entworfen wird), sich der kommunistischen Bewegung angeschlossen hat und nach mehrjähriger Tätigkeit im Dienste der Revolution als politischer Häftling zur Zwangsarbeit verurteilt wurde und mit den kriminellen Insassen eine Baracke in Norilsk teilte. Nun folgt Kiš’ Pointe der Kartengeschichte: Seit Spielende gilt für den nichts ahnenden Taube, den die Kriminellen als Opfer ausersehen haben, das Todesurteil. Dieses muss der Verlierer, der seinen Status als Bandenchef durch den Spielverlust eingebüßt hat, vollstrecken, um die verlorene Ehre zurückzugewinnen. Nach der Freilassung Taubes, der eine Tätigkeit als Arzt in einem Krankenhaus aufgenommen hat – fünf Jahre nach Spielende, Tausende von Kilometern vom ursprünglichen Ort des Spielgeschehens entfernt, wird das Urteil vollstreckt: Taube wird hinterrücks mit einer Axt hingerichtet. So der Handlungsablauf bei Kiš. Steiner erwähnt in einem anderen Kapitel seines Buches den Fall 24

Steiner, K.: 7000 Tage in Sibirien. Wien 1975, 141-142. „Igralo se i za živote drugih ljudi. Kad su izbili sukobi među kriminalcima i kad je iz neke grupe trebalo nekog likvidirati, onda bi onaj koji je igru izgubio morao likvidirati osuđenog. Ako je osuđeni bio tu, na licu mjesta, ubojica bi to uradio vrlo brzo, kamenom ili kojim drugim predmetom. Ako je žrtva bila u drugom logorskom odjeljenju, onda je ubojica bio dužan da po svaku cijenu pronađe onoga kojeg je trebalo ubiti. Bilo je slučajeva da je žrtva bila unaprijed obaviještena, onda je nastala potjera. Nekada je trajalo godinama da se ubojica dočepa svoje žrtve. Onoga pak koji bi se usprotivio da izvrši ubojstvo, ili bi ga odgađao izgovorima, osudili bi na smrt zbog izdajstva.“ Štajner, K.: 7000 dana u Sibiru. Zagreb 1986, 115. 25 Es ist die „Karlo Štajner“ gewidmete Erzählung.

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einer solchen Hinrichtung, der aber mit dem Kartenspiel nichts zu tun hat. Kiš komponiert die Elemente: Es geht ihm um das schier unglaubliche Geschehen und um die Profilierung eines Opfers, mit der er zugleich die Vorgeschichte des Kommunismus und dessen Perversion zu zeigen vermag. Zugleich gelingt ihm eine sich verschärfende Spannungskurve, die in einem ‚metaphysischen‘, affektisch getönten Ende aufgeht: „Weit und rätselhaft sind die Wege, die den georgischen Mörder mit Doktor Taube zusammenführten. Weit und rätselhaft sind die Wege des Herrn.“26 In diesen die Lagergeschehnisse, Täter und Opfer betreffenden Geschichten tritt die zweifache Bedeutung des fiktiven Dokuments deutlich hervor, es ersetzt das Faktische, mit dem es durch eine beklemmende Ähnlichkeit verbunden bleibt, und es hat an bestimmten Punkten durch rekonstruierende Verfahren Anteil an tatsächlichen Ereignissen. Das heißt, zum einen nimmt Kiš Steiners Bericht bis in Einzelheiten auf, zum andern erlaubt er sich Basteleien aus verschiedenen Stücken, die er verdichtet. Das gilt insbesondere für die Titelerzählung „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ und das Thema des durch endlose und wiederholte Verhöre und Folter erpressten Geständnisses.

5. Geständnisthematik Steiner legt in seinem Bericht Wert auf die Bekundung, kein falsches Geständnis zu seiner Entlastung abgegeben zu haben, etwa, dass er ein Gestapo-Agent sei. Die Weigerung, ein falsches Geständnis zu unterzeichnen, bringt ihm weitere fünf, dann zehn Jahre Haft ein. Ein Verhörbeispiel liefert er in einer Art Rekonstruktion der Szene, in deren Mittelpunkt die Wechselrede zwischen dem Untersuchungsrichter bzw. Kommissar und ihm, dem Angeklagten, steht: Wie heißen Sie? Karl Steiner Wann wurden Sie zum ersten Mal verhaftet? Am 4. November 1936 Was hat man Ihnen zur Last gelegt? Ich wurde beschuldigt, ein Gestapoagent zu sein und einer konterrevolutionären Organisation anzugehören. Haben Sie gestanden? Ich habe nichts zu gestehen, da ich weder ein Gestapoagent war, noch sonst irgendwelche Verbrechen gegen die Sowjetunion begangen habe. Haben Sie Berufung eingelegt? 26

Kiš, D.: Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. Übers. v. Ilma Rakusa. München 2004, 101. „Daleki su i tajanstveni putevi koji su sastavili gruzijskog ubicu sa doktorom Taubeom. Daleki tajanstveni kao putevi gospodnji.“ Kiš, D.: Grobnica za Borisa Davidoviča. Belgrad 1976, 77.

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Ja, aber sie wurde abgewiesen. Hören Sie, Steiner, Sie haben schwere Verbrechen gegen die Sowjetunion begangen, Sie wurden sehr milde bestraft, haben nur zehn Jahre bekommen, eigentlich hätte man Sie erschießen sollen. Sie müßten der Sowjetunion sehr dankbar sein, stattdessen betreiben Sie weiter konterrevolutionäre Agitation. Ich habe früher keine Verbrechen begangen und auch jetzt keine Agitation betrieben. […] Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, diesmal kommen Sie nicht so billig davon. Unterschreiben Sie hier (und reichte mir das Protokoll des kurzen Verhörs). Ich verweigerte die Unterschrift. Der NKWD-Offizier sah mich erstaunt an. Warum wollen Sie nicht unterschreiben? Ich setze meine Unterschrift auf kein Papier des NKWD mehr. Warum? [Nun wird der NKWD- Chef Polikarpov dazu gerufen, R.L.] Was machen Sie hier für Theater? Das ist kein Theater, sondern Ernst. Ich mache Ihr Theater nicht mit. Was? Schrie Polikarpov und packte mich mit beiden Händen am Hals, drückte mich gegen die Wand und begann mich zu würgen. Erschrocken? Fragte er… und fuhr fort: […] Ich habe das Recht, Sie ohne Untersuchung an die Wand zu stellen. Wir tun das nicht, wir wollen eine ordentliche Untersuchung durchführen. Werden Sie sich benehmen, wie es sich gehört? Ja oder nein? Machen Sie mir mit, was Sie wollen, ich unterschreibe nichts. […] Schmeiß ihn in den Keller, soll er dort verrecken. [Der Soldat, der ihn abführt, R.L.]: Du faschistisches Unkraut, ich schlag Dir das Beuschel heraus. Ich versuchte mich zu schützen, er schlug immer fester zu. Nicht ich bin ein Faschist, sondern Du, schrie ich.27 27

Steiner, 7000 Tage in Sibirien, 138. „– Kako se zovete? – Karlo Štajner. – Kada ste uhapšeni prvi put? – Četvrti studenoga 1936. – Zašto? – Optužen sam kao agent Gestapoa i član terorističke organizacije. – Jeste li priznali? – Nisam imao što priznati, niti sam agent Gestapoa, niti sam počinio zločin protiv Sovjetskog Saveza. – Jeste li se žalili protiv osude? – Jesam. Žalbu su odbili. – Slušajte, Štajner, vi ste počinili težak zločin protiv Sovjetskog Saveza i vaša kazna bila je preblaga, dobili ste deset godina, a trebalo vas je strijeljati. Trebalo bi da budete zahvalni sovjetskoj vladi. A što vi sad radite? i dalje tjerate kontrarevolucionarnu agitaciju. – Nikakav ja zločin protiv Sovjetskog Saveza nisam počinio, a niti sada u logoru ne tjeram nikakvu agitaciju. /.../ – Mogu vam reći da ovog puta nećete tako jeftino proći. Potpišite! – Pruži mi protokol o kratkom saslušanju. Nisam htio potpisati. Začuđeno me pogledao. – Zašto nećete potpisati? – Na papir NKVD-a ja ne stavljam svoj potpis. – Zašto? /.../ Što vi to radite, kakvo je to kazalište? uzviknuo je Polikarpov. – Nije to kazalište, to je istina. Ja neću sudjelovati u vašoj predstavi. – Šta? – dreknuo je Polikarpov, Zgrabio me objema rukama za vrat, pritisnuo uza zid i počeo daviti. Nisam se branio, bilo mi je sasvim svejedno. /.../ – Preplašio si se, a? – rekao je i sjeo. – /.../ Ja imam pravo da vas bez ikakve istrage postavim uza zid. Ali ja to neću uraditi. Lijepo ćemo provesti urednu istragu /.../ Ja vas lijepo pitam: hoćete li se ponašati kako treba, ili nećete? – Radite sa mnom što god hoćete, ja ništa ne potpisujem. /.../ – Bacite ga u podrum, neka crkne.Vojnik me vukao kroz mračan hodnik, udarao me, satjerao u kut i psovao. – Ti fašističesko smeće, odbit ću ja

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Zwar scheint es, als wolle Steiner das Empörende der Verhörszene kaschieren, gleichwohl birgt gerade die exakt (wieder-)gegebene Abfolge von Frage und Antwort, der Hinweis auf die Zuspitzung im Verhalten des NKWDChefs und auf die brutale Unverschämtheit des Wachsoldaten, den er anschreit, ein Affektpotential mit deutlicher Appellfunktion. In Kiš’ Geständnisdrama erscheint der Erzähler, der zuvor als unzuverlässig und unsicher in der Verfolgung des Lebenswegs des Helden aufgetreten ist, in der Rolle des die Perspektive des Gefolterten aufnehmenden Kommentators. Das erlaubt eine affektstilistische Steigerung. Jeder der beiden in einem heftigen Agon sich begegnenden Autoren des Geständnistextes ist von einer Passion besessen: der Untersuchungsrichter von der bedingungslosen Treue gegenüber der Partei, der Häftling und Angeklagte von der selbstbezogenen Überzeugung von der Makellosigkeit des der Revolution gewidmeten persönlichen Lebens. Beide werden als Getriebene dargestellt, ihr Kampf ist verbissen: Zwei Menschen rangen in langen Nächten, keuchend und erschöpft, um den schwierigen Wortlaut dieses Geständnisses, im dichten Zigarettenqualm über ein paar Seiten gebeugt, und ein jeder von ihnen versuchte, seine eigenen Leidenschaften einzubringen, seine eigenen Überzeugungen, seine eigene Sicht der Dinge von einem höheren Standpunkt aus. Denn Fedjukin wußte ebensogut wie Nowskij (und gab es diesem auch zu verstehen), daß dies, dieses ganze schriftliche Geständnis von zehn eng beschriebenen Seiten, reinste Fiktion war, von ihm, Fedjukin, in langen Nachtstunden ausgebrütet.28

Für den Untersuchungsrichter ist es Ehrensache, ja eine Herausforderung ersten Ranges, Nowskij zu ‚brechen‘ („Slomiti Novskog“),29 der egoistisch auf die Rettung seiner Biographie als Revolutionär bedacht bleibt. Kiš’ Erzähler formuliert Nowskijs Hoffnung auf eine zukünftige Rehabilitation in einem Satz mit affektischer Lexik: „Unter der kalten Asche dieser absurden tebi bubrege. – Nisam ja fašist, to si ti – vikao sam na vojnika i rukama sam se pokušao braniti.“ Štajner, 7000 dana u Sibiru, 113-114. 28 Kiš, Grabmal, 132-133. „Dva se čoveka u dugim noćima bore sa tim teškim tekstom priznanja, zadihani i iscrpljeni, nagnuti u gustom dimu cigareta nad tim stranicama, i svaki od njih pokušava da unese u njih deo svojih strasti, svojih uverenja, svoje viđenje stvari iz jednog višeg aspekta. Jer, nema sumnje, Fedjukin zna isto toliko dobro koliko i sam Novski ( i to mu daje do znanja) da je sve to, ceo taj tekst priznanja, sročen na nekih deset gusto kucanih stranica, najobičnija fikcija koju je on sam, Fedjukin, sastavljao tokom dugih noćnih sati.“ Kiš, Grobnica, 106. 29 Kiš, Grobnica, 98. Die Vorbildwirkung der dokumentierten Verhöre und Geständnisse schließt auch die Metapher des Brechens (Zerbrechens) ein. Der Darstellung des Prozesses gegen Nikolaj Bucharin hat Schlögel eines der eindrucksvollsten Kapitel seiner Monographie Terror und Traum gewidmet, „Bucharins Abschied“, 661-684. Sylvia Sasse hat diese auf Intensität ausgerichtete Sequenz in Kiš’ Erzählung eindringlich analysiert in: Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Kultur. München 2009, 295-324.

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Anklagen, würden zukünftige Forscher das Pathos eines Lebens und das folgerichtige Ende einer (trotz allem) perfekten Biographie entdecken.“30 Kalte Asche, absurde Anklagen lassen Trauer und Empörung spüren, während die Formel „das Pathos eines Lebens“ einen hohen Ton anschlägt. Was ist das Pathos eines Lebens? Das Erreichen der Höchstform, die Übereinstimmung von Plan und Erfüllung? „Pathos eines Lebens“ hat die Konnotation des Sublimen, während die Lebensversion, die das falsche Geständnis herstellt, auf eine Trivialisierung hinausläuft. Aber auch der Anspruch Fedjukins, des „schöpferischen Genies“,31 ist affektisch; seine Fiktion, die sich um „sogenannte Fakten“32 nicht schert, folgt einer Überzeugung, die er selbst „für selbstlos, unantastbar und heilig hielt“.33 Letztlich wird das Pathos des konstruierten Realen über jenes des echten Lebens triumphieren. Nowskij wird in seiner Zelle gefoltert. Dann heißt es im Text: In der Nacht vom 28. auf den 29. Januar führte man einen Mann aus der Zelle, der noch immer den Namen Nowskij trug, obwohl es sich nur mehr um eine leere menschliche Hülle, um einen Klumpen eitrigen, gequälten Fleisches handelte. In Nowskijs erloschenem Blick war – als einziges Zeichen von Beseeltheit und Leben – der Entschluß zu lesen, die letzte Seite seiner Biographie mit dem eigenen Willen und bei vollem Bewusstsein niederzuschreiben wie ein Testament.34

Kiš gelingt in dieser Passage, den Schrecken der Körper-Drastik mit dem Pathos des Bewusstseins zu verbinden, dem Begriff „Testament“ Gewicht zu verleihen und seine Figur gleichsam aus ihrer Körperlichkeit herauszuheben und damit zum Helden zu machen. Daraus ergibt sich, dass Nowskij der Forderung zum falschen Geständnis nicht nachgeben kann, was zur Steigerung der Verhör-Folter führt: Das Geständnis soll durch die Erschießung junger (unbeteiligter) Männer vor seinen Augen erpresst werden. Es kommt zu zwei Erschießungen. „Die Pistolen hatten zweifellos Dämpfer. Nowskij hörte kaum, wie die Schüsse fielen, als er die Augen öffnete, lag der Bursche tot vor ihm in

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Kiš, Grabmal, 135. „[...] budući će istraživači otkriti pod hladnim pepelom ovih besmislenih optužbi patetiku jednog života i dosledan kraj (uprkos svemu)jedne savršene biografije.“ Kiš, Grobnica, 108. 31 Kiš, Grabmal, 137. „stvaralačkom geniju“ Kiš, Grobnica, 109. 32 Kiš, Grabmal, 133. „takozvane činjenice“. Kiš, Grobnica, 106. 33 Kiš, Grabmal, 133. „smatrao nesebičnim, neprikosnovenim i svetim.“ Kiš, Grobnica, 107. 34 Kiš, Grabmal, 124. „U noći između 28. i 29. januara izvedoše iz ćelije čoveka koji je još uvek nosio ime Novski, mada to bejaše sada samo prazna ljuštura bića, gomila gnjilog i namučenog mesa. U ugaslom pogledu Novskog moglo je da se pročita, kao jedino znamenje duše i života, ta odluka da se istraje, da poslednju stranicu svoje biografije ispiše svojom voljom i pri punoj svesti, kao što se piše testament.“ Kiš, Grobnica, 99.

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einer Blutlache mit zertrümmertem Gehirn“,35 der zweite Fall: „Die Wärter hatten aus der Nähe gezielt, auf den Nacken, und den Pistolenlauf auf den Schädel gerichtet; das Gesicht des jungen Mannes war bis zur Unkenntlichkeit entstellt.“36 Nach diesen beiden Erschießungen, einer gezielten moralischen Folter, bricht Nowskij physisch und psychisch zusammen. Er kann nicht hinnehmen, dass seine Weigerung, das gewünschte Geständnis abzulegen, mit Menschenleben bezahlt wird; und dass seine vollkommene Biographie, sein Lebenswerk durch die von ihm verursachten Exekutionen ruiniert würde. Kiš führt zur Konstruktion seiner Nowskij-Figur an, dass er auf deren Authentizität beharre und dass die Ermordung der jungen Männer vor Nowskijs Augen nichts „Ausgedachtes“ sei. Ohnehin bedürfe es keiner Erfindung, da die Wirklichkeit als solche in ihrer Ungeheuerlichkeit so bizarr und phantastisch sei, dass sie alles Ausgedachte übertreffe, ihm gehe es um die Überhöhung des Geschehenen, darum, den Kern des Geschehens herauszustellen; es geht ihm um die „tiefere Authentizität“. Bei der Schilderung dieses Vorgangs setzt Kiš das Verfahren der Vergegenwärtigung (enárgeia) ein, das eine „fiktive Augenzeugenschaft“ erzwingt, die in Bestürzung (ekplēxis) mündet. In Kiš’ authentischer Fabel wird das Todesurteil suspendiert und der Unbotmäßige ins Straflager verschickt. Dabei greift Kiš auf eine in Steiners Bericht auftauchende Person, einen polnischen Mithäftling namens Podolski zurück, den er mit seinem Protagonisten verschmilzt. Boris Dawidowitsch Nowskij, der ohnehin mit Pseudonymen ausgestattet ist und bereits Züge von Nikolaj Bucharin, Karl Radek und anderen liquidierten Kommunisten trägt, 1930 in Kazan verhaftet wird, nach Stationen im „kürzlich kolonisierten“ Turgay, dann in dem noch entlegeneren Aktyubinsk auftaucht, entlassen und 1937 erneut verhaftet und nach Kema in der Nähe der Solowezki-Inseln verschickt wird, tritt letztlich in Norilsk mit dem Namen Dolski auf. NowskijDolski, der seine Ehre als Revolutionär nicht hat retten können, unternimmt einen Fluchtversuch, der misslingt, und Kiš lässt ihn, Steiners Vorlage in wesentlichen Punkten aufnehmend, einen theatralischen Tod sterben.

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Kiš, Grabmal, 127. „Revolveri su bez sumnje imali prigušivače, jer Novski jedva da je čuo pucnje. Kada je otvorio oči, mladić je ležao pred njim u krvi, prosute lobanje.“ Kiš, Grobnica, 101. 36 Kiš, Grabmal, 130. „Istog časa odjeknuše dva pucnja, skoro istovregmeno, jedva čujna, kao kad se izvlači zapušač iz šampanjske flaše. Nije mogao da ne otvori čvrsto stisnute kapke kako bi se uverio u izvesnost svog zločina: stražari su ponovo gađali iz blizine, u potiljak, s cevima okrenutim prema lobanji; lice mladića bilo je neprepoznatljivo.“ Kiš, Grobnica, 104.

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6. Intertextuelle Bezüge Die Konfrontation der beiden Texte veranlasst am Beispiel dieser Szene, die Opposition Ethos vs. Pathos nochmals anzuschauen. Die intertextuelle Beziehung erweist sich hier als eine des Zitats, sie ist weder Kontrafaktur noch Parodie, eher ein Weiter-Schreiben.37 Kiš nimmt durch Anspielungen und die quasi-Nacherzählung der Episode gewissermaßen teil an Steiners Text. Allerdings versucht Kiš seine starke Abhängigkeit von der Vorlage durch explizite Verweise auf Steiner aufzudecken, womit er zugleich Oberhand über seinen Prätext gewinnt. Diesem Ziel dient auch die Einleitung der Episode: „Die Fortsetzung und der Schluß von Nowskijs Geschichte stammen von Karl Fridrichowitsch, der ihn irrtümlicherweise Podolski statt Dolski nennt“.38 In Anatomiestunde, seinem Lehrstück zur Intertextualität, lässt er seine Kritiker, die ihn des Plagiats bezichtigen, wissen, dass Vor- und Vatersnamen mit „Steiner“ zu ergänzen seien und er überhaupt nicht anstehe, seine Quellen zu nennen. Bei Steiner lautet die Stelle: Dann, eines Tages, wurden wir wieder zu Arbeit geführt. Wir dachten, Podolski sei gefangen. […] Eine Woche später wurden einige Häftlinge aus unserer Baracke zum Arzt geführt. Sie kamen mit der Nachricht zurück, Podolski sei in der Nähe der Fabrik Nr. 25 gesehen worden. Drei Tage danach gab es wieder Großalarm, viele Brigaden gingen nicht zur Arbeit, auch wir nicht. Aus Erfahrung wußten wir, daß dies wieder Flüchtlingsjagd bedeutete. Tatsächlich waren sie Podolski auf der Spur. Sie fanden ihn an der Stelle, wo die glutflüssige Schlacke aus der Großgießerei abgelagert wurde. Als Podolski umzingelt war und erkannte, dass es kein Entrinnen mehr gab, sprang er mitten in die kochende Masse. Nur eine Rauchwolke stieg auf. Er hatte Wort gehalten. Lebend bekamen sie ihn nicht.39

Der letzte Absatz lässt die starke Anteilnahme des Ich-Erzählers erkennen. Die Präzision in der Schilderung der spektakulären Selbstmordszene bildet affektstilistisch einen Höhepunkt in Steiners Memoiren. Der Freitod in dieser 37

Dazu Lachmann, R.: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M. 1990, 65-87. 38 Kiš, Grabmal, 144. „Nastavak i kraj povesti o Novskom potiče od Karla Fridrihoviča (koji ga omaškom naziva Podolski, umesto Dolski); mesto događaja: daleki ledeni Sever, Norilsk.“ Kiš, Grobnica, 116. 39 Steiner, 7000 Tage in Sibirien, 222-223. „Jednog dana ponovno su nas poslali na rad i mi smo smatrali, da su Podolskog uhvatili. /.../ Nakon tjedan dana, kad su neke zatvorenike iz naše barake vodili k liječniku u ambulantu, vratili su se s viješću da je Podolski viđen u blizini dvadeset i pete tvornice. Trećeg dana u Norilsku je ponovno bila velika uzbuna. Mnoge brigade nisu otišle na posao kao ni mi. Iz iskustva smo znali da je u toku lov za bjeguncem. Ponovno su počeli tražiti Podolskog. Ušli su mu u trag. Pronašli su ga u blizini mjesta gdje se taloži tekuća šljaka iz BMZ. Kad su ga opkolili i on je vidio da ne može pobjeći, skočio je u ključalu tekuću masu. Uvis se podigao samo pramen dima. Podolski je održao riječ: nije se živ predao svojim mučiteljima.“ Štajner, 7000 dana u Sibiru, 174-175.

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Episode, die fast wie eine Kurzerzählung gestaltet ist, lässt sich gleichsam als Überlistung des Gulag lesen. Kiš’ Version lautet: Nowskij verschwindet auf rätselhafte und unerklärliche Weise aus dem Lager, vermutlich während eines jener furchtbaren Schneestürme, da die Wächter zwar auf ihren Türmen sitzen, Waffen und Schäferhunde jedoch nichts auszurichten vermögen. Als die purga sich legt, beginnen sie nach dem Flüchtigen zu fahnden, im Vertrauen auf den blutrünstigen Instinkt ihrer Hunde. Drei Tage warten die Lagerinsassen in ihren Baracken vergeblich auf den Befehl „Hinaus“, drei Tage zerren die toll gewordenen, geifernden Wolfshunde an ihrer Stahlkette und jagen die müden Treiber über hohe Schneewehen. Am vierten Tag entdeckt ihn ein Wächter in der Nähe der Gießerei, wo er sich, gleich einem bärtigen Gespenst, an einem großen Kessel mit flüssiger Schlacke wärmt. Man kreist ihn ein und lässt die Wolfshunde los. Die vom Hundegebell auf die Spur Gesetzten stürzen in die Kesselschmiede. Nowskij steht auf dem Gerüst über dem Kessel, von den Flammen angestrahlt. Ein eifriger Wächter besteigt das Gerüst. Als er sich nähert, springt der Flüchtige in die siedende Masse. Die Wächter sehen ihn verschwinden und wie einen Rauchfaden wieder auftauchen – taub gegen jeden Befehl, unbeugsam, befreit von Wolfshunden, von Kälte und Hitze, von Strafe und Reue. Dieser tapfere Mann starb am 21. November 1937 um vier Uhr nachmittags. Er hinterließ einige Zigaretten und eine Zahnbürste.40

Kiš’ Version ist Replik und Bearbeitung, in der die „blasse Glaubwürdigkeit“ in ein schärferes Licht versetzt wird durch: „Schneesturm“, „blutrünstiger Instinkt“, „toll gewordene geifernde Wolfshunde“. Besonders markant ist die Wiedergabe der Schlussszene mit Aufnahme konstitutiver Elemente aus Steiners Text: „glutflüssige Schlacke“, „kochende Masse“, „Rauchwolke“ erscheinen als „flüssige Schlacke“, „siedende Masse“, „Rauchfaden“. Diese Wiedergabe ist zugleich (an dieser Stelle gibt Kiš sein Ethos der Kürze auf) eine Amplifikation der konzis geschnittenen Sätze, so als bedürfe es deren Vertiefung und Ergänzung: „Er hatte Wort gehalten. Lebend bekamen sie ihn nicht“ wird zu „taub gegen jeden Befehl, unbeugsam, befreit von Wolfshun-

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Kiš, Grabmal, 144-145. „Novski nestaje iz logora na tajanstven i neobjašnjiv način, po svoj prilici za vreme jedne od onih strašnih oluja kada su stražari na tornjevima, oružje i nemački ovčari jednako bespomoćni. Sačekavši da se smiri purga, kreću potrage za beguncem, prepustajući se krvoločnom instinktu svojih pasa. Tri dana logoraši u svojim barakama uzalud očekuju zapovest napolje; tri dana se pobesneli i zapenjeni vučjaci otimaju iz čeličnih ogrlica, tegleći premorene hajkače po dubokim snežnim nanosima. Četvrtog dana neki ga stražar otkri u blizini livnice, zaraslog u bradu i nalik na utvaru, gde se greje uz veliki kotao u kojem se taloži tekuća šljaka. Opkoliše ga i pustiše vučjake. Privučeni urlanjem pasa uleteše u kotlarnicu: begunac je stajao na skelama iznad kotla, osvetljen plamenom. Jedan se revnosni stražar poče penjati uz skele. Kad mu se ovaj približi, begunac skoči u ključalu tekuću masu i stražari videše kako nestade pred njihovim očima, kako se izvi kao pramen dima, gluv na zapovesti, nepokoran, slobodan od vučjaka, od hladnoće, od vrućine, od kazne i od kajanja. Taj hrabri čovek umro je 21. novembra 1937 u četiri sata posle podne. Ostavio je za sobom nekoliko cigareta i četkicu za zube.“ Kiš, Grobnica, 116-117.

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den, von Kälte und Hitze, von Strafe und Reue“ – eine Voraugenführung der Lebensbedingungen, denen der Umzingelte für immer entflieht. Kiš’ Nowskij-Dolski erscheint als Heros „auf dem Gerüst über dem Kessel, von den Flammen angestrahlt“, dessen Tod mit einer genauen Zeitangabe notiert wird: „Dieser tapfere Mann starb am 21. November 1937 um vier Uhr nachmittags.“ Kiš’ Spiel mit diesem fiktiven Datum ist nicht von ungefähr, weil es ihm erlaubt (einschließlich des Nachsatzes: „Er hinterließ einige Zigaretten und eine Zahnbürste“), dem sich einschleichenden Pathos, das er gleichwohl zugelassen hat, entgegenzuwirken und ironisch – gegen die konkrete Datenangabe – eine Mystifikation anzuschließen: Ende Juni 1956 meldete die Londoner Times, die nach guter englischer Sitte noch immer an Geister zu glauben schien, Nowskij sei in Moskau in der Nähe der Kremlmauer gesichtet worden. Augenzeugen hätten ihn an seinem Stahlgebiß erkannt. Diese Meldung wurde von der ganzen westlichen Presse, die lüstern auf Sensationen und Gerüchte ist, kolportiert.41

Womit er auch ein weiteres Mal auf die instabile Verlässlichkeit seines Erzählers verweist, der häufig auf fragwürdige Quellen zurückgreift und sie zugleich desavouiert. Mystifikation, Teil seines radikalen, in Anatomiestunde entwickelten Fiktionskonzepts, erscheint als das Auslegen einer falschen Fährte, etwa als Zitieren nicht existierender Quellen, im Sinne der Poetik Borges’,42 ein Verfahren, das er der Rekonstruktion der Vergangenheit (wie sie Memoiren und Autobiographie anstreben) vorzieht.

7. Tod und Text Zweifellos ist die Selbstmordszene einer der Höhepunkte in Steiners und Kiš’ Texten, von deren affektstilistischer Prägung die Rede war, womit Autobiographie und Erzählung in engen Kontakt geraten. Die Theatralik des Sprungs vermittelt Steiner ebenso wie Kiš. Doch Kiš entfernt sich von dem historischen Faktum der von Steiner geschilderten Lagersensation, indem er Podolski, den Mithäftling Steiners, in eine komplexe Figur transformiert, die verschiedene Funktionen zu erfüllen hat. Sie repräsentiert den noch undis41

Kiš, Grabmal, 145. „Krajem juna 1956, londonski Tajms, koji po staroj dobroj engleskoj tradiciji izgleda još uvek veruje u duhove, objavio je da je Novski viđen u Moskvi, u blizini Kremaljskih zidina. Očevici su ga prepoznali po čeličnim zubima. Ovu vest je prenela sva zapadna buržoaska štampa, željna spletki i senzacija.“ Kiš, Grobnica, 117. 42 Kiš versteht seinen Erzählband als Eloge an Borges und als Gegenbuch. Allerdings will Kiš seinen Mystifikationen in Abgrenzung von Borges’ eher ludistischem Umgang mit fiktiven Dokumenten einen ‚seriöseren‘ Platz einräumen. Nabokov, den er mehrmals in Homo poeticus erwähnt, wird hier bezüglich seiner Mystifikationspoetik nicht zitiert.

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ziplinierten Revolutionärstyp der ersten Phase, anarchisch, spontan, gefährlich, hernach den als Volkskommissar für Post- und Telegraphenwesen etwas stetiger gewordenen Funktionär, der den Säuberungen der 30er Jahre wegen seiner Auslandskontakte zum Opfer fällt. Seine Hauptrolle in Kiš’ Erzählung ist mit den Verhören und der Geständnisherstellung verbunden. Hier wird Boris Dawidowitsch, der auch als Jude in Kiš’ Semantik Symbolträger ist, zum Repräsentanten derjenigen Systemopfer, die wie Bucharin, Mratschkovskij und Koestlers Rubaschov zur Fabrikation ihrer Geständnisse gebracht wurden. Aber Kiš lässt Nowskij nicht auf einem Musterprozess sein „Knie vor dem Lande, vor den Massen, vor dem ganzen Volk“ beugen,43 sondern stilisiert ihn, den Gulaghäftling, zum Exponenten der NichtUnterwerfung unter das Schreckenssystem. Kiš geht trotz der genannten ironischen Distanzierung noch weiter und macht allmählich deutlich, was er mit seiner Grabmal-Erzählung im Sinn hat. Der Fall des spurlos in glühender Schlacke verschwundenen Boris Dawidowitsch Nowskij-Dolski gehört in die Geschichte derjenigen, denen kein Grab beschieden ist, den Grablosen. Und hier zeigt sich, wie sehr sich Kiš’ Erzählung von Steiners Bericht unterscheidet. Kiš schiebt eine Bedeutungsebene ein, die den konkreten Fall wie einen allgemeinen zu verstehen erlaubt. Ein konkreter Fall, der in seiner Allgemeinheit Fragen der Humanität und des Todes einschließt. Kiš’ Erzähler erinnert gleich zu Anfang der Geschichte, noch ehe Nowskijs Lebensphasen geschildert werden, an den „verehrungswürdigen Brauch“ der Griechen, die den durch Naturgewalt Getöteten, von denen keine Spur geblieben ist, „die im Feuer verbrannten, die von Vulkankratern verschluckt und von Lavaströmen verschüttet, die von wilden Tieren zerfleischt, von Haifischen gefressen oder von Wüstengeiern zerhackt wurden“, Ehre erwiesen, indem sie in der „Heimat ein sogenanntes Kenotaph, ein Grabmal über einem leeren Grab [errichteten] – denn der Körper ist bloß Feuer, Wasser oder Erde, die Seele aber das Alpha und Omega: ihr gebührt ein Heiligtum“.44 Kiš’ Formulierung „Grabmal über einem leeren Grab“ entspricht der klassischen Definition (im Deutschen gilt auch der Begriff ‚Scheingrab‘). Da Nowskij keine letzte Ehrung dieser Art erfahren hat, übernimmt Kiš mit seinem Textmonument die Rolle der griechischen Kenotaph-Erbauer. Diese aus Elementen verschiedener Lagerberichte komponierte literarische Figur steht für die realen Toten der Vernichtungslager, die in 43

So die verbale Unterwerfungsgeste Rubaschows in seinem Schlussplädoyer in Arthur Koestler: Sonnenfinsternis. Coesfeld (1940) 2011, 204, die Parallelen zu Bucharins Selbstanklage aufweist, vgl. Schlögel, Terror und Traum, 665. 44 Kiš, Grabmal, 103. „Stari su Grci imali jedan poštovanja dostojan običaj: onima koji su izgoreli, koje su progutali vulkanski grateri, koje je zatrapala lava, onima koje su rastrgle divlje zveri ili proždrli morski psi, onima koje su razneli lešinari u pustinji, gradili su u njihovoj otadžbini takozvane kenotafe, prazne grobnice jer telo je vatra, voda ili zemlja, a duša je alfa i omega, njoj treba podići svetilište.“ Kiš, Grobnica, 80.

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Massengräbern versunken oder im Permafrost erstarrt sind. Im Falle der Grablosen, leiblos Gewordenen, Verschollenen und Verschwundenen bedarf es anderer Riten, etwa solcher, die die Literatur bereitstellen kann. Das Verschwinden des Körpers (das Verschwinden der ungezählten Körper) ist Kiš’ Motiv für die Errichtung seines Text-Monuments: seines Grabmals für Boris Dawidowitsch. Die allegorische Implikation dieses Verweises auf den griechischen Kenotaph-Brauch im genus grande dicendi ist in hohem Maße pathetisch. Mit andern Worten, die Erzählung ist zur Gänze von einer Ambivalenz zwischen Pathos und ironischer Brechung geprägt.

8. Vergegenwärtigungsverfahren Um die Ambivalenz zwischen Zurücknahme des Pathos und dessen Einsatz nochmals aufzunehmen, gilt es, ein Stück aus Peščanik, 1972 (Die Sanduhr, 1984) zu zitieren. Vergleichbar der Geständnisfolterszene wirkt die Schockpointe in einem knappen Textstück, das durch eine verfremdungspoetische Strategie markiert ist. Kiš verarbeitet hier ein historisches Faktum: das 1942 in Novi Sad an der jüdischen und serbischen Bevölkerung verübte Massaker ungarischer Pfeilkreuzler. Kiš’ Manier des Elliptischen, der Andeutung, der Litotes und der Unterrepräsentation schließt auch die Weigerung ein, diese ungeheuerlichen Geschehnisse (deren Augenzeuge er war) in ihrem Verlauf darzustellen. Er reduziert die Metzelei auf die ‚Vergegenwärtigung‘ des Anblicks eines im Schnee zurückgelassenen Gehirns: Das Gehirn von Herrn Freud, dem Oberarzt. Ein Klumpen gefrorenen, gallertigen Fleisches, völlig intakt, wie ein am Stück serviertes Lammhirn (im Restaurant Danubius in Wien, 1930). Der Schnee ringsum von schweren Stiefelabsätzen und Nagelschuhen zertrampelt, schien nur gerade hier ein wenig geschmolzen, neben diesem Gehirn, auf dem man Windungen wie auf einer Nuß sowie ein Netzwerk von Kapillaren erkennen konnte. Das Gehirn lag im Schnee, an der Ecke zwischen der Miletić- und der Griechenschule-Straße, und ich hörte genau, wie jemand sagte, wem, das heißt wessen Schädel dieses Gehirn gehört hatte. Das Gehirn von Herrn Freud, dem Oberarzt, lag wie eine kleine Insel im Schnee, zwischen zwei Furchen von Fußspuren, eine der Schädeldecke entrissene Intelligenz (so reißt man Muscheln aus ihrer harten smaragdfarbenen Schale), eine bebende Hirnmasse, zitternd im Schnee wie in einem Eisschrank – nicht das Gehirn eines Schwachsinnigen im Glasbehälter, sondern das Gehirn eines Genies (ich wußte ja, wem es gehört hatte), konserviert, geschützt im Inkubator der Natur, damit sich daselbst (im Inkubator), von allen körperlichen Fesseln befreit, eine düstere Perle entwickle: die materialisierte, kristallisierte Idee.45

45

Kiš, D.: Sanduhr. Übers. v. Ilma Rakusa. München 1984, 65. „Mozak gospodina Frojda, primarijusa. To bejaše parče zamrzlog, pihtijastog mesa, sasvim dobro očuvanog, kao jagnjeći mozak serviran iscela (u Beču, godine 1930, u restoranu Danubius).

