Entfaltung statt Erziehung: Die Pädagogik Heinrich Jacobys 3936855102, 9783936855104

Heinrich Jacoby (1889–1964) – einer der interessantesten Pädagogen des 20. Jahrhunderts – war es Zeit seines Lebens wich

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Entfaltung statt Erziehung: Die Pädagogik Heinrich Jacobys
 3936855102, 9783936855104

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Walter Biedermann Entfaltung statt Erziehung

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Walter Biedermann

Entfaltung statt Erziehung Die Pädagogik Heinrich Jacobys

Arbor Verlag Freiamt im Schwarzwald

Copyright © Arbor Verlag, Freiamt, 2003 1

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Auflage Erscheinungsjahr

Titelfoto: Blickwinkel (www.blickwinkel.de) Druck und Verarbeitung: Fuldaer Verlagsagentur Dieses Buch wurde auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig.

Alle Rechte vorbehalten www.arbor-verlag.de ISBN 3-936855-10-2

Inhalt

Vorwort

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1 Konzepte, Ziele, Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Grundideen zu Jacobys Entfaltung und Nachentfaltung

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Modell Kleinkind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Routinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfassung, Selbstwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Biologische Ausrüstung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweckmäßige Frage- und Aufgabenstellung . . . . . .

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3 Entfaltung und Nachentfaltung an Beispielen . . .

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2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8

Wahrnehmung Sich äußern . . Körper I . . . . Körper II . . . . Mobilisierung Kaltes Wasser . Zeichnen . . . . Schulfragen . .

........................... ........................... ........................... ........................... ........................... ........................... ........................... ...........................

35 39 46 62 72 75 81 89

Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 3.10 Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Jacobys Art der Vermittlung: Kurse . . . . . . . . . . .

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123 125 132 145 148 153

5 Weitere Gesichtspunkte 5 .1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Naturbezüge . . . . . . . . . . . . . Begabung . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftlichkeit. . . . . . . . Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . Ursprünglichkeit . . . . . . . . . . Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6 Jacoby heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 ...............

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Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Primär- und Sekundärliteratur

8 Anmerkungen

9 Kontaktadressen

Vorwort

Obschon Heinrich Jacoby (1889-1964) fast nichts Schriftliches hinterlassen hat, ist er als bedeutender Pädagoge des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Hinterlassen hat er immerhin Bandaufnahmen seiner Kurse, und dies schon ab 1945, als gerade die ersten Tonbandgeräte in den Handel gelangten. Jacoby verwahrte sich dagegen, eine neue pädagogische Methode entwickelt zu haben, denn unter Methoden verstand er erlernbare Rezepte, und solche wollte er nicht anbieten. Indessen, als ich ihn fragte, weshalb er Tonbänder verwende, lautete seine Antwort: ,,Für den Fall, dass· sich später jemand dafür interessiert, wie ich's gemacht habe." Und in der Tat, den Tonbändern ist es zu verdanken, dass Jacobys Kursgestaltung (und damit seine „Methode") nicht verloren gegangen ist. Jacoby war ursprünglich Musiker; als solcher gab er Improvisationskonzerte, dies zu· einer Zeit (um 1920), als Derartiges kaum gefragt war. Sein eigentliches Interesse lag auf dem Gebiet der musikalischen Begabung und später, etwa ab 1923, wurden auch außermusikalische Begabung und Entfaltung zum zentralen Thema. Er wurde so ein Allgemeinpädagoge. Als solcher lebte er bis 1933 in Deutschland, von da an in der Schweiz. Hier trat er kaum mehr an die Öffentlichkeit, gab aber Kurse im privaten Rahmen. Zeitlich gehört Jacoby zur deutschen Reformpädagogik, jener Aufbruchbewegung, die sich gegen Drill und Zwang richtete. Jacoby übernahm von ihr viele Ideen, doch besitzt