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Kiš’ ‚Vergegenwärtigung‘ erzeugt Bestürzung, ganz im Sinne der ekplēxis. Die Erschütterung, die das tatsächlich Gesehene (es ist die Evidenzerfahrung Kiš’) in dieser Schilderung auszulösen vermag, wird mit einem Aufgebot von dunklen deutungsbedürftigen Metaphern beschwichtigt und entrückt.46 Dass sein stilistisches Credo dennoch der Pathosvermeidung gilt, hat er an markanten Stellen seiner poetologischen Traktate bekundet und mit der bereits erwähnten poetologischen Einstellung, die er Po-Ethik nennt, bekräftigt. Es gilt, der Gefahr der „grande éloquence“ zu entkommen47 und eine mit brevitas, Ellipse, Aposiopese operierende Affektstilistik zu entwickeln. Es scheint, als solle das Katalog-Verfahren die Aufgabe der Affektbändigung oder Pathosregulierung übernehmen. Also dann, wenn der Erzähler aufhört zu erzählen und zu zählen, aufzuzählen beginnt, Listen vorlegt. Aber auch hier lässt sich eine gewisse Ambivalenz im Einsatz der Aufzähltechnik feststellen. Kiš hat die Katalogverfahren bereits in seinem frühen Roman Bašta, pepeo (Garten, Asche, 1965) eingesetzt, darin geht es um die Deportation der Juden aus einem ungarischen Ort, die durch einen Katalog der mitgenommenen Gegenstände vor Augen geführt wird. Jedes Stück der Aufzählung kündet von der Vergangenheit eines bürgerlichen, jüdischen Milieus und erscheint im Vorhinein als Allegorie auf dessen Untergang: Teppiche, Gobelins, Waschschüsseln, Porzellanputten, […] alte wertvolle Bücher, in Leder gebunden, thronähnliche Biedermeiersessel […] Schatullen mit silbernem Besteck, innen mit rotem Tuch ausgeschlagen wie Etuis für Duellpistolen, Pianinos, einen Geigenkasten mit Geige, einem kleinen Kindersarg gleichend, Faszikel mit Dokumenten, Familienportraits in Barockrahmen aus ihrem staubigen Frieden aufgestört, ihrer vertikalen Ewigkeit beraubt, in niedrige, gotteslästerliche Perspektiven

Sneg okolo, utaban guseničastim tragovima bakandži i cipela sa ekserima, kao da bejaše malko otopljen jedino oko mozga, na kojem su se jasno razaznavale talasaste vijuge, nalik na vijuge u orahu, kao i crvene niti kapilara. Mozak je ležao tako u snegu, na uglu Miletićeve i Grčkoškolske ulice, i čuo sam kada je neko rekao kome je taj mozak pripadao, čijoj lobanji. Mozak gospodina Frojda, primarijusa, ležao je dakle na maloj snežnjoj adi, između dve staze utabane u snegu, inteligencija jasno izdvojena iz kore lobanje, kao školjka iz tvrde smaragdne ljušture, pulsirajuća, drhtava moždana masa u snegu kao u frižideru, ali (znajući kome je pripadao taj mozak) ne kao mozak idiota u staklenoj posudi, nego kao mozak genija, konzervisan, sačuvan u inkubatoru prirode, da bi u njemu (tom inkubatoru), oslobođen okova telesnog, izrastao neki mračan biser misli, misao najzad materijalizovana, kristalizovana.“ Kiš, D.: Peščanik. Belgrad 1972, 79. 46 Zur Interpretation dieser Passage vgl. Burkart, D.: Die Postmodernität der Literatur bei Danilo Kiš. In: Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 10 (2001), 57-67; WolfGrießhaber, K.: Der zerstückelte und gemarterte Körper in Danilo Kišs ‚Peščanik‘. In: Wiener Slawistischer Almanach 57 (2006), 243-256; Petzer, T.: Die ‚kalten Tage‘ im Werk von Danilo Kiš. In: LiteraturMagazin 41 (1998), 113-120. 47 Kiš, Homo poeticus, 194. „opasnost patetike i grandilokvencije.“ Kiš, Život, literatura, 153.

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gestellt, mit den Köpfen nach unten oder in irgendwelchen unmöglichen Verkürzungen, in denen Gesichtsausdruck und Charakterstärke verlorengehen […].48

Kiš nimmt das Verfahren in Sanduhr auf; es markiert zentrale Stellen des Romans: der Katalog der Träger, die als „Todesverwandte“ bezeichnet werden, der Katalog der grausam und seltsam gestorbenen Tode, der Katalog der Gerichte in verschiedenen Restaurants, der Katalog der zukünftigen Kondolenten. Das sind einerseits schlüssige und andererseits offene Kataloge, für die kein Abschluss vorgesehen ist. In Ein Grabmal werden die Lebensabschnitte der Protagonisten, ihre „gestoppten Biographien“, als Katalog präsentiert.49 Beide, der Katalogtyp der Konzentration und derjenige des Ausschweifens verfügen über eine Art semantischer Energie, welche die bloße Reihung zu sprengen scheint. Gerade der Katalog ist Teil einer ExzessStilistik, ein explodierendes Kondensat. Selbst der Verzicht aufs Erzählen, die Abbreviatur, die Litotes führen affektstilistisch nur zu einer mäßigen Herabstimmung des Pathosmoments.

9. Zeugnis und Bekenntnis Steiner und Kiš haben auf sehr unterschiedliche Weise ihre Schreibmotivation preisgegeben. Sie lassen sich als Leseradressen verstehen. Bei Steiner ist es das Bekenntnis zum Zeugnis, mit dem er seinen großen Lagerbericht eröffnet: In den Kerkern des NKWD, in der Eiswüste des hohen Nordens, überall, wo mein Leiden das Maß des Erträglichen überschritten hatte, fühlte ich mich an eine Entscheidung gebunden: zu überleben und eines Tages der Welt und vor allem meinen Parteigenossen von den Schrecken zu berichten. Sobald ich aus der Reichweite des MWD war, traf ich Vorbereitungen, um meine Idee zu verwirklichen. Ich wußte, daß meine Aufgabe schwer sein würde, vor allem, weil ich fürchtete, mein Buch würde zu den üblichen Antisowjetbüchern gezählt werden und meine Erlebnisse könnten unglaubwürdig erscheinen. Auch wollte ich nicht, daß mein Buch als Waffe gegen den Sozialismus verwendet wird. […] Was ich in meinem Buch erzähle, ist nicht die Gesamtheit des Erlebten, sondern nur ein Bruchteil. Um alles zu berichten, was ich

48

Kiš, D.: Garten, Asche. Übers. v. Anton Hamm, Nachwort Peter Urban. Frankfurt a.M. 1990, 141-142. „Tepisi, gobleni, lavaboi, porcelanske kade,/.../, kutije sa srebrnim escajgom, iznutra obložene crvenom čojom, slične kutijama za duel-pištolje, pijanino, kutija sa violinom, kao mali dečji sarkofag, fascikle s dokumentima, porodični portreti u baroknim ramovima, poremećeni u svom prašnjavom miru, lišeni svoje vertikalne večnosti, stavljeni u ponižavajuće, bogohulne perspektive, s glavama naniže ili u nekim nemogućnim skraćenjima gde se gubi izraz lica i snaga karaktera [...]. Kiš, D.: Bašta, pepeo. Belgrad 1990, 158. 49 Zur Katalogtechnik vgl. Lachmann, R.: Zur Poetik der Kataloge bei Danilo Kiš. In: Die Welt der Slaven. Festschrift für Aage A. Hansen-Löve. Sborniki 30 (2008), 296-309.

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und Zehntausende andere in diesen zwanzig Jahren erlebt haben, müßte ich ein übermenschliches Gedächtnis haben; es würde Dutzende Bände füllen.50

Kiš teilt in Anatomiestunde im Abschnitt „Obsessive Themen“ mit: Was Ein Grabmal für B.D. angeht, ist auch dieses […] als Folge eines obsessiven Themas entstanden: Zeitgenosse zweier Unterdrückungssysteme, zweier blutiger historischer Wirklichkeiten, zweier Lagersysteme zur Vernichtung von Seele und Leib zu sein und dabei in meinen Büchern nur eines von beiden (den Faschismus) vorkommen zu lassen, während das andere (der Stalinismus) nach dem System des psychologischen blinden Flecks übersehen wird […] Als dieser Gedanke seine lyrische Schwere gewonnen hatte, als er bis zur Scham und Reue, bis zur Erkenntnis angewachsen war, begann ich meine Geschichten in einer Art dichterischer Zuckung, relativ leicht und schnell, zu schreiben, wie wenn man sich von einem Alptraum bebefreit, mit einem Gefühl des Behagens (trotz des Themas), das mich erfüllte. Es war eine Art geistige Erleichterung, wie sie vielleicht nur schwere Sünder nach der Beichte in der Todesstunde empfinden.51

Die unterschiedlich dosierten Gefühle, die in diesen ‚Bekundungen‘ der beiden Autoren geäußert werden, haben durchweg etwas Pathetisches. Steiner fühlt die drängende Pflicht, eine glaubwürdige Dokumentation des GulagErlebens zu erbringen. Er war sich vermutlich bewusst, dass er als Stellvertreter für die „Zehntausend anderen“, die nicht zu Schreibern geworden sind, das Wort ergriffen hat und auch zum Bürgen für die Leiden jener geworden ist, die umgekommen sind. Kiš, als Zeitgenosse und als Schriftsteller, wird 50

Steiner, 7000 Tage in Sibirien, 11. „U tamnicama NKVD-a, u ledenoj pustinji Dalekog sjevera, svugdje gdje su moje patnje prelazile ljudsku granicu i mjeru, nosio sam u sebi jednu jedinu želju: da sve to preživim i da čitavom svijetu, a prije svega partijskim drugovima i prijateljima ispričam kakve smo strahote prepatili. Onog trenutka kad više nisam bio na dohvatu NKVD-a, stao sam se pripremati da ostvarim tu svoju zamisao. Znao sam da će moj zadatak biti veoma težak prije svega zato što sam se plašio da će moja knjiga, poput tolikih drugih, ući u spisak antisovjetske literature i da će se sve to što sam doživio mnogima učiniti nevjerojatnim i tendencioznim. Bojao sam se i toga da će moju knjigu zlonamjernlci iskoristiti kao oružje protiv socijalizma./.../ Ono što sam rekao u ovoj knjizi ne treba shvatiti kao sumiranje svega što sam proživio, nego samo kao mali odlomak onoga što se zaista dogodilo. Kad bih htio ispričati sve što sam s desecima tisuća ljudi doživio za tih dvadeset godina u sovjetskim tamnicama i logorima, trebalo bi da imam nadljudsko pamćenje.“ Štajner, 7000 dana u Sibiru, 7. 51 Kiš, Anatomiestunde, 71. „Što se tiče Grobnice za B.D., i ona je nastala po sličnom (neprofesionalnom) prosedeu, što će reći kao posledica jedne opsesivne teme: biti savremenikom dvaju sistema opresije, dveju krvavih istorijskih zbilja, dvaju sistema logora uništenja duše i tela a da se pri tome u mojim knjigama pojavljuje samo jedan od njih (fašizam), dok se drugi (staljinizam) previđa po sistemu psihološke slepe mrlje. Kada je ova misao dobila svoju lirsku težinu, kada je narasla do stida i kajanja, do saznanja, ja sam počeo da pišem svoje priče u nekoj vrsti pesničkog grča, relativno lako i brzo, kao kad se čovek oslobađa more sna, sa osećanjem neke lagodnosti (uprkos temi) koja me je oblila. To je bila neka vrsta duhovnog olakšanja kakvu osećaju možda samo teški grešnici posle ispovesti na samrtnom času.“ Kiš, Čas anatomije, 67-68.

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von seinem Schuldgefühl getrieben, poetische Gerechtigkeit demjenigen Terrorsystem zukommen zu lassen, das er bislang, was ihn mit Scham erfüllt, versäumt hatte darzustellen. Das obsessive ihn heimsuchende Gefühl löst einen Kreativitätsschub aus. Es ist offenbar die Gnade der Form, die ihm die „geistige Erleichterung verschafft“, eine Therapie, die er sich selbst, indem er schreibt, zubilligt.

10. Politische und/oder ästhetische Funktion? Steiners mit der zitierten Leseradresse eingeführte Autobiographie, in der die moderaten Verfahren des chronologisch geordneten Erzählens und der genauen Beschreibung genutzt werden, hat auch wegen seines Status als Augenzeugenbericht jene emotionalen Reaktionen ausgelöst, von denen die Rede war, allerdings ohne explizite ästhetische Aufmerksamkeit zu erregen. Mit seinen Informationen sowohl über das institutionalisierte System des Massenterrors als auch über die ökonomische Rolle der Zwangsarbeit hat er jedoch rein sachliches Interesse wecken können. In dem Kapitel „Ein Staat, den man auf keiner Karte findet“, unterrichtet er einen Mithäftling: „Wer behauptet, die Arbeit der Gefangenen in Russland sei nicht rentabel, der hat keine Ahnung von der Bedeutung der Lager. Das Lagersystem bildet die Grundlage der sowjetischen Volkswirtschaft.“52 Des Weiteren berichtet Steiner über die Goldförderung im Lager Kolyma, über Kohleförderung in Workuta, über die Holzproduktion, die Errichtung von metallurgischen Kombinaten, über Eisenbahn- und Straßenbau, über Exportgüter wie Rundholz und Eisenbahnschwellen. Alles habe der fast ruinierten sowjetischen Industrie großen Nutzen gebracht, heißt es abschließend. Das Straflager erscheint als Produktionsstätte. Diese ökonomische Analyse eröffnete eine in den 70er Jahren noch wenig bekannte Sicht auf das Gulag-Geschehen.53 Die Möglichkeit, Steiners Text auf zweifache Weise zu lesen, in seinem Fall emotional und sachlich, gilt auch für Kiš’ Das Grabmal für Boris Dawidowitsch, eine Erzählung, die zum einen ästhetisch, zum andern politisch gelesen wurde. Eine explizit ästhetische Lektüre hat Brodsky vorexerziert, indem er just auf die „Gnade der Form“ und deren Funktion verwies, die sowohl den Schrecken mildert als auch das Unfassliche fasslich macht. Die 52

Steiner, 7000 Tage in Sibirien, 258-259. „Država koje nema na zemljopisnoj karti; 203204: Onaj tko tvrdi da rad logoraša u Rusiji nije rentabilan, taj nema pojma što su to sovjetski logori. Osnov ekonomije Sovjetskog Saveza temelji se na sistemu logora.“ Štajner, 7000 dana u Sibiru, 203. 53 Vgl. die Rezension von Wolfgang Leonhard: 7000 Tage in Sibirien. Gefangene schaffen die Grundlage der sowjetischen Wirtschaft. In: Die Zeit Nr. 39, 17. Sept. 1976, in der Steiners ökonomische Analyse als „ungewöhnliche Schlußfolgerung“ bezeichnet wird.

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Gnade der Form macht das Reale erträglich, ‚beschönigt‘ es, ermöglicht eine Läuterung durch das Ästhetische. Aber die Form wirkt nicht nur kathartisch und therapeutisch, sondern auch pädagogisch: Mithilfe der Form soll etwas verstanden werden, aber auch die Form selbst soll verstanden werden. Denn es geht darum, einer Realität Gestalt zu verleihen, die außerhalb des konventionell Darstellbaren liegt. Dieses Konzept ist wesentlicher Bestandteil der Po-Ethik, die Kiš zum Leitprinzip seines Schreibens gemacht hat. Die Po-Ethik lässt Pathos zu, heftig und gedämpft, und bleibt immer seinem Thema verpflichtet, den blinden Fleck Gulag löschen zu wollen. Hier setzt auch die politische Interpretation an. Denn in der französischen Rezeption (der Erzählband erschien 1979) wurden Kiš’ Fiktionen, sein mystifizierender Umgang mit Dokumenten als „histoire politique“,54 als eine geradezu martialische Waffe gegen den Totalitarismus verstanden und im Kontext der politischen Kontroversen zwischen den beiden ideologischen Lagern gelesen. Dabei wird deutlich, dass auch die politische Bedeutung des Kenotaphs, den Kiš den grablosen Opfern gewidmet hat, herausgelesen wird: „Grec ou juif, le rite funèbre passe par une distorsion symbolique qui donne à sa forme religieuse un sens éthique, c’est-à-dire ici politique.“55

54

Coquio, C.: La biographie comme cénotaphe. Note sur Le Tombeau de Boris Davidovitch de Danilo Kis. In: Les pierres de l’offrande, textes réunis par Valérie Deshoulières, Revue Pallas, Ed. Akanthus. Paris 2003. 55 Ebd.

SABINE HÄNSGEN

Minus-Pathos Das mediale Gedächtnis der Leningrader Blockade in Aleksandr Sokurovs Wir lesen das Blockadebuch Im Studio des kleinen Rundfunksenders Baltika findet eine Lesung aus dem Blockadebuch (Blokadnaja kniga) statt, für das Ales’ Adamovič und Daniil Granin seit Mitte der 1970er Jahre Zeugnisse – Erinnerungen, Tagebücher und Berichte – über die Belagerung Leningrads während des Zweiten Weltkriegs sammelten. Von mehreren dutzend Bewohnern des heutigen St. Petersburg werden in einer seriellen Abfolge ausgewählte Textpassagen vor dem Mikrofon vorgetragen. Es lesen Personen verschiedenen Alters aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Berufsgruppen: Schulkinder, Studenten, Hausfrauen, Ingenieure, Rentner, Künstler, Schauspieler, Soldaten etc. Aleksandr Sokurovs Čitaem blokadnuju knigu (Wir lesen das Blockadebuch) hatte im Jahr 2009 eine Doppelpremiere als Kinoaufführung bei den Filmfestspielen in Venedig und als Fernsehausstrahlung im russischen Sender 100 TV. Es handelt sich allerdings um keine Verfilmung des Blockadebuchs im Sinne einer wirkungsmächtigen audiovisuellen Übersetzung der erschütternden Geschichten über Hunger, Kälte und Massensterben. Sokurov inszeniert vielmehr in einer neuen Spielart seines filmischen Minimalismus1 eine radiophone Textperformance vor der Kamera. Dabei verweigert er sich maximalistischen Pathoseffekten und verzichtet auf den Einsatz möglichst starker filmischer Mittel zur affektiven Einwirkung auf die Zuschauer, wie sie sowohl aus dem sowjetischen Kino als auch aus dem Hollywood-Kino über den Krieg bekannt sind. Entgegen einer Überwältigung, Belehrung oder Unterhaltung des Publikums strebt er die Eröffnung anderer Räume der Wahrnehmung, Imagination und Reflexion an. Indem er sich in seiner Inszenierung auf den Text als solchen und auf die individuellen Reaktionen, den Gesichtsausdruck und die Sprechweise der Vorlesenden konzentriert, fordert er auch bei jedem einzelnen Filmzuschauer eine ethische Einstellung dazu heraus. Im Folgenden soll diese ästhetische Strategie in Anlehnung an Jurij Lotmans Begriff des „Minus-Verfahrens“ (minus-priem)2 als „Minus-Pathos“ bezeichnet werden, d.h. als Abwesenheit einer erwarteten Form des filmischen 1

Vgl. Hänsgen, S.: Sokurov’s cinematic minimalism. In: Beumers, B./Condee, N. (Hrsg.): The cinema of Alexander Sokurov. London 2011, 43-58. 2 Lotman, J.M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, 157.

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Pathos an einer Stelle, die eigentlich seine Anwesenheit voraussetzt. Die besondere Wirksamkeit des „Minus-Pathos“ lässt sich erst genauer bestimmen, wenn wir die Bezugsfolie rekonstruieren, vor deren Hintergrund das Verfahren einer Subtraktion, eines Entzuges realisiert wird bzw. das Nicht-Verwenden von gewohnten Mitteln der Pathoserzeugung erfahrbar wird.

1. Michail Eršovs Blockade, 1974-1977 Der in Aleksandr Sokurovs Wir lesen das Blockadebuch für die Gedächtnisbildung kennzeichnende intermediale Komplex von Literatur, Radio und Film nimmt in der Tradition der filmischen Bearbeitungen der Leningrader Blockade Bezug auf Michail Eršovs Verfilmung (1974-1977) von Aleksandr Čakovskijs Roman Blokada (Blockade, 1968-1975), die im Anschluss an Jurij Ozerovs fünfteiliges Monumentalwerk Osvoboždenie (Befreiung, 19691971) für ein Revival des großen Stils des stalinistischen Kinos in der Brežnev-Ära steht.3 Dieses Revival betrifft nicht nur die Rehabilitierung Stalins, die Sakralisierung des Krieges und den Rückgriff auf heroische Narrative, sondern vor allem auch ein filmisches Pathos, das die ideologischen Sinnkonstruktionen an ein alle Sinne affizierendes Spektakel zurückbindet.4 Die Dramaturgie der sowjetischen Monumentalfilme ist geprägt durch einen Wechsel zwischen Szenen, in denen die historischen Protagonisten (Stalin, Hitler, Marschall Žukov, Andrej Ždanov als Stadtparteisekretär von Leningrad) agieren, und spektakulären Kriegshandlungen, die mit einem hohen Aufwand an Material und Statisten inszeniert sind. Jenseits der Geschichte eines heldenhaften Verteidigungskampfes gewinnen durch die Verwendung nicht nur von Pyrotechnik (Abb. 1), sondern auch von neuester Filmtechnologie – wie etwa 70 mm-Breitbild und Stereoton – visuelle und akustische Attraktionen (Explosionen, Feuer, Rauchschwaden, Geschützsalven) einen eigenen Unterhaltungswert.

3

Zur filmhistorischen Einordnung der Kriegsepen der Brežnev-Ära vgl. das Kapitel „Wiederbelebung des großen Stils“ von Oksana Bulgakova. In: Engel, C. (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films. Stuttgart/Weimar 1999, 192-194. Einen Überblick über die Filme zur Leningrader Blockade bietet Binder, E.: „Leningrads Heldentat“. Die filmische Verarbeitung der Blockade. In: Osteuropa 61 (2011), 309-322. 4 Diese Dynamik von Sinn und Sinnlichkeit hat Christian Schmitt in seiner Dissertation auch im Hollywood-Kriegsfilm herausgearbeitet. Vgl. Schmitt, C.: Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm. Berlin 2010.

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Abb. 1: Michail Eršov, Blokada (Blockade), 1974-77, Brennende Ruinen.

Durch ihren exzessiven Gebrauch werden die filmischen Mittel aus ihrer narrativen Funktionalisierung herausgelöst und entfalten eine Wirkung, die für die Zuschauer eine besondere Form des filmischen Genusses darstellt und im Sinne einer „utopischen Sensibilität“ ein außerordentliches Gefühl von Überfluss, Energie, Intensität, Transparenz und Gemeinschaft hervorbringen kann.5 In Michail Eršovs Film Blockade bildet dieser „filmische Exzess“6 zusammen mit dem übermäßigen Zitieren kanonischer Werke und Motive einen Pathos erzeugenden Wirkungskomplex, der weitergehend an einigen exemplarischen Filmsequenzen beschrieben werden kann. Die Heroisierung der Mutter, die im sowjetischen Narrativ über den Großen Vaterländischen Krieg den Aspekt eines notwendigen Opfers veranschaulichen soll, zieht sich leitmotivisch durch den Film. Für die Inszenierung einer trauernden Mutter als Kulminationspunkt der ersten Beispielsequenz wird auf das ikonografische Muster der Pietà zurückgegriffen: Die Frau trägt ihr totes Kind auf den Armen vor sich her. In der filmischen Realisierung dieses aus der bildenden Kunst stammenden Musters zielen die sensuellen und affektiven Reize von Bewegung, Rhythmus, Licht, Farbe und Musik über die Verdichtung des Narrativs hinaus auf eine allgemeine Steigerung des Wirkungseffekts (Abb. 3). Zunächst ist in halbtotalen Einstellungen zu sehen, wie Soldaten unter den Klängen eines patriotischen Liedes durch die Straßen der von deutschen Angriffen bereits zerstörten Stadt marschieren. Die Kamera nimmt im Hintergrund auch Plakate an den Hauswänden in den Blick – darunter eines der bekanntesten und meist verbreiteten Plakate der Kriegszeit, Viktor Koreckijs Voin Krasnoj Armii, spasi! (Kämpfer der Roten Armee, rette!, 1942) (Abb. 2). In der affektiv stark aufgeladenen Darstellung dieses Plakats erfährt das filmische Mutter-Kind-Motiv eine variierende Verdopplung nach dem Vorbild einer Muttergottesikone: Eine junge Frau hält ihr klei5

Zu „utopischer Sensibilität“ als Form der Codierung von Emotionen im Unterhaltungskino vgl. Dyer, R.: Entertainment and Utopia. In: Altman, R. (Hrsg.): Genre. The Musical. London 1981, 175-189. 6 Vgl. zum Begriff des „filmischen Exzesses“ Thompson, K.: The Concept of Cinematic Excess. In: Cine-Tracts 2 (1977), 54-63.

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nes Kind im Arm, um es vor dem brutalen Angriff des Feindes zu schützen, dessen blutiges Bajonett direkt auf den Kopf des Kindes gerichtet ist. Abb. 2: Michail Eršov, Blokada (Blockade), 1974-77, Soldaten mit dem Plakat Viktor Koreckijs „Kämpfer der Roten Armee, rette!“ an der Mauer.

Die Spielhandlung wird durch schwarz-weiße Dokumentarfilmbilder unterbrochen, die Dmitrij Šostakovič am Flügel zeigen. Dazu ist eine Orchesterfassung seiner 7. Sinfonie, der sogenannten „Leningrader Sinfonie“ zu hören, die er dem Kampf gegen den Faschismus widmete. Die Leningrader Erstaufführung dieser Sinfonie fand am 9. August 1942 unter Blockadebedingungen statt und wurde von allen sowjetischen Rundfunksendern übertragen. In der Tradition stalinistischer Filmästhetik ist bei Michail Eršov die Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität durchlässig. Es folgen wiederum spektakulär inszenierte Kampfszenen von den Angriffen des Feindes, und aus den Bildern der fliehenden Bevölkerung wird in einer länger andauernden, durch Wiederholung verstärkten Nahaufnahme das Motiv der Pietà herausgegriffen, das die Sequenz mit einem emotionalen Appell abschließt. Abb. 3: Michail Eršov, Blokada (Blockade), 1974-77, Pietà.

Das Zitieren kanonischer Vorbilder, die unter Ausblendung möglicher Subtexte und Ambivalenzen als kulturelle Ikonen eingesetzt werden, dient zur Affirmation eines heroischen Mythos, in dem das historische Geschehen durch vorgegebene musterhafte Erzählungen eine auf Eindeutigkeit zielende Interpretation erhält. Der pathetischen Darstellung liegt dabei ein spezifischer Mediensynkretismus zugrunde: In der sowjetischen Kultur der Stalinzeit wurde der Film als komplexes, bewegte fotografische Bilder, Ton (Wort, Geräusch, Musik), Körper und Schrift vereinendes Medium zum Bestandteil

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eines totalen Spektakels, das nicht nur die Errungenschaften Hollywoods, sondern auch die Idee des Gesamtkunstwerks in einer faszinierenden, alle Sinne ansprechenden Inszenierung der Macht aneignete.7 Für die politische Gemeinschaftsbildung spielten in diesem Mediensynkretismus die akustischen Medien eine zentrale Rolle. Durch die Anverwandlung der technischen Medien an die mündliche Folklore wurden in Hinblick auf die Adressierung eines möglichst großen Publikums populäre Kulturtraditionen beerbt. Es ging aber um mehr als eine wirkungsvolle Inszenierung sowjetischer Mythologie. Unter den Bedingungen der modernen Massenkultur, die durch eine zerdehnte Situation der technischen Kommunikation gekennzeichnet ist, sollte vielmehr durch mediale Verfahren der „sekundären Oralität“ der Effekt einer unmittelbaren kollektiven Teilhabe erzeugt werden.8 Michail Eršov führt diesen Mediensynkretismus, der die Grundlage eines sowjetischen Filmpathos bildet, geradezu vor, wenn er in einer weiteren Sequenz Archivbilder der leidenden Blockade-Stadt mit dem Porträt des kasachischen Sängers Džambul Džabaev überblendet, während aus dem Off dessen Gedicht Leningradcy, deti moi (Leningrader, meine Kinder, 1941) rezitiert wird (Abb. 4). Abb. 4: Michail Eršov, Blokada (Blockade), 1974-77, Dokumentarbild Leningrads, überblendet mit dem Porträt des Sängers Džambul Džabaev.

Der Prozess einer Musealisierung wird zudem noch dadurch unterstrichen, dass im filmischen Rahmen der Denkmalskomplex des Piskarev-Friedhofs mit dem Monument der Mutter Heimat, dem ewigen Feuer und in Stein gemeißelten Gedenkworten ins Bild gesetzt ist. In der Brežnev-Ära reproduziert Michail Eršov nicht nur alte ideologische Sinnmuster, er vollzieht auch Strategien eines sowjetischen Filmpathos nach, die jenseits ihres historischen Wirkungszusammenhangs mit der Notwendigkeit zur Affektmobilisierung in der Kriegssituation lediglich eine in die Stalinzeit zurückweisende Ästhetik der Machtrepräsentation und -legitimation perpetuieren. 7

Zum sowjetischen Mediensynkretismus, insbesondere zum Verhältnis alter und neuer Medien im Mediensystem der Stalinzeit, vgl. Günther, H./Hänsgen, S.: Vvedenie. In: Dies. (Hrsg.): Sovetskaja vlast’ i media. St. Petersburg 2006, 5-13. 8 Ong, W.: Oralität und Literalität. Die Technisierung des Wortes. Opladen 1987, 77.

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Eine traumatische Erfahrung von Gewalt, Leiden und Tod, die sich aus den zitierten dokumentarischen Bildern erahnen lässt, erscheint in der Perspektive des Sieges aufgehoben, die in Džambul Džabaevs Gedicht im Mythos der großen sowjetischen Vielvölkerfamilie und in einer metaphorisch reich ausgeschmückten Freund-Feind-Dichotomie zum Ausdruck kommt. Zu Euch dringt gewaltsam durch die Stahltür, Als ob sie eine Ewigkeit gehungert hätte, – Wahnsinnig geworden von den Verlusten Die vielköpfige gierige Schlange… Sie wird krepieren bei Euren Wachposten! Ohne Zähne und ohne Haut Wird sich die Schlange in Krämpfen winden und zischen! Es werden wieder Nachtigallen singen, Es wird frei sein unsere Familie! Leningrader, meine Kinder! Leningrader, mein Stolz!9

Immer wieder finden sich in Michail Eršovs Film Inszenierungen des Radios,10 die im Kontext einer offiziösen Erinnerungskultur ebenfalls in ein Siegesnarrativ eingebunden sind: Zum einen wird das Radiohören als kollektives Hören gezeigt, wenn sich auf einem öffentlichen Platz eine Menschenmenge um einen Lautsprecher versammelt, aus dem die Nachricht vom Durchbrechen des Blockaderings verkündet wird. Zum anderen sehen wir im Radio-Studio eine fiktive Ol’ga Berggol’c, die legendäre Muse der Blockade, während ihrer Ansprache Zdravstvuj, Bol'šaja Zemlja (Sei gegrüßt, Großes Land), die aus eben diesem Anlass in der gesamten Sowjetunion ausgestrahlt wurde (Abb. 5).

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Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin. http://blokada.otrok.ru/poetry.php?t=79 (07.02.2016). Zitiert nach: Pobeda. Stichi voennych let. 1941-1945. Мoskau 1985 – Übersetzung aus dem Kasachischen von M. Tarlovskij. „К вам в стальную ломится дверь, / Словно вечность проголодав, – / Обезумевший от потерь / Многоглавый жадный удав… / Сдохнет он у ваших застав! / Без зубов и без чешуи/ Будет в корчах шипеть змея! / Будут снова петь соловьи, / Будет вольной наша семья! / Ленинградцы, дети мои! / Ленинградцы, гордость моя!“ Zu den neuesten Forschungen über Džambul Džabaev vgl. Bogdanov, K./Nicolosi, R./Murašov, Ju. (Hrsg.): Džambul Džabaev. Priključenija kazachskogo akyna v sovetskoj strane. Moskau 2013. 10 Zur Funktion des Radios in der sowjetischen Kultur vgl. die grundlegenden Arbeiten Jurij Murašovs: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Ders./Witte, G. (Hrsg.): Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. München 2003, 81-112; Sowjetisches Ethos und radiofizierte Schrift. Radio, Literatur und die Entgrenzung des Politischen in den frühen dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur. In: Frevert, U./Braungart, W. (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Göttingen 2004, 217-245.

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Abb. 5: Michail Eršov, Blokada (Blockade), 1974-77, Ol’ga Berggol’c im Radiostudio.

Einen zentralen Bestandteil dieser Radioansprache bildet ihr Gedicht Tret’e pis’mo na Kamu (Dritter Brief an die Kama, 18.-19.1.1943), das in der Spielszene, an deren Ende aus dem Off eine Aufzeichnung der Originalstimme der Dichterin zu hören ist, in einer gehobenen Intonation deklamiert wird. Der Vortrag steigert sich zu einem Appell, den Befreiungskampf weiterzuführen, in dem die Selbstbestätigung der eigenen Gemeinschaft mit der Mobilisierung des Affekts der Rache gegenüber dem Feind verbunden ist. Das Motiv der Tränen ist dabei in plakativer Weise von einem Affekt der Trauer in einen Affekt der Freude umgedeutet. O, liebe, ferne, hörst Du? Durchbrochen ist der verfluchte Ring! Du hast die Hände zusammengepresst, Du atmest tief, glänzende Tränen sind auf Deinem Gesicht. Wir weinen auch, weinen auch, Mama, und schämen uns der Tränen nicht: es wird wärmer in unseren Herzen, den tränenlosen und trotzigen, die nicht weinten im letzten Februar. Mögen diese Tränen das Herz beruhigen... Und mögen sie auf die Feinde – als geschmolzenes Blei fallen in den Augenblicken der Schlacht für alles, für alle, die von diesem Ring gewürgt wurden. […] O, unsere Rache steht erst am Anfang, – wir haben eine lange Rechnung für die Feinde aufbewahrt: wir rächen uns für alles, worüber wir schwiegen, für alles, was wir vor dem Großen Land verheimlichten.11

11

Berggol’c, O.: Zdravstvuj, Bol’šaja Zemlja. In: Dies.: Sobranie sočinenij v trech tomach. Bd. 2. Leningrad 1973, 201-203, hier: 202. „О, дорогая, дальняя, ты слышишь? / Разорвано проклятое кольцо! / Ты сжала руки, ты глубоко дышишь, / в сияющих слезах твое лицо. // Мы тоже плачем, тоже плачем, мама, / и не стыдимся слез своих: теплей / в сердцах у нас, бесслезных и упрямых, / не плакавших в

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Tatsächlich steht Ol’ga Berggol’c mit ihren Gedichten und Radioansprachen, die sie während der Belagerung an die Bevölkerung der eingeschlossenen Stadt richtete, gerade nicht so eindeutig für die propagandistische Seite des Leningrader Rundfunks, sondern eher für dessen kulturelle Seite, für andere Intonationen und eine intimere Ansprache der Zuhörer. Die Muse der Blockade, die die Heldentaten des sowjetischen Volkes besang, war zugleich auch eine Augenzeugin des Blockadealltags.12 So heißt es etwa in einem im Blockadebuch abgedruckten Bericht: „In den leeren, eisigen, dunklen Wohnungen erklang nach dem toten Ticken des Metronoms jene leise, leicht stockende Frauenstimme, auf die alle Leningrader warteten. Diese Stimme gehörte einer Frau, die ebenso litt, hungerte, alles verstand und mitempfand.“13 Während der Blockadezeit lässt sich eine Zweiteilung des Leningrader Radioprogramms beobachten: Die landesweit ausgestrahlten Sendungen waren von heroischen Botschaften geprägt, die nur für die eingeschlossene Stadt selbst bestimmten Sendungen umfassten, dagegen auch Darstellungen und Intonationen, die einer realen alltäglichen Erfahrung der Blockade näher kamen. Das Radio leistete hier auch so etwas wie Überlebenshilfe, es war häufig die einzige Verbindung zur Außenwelt für die, die sich alleine in ihren „leeren, eisigen, dunklen Wohnungen“ befanden. Im Radio wurden nicht nur offizielle Verlautbarungen, Frontberichte oder das Ticken des Metronoms als Warnung vor bevorstehenden Angriffen übertragen, das Leningrader Radiokomitee produzierte darüber hinaus ein recht

прошедшем феврале. // Пусть эти слезы сердце успокоят... / А на врагов – расплавленным свинцом / пускай падут они в минуты боя / за все, за всех, задушенных кольцом. // […] О, наша месть – она еще в начале, – / мы длинный счет врагам приберегли: / мы отомстим за все, о чем молчали, / за все, что скрыли от Большой Земли!“ 12 Das Buch Govorit Leningrad (Leningrad spricht, Leningrad 1946), in dem Ol’ga Berggol’c neben Gedichten die Texte ihrer Radioansprachen publizierte, kam im Jahr 1946 u.a. wegen seiner tragischen Intonationen auf den Index. Zur Zensurgeschichte dieses Buchs vgl. Bljum, A.: Blockierte Wahrheit. Blockadeliteratur und Zensur. In: Osteuropa 61 (2011), 304f. Eine umfassende Untersuchung von Funktion und Wirkung der Gedichte Ol’ga Berggol’c’ sowie ihrer Rundfunkarbeit findet sich bei Tschöpl, C.: Die sowjetische Lyrik-Diskussion. Ol’ga Berggol’c’ Leningrader Blockadedichtung als Paradigma. München 1988. 13 Adamowitsch, A./Granin, D.: Das Blockadebuch. Erster Teil. Berlin 1987, 27. „В пустых, вымороженных, темных квартирах после мертвого стука метронома звучал негромкий, чуть запинающийся женский голос, который ждали все ленинградцы. Сквозь голодные видения к людям прорывались сострадание и любовь. Они исходили от женщины, которая так же мучилась, голодала, все понимая, все чувствуя.“ Adamovič, A./Granin, D.: Blokadnaja kniga. St. Petersburg 2013, 33.

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umfangreiches Kulturprogramm, in dem Lesungen literarischer Texte russischer Klassiker einen gewichtigen Anteil hatten.14

2. Aleksandr Sokurovs Wir lesen das Blockadebuch, 2009 Aleksandr Sokurov macht in seinem Film Wir lesen das Blockadebuch das Radio-Studio in diesem umfassenden Sinn zu einem Gedächtnisort. Das Setting ist – wie bereits zu Beginn skizziert – äußerst reduziert: In statischen Einstellungen sehen wir die Vorlesenden am Mikrofon allein mit dem Blockadebuch, das vor ihnen auf einem Pult liegt. Die Kameraperspektive wechselt zwischen Großaufnahmen der Gesichter und halbnahen Einstellungen auf die apparative Situation der Aufnahme. Überblendungen, eine zurückhaltende musikalische Untermalung und das Umblättern der Buchseiten strukturieren in der seriellen Abfolge den Übergang zwischen den einzelnen Vorlesenden, die über Schrifttitel mit Name, Beruf und Alter vorgestellt werden (Abb. 6, 7). Während das Kino der Stalinzeit und die Ästhetik des sozialistischen Realismus von einer mythologisierten Vorstellung des Volkes geprägt waren, das als Kollektivkörper in Szene gesetzt wurde, haben wir es bei Sokurov mit einer Typengalerie zu tun, die ähnlich wie die Reihe der Autoren der einzelnen Beiträge im Blockadebuch einen soziologischen Querschnitt durch die Bevölkerung repräsentiert. Der Ausblick auf eine schemenhaft angedeutete, dunkle Stadtlandschaft durch ein regennasses Fenster bildet den Hintergrund der filmischen Einstellung, und zuweilen sehen wir auch die Vorlesenden selbst hinter einer solchen Glasscheibe, über die Wasser rinnt, die mit einem Wasserschleier bedeckt ist. Dieser Sokurovsche Spezialeffekt erzeugt als Tränenallusion eine besondere emotionale Atmosphäre, die in einer minimalistischen Anspielung an Inszenierungsverfahren des filmischen Melodrams erinnert. Andererseits kann dieser Effekt aber auch als Veranschaulichung eines intimen Verses von Ol’ga Berggol’c aus den Blockadegedichten betrachtet werden: „Der Oktoberregen schlägt an das Quadrat des Fensters“ („Oktajabr’skij dožd’ stučit v kvadrat okonnyj“, 1942).15

14

Zur Bedeutung des Radios während der Leningrader Blockade vgl. insbesondere Rubaškin, A.: Golos Leningrada. Leningradskoe radio v dni blokady. Leningrad 1975 und Kovtun, V. et al. (Hrsg.): Radio, blokada, Leningrad. Sbornik stat’ej i vospominanij. St. Petersburg 2005. 15 Vgl. das Fragment aus Ol’ga Berggol’c’ Blockadegedichten: http://www.olgaberggolc.ru/3-22-otryvok.htm (07.02.2016).

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Sabine Hänsgen Abb. 6, 7: Aleksandr Sokurov, Čitaem blokadnuju knigu (Wir lesen das Blockadebuch), 2009, Gesichter der Vorlesenden.

In der radiophonen Textperformance des Blockadebuchs werden die Lesenden zu Vorlesenden. Im Unterschied zu einem einsamen, stillen Lesen wird der Text durch die Aufführung in den situativen Zusammenhang einer Wahrnehmung durch die Zuschauer und Zuhörer gebracht. Gestik, Mimik und vor allem Klangfarbe, Intensität und Rhythmus der Stimme, die Prosodie des Vortrags stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit.16 Die Stimme als Spur des 16

Zur Stimmproblematik vgl. Kolesch, D./Krämer, S.: Stimmen im Konzert der Disziplinen. In: Dies. (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt a.M. 2006, 7-15. Im Kontext des russischen Formalismus entstanden auch bereits Forschungen zur Textperformance, vor allem sind hier die experimentelle Phonetik, Deklamationsforschung und Analyse der Radiosprache von Sergej Bernštejn zu nennen. Vgl. dazu Brang, P.: Das

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Körpers entfaltet in dieser Situation ein ihr eigenes Potential. Sie ist nicht nur Medium von Sinnaussagen, sie kann vielmehr den Sinn des Textes durch ihre sinnliche Wirkung kommentieren, ihm aber auch entgegenlaufen oder ihn unterwandern. An die Stelle großer Gesten und Gebärden treten bei Sokurov in lange andauernden filmischen Großaufnahmen von Gesichtern mikroskopisch genau erfasste Nuancen der Mimik. In der Reihe der Vorlesenden dient das Gesicht weniger zur Kennzeichnung unterschiedlicher physiognomischer Typen, es entwickelt sich durch die „Lupe des Kinematographs“ im Sinne Béla Balázs’ zu einem Spiegel des Innenlebens.17 Auf dem Gesicht zeichnen sich Affekte und Gefühle ab, die die einzelnen Vorlesenden in Bezug auf das, was sie vortragen, individuell bewegen, und die Zuschauer werden durch die filmische Medialisierung sehr nah und intim an diese inneren Vorgänge herangeführt, was ein Gefühl der Empathie auslösen kann.18 Über eine Zurücknahme der gewohnten Wirkungsmittel wird also durchaus eine eigene Form der affektiven Ansprache, als „Minus-Pathos“ erzeugt. Die Sprechweise der Vorlesenden ist ebenfalls von leisen Tönen gekennzeichnet. Es dominiert eine alltägliche, prosaische Sprechweise und in den meisten Fällen handelt es sich um ein verhaltenes Sprechen. Die filmische Aufzeichnung der Lesungen erfolgte, wenn man den Produktionsberichten Glauben schenken kann, ohne ausgedehnte Proben, um eine möglichst direkte Konfrontation mit den Texten aus dem Blockadebuch zu erreichen. In der seriellen Abfolge lassen sich Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten im Vortrag beobachten, und man könnte weitergehend vermuten, dass die professionellen Schauspieler in größerem Maße Distanztechniken zum Einsatz bringen, während auf den Gesichtern der Laien und in ihrer Sprechweise unmittelbarer seelische Erschütterungen zum Ausdruck kommen. Und welchen Effekt hat nun diese ästhetische, als „Minus-Pathos“ bezeichnete Strategie Sokurovs für die Textperformance des Blockadebuchs? Das literarische Werk Ales’ Adamovič’ und Daniil Granins berührte in der Brežnev-Ära die Tabugrenzen bei der Thematisierung der Leningrader Blockade. Von diesem Grenzgang des Buches zeugt die schwierige Publikationsgeschichte, eine lange Geschichte von Zensur und Selbstzensur.19 klingende Wort. Zu Theorie und Geschichte der Deklamationskunst in Russland. Wien 1988. Vgl. dazu auch den Beitrag von Dmitri Zakharine in diesem Band. 17 Balázs, B.: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt a.M. 2001, 49. 18 Nach Carl Plantinga kann der Anblick eines Gesichts mittels motorischer Nachahmung, mimischem Feedback und Gefühlsansteckung im Filmzuschauer Reaktionen empathischer Art bewirken. Vgl. Plantinga, C.: Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht. In: montage/av 13/2 (2004), 6-27. 19 Zur Entstehungsgeschichte des Blockadebuchs vgl. Granin, D.: Istorija sozdanija Blokadnoj knigi. In: Družba narodov 11 (2002), 156-161. Das Blockadebuch konnte in den 1970er Jahren nicht in Leningrad veröffentlicht werden. Eine erste Teilpublikation er-

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Aber auch in der beschnittenen Version trotz Kürzungen, redaktioneller Eingriffe und einordnender Kommentare bedeutete das Blockadebuch aufgrund seiner dokumentarischen Ausrichtung eine Unterwanderung heroischer Darstellungsstereotypen, wie sie in den 1970er Jahren kanonisch in Michail Eršovs Film Blockade und der Romanvorlage von Aleksandr Čakovskijs repräsentiert wurden.20 Jenseits der Siegesperspektive eröffnete das Buch, als dessen Materialbasis den Autoren Tonbandaufzeichnungen von Erinnerungen mehrerer hundert Zeitzeugen dienten, den Blick auf die Kontingenzen des historischen Ereignisses und ermöglichte erstmals eine Diskussion über die Blockade als Katastrophe in der eigenen Geschichte. In den einleitenden Bemerkungen erläutern Ales’ Adamovič und Daniil Granin ihre Methode und das konkrete Vorgehen: Wir wollten den realen Prozess kennenlernen, der nicht von der Kenntnis des späteren Sieges korrigiert war. Die einzige Möglichkeit, zu erfahren und aufzudecken, was damals in den Menschen vorgegangen war, bestand darin, Dokumente aus jenen Jahren zu betrachten. Am besten geeignet waren Tagebücher. Sie gestatteten, das Innenleben eines einzelnen zu studieren, auf das die Zeit nach der Blockade nicht eingewirkt hatte.21 Wir wollten die lebendigen Stimmen von Blockadeteilnehmern aufzeichnen, ihre Berichte über sich, ihre Verwandten und Genossen. […] Uns interessierte vor allem das schien 1977 in der Moskauer Literaturzeitschrift Novyj mir. Während der Sowjetära folgten seit den 1980er Jahren weitere Buchveröffentlichungen allerdings ebenfalls mit Zensurschnitten, die sich insbesondere auf die Themenkomplexe Kannibalismus, Plünderei und Fehlverhalten sowjetischer Behörden bezogen. Für seinen Film konnte Aleksandr Sokurov bereits auf eine vollständige Buchveröffentlichung zurückgreifen, in die auch die vorher zensierten Stellen integriert waren (Adamovič, A./Granin, D.: Blokadnaja kniga. V dvuch knigach. Moskau 2005). 20 Daniil Granin erinnert sich folgendermaßen: „Dieses Buch wurde augenscheinlich als Unterwanderungsarbeit in Bezug auf den Film Blockade wahrgenommen, der damals nach dem Buch von Čakovskij gedreht wurde. Überhaupt galt Čakovskijs Buch als Muster. So werden wir die Blockade darbieten. So werden wir sie auf die Leinwand übertragen. So entspricht sie unserem Verständnis dessen, was hier 900 Tage lang vor sich ging. Und davon wird es keine Abweichungen geben!“ („Эта книга была, видимо, воспринята как подрывная работа по отношению к фильму ‚Блокада‘, который сняли тогда по книге Чаковского. Вообще книга Чаковского была принята как образец. Так мы будем преподносить блокаду. Так мы ее переведем на экран. Так она соответствует нашему пониманию того, что было здесь девятьсот дней. И никаких отступлений от этого не будет!“): http://magazines.russ.ru/druzhba/2002/11/gran.html (07.02.2016). 21 Adamowitsch, A./Granin, D.: Das Blockadebuch. Berlin 1984, 11; Adamovič, A./Granin, D.: Blokadnaja kniga. St. Petersburg 2013, 261. „Нам нужен был процесс подлинный, не подправленный знанием свершившейся победы. Единственной возможностью узнать, раскрыть то, что происходило в душах людей, было – обратиться к документам тех лет. И лучшими из них были дневники. Они позволяли видеть внутреннюю жизнь без поправок на то, что будет.“

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Erlebte. Wir wollten all das aufzeichnen, begreifen und bewahren, was Menschen erlebt, gespürt, gefühlt haben, nicht Menschen allgemein, sondern konkrete Leute mit Namen und Anschrift, alte und junge, kräftige und schwache, diejenigen, die gerettet wurden, und diejenigen, die retteten.22 Literatur hat Vorzüge und Möglichkeiten, aber auch Grenzen, wenn man es mit einem solchen Ereignis und solchem Leid zu tun hat. Deshalb soll auf diesen Seiten die Erinnerung der Blockadeteilnehmer zu Wort kommen – mit ihrer Sprache und ihrem „Stil“. Daher bitten wir, Unrichtigkeiten und Verdrehungen im lebendigen Bericht zu akzeptieren. Wir bitten sehr um Entschuldigung für einige Verbesserungen und Kürzungen, für unsere Einmischungen und Kommentare, für unfreiwilliges „Zerreißen“ von Lebens- und Familienschicksalen.23

Das Blockadebuch versammelt eine Vielzahl individueller Zeugnisse (Beobachtungen, Erfahrungen, Reflexionen), denen Sokurov in der Textperformance Stimmen seiner Zeitgenossen verleiht. Eine Annäherung an das traumatische Ereignis findet in seinem Film über das laute Lesen, die körperliche Reproduktion von Zeugnistexten statt. Bei dieser Form der Vergegenwärtigung von Geschichte wird eine sichere Distanz zwischen Textvergangenheit und Aufführungsgegenwart in Frage gestellt. Über die performative Wiederholungsgeste, die die Vorlesenden mit ihrem eigenen Körper realisieren, gewinnen sie selbst Anteil an der Zeugenschaft. Wir haben es hier allerdings mit sekundären Zeugen zu tun, die nicht unmittelbar als Augenzeugen bei einem Ereignis anwesend waren, sondern ein Ereignis medial vermittelt über einen Text nachvollziehen.24 Durch Sokurovs Inszenierung der Situation des Vorlesens wird dabei in den Filmzuschauern eine 22

Adamowitsch/Granin, Das Blockadebuch. Erster Teil, 10f.; Blokadnaja kniga, 21.„Мы хотели дополнить картину свидетельствами людей о том, как они жили во время блокады. Записать живые голоса участников блокады, их рассказы о себе, о близких, о товарищах. [...] Нас интересовало прежде всего пережитое. Мы хотели записать, понять, сохранить все то, что было пережито, прочувствовано, изведано душами людей, не вообще людей, а конкретных людей с именами и адресами, старых и молодых, сильных и слабых, тех, кого спасали, и тех, кто спасал…“ 23 Adamowitsch/Granin, Das Blockadebuch. Erster Teil, 15. „У литературы свои преимущества и возможности. Но и своя ограниченность, если имеешь дело с таким событием и такими страданиями. Пусть на этих страницах выговорится сама память блокадная – ее языком и ‚стилем‘. Поэтому мы просим принять неправильности и повороты живого рассказа. Скорее попросим извинить нас за некоторые поправки, сокращения, за наши вторжения и комментарии, за невольные ‚разрывы‘ житейских и семейных судеб…“ 24 Zur Zeugenschaft im Medium Film liegen vor allem Untersuchungen vor, die sich mit der Funktion von Zeitzeugenberichten und -interviews zum Holocaust in Spiel- und Dokumentarfilmen auseinandersetzen. Fragen der sekundären Zeugenschaft diskutiert Michael Elm an der Rezeption und Verarbeitung von Videozeugnissen des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies. Vgl. Elm, M.: Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust. Berlin 2008.

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Differenzwahrnehmung stimuliert: Die intime Annäherung an die Vortragenden über die Großaufnahme der Gesichter und die Möglichkeit einer empathischen Gefühlsansteckung werden durch das neutralisierende StudioDispositiv konterkariert. Dieses lässt eine reflexive Distanz entstehen, so dass das Vorlesen nicht nur als eine Identifikation mit den Erzählern des Blockadebuchs, sondern auch als das Spielen einer Rolle erscheinen kann. Und hier schließt sich eine weitere Frage an: Führt das „Minus-Pathos“ möglicherweise zu einer Verstärkung der Dimension des Ethos? In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis aus der Rezension zum Film von Polina Barskova von Bedeutung. Barskova macht in der Auswahl und Anordnung der Einzeltexte, die Sokurov ohne die moderierenden Herausgeberkommentare aus dem Blockadebuch in seinen Film übernimmt, ein zentrales Narrativ ausfindig, das in der Textperformance geradezu exponiert erscheint: Es geht um Protagonisten, die an der Grenze zwischen Leben und Tod, wo die Person, der Leichenkörper und das Tier kaum mehr zu unterscheiden sind, danach streben, menschlich zu bleiben „by fighting desperately for what, according to them, defines their humanity – characteristics maimed in this historical disaster“.25 Eine solche Zurücknahme des Pathos als Gefühlsreaktion einer leidenden Figur zugunsten des Ethos als einer individuell verantwortlichen Aktivität erkennt Franziska Thun-Hohenstein in ihrer Analyse der Aufzeichnungen eines Blockademenschen (Zapiski blokadnogo čeloveka, 1984) auch in der Funktion des Schreibens, das für Lidija Ginzburg eine Entwicklung bedeutete „von der Reduktion auf ein passiv ertragenes Leiden zu einer aktiven Handlung, oder anders gesagt, vom bloßen Objekt zum tätigen Subjekt“.26 Die ersten drei Geschichten, die in Sokurovs Film aus dem Blockadebuch vorgelesen werden, können als Beispiele dafür angesehen werden, wie das „Minus-Pathos“ in der filmischen Inszenierung mit einem Herausstellen von Ethos-Momenten in den einzelnen Erzählungen korreliert. In der ersten Geschichte geht es um einen kleinen Jungen, der nahe dem Hungertod die Kraft aufbringt, sich aus der dunklen Wohnung ans Licht zu begeben, und zwar auf den Schlossplatz, wo man ihn findet und durch tatkräftige Hilfe retten kann. Die Geschichte stammt aus dem Kapitel „Leningrader Kinder“, es handelt sich um einen Bericht von Frau L.A. Mandrykina: Ich trat aus unserem Hof neben dem Generalstab und sah – an der Tür, ganz zusammengeduckt, einen kleinen Jungen sitzen. Er schien etwa sechs Jahre alt zu sein. Ich fragte: ‚Was machst du hier?‘ Er antwortete: ‚Ich bin hergekommen, um zu sterben.‘ 25

Barskova, P.: A Loud Reading. In: KinoKultura 28 (2010), http://www.kinokultura.com/2010/28r-blockadebook.shtml (07.02.2016). 26 Thun-Hohenstein, F.: Distanz zum Ich: Lidija Ginzburg. In: Dies.: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation. Berlin 2007, 86.

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– ‚Sterben willst du? Sieh mal an, was du für einer bist – wenn du es bis hierher geschafft hast, stirbst du auch nicht! Und wo wohnst du?‘ – ‚An der Moika. Wir haben einen sehr dunklen Hof und eine sehr dunkle Wohnung. Hier aber ist es so hell. (Das war auf dem Schloss-Platz.) Also bin ich hergekommen, um zu sterben.‘ Na, da nahm ich ihn mit meinen Mädchen mit zu mir ins Archiv. Wir gaben ihm warmes Wasser zu trinken, irgendwelche Brotreste und Tischlerleim, richtigen Tischlerleim. Und er sagte uns: ‚Wenn ich am Leben bleibe, esse ich immer solchen Leim.‘“ „Und wie alt war er?“ „Mir schien, sechs Jahre. Aber in Wirklichkeit war er elf. Und ich fragte ihn: ‚Warum bist du hergekommen? Ist von deiner Familie niemand mehr am Leben?‘ Er sagte: ‚Verstehst du das nicht? Wenn ich noch jemanden hätte, wäre ich nicht gekommen. Papa ist an der Front, Mutter gestorben. Sie liegt noch da. Meine kleine Schwester ist auch tot.‘ Da habe ich ihn ins Kinderzimmer gesteckt und seine Adresse angegeben (er hatte sie mir genannt), sie sind hingegangen. Mehr weiß ich nicht von ihm.“ (Aus dem Bericht von Frau L.A. Mandrykina)27

Vorgelesen wird der Bericht von Lev Nejmyšev, der die erste Klasse des 56. Gymnasiums in St. Petersburg besucht. Der Junge überartikuliert beim Lesen, da er als Erstklässler noch Schwierigkeiten hat, den Text zu entziffern. Einerseits scheint er sich in einem intensiven Prozess in den Text hineinzuversetzen wie in andere Texte seiner Kinderlektüre, andererseits entsteht durch die Überartikulation ein Verfremdungseffekt in Bezug auf den vorgelesenen Text, der noch dadurch verstärkt wird, dass der Text nicht entsprechend der Erzählerin im Buch von einer Frau gelesen wird, sondern von einem kleinen Jungen, was einen Perspektivwechsel vom Subjekt zum Objekt der Erzählung darstellt (Abb. 8, 9).

27

Adamowitsch/Granin, Das Blockadebuch. Erster Teil, 263-264; Blokadnaja kniga, 205. „– Я выхожу со двора своего, рядом с Генеральным штабом, и вижу – около калитки, совсем прижавшись, сидит мальчик. Мне показалось, что ему лет шесть. Я спрашиваю: ‚Что ты здесь делаешь?‘ Он говорит: ‚А я пришел сюда умирать‘. – ‚Умирать? Ты смотри, какой ты, – раз ты смог сюда прийти, ты не умираешь! И где ты живешь?‘ – ‚Я живу на Мойке. У нас очень темный двор и квартира очень темная. А здесь вон как светло. (Это на Дворцовой площади.) Я пришел сюда умирать‘. Ну, я со своими девочками взяла его к себе в архив. Мы его напоили теплой водой, какие-то корочки ему дали. И клею столярного, вот этого самого. И он нам сказал: ‚Если я останусь жив, я всегда буду есть этот клей‘. – А сколько же ему было лет? – Мне казалось, что ему лет шесть. А ему оказалось одиннадцать. Я его спросила: ‚Ну почему ты пришел сюда? У тебя никого не осталось?‘ Он сказал: ‚А разве ты не понимаешь? Если бы у меня кто-нибудь остался, я не пришел бы. Папа на фронте, мама умерла, лежит. Сестренка умерла‘. Ну, я отвела его в детскую комнату и сказала его адрес (он знал свой адрес), они туда пошли. А больше я о нем ничего не знаю“. (Из рассказа Л.А. Мандрыкиной.)

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Sabine Hänsgen Abb. 8, 9: Aleksandr Sokurov, Čitaem blokadnuju knigu (Wir lesen das Blockadebuch), 2009, Lev Nejmyšev.

In der zweiten Geschichte steht ein Vertreter der Intelligenz im Mittelpunkt (Abb. 10). Der Mann ist bereits zu schwach zum Laufen. Um dennoch Bücher vor dem Verheizen zu retten, kriecht er auf allen Vieren wie ein Hund mit einem Sack von Büchern auf dem Rücken eine Treppe hinauf: „[…] Ich stieg die Treppe zu unserer Wohnung im 4. Stock hoch. Als ich im 3. war, hörte ich ein seltsames Geräusch, als ob ein Hund über mir ging. Es patschte so! Ich dachte: Woher kommt bei uns im Jahre 42 ein Hund? Die Hunde sind doch längst alle aufgegessen. Als ich den Treppenabsatz im dritten Stock erreichte, bot sich mir folgendes Bild: Mein Mann kroch auf allen vieren, eine Tasche mit Büchern auf dem Rücken! Als er mich erblickte, setzte er sich hin und sagte: ‚Schade, hab’s doch nicht geschafft! Ich dachte, ich würde fertig, ehe du kommst.‘ Er konnte schon nicht mehr gehen. Ich schleppte ihn ein ganzes Stockwerk hoch ins Zimmer und legte ihn ins Bett. Nun stand er nicht mehr auf. Wie ein Hund hatte er auf alle vieren die Bücher nach oben geschleppt.“28 28

Adamowitsch/Granin, Das Blockadebuch,, 325-326; Blokadnaja kniga, 494. „[...] Стала подниматься к себе наверх, на пятый этаж. Когда я дошла до четвертого этажа, слышу странный такой звук, как будто собака идет на четырех лапах, вот так вот шлепает! Я думаю: откуда в сорок втором году собака? Давно ведь всех собак съели. Когда я поднялась на площадку четвертого этажа, вижу такую картину: муж, у него сзади торба с книгами, и он на четвереньках несет эти книги!!! Увидел меня, сел и говорит: ‚Вот не успел! Думал до тебя перенести‘. Идти он уже не мог. Так на четвереньках, как собака, перетаскал все книги.“

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Abb. 10: Aleksandr Sokurov, Čitaem blokadnuju knigu (Wir lesen das Blockadebuch), 2009, Oleg Basilašvili.

Im Blockadebuch wird die Geschichte von der Ehefrau des Mannes, Zinaida Aleksandrovna Ignatovič, Mitarbeiterin am wissenschaftlichen Forschungslaboratorium für Lebensmittelhygiene erzählt. In Sokurovs Film liest sie Oleg Basilašvili, ein bekannter Schauspieler, vor. Seine kontrollierte Diktion steht im Kontrast zu der vorhergehenden ungelenken Vortragsweise des kleinen Jungen, und die Verschiebung von der weiblichen Erzählerin zum männlichen Vorleser schärft die Differenzwahrnehmung weiter: Es wird deutlich, dass historische Person und Rolle nicht vollkommen zusammenfallen. Die dritte Geschichte stammt von Marija Ivanovna Dmitrieva, der Leiterin einer Selbstschutzgruppe der Wohnungsgenossenschaft im KirovStadtbezirk (Abb. 11, 12). Mit allen möglichen physiologischen Einzelheiten schildert sie die schwierige Geburt einer Verwundeten in einem völlig zerbombten Haus, bei der sie schließlich selbst Geburtshilfe leistet: „[…] Und überall lagen Bretter verstreut. Ich sagte: ‚Warte mal, Jurik, beweg dich nicht.‘ Ich hatte nämlich ein Piepsen gehört, und ich dachte, irgendwo wäre eine Katze zusammengequetscht. Ich sagte: ‚Warte, Jurik, wir müssen ganz vorsichtig sein.‘ Und dann plötzlich – wieder das Gebrüll dieser Frau! Sie lag bewusstlos und verwundet unter dem Bett! Aus irgendeinem Grund hatte es sie unter das Bett gedrückt. Und das war niedrig und aus Eisen, und sie lag darunter. […] Und ich trat hin, packte das mittlere Brett und hob es auf. Zu meinem Entsetzen (Ehrenwort, ich weiß nicht, wieso es mir nicht auf der Stelle die Sprache verschlug!) lag dort so etwas wie ein kleines Kind. Aber schmutzig, ganz voller Mörtel und Kalk, und nackt!“ „Nackt? Eben erst geboren?“ „Ja, natürlich, es war eben erst aus dem Schoß der Mutter gekommen. Und wissen Sie, es hing noch an der Nabelschnur. Sie zog sich von der Mutter unter dem Bett durch all das hier… Grauenhaft! Dergleichen hatte ich noch nie gesehen. Aber in dem Moment, ich weiß nicht, auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich sagte: ‚Jurik, bring Wasser. Wasser und eine Schere!‘ [...]“29 29

Adamowitsch/Granin, Das Blockadebuch. Erster Teil, 330f.; Blokadnaja kniga, 252253. „И везде доски раскиданы. Я говорю: ‚Подожди, Юрик, не двигайся‘. Потому что я услышала писк какой-то, что-то вроде писка, кошку, что-ли,

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Sabine Hänsgen Abb. 11, 12: Aleksandr Sokurov, Čitaem blokadnuju knigu (Wir lesen das Blockadebuch), 2009, Ksenija Skačkova.

Im Unterschied zur pathetischen Heroisierung der aufopferungsvollen Mutter im sozialistisch-realistischen Narrativ konzentriert sich die Aufmerksamkeit im Blockadebuch unter dem Aspekt des Ethos auf das tätige Subjekt im Einsatz für das neue Leben. Bei Aleksandr Sokurov wird die Erzählung der Marija Ivanovna Dmitrieva von einer jungen Frau, von Ksenija Skačkova, einer Verkäuferin vorgelesen (Abb. 11, 12). Ihre Lesung, die sich durch ein besonders hohes affektives Potential auszeichnet, ist filmisch mit den Mitteln des „Minus-Pathos“ inszeniert, das entgegen der Überwältigungsästhetik in den sowjetischen Monumentalfilmen immer auch auf eine Differenzwahrnehmung abzielt. Während des Vorlesens kann die junge Frau ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und beginnt zu weinen. Bei den Tränen придавило. Я говорю: ‚Подожди, Юрик, мы должны осторожны быть‘. Ну вот – и вдруг опять рев этой женщины! Она без сознания, израненная, под кроватью! Она почему-то затиснута под кровать. Кровать низкая, железная, и она заткнута туда. […] Подошла я, как взяла, средняя доска и поднялась. К моему удивлению (я, честное слово, не знаю, как без языка не осталась!), лежит вроде бы ребенок. Но грязный, в глине какой-то, в извести, мокрый! – Голенький? Только еще родился? – Да, конечно, только родился, из утробы матери. И вы знаете, за ним тянется пуповина. Это от матери, из-под кровати, через это все… Кошмар! Никогда ничего такого не видела. Но в это время, я не знаю, откуда что-то бралось. Я говорю: ‚Юрик, ищи воды. Воды и ножницы!‘“

Minus-Pathos

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auf ihrem Gesicht stellt sich für die Zuschauer allerdings die Frage, ob diese Tränen tatsächlich physiologisch eine unmittelbare seelische Erschütterung zum Ausdruck bringen, oder ob es sich doch um ein Rollenspiel nach den Genremustern des Melodrams handelt. Die Reminiszenz an das melodramatische Genre wird durch weitere Elemente in der filmischen Inszenierung gefördert. Insbesondere bei dieser Lesung bringt Sokurov seinen Spezialeffekt zur Verwendung: Er lässt die junge Frau, deren Gesicht in Großaufnahme zu sehen ist, über längere Zeit hinter einer mit einem Wasserschleier bedeckten Glasscheibe lesen (Abb. 13). Abb. 13: Aleksandr Sokurov, Čitaem blokadnuju knigu (Wir lesen das Blockadebuch), 2009, Ksenija Skačkova hinter einer nassen Glasscheibe.

Dieses Inszenierungsverfahren führt zur Akkumulation einer Reihe von Motiven des Melodrams: Träne, Regen, nasses Fenster. Durch die mit Tropfen benetzte Glasscheibe wird im Filmbild zudem ein malerischer Effekt erzeugt, der die Einstellung wie ein filmisches Gemälde in der ikonographischen Tradition der lesenden Frau erscheinen lässt. Das Gesicht der Vorlesenden ist hinter der Glasscheibe nicht mehr in all seinen Zügen genau zu erkennen, es wirkt auf eigenartige Weise entindividualisiert, und in einer raumzeitlichen Abstraktion kommt ein allgemeiner Affekt zur Anschauung. Durch die Reduktion der filmischen Form auf die lang andauernde Großaufnahme wird das Gesicht in ein Affektbild schlechthin transformiert: „Ein Affektbild ist eine Großaufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht.“30

30

Deleuzes, G.: Das Affektbild. Gesicht und Großaufnahme. In: Ders.: Das BewegungsBild. Kino 1. Frankfurt a.M. 1989, 123-142, hier: 123.

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Between Ethos and Pathos Missing and Lasting Exposures in Marcel Beyer’s Spione (Spies) and Paweł Huelle’s Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala (Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal) 1. Narrative insertions and fade-outs At the end of W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten (The Emigrants) the firstperson narrator Max Aurach, or rather Max Ferber,1 seizes a photograph from the Litzmannstadt Ghetto showing three female weavers at their place of forced labour. The first is a picture of victims from the perspective of the perpetrator, while he adopts the point of view of the snapping chronicler, the head of the finance department in the German ghetto administration, Walter Genewein. In spite of the backlighting, Aurach seems to notice the gaze of the three women, because he is standing where “Genewein the accountant stood with his camera” („Genewein, der Rechnungsführer [sic!], mit seinem Fotoapparat gestanden hat“).2 While the photographer’s and the viewer’s sightlines intersect, the powerful masculine snapshot is repeated. By an imaginary reversal of the line of vision and by a speculative choice of names, the perspective of the victims then follows, which doubles the photographic appearance of the innocent female handicraft. Thus, a weaver’s gaze penetrates the narrator in such a way that he “cannot meet it for long” („es nicht lange auszuhalten vermag“),3 thinks about possible names – “Roza, Luisa and Lea, or Nona, Decuma and Morta, the daughters of night, with spindle, scissors and thread” („Roza, Luisa [!] und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht mit Spindel und Faden und Schere“).4 While the Jewish first names indicate ghettoisation, the names of the life-giving Fates – the Parcae – refer to the impossibility of an interweaving of vital life threads 1

Originally, the character’s name was Max Aurach – a modification of the name of the real painter Frank Auerbach, whose biography was adapted literarily. Because of copyright discrepancies between Sebald and Auerbach, the family name was changed in the English translation. The Guardian, Saturday, 22nd September 2001; http://www.guardian.co.uk/books/2001/sep/22/artsandhumanities.highereducation (01.01.2016). 2 Sebald, W.G.: The Emigrants. Transl. by Michael Hulse. London 1996, 237, and Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Frankfurt a.M. 1992, 355. 3 Ibid. 4 Ibid.

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which is manifested here medially and metadiscursively in the photographic capture of the weaving handicraft.5 Aurach’s imaginative und speculative picture attributions occur without the photograph being reproduced as a whole or in parts, as is often the case in Sebald’s texts.6 The photograph rather serves as a model for a partly extremely focalised ecphrasis which, in ethical terms, roughly concerns the reversal of the perspective of the perpetrator and of that of the victim7 or the gender constellation. When the artist Aurach significantly makes his pictures disappear with the help of engravings, in a palimpsest-like manner,8 this procedure corresponds to the partial fade-out of the photographic model in the picture attributions, which is based narratively on the fact that he merely remembers the photograph because of his visit to an exhibition. Indeed, the model is a photograph which, as part of a collection of hundreds of colour slides prepared by the amateur snapper Genewein, was exhibited and published in a catalogue by the Jewish Museum of Frankfurt in 1990.9 The photograph (Fig. 1) differs from Aurach’s attributions above all insofar as it shows four women, one man, one child as well as part of another person. Conspicuously, vertical threads appear in the picture which, apart from the backlighting, impede the view of the persons. Furthermore, it is – despite the black and white reproduction here – a colour picture, albeit a weak one,

5

According to Silke Horstkotte, this reversal of the roles of the perpetrator and the victim occurs in order that „sich der melancholische Blick des Erzählers […] selbst in die Position eines Opfers hineinfantasieren [kann], das den drei mordenden Schicksalsgöttinnen anheimfällt.“ Horstkotte, S.: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln/Weimar/Wien 2009, 181. In this interpretation, the medial metalevel of the photographic standstill referring to the inability of the Parcae to act is ignored. 6 For photography in the texts of W.G. Sebald, cf. Patt, L./Dillbohne, Chr. (eds.): Searching for Sebald. Photography after W.G. Sebald. Los Angeles 2007 and partly Long, J.J./Whitehead, A. (eds.): W.G. Sebald. A critical Companion. Edinburgh 2004. 7 It is precisely this photographic presentation – representative of Genewein’s ghetto pictures – that corresponds with Susan Sontag’s pointed murder metaphors. “To photograph people is to violate them, by seeing them as they never see themselves, by having knowledge of them that they can never have; it turns people into objects that can be symbolically possessed. Just as a camera is a sublimation of the gun, to photograph someone is a subliminal murder.” Sontag, S.: On Photography. London 1977, 14. 8 This occurs in rough imitation of Frank Auerbach’s style of painting. 9 Loewy, H./Schoenberger, G. (eds.): „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Getto Lodz, 1940-1944. Frankfurt a.M. 1990. For the find of the colour slides in 1987, cf. in particular Freund, F./Perz, B./Stuhlpfarrer, K.: Bildergeschichten – Geschichtsbilder. In: Loewy/Schoenberger, „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Getto Lodz, 1940-1944, 5059. For the ethical problems, cf. Jakubowicz, R.: Kolory. Albo: gdzie szukać prawdy? http://www.atlassztuki.pl/pdf/janicka2.pdf (01.01.2016) and the documentary (Apple Film Production) by Jabłoński, D.: Fotoamator. Polska 1998.

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which as such disturbs the cultural image memory of the Shoah which Aurach also uses.10 Fig. 1: Walter Genewein’s ghetto photograph.

The literary interweaving – Latin: textus – of the past and the present as well as of supposed visibility and feigned orality,11 of photographic documentation and narrative imagination demonstrated here exemplarily reveals – here in dealing with the ghetto pictures – a sort of ethical explosiveness which operates with medial conventions. Thus, Aurach adopts in particular the always circulating power of evidence of photography just as much as he imaginatively blurs it. It is exactly this interface that the authors relevant in what follows, Marcel Beyer with Spione (Spies)12 from 2000 and Paweł Huelle with MercedesBenz. Z listów do Hrabala (Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal)13 from 2001 take up while transferring in quite different ways the photographic evidence in a – partly complacent – spectrum which is explicitly dedicated to speculative and feigned retrospectives. Photographs serve here as finds that trigger individual imaginations of the past which overstrain or simply ignore, above all, collective and cultural memories of the Shoah and of National Socialism.14 Thus, according to Ulrich Baer, who examines, among other 10

Guerin, F.: Through Amateur-Eyes. Film and Photography in Nazi-Germany. Minneapolis 2012, above all 93-158, and again Jakubowicz, Kolory. Albo: gdzie szukać prawdy? and Jabłoński, Fotoamator. 11 The narrative tone suggests a conversational situation. 12 Beyer, M.: Spies. Transl. by Breon Mitchell. Orlando/Austin/New York/San Diego/Toronto/London 2005, and Beyer, M.: Spione. Köln 2000. 13 Huelle, P.: Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal. Transl. by Antonia Lloyd-Jones. London 2005, and Huelle, P.: Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala. Kraków 2003. 14 As an example, although from a Western-European perspective, cf. Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006 and Ruchatz, J.: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen. In: Erll, A./Nünning. A. (eds.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin/New York 2004, 83-105.

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things, Genewein’s colour slides in Spectral Evidence. The Photography of Trauma,15 photos almost “compel the imagination, because they remain radically open-ended”.16 Therefore, he declares himself in favour of photography as a medium of saving, preservation and rescue of reality: “Precisely because photographs do appear immutable, we carry the burden of imagining what could occur beyond the boundaries of the print”.17 Beyond such a framing, in the photographic off-camera both Beyer’s and Huelle’s family novels unfold, whose narrators, however, extrapolate familially tabooed or nostalgic echoes during their flashbacks. The photographic gestures accompanied by these extrapolations kindle ethically motivated empathy which is released in solemn images in Spies, while in Mercedes-Benz, ethical dimensions are repeatedly condensed into supposedly illustrative reproductions.