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seine Pädagogik ein eigenes Profil, das sich von andern Richtungen deutlich abhebt. In Kürze wiedergegeben war sein Anliegen: Er wollte seine Kursbesucher da.zu anregen und mit Beispielen einen Weg weisen, die eigene Nachentfaltung selbst in die Hand zu nehmen. Einen guten Einblick in das Kursgeschehen liefert Jenseits von „Begabt" und„ Unbegabt", ein Buch von 500 Seiten, in welchem einer seiner Einführungskurse protokollarisch wiedergegeben wird. Der Text ist voll von Darlegungen, er enthält Anregungen zum praktischen Experimentieren, es wird argumentiert und dokumentiert. Doch sind die meisten Themen Jacobys eng ineinander verwoben. Auch springt er gern von einem Gegenstand zum andern, um später auf neuem Niveau zurückzukehren. Und obwohl er seine Begriffe nicht definierte und die Themen nicht klassifizierte, sondern sie ganz allmählich einkreiste, ist sein Stil positiv zu bewerten. Denn diese Art der Auseinandersetzung beruhte nicht etwa auf Nachlässigkeit, sondern auf vertretbaren, in Kapitel 4 erläuterten didaktischen Überlegungen. Jacobys Vorgehen impliziert allerdings, dass für Leser des Jenseits-Buches eine thematische Ordnung kaum erkennbar sein wird. In deutlichem Gegensatz zu Jacoby erstrebt meine eigene Darlegung eine thematische Ordnung und Gliederung, d. h. eine Besprechung einzelner Themen. Freilich bringt dies oft einen Verlust der schillernden Komplexität eines Gegenstandes mit sich, die im mündlichen Vortrag ihre Berechtigung haben mag, in einer schriftlichen Wiedergabe aber weniger hilfreich ist. Es handelt sich also um eine alternative Art der Darstellung, sie soll die spontaneren Publikationen' ergänzen.

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jenseits von „Begabt"und,,,, Unbegabt""oder auch Ohne Pfeil und Bogen(Nr. 1 und 11 im Literaturverzeichnis).

In einem ersten Kapitel sollen Jacobys Konzepte, seine Ziele und Wege skizziert werden. Kapitel 2 enthält die Grundideen, auf denen sich seine Entfaltungspädagogik sein wichtigstes Anliegen - aufbaut. Kapitel 3 bringt eine Reihe von Entfaltungsbeispielen, die in Jacobys Kursen thematisiert und praktiziert wurden. In Kapitel 4 erfährt man etwas über Jacobys Kursstil, also über die Art und Weise, wie er seine Ideen an die Kursteilnehmer herangetragen hat, wie er sie verifizieren und verbreiten wollte. Kapitel 5 enthält ergänzende Themen. Dass Jacobys Pädagogik gerade heute eine große Aktualität besitzt, wird in Kapitel 6 aufgezeigt. - Das Literaturverzeichnis am Schluss dieses Buches beginnt mit den unter Jacobys Namen erschienenen Büchern (Nr. 1-4), darauf folgen die Sekundärliteratur und schließlich die zahlreichen auf den Text bezogenen Anmerkungen*. Biografisch interessierte Leser finden ein diesbezügliches Kapitel in Ohne Pfeil und Bogen (Lit.verz. Nr. 11); derselbe Text wurde auch für Unmusikalisch... ? (Lit.verz. Nr. 10) verwendet, beides Publikationen des Autors.

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Eine ebenfalls themenorienrierte, sehr ausführliche Darstellung von Jacobys Pädagogik stammt von G. Ballod (Lir.verz. Nr. 6).

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1 Konzepte, Ziele, Wege

Heinrich Jacobys Ausgangspunkt war die Begabungsfrage*. Zwar anerkannte er die Bedeutung der Anlagen (Gene) als Basis für unsere Fähigkeiten, doch für spezifische Leistungen machte er die Einflüsse aus der Umgebung verantwortlich. Für Jacoby sind sie es, welche die Entfaltung entscheidend fördern oder behindern. Ungenügende Leistungen und ähnliche Misserfolge vorschnell und pauschal mit Unbegabtheit zu erklären, ist nicht angebracht, gehört aber zu den häufigen Entfaltungshemmnissen. Ein sehr wesentliches Anliegen Jacobys war es, die ungestörte Entfaltung von Kindern und Jugendlichen zu sichern. Weil für deren Umfeld die Erwachsenen verantwortlich sind, wandte er sich an die Letzteren: ihnen galten seine Kurse, ihnen hoffte er, einen Weg zum kompetenten Erzieher/Lehrer zeigen zu können**. Allerdings misstraute Jacoby den herkömmlichen Vorstellungen, die darin bestehen, den angehenden Pädagogen die Fächer Psychologie und Pädagogik nahe zu bringen. Er war vielmehr überzeugt, dass zum kompetenten Erzieher eine persönliche Entwicklung

*

Über die Begabung siehe Kapitel 5.2.

** In diesem Buch werden der Einfachheit halber nur männliche Formen verwendet, Kursteilnehmerinnen

also nicht Erzieherinnen, Zuhörerinnen, - Leserinnen seien indessen meiner Hoch-

schätzung versichert.