2. Under suspicion: Moments/glances/pictures In Spies, the discovery of an incomplete family album induces three siblings and their twelve-year-old cousin, the nameless main narrator,18 to speculate about their grandmother – a supposed opera singer with the conspicuous “Italian eyes” („Italieneraugen“) bequeathed to her grandchildren19 – and about their grandfather, who was supposedly active as a person cleared for access to secret information during the German Condor air force mission. Their Easter holiday spying of 1977 leads achronologically as well as multiperspectively into the nineteen-thirties and into the post-war period of the following decades.20 During the search for traces, what proves to be a hindrance is the various invisibilities and non-transparencies – symbolised by a simultaneous discovery of spores of fungi on the spot – i.e. the absence of the grandmother, her successor, called “Old Lady”, who together with the grandfather isolates herself completely from his family, as well as the secrecy of the parents. Strikingly, the novel begins with reflections about the childish glance of the first-person narrator through a door peephole: “The most inconspicuous details outside strike the polished glass as if attempting to directly penetrate 15

Baer, U.: Spectral Evidence. The Photography of Trauma. Cambridge 2005, 127-178. Baer, Spectral Evidence. The Photography of Trauma, 24. 17 Ibid. 18 In the first part of the novel, his stories blend with those of his male cousin Carl – an anagram of the author’s name Marcel – and of his female cousins, from whose perspective the report is partly delivered in the collective form “we”. This narrative dispersion decreases in the second half of the novel, in which the now “adult” memories of the former collective become increasingly different. 19 Beyer, Spies, 3, and Beyer, Spione, 9. 20 This espionage focus is already suggested by the timeframe of the RAF searches. 16

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my retina. […] Flight is impossible.” („Die unscheinbarsten Einzelheiten draußen treffen das geschliffene Glas, als wollten sie die Netzhaut gleich durchdringen. […] Flucht ist ausgeschlossen“).21 With a similar glance subsequent speculations about the grandparents begin, whose metaphorical flight, i.e. resistance as photographed and spied-upon persons, is just as impossible as it is impossible for the narrator to escape from the suction of the family taboos. Initially, the grandfather’s courtship of his childhood friend in the opera house is recounted, who the formerly “unemployed or part-time worker” („Arbeitslose, dann Gelegenheitsarbeiter“)22 would not have visited. As a pilot, however, he even imagines how the singer immediately recognises the supposed advertising writing of the military training flights: Heute schreibt er ,Persil‘. Man muß aufmerksam hinschauen, zum Lesen bleibt nicht viel Zeit, es ist nur Wasserdampf. Er wird die Form verlieren, sich in der Luft verteilen, in leichte Nebelstreifen. Und bald wird er verschwunden sein.23

Also vice versa, the soldier knows how to use opera glasses, “even though binoculars are larger and heavier” („selbst wenn der Feldstecher viel schwerer, größer ist“).24 These and further headwords of the collective (image) memory constitute the biography of the lifelong person cleared for access to secret information, whose photographic traces, however, as is gradually revealed in the second part of the novel, disappear in a similar way as does the transitory skywriting. In the narrative time of 1977, similar traces are found as spores, “flakes that dissolve to nothing [...]. To nothing but a tough, somewhat coarse, sticky film” („zu nichts zerfallen[de … Flocken.] Zu nichts als einem zähen, etwas rauhen Film, der haftenbleibt“).25 When this paper-thin visibility is accompanied by a “sweetish smell” („süßliche[n] Geruch“),26 it is a clear reference to the Shoah. “[P]ast continues to infect the present”,27 as Stefanie Harris states. That such a search for traces requires prior knowledge becomes clear when the youngsters hit upon the black and white album: “From films we know that young men and women looked older in the thirties than they do today.” („Aus Filmen wissen wir, in den dreißiger Jahren sahen Menschen 21

Beyer, Spies, 1, and Beyer, Spione, 7. Beyer, Spies, 4, and Beyer, Spione, 9. 23 Beyer, Spione, 12 and Beyer, Spies, 6. „Today he’s writing ‘Persil’. You look carefully, you don’t have long, it’s only vapour. It loses shape, breaks apart in the air, dissolves into slender tendrils. And soon it will be gone.“ 24 Beyer, Spies, 7, and Beyer, Spione, 13. 25 Beyer, Spies, 8, and Beyer, Spione, 14. 26 Beyer, Spies, 9, and Beyer, Spione, 15. 27 Harris, S.: Imag(in)ing the Past: The Family Album in Marcel Beyer’s Spione. In: Lützeler, P.M./Schindler, St.K. (eds.): Berlin-Literatur – „Gegenwartsliteratur” 4 (2005). Tübingen 2005, 162-184, here: 173. 22

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älter aus als heute.“)28 An implanted prosthetic memory results from this, which, on the visual level, is fed in particular by films and photographs.29 In medial analogy to this memory store, the young authors’ collective thereupon uses a ‘movement prosthesis’ while the found photos are being mobilised. Auf diesem Bild hält unser Großvater ein Programmheft auf den Knien, den Kopf gesenkt, ohne die leiseste Regung ins Dunkel starrend. Vielleicht ist eine Doppelseite mit Photographien aufgeschlagen […]. Er sucht etwas. Er nimmt das Opernglas und schaut zur Bühne hinunter, er dreht am Schärfenregler, läßt das Glas dann wieder sinken.30

A photo becomes a film still which is put into motion as an inner cinema and imitates here in an – also metamedial – retrospective the momentary visual gesture of the grandchildren during the picture show. Here, „[werden] die Bildoberflächen [...] von Pergamentpapier geschützt, in das ein Muster aus Spinnweben geprägt ist. Dadurch bekommen wir die Photographien zunächst wie von einer Patina gedämpft, von einem Schleier verwischt, undeutlich zu Gesicht, bis dann, wenn wir das Zwischenblatt beiseite schieben, Konturen und Kontraste scharf erscheinen.31

The gradual focussing of the pictures also corresponds with the grandfather’s increasing soldierly recognisability on the basis of the growing number of “decorations and medals on his chest […,] the polished base metal reflecting the sun and the magnesium flash” („Abzeichen und Orden auf seiner Brust […,] dem polierten minderwertigen Metall, das Sonne und Magnesiumlicht reflektiert“).32 With the first portrait with a steel helmet the series breaks off – meaningfully, pages with orphaned mounting corners33 and loose single pictures follow which now were shot by the grandfather

28

Beyer, Spies, 9-10, and Beyer, Spione, 16. In imitation of Alison Landsberg’s “Prosthetic Memory”, Harris refers to “implanted memories [… as] a compound of various cultural artefacts – drawn from film, photography, advertising, music, and literary traditions.” Harris, Imag(in)ing the Past, 172. 30 Beyer, Spione, 16, and Beyer, Spies, 10. “In this picture, our grandfather is holding a program on his knees, his head is down, staring, and he stares into the darkness without the slightest movement. Perhaps the program is opened to a double-page spread with photos […]. He’s looking for something. He raises his opera glasses to look down at the stage, adjusts the focus, then lowers the glass again.” 31 Beyer, Spione, 32, and Beyer, Spies, 25. “[the] photos are protected by a parchment paper with a spiderweb pattern imprinted in it, so that we see them first as if dulled by a patina, blurred by a veil, until we lift the protective leaf and the contours and contrasts stand out sharply.” 32 Beyer, Spies, 26, and Beyer, Spione, 33. 33 Cf. the cover of the English edition, on which such empty mounting corners frame the title of the novel. 29

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himself.34 A photograph of his own dwelling destroyed during a bombing raid reveals to the irritated grandchildren that this photographic view does not coincide with their gaze: “[W]e don’t look with those eyes.” („Wir schauen nicht mit diesen Augen“).35 Furthermore, they search in vain for the “Italian eyes” of the grandmother, of whom not one single portrait is to be found. In group or double pictures with the grandfather, she smiles, her eyes, however, are always hidden, in the shade, blink,36 because she “knows she’s being looked at. Not only by the photographer, but by other people, too – later” („weiß auf jedem Bild, sie wird beobachtet. Nicht nur vom Photographen, sondern auch von anderen Menschen, später“).37 In addition, this empty space instead of a look opens wild speculations about possible picture censorship,38 the motivation of which remains unnamed and therefore allows thinking just as much of the grandfather’s second wife, the raging “Old Lady”, as of erasure of the possibly far too ‘racy eyes’, because “that disturbing gaze […] can be seen in everything, it has touched the shadows and the tree, it still rests […] on the viewer” („dieser beunruhigende Blick […] ist an allem ablesbar, er hat die Schatten und die Bäume berührt, er liegt […] noch immer auf dem Betrachter“).39 Her companion finds this missing or remote Barthesesque umbilical cord of light40 in the white traces of writing which the grandfather left behind not only as a pilot, but also on the black cardboard of the album in the form of “white strokes, loops, and underlinings” („weißen Strichen, Schleifen, Unterstreichungen“).41 From the grandchildren’s perspective, this solemn photographic gesture exonerates him at least in the case of picture censorship.

34

Cf. Beyer, Spies, 27, and Beyer, Spione, 34. Although not literally, yet suggestively, photographic shooting and military shooting are short-circuited here. The photographic term “shooting” goes back to the physiologist and pioneer photographer Étienne-Jules Marey, who constructed a chronophotographic gun for capturing the sequence of movements of birds, horses and people by multiple exposure in the 1880s. Asendorf, C.: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Gießen 1989, 16-18. For the photographic hunt, also cf. Sontag, On Photography, 7. 35 Beyer, Spies, 28, and Beyer, Spione, 35. 36 Beyer, Spies, 29-31, and Beyer, Spione, 36sq. 37 Beyer, Spies, 30, and Beyer, Spione, 37. 38 Beyer, Spies, 30-33, and Beyer, Spione, 39sq. 39 Beyer, Spies, 32, and Beyer, Spione, 40. 40 In Roland Barthes’s “Camera Lucida”, it is said in view of the photographic light writing: “A sort of umbilical cord links the body of the photographed thing to my gaze: light, though impalpable, is here a carnal medium, a skin I share with anyone who has been photographed”. Barthes, R.: Camera Lucida. Reflections on Photography. Transl. by Richard Howard. New York 1981, 81. 41 Beyer, Spies, 33, and Beyer, Spione, 40.

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Apart from that, solemnity befits – if only by virtue of her profession – in particular the opera singer, for whom “[n]othing exists beyond the apron of the stage, only darkness” („[j]enseits der Rampe […] nichts [existiert], […] nur Dunkelheit [liegt]“),42 as she explains to her fiancé whom she, however, does see in the audience before her performance as she looks through a curtain peephole until one day his seat remains empty.43 Darkness and subsequent emptiness are also seen by the narrator through the door peephole when the light in the corridor goes out for a short while: Allein der Anblick, den ich in der dunklen Zwischenzeit erfunden habe, steht mir noch immer vor Augen, wenn ich die Lider schließe. Was ich nicht sehen kann, muß ich erfinden. Ich muß mir Bilder selbst erfinden, wenn ich etwas vor Augen haben will.44

Similar powers of imagination are also characteristic of his grandmother, to whom it sometimes appears “when she looks at something, the image seems to slowly coalesce from separate dots” („als würde sich das Bild [ihrer Betrachtung] erst nach und nach aus einzelnen Punkten zusammensetzen“).45 Shortly after this pixel-wise focussing, she imagines her absent fiancé as a pilot: “She sees the silhouette of an airplane approaching […,] hears the low hum, slow, soft, as if all the sound was in her body.” („Sie sieht den Schattenriß eines Flugzeugs näherkommen […,] hört das sanfte Brummen, keinen Lärm, als wäre das Geräusch im eigenen Körper“).46

In accordance with her artistic sensitivity, her empathy even facilitates an audiovisual inner cinema which, as her grandson’s talent for spying reveals, ultimately remains unconfirmed. It is, however, precisely these imaginations that the grandmother finds confirmed “in detail by reality” („in allen Einzelheiten von der Wirklichkeit“)47 in memoirs presented to her by her husband when three years later, he reveals the secret about his Condor mission. That this reality is based here on a linguistic rather than a photographic ‘black on white’ is surprising in view of this war which for the first time in history was documented by cameras.48 The young parents agree after this confrontation that the books will disappear and consequently the father’s 42

Beyer, Spies, 53, and Beyer, Spione, 63. Beyer, Spies, 55, and Beyer, Spione, 64. 44 Beyer, Spione, 65, and Beyer, Spies, 57. “Nothing remains when I close my eyes but the picture I invented in that darkened interval. What I can’t see I must invent. I must fill in the pictures myself if I want to see something.” 45 Beyer, Spies, 141, and Beyer, Spione, 158. 46 Beyer, Spies, 141-142, and Beyer, Spione, 158f. 47 Beyer, Spies, 155-156, and Beyer, Spione, 175. 48 Hugh, T.: The Spanish Civil War. Revised Edition. New York 2001. The grandfather is disappointed by the lack of “keep-sake photos from Spain” („Erinnerungsphotos an Spanien“; Beyer, Spies, 152, and Beyer, Spione, 171). 43

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“role in the Spanish Civil War will remain a secret forever” („Teilnahme am Bürgerkrieg […] auf immer ein Geheimnis [bleibt]“).49 In analogy to these books, not least Spies stands out as a photo novel which is, as it were, disguised in the veil of a family novel, because at the same time, it clearly refers to collective conceptualisations of history, as a photo novel which revolves around that secret and in which, as in the above-mentioned “memoirs”,50 only the cover is illustrated. The album pictures described in Spies are, however, ultimately demounted, and – at that – in a similar way to the analogies between the grandchildren’s and the grandparents’ photographic gestures – above all in the paradoxical imitation by the still young grandparents – reveal the narrative construct with the pyramidal chapter structure51 and almost present it in the solemn inner cinema. Thus, cousin Carl asks to bear in mind that the grandfather’s photo in the opera house cannot exist, if only for reasons of the optical circumstances of darkness and perspective,52 and the narrator confesses towards the end of the novel: “I’m the one who invented the photographs.” („Ich habe mir die Photographien ausgedacht.“).53 With this deconstruction Beyer does not destroy, as Silke Horstkotte says, “the widespread confidence that what the photograph shows must once have existed” („das verbreitete Vertrauen, daß das, was die Fotografie zeigt, einmal dagewesen sein muß“),54 but he plays just as complacently with this convention as with the common image memories of the thirties. His narrator is subject to a “pathological memory construction” („pathologische Erinnerungskonstruktion“)55 diagnosed by Matthias Uecker for the purpose of self-affirmation, in which the past proves for the grandchildren or for the grandson to be a paper projection surface of an ethically problematised general suspicion as well as of solemnly charged wishful thinking. It is, as Georges Didi-Huberman puts it, as if photography granted us access to the secret origin of evil, so to speak a

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Beyer, Spies, 157, and Beyer, Spione, 177. Beyer, Spies, 157, and Beyer, Spione, 176. 51 The chapter sequence is as follows: spores, calls, silences, messengers, spies, messengers, silences, calls, spores (Sporen, Anrufe, Verschwiegene, Boten, Spione, Boten, Verschwiegene, Anrufe, Sporen). 52 Beyer, Spies, 219, and Beyer, Spione, 245. 53 Beyer, Spies, 268, and Beyer, Spione, 299. 54 Horstkotte, Nachbilder, 201 (author’s translation). 55 Uecker, M.: “Uns allen steckt etwas von damals in den Knochen”. Der Nationalsozialismus als Objekt der Faszination in den Romanen Marcel Beyers. In: Beßlich, B./Grätz, K./Hildebrand, O. (eds.): Wende des Erinnerns. Berlin 2006, 53-68, here: 63 (my translation). This memory is said to reveal “mehr über die Bedürfnisse des Recherchierenden als über die Objekte seiner Konstruktion”. Uecker, Uns allen steckt etwas von damals in den Knochen, 63. 50

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microbial theory of visibility.56 That this power of evidence is already photohistorically accompanied by authentication rituals leads, according to the author, into the imaginary, as an act, as factuality.57 In Spies, the imaginary potential of supposed factuality is presented while traces of light flash ecphrastically and are bundled up narratively, but ultimately do not condense, as they do in Barthes, into a “punctum”, but simply dissolve, particularly since towards the end of the novel even the grandchildren’s “Italian eyes” are no longer recognisable.58 Paratextually, the photo collage on the cover of the first edition59 goes beyond and illustrates the photographic narrative procedure of ethical dubiousness and solemn sympathy while presenting partly blurred, pixellated black and white pictures that can mainly be classified as dating back to around the thirties (Fig. 2). The soldierly and private pictures prove to be clearly incoherent and fragmentary because of their partly additional framing, their arrangement and their missing annotations. In this way, they contain eyewash which provokes the conjunctiva to wild subjunctives60 through the invisible off. Even and precisely when the writing author may repeatedly be recognisable, it is merely the medial framing that tells us here about its open semantic powers61 which the text of the novel both initiates and imitates. 56

Didi-Huberman, G.: Invention of Hysteria. Charcot and the Photographic Iconography of the Salpêtrière. Transl. by Alisa Hartz. Cambridge 2003, 43. 57 Didi-Huberman, Invention of Hysteria, 73-75. 58 Beyer, Spies, 219, and Beyer, Spione, 246. An analogy between the search for the photographically captured “Italian eyes” and the Barthesesque search for the mother’s portrait is obvious. Barthes substantiates the term punctum with the following meanings: “For punctum is also: sting, speck, cut, little hole – and also a cast of the dice. A photograph’s punctum is that accident which pricks me (but also bruises me, is poignant to me”. Barthes, Camera Lucida, 27. 59 It comes from Jaqueline Merz. On the reverse, a woman is to be seen framed by open aperture blades. The picture, which serves as the title page, appears enlarged, and therefore blurred and dotted. Further editions of the novel show enlarged, partly redcoloured cuttings of the above-mentioned photo collage with a black and white picture of the author in the focus of the title page (cf. Beyer, M.: Spione. Frankfurt a.M. 2010). They also show the unclear drawing or the photo negative of a woman moving away along columns who turns her back on a slightly rounded focus (cf. Beyer, M.: Spione. Frankfurt a.M. 2002) as well as various title letterings, which partly imitate the rounding of a door peephole in single letters in front of and in that cobweb pattern on parchment paper which protects the pages of the discovered album in the novel (cf. Beyer, M.: Spione. Frankfurt a.M./Wien 2001). 60 I owe this optical hint to the review by Robert Habeck, Konjunktiva. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=3425 (01.01.2016). The author clearly points to the “Konjunktive, Modaladverbien und gegenläufige Zeitrichtungen” creating the form and the structure. 61 In a similar way, Harris concludes from the collage: “[T]here is no version of history or ‘the past’ that lies outside of the means by which it is mediated”. Harris, Imag(in)ing the Past, 180-181.

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Fig. 2: A photo collage on the cover of Spione (Spies).

3. Faltering memories: Scraps of reality on this side of and beyond automobile anecdotes Paweł Huelle’s Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala (Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal) begins and ends with a salutation addressed to the Czech author.62 In the meantime, the family history of a learning driver is recounted who is anxiously driving a Fiat through the jammed city of Danzig and trying to overcome his fear and to impress his driving instructor Miss Ciwle by means of anecdotes. As the central theme, the eponymous Mercedes, in particular, but also other vehicles steer the grandparents and their sons in an eventful way through the interwar years, through the time of German and Russian occupation and Socialism until the political transformation. The chat begins to falter when the hard living conditions of Miss Ciwle, who looks after her sick brother, are revealed or when they are talking about deportation and arrest. Furthermore, the narrative flow imitating that of Hrabal is slowed down by the reproduction of eight photos from the author’s archives which are titled with quotations close to the text. This applies to an increased extent to those illustrations which are closely linked to the war and to the Shoah. When towards the end of the novel the nameless first-person narrator links his narrative motivation to spreading out photographs on the desk, repeats the initial salutation and concludes retrospectively: “I wrote in total silence, in no hurry to go anywhere” („pisałem w absolutnym milczeniu, nie 62

His story Večerní kurs (The Driving Lesson) from 1963 serves Huelle in its content and in its form as a narrative model. Hrabal, B.: Perlička na dně. Praha 2000, 7-30.

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spiesząc się dokądkolwiek“),63 this photo-like standstill is less reminiscent of the addressee Hrabal than of a very similar gesture in Thomas Bernhard’s Auslöschung (Extinction).64 Under completely reversed premises, namely filled with hatred, the narrator ‘fantasises’ therein about likewise spread out, however ecphrastically lasting family pictures, vivisections of which lead to a torrent of words about familial and social personality influences.65 Huelle’s alter-ego narrator, however, performs, as it were, remote photo analyses while anecdotally auto(mobilising) snapshots from the family history for his driving instructor – not for nothing is Ciwle anagrammatically reminiscent of chwile (the Polish word for moments) – snapshots which are furthermore presented pictorially to the reading public. These strewn in scraps of reality have repeatedly been devalued as a publishing strategy or as far too decorative,66 however without consideration for their textual imbedding. It is precisely through this that the photographs condense quasi-metaphorically in such a way that they tell about individual passions to a great extent beyond an ethically charged image memory, but ultimately mean their enforced end. Against the optical weakness, this already becomes clear through the blurredness67 of the grandparents’ wedding photo (Fig. 3), which does not provoke the reading eye to speculations about the wedding ceremony in 63

Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 154, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 137. 64 Bernhard, T.: Extinction. Transl. by David McLintock. London 1996, and Bernhard, T.: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt a.M. 1986. 65 With regard to the photographic narrative strategies, cf. Heidemann, G.: Das überbelichtete Ich in Thomas Bernhards Auslöschung. In: Drynda, J. (ed.): Ich-Konstruktionen in der zeitgenössischen österreichischen Literatur. Poznań 2008, 87-102. 66 Thus, Jakub Momro assumes that by the reproduction of old photographs, the publishing house wanted to achieve an antiquarian effect (“pomysł wydawcy, który przydaje książce antykwarycznego klimatu”; Momro, J.: Zakładnik radykalnej nostalgii. In: Dekada Literacka 3-4 (2002), 185-186), describes the reproductions as „zawieszone w znaczeniowej próżni“ (Momro, Zakładnik radykalnej nostalgii, 186) and furthermore, recognises no essential details in the Barthesesque sense. For Andreas Breitenstein, the illustrations remain likewise ‘decorative’, although he discerns an ‘optics’ „die das Balladenhafte mit Düsternis anreichert“. Breitenstein, A.: Die automobilisierte Erinnerung. Pawel Huelle umkurvt die Geschichte im „Mercedes-Benz“. In: Neue Zürcher Zeitung 50 (01.03.2003), 79. When this reviewer describes Mercedes-Benz as a “marktgängiges Produkt” (ibid.), this possibly also results from the dtv edition, whose title page, in contrast to the Polish znak edition, shows a classic picture of this prestigious make of car. Furthermore, in this translation, the captions have partly been greatly shortened and the photographs have partly been trimmed in such a way that important details are missing which are marked narratively in the Polish version. Cf. for example the reference to shadow in Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 82-83, and Huelle, P.: Mercedes-Benz. Aus den Briefen an Hrabal. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. München 2005. 67 Ullrich, W.: Die Geschichte der Unschärfe. Berlin 2009.

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Lemberg as much as it lays an imaginary trace of light to the confession of love. This confession of love occurred when grandfather Karol crashed his Citroën with weak brakes, after a quarrel of the couple, into a milk truck, which grandmother Maria heard about, rushed to the scene of the accident and announced in sight of the “sticky white ooze” („białej mazi“):68 “Karol, my sweetheart, you’re the only man I love in the whole world” („Karolku, tylko jednego ciebie kocham na tym świecie“),69 as also reads the title of the picture.70 With a patina now appearing rather milky than blurred, the illustration therefore lays memory traces which apart from the marriage, ultimately also lead to the acquisition of the Mercedes Benz, the use of which evokes happy snapshots which end with its later confiscation by the Soviets. Fig. 3: Wedding in Lemberg, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal (Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala).

68

Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 24, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 28. 69 Ibid. 70 Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 25, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 27.

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Such a turnaround also marks the nearly non-military, partly blurred photo of the interior of an armoured train which shows four people, some of them smiling, at a set table (Fig. 4). During the reading of the picture and the text, the fact that the photographed grandfather was assigned to this train, as the title of the photo suggests,71 proves less relevant than Karol’s presentiment of war while he is merrily drinking wine together with his wife, which precedes the illustration: “Maria, we’re never going to be happier than this again, we must capture this moment like a fly in amber, perhaps even preserve it for our grandchildren.”72 The preservation in amber is regarded in photo theory as a topos which for example Peter Wollen takes up in Fire and Ice as a crucial property of the frozen picture in contrast to the cinematic picture.73 He ascribes both a narrative and a fictional potential to the first-mentioned, because so-called “still photographs” transfer a fictional diegetic time, “set in the future and in the present as past-of-the future, as well as an in-between near-future from which vantage point the story is told.”74 Fig. 4: Armoured train, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal (Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala).

71

Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 86, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 80. 72 Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 84, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 78. “Marysiu, szczęśliwsi to my już nigdy nie będziemy, trzeba te wszystkie chwile zatrzymać jak owada w bursztynie, przechować może nawet dla naszych wnuków.” 73 “Photographs appear as devices for stopping time and preserving fragments of the past, like flies in amber”. Wollen, P.: Fire and Ice. In: Wells, L. (ed.): The Photography Reader. London 2003, 76-80, here: 79. 74 Wollen, Fire and Ice, 79.

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Leaps in time triggered photographically in this way are performed in Mercedes-Benz by way of reproducing family photos whose once solemn intention as a future remembrance is put into grandfather Karol’s mouth, while in turn the reproduced picture of the armoured train shows the then near future. In this way, narrative flashbacks and previews condense into snapshots whose optical blurredness additionally corresponds here with verbalised ambiguities which problematize the ethical aspect of the soldier’s life. Thus, the caption ends with the hint that the grandfather “still had to fire guns again. Not into the air this time” („znowu musiał strzelać i tym razem nie w powietrze“).75 In the context of the conversation, the driving instructor doubts the shots into the air during the battle of Lemberg, the possibility of which is ultimately left open by her chattering pupil.76 Fig. 5: Family snapshot, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal (MercedesBenz. Z listów do Hrabala).

An apparently nostalgic snapshot of the family car passion also turns out only by the retrospective title of the picture as a gloomy anticipation of the near future. It concerns “the last picture [Grandfather] ever took in pre-war Poland” („ostatnie zdjęcie, jakie [dziadek] pstryknął w tamtej Polsce“),77 75

Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 85, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 80. 76 Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 85, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 79. 77 Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 88, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 82-83.

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which shows his wife together with their two sons in front of the Mercedes (Fig. 5). When attention also is drawn to the photographer’s shadow in the capition, it concerns in this respect a distressing contingency detail that his grandson is affected by this dark trace of both presence and absence as “an omen of things to come, it was like Grandfather’s silent absence for the next few years” („zapowiedź nadchodzących wydarzeń, […] milcząca nieobecność dziadka przez parę najbliższych lat“).78 The discovery of this Barthesesque punctum as an “accident which pricks me (but also bruises me, is poignant to me)”,79 is accompanied by a meaningful haptic gesture. Touching the yellowed cardboard refers to Bronstein,80 from whose photographic shop the grandfather obtained his utensils. This occurs for the last time under German occupation when Karol does not appear at his old workplace, but instead devotes himself to his photo archives. The report ends with the mention of Bronstein’s horrible end “in a mass death-pit” („w masowym dole śmierci“)81 and of the “three-figure number” („trzycyfrowy numer“)82 which the later returned grandfather wore on his prison clothes in Auschwitz. Although collective memory images of the Shoah are quoted here, the dreadful fate of both men ultimately shifts to the reproduction of a worn advertising envelope of Bronstein’s photographic shop (Fig. 6),83 which the narrator feels both with his hands and with his eyes in his state of being high on drugs and on writing.84 Thus, while smoking a night joint with Miss Ciwle, he imagines, among other things, a joint visit to the grandparents’ garden and house flooded by the summer sun, where he picks up that envelope from the floor, in which he finds a piece of photographic paper which is unexposed, but which is annotated by Karol. This repeated shift finally leads to a textual condensation of the grandfather’s deportation to Auschwitz, while the following apocryphal quotation is to be read there: “They took me away to a place where the creatures looked like burning fire, but could assume the appearance of people if they chose to.” („Zabrali mnie i zawieźli na miejsce, 78

Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 90, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 82. 79 Barthes, Camera Lucida, 36. 80 The family name Bronstein refers to the preserving quality of amber (the German word for amber is “Bernstein”). 81 Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 101, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 93. 82 Ibid. 83 This narrative trick is partly criticised as far too constructed. Cf. for example Winter, B.: Fahrschule der Erinnerung. Achterbahnfahrten. Mit seinem Sprachwall überflutet Pawel Huelle in “Mercedes Benz” die Spuren der Vergangenheit. In: der Freitag (21.02.2003). http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/fahrschule-der-erinnerung (01.01.2016). 84 Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 123ff., and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 106-107.

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gdzie istoty wyglądały jak płonący ogień, ale gdy zechciały, przybierały wygląd ludzi.“)85 Fig. 6: Envelope, MercedesBenz. From Letters to Hrabal (Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala).

By means of the view of hell quoted from the Book of Enoch, a replacement of the light writing from the family archives by the traces of writing regarded as secret and hidden occurs. The missing exposure signals a rejection of photographic memories of the Shoah,86 whose place is taken by a semantically charged paper envelope on which the author meaningfully spreads out the 85

Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 118, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 107, and cf. Book of Enoch, The First Journey, Chapter XVII. 86 Contrary to this, cf. Didi-Huberman, G.: Images in Spite of All: Four Photographs from Auschwitz. Transl. by Shane B. Lillis. Chicago 2012.

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family photos that precede it in time before he starts writing.87 In view of the scraps of reality hidden and disclosed in this way, a feigned chatty tone begins which falters again and again during the picture show until this gesture points to the reproduction of those advertising brochures which advertise – of all things – photographs that for murderous reasons could no longer be taken. While precisely this photographic enforced blockade suffuses the automobile anecdotes and the strewn in private pictures that are being shown by the young grandparents, the ethical dimension inherent in them increases. In Mercedes-Benz, reproduced eyewitness reports are indeed present, but the narration moves away again and again from their graphic framing in a scattering, quasi-centrifugal countermovement, while simultaneously an erasing as well as a retaining Aufhebung88 – zdjęcie89 – are attached to the pictures. Spies, however, tends to a centripetal narrative style in which, above all, the retrospectives are framed and bundled up by means of visual aids in such a way that they ultimately dissolve. Both Beyer’s and Huelle’s family novels, create an interplay of visibility and invisibility by means of photographic gestures that confuse the relationship between Ethos und Pathos. Non-existent photos call this liaison completely into question, paradoxically, while, like in Spies, addressing a discovered photo album. Selected and even printed family photos, like in Mercedes-Benz, equally tend to ask this question because they at the same time produce and slow down the narration.

87

Huelle, Mercedes-Benz. From Letters to Hrabal, 154, and Huelle, Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala, 137. 88 This is a reference to Hegel’s dialectics. The German noun Aufhebung is derived from the verb aufheben, which means to elevate, to preserve and to nullify. In particular the two contrary meanings to preserve and to nullify are taken up here. 89 This is the Polish word both for photograph as well as for a kind of sublimation.

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The Magnitofon and the Rhetoric of Soviet Broadcasting1 In the autumn of 1945, the scriptwriter Mark Tseitlin and the journalist Boris Iagling proposed a ‘new form of radio report’. Their idea was to introduce a new comic hero. Like a well-known American counterpart, he would be hyperactive, speak in a squeaky voice, and have gigantic ears. He would go out and about, interviewing Soviet people on trains, in worker clubs, at home, in maternity wards, and simply on the street. His name would be Microphone.2 No doubt this new concept owed much to the high spirits of the immediate postwar moment and to the brief cordial relationship between the Soviet Union and the United States. Eight months earlier the head of the Radio Committee had squashed the idea for a series entitled Taking a Microphone around Moscow; six months later it would be hard to imagine Soviet scriptwriters citing Mickey Mouse as their inspiration.3 But Tseitlin and Iagling’s proposal, and their script for a New Year’s broadcast, reflected the exciting power of a new technology. The roving microphone could reach parts of Soviet life inaccessible to sound cinema. With compelling immediacy it brought listeners into contact with Soviet people in all walks of life. Scornful of the presenter’s efforts to keep him cooped up in the studio, Microphone set out on his mission to roam. On New Year’s Eve, he observed writers sipping champagne in the Central House for Workers in the Arts; met the first child born in 1946; heard Dmitrii Shostakovich play the piano on a home visit to the composer; and spoke to a demobilized soldier on the train from Vladivostok as it neared the capital.4 Existing accounts of postwar Soviet radio have a teleological character: with dismal inevitability, they show Soviet broadcasting facing and failing the challenge of mass-cultural competition from the Cold War adversary. The example of ‘Mickey Microphone’, however, suggests that at least some Soviet broadcasters in 1945 were more cutting edge than blunt instrument. 1

I am grateful for the hospitality of the Kulturwissenschaftliches Kolleg, University of Konstanz, where this article was written in 2012/13. 2 RGALI (Rossiiskii gosudarstvennyi arkhiv literatury i iskusstva), f. 2965 (Mark Zakharovich Tseitlin), op. 1, d. 34, ll. 1-2. 3 A. Puzin, at a meeting of 21 February 1945: GARF (Gosudarstvennyi arkhiv Rossiiskoi Federatsii), f. 6903, op. 1, d. 110, l. 56. 4 For the script of the New Year’s broadcast, see RGALI, f. 2965, op. 1, d. 34, ll. 3-19.

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Not only had they gained crucial know-how over the previous decade, they also benefited from the newly acquired status of their medium. At war’s end the prestige of radio had never been higher, and if anything it rose further in the following two decades. In the late 1940s, the government launched a campaign to make radio accessible to the entire Soviet population; by 1960 it would claim that full ‘radiofication’ had been achieved. The period 1945-65 – from the end of the war to the displacement of radio by television as the primary medium of Soviet mass culture – has a strong claim to be considered radio’s Golden Age. During the war, broadcasters’ stylistic repertoire was still limited by the imperative to mobilize listeners and to maintain military discipline – and by the desperate shortage of time and resources during the war. Many practitioners were clear-sighted about the inadequacies of Soviet radio. A regular source of complaint and (self-)criticism was the practice of taking material wholesale from the newspapers.5 Yet, when broadcasters tried to compensate for the dryness of their texts, they sometimes rushed to the opposite extreme: they did not read out the material but ‘declaimed’ it with ‘incredible pomposity and pathos’.6 Early in 1945, the thoughts of radio professionals could turn to how their medium might be revitalized for the coming new era: by diversifying broadcasting formats and by increasing the quality of performance both of music and of the spoken word.7 In summer 1945, radio received an early postwar test when Stalin personally instructed that the parade of 24 June should be made a major broadcasting occasion. The radio workers who gathered to discuss the event little more than a week beforehand were already pressed for time: the text of the broadcast had to be submitted in advance for editing and authorization, and that meant a deadline of the evening of 19 June. Time pressure, however, was nothing new for wartime broadcasters. A more unfamiliar challenge was the need to find a fresh and compelling way of narrating the event. Previous setpiece public events – May Day, Revolution Day – had been carefully staged and choreographed. Radio commentators always had plenty of detail to give listeners and faced little risk of discrepancy between script and event. This time, however, the production values of the parade would be more modest. At the same time, it was important to find an alternative to the high-flown account that radio had given of the recent May Day parade. Broadcasters needed to break up political commentary into shorter sections of text, with regular changes of voice and of scene. Telephone points would be set up in central Moscow for reporters to give ground-level accounts; as they did so, 5

For examples of this complaint from meetings of October 1944 and June 1946, see GARF, f. 6903, op. 1, d. 94, ll. 7-8, 25; f. 6903, op. 1, d. 157, ll. 4-6. 6 The quotation is from a meeting of 1 August 1944: GARF, f. 6903, op. 1, d. 89, l. 16. 7 GARF, f. 6903, op. 1, d. 106 (meeting of 7 February 1945).

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moreover, they should make the listener imagine they were not reading a prepared text.8 Whether this last ambition was achieved is, however, quite another matter. One of the speakers at the June meeting raised a heartfelt objection: “I have been improvising at the microphone for six or seven years, but you don’t produce much natural conversation that way, because you get so tense at the thought of millions of people listening to you that you feel horribly constrained”.9 Here, in a nutshell, was the perennial dilemma of Soviet broadcasters: radio was meant to be a charismatic force for mobilization but it was also strictly controlled, and the penalties for even minor error were severe.

1. Adopting the magnitofon In the postwar era, however, a new technology arrived to ease the plight of Soviet broadcasters: mobile and reasonably user-friendly recording equipment (the magnetic tape recorder, or magnitofon). Before the war, the vast majority of non-musical programmes (and a fairly large majority even of music broadcasts) had gone out live: recording equipment was not advanced enough to permit much footage or careful studio editing. The situation began to change with the arrival of the first ‘trophy’ recorders, which as well as being easier to work with offered vastly better sound quality.10 The tape recorder held the potential to transform Soviet broadcasting practice: in theory at least, the more adventurous journalists could now depart from the leaden Stalinist formula of scripted ‘declarations’ (vystupleniia) and strive for a more natural and persuasive broadcasting style. A technology for sound recording had existed in the USSR since the late 1920s. Named the ‘shorinophone’ (after the inventor A.F. Shorin), it adapted cinema film for recording sound.11 A mobile version of this equipment took some time to develop, though during the war it was used to record some 8

GARF, f. 6903, op. 1, d. 118 (meeting of 15 June 1945). „Я лет 6-7 импровизировал у микрофона и от этого живого разговора получается не очень много, потому что до такой степени напрягаешься от ощущения, что тебя слушают несколько миллионов людей, что это чудовищно связывает.“ GARF, f. 6903, op. 1, d. 118, l. 20. 10 As noted especially by music broadcasters: see GARF, f. 6903, op. 1, d. 161, ll. 4-5 (meeting of music department, 24 January 1946). For a later account, see Shalashnikov, M.: V dni, kogda ne bylo magnitofonov... In: Sovetskoe radio i televidenie 5 (1961), 35-36. 11 In fact, the Leningrad-based Shorin developed his machine at the same time (and independently of) the Moscow-based P. Tager. As usual with such inventions, there is some dispute as to who has the strongest claim to primacy. See Zakharine, D.: Tonfil’ma kak zvukovoe oruzhie. Rannii opyt sovetskogo zvukovogo kino. In: Die Welt der Slaven 54 (2009), 244-245. 9

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important footage. The drawback of the shorinophone was that editing was extremely time-consuming and cumbersome: producing broadcasts this way might be possible for a few high-profile events, but it could hardly become routine. An alternative recording technology that appeared during the war was the American ‘Presto’ machine, which recorded straight on to disk; this was how the first Soviet report on the fall of Berlin was made. In January 1943, a discussion among editors and journalists in the Radio Committee made abundantly clear that the existing recording technology (the shorinophone) was not sufficient – whether in quantity or in sound quality – to provide a supply of fresh footage for wartime news broadcasts. The luminaries of the Soviet broadcasting profession – prominent among them Vadim Siniavskii – were already straining at the leash, wanting to serve up material to the listener without the usual time delays and contrivances of Soviet radio.12 Wartime radio workers also faced the now traditional problem of producing a Soviet vox pop that was both authentic and ideologically impeccable. In practice, they often compromised on the former goal. Even the popular Letters to and from the Front, which accounted for 10 daily broadcasts amounting to 2 hours 30 minutes and drew an average of 30,000 letters per month to the Radio Committee, did not always succeed in preserving the ‘individuality’ of letter writers in the process of ‘literary reworking’ of texts for broadcasting. ‘Newspaper formulas’, ‘political slogans’ and ‘clichéd phrases’ were the order of the day.13 Individual pathos had not yet gained a secure place in the collective Soviet ethos. Throughout the war, the scale of recording was limited by material scarcity. In February 1945, the head of the Radio Committee, A. Puzin, noted that good-quality imported disks for recording had almost run out, and that they should only be used for special occasions such as speeches by political leaders or selected musical performances.14 Already convinced of the long-term advantages of the magnitofon over Presto disks, in July 1945 he wrote to Georgii Malenkov to note that supplies of magnetic tape brought back from Germany were running out already. As a temporary solution, Puzin requested permission to move back to Moscow a stockpile of 50,000 music recordings on magnetic tape that had been discovered in Prague; he would need five train carriages for the purpose.15 In the immediate postwar years, radio officials would regularly complain about the shortage of necessary equipment. In July 1946, Puzin wrote again to Malenkov to lobby for the increased production of magnitofony, which in 12

GARF, f. 6903, op. 1, d. 62, ll. 27-28 (for Siniavskii’s contribution to the discussion). GARF, f. 6903, op. 1, d. 70, ll. 5-6 (report on ‘Pis’ma na front i s fronta, 15 July – 15 August 1942). 14 GARF, f. 6903, op. 1, d. 105, l. 84. 15 GARF, f. 6903, op. 1, d. 104, l. 51. 13

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his view offered a quality of reproduction indistinguishable from live performance.16 At this point the Radio Committee had at its disposal 36 studio tape recorders and eight mobile sets.17 Evidently, this did not stretch very far: early in 1950, there was not enough equipment to record statements from Soviet citizens in more than three electoral districts.18 On Moscow radio, the first mobile magnitofony appeared just after the war and were reserved for especially important expeditions. Nor were they particularly mobile: together with the batteries and other supporting equipment, they weighed 100 kilos.19 Technical support was inadequate, and broadcasters did not always make best use of their new tool. One of the speakers at the musicians’ meeting of 24 January 1946 adopted topical hyperbole in his assessment of the use made of the new recording technology: “fate has delivered into our hands an atomic bomb, but we treat it like barbarians”.20 Perhaps the most striking illustration of the limited technological capacity of Soviet broadcasting in the immediate postwar period is an account by Mikhail Gus of his work as a correspondent at the Nuremberg Trials. According to Gus, the Soviet team was the envy of their Western colleagues, as they were the only delegation to have their own separate office space and studio. They had recording equipment, two lines from the courtroom providing the speeches in the original language and in Russian translation, and – best of all – a direct telephone line to Moscow. Yet tape was in such short supply that the Soviets were not able to record proceedings in their entirety but had to limit themselves to the speeches and cross-examinations by the Soviet prosecutors; unlike the British or the Americans, moreover, the Soviets were not able to broadcast direct from Nuremberg but had to send everything back to Moscow.21 Yet, although technology might often lag behind broadcasters’ ambitions, pre-recording was fast becoming the new standard practice on postwar Soviet radio. At the start of March 1946, a conference in the Radio Committee 16

GARF, f. 6903, op. 1, d. 136, ll. 12-16. RGASPI (Rossiiskii gosudarstvennyi arkhiv sotsial’no-politicheskoi istorii), f. 17, op. 125, d. 470, ll. 54-55. 18 RGASPI, f. 17, op. 132, d. 432, l. 141 (party meeting in Radio Committee, 1 February 1950). 19 Letunov, Iu.: Vremia. Liudi. Mikrofon. Moscow 1974, 92. On the similarly bulky recording equipment owned by Vladivostok radio in 1948, see Gromov, G.: Kak nabivat’ matrasy morskoi vodoi. In: Nemnogo o radio i o nas s vami. Vladivostok 2001, 22-25. 20 „Судьба дала нам в руки атомную бомбу, но мы варварски с ней обращаемся.“ GARF, f. 6903, op. 1, d. 161, l. 18. 21 Otchet Ia. Gusa o rabote korrespondentskogo punkta radiokomiteta na Niurnbergskom protsesse (1946). In: Goriaeva, T.M. (ed.): “Velikaia kniga dnia”: Radio v SSSR. Dokumenty i materialy. Moscow 2007, 119-121. It appears that ‘Ia. Gus’ is a misprint in this source, and that M. Gus is meant. 17

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thoroughly debated the available techniques for sound recording. The background to the discussion was the ambition to fill 80 per cent of broadcasting time with recordings by the end of the first postwar five-year plan, which implied that 5000 hours of new material would have to be recorded each year. The clear majority of speakers came out in favour of magnetic tape. It offered reliable quality, allowed for rapid editing, and (unlike sound film) did not present a fire risk; nor was it affected by damp or by temperature changes. Even if, given the absence of alternatives, tonfil’m would have to be retained in regional broadcasting centers for some while longer, in the long term the magnitofon was the preferred option. Technicians were already ‘85 per cent’ of the way to designing a Soviet tape recorder that would match its German equivalents, and production plans for 1946 would be adjusted in favour of magnetic tape.22 A few days later, a speaker at another meeting in the Radio Committee commented quite simply that “the tape recorder has now become our main means of recording”.23 By the early 1950s, moreover, the magnitofon had joined the radio set as a focus for the energies of Soviet amateur inventors (which rather suggests that state production still left something to be desired).24 With the advent of the tape recorder, sound became storable and controllable as never before. In November 1945, the Radio Committee issued a decree on procedure: particularly valuable gramophone records were to be transferred to tape, and sound interference in the original recordings was to be eliminated in the process; important concert and theatre performances were to be recorded; and at least two copies were to be made. At the same time, resources remained scarce: in the interests of saving precious tape, speech was to be recorded only after the text had received prior approval, and such recordings were to be wiped after a week unless there were instructions to the contrary.25 For the first time, Soviet broadcasters had to think systematically about creating and maintaining a sound archive. The music department set about establishing a core repertoire of the Russian classics that could be stored securely on tape. The same issue confronted talk radio. As the children’s producer Roza Ioffe noted in November 1948, after two years’ experience of working with the new recording technology, it was high time to start identifying programmes of special significance. These should be recorded at the highest possible standard and carefully stored.26 There were, admittedly, two 22

GARF, f. 6903, op. 1, d. 159. „Магнитофон сейчас превратился у нас в основное средство записи.“ GARF, f. 6903, op. 1, d. 143, l. 37. 24 Volkov, A.: Zvukozapis’ na 10-i Vsesoiuznoi radiovystavke. In: Radio 12 (1952), 42-44. 25 Goriaeva, “Velikaia kniga dnia”, 113-114. 26 Ioffe’s memo published in Goriaeva, “Velikaia kniga dnia”, 799-800. 23

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practical complications. The first was that, in the early postwar era, no one was quite sure how long magnetic tape could be expected to keep. The Germans, who led the world in this new technology, tended to re-record material every 2-3 years. The Soviets, however, were concerned with saving resources. They were still making some use of the cheaper tonfil’m, even though it offered inferior recording quality. Magnetic tape was still to be strictly rationed: in January 1947, Puzin firmly reminded his colleagues of the stipulation that speech recordings be erased after seven days unless earmarked for archiving.27 In the late Stalin era, the authorities quickly sought to exploit the potential of sound recording for controlling content and eliminating even the remotest possibility of error. As the secretary of the Radio Committee’s party bureau wrote to Malenkov in December 1950, “state interests demand that the Radio Committee should immediately start broadcasting all material in prerecorded form”. It was unacceptable, for example, that 10 of the 32 Soviet studios broadcasting to the outside world lacked facilities to tape programmes in advance. Broadcasts to such crucial countries as China, Germany and France went out live – with the consequent possibility of embarrassing slips.28 Even so, it was clear that pre-recording had already made serious inroads into the Soviet schedule. The plan for 1949, for example, projected that 65 per cent of music programming would consist of recordings (as compared with around 25 per cent just before the war).29 The magnitofon continued to make progress in the 1950s. In early 1953 none other than Nikita Khrushchev wrote to the Presidium of the Council of Ministers to recommend launching production of tape recorders in a Moscow factory in view of the “growing demand for sound recording equipment for the propaganda of political and scientific-technical knowledge and the extensive organizing of cultural enlightenment events among the population”.30 In January 1954 Puzin reported to Khrushchev, now First Secretary, the latest invention in the field of sound recording: a portable tape recorder, weighing a mere 5 kilograms, which would cost 500-600 rubles if authorized for mass production. The proposal again met a sympathetic ear: on 9 February 1954,

27

GARF, f. 6903, op. 1, d. 180, ll. 31, 47-48. RGASPI, f. 17, op. 132, d. 434, ll. 103-104. The quotation is on l. 104: “Государственные интересы требуют, чтобы Комитет Радиовещания немедленно приступил к передаче всех материалов в эфир только в записи на пленку.“ 29 RGASPI, f. 17, op. 132, d. 93, l. 10. 30 „В связи с возросшей потребностью в звукозаписывающей аппаратуре для пропаганды политических, научно-технических знаний и широкого проведения культурно-просветительских мероприятий среди населения… целесообразно организовать производство и освоить выпуск магнитофонов на одном из предприятий местной промышленности города Москвы.“ GARF, f. 6903, op. 1, d. 425, l. 33. 28

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the Council of Ministers duly passed a decree on organizing production of magnitofony for the general public.31 Yet, to judge by a further discussion in the Radio Committee early the following year, progress in this area was modest. It was taking a very long time for the relevant ministry to develop a viable model of tape recorder. Soviet broadcasters were still relying on the magnetic tape they received from Germany – which was of much lower quality than American tape.32 At a conference in April 1957, news reporters delivered a now familiar litany of complaints about the quality of Soviet tape recorders and the shortage of equipment. As one participant recalled, he had been ready to “jump for joy” when he received a ‘Dnepr-8’ tape recorder the previous year. But after only two recordings he realized that it was unusable. Reporters from other regions had no mobile recording equipment at all. Under such conditions, and given the continuing taboo on non-standard speech, the only viable solution was to script material and hand it over to the announcers. The number of news reporters (a mere 70) was inadequate to cover the vast expanses of the country, and at the same time money for trips was short. At times in the meeting, the frustrations of reporters boiled over into resentment towards producers and administrators: “you have an arrogant attitude to us … Reporters run around, spend all night writing a piece, and then they just get a pat on the shoulder … We want to get on with you, and you couldn’t care less”.33 By the early 1960s, Soviet industry seems to have catered rather better to the needs of its broadcasters. The authorities could be more generous in their allocation of magnetic tape to regional and republican radio committees. In June 1963, for example, the head of the Estonian radio committee was informed that his annual allocation would increase by more than 25 per cent (even though the amount of broadcasting time had not increased).34 Recording technology had improved further. In 1961, the Institute of Sound Recording reflected on the progress it had made since 1954. Its first model of reporter’s tape recorder was spring-mounted and had to be wound up; this was not a great success. Then came the model ‘Reporter-2’ with an electric motor. Now there was a third generation of tape recorder that used semiconductors and weighed two kilos less than its immediate predecessor. All the same, at a conference of radio journalists a representative of the institute faced plenty of skepticism regarding the convenience of the new technology. 31

RGANI (Rossiiskii gosudarstvennyi arkhiv noveishei istorii), f. 5, op. 16, d. 663, ll. 48-49. GARF, f. 6903, op. 1, d. 475, ll. 6, 9 (meeting of 14 January 1955). 33 GARF, f. 6903, op. 1, d. 537, ll. 9, 12, 21. Quotation on l. 21: „У вас чванливое отношение к нам … Репортер бегает, просидит всю ночь над заметкой, а потом его похлопают по плечу. У вас пренебрежение рвется из вас … Мы хотим с вами дружить, а у вас наплевательское отношение.“ 34 ERA.R (Estonian Historical Archives), 1590.4.329.10. 32

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His reply betrayed the mild exasperation of Q introducing the latest lethal gadget to an unappreciative James Bond: “You would like to have a matchbox, very high quality … for it to record for an hour or two. You are right, we know this perfectly well, this is the ideal we’re also striving for.”35 In the postwar era tape recorders spread even to the remoter regional centers. During the war announcers in Syktykvar, capital of the Komi Republic, had operated under trying conditions: in a freezing cold studio they would read out newspaper articles and the latest announcements from Sovinformbiuro, often without having the chance to use them in advance and check for errors in the printed text. Music was broadcasted by placing the gramophone next to the microphone: the announcer would read out the title of the piece and then run over to put the record in. In 1944, however, the first tape recorder appeared in the Komi studio. The first models were all ‘trophy’, but then they received a home-produced ‘Dnepr’ (which weighed 100 kg, and sometimes had literally to be dragged around rural parts of the region). In 1951 a minor milestone occurred with the acquisition of high-quality MEZ-2 recording equipment for use in the studio.36 In the Far East, the Khabarovsk radio committee received its first tape recorder in 1948: all told, the equipment weighed 75 kilos. In the early 1950s it acquired a Dnepr recorder that could actually be carried by one person (it weighed a mere 25 kilos); a little later came the Dnepr-2, which was only 5 kilos but had to be wound up like an oldfashioned gramophone and had a habit of breaking down in the process.37 Improved models would continue to appear right up to the ‘Reporter-7’, a lighter model of recorder that became available after the 1980 Olympics.38

2. Broadcasting practice in the post-Stalin era: how Soviet radio thawed Yet the question remained of what the new technology would mean for broadcasting practice. The spread of pre-recording was good news for the authorities, who could now ensure that broadcasters did not misspeak or otherwise step out of line. Now there would be fewer sabotage scares. But the mere avoidance of error was not enough. A perennial complaint of 35

GARF, f. 6903, op. 1, d. 713, ll. 174-178. Quotation on l. 178: „Вы бы хотели иметь спичечную коробку, очень высокого качества, как радиовещательный магнитофон, чтобы он мог писать один-два часа. Вы правы, мы это прекрасно знаем, это идеал, к которому мы тоже стремимся.“ 36 See the various short memoirs in Radio: Vremia i liudi. Syktyvkar 2001, 27-30, 41-43, 51. 37 Pogartsev, V.V.: Stanovlenie i razvitie sistemy radioveshchaniia na Dal’nem vostoke Rossii (1901-1956 gg.). Candidate’s dissertation, Khabarovsk 2006, 146-147. 38 Solov’eva, N.: Ne byt’ podstavkoi k mikrofonu. In: Nemnogo o radio, 68-71.

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broadcasters and officials alike was that Soviet radio was dreary: the language was heavy and bureaucratic, sentences were long and complex, listeners were bombarded with facts and statistics. Ethos buried pathos. How were broadcasters to remain word-perfect and politically impeccable while at the same time sounding engaging and authentically popular? In the postwar era a number of radio journalists drew on both their wartime experience and new recording technology to find their own answers to this age-old conundrum of Soviet cultural production. One of the pioneers was Lazar’ Magrachev, who started his career on the radio in 1937 having made an impression by a report he had written on the factory where he worked as a lathe-operator. In those days, he later recalled, broadcasters took enormous trouble preparing programmes, and only trained announcers were allowed to speak at the microphone. Back then, speaking into the microphone was a real art: if you spoke too quietly, you risked disappearing in the ether; if you spoke too loudly, you risked damaging the equipment.39 Magrachev’s work habits were transformed by the outbreak of war. Within hours of the German attack, ordinary Leningraders were given the microphone to express their commitment to the war effort. Magrachev threw himself into the cause, proving himself an intrepid reporter and gathering a substantial archive of sounds and voices from besieged Leningrad. His opportunities for gathering material increased greatly when he gained access to Leningrad’s ‘trophy’ tape recorder just after the war. He was able to explore the possibilities of sound to supplement the human voice: one of his reports was interrupted by an explosion as the last barricade set up in the city was blown up; on another occasion he broke the atmospheric silence of the reading room to mark the 125th anniversary of Leningrad’s Public Library. But Magrachev was interested less in adventurous sound effects than in achieving a new quality of interview: instead of the stilted, scripted Stalin-era vystuplenie (statement), he wanted his subjects to sound spontaneous. As he later confessed of his early career on radio, “sometimes I simply tormented my interviewees by rehearsing them to make their intonation natural”. Given that broadcasts were no longer going out live, he could now experiment with unscripted interviews. His first attempt came on 17 May 1946, and was by his own account not a success. He often found it difficult to persuade interviewees to depart from their prepared text. A report on the award of the first postwar ‘gold medals’ for Leningrad schoolchildren, for example, was fully scripted and choreographed and featured the Stalinist equivalent of Oscar acceptance speeches from the high-achieving youngsters.40

39 40

Magrachev, L.: Siuzhety, sochinennye zhizn’iu. Moscow 1972, 5-6. TsGALI SPb (Tsentral’nyi gosudarstvennyi arkhiv literatury i iskusstva SanktPeterburga), f. 293, op. 2, d. 2287, ll. 1-5 (5 January 1946).

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However, in the 1950s upon returning to the radio after an enforced absence due to the anti-Semitic purges of the late Stalin era, Magrachev became an acknowledged master of Soviet ‘human interest’ radio. He crashed the 50th wedding anniversary of a sailor who had written to him with a song request; he attended a geography exam in a Leningrad school; he interviewed a former pickpocket and camp inmate who had become a model worker; he tracked down an exemplary milkmaid, the subject of an earlier radio feature, who had mysteriously left the collective farm for the city (it turned out that her heart had been broken by a man back in the village, but that she was now pining for home).41 A younger colleague later remembered him for his perfectionism (mixed with vanity). By the late 1950s, Magrachev had withdrawn from day-to-day reporting and concentrated instead on more elaborate feature broadcasts. He still rehearsed his interviewees exhaustively, on one occasion becoming so exasperated with an inarticulate subject that he ran out of the studio and burst into tears. In the cutting room he was absolutely meticulous. He also enjoyed dramatic pauses, had a weakness for happy endings, and was no stranger to artistic license.42 Even after his reinstatement and rehabilitation in the 1950s, Magrachev was always a maverick figure. The relative freshness of his material is placed in sharp relief by the far more anodyne reports of Matvei Frolov, another well-known journalist working in the same genre.43 Well into the ‘Thaw’ period, many staple items in the schedule were recognizable in generic terms from the Stalin era. The decree sent out by the All-Union Radio Committee on coverage of the elections to the Supreme Soviet in 1958 allotted to the media their familiar role in projecting Soviet ‘democracy’: broadcasters were to prepare reports from the electoral meetings where candidates were selected and then to bring the candidates themselves to the microphone, while also profiling them and reporting on their meetings with voters.44 41

Examples in this and the previous paragraph drawn from three books by Magrachev, L.: Vstrechi u mikrofona. Moscow 1959, 4-5, 12, 16, 18-25, 86-88; Golosa zhizni: Iz zapisnoi knizhki radiozhurnalista. Leningrad 1962, 5; and Siuzhety, sochinennye zhizn’iu, 61-65, 181. Quotation from the last of these books, p. 181: „надо признаться, что я иногда просто замучивал своих собеседников, репетируя с ними и добиваясь естественности их интонаций.“ 42 Markhasev, L.: Belki v kolese: Zapiski iz Doma radio. St Petersburg 2004, 149, 154-157. 43 Frolov, M.: Reporter u mikrofona. Leningrad 1966. On Frolov as the epitome of Soviet ‘good news’ journalism, see Markhasev, Belki v kolese, 171. See also the collection of short memoirs on Frolov, M.: Vol’nyi syn efira: Reportazh-vospominanie. St Petersburg 1997. 44 Ob osveshchenii po radio i televideniiu izbiratel’noi kampanii po vyboram v Verkhovnyi sovet SSSR (15 January 1958), ERA.R, 1590.4.109.2-9. I came across this document in the archive of the Estonian radio committee, but presumably it was filed away in every other republican committee as well.

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Soviet broadcasters in the 1950s were an understandably risk-averse group. They had long been taught that the main criterion for a successful vystuplenie was that they select an ‘advanced’ (peredovoi) member of Soviet society.45 Radio journalists did not necessarily relish their own broadcasting style – to judge by editorial discussions in the early 1950s, they constantly berated each other for colourless news broadcasts, cliché-ridden reports, and overabundant statements from Stakhanovite workers who had overfulfilled their norms – yet it was hard to imagine how things might be otherwise. This was still a time when the phrase ‘enemy of the people’ was being hurled around staff meetings. Nor did the death of Stalin make things more straightforward, at least in the short term. How should the meetings in the city to mourn the dictator be reported? How solemn a tone should be struck when discussing Stalin? In Leningrad, M.N. Melaned, the ‘Leningrad Levitan’, had been fired for coughing while broadcasting the news of Stalin’s death, and was lucky to avoid more severe punishment.46 The whole culture and propaganda industry was on edge at this time. A bulletin of 4 March 1953 on Stalin’s fading health had reportedly been disrupted by a few foreign words, probably in English, that ended with the word ‘America’. In early August 1953, the propaganda department of the Central Committee received a report that a pronunciation error had been made at one of the most prominent moments in the radio schedule: in the second word of the Soviet national anthem, which had been heard as nerulimyi (unsteerable) rather than the correct nerushimyi (unbreakable). The initial instruction was to re-record the anthem, but further investigation revealed that existing recordings were all correct – it was just that the sibilant sh had a tendency to be distorted in transmission.47 Later on in the 1950s, although the penalties for erring on air were no longer so severe, broadcasters quickly became nervy when the question arose of who might have to take responsibility for glitches. A perennial complaint from announcers was that they received the text for broadcast too late to prepare themselves adequately.48 45

Late Stalinist attempts to render the vox pop are discussed in Il’ina, A.: Ob opyte raboty redaktsii “Poslednikh izvestii” nakanune i v dni XIX s”ezda partii. In: V pomoshch’ mestnomu radioveshchaniiu 5 (1952), 16-19, and Krylov, A.: Nerushimoe slovo tovarishchu Stalinu (o radiokompozitsiiakh, podgotovlennykh mestnymi komitetami radioinformatsii). In: V pomoshch’ mestnomu radioveshchaniiu 6 (1952), 6-11. 46 According to one colleague, the head of the Leningrad radio committee had Melaned put in a psychiatric unit for a month, presumably as a way of protecting him from worse sanctions. V’iunik, A. A.: V “Poslednikh izvestiiakh”: 50-e gody. In: Palladin, P. A./Zeger, M. G./V’iunik, A. A. (eds.): Leningradskoe radio: Ot blokady do “ottepeli”. Moscow 1991, 141. 47 RGANI, f. 5, op. 16, d. 643, ll. 44-45, 82-84. 48 See one bad-tempered discussion among Moscow broadcasters in October 1957, at TsAOPIM (Tsentral’nyi arkhiv obshchestvenno-politicheskoi istorii Moskvy), f. 2930, op. 1, d. 1, l. 14.

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Yet, for all the accumulated fear and inertia, not to mention the constraints of preliminary censorship, the life of a reporter in the 1950s could be invigorating. With the end of the worst forms of Stalinist exploitation, radio correspondents were no longer obliged to perpetrate acts of outrageous dishonesty such as ignoring the fact that the labour force on the Volga-Don canal project of the early 1950s consisted mainly of prisoners. After Stalin’s death, broadcasting could become more open and engaging. Leningrad radio pioneered a weekly half-hour survey of news in the city, which was found to be an engaging format and soon adopted by central radio. Live reports from stations, metro tunnels, construction sites and the like might seem tame in retrospect, but they were evidently exciting experiences for Soviet reporters, who had to think on their feet and adapt to circumstances. All in all, the 1950s would later be remembered by broadcasters as an optimistic time: their audience was huge, the schedule was filling up with broadcasts by well-loved writers, performers and sports commentators, and the possibilities of radio seemed to be growing by the year.49 Transcripts of Party meetings in Leningrad radio in 1956 reveal just how far the atmosphere had changed. In the spring and summer of that year, Leningrad broadcasters, like Party members in other fields, wrestled with the question of how exactly to interpret Khrushchev’s denunciation of the ‘cult of personality’ at the 20th Party Congress. They also discussed the new forms and styles that might best correspond to the new mood in the country. As one speaker observed, the key question was “how to speak to radio listeners?”. Too often, in her view, “programmes where everything is as it should be get the green light, but if you try to find they key to the listener’s heart, you run into difficulties”. She cited specifically a recent case where a programme by Magrachev on teenage relationships had been suppressed by the supervising editor.50 In the late Stalin period, Magrachev had struggled in vain to keep his job. In 1956, however, he could be entirely forthright in defending his way of doing things: “We have no right”, he told his Party comrades at the end of March 1956, “to carry on working today the way we did yesterday”. As he elaborated: “We say the necessary words, we tell the people about the right things, but we need to find something that will make the subject interesting”. His particular grievance was a programme he had made on domestic ‘hooliganism’ which had been declined (on the grounds, it emerged, that 49

V’iunik, V “Poslednikh izvestiiakh”, 133, 136-137, 139, 142-144. V’iunik joined Leningrad radio news in April 1950, so was well placed to comment on the transition from Stalinist to post-Stalinist journalism. 50 TsGAIPD SPb (Tsentral’nyi gosudarstvennyi arkhiv istoriko-politicheskikh dokumentov Sankt-Peterburga), f. 755, op. 6, d. 1, l. 22 (meeting of 25 April 1956). Quotation: „Назрел важный вопрос – как говорить с радиослушателями? Зеленой улицей идут передачи, в которых все на месте, но если попытаешься найти путь к сердцу радиослушателя – начинаются осложнения.“

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material of this kind could not be broadcast in the period directly preceding a public holiday). As a colleague explained, a text for broadcast often passed through the hands of three different editors, who sometimes contradicted each other. Corrections on grounds of ‘taste’ often robbed a text of its freshness: “We often say: ‘That sounds badly written’. Yes, a live [i.e. unscripted] interview may sometimes not conform to the rules of grammar, but this is live speech, not a polished text”.51 For the postwar generation of broadcasters, the importance of departing from the ‘crib-sheet’ of the Stalin era was close to axiomatic. Complaints about the clichés of Soviet broadcasting, fairly routine even during the Stalin era, now reached a new level of intensity. As one radio correspondent from Ukraine noted in 1957, “Why should we have to listen all the time about the same old collective farms and the same old people? [Fedor] Dubkovetskii and [Pasha] Angelina have already had so much written about them! It’s like in the theatre, when an old prima donna doesn’t allow others to develop.”52 Dissatisfaction with the tight-lipped platitudes of the Stalin era was not limited to professional broadcasting circles. It was also expressed in the most high-profile of all media in the 1950s: cinema. Thaw films such as Bol’shaia sem’ia, Karnaval’naia noch’ (Carnival Night) and Delo bylo v Pen’kovе (It Happened in Pen’kovo) all included ironic treatments of the worker-peasant vystuplenie, while the internationally award-winning Letiat zhuravli (The Cranes Are Flying) even allowed one of its characters to express frustration with Iurii Levitan’s falsely upbeat Sovinformburo performances. In the Soviet Union, as elsewhere in the postwar world, the oratorical and theatrical style of rhetoric so prevalent in the 1930s and 1940s was replaced by more modest verbal norms. Now speech might be soft, slow, even indistinct and halting – not least because recording technology was now far more acoustically sensitive.53 The All-Union Radio Committee took the initiative on the question of the new speech norms as early as August 1953, when it organized a week-long conference for broadcast journalists from all around the USSR. Towards the 51

TsGAIPD SPb, f. 755, op. 6, d. 2, ll. 26-28. Quotation from Magrachev (l. 26): “Работать сегодня так же, как вчера, мы не имеем права.” From his colleague (l. 28): “Часто говорим: «Это неграмотно звучит». Да, живое выступление может быть подчас не соответствует правилам грамматики, но это живая речь, а не приглаженный текст.” 52 „Почему мы должны все время слушать об одних и тех же колхозах и об одних и тех же людях? И о Дубковецком, и об Ангелиной уже столько написано! Получается такая картина, как в театре, когда старая примадонна не дает расти другим.“ GARF, f. 6903, op. 1, d. 537, l. 21. 53 An argument put forward in Bulgakowa, O.: StimmBrüche: Marlon Brando, Innokenti Smoktunowski und der Klang der 1950-er Jahre. In: Bulgakowa, O. (ed.): ResonanzRäume: Die Stimme und die Medien. Berlin 2012, 81-98.

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end of proceedings, Iurii Gal’perin was given the floor to give a short masterclass on how to do a good interview. Gal’perin was already something of a celebrity reporter. On leaving the airforce at the end of the war on health grounds, he took up radio journalism. After serving his broadcasting apprenticeship, he was in the vanguard of the transition to unscripted interviews.54 In February 1953, at an editorial meeting in the Radio Committee, he was cited admiringly by a colleague as someone who did not allow his interviewees to ‘talk themselves out’ by rehearsing them in advance; instead, he started recording them immediately.55 In his presentation to colleagues at the August conference, Gal’perin emphasized that journalists should do everything to put interviewees at their ease. They should not interrupt their subjects; if the interviewee was having difficulty pronouncing a particular word, then it was best to replace it with another word; and, above all, broadcasters should not present interviewees with a text to learn in advance. Although a written text would usually still be the basis for a recorded interview, it should be the result of more collaborative work between the two parties – and the interviewee should feel free to insert the odd phrase here and there as he or she spoke. If the journalist had decided to record someone without a text, then it was important not to discuss the matter in advance: “No one is going to say the same thing well twice.” Even non-standard speech – for example by Ukrainians or other non-Russians – could be left in a recording, since it added authenticity.56 By all appearances, the recommendations of this conference soon percolated down to regional radio committees. Later the same month, the Gor’kii staff meeting was referring to instructions from Moscow to record more often ‘live speech’, though opinions differed on how interventionist broadcasters should be in ‘correcting’ the speech of ordinary people.57 The message was emphasized in the main journal for broadcasting professionals, which over the following decade published approving reports on the ability of Gal’perin and others to ask good questions of their subjects and make effective use of unscripted interviews.58 Preparing a vystuplenie u mikrofona (statement at the microphone) was still one of the most important tasks of a radio journalist, but it was less and less acceptable to allow 54

See the admiring profile in Riabchikov, E.: Zhizn’ v efire. In: Sovetskoe radio i televidenie 7 (1967), 22-25. According to this article, Gal’perin’s first fully unscripted broadcast came in 1948. For Gal’perin’s own account of himself, see his Vnimanie, mikrofon vkliuchen! Moscow 1960. 55 Extract from the stenogram published in Goriaeva, “Velikaia kniga dnia”, 131. 56 GARF, f. 6903, op. 1, d. 450, ll. 255-272. 57 GANO (Gosudarstvennyi arkhiv Nizhegorodskoi oblasti), f. 3630, op. 2, d. 134, ll. 4, 30, 50, 53, 159. 58 Manevich, G.: Reportazh odnogo dnia. In: Sovetskoe radio i televidenie 1 (1957), 3-5; O reportazhakh K. Retinskogo i Iu. Letunova. In: Sovetskoe radio i televidenie 5 (1959), 23-25.

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subjects to read out a prepared text.59 By the early 1960s, unscripted broadcasts were spreading to regional radio committees. When Gennadii Tur’ev, a young radio journalist, returned to Syktyvkar from his military service in the early 1960s, he found Komi radio lagging behind the capitals: broadcasters were still foisting pre-prepared texts on their interview subjects. The light dawned when Tur’ev attended a seminar in Moscow and was able to learn from Magrachev, Konstantin Retinskii, Iurii Letunov, and other leading lights. On his first expedition after his return to Komi he recorded 90 minutes of material for a 20-minute broadcast. It still took a long time to convince people to depart from Soviet clichés when they approached the microphone. Yet, while the battle for unscripted speech on Komi radio was not conclusively won in the 1960s, it had at least been joined.60 So pronounced was the trend towards unscripted recording that it was placing significant strain on the system of censorship. In March 1959, representatives of the Radio Committee met with the deputy head of the main censorship bureaucracy, Glavlit. The censor, Avetisian, sharply drew the broadcasters’ attention to the fact that they had been failing to provide texts of interviews in advance for scrutiny by Glavlit. But the broadcasters were not prepared to concede the point. Given the frequency of unscripted material, it was unreasonable of Glavlit to expect to see written texts in advance; it should be prepared to listen to the tapes instead. Moreover, if Glavlit wished to exercise such close control over radio broadcasts, it needed to provide round-the-clock staffing. At present, censors started work at 10 am, by which time three news broadcasts had already gone out. Even in the Soviet Union, this was an era that required more rapid media response to events, and there was a clear tension between the requirement for immediacy and timeliness and the demands of censorship. Although Avetisian stuck to his principle that “without the censor it’s not allowed to broadcast anything”, it appeared that the meeting had not removed all the grey areas. When asked about the policy regarding live outside broadcasts, Avetisian told the broadcasters “from collective farms you can broadcast what you like”; as for factories, however, it depended on “which factory, which workshop”.61

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Bogoslovskii, T.: Iskusstvo agitatsii faktami. In: Sovetskoe radio i televidenie 2 (1965), 58; Eremeev, N.: Nachalo bol’shogo razgovora. In: Sovetskoe radio i televidenie 2 (1967), 5-7. 60 Tur’ev, G.: Troe sutok shagat’… In: Radio: Vremia i liudi, 70-71. In Vladivostok, similarly, the late 1950s was a time when “radio was with difficulty moving from scripted to free speech”: Khrul’kova, N.: Mne povezlo na uchitelei. In: Nemnogo o radio, 36. 61 Iz stenogrammy zasedaniia Gosudarstvennogo komiteta po radioveshchaniiu i televideniiu pri Sovete Ministrov SSSR “O faktakh narusheniia poriadka tsenzorskogo kontrolia materialov radioveshchaniia i televideniia” (23 March 1959). In: Goriaeva, “Velikaia kniga dnia”, 144-149.

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The unscripted interview was by no means the only field of innovation in 1950s broadcasting. With the move to more sophisticated recording technology, discussion in the Radio Committee also turned to various kinds of formal experimentation. In a meeting of January 1953, for example, the focus of attention was the genre of ‘radio composition’, which allowed broadcasters to combine heterogeneous elements: commentary on current affairs, literary material, music, and other sound effects. This gave radio a better chance of acting on listeners’ emotions as well as raising their ideological level. Sometimes these techniques could be taken to excess – when transitions between different formal effects were clunky, where the quality was uneven, or where producers got carried away with music and sound effects at the expense of text – while the practice of dividing text up between two voices was described as a ‘cliché’ and an ‘uneconomical use of human voices’. Although judgments such as these no doubt still attested to Stalin-era aesthetic conservatism, the discussion did at least put formal innovation on the agenda.62 One key question – the use of sound effects – was taken up again in the conference of August 1953. As one speaker observed, too many radio reports were taking the form of ‘bare’ microphone speech; the tape recorder allowed for imaginative montage and juxtapositions.63 It remained difficult, however, to strike the right balance between formal innovation and ease of listening. In a meeting with sound technicians in January 1954 Puzin weighed in with a note of caution: “we have a lot of enthusiasts for all kinds of documentary recordings that are often unsuitable for broadcasting, such as cows mooing or the noise of machinery in the factory”. It was important not to go too far in the search for documentary quality: on radio everything should “caress the ear”.64 In general, however, the second half of the 1950s saw a definite loosening of the norms and genres of Stalin-era broadcasting. In an effort to make broadcast speech less stilted, broadcasters made more use of more informal genres such as the ‘story at the microphone’ (rasskaz u mikrofona) and the ‘conversation’ (beseda). By 1960, 40-50 items per day went out under the latter designation. As the name suggested, the beseda was to have characteristics of ‘oral, conversational speech’, while at the same time remaining a ‘literary’ genre. Here it was legitimate to take inspiration from Western broadcasting: studios abroad made it possible to “conduct a conversation in a

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GARF, f. 6903, op. 1, d. 451, ll. 14-15. GARF, f. 6903, op. 1, d. 450, ll. 242-243. 64 GARF, f. 6903, op. 1, d. 460, l. 56. Quotations: „У нас очень много есть любителей всякого рода документальных записей, часто непригодных для вещания, вроде мычания коров, шума работы станков на заводе, на стройке“; „По радио все должно идти мягко и ласкать слух.“ 63

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completely relaxed environment that approximates to that of ordinary rooms in the home”.65 Broadcast journalism, meanwhile, continued to thaw. In March 1961 came another huge conference on recording technology, interview technique, and other matters of pressing concern. Once again it was emphasized that recording allowed for more engaging storylines (siuzhetnost’). Of course, it also required broadcasters to overcome their inhibitions: “we’re not used to taking the microphone, standing in the middle of a square and starting to speak. I can honestly say that when I was forced to do that for the first time, I felt as if I’d been stripped naked on that square.” The Estonians were in the vanguard of this new, more engaging style of reporting. In his contribution to the conference, their representative made the obligatory qualification that the legacy of the ‘bourgeois’ period had held back Estonian radio. In formal terms, however, there were some techniques that Soviet-era broadcasters had been able to borrow. One distinctive feature of Estonian radio was that reporters (rather than announcers) were the driving force. The flagship Estonian broadcast was the daily half-hour Echo of the Day (Ekho dnia), which started with a very brief statement of content (a mere 35 words) before proceeding directly to the material. What made the reporter’s voice compelling was the impression it created of immediacy: “to feed the reporter’s microphone with paper [i.e. a written text] is the same as quenching the reporter’s thirst with distilled water. It’s pure but unappealing, even harmful.” Furthermore, the reporter should take ownership of the broadcast: he should be the producer, editor, even sound technician. At present reporters were still restricted by the need to send their reports down the wires to their broadcasting station, but the future was short wave, which would greatly expand the potential for live outside broadcasts.66 Soviet broadcasters were making more sophisticated demands on their craft. As Letunov observed, the novelty of sound effects had now worn off: almost twenty years into the era of the magnitofon it was no longer possible to amaze listeners with the sound of waves or aircraft; it was time for a more discerning and imaginative use of montage.67 By now well acquainted with 65

GARF, f. 6903, op. 1. d. 663, ll. 3, 11 (transcript of editorial meeting on forms and genres of broadcasting, 14 November 1960). On the introduction of the rasskaz u mikrofona in the mid-1950s, see Sherel’, A.: Audiokul’tura XX veka. Istoriia, esteticheskie zakonomernosti, osobennosti vliianiia na auditoriiu: Ocherki. Moscow 2004, 85. 66 GARF, f. 6903, op. 1, d. 713, ll. 129, 158-161, 164-165. Quotations: “непривычно взять микрофон, встать по середине какой-нибудь площади и начать говорить. Я скажу откровенно, что когда меня впервые заставили это сделать, я чувствовал себя так, как будто бы меня догола раздели на этой площади“ (l. 129); „Кормить репортерский микрофон бумажкой – это все равно, что утолять жажду репортера дистиллированной водой, она чистая, но она отталкивающая, вредная“ (l. 160). 67 Letunov, Iu.: Razgovor o reportazhe. In: Sovetskoe radio i televidenie 2 (1961), 7-9.

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sound editing, broadcasters were able to depart from the naturalistic conventions of earlier Soviet radio. Instead of striving to create the impression of a live broadcast, broadcasters could use sound effects and depart from strict chronology in the material they presented. Now the guiding principle was the journalist’s own compositional design rather than ‘real time’.68 Yet some commentators felt that the boundary between ‘documentary’ and ‘artistic’ broadcasting still needed to be maintained: it was one thing to superimpose the noise of the factory floor on a worker interview recorded in a quieter place, quite another to play fast and loose with facts.69 Moreover, the advent of recording technology had perhaps made journalists sloppy in their work habits: they now eschewed rehearsals, assuming that an acceptable product could be manufactured out of whatever they managed to record.70 Consequently, there was a modest backlash against the hegemony of recording on the radio. Live broadcasts, which had been the norm in the first two decades of Soviet broadcasting, had much greater impact and immediacy, but now they were rarely found except in sports reports.71 By 1959, at least in Moscow, there were plenty of tape recorders, and it was relatively easy to produce footage. But facilities to transfer this raw footage to the studio were still inadequate.72 By 1965, with the launch of Yunost’ and Maiak and the greater rhetorical emphasis on rapid response (operativnost’), the downside of recording technology was becoming apparent: it slowed down the passage of the material to the listener. The quality of sound in recordings sent back over the wires (po kanalu) by reporters in various parts of the USSR left much to be desired; sometimes a tape sent back from Tokyo would sound better than a recording wired from Tula.73

3. Conclusion Of course, the main reason that radio reports took a long time to reach the listener was that they were subject to the scrutiny of the censorship apparatus. Even in this era of 24-hour broadcasting, the authorities were ever vigilant lest broadcasters take liberties. In July 1964, staff on Yunost’ were severely reprimanded by the Radio Committee for broadcasts that did not 68

Taube, N.: Vnimanie: v efire rastrachena minuta! In: Sovetskoe radio i televidenie 8 (1964), 12-14. 69 Polonskii, M.: Pravo na uslovnost’. In: Sovetskoe radio i televidenie 3 (1967), 10-13. 70 Palladin, P.: Magnitofon i ... bukhgalteriia. In: Sovetskoe radio i televidenie 8 (1967), 22-23. 71 Khataevich, L.: Efir trebuet “efira”. In: Sovetskoe radio i televidenie 4 (1965), 8-9. 72 TsAOPIM, f. 2930, op. 1, d. 8, l. 25 (party meeting of 4 March 1959). 73 TsAOPIM, f. 2930, op. 1, d. 277, ll. 41, 45 (stenogram of party meeting of Moscow broadcasters, 7 January 1965).

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correspond to the written texts submitted in advance.74 In August 1965, the latest rules on compiling the written ‘file’ for each broadcast must have made exhausting reading for Soviet radio producers: the text required three different signatures, and the editor responsible for the programme had to sign every single page as well as initialing all corrections. All files required a stamp from Glavlit (or the signature of the head of the relevant department confirming that Glavlit approval was not required). Texts for broadcast needed to be submitted at least three full days in advance (not including Sundays and holidays).75 There was also close in-house monitoring of performance. Broadcasters in the 1960s apparently lived in fear of the monitors (kontrolery efira) whose job was to maintain linguistic standards. These authorities had at their elbows dictionaries of Russian stress, and no less a figure than Nikita Khrushchev would be made to re-record a speech if it offended against linguistic norms.76 Truly ‘live’ broadcasting remained an exceptional occurrence on Soviet radio. Even on Maiak, there was only a very short list of people allowed to speak live, and such occasions still had to be meticulously prepared. A two-minute injection of live speech from a concert hall, stadium or street required elaborate technical back-up and absolutely precise timing. In the 1970s, preparations for the two biggest broadcasting events of the year – 1 May and 7 November – started a full two months in advance, and the head of Gosteleradio, Sergei Lapin, personally edited the text for Revolution Day.77 Lapin had never disguised his intentions on this score. When he took over as broadcasting boss in the spring of 1970, he wasted little time in reminding his subordinates of the need to avoid programmes that were “not prepared, not listened to in advance, not checked”. As he went on: “we have the opportunity, starting on 3 May, to include in the schedule only things where we’re absolutely sure that they are right, needed, and not end up spending a week to establish whether they’re accepted or not”.78 Lapin’s pronouncements laid bare a sad irony of the life cycle of Soviet radio. Ever since the 1920s, broadcasters had been scrambling to assimilate 74

The decree is published in Goriaeva, “Velikaia kniga dnia”, 160-161. Iz instruktsii po podgotovke i provedeniiu radioperedach vnutrisoiuznogo veshchaniia “O poriadke oformleniia mikrofonnykh materialov” (13 August 1965). In: Goriaeva, “Velikaia kniga dnia”, 163-164. 76 Zubkov, G.: Razmyshleniia bez mikrofona. In: Sheveleva, G. (ed.): Pozyvnye trevog i nadezhd. K 40-letiiu radiostantsii “Maiak”. Moscow 2004, 33-34. 77 Leshchinskii, M.: Vospominaniia slishkom daviat plechi… In: Pozyvnye trevog i nadezhd, 112, 114-115. 78 For the text of Lapin’s speech, see Goriaeva, “Velikaia kniga dnia”, 175-177. Quotation on p. 175: „мы имеем возможность, начиная с 3 мая, включать в программы только такие вещи, в которых, безусловно, есть уверенность, что это правильно, нужно, а не таким образом, чтобы в течение недели разбираться, будет это принято или не будет.“ 75

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the existing technology. First they had to come to terms with the microphone in the eerie solitude of the studio; then they got used to the mobile microphone and outside broadcasts of the 1930s; and in the postwar era they made the transition from shorinophone and Presto disks to the magnitofon. Yet, at just the moment when they seemed to have perfected the use of the tape recorder, they discovered that, due largely to the competition from abroad, they were now lacking the real-time immediacy that three decades earlier had been radio’s distinguishing characteristic.

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Wissenschaftspathos und Wissenschaftsethos im sowjetischen Science-Faction-Film Unter den symbolischen Gaben, die Josef Stalin zu seinem 70. Geburtstag 1949 erhielt, befand sich ein Buch, das die Sowjetische Akademie der Wissenschaften ihrem zehn Jahre zuvor gewählten Ehrenmitglied widmete. Der Titel des Buches erscheint vor dem Namen des ‚Autors‘ im Dativ – Iosifu Vissarionoviču Stalinu. Als namenloser Herausgeber fungiert dabei die institutionelle Körperschaft der sowjetischen scientific community, die Akademie der Wissenschaften, die in dieser Form ihre Koryphäe ehrt: „Für die sowjetischen Wissenschaftler sind Ihre genialen Werke, und Ihre gesamte Tätigkeit, lieber Iosif Vissarionovič – ein unerschöpflicher Quell schöpferischer Inspiration.“1 Mit derlei sorgfältig konstruierten Formeln akademischer Epideixis füllen die Akademiemitglieder knapp 800 Seiten und übertragen damit die virtuelle Autorschaft wissenschaftlicher Entdeckungen und Erfindungen dem ‚Großen Führer und Lehrer der kommunistischen Partei und des sowjetischen Volkes‘.2 In den Artikeln des Bandes wird von den schwindelerregenden Fortschritten der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen unter der weisen Führung und freigiebigen Fürsorge des stalinschen Genius berichtet. Um einiges schwerer fällt es den Verfassern, Stalins eigene wissenschaftliche Laufbahn zu würdigen. Bekanntlich bestand Stalins formelle Bildung aus einem abgebrochenen Priesterstudium und konspirativen marxistischen Lesezirkeln. Dennoch zeitigten seine wenigen ‚genialen‘, ‚historischen‘ und ‚linguistischen‘ Werke gravierende Folgen in der russischen Wissenschaft

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„Для советских ученых Ваши гениальные труды и вся Ваша деятельность, дорогой Иосиф Виссарионович, – неиссякаемый источник творческого вдохновения.“ Akademija Nauk SSSR: Iosifu Vissarionoviču Stalinu. Moskau 1949, VIII. 2 Dieses Epitheton verlieh Stalin das Marx Engels Lenin Institut, das mit der Herausgabe der Werke Stalins und der dogmatischen Pflege der Klassiker des Sozialismus betraut war, in einer gleichnamigen 1949 erschienenen Broschüre. Die Propaganda-Abteilung des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, die als Ko-Autor fungiert, sorgte für die Verbreitung des Epithetons in der rhetorischen Praxis der sowjetischen Medien. Im Titel wird der Name Stalins als Verweis auf den Urheber und Erzeuger des sowjetischen Textes in den Genitiv gesetzt: Velikij vožd’ i učitel’ kommunističeskoj partii i sovetskogo naroda. K semidesjatiletiju so dnja roždenija I.V. Stalina. Moskau 1949. Zur Geschichte des Instituts siehe: Moslov, V.: IMĖL – citadel’ partijnoj ortodoksii. Iz istorii instituta Marksizma-Leninizma pri CK KPSS 1921-1956. Moskau 2010.

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wie Gesellschaft und gehören als Metatexte des sozialistischen Experiments zu den Schlüsselnarrativen des 20. Jahrhunderts.3 Deshalb muss die Entfaltung epideiktischer Rede auf Stalins eigene Wissenschaftsrhetorik zurückgreifen, wie der Präsident der Akademie – Sergej Vavilov – in seinem Artikel Stalins wissenschaftliches Genie anhand von Stalinzitaten demonstriert: Stalin stellt Formeln auf und formuliert Gesetze, er macht Entdeckungen und löst Fragen, er beweist und berechnet, er entwickelt Theorien und vollendet philosophische Systeme: den dialektischen Materialismus und den historischen Materialismus. Und selbstverständlich ist Stalin auch ein hervorragender Wissenschaftsorganisator. Sergej Vavilovs Andenken wurde oft mit Zuschreibungen wie „überzeugter Stalinist“, „gewissensloser Opportunist“ oder „prinzipienloser Karrierist“ unrecht getan.4 Die Osterweiterung der Gelehrtenrepublik, die sich mit der Gründung der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725 vollzogen hatte, erforderte seit ihrer Anfangszeit höchstes diplomatisches Geschick. Die Lobeshymnen auf Stalins wissenschaftliches Genie, die man dem Präsidenten der Akademie hinter vorgehaltener Hand als höfische Flatterie auslegte, müssen deshalb im Rahmen seines höfischen Taktes gesehen werden. Denn schließlich gehört das Herrscherlob zum rhetorischen Kern der akademischen Festreden, vor allem dann, wenn es um die Außenbeziehungen der Gelehrtenrepublik mit dem russischen Staat geht.5 Als Herausgeber der gesammelten Werke Michail Lomonosovs war sich Vavilov dieser rhetorischen Tradition durchaus bewusst. Im Vorfeld von Lomonosovs Festrede zum 25-jährigen Bestehen der Akademie, die am Jahrestag der Thronbesteigung Elisabeths I. gehalten wurde, entbrannte an der Akademie der Wissenschaften ein folgenreicher Gelehrtenstreit, der nachhaltig die russische Geschichtsschreibung prägen sollte. Mit dem sogenannten Normannenstreit handelt es sich zum einen um die Gründungserzählung des russischen Staates und zum anderen um eine fundamentale Gründungsschlacht der russischen Geschichtswissenschaft.6 In den Debatten der 3

Siehe dazu die Analysen von Dobrenko, E.: Total’naja lingvistika: Vlast’ grammatiki i grammatika vlasti. In: Russian Literature 58 (2008), 553-621; ders.: Stalins Schreibweise. Von der romantischen Dichtung der Zukunft zur sozialistisch-realistischen Prosa der Vergangenheit. In: Koschorke, A./Kaminskij, K. (Hrsg.): Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt. Konstanz 2011, 97-176. 4 Vgl. Kojevnikov, A.: President of Stalin’s Academy. The Mask and Responsibility of Sergei Vavilov. In: Isis 87 (1996), 18-50. 5 Als stilbildend müssen hierbei die Briefe von Gottfried Leibnitz an Peter I. angesehen werden. Vgl. dazu: Gordin, M.: The Importation of Being Earnest: The Early St. Petersburg Academy of Science. In: Isis 91 (2000), 1-31, hier: 6. 6 Vgl. Kaminskij, K.: Normannenstreit als Gründungsschlacht der russischen Geschichtsschreibung. Zur Poetik wissenschaftlicher Anfangserzählungen. In: Wallnig,

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Akademie der Jahre 1749/1750 hat der Chemieprofessor und Hofdichter Lomonosov mit seiner Kritik der ursprünglich geplanten Festrede Über den Ursprung und Namen der Russen des Reichhistoriographen Gerhard Friedrich Müller seine eigenen Ansichten bezüglich der Geschichtswissenschaft und wissenschaftlicher Rhetorik formuliert: Das Ziel, um dessentwillen diese Dissertation verfasst worden ist, besteht darin, unserer allergnädigsten Herrscherin die ersten Früchte der Akademie, die durch Ihre Majestät erneuert worden ist, darzubieten, aber außerdem darin, dass sie den russischen Zuhörern angenehm wäre und jedem Leser mit ihren Neuigkeiten und ihrer Gerechtigkeit Nutzen brächte. Das erste erfordert Würde und Glanz, das zweite und dritte Lebendigkeit, Klarheit und Wahrheit, die eifrig gesucht werden muss; aber all diese Eigenschaften hat diese Rede keineswegs, sondern sie ist sehr würdelos und für den russischen Zuhörer lächerlich und kränkend zugleich.7

Diese Zielsetzung verwirklichte Lomonosov in seinem Panegyrikon zum Jahrestag der Thronbesteigung Elisabeths I. im November 1749. Wenn er im Namen der Wissenschaft seinen Dank der Herrscherin darbringt, überträgt er die rhetorische Autorschaft der Kaiserin selbst, indem er die patriotischen Grundsätze der nationalen Bildungspolitik ihr in den Mund legt.8 Das Lebenswerk Lomonosovs, wozu selbstverständlich seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen, seine institutionellen Gründungen, sein dichterisches T./Stockinger, T. (Hrsg.): Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession. Berlin 2012, 553-581, hier: 559f. 7 „Конец, на который сия диссертация сочинена, есть сей, чтобы всемилостивейшей государыне нашей принести первые плоды обновленные от ея величества Академии, а притом чтобы оная приятна была российскими слушателями и всякому читателю новостию и справедливостию своею полезна. Первое требует важности и великолепия, второе и третие живности, ясности и подлинности, старательно изысканной, которых качеств речь сия отнюд не имеет, но весьма недостойна, а российским слушателям и смешна, и досадительна.“ Lomonosov, M.: Zamečanija na dissertaciju G.-F. Millera „Proischoždenie imeni i naroda rossijskogo“. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 6. Moskau 1952, 17-80, hier: 24f. Lomonosov paraphrasiert das fünfte Hauptstück „Von den öffentlichen Reden der Lehrer auf hohen und niederen Schulen“ aus Gottscheds Ausführlicher Redekunst: „Folglich ist auch die historische Erkenntniß nicht zulänglich, einem Redner gute Erfindungen an die Hand zu geben. […] Nein, was ein Redner vortragen will, das muß wichtig, neu, angenehm, noch nicht ganz ausgemacht, und den meisten Zuhörern verständlich und begreiflich seyn.“ Gottsched, J.C.: Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer, in zweenen Theilen verfasset; und itzo mit den Zeugnissen der Alten und Exempeln der größten deutschen Redner erläutert. Leipzig 1759, 664. Die Jubiläumsrede der Akademie, die Lomonosov 1750 letztendlich hielt, orientiert sich in ihrem Aufbau an dem prominenten Beispiel, der Lobrede an die weil. Russische Kaiserin Katharina, bey Einweihung der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg, gehalten von Theoph. Siegfried Bayern, P.P. aus Königsb. in Preußen. (Gottsched, Ausführliche Redekunst, 607-622). 8 Vgl. Kaminskij, Normannenstreit, 576.

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Talent und seine patriotische Rhetorik und nicht zuletzt sein Unternehmergeist zählen, macht ihn zu einer zentralen Gründungsfigur der russischen Wissenschaft. Denn es war Lomonosovs rhetorisches Hauptwerk, den nationalen Wissenschaftsethos an den patriotischen Pathos zu koppeln. Wenn die sowjetische Wissenschaftsgeschichte 200 Jahre später um 1949 verstärkt auf Lomonosov als Gründungsvater rekurriert, so überlagert sich das patriotische Selbstlob der russischen Wissenschaft mit den Agitationsformeln des Kalten Krieges. Das Grundnarrativ der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte um 1949 kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Russische Wissenschaftler seit Lomonosov wurden in der westlichen Wissenschaftsgeschichtsschreibung übergangen, ihre Erfindungen und Entdeckungen europäischen oder amerikanischen Forschern zugeschrieben, die dafür unrechtmäßigerweise Geld und Ehren erhalten. Die russischen Forscher streben hingegen weder nach Macht noch Reichtum – alles was sie erreichten, erreichten sie vielmehr aus einem tiefempfundenen patriotischen Pflichtgefühl gegenüber ihrem Volk und der unterdrückten Menschheit.9 Im Zuge der Kampagne gegen die „wurzellosen Kosmopoliten“ und der Machtumverteilung in der Akademie der Wissenschaften erhielten diese wissenschaftshistorischen Narrative und ihre rhetorischen Formen eine Eigendynamik, die es im Folgenden zu untersuchen gilt. Über die institutionellen und epistemologischen Umbrüche des russischen Bildungssystems und der Wissenschaftsorganisation in Folge der Oktoberrevolution liegt bereits eine Vielzahl von Untersuchungen vor.10 Konstantin Bogdanov hat in seiner Studie zur Konsolidierung sowjetischer Geisteswissenschaften unter Stalin die Frage dahin gehend formuliert: „Welche Schlüsselmetaphern konstituieren die symbolische Solidarität der russischen scientific community im „Gesamttext“ der sowjetischen Wissenschaft?“11 9

Vgl. Dobrenko, E.: Metafora vlasti. Literatura stalinskoj ėpochi v istoričeskom osveščenii. München 1993, 386f. Siehe ferner: Kuznecov, B.: Patriotizm russkich estestvoispytatelej i ich vklad v nauku. Moskau 1951, 7. 10 Es sei hier vor allem an die Arbeiten von Loren R. Graham, Alexander Vucinich, Paul R. Josephson, Michael D. Gordin und Alexei Kojevnikov erinnert. Unter den neueren Erscheinungen in Russland bieten folgende Sammelbände einen guten Überblick der Forschungslage zur russischen Wissenschaftsgeschichte: Andreev, A. (Hrsg.): „Byt’ russkim po duchu i evropejcem po obrazovaniju“ Universitety Rossijskoj imperii v obrazovatel’nom prostranstve Central’noj Evropy XVIII – načala XX v. Moskau 2009; Dmitriev, A. (Hrsg.): Raspisanie peremen. Očerki istorii obrazovatel’noj i naučnoj politiki v Rossijskoj imperii – SSSR (konec 1880-ch – 1930-e gody). Moskau 2012. 11 „Применительно к совокупному ‚тексту‘ советской науки та же задача может быть сформулирована таким образом: какие метафоры могут считаться ключевыми в конструировании символической солидарности советских ученых в различных областях естественно-научного и гуманитарного знания?“ Bogdanov, K.: Nauka v ėpičeskuju ėpochu: klassika fol’klora, klassičeskaja filologija i klassovaja solidarnost’. In: Novoe literaturnoe obozrenie 78 (2006), 86-124, hier: 91.

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Im vorliegenden Text soll der Versuch unternommen werden, die narrative Repräsentation dieser symbolischen Solidarität im Medium des Films nachzuvollziehen. Die intensive Selbstvergewisserung der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte seit 1949 hat zu einer extensiven Produktion von Filmen über die Gründerväter der nationalen Wissenschaftsschulen geführt. Wissenschaftsgeschichte wird damit im Medium des Films nicht nur popularisiert, sondern auch geschrieben. Die Fülle an ‚Wissenschaftlerfilmen‘, die in der Sowjetunion 1948-1988 entsteht, erlaubt es, in der Entfaltung dieses Themas, die Ausdifferenzierung von Genregrenzen nachzuzeichnen, die ein spezifisches Genre der wissenschaftlichen Selbstbeschreibung – zugeschnitten auf den sowjetischen Forschungsbetrieb – herausbildet. Dieses Genre soll hier als Science Faction bezeichnet werden. Das Urban Dictionary gibt zwei Bedeutungen des umgangssprachlichen Begriffs Science Faction an: 1. Actual scientific discoveries or inventions that are so hard to believe as to be commonly mistaken for science fiction. 2. A speculative technological discovery or invention specifically referred to in past science fiction writing that has since become true.12

In beiden Bedeutungsnuancen wird die Realisierbarkeit von Fiktionen als akklamative Hyperbel des wissenschaftlichen Fortschritts beschrieben. Das literarische und filmische Genre Science-Fiction fungiert dabei als Vergleichsmaßstab, an dem sich wissenschaftliche Innovationen als Verwirklichung von Zukunftsträumen messen lassen. Unter Science Faction soll hingegen ein Filmgenre verstanden werden, das die faktischen Bedingungen der wissenschaftlichen Innovation, ihre technische, mediale, soziale und politische Umgebung untersucht und repräsentiert. Es handelt sich dabei größtenteils um Wissenschaftlerdramen, teilweise mit Elementen der Gelehrtensatire.13 Wenn hier der Begriff Science Faction für diese Filme vorgeschlagen wird, so soll damit rezeptionssoziologisch akzentuiert werden, dass diese Bücher, Theaterstücke und Filme sich an ein und dasselbe Auditorium – die wissenschaftlich-technische Intelligenz – richten wie das Science-Fiction-Genre.14 12

http://www.urbandictionary.com/define.php?term=science%20faction (03.08.2015). Die Gelehrtensatire fungiert als Konverter des Wissenschaftspathos in Wissenschaftsbathos. Interessanterweise wird das Wissenschaftsethos dabei zwar der Lächerlichkeit preisgegeben, im Endeffekt aber als Kommunikationsgrundlage verstetigt, wie man am Beispiel der stoischen Ethik aufgezeigt hat: Pauly, F.: Der Stoiker als komischer Typus. Stoa-Parodien in Literatur und Film. In: Neymeyer, B. u.a. (Hrsg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Bd. 2. Berlin 2008, 1267-1296. Die Persistenz der Gelehrtensatire wird vor allem an dem Erfolg der amerikanischen Kultserie The Big Bang Theory deutlich. 14 Mit dem Tauwetter und den Erfolgen der Weltraumforschung erlebt die Science-Fiction in der Sowjetunion Aufwind, der im Zusammenhang mit der sozialen Nachfrage der 13

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So wie Science-Fiction wissenschaftliche Fakten zu gesellschaftlichen Fiktionen verarbeitet, verarbeitet Science Faction die sozialen Fiktionen und Konventionen der Wissenschaft zu gesellschaftlichen Fakten. Darin kommt die fundamentale poiesis der sozialen Strukturen zum Ausdruck, deren „schöpferisches Vermögen die res fictae, erfundene und gemachte Dinge, in res factae, sozial unabweisbare Tatsachen, verwandelt“,15 zum einen indem das Genre die wissenschaftliche Arbeit als Produktion von Fakten zum Gegenstand narrativer und medialer Repräsentation macht, seine Sujets aus den rhetorischen und sozialen Formen der Wissenskommunikation entwickelt und sie an die traditionellen Formen des (filmischen) Erzählens anschließbar macht,16 zum anderen dadurch, dass es auf diese Weise die Normen sozialer Interaktion der Wissenschaftler in ihr Ursprungsmilieu – die Schicht der Intellektuellen – zurückprojiziert und an der Konsolidierung ihres Ethos in dieser Weise mitwirkt. Im Folgenden soll ein Versuch unternommen werden, die Gattungsgenese des Science Faction im sowjetischen Film nachzuzeichnen. Darunter werden zum einen die den Koryphäen der sowjetischen Wissenschaft gewidmeten Biopics der Jahre 1936-1955 verstanden, die durch patriotische Pathosformeln die Selbstwahrnehmung der scientific community in der Stalinzeit kanonisieren. Und zum anderen gehören dazu Wissenschaftlerdramen, aber auch filmische Gelehrtensatiren, die seit Beginn der Tauwetterperiode in verschiedenen Konfigurationen die Formierung und Konsolidierung eines Wissenschaftsethos in szenischen Gemeinschaftsexperimenten durchspielen. Diese gesellschaftskritischen Filme tragen entscheidend dazu bei, die Selbstwahrnehmung ihres spezifischen Publikums – der intellektuellen Schicht – zu artikulieren und ihre sozialen Handlungsspielräume auszuloten.17

wissenschaftlich-technischen Intelligenz nach medialer Repräsentation steht. Siehe dazu: Oswald, I.: Der Staat der Wissenschaftler. Das Gesellschaftsbild der sowjetischen Intelligenz in der wissenschaftlichen Phantastik der Sowjetunion. Berlin 1991. In diesem Sinne der literarisch-diskursiven Konstruktion von Gesellschaftsbildern erfüllen Science-Fiction und Science Faction dieselbe metasoziale Funktion. Die mediale Spezifik des Films in der Sowjetunion lässt allerdings einen klaren Trend zur Science Faction erkennen. Seit dem Aufbau der Sowjetmacht in Russland 1918 bis zu ihrem ‚Umbau‘ 1988 wurden in der Sowjetunion etwa 20 Science-Fiction-Filme und etwa 80 Science-Faction-Filme produziert. 15 Koschorke, A.: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M. 2012, 330f. 16 Die vorliegende Arbeit untersucht filmische Science-Faction-Texte, die ihrerseits als das Zwischenergebnis der kulturellen Produktion von literarischen und dramatischen Texten verstanden werden. Bei vielen Filmen aus dem Science-Faction-Korpus handelt es sich um Literaturverfilmungen und Fernsehfassungen erfolgreicher Theaterinszenierungen. 17 Den Versuch, die russische Intelligenzija als eine gesellschaftliche Institution historisch zu konzeptualisieren, unternehmen: Gordin, M./Hall, K.: Introduction: Intelligentsia

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1. Gefundene Väter Der Wissenschaftler-Biopic der Stalinzeit und der Science-Faction-Film des Tauwetters unternehmen den Versuch, den Alltag der Forscher und den Entstehungsprozess des Wissens darzustellen und somit die Verfahren des populär-wissenschaftlichen Films in eine Spielfilm-Handlung zu übersetzen.18 Elemente des populär-wissenschaftlichen Films sind bereits bei Dziga Vertov im Kontext der Filmchronik, des Werbe- bzw. Propagandafilms und der Montagekunst weit entwickelt und kommen in Vsevolod Pudovkins Mechanika golovnogo mozga (Die Mechanik des Gehirns, 1925) zur Entfaltung. Mit seinem Film hat Pudovkin ein wertvolles Dokument über die Experimentverläufe Ivan Pavlovs hinterlassen, die seiner mit dem Nobelpreis für Medizin (1904) ausgezeichneten Forschung auf dem Gebiet der Neurologie zugrunde lagen.19 Gleichzeitig enthielt Pudovkins Film eine politische Message, denn 1925 hatte Ivan Pavlov ein eigenes Institut erhalten. Damit konnte die Sowjetregierung demonstrieren, dass sie renommierte Wissenschaftler im Land halten kann. Pavlovs – trotz harten inneren Ringens – öffentlich bekundete Loyalität zur Sowjetmacht produzierte einen bedeutenden ideologischen Mehrwert. Denn mit dem Pavlovschen Hund war eine soziale Metapher erschaffen, die vermittels der Reflexkonditionierung dem revolutionsutopischen Programm der individuellen und gesellschaftlichen Umgestaltung zum ‚Neuen Menschen‘ Vorschub leistete, und die in Pavlovs Forschung enthaltene atheistische und antipsychologische Rhetorik konnte als naturwissenschaftliche Basis in die materialistische Weltanschauung der Bolschewiki integriert werden.20 Science Inside and Outside Russia. In: Dies. (Hrsg.): Intelligentsia Science. The Russian Century, 1860-1960. Chicago 2008, 1-19. 18 Die Diskussion über die Filmkunst als Spielfilm bzw. „non-fiction“ (igrovaja/neigrovaja), die zwischen Sergej Ėjzenštejn und Dziga Vertov in den 1920er Jahren entbrannte und zu Debatten über die Kinopoetik des LEF führte, endete bekanntlich mit einem Kompromiss, aus dem heraus Sergej Ėjzenštejn die Theorie der intellektuellen Montage und des intellektuellen Kino entwickelte. Vgl. Ėjzenštejn, S.: Četvertoe izmerenie v kino. In: Ders.: Montaž. Moskau 1998, 516. Siehe dazu: Jurenev, R.: Teorija intellektual’nogo kino S.M. Ėjzenštejna. In: Voprosy kinoiskusstva 17 (1976), 185225; Zabrodin, V.: Po tu storonu, ili 70 let spustja. Neizvestnaja izvestnaja stat’ja S.M. Ėjzenštejna. In: Kinovedčeskie zapiski 44 (1999), 228-237. 19 Vsevolod Pudovkin, der neben Ėjzenštejn das Genre des sozrealistischen Biopic entscheidend mitprägte, erinnert sich in seinen Memoiren an die Impulse, die ihm das Filmen von Pavlovs Experimenten für seine Filmexperimente lieferte. Vgl. Pudovkin, V.: Kak ja stal režisserom. In: Ders. Sobranie sočinenij, Bd. 2. Moskau 1975, 35. Vgl. dazu: Schlegel, H.-J.: Nemeckie impul’sy dlja sovetskich kul’turfil’mov 1920-ch godov. In: Kinovedčeskie zapiski 58 (2002), 368-379. Auch Ėjzenštejns Montagetheorie rekurriert auf Pavlovs Reflexlehre. Vgl. Ėjzenštejn, Četvertoe izmerenie v kino, 505. 20 Vgl. Rüting, T.: Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse der Disziplinierung in Sowjetrussland. München 2002, 104ff.

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Der dialektische Materialismus, als dessen Vollender Vavilov Stalin 1949 rühmen wird, ist der gemeinsame Nenner, auf dem sich renommierte Wissenschaftler wie Pavlov, Vladimir Vernadskij oder Kliment Timirjazev begegnen können.21 Außerdem gehören diese Wissenschaftler zu jener, durch die Schriften der narodniki (Volkstümler) geprägten, 1860er Generation liberaler Intellektueller, die in Auseinandersetzung mit der russischen Regierung 1911 gegen die Autonomiebeschränkung der Gelehrtenrepublik protestierten und aus dessen Studenten sich die Kader der illegalen sozialdemokratischen Bewegung rekrutierten.22 Bei alldem blieben die Bolschewiki doch in erster Linie eine sozialdemokratische Forschergemeinschaft – eine Auslegungsschule der politischen Ökonomie und des wissenschaftlichen Sozialismus. Der Alltag Lenins und der Führungsriege der Bolschewiki im Genfer Exil bestand zum größten Teil aus wissenschaftlicher Arbeit: Sichtung von Neuerscheinungen, Auswertung von Statistiken, Theorieentwicklung, Streitschriften, Publikationen und Vorträge.23 Hinzu kam der Aufbau konspirativer Bildungsnetzwerke und nicht zuletzt die Anwerbung und Verteilung von Forschungsgeldern für das revolutionäre Gesellschaftsexperiment. In diesem Kontext wird begreiflich, warum die Anerkennung durch die russischen Wissenschaftler mit internationalem Renommee für die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution von zentraler Bedeutung wurde. Die liberalen Naturwissenschaftler in Russland und die russischen ‚Gesellschaftswissen21

Lenins philosophisches Hauptwerk Materialismus und Empiriokritizismus (1908) hatte in dieser Hinsicht eine bedeutende Signalwirkung. Damit etablierte sich Lenin als Dogmatiker der materialistischen Weltanschauung innerhalb der eigenen Parteireihen. Gleichzeitig wurde damit ein Angebot an die materialistischen Wissenschaftler kommuniziert. Denn Pavlov und Timirjazev sowie weitere renommierte Wissenschaftler verstanden sich als Verfechter der materialistischen Weltanschauung in der internationalen scientific community. So wie Lenin im Vorfeld des I. Weltkriegs seine Konkurrenzkämpfe in der internationalen sozialdemokratischen Bewegung ausfocht, fochten die Materialisten in ihrer Selbstwahrnehmung gegen die metaphysischen und zum Teil stark theosophisch gefärbten Tendenzen in der Naturwissenschaft. Vgl. Timirjazev, K.: Nauka i demokratija. Sbornik statej 1904-1919 g. Moskau 1920. 22 Die Geschichte der russischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert ist von einem diplomatischen Ringen der Gelehrtenrepublik um Selbstbestimmungsrechte und universitäre Freiheit innerhalb des russischen Kaiserreichs geprägt. Der Streit eskalierte um 1911, als der Bildungsminister Lev Kasso weitreichende staatliche Kontrollmechanismen über den Wissenschaftsbetrieb durchsetzen wollte. Als Reaktion verließen rund ein Drittel der Professoren der Moskauer Universität (darunter Timirjazev und Vernadskij) ihre Posten. Vgl. Andreev, Byt’ russkim, 29f. In diesem Sinne begrüßte Timirjazev die neuen Machthaber als Verfechter der akademischen Freiheit – als Befreier der Wissenschaft. Vgl. Timirjazev, Nauka i demokratija, 1-12. 23 Eine eindrucksvolle und lebhafte Schilderung dieses Genfer Milieus bietet Valentinov, N.: Vstreči s Leninym. New York 1953.

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schaftler‘ im Exil beriefen sich auf gemeinsame Wurzeln ihres Ethos: den Volksbildungsauftrag und den Materialismus. In den neuen Machthabern müssen die alten Wissenschaftler ihre Schüler – mithin ihre geistigen Söhne – anerkennen. Die Übertragung sozialer Metaphern in familiäre Metaphern, der shift der politischen Kommunikation von polis auf oikos ist zentral für die mediale Repräsentation und Konsolidierung des sowjetischen Ethos.24 Das erste in der Sowjetunion produzierte Wissenschaftler-Biopic Deputat Baltiki (Der Baltische Deputierte, 1936) ist dem Andenken Kliment Timirjazevs gewidmet.25 Die Handlung entfaltet sich 1917 um den 70sten Geburtstag des Professors Dmitrij Poležaev – Timirjazevs filmisches alter ego. Poležaev hat in den Tagen nach der Oktoberrevolution sein Hauptwerk über die Physiologie der Pflanzen abgeschlossen und einen Zeitungsartikel zur Begrüßung der neuen Machthaber verfasst. Diese Glosse nimmt ihm die konservative Professorengemeinschaft sehr übel, die Presseöffentlichkeit ist empört und der menschewistische Studentenverband boykottiert die Prüfung des „deutschen Spions“ und „Bolschewistenlakeien“. Sein treuer Schüler – der Dozent Vikentij Vorob’ev – versucht seinen (Lehr-)Meister eines Besseren zu belehren und drängt ihn, den Artikel zu widerrufen. Am gleichen Tag kommt Poležaevs ehemaliger Laborant Bočarov aus Sibirien in Smolnyj an. Der Revolutionsstab will ihn zum Bankdirektor machen, da er sich dies aber nicht zutraut, wird er zum Bildungsminister ernannt. Zu seinem Amtsantritt erhält er von Lenin zwei Aufgaben – er muss dringend eine Druckerei finden, um bolschewistische Proklamationen zu verbreiten, und er muss Kontakt zu Poležaev aufnehmen, ihn nach Möglichkeit mit Lebensmitteln versorgen und die Loyalität des Professors zur neuen Regierung bestärken. In der Universitätsdruckerei befindet sich gerade Poležaevs Physiologie der Pflanzen und Bočarov stellt die Agitationsziele der Partei hinten an. Damit 24

Vgl. Murašov, Ju.: Sowjetisches Ethos und radiofizierte Schrift. Radio, Literatur und die Entgrenzung des Politischen in den frühen dreißiger Jahren der sowjetischen Kultur. In: Frevert, U./Braungart, W. (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte. Göttingen 2004, 217-245. 25 Der Film Salamandra (1928), für den der Bildungsminister Anatolij Lunačarskij das Drehbuch beisteuerte, wird hier übergangen. Bei Salamandra handelt es sich um ein Wissenschaftlerdrama, das die Mechanismen der Hetzkampagne gegen die „materialistische“ Evolutionstheorie Paul Kammerers und die Falsifizierung seiner Forschungsergebnisse als reaktionäre und religiös-ideologisch motivierte Intrige agitatorisch ‚entlarvt‘. Bekanntlich erhielt Kammerer ein Angebot von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, die damit demonstrieren wollte, dass die Sowjetregierung nicht nur eigene Wissenschaftler im Land zu erhalten vermag, sondern auch ein Forschungsparadies für ‚progressive‘ europäische Gelehrte verspricht. Ironischerweise zog Kammerer den Selbstmord der Auswanderung in die Sowjetunion vor. Für den Film sah Lunačarskij allerdings ein Happy End vor – die Ankunft Kammerers im „Paradies der Gelehrten“, wie Leonhard Euler einst die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften pries. Vgl. Kaminskij, Normannenstreit, 560.

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beweist der neue Bildungsminister als Amtsperson die Anerkennung der Sowjetmacht für das Werk des Professors. Im Gegenzug improvisiert Poležaev einen populärwissenschaftlichen Vortrag über seine Forschung vor den revolutionären Matrosen auf einem Kriegsschiff. Je näher sich Poležaev an die proletarische Regierung annähert, desto mehr wird er aus der Gelehrtengemeinschaft ausgeschlossen. Zu seinem Geburtstagsfest erscheint niemand von den Professoren des Kollegiums und sein vermeintlich treuer Schüler entpuppt sich als niederträchtiger Intrigant. Nicht nur entwendet er Poležaevs Brotration, nach einem heftigen Wortwechsel stiehlt Vorob’ev das Manuskript seines Lehrers, das er heimlich in Leipzig publizieren lassen will, aus der Universitätsdruckerei und lässt stattdessen menschewistische Proklamationen drucken. Poležaev steht somit mitten im Antagonismus zwischen seinem menschewistischen Schüler und seinem bolschewistischen Laboranten. Als Bildungsminister führt dieser ein überzeugendes Gespräch mit Vertretern der Presse bezüglich der Hetzkampagne gegen Poležaev. Immer wenn er sein Stalin-Attribut – die Tabakpfeife – hervorkramt, fällt ihm sein Revolver aus der Tasche, mit dem er zerstreut, doch stets im richtigen Augenblick herumfuchtelt – eine Metamorphose seiner persuasiven Gewalt. Zu Poležaevs Geburtstagsfeier erscheint er als einziger Gast in der alten Studentenuniform und intoniert mit seinem alten Professor Gaudeamus igitur auf dem Klavier. Er stellt damit den akustisch-semantischen Gleichklang zwischen der zuvor erklungenen Internationale und der internationalen Hymne der Gelehrtenrepublik her und kommuniziert auf diese Weise mit dem Pathos des hymnischen Lieds die Harmonie ihres gemeinsamen Aufklärungsethos. In der familiären Atmosphäre vor dem Kamin des Professors erfüllt Bočarov Lenins Auftrag: Er überzeugt den Professor, der angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen an der Bedeutsamkeit seiner Arbeit zweifelt, von der ökonomischen Relevanz seiner Forschung für die sowjetische Agrarwirtschaft, verspricht ihm ein eigenes Botanik-Institut und versichert sich damit Poležaevs Loyalität: „Wir müssen sie schonen. Jedes ihrer Worte in der Wissenschaft gilt der ganzen Welt. Sie sind die Autorität der Revolution. Sie sind der Trumpf der Revolution.“26 Die wissenschaftshistorische Message des Films wird in diesem Antrag fokussiert. Der alten Intelligenzija gegenüber wird die Mitautorschaft an der Revolution eingeräumt, sofern sie bereit ist, die neuen Machthaber ex post als Schüler zu akzeptieren. Zur Ratifizierung des erneuerten Vertrags zwischen Gelehrtenrepublik und Sowjetrussland erhält Poležaev am Morgen einen Geburtstagsanruf von Lenin. Poležaev selbst steht mit seinem Duktus, seiner Mimik und Gebärdensprache den kanonischen Filmverkörperungen Lenins nahe. Mit der Etablierung be26

„Мы обязаны беречь Вас. Каждое Ваше научное слово – всему миру. Вы – авторитет революции. Вы, как бы это сказать, – козырь революции.“ (1:01:50 – 1:02:01)

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stimmter Rollenfach-Muster, die sich in den Figuren des Films manifestieren, wird das Lehrer-Schüler-Verhältnis auf das Lenin-Stalin-Verhältnis projiziert – ein im sozrealistischen Film verbreitetes Verfahren zur medialen Herstellung von Legitimität der Nachfolge Stalins.27 Die politische Teilhabe der Wissenschaftler an der Sowjetmacht wird endgültig hergestellt, wenn Poležaev (nachdem er mit Bočarovs Hilfe sein Manuskript gerettet hat) von den revolutionären Matrosen zum Deputierten gewählt wird. Trotz gesundheitlicher Probleme verabschiedet Poležaev auf einer Kundgebung seine Wähler und seinen Schüler Bočarov/Stalin an die Verteidigungsfront. Der rhetorische Kern seiner Rede besteht in der öffentlichen Ablehnung der Einladungen ausländischer Universitäten (die Diplomaten rümpfen die Nase), und dem patriotischen Herrscherlob der revolutionären Massen: „Die ganze Welt soll es wissen! Ich bleibe mit meinem Volk! Mit meiner Regierung!“28 Auf diese Weise erfolgt in dem Film Deputat Baltiki die mediale Rückkopplung des patriotischen Pathos und wissenschaftlicher Rhetorik. Damit wird Lomonosovs Forderung an die Wissenschaftsgeschichte – „dem allergnädigsten Herrscher die Früchte der von ihm erneuerten Akademie darzureichen, (die 1934 von Leningrad nach Moskau überführt wurde) und dem russischen Zuhörer angenehm zu sein“ – umgesetzt. 1941 wurde Deputat Baltiki mit der neu eingerichteten Stalin-Prämie ausgezeichnet. Dem preisgekrönten Regie-Duo Iosif Chejfic und Aleksandr Zarchi gelang es, mit ihrem Film eine Pathosformel zu kreieren, die für das sowjetische Wissenschaftler-Biopic der Stalin-Zeit prägend wurde.29 Oder besser gesagt, damit wurde die Pathosformel Lomonosovs, der die Selbstvergewisserung der russischen Wissenschaft in Konfrontation mit ausländischen (vor allem deutschen) Gelehrten als patriotische Heldentat verstanden wissen wollte, im Medium des Films aktualisiert.

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Vgl. Nicolosi, R.: Die Überwindung des Sekundären in der medialen Repräsentation Stalins. Versuch über die politische Theologie der Stalinzeit. In: Fehrmann, G. u.a. (Hrsg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004, 122-138. 28 „Я говорю перед всем миром! [...] Мне предлaгают кучу денег, дома, лабаротории, виллы, чтобы я бросил свою варварскую страну и переехал к ним. Так знайте же! [...] Я остаюсь здесь! С моим народом! С моим правительством!“ (1:20:22 – 1:21:04) 29 Zu Ėjzenštejns Pathos-Begriff, der an die theoretische Ausarbeitung des intellektuellen Kinos anknüpfte, siehe: Sasse, S.: Pathos und Antipathos. Pathosformeln bei Sergej Ėjzenštejn und Aby Warburg. In: Zumbusch, C. (Hrsg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010, 171-190. Zur Entwicklung des sozrealistischen Biopic siehe: Jurenev, R.: Sovetskij biografičeskij fil’m. Moskau 1949; ders.: Akademik Ivan Pavlov – o fil’me i ego sozdateljach. Moskau 1949; Dobrenko, E.: Muzej revoljucii. Sovetskoe kino i Stalinskij istoričeskij narrativ. Moskau 2008, 117-162.

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Die Helden der während der Anti-Kosmopolitismus Kampagne entstandenen Wissenschaftler-Biopics müssen sich jeweils gegen die konservativen wissenschaftlichen Schulen und reaktionäre Kräfte, die ausländischen Gelehrten und die zaristische Bürokratie, durchsetzen und den finanziellen Lockungen ausländischer Geschäftemacher widerstehen. Gleichzeitig sind sie volksverbundene Patrioten und Sympathisanten der progressiven sozialistischen Ideen. Pirogov (1947), Mičurin (1948), Aleksandr Popov (1949), Akademik Ivan Pavlov (1949), Žukovskij (1950) sind nach diesem Muster gestrickt. Die Sujets dieser Filme entfalten Lomonosovs Pathosformel der patriotischen Wissenschaft, die sich im Genre der akademischen Festrede rhetorisch im Herrscherlob des russischen Volkes als Urheber und Eigentümer des geistigen Kapitals verdichtet. Auch der Film Michajlo Lomonosov (1955) sollte ursprünglich nach diesem Zuschnitt angefertigt werden, allerdings zog sich die Fertigstellung wegen des Todes Stalins in die Länge. Lomonosovs symbolische Weigerung, nach der willkürlichen Laune seines höfischen Mäzens, Graf Ivan Šuvalov, zu tanzen, lässt sich 1955 als eine wenngleich äußerst vorsichtig formulierte Tauwetter-Aussage verstehen.

2. Suchende Söhne In dem Film Sof’ja Kovalevskaja (1956), der im Jahr von Chruščevs Geheimrede in die Kinos kam, wird das patriarchale Erzählmuster des stalinistischen Wissenschaftler-Biopic aufgeweicht. Die Lebensgeschichte der weltweit ersten weiblichen Mathematik-Professorin (in Stockholm 1884), überzeugten Feministin und Nihilistin und welterfahrenen Kosmopolitin erlaubt es, die Handlungsschemata innerhalb der kanonisch gewordenen Genre-Form zu erweitern. Die narrative Tendenz verschiebt sich ein wenig von der Heroisierung zur Psychologisierung der Figur. Diese Tendenz vollzieht sich allmählich in der Entwicklung des Biopic nach dem Krieg auch in den USA und Europa, wie Sigrid Nieberle an der Entwicklung der literaturhistorischen Filmbiographien zeigt.30 Es ist gerade der wiederholt gegen die ‚Dichterfilme‘ vorgebrachte Einwand, es sei weder spannend noch unterhaltsam, ihren Protagonisten beim Schreiben und Lesen zuzuschauen, den Nieberle als konstituierendes Merkmal des Subgenres Schriftsteller-Biopic entfaltet.31 Denn in diesen Filmen 30

Nieberle, S.: Literarhistorische Filmbiographien. Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino. Berlin 2008, 318. 31 Ebd., 24. Das performative Darstellungsproblem künstlerischer bzw. intellektueller Akte hat sich bereits in der Entwicklung des Künstlerdramas im 19. Jahrhundert abgezeichnet. Siehe dazu: Stauss, S.: Zwischen Narzissmus und Selbsthass. Das Bild des

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werden zum einen historische Autorschaftsmodelle und Mechanismen ihrer Persistenz ‚durchgespielt‘ und zum anderen die selbstreflexiven Verfahren des Films und seiner medialen Geschichte offengelegt.32 Die gleichen Probleme und Chancen stellen sich auch für den Wissenschaftler-Biopic, allerdings im größeren Maße. Wie der Ursprung der Biographik und – umfassender – der Belletristik ist auch dieses filmische Subgenre der rhetorischen Darstellung des öffentlichen Lebens verpflichtet.33 Doch im Vergleich zum Herrscher- bzw. Politiker-Biopic, das öffentliche Auftritte mit Kriegsszenen und politischen Intrigen zur Dynamisierung der Handlung variieren kann, oder zum Künstler- bzw. Star-Biopic, das öffentliche Auftritte als mediale Ereignisse und Privatheit mit Hilfe der konventionellen narrativen Muster der love story inszenieren kann, sind die performativen Ausdrucksmittel und Verfahren der Spannungserzeugung im Wissenschaftler-Biopic durch ihre thematische Spezifik eingeschränkt. Der Forscheralltag mit langwierigen Experimentabläufen und der ‚sitzenden Lebensweise‘, die Darstellungsprobleme ‚stiller‘ intellektueller Leistungen sind wenig spektakulär. Die love story figuriert in Wissenschaftler-Biopics meist (wenn überhaupt) als Nebensujet. Die öffentlichen Auftritte, die meist innerhalb einer fachspezifischen Forschergemeinschaft und in einer fachspezifischen Sprache stattfinden, bieten ebenfalls kaum Unterhaltungswert für ein breites Publikum. So mag der Befund kaum überraschen, dass das Wissenschaftler-Biopic im amerikanischen und (west-)europäischen Film gerade im Vergleich zum Politiker-, Star-, Künstler-, Sportler- oder dem beliebten Subgenre des Gangster-Biopics bis in die jüngste Zeit ein Nischendasein führte.34 ästhetizistischen Künstlers im Theater der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit. Berlin 2010, 1. 32 „Filmbiographien sind dem inoffiziellen Wissen eines fragmentarischen common sense zuzuschlagen, das sich in hohem Maße in den kommerziell etablierten, aber auch ‚subkulturellen‘ Prozessen der kontinuierlichen Umschrift der historischen popular memory formiert. Diesem Wissen wohnt gleichermaßen ein mediales Wissen inne, das nicht nur an die Medien der erzählten Zeit erinnert, sondern auch an die jeweiligen Medien und ihre Kontexte zu Zeiten der Filmproduktion.“ Nieberle, Literarhistorische Filmbiographien, 320. 33 „Aber gleichzeitig gibt sich der private und isolierte Mensch des griechischen Romans nach außen in vieler Hinsicht wie ein öffentlicher Mensch, geradeso wie der öffentliche Mensch der rhetorischen und historischen Genres: Er hält lange, rhetorisch gebaute Reden, in denen er die privaten und intimen Einzelheiten seiner Liebe, seiner Taten und seiner Abenteuer nicht in der Art einer intimen Beichte, sondern in der einer öffentlichen Rechenschaftslegung beleuchtet.“ Bachtin, M.: Chronotopos. Frankfurt a.M. 2008, 33f. (Hervorhebung im Original). 34 Vgl. Elena, A.: Exemplary lives: biographies of scientists on the screen. In: Public Understanding of Science 2 (1993), 205-223. Erst in den letzten Jahren erlebt das Subgenre des Wissenschaftler-Biopic eine Konjunktur – A Beautiful Mind (2001), Kinsey

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Das sozrealistische Wissenschaftler-Biopic löst das Problem des Handlungsaufbaus durch das patriotische Klassenkampf-Sujet allerdings nur oberflächlich. Die Kanonisierung der Gründerfiguren der russischen Wissenschaft und die Versteifung der sozrealistischen Kanongrenzen führen in kurzer Zeit dazu, dass die Handlungsentwicklung durch die Hypertrophie der patriotischen Pathosformeln ‚ausgebremst‘ wird. Die Figurenentwicklung kann ebenfalls nicht stattfinden, denn die kanonisierten Koryphäen der sowjetischen Wissenschaft sind vor der Möglichkeit des Scheiterns gefeit. Ihre öffentliche Rhetorik wird darauf beschränkt, die unethische Geldgier ihrer ausländischen Kollegen zu entlarven, die schöpferischen Energien der werktätigen Massen zu würdigen und die strahlende kommunistische Zukunft unter der fürsorglichen Führung der kommunistischen Partei zu prophezeien. Der Film der Tauwetter-Periode entwickelt neue Darstellungsstrategien zur medialen Konsolidierung des sowjetischen Wissenschaftsethos. Zwar werden weiterhin Wissenschaftler-Biopics nach kanonischem Muster produziert, wie etwa Avicenna (1957), Grigorij Skovoroda (1959) oder Akademik iz Askanii (Askania-Nowa, 1962), es handelt sich dabei jedoch um Randerscheinungen. Die Wissenschaft und in erster Linie die Physik stellen dabei für den Film der Tauwetter-Periode ein zentrales Thema dar, denn hier können die Erfolge des sowjetischen Bildungsmodells, die in dem Sputnik-Start und Sputnik-Schock manifestiert sind, medial repräsentiert werden.35 Mit der Verfilmung von Daniil Granins gleichnamigem Roman Iskateli (Bahnbrecher, 1957) vollzieht sich der Umbruch von dem historischen Wissenschaftler-Biopic zum Wissenschaftlerdrama bzw. zur Filmbiographie eines fiktionalen Wissenschaftlers, der als eine Sammelgestalt die Werte und Handlungsspielräume der scientific community und – viel breiter – der Intellektuellen artikulieren kann. Der junge Held des neuen Wissenschaftlerfilms befindet sich nicht mehr im ideologischen Widerstreit mit ausländischen Gelehrten oder Geschäftemachern, sondern im Kampf gegen die Bevormundung der auf reine Erkenntnis ausgerichteten wissenschaftlichen Arbeit durch das dogmatische und institutionelle Erbe der stalinistischen Wissenschaftsbürokratie. Die Antihelden des Wissenschaftlerfilms (2004), A Dangerous Method (2011), Hannah Arendt (2012), Die Vermessung der Welt (2012) sind in diesem Kontext zu nennen. 35 Die Physik hat sich bereits im Spätstalinismus als Leitdisziplin der sowjetischen Wissenschaft etabliert. In den 1960er Jahren repräsentierten ausgerechnet die Physiker (allen voran emblematische Gestalten wie Petr Kapica, Lev Landau und später Sergej Sacharov) das moralische Gewissen der Nation. Vgl. Vajl’, P./Genis, A.: 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Moskau 2001, 100. Bezeichnenderweise manifestierte sich die sittliche Überlegenheit der Naturwissenschaften gegenüber den ideologisch ‚korrumpierten‘ Geisteswissenschaften im populären Diskurs in der sogenannten „Diskussion zwischen Physikern und Lyrikern“. Siehe dazu: Bogdanov, K.: Fiziki vs. liriki. K istorii odnoj pridurkovatoj diskussii. In: Novoe literaturnoe obozrenie 111 (2011), 48-66.

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des Tauwetters sind die jungen prinzipienlosen Karrieristen aus der Staatsverwaltung und alte Professoren, die auf der Grundlage von durch Intrigen und unethische Machenschaften unrechtmäßig erworbener Autorität die Entwicklung innovativer Ansätze ausbremsen. Die jungen Helden verstehen sich selbst als Sinn- und Erkenntnissuchende. Die Suche treibt sie fort von den zentralen Institutionen der Wissenschaft hin zu peripheren Forschungseinrichtungen – Fabriklaboren oder entlegenen experimentellen Instituten in einem sibirischen Akademgorodok, dorthin, wo im sowjetischen Imaginarium der sechziger Jahre das Ideal der von der Macht nicht korrumpierten Forschergemeinschaft gelebt werden kann.36 Einer der bedeutendsten Tauwetter-Filme, Devjat’ dnej odnogo goda (Neun Tage eines Jahres, 1962), erweist sich in dieser Hinsicht als paradigmatisch.37 Das im Milieu der Kernphysiker angesiedelte Stationendrama von Michail Romm aktiviert die narrativen Verfahren der Passion – der (quasi-) religiösen Selbstaufopferung und dem Erlösungsversprechen. Im Zentrum der Handlung steht ein Atomexperimentator, Dmitrij Gusev, der die Forschung seines an tödlicher Strahlungsdosis gestorbenen Doktorvaters fortsetzt und sich selbst dabei für das Wohl des Volkes und im Namen des menschlichen Fortschritts aufopfert, indem er sich im Experimentverlauf starker radioaktiver Strahlung aussetzt. Damit wird in der Handlungsentwicklung eine zentrale Gründungserzählung der russischen Wissenschaftsgeschichte als Pathosformel umgesetzt: der Tod des Elektrizitätsforschers Wilhelm Richmann 1743, der während eines Experiments mit atmosphärischer Elektrizität vom Blitz erschlagen wurde. Richmanns Tod wurde in der internationalen scientific community zum Sinnbild der selbstaufopfernden Forschung – zum Martyrium der säkularen Naturwissenschaft der Aufklärung.38 Die brisante moralische Frage nach der Verantwortung der Kernforschung an der Entwicklung der Atomwaffen verleiht dem Wissenschaftspathos des Films eine für die Handlungsdynamik entscheidende Rückkopplung an das Wissenschaftsethos.39 Die feierlichen und ritualisierten (monologi36

Genis/Vajl’, 60-e, 337. Weitere Filmbeispiele sind: Ulica N’jutona, dom 1 (Newton Straße, 1, 1963); Legkaja žizn’ (Ein leichtes Leben, 1964); Lebedev protiv Lebedeva (Lebedev gegen Lebedev, 1965); Idu na grozu (Dem Gewitter entgegen, 1966); Idu iskat’ (Auf der Suche, 1966); Ijul’skij dožd’ (Juli-Regen, 1967). 38 Siehe dazu: Kaminskij, K.: Die Erfindung der Elektrizität in Russland. Zur Poetik wissenschaftlicher Anfangserzählungen. In: Die Welt der Slaven 56 (2011), 155-170. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Subgenre des Wissenschaftler-Biopics meist um Hagiographien der Wissenschaftsreligion der Moderne – ihrer Dogmenlehrer, Heiligen und Märtyrer. Vgl. Elena, Exemplary lives, 213. 39 Bemerkenswerterweise ist die Umsetzung dieses Themas im Genre des Dokumentardramas gerade durch die Aussparung pathetischer Ausdrucksformen geprägt, wie Heinar Kipphardts In der Sache Robert J. Oppenheimer (1964) vorführt. Darin ist der 37

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schen) Redeformen der wissenschaftlichen Rhetorik werden dabei entweder ausgeklammert oder ironisch gebrochen. Über Erkenntnisse und Forschungserfolge wird nicht in stabilen ritualisierten Redeformen wie Vortrag und Vorlesung gesprochen, sondern am Tisch – am Arbeitstisch im fachspezifischen Diskurs oder am Esstisch –, dort, wo feierliche Ansprachen über die Zukunft der Wissenschaft nicht willkommen sind. In der Entwicklung des Wissenschaftlerfilms der 60er und 70er Jahre wird diese Tendenz verfestigt, denn es kommt zu einer Abkehr von pathetischen Repräsentationsformen der Wissenschaft und zur Zuwendung zu ethischen Werten und Fragestellungen der wissenschaftlichen Arbeit. Wissenschaftler werden zunehmend nicht mehr heroisiert, sondern psychologisiert. An die Stelle von hart errungenen Forschungserfolgen tritt in der Handlungsgestaltung des Wissenschaftlerfilms zunehmend der Sinnzweifel der Protagonisten – die Diskrepanz zwischen disziplinierter und institutionalisierter wissenschaftlicher Arbeit und der individuellen Erkenntnissuche. Wie die seit dem Beginn der 1970er Jahre einsetzende Wissenssoziologie macht der Wissenschaftlerfilm das forschende Subjekt zum Forschungsobjekt.40 Die soziale Umgebung, in der wissenschaftliche Fakten produziert werden, und ihre Kommunikationsformen rücken auf diese Weise zum thematischen und handlungsstrukturierenden Schwerpunkt des Wissenschaftlerfilms auf. Parallel dazu entwickeln sich aus den sozrealistischen WissenschaftlerBiopics innovative Ausdrucksmittel des populärwissenschaftlichen Films. Der am Leningrader Filmstudio für populärwissenschaftliche Filme entstandene Doroga k zvezdam (Der Weg zu den Sternen, 1957), der als Biographie Konstantin Ciolkovskijs konzipiert ist, setzt weltweit neue Maßstäbe – nicht nur für den populärwissenschaftlichen Film, sondern auch für die Entwicklung der Special Effects in Science-Fiction-Filmen. Die biographische storyline gerät dabei in den Hintergrund. Die populäre Vermittlung der Ideen Ciolkovskijs, die maßgeblich die Entwicklung der Raketentechnik und Einfluss von Bertold Brechts Leben des Galilei (1939) und der Verfremdungsverfahren des epischen Theaters zu erkennen. Übrigens wurde die Galilei-Inszenierung (1966) am Moskauer Taganka-Theater mit Vladimir Vysockij in der Hauptrolle zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Denn damit wurden das Ende des Tauwetters und der Beginn der Stagnationsperiode symbolisch zur Aufführung gebracht. 40 Paradigmatisch sei hier an die Arbeiten von Bruno Latour und Steve Woolgar: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts. Beverly Hills 1979; sowie Karen Knorr-Cetina: The Manufacture of Knowledge. Oxford 1981, erinnert. Während der Stalinzeit gab es grundsätzlich keine Soziologie in der Sowjetunion, denn sie wäre unweigerlich in ein Konkurrenzverhältnis mit der sozialistischen Gesellschaftslehre getreten. Erst mit dem Tauwetter entstanden von der Partei geduldete, aber institutionell prekäre Initiativen der Autonomisierung der Sozialwissenschaft als eigenständige Disziplin. Vgl. Pugačeva, M.: Vtoraja nauka ili „Igra v biser“. Seminarskoe dviženie v sociologii 1960-1970-ch godov. In: Novoe literaturnoe obozrenie 111 (2011), 67-75.

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Weltraumforschung prägten, wird mittels aufwendiger Montage- und Animationstechniken zur eigentlichen Attraktion des Films, der kurz nach dem Sputnik-Start in die Kinos kam und international mit Begeisterung aufgenommen wurde. Seine innovativen filmtechnischen Verfahren konnte der Regisseur Pavel Klušancev mit dem Film Planeta Bur’ (Planet der Stürme, 1962) im Science-Fiction-Genre umsetzen. Allerdings blieb das Genre des Science-Fiction-Films nach anfänglichen Erfolgen der 1960er Jahre in den sozialistischen Ländern unterentwickelt, wofür es eine Reihe von ideologischen, filmästhetischen und nicht zuletzt ökonomischen Gründen gab.41 Zwar wurden in der UdSSR auch weiterhin in begrenztem Maße ScienceFiction-Filme produziert, diese führten allerdings eher ein Nischendasein. Eine Entwicklung hin zum opulenten Weltraumepos, vergleichbar mit dem Erfolg von Star Trek (1966), 2001: A Space Odyssey (1968), Star Wars (1977) oder Alien (1979) hat nicht stattgefunden. Tarkovskijs Solaris (1972) ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, weil es sich dabei zum einen um den erfolgreichsten sowjetischen Science-Fiction-Film überhaupt handelt und zum anderen um einen Film über die Grenzen des Science-Fiction-Genres, ein Film über die Grenzen von Erkenntnis und die Grenzen von Kommunikation – ganz spezifisch geht es dabei um Kommunikationsprobleme der Wissenschaftler untereinander.42 In diesem Kontext erscheint es konstruktiv, die sowjetischen Wissenschaftlerfilme als ein eigenes Genre zu betrachten, das bestimmte Merkmale und Funktionen der Science-Fiction übernimmt, die zumindest in den sozialistischen Gesellschaften als problematisch galt.43 41

Kaminskij, K.: The Voices of the Cosmos. Electronic Synthesis of Special Sound Effects in Soviet vs. American Science Fiction Movies from Sputnik-1 to Apollo-8. In: Meise, N./Zakharine, D. (Hrsg.): Electrified Voices. Medial, Socio-Historical and Cultural Aspects of Voice Transfer. Göttingen 2012, 273-290. 42 „In ‚Stalker‘ und ‚Solaris‘ ging es mir also ganz sicher nicht um Science-Fiction. Dennoch gab es in ‚Solaris‘ leider noch viel zu viele Sci-Fi-Attribute, die hier vom Eigentlichen ablenkten.“ Tarkovskij, A.: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Frankfurt a.M. 1988, 202. Man muss sich an dieser Stelle vergegenwärtigen, dass die amerikanische Science-Fiction und die sowjetische (bzw. sozialistische) Science-Fiction sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Während Science-Fiction in Amerika in stärkerem Maße vom Genre des kolonialen Abenteuerromans (Heinlein) oder dem Thriller (Azimov) geprägt ist, orientiert sich die sozialistische Science-Fiction (Lems und Strugackijs als Hauptvertreter) stärker am Genre der philosophischen Parabel. Daraus ergibt sich die Affinität zum Dialog und Selbstreflexivität zum einen und die schwächer ausgeprägte Sujetdynamik zum anderen. 43 Wie die Soziologie in der Wissenschaft, so erscheint das Genre der Science-Fiction in der Literatur als potentieller Konkurrent des Sozialismus in Hinsicht auf das Kommunikationsmonopol der Formulierung gesellschaftlicher Zukunftserwartungen. Vgl. Geller, L.: Vselennaja za predelami dogmy. Sovetskaja naučnaja fantastika. London 1985, 82ff.

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Der Biopic an sich ist schon ein sogenanntes ‚schwaches‘ Genre, das über keine eigene Stilsprache verfügt und Anleihen bei ‚Hilfsgenres‘ macht – sei es der Kriegsfilm, der Krimi, das Musical, der Thriller etc. Henry Taylor schlägt für Biopics den Begriff Chamäleon-Texte vor.44 Dies gilt auch für die (sowjetische) Science Faction, die sich mitunter auch als Krimi, Bürokratiesatire, Produktionsdrama, Jugendfilm oder gar als Operette manifestieren kann, allerdings stets bestimmte Genrekonventionen befolgt. Dies liegt zum einen daran, dass der sozrealistische Wissenschaftler-Biopic bereits ein kanonisches Erzählschema herausgearbeitet hatte, das sich in erster Linie am Bildungsroman orientiert. Zum anderen wird Science Faction von der Entwicklung des populärwissenschaftlichen Films geprägt, der in den 1960er und 1970er Jahren eine Hochkonjunktur in der Sowjetunion erlebt und ebenfalls ein hybrides Filmgenre darstellt, das in der russischen Filmwissenschaft metaphorisch als das Mischwesen ‚Zentaur‘ bezeichnet wurde.45 Science Faction kann sinnfällig als Kreuzung aus Chamäleon und Zentaur umschrieben werden. Es entlehnt dem Wissenschaftler-Biopic das Interesse am Erzählen individueller Wissenschaftlerkarrieren und das Spannungsverhältnis von Wissenschaftsethos und Wissenschaftspathos zur Erzeugung dramatischer Konflikte. Vom populärwissenschaftlichen Film übernimmt die Science Faction eine sachliche, elaboriert schlichte Filmsprache, die darin geübt ist, Wissensdiskurse in Wissensnarrative zu übersetzen.46

3. Vergessene Kinder Wie der populärwissenschaftliche Film erhebt der Science-Faction-Film den Anspruch, Entstehung, Verwaltung und Zirkulation von Wissen zu erforschen, es darstellbar und erklärbar zu machen. Und er geht weiter in seinem Anspruch, die Wissenschaftler im Publikum als Gemeinschaft zu konsolidieren, denn der Science-Faction-Film richtet sich ausdrücklich an eine spezifische Gesellschaftsschicht, die sich gemäß der osteuropäischen Ausprägung der Wissenssoziologie durch ausdifferenziertes Klassenbewusstsein (bzw. 44

Taylor, H.: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System. Marburg 2002, 22. 45 Frejlich, S.: Teorija kino ot Ėjzenštejna do Tarkovskogo. Moskau 2002, 205-218. 46 Die am Moskauer Centrnaučfil’m produzierten populärwissenschaftlichen Filme Semen Rejtburts, der zur ersten Generation der VGIK-Studenten gehörte, erfreuten sich großer Beliebtheit in den 1960er und 1970er Jahren. Anders als Klušancev, dessen Wissensvermittlungsstrategien hauptsächlich von genuin filmischen Verfahren, wie Animation, Setting und Kameraeffekten geprägt wurden und die Rejtburt seinerseits sparsamer, aber sehr gekonnt einsetzt, versucht Rejtburt, die Theorie des Intellektuellen Films seines Lehrers Ėjzenštejn in kleine Spielfilmhandlungen umzusetzen, indem er fachspezifische Diskurse in die Redeform alltäglicher Gesprächssituationen übersetzt.

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Schichtbewusstsein) auszeichnet, wie György Konrád und Iván Szelényi in ihrer Studie Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht (1978) darlegen.47 Die klandestinen Bildungs- und Kommunikationsnetzwerke der ostmitteleuropäischen Dissidenten gelten geradezu als Kardinalbeispiel für die Prekarität des Wissens. Unter dem Begriff des „prekären Wissens“ fasst Martin Mulsow die in der europäischen Geisteskultur verankerten Formen zusammen, in denen der Status von Wissen prekär sein kann: prekärer Status des Wissensträgers, prekärer gesellschaftlicher Status sowie prekärer Status der Sprecherrolle und der Behauptungen.48 Er beschreibt diese Situation intellektueller Produktion wie folgt: Statt den Wahrheitsanspruch direkt zu erheben, wurde prekäres Wissen oft nur ‚gerahmt‘ geäußert: eingebettet in eine literarische Fiktion, durch eine Sprecherrolle in einem Dialog, verkleidet in einer ioco-seriösen Burleske, bei der nicht festzustellen war, ob ein Sprechakt ernst oder doch nur scherzhaft gemeint war, als ‚obskure‘ Performanz innerhalb eines Rätsels oder einer unklaren Anspielung oder schließlich in speziellen ‚problematischen‘ Sprechweisen, etwa akademischen ‚Dubia‘. Immer ging es darum, eine klare Verpflichtung des Sprechers auf eine bestimmte Aussage zu vermeiden oder zu verunklaren, um sich im Zweifelsfall – also im Fall einer Anklage, Verfolgung und Beschuldigung – darauf zurückzuziehen, es nicht so gemeint zu haben.49

Die Prekarität des Wissens stellt das zentrale Element der Sinn- und Handlungsgenerierung in der Science Faction dar. Oft geht es in diesen Filmen um verlorene Handschriften, gestohlene Projekte, anonyme Briefe, gefälschte Daten und immer wieder um Plagiatsaffären und erpresste GhostwriterDienstleistungen – die Kardinalverbrechen gegen das Wissenschaftsethos. Parteifunktionäre werden damit als Usurpatoren der wissenschaftlichen Autorität entlarvt.50 Und es geht vor allem auch um die gesellschaftliche Stellung und Handlungsspielräume des Wissensprekariats, der Proletarier der Gelehrtenrepublik, die ihr Ressentiment gegenüber der korrumpierten

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Die Studie von Konrád und Szelényi verfährt nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv als konsolidierende Theorie der ostmitteleuropäischen Dissidentenbewegung. Der osteuropäische Science-Faction-Film erlebte vor allem im Werk des polnischen Regisseurs Krzystof Zanussi besondere Ausprägung. 48 Mulsow, M.: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2012, 15. 49 Ebd., 16f. 50 Es geht insofern um die Usurpation des geistigen Eigentums als Usurpation der Autorschaft. Der Ghostwriter (zumal wenn er erpresst und nicht entlohnt wird) bedroht nicht die Autorenrechte einer einzelnen Person, sondern er unterminiert das Urheberrecht als solches. Den Ursprung des Urheberrechts kann man als Schutz des Autors vor seinem Doppelgänger – dem Ghostwriter – nachvollziehen. Vgl. Bosse, H.: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn 1981, 9.

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Wissensbourgeoise formulieren. Und gerade dadurch wird das Gemeinschaftsethos der sowjetischen Wissenschaft konsolidiert. Die Science-Faction-Filme der 1970er und 1980er Jahre inszenieren exemplarische Versammlungen der Forschergemeinschaft, die aus der institutionellen Routine dieser Kommunikationsform heraus brisante ethische Entscheidungssituationen entwickeln. Dabei geht es um Machtumverteilung im Wissenschaftsbetrieb, um die Kompetenz der Instituts- bzw. Labor- oder Lehrstuhlleitung; es geht um prekäre Lebensbedingungen und finanzielle (Un-)Sicherheit, die mangelnden Arbeitsplätze der Aspiranten, Laboranten und Praktikanten. Und es geht um unethische Karrieremachenschaften, Parteiintrigen bzw. Bürokratieintrigen und Plagiate. Strach vysoty (Höhenangst, 1975), Kto est’ kto? (Wer ist wer?, 1977), Mladšij naučnyj sotrudnik (Wissenschaftlicher Mitarbeiter, 1978), Odnofamilec (Der Namensvetter, 1979), Segodnja ili nikogda (Heute oder nie, 1979), Dobrjaki (Die Gutmenschen, 1980), Garaž (Die Garage, 1980), Nezvannyj drug (Ungebetener Freund, 1981), Kafedra (Der Lehrstuhl, 1982), Bez svidetelej (Ohne Zeugen, 1983), Posleslovie (Nachwort, 1984), um nur die bekanntesten Filme des Genres zu nennen, problematisieren in dieser Weise den Alltag der wissenschaftlichen Arbeit. Der romantische Enthusiasmus des Neuaufbruchs, der den TauwetterFilmen eigen war, verschwindet in den Handlungsverläufen dieser Filme zusehends.51 Der Wissenschaftspathos und die Heroisierung der Forscher werden zunehmend von der Psychologisierung der Handlungsfiguren und ihren ethischen Konflikten suspendiert. Bezeichnenderweise wird dabei die familiäre oikos-Gemeinschaft als zentrale mediale Metapher des sowjetischen Ethos einer kritischen Revision unterzogen. Ging es in dem sozrealistischen Wissenschaftler-Biopic vorrangig um Väter (Akademie), die ihre Söhne (Partei) anerkennen, so wechselte das Rollen-Verhältnis im Tauwetter-Film. Hier wurde die Filmhandlung oft durch einen immanenten Loslösungsprozess der im sowjetischen Bildungsbetrieb herangewachsenen Söhne von der Obhut der Parteikontrolle modelliert. Der Aufbruch der jungen Wissenschaftler zu neuen Erkenntnisufern brachte gleichzeitig die Verkalkungen und Verkrustungen veralteter Strukturen 51

Noch 1967 konnte Petr Kapica dafür plädieren, das moralische Kapital der Akademie der Wissenschaften in legislative Gewalt umzumünzen: „To be able to maintain democracy and legality […] it is absolutely necessary for a country to have an independent institution to serve as an arbiter in constitutional problems. In the United States this role is reserved for the Supreme Court and in Britain for the House of Lords. It seems that in the USSR this function falls morally on the Academy of Sciences of the USSR.“ Zit. nach: Medvedev, Z.: Soviet Science. New York 1978, 108. Zu Beginn der 1970er Jahre schien dieses Vorhaben bereits utopisch. Die Wissenschaftler, sobald sie ihre moralische Autorität institutionalisieren wollten, mussten die Erfahrung machen, dass ihre Einmischung in das Kommunikationsmonopol der Partei nicht geduldet wurde. Vgl. Genis/Vajl’, 60-e, 105.

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der Wissenschaftsverwaltung mit auf die Szene. In den Filmen der Stagnationszeit geht es hingegen oft um gefährliche Liebschaften, verlassene Frauen und vergessene Kinder – um Ehedramen im weitesten Sinne, die, als Gesellschaftsdramen gesehen, die zerrütteten Familienverhältnisse und Kommunikationslosigkeit innerhalb der scientific community und in ihrem Verhältnis zum Parteiapparat metaphorisch repräsentieren.52 Die Fernsehproduktion Dorogoj Ėdison! (Mein lieber Edison!, 1986), die auf dem Festival der Fernsehfilme (VTF) 1987 mit dem Spezialpreis der Jury „für pointierte Darstellung ethischer Problematik“ (За остроту постановки нравственных проблем) ausgezeichnet wurde, galt in der Zeit ihres Erscheinens geradezu als ein Paradebeispiel des Perestroika-Films.53 Insbesondere wurde dabei die mutige Persiflage des Masterplots spätsowjetischer Produktionsfilme hervorgehoben.54 Auch heute noch überrascht dieser Film durch die überwältigende Offenheit, mit der die Probleme und der Reformstau der ersten Perestroika-Jahre verhandelt werden. Dabei zeugt der Handlungsaufbau von einer polemischen Absetzung vom ScienceFaction-Film der Tauwetter-Periode, die sich bewusst auf dessen charakteristisches Grundnarrativ richtet. Anders als im konventionellen Handlungsmuster dieses Genres nämlich, das emphatisch den Aufbruch des Wahrheitssuchers zu neuen Erkenntnisufern wie die Überwindung veralteter Bürokratiestrukturen inszeniert, geht es in Mein lieber Edison! letztendlich um eine Art Entlarvung dieser optimistischen Plot-Struktur als naives Wunschdenken, das an der Realität sowjetischer Gesellschafts- und Wissenschaftsorganisation scheitert. Der talentierte Physiker Odincov wird nach seinem Abschluss an keinem der renommierten Forschungsinstitute zugelassen – aus Mangel an ‚Vitamin B‘, wie sein wohlmeinender Professor offen eingesteht, denn diese Posten seien für die Kinder der Parteifunktionäre und der Verwaltungselite reserviert. Odincov muss sich mit einer Stellung in der Entwicklungsabteilung eines Elektrotechnikbetriebs in der tiefsten Provinz begnügen. Dort wird er nach seiner Ankunft mit allen denkbaren Übeln des sowjetischen Wissenschaftsbetriebs konfrontiert: Geldmangel, Korruption, Nepotismus, Plagiat, Erpressung, Intrigen der Partei- und Betriebsleitung und einiges mehr. Die erbitterten Versuche des Protagonisten, sich selbst und der Wissenschaft treu zu bleiben und sich dabei zugleich mit der Umgebung zu arrangieren, scheitern letztendlich an der existenziellen Notwendigkeit ethischer Entscheidung. 52

Bezeichnenderweise dominierten alleinerziehende Mütter jenes intellektuelle Milieu, welches das Auditorium institutionell prekärer sozialwissenschaftlicher Seminare stellte und in dem illegale samizdat-Literatur und ideologische Ressentiments zirkulierten. Vgl. Pugačeva, Vtoraja nauka, 71. 53 Tarasov, A.: Kak drat’sja v okruženii. In: Pravda 17.03.1987, 3. 54 Chlopljankina, T.: Na bezymjannoj vysote. In: Literaturnaja gazeta 03.06.1987, 8.

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Paradigmatisch trägt der Film ein notorisches Konfliktpotential zwischen Verwaltungseliten und Wissenschaftler zur Schau: Der vollkommen inkompetente Direktor des Instituts – ein skrupelloser Karrierist – will einen alten Physiker, der mit seinen Tauwetter-Idealen gegen den Strom zu schwimmen versucht, dazu erpressen, für ihn als Ghostwriter die Doktorarbeit zu verfassen. Der Protagonist erfährt von dem Betrug und gerät somit ungewollt sowohl zwischen die Fronten einer geschickt eingefädelten Intrige wie auch in ein moralisches Dilemma, was in der Filmhandlung im Rahmen einer inquisitorischen Gewissensforschung als Verhördialog entfaltet wird. Der wohlmeinende Untersuchungsleiter des Parteiausschusses, der in seinem Umgang mit dem „jungen Spezialisten“ zwischen paternalistischer Herablassung, Annäherung, Aufrichtigkeit und Provokation schwankt, warnt den Protagonisten mit schonungsloser Offenheit, dass er mit seiner Wahrheitssuche und seinem Idealismus auf verlorenem Posten kämpft. Unabhängig von der Aussage Odincovs hat der odiose Direktor seine Partie bereits gewonnen, denn Odincovs Wahl zwischen Lüge und Wahrheit hat nur für ihn allein Folgen. Zu lügen bedeutet hier Konformität und Komfort, bei der Wahrheit zu bleiben bedeutet hingegen Konfrontation und den Verzicht auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Odincovs „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ erweist sich als sicherer Weg in die Dissidenz und innere Emigration – der geistige Zufluchtsort, an dem in den sozialistischen Gesellschaften das Machtpotential der Ohnmächtigen gesammelt wurde, wie es Václav Havel 1980 in seinem gleichnamigen Essay formuliert. Letztendlich erreichte diese klandestine Parallelgesellschaft im Ostblock jene kritische Masse kreativer und intellektueller Energien, die zur Herausbildung einer konkurrierenden Klassenmacht (Konrád/Szelényi) führte und die sozialistischen Parteidiktaturen um 1990 zum Einsturz brachte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte viele Gründe: ökonomische, politische, ideologische und soziale. Einer dieser Gründe war der diplomatische Bruch zwischen dem Parteistaat und der Gelehrtenrepublik.55 Die gemeinsame Kommunikationsbasis der Wissenschaftler und der Partei, ihr Aufklärungsethos und Bildungsauftrag, war durch die institutionelle und hierarchische Verselbstständigung des dialektischen Materialismus als oktroyierte Erkenntnistheorie und seine bürokratische Metastasen erodiert. Anhand der Entwicklung des Science-Faction-Films lässt sich dieser Erosionsvorgang als Verlust der Balance zwischen Wissenschaftspathos und Wissenschaftsethos beschreiben. Die historische Transformation der Handlungsentwicklung in diesen Filmen „aus dem Leben der Wissenschaftler“, 55

Vgl. Shlapentokh, V.: Soviet Intellectuals and Political Power. The Post-Stalin Era. Princeton, NJ 1990, 283.

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wie dieser Themenkomplex in der Sowjetunion bezeichnet wurde, erlaubt es aufzuzeigen, welche dramatischen Konflikte, Sujets, Motive und soziale Metaphern das Gesellschaftsbild und die Selbstwahrnehmung der sowjetischen scientific community strukturierten. Die Disharmonie der wissenschaftlichen Pathosformel und der familiären Ethosformel, die in der narrativen Entwicklung des Science-Faction-Films beobachtet werden konnte, vermag auf diese Weise den Kommunikationsverlust in der ästhetischen Repräsentation der sowjetischen Gemeinschaft sinnfällig zu veranschaulichen.

HEIKO HAUSENDORF

Spur der Steine und Spur der Wahrheit Ethos und Pathos in der filmischen Inszenierung von Achtungskommunikation1 1. Einführung Die Handlung des nach einem Roman von Erik Neutsch gedrehten Films Spur der Steine (Frank Beyer, DEFA 1966), der eine prominente Verbotsund Wiederaufführungsgeschichte hat,2 ist schnell erzählt: „Werner Horrath“,3 ein ambitionierter Parteisekretär, kommt auf eine Baustelle im fiktiven „Schkona“, auf der alles schiefläuft. Er schafft es, die Abläufe neu zu organisieren und einen notorisch aufsässigen Zimmermannstrupp und dessen Anführer („Hannes Balla“ – gespielt von dem schon zur Entstehungszeit des Films sehr populären Manfred Krug) für seine Sache zu gewinnen. Allerdings geht Horrath als verheirateter Genosse und Familienvater ein Verhältnis mit „Katie Klee“ an, einer Ingenieurin, die ebenfalls neu auf die Baustelle gekommen ist. Selbst nachdem Katie schwanger geworden und das gemeinsame Kind geboren ist, versucht er, dieses Verhältnis geheim zu halten. Es endet damit, dass alles herauskommt und Horrath aus der Partei ausgeschlossen werden soll. Weder seine Ehe noch seine Beziehung mit Katie kann Horrath im Zuge der Ereignisse aufrechterhalten. Am Ende, als alles gesagt und ausgestanden ist, steht er mit leeren Händen da. Das, in etwa, ist die Geschichte. Man kann sie je nach Plot so oder so erzählen: als Romanze zwischen Mann und Frau, als groteske Satire der Vorgänge auf einer Baustelle 1

Die Idee zu diesem Beitrag geht auf Gespräche mit Jurij Murašov zurück, in denen uns die Intensität der Inszenierung von Ethos und Pathos beim Reden über sich selbst und andere aufgefallen war. Diesem Eindruck soll hier nachgegangen werden. Für hilfreiche Kommentare zur ersten Fassung dieses Beitrags danke ich Andi Gredig vom Deutschen Seminar der Universität Zürich und der Herausgeberin und dem Herausgeber dieses Bandes. 2 Der Film wurde in der DDR kurz nach seiner Uraufführung verboten und ist dann – mit großem Erfolg und großer Resonanz – seit 1989 wieder gezeigt worden. Über Einzelheiten und Hintergründe informieren z.B. die nach der Wiederaufführung erschienenen Artikel von Behrens, U.: Spur der Steine: http://www.filmzentrale.com/rezis/SpurderSteine.htm (07.02.2016); Kreimeier, K.: Spur der Steine. Sieben Zimmerleute proben die Anarchie: http://www.filmzentrale.com/rezis/spurdersteinekk.htm (07.02.2016); Kuhlbrodt, D.: Spur der Steine. Wie verspielt die Partei die Macht?: http://www.filmgazette.de/index.php?s=filmkritiken&id=614 (07.02.2016). 3 Die Schreibung der Eigennamen folgt der Sekundärliteratur (wie in Anm. 2 zitiert).

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(im Stil der „Baugrube“ von Platonov) oder als Komödie mit Verwicklungen und Verwechslungen. Der Film erzählt die Geschichte nach dem Muster der Tragödie, die uns mitleiden lässt an der Ausweglosigkeit des Schicksals der Protagonisten. Zu diesem Muster trägt insbesondere die Rahmung der Geschichte bei. Der Film fängt damit an, dass ein Parteitribunal zum Ausschluss des Parteisekretärs Horrath eröffnet wird (Abb. 1): Abb. 1: Bleibtreu (stehend) eröffnet das Parteiverfahren.

Ausschnitt 1: Eröffnung des Parteiverfahrens4 01

05

B

(-) einziger tAgesordnungspunkt unserer berAtung- (.)

(B = Bleibtreu)

Das hier von „Bleibtreu“ (im Bild stehend), dem Nachfolger Horraths als Parteisekretär, eröffnete Parteiverfahren (Z. 2) liefert die Rahmenhandlung für den Film, der dann immer wieder zwischen dieser Rahmenhandlung (den Diskussionen und Anhörungen während des Tribunals) und der eingangs skizzierten Geschichte in Form von Rückblenden hin- und herspringt. Diese Rahmenhandlung ist nicht nur ein dramaturgischer Kniff, um die Geschichte spannend zu machen. Die Vorwürfe, die hier erhoben werden (Z. 5-7), liefern den Fluchtpunkt, auf den der Zuschauer immer wieder verwiesen und auf den die Inszenierung von Ethos und Pathos immer wieder bezogen wird. 4

Die Wiedergabe des Wortlauts orientiert sich an der gesprächsanalytischen Transkription, mit der die Mündlichkeit der Rede mit Mitteln der literarischen Umschrift dokumentiert wird (vgl. dazu Selting, M. u.a.: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10 (2009), 353-402). Die wichtigsten Konventionen sind: Generelle Kleinschreibung, Versalien für Betonung, Interpunktion zur Kennzeichnung paraverbaler Phänomene, Zeilensprung nach Redeeinheiten mit Notation der Stimmbewegung am Einheitsende, Angabe der Geltungsdauer von Kommentaren durch doppelte spitze Klammer ( …. >).

Spur der Steine und Spur der Wahrheit

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‚Ethos‘ und ‚Pathos‘ verwende ich im klassischen rhetorischen Sinn nach Aristoteles, also in der Trias von Logos, Ethos und Pathos als Quellen, aus denen der Redner, hier: der Film, schöpfen kann, um zu überzeugen.5 In diesem Sinne folgt die Geschichte, die erzählt wird (s.o.), dem Logos, der logischen Argumentation. Es ist die Welt der Fakten, das Wie-es-war, das mit der Technik der Rückblenden immer wieder mit dem Anspruch der Wahrheitsfindung qua (chrono)logischer Rekonstruktion in Anspruch genommen wird. Die ‚Spur der Steine‘ ist in diesem Sinne eine Spur der Wahrheit. Ethos und Pathos entstehen dort, wo über die Protagonisten dieser Geschichte geredet wird: innerhalb der Rahmenhandlung des Tribunals, aber auch in den unzähligen Rückblenden auf Selbst- und Fremdthematisierungen6 zwischen den Protagonisten. Ethos beziehe ich dabei auf die Identitätskonstruktionen der Beteiligten, Pathos auf die Art und Weise, wie diese Konstruktionen aufgeladen werden mit Bezug auf das, was sie beim impliziten Zuschauer auslösen sollen an Affekten, an Solidarisierung und Respekt einerseits, an Abgrenzung, Abscheu und Verachtung andererseits. Der Fluchtpunkt dieser Ethos- und Pathos-Inszenierungen ist die moralische Kommunikation, eine Kommunikation also, die Hinweise mitführt, ob und unter welchen Bedingungen man sich selbst und andere achten kann. Im Folgenden soll deshalb zunächst im Rückgriff auf Konzepte aus der Soziologie erläutert werden, was mit Achtungskommunikation gemeint ist (s.u. 2.). Im Falle des Achtungserweises, wie wir ihn exemplarisch anhand von Filmausschnitten rekonstruieren werden, stehen Ethos und Pathos auf der Seite der Protagonisten, die uns der Film entsprechend als achtenswert und ‚gut‘ vorführt. Auf der Gegenseite steht eine Form der Selbstthematisierung, der im Film jegliches Pathos verweigert wird: die Selbstkritik als ritualisierte parteipolitisch motivierte Praxis, mit der sich diejenigen als nicht achtbar erweisen, die über kein Handlungsethos verfügen und die uns der Film als nicht achtbar und ‚schlecht‘ vorführt (s.u. 3.). Mit dieser Fokussierung auf Selbst- und Fremdthematisierungen und mit der Erzählung der Verstrickung und des Niedergangs von Horrath, von dem wir am Ende nicht 5

Wenn man diese Quellen etwas schematisch und vereinfachend als Verweise auf den Sprecher und seine Integrität (Ethos), auf die Zuhörenden, die es zu (be-)rühren gilt (Pathos), und auf die Welt der Dinge und Sachverhalte, die den Gesetzen der Logik folgen (Logos), versteht, mag diese Trias an Bühlers Unterscheidung von Ausdruck, Appell und Darstellung im Organonmodell erinnern. Auch sie orientiert sich an einer grundlegenden Dreiheit der Kommunikation („einer – dem anderen – über die Dinge“). Bühler, K.: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart/New York 1982, 24. 6 Im Sinne von Hahn, A.: Identität und Selbstthematisierung. In: Ders./Kapp, V. (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt a.M. 1987, 9-24. Hinweise zur linguistischen Umsetzung dieses Konzepts in Hausendorf, H.: Therapeutisierung durch Sprache. Linguistische Beobachtungen mit Illustrationen aus der Welt der Rundfunksendungen mit Anruferbeteiligung. In: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 13/1 (2011), 9-36.

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wissen, ob wir ihn noch achten können und sollen, liefert der Film (für mich) ein Paradebeispiel einer Darstellung, die dem Erzählmuster des tragischen Plots folgt, wie es Hayden White in seiner auf die Geschichtsschreibung orientierten Systematik beschrieben hat. Wenn die DDR im Vergleich zur BRD, wie gesagt wurde, eine Gesellschaft mit Präferenz für tragische Selbstthematisierungen war,7 dann ist Spur der Steine – entgegen seiner prominenten Verbotsgeschichte – durch und durch ein DDR-Film. Darauf komme ich zum Schluss zurück (s.u. 4.). Der vorliegende Beitrag beschränkt sich im Sinne einer Fallstudie darauf, eine kleine Auswahl von Ausschnitten zu präsentieren und diese Ausschnitte unter den soeben genannten Stichworten von Achtungskommunikation, Selbstkritik und Tragik zu kommentieren. Die Ausschnitte haben ihre eigene Evidenz, und die Hoffnung bei diesem Vorgehen ist, sie durch Auswahl und Arrangement zum Tragen kommen zu lassen. Der das schreibt, ist Linguist, kein Filmwissenschaftler. Wenn man an Ethos und Pathos in dem oben eingeführten Sinn denkt, interessiert die Rhetorik des Films, seine Art, Logos, Ethos und Pathos in Anspruch zu nehmen. Es geht also um die Betrachtbarkeit und die Verstehbarkeit des Films – und um die Hinweise, die sich dafür im Film selbst, also in dem, was wir sehen und hören können, rekonstruieren lassen.8

2. Achtungskommunikation Unter „Achtungskommunikation“ verstehen wir im Anschluss an Luhmann und die Untersuchungen von Bergmann und Luckmann zur „kommunikativen Konstruktion von Moral“ den empirisch in der Regel gut abgrenzbaren Fall, dass Personen, ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen nach Kriterien von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ (bzw. ‚böse‘) bewertet werden. Dafür werden in der Kommunikation Hinweise auf die Bedingungen gegeben, unter denen man Personen Achtung erweisen oder auch Achtung entziehen kann und muss.9 7

So Bude, H.: Das Ende einer tragischen Gesellschaft. In: Joas, H./Kohli, M. (Hrsg.): Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen. Frankfurt a.M. 1993, 267-281, im Anschluss an die Terminologie von White, H.: Auch Klio dichtet, oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986. 8 Diese Methodik lehnt sich an die Analyse von Lesbarkeitshinweisen in Texten an, wie sie in Hausendorf, H./Kesselheim, W.: Textlinguistik fürs Examen. Göttingen 2008, erläutert wird. 9 Vgl. zu diesem Konzept Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1997, 242ff., 396ff.; Bergmann, J.R./Luckmann, Th./Ayaß, R. (Hrsg.): Kommunikative Konstruktion von Moral. 2 Bde. Opladen 1999, und mit weiteren Kommentaren zur Vereinbarkeit dieser Ansätze Hausendorf, H.: Zugehörigkeit durch Sprache. Eine linguistische Studie am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung. Tübingen 2000, 442ff.

Spur der Steine und Spur der Wahrheit

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Wie eingangs anhand der Vorwürfe gegen Horrath schon illustriert, beginnt der Film mit Achtungskommunikation, wobei in diesem Fall fraglich ist, ob wir uns als Zuschauer mit dem nahegelegten Achtungsentzug identifizieren oder ihm als Teil eines rituellen Parteiverfahrens eher skeptisch gegenüberstehen sollen. Wie Achtungskommunikation mit Ethos- und PathosHinweisen verknüpft werden kann, lässt sich am Beispiel einer der ersten Rückblenden (s.o. 1.) rekonstruieren, in der ein Gespräch zwischen Horrath und „Jansen“, dem Parteifunktionär aus der „Bezirksleitung“, gezeigt wird, in dem es darum geht, wie Horrath auf der Baustelle mit dem aufsässigen „Balla“ umgehen soll (Abb. 2). Von diesem Balla ist im Folgenden die Rede: Abb. 2: Horrath (sitzend) zum Rapport bei Jansen in der „Bezirksleitung“.

Ausschnitt 2: Achtungskommunikation I 01

J

05

H J H J

10

H

15

20 J 25

H

das ist der grösste schläger im ganzen beZIRK; (-) aus dieser sorte haben die faschisten ihre hELden gemacht; wir leben nicht im faschISmus; dAnke für die belehrung; herman (.) du weisst genAU was ich meine; (-) wir haben hEUte die machtDU hast die macht auf der baustelle; wIrklich; und nicht dein tExas könig balla; fEIglinge und DUMmköpfe in die reihe zu kriegendas ist Einfach- (-) die braucht man nur zu zwIngen- (-) und nicht mal DAS; die rIEchen wenn sie müssen; (-) aber wir brauchen leute wie bAlla- (-) und die kriegt man nur auf EINE weise; (-) die muss man bei ihrer STÄRKE packen; (-) JA, (-) (die) muss man bewEIsen (.) dass man ehrlich ist; (--) man muss (.) SAgen was man denkt- (-) man muss (.) auch TUN (.) was man sagt- (-) JA und so (.) ja verstEH‘ schon makaRENko (.) der mensch wird gut durch vertrauen JA,

(J = Jansen, H = Horrath)

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Achtungskommunikation manifestiert sich in diesem Ausschnitt in der Präsentation eines parteipolitischen Ethos, in einer Haltung also, die der Redner verkörpert. Dazu gehören eine Reihe von Tugenden wie Authentizität, Ehrlichkeit und Geradlinigkeit, welche die Bedingungen darstellen, unter denen man sich selbst achten kann und von anderen (wie Balla, um den es hier geht) geachtet werden kann. Dabei geht es nicht primär um persönliche Eigenschaften, sondern um Politik („Macht“ ist der Kode, von dem hier auch explizit die Rede ist: Z. 6), genauer um die Politik einer Partei (hier reden zwei ‚Genossen‘, wie wir als Zuschauer aus der Situierung und Kontextualisierung des Gesprächs wissen können). Damit verbunden ist ein Parteiethos der Missionierung im Sinne einer bestimmten Pädagogik. Nicht nur um Machterhalt durch Gewalt und Unterwerfung geht es, sondern um Überzeugung. Das Stichwort dafür ist „makarenko“ (Z. 23), das im Sinne eines starken Intertextualitätshinweises all das aufruft, was man über den Autor Makarenko, seine Schriften und seinen Status wissen kann. Das in dieser Szene erstmalig inszenierte parteipolitische Ethos, hier in der Figur Horraths verkörpert, taucht im Film immer wieder auf. Es trennt die ‚Guten‘ des Films von den ‚Schlechten‘. Dafür sorgen die Pathos-Hinweise, mit denen der Ausdruck eines gruppenbezogenen Ethos verbunden ist. Damit ist gemeint, dass wir als ‚gute Zuschauer‘ ergriffen sind, wenn wir Horrath zuhören; dass wir (wie es anhand der Figur Ballas im Film vorgeführt wird) den Appell spüren, das demonstrierte Ethos zur Grundlage unserer Zuschauerhaltung zu machen. Zur Illustrierung sollen ein paar dieser Pathos-Hinweise herausgegriffen werden. Es beginnt schon mit der Sprechweise im Sinne der Inszenierung von sprechsprachlich-spontaner vs. vorgeformter, floskelhafter Rede durch Verzögerungssignale und die Variation des Sprechtempos. Hier redet einer, so das Signal, der gerade „sagt, was er denkt“, und dabei noch nach den passenden Begriffen für das, was er ausdrücken möchte, ‚sucht‘. Das fragliche Ethos bekommt damit den Akzent des Authentischen, einer nicht vorgespielten und routiniert abgespulten, sondern glaubwürdig vorgetragenen Überzeugung. Weiter gehören die kategorischen Formulierungen (mit Parallelismen: „kriegt man“, „braucht man“, „muss man“, „man muss“ in Z. 1221) dazu, mit denen das dargestellte Ethos eine besondere Nachdrücklichkeit und Emphase bekommt. Etwas für den Sprecher Grundlegendes kommt gerade zur Sprache, so das Signal. Schließlich sehen und hören wir den Modell-Zuhörer Jansen, der genau „versteht“, was der andere meint. Das fragliche Ethos, das Horrath hier gegenüber Jansen ins Feld führt, wirkt also dadurch, dass es in einer Rhetorik der Selbstoffenbarung und Authentizität vorgebracht wird, die dann auch auf den anderen überspringt. Die Versprachlichung des eigenen handlungs- und einstellungsleitenden Ethos folgt also vordergründig nicht kommunikativen Zwecken der Verständigung und

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der Darstellung nach außen, sondern kommt gerade umgekehrt in der Ausblendung solcher kommunikativen Zwecke, eben im Sinne einer sich offenbarenden Selbstthematisierung, wenn man so will: von ‚innen‘ zur Sprache. Wir werden noch sehen, dass diese Art von Pathos-Hinweisen (das Ausblenden vordergründiger kommunikativer Zwecke, aufgrund derer sich ein Sprecher einem anderen zuwendet, zugunsten einer gleichsam selbstbezogen zum Ausdruck kommenden Selbstthematisierung) im Film regelmäßig eingesetzt werden. In dieser Szene werden sie nicht nur sprachlich manifest, sondern auch im Raumverhalten und in Mimik und Blickverhalten inszeniert. So sitzen sich Horrath und Jansen nicht etwa gegenüber am Tisch, sondern positionieren sich mehr oder weniger abgewandt voneinander. In dem Maße, in dem Horrath sein Ethos entwickelt, hält es ihn nicht mehr auf seinem Stuhl: Er steht auf und demonstriert auf diese Weise auch durch sein Körperverhalten die innere ‚Bewegtheit‘ und Dringlichkeit seiner Überzeugung (Abb. 3). Auffällig sind auch Mimik und Blickverhalten: Augenbrauen hochziehen, an die Decke schauen statt Blickkontakt herzustellen (Abb. 4). Abb. 3: Horrath springt auf.

Abb. 4: Horrath ‚sucht‘ nach Worten.

Immer wenn wir sehen, dass im Gespräch der Blickkontakt zwischen den Dialogpartnern zugunsten einer demonstrativ selbstbezogenen Innenschau aufgegeben wird (wir sehen, dass sich die Beteiligten nicht länger anschauen), merken wir, dass es ernst wird und Achtungskommunikation mit dem Appell der Identifizierung verknüpft wird. Es handelt sich um eine Einladung an den Zuschauer, sich mit den Protagonisten moralisch zu solidarisieren.10 10

Zum Konzept der „moralischen Solidarisierung“ vgl. Hausendorf, Zugehörigkeit durch Sprache, 448ff.

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Diese Betrachtbarkeits- und Verstehbarkeitshinweise werden auch durch filmische Mittel unterstützt. Dazu zählt etwa der Wechsel der Einstellungen und der Schnitte in der Dialoginszenierung: So beginnt die fragliche Szene in diesem Fall mit einer Art Halbtotalen (der Sprech-Raum wird sichtbar mit Vorder- und Hintergrund) und endet dann mit einer Großaufnahme, mit der das Gespräch zwischen Jansen und Horrath in den Hintergrund und die Selbstbezogenheit des längeren monologischen Beitrags (Z. 10-22) in den Vordergrund rückt (Abb. 5-7): Abb. 5-7: Von fern (‚Halbtotale‘) zu nah (‚Großaufnahme‘), vom Dialog zum Monolog.

Mit der Inszenierung der Achtungskommunikation im Sinne einer Art ‚Selbstgespräch‘, das nicht länger oberflächlichen kommunikativen Erfordernissen zu genügen hat, sondern ein Medium der Selbsterkenntnis und -offenbarung wird, baut sich im Film ein Muster von Ethos- und PathosHinweisen auf, das wir immer wieder antreffen, wenn es darum geht, Achtungskommunikation mit dem Appell der identifikatorischen Anteilnahme zu verknüpfen.

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Zu finden ist das noch in den Details der Gestaltung der Szenen. Recht aufschlussreich ist dafür etwa ein ‚Gespräch‘ (s.u.) zwischen Balla und seinem Zimmermannskollegen „Elwert“ (zu Weihnachten), bei dem Balla, auf dem Bett liegend und, nach etlichen Flaschen Bier, mehr zu sich selbst als zum mitanwesenden Elwert spricht (der außerhalb des Blickfeldes von Balla ebenfalls auf dem Bett liegt): Ausschnitt 3: Achtungskommunikation II 01

05

10

Ba

manchmal tut er mir n bisschen lEId; (2.5) (er) strampelt sich ab für seine (-) partEI- (--) und wofÜr, (-) für nAss; (-) im GEgenteil; (.) die hauen Alle noch auf ihm rum; (-) Alle sind gegen ihn (-) aber was er sich VORgenommen hat, mAcht er; (-) warUM, (-) kann ich dir gAnz genau sagen; (-) Weil er ein ideAL hat;

(Ba = Balla)

Wir finden hier die gleichen Ethos-Hinweise auf Konsequenz im Verhalten (Z. 8-9) und können zugleich sehen, wie dieses Ethos in pädagogischer Hinsicht zu wirken beginnt: Balla ist – gegen seine eigene Intention – von Horrath „überzeugt“. Das Ethos, für das ein Sprecher einsteht, bekommt hier zudem einen Namen: „Ideal“ (Z. 12). Das wir es ernst nehmen müssen, verstehen wir aus den Pathos-Hinweisen der Gestaltung des Dialograums: Blickkontakt ist kaum möglich, hier wird kein Gespräch in Szene gesetzt, sondern Geselligkeit im Sinne gemeinsamen Trinkens, Liegens und Rauchens. Hier, am Rande der Kommunikation, entsteht dann ein Ort für authentische Selbst- und Fremdthematisierungen. Das Trinken, im Film allgegenwärtig, ist genau dafür in seiner Sozialsymbolik funktional, schränkt es doch die kommunikationsrhetorische Oberflächlichkeit zugunsten wahrhaftiger Selbstdarstellung ein. Einmal auf diese Fährte gesetzt, findet man eine Reihe ähnlicher Szenen, in denen sich Achtungskommunikation am Rand der Kommunikation abspielt. Dafür ist auch die Aussprache zwischen Balla und Horrath aufschlussreich, die sich ergibt, nachdem Balla herausgefunden hat, dass Horrath ein Verhältnis mit Katie hat, worauf er Horrath in seiner Wohnung aufsucht:

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Ausschnitt 4: Achtungskommunikation III 01

Ba H

05

10 Ba H

und ich begreife auch nicht woher du den MUT gefunden hast den trutmann ABzuschiessen (-) in deiner verlOrenen lage ich bin_n neunzehnhundertfünfzig in die partEI eingetreten (--) ich hab bisher wenig Lebenserfahrung (--) je jünger man ist desto BEsser weiss man über alles bescheid; (-) was GUT ist und was schlEcht ist; (--) na wie zum beispiel ein kommunIST beschaffen sein muss; (-) GRADlinig und sauber; (-) auch in seinem privATleben; (-) seine gefÜhle muss er beherrschen; (-) das ist doch in Ordnung; (.) das soll doch heut AUch noch so sein; (-) JA (--)

(Ba = Balla, H = Horrath)

Auch hier finden wir wieder das schon bekannte Ethos, das hier explizit auf einen sozialen Typus („ein kommunist“) bezogen wird (Z. 8). In dieser Typisierung scheint ein Topos auf: der des „richtigen ehrlichen überzeugten Kommunisten“, „vor dem man achtung haben kann“.11 In diesem Beispiel werden die Eigenschaften explizit benannt („wie er beschaffen sein muss“), die oben in Ausschnitt 2 anklingen und veranschaulicht werden: „geradlinig und sauber“ (Z. 9). Auch die Achtungspole werden explizit genannt: „was gut ist und was schlecht ist“ (Z. 7). Diese Achtungsbedingungen werden von Balla, der parteipolitisch unverdächtigen, moralischen Instanz des Films, den der ‚gute‘ Zuschauer achtet, bestätigt (Z. 12-13). Aufschlussreich ist auch in diesem Fall die Gestaltung des Dialograums: Horrath setzt sich nicht vis-à-vis an den Tisch, an dem bereits Balla sitzt, sondern mit einiger Entfernung zu Balla in die Ecke des Raumes. Wenn Horrath seine kleine Geschichte beginnt (Z. 4), geht die Gestaltung der Szene in ein Selbstgespräch über, in eine narrative Selbstthematisierung im Modus des lauten Nachdenkens über sich selbst, unterstützt auch hier wieder durch den Wechsel von der Halbtotalen des Wohnzimmers zur Naheinstellung auf Horraths Gesicht. Hier zeigt sich eine im Film musterhaft ausgeprägte Kombination von Ethos- und Pathoshinweisen, mit der der Film seine Zuschauer geradezu sogartig in eine moralische Dauerbeobachtung und -reflexion hineinzieht – worauf wir noch zurückkommen (s.u. 4.). Vorab wollen wir aber ein anderes Muster von Selbst- und Fremdthematisierung illustrieren, das im Film den Gegentyp der Selbstkritik darstellt. 11

Zitiert aus einem Gespräch, das in Hausendorf, Zugehörigkeit durch Sprache, 242 und 468ff., nachgewiesen und analysiert wird.

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3. Selbstkritik Erscheinungsformen und Funktionen der Selbstkritik als Muster von Selbstund Fremdthematisierung werden im Film mehrfach vorgeführt. Wir greifen zunächst einen in dieser Hinsicht besonders klaren Fall heraus, an dem man gut den Kontrast zur Achtungskommunikation studieren kann. Die fragliche Szene spielt in der Rahmenhandlung des Parteiverfahrens. Bleibtreu, der das Verfahren eröffnet hatte (s.o. Abb. 1 und Ausschnitt 1), ergreift stehend das Wort und wendet sich an die Anwesenden (Halbtotale mit Blick auf den der Kamera zugewandten Redner): Ausschnitt 5: Selbstkritik I 01

B

05

10 Ba 15

20

H nimmt wieder Platz>>

(B = Bleibtreu, Ba = Balla, H = Horrath, He = Hesselbart, K = Katie Klee, T = Trutmann)

Auch hier handelt es sich nicht um einen privaten Rahmen und nicht um eine Interaktionsdyade, sondern um eine Versammlungsöffentlichkeit mit eigenem Podium und mit Rednerpult. Dass am Podiumstisch mitgeschrieben wird (auf Abb. 9 rechts noch zu erkennen), unterstützt den formellen Charakter der

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Veranstaltung. Schrift steht im Film, nebenbei bemerkt, nicht nur an dieser Stelle auf der Seite der Selbstkritik und ist somit potentiell als Medium von Selbst- und Fremdthematisierung verdächtig (s. dazu auch u. Ausschnitt 7, in dem Jansen das Dokument mit den Anklagepunkten gegen Horrath zerreißt). Selbstkritik wird in der Szene als Schuldeingeständnis und Bekenntnis von Reue inszeniert (Z. 1-2, insbesondere dann Z. 11-21 mit Signalen für die Glaubwürdigkeit des Redners – anders als noch im Ausschnitt 5). Dazu tritt dann in Form des Richterspruches eine Inszenierung von Achtungskommunikation, wie sie expliziter kaum sein könnte (Z. 44-46). Von „Achtung“ ist ausdrücklich die Rede („Selbstachtung“, Z. 44), und auch die Achtungsbedingungen („ehrlich spielen“, „ehrlich und aufrichtig sein“) werden explizit thematisiert im Sinne eines unbedingten Wahrheitsethos. Aber auch in diesem Fall wird verständlich, dass Skepsis gegenüber dieser ritualisierten und für das Plädoyer des Ausschlusses von Trutmann instrumentalisierten Achtungskommunikation angebracht ist. Verdeutlicht wird das durch die Inszenierung der Reaktionen auf den Gesichtern der als moralisch integer geltenden Protagonisten (Hesselbart, Katie Klee und Balla), die nach und nach mit Großaufnahme gezeigt werden und auf denen sich mimisch deutlich sichtbar Skepsis spiegelt. Zugespitzt wird die Fragwürdigkeit der von Horrath vorgetragenen Achtungskommunikation durch das Wissen des Zuschauers, dass der Ankläger und Richter Horrath sich selbst in genau dem Sinne ‚schuldig‘ gemacht hat und fortlaufend schuldig macht, wie er es hier Trutmann vorwirft (besonders deutlich, wenn das Bild zu Katie Klee wechselt, während Horrath davon spricht, dass Ehrlichkeit die Bedingung von Selbstachtung ist …). Spur der Steine ist in dieser Hinsicht ein Film darüber, dass die Praxis der Wahrheitsfindung zugunsten von Achtungserweis und -entzug im Medium eines parteipolitisch und öffentlich inszenierten Rituals der Selbstkritik nicht funktioniert. Man könnte das an vielen weiteren Beispielen zeigen, in denen etwa Balla und Katie Klee das Ritual der Selbstkritik ausdrücklich verweigern. Der vielleicht eindrücklichste Beleg für das Scheitern von Wahrheitsfindung und Achtungskommunikation im Stil der Selbstkritik ist aber die Inszenierung des Endes des Parteiverfahrens (Abb. 10). Mit diesem Ende kommen wir auch an das Ende des Films. Jansen spricht das abschließende Urteil zum Parteiausschlussverfahren gegen Horrath (s.o. Ausschnitt 1):

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Heiko Hausendorf Abb. 10: Ende des Parteiverfahrens.

Ausschnitt 7: Jansen erklärt die Unangemessenheit des Parteiverfahrens 01

05

J

(6.0)