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vonnöten sei, eine bewusste, prozesshafte Nachentfaltung. Ein solcher Prozess bietet die Chance, Entfaltung bei sich selbst zu erleben und sich mit den auftretenden Problemen produktiv auseinander zu setzen, was sich dann auf die erzieherische Praxis positiv auswirken wird. - Jacoby bezeichnete seine Vorgehensweise als „Erziehung der Erzieher", verstand darunter aber nicht ein repressives oder direktives Vorgehen, sondern eine anregende und befreiende Auseinandersetzung. Diese „Erziehung der Erzieher" ist als „Jacoby'sche Wendung" zu betrachten, sie unterscheidet ihn von den üblichen pädagogischen Vorstellungen. Zwar ist es auch für Jacoby wichtig, wie man mit Kindern und Jugendlichen umgehen soll, noch wichtiger sei aber, dass der Erzieher lerne, ,,mit sich selbst" umzugehen. Nachentfaltung bei Erwachsenen bedeutet für Jacoby zunächst Revision. Was soll revidiert werden? Das sagt Jacoby dem Einzelnen nicht, Letzterer soll es selbst entdecken. Es geht vor allem um das Erkennen von Routinen (Verhaltensschienen), in denen wir befangen sind. Routinen wahrzunehmen und sich von ihnen zu lösen, also sein eigenes Verhalten zu verändern, um verborgene Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln, gehört zu den zentralen Kursthemen, und Jacoby zeigt Wege hierfür. Es sind Wege , die für jedermann zugänglich sind, Wege der kleinen Schritte, die eine Nachentfaltung vorbereiten sollen, zunächst modellmäßig bescheiden, später weiter ausholend. Dieses bewusste In-Bewegung-Bleiben ist ein wesentliches Anliegen Jacobys. Es geht dabei um Selbsttätigkeit und um die Bereitschaft zu Entdeckungsreisen, besonders auch um einen sinnvollen Gebrauch von vorgegebenen Naturanlagen, also auch um Rückkehr zu einem Verhalten, das im Laufe der Zeit meistens verloren ging. Die Art und Weise, wie Jacoby seine Kursbesucher zu interessieren und zu m9tivieren vermochte, gehört zu den Merkmalen seiner „Methode". Nachentfaltung wird angestrebt vor allem durch eine Überprüfung unseres Umweltkontakts. Zunächst sind es die

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Gebiete Wahrnehmen, Sichäußern sowie der Körperbereich, dessen Erschließung Jacoby der Begegnung mit Eisa Gindler verdankt (Anm. 1). - Hinzu kommt ein weiteres zentrales Anliegen Jacobys, das darin besteht, ein Zustands- und Verhaltensbewusstsein zu entwickeln, welches alle Aktivitäten begleitet. Bezüglich der Frage, wie sich verborgene und ungenutzte Potentiale aktivieren lassen, hat sich Jacoby intensiv mit Behinderten beschäftigt; sie sind repräsentativ für eine Entfaltung unter erschwerten Bedingungen (Kapitel 3.10). Jacobys Zugang zur Nachentfaltung enthält so grundsätzliche Aspekte, dass sie sich auf ganz verschiedene Bereiche anwenden lassen. Dementsprechend vielfältig sind die Gebiete seines Interesses; als Beispiele seien genannt: Erziehung, Schule, Alltagsverhalten, Kreativität, Kunst, Therapie, zwischenmenschliche Beziehungen, Sozialethik, ferner Emotionalität sowie speziellere Fragen wie Musik, Zeichnen, Selbstmobilisierung, Begabungsproblematik. Diese Vielfalt wird einhergehen mit einer Reifung und einer größeren Erfülltheit der Praktizierenden, doch sollte die Nachentfaltung nicht im Persönlichen stecken bleiben, sondern zu einem breiteren Wirken führen. DennJacoby geht es nie um eine egozentrische Selbstverwirklichung, sondern um Öffnung und Kommunikation. Seine weit gespannte Perspektive kommt auch darin zum Ausdruck, dass Heinrich Pestalozzi, der unerschütterliche Kämpfer für menschliche Würde, eine Leitfigur Jacobys gewesen ist. __

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Wiederholt aufgeworfen wird die Frage, auf welche Weise Jacobys Ideen sich in der heutigen Zeit aktualisieren lassen. Publiziert hat er lediglich vier frühe Aufsätze über Musikpädagogik. Außer diesen bildeten die Tonbänder, mit denen er seit 1945 die Kurse dokumentierte, seine einzige Hinterlassenschaft. Drei solcher Kurse wurden - lange nach

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seinem Tod - unter seinem Namen in Buchform publiziert (Nr. l, 3 und 4 im Literaturverzeichnis). Auch seine Aufsätze zur Musikpädagogik wurden in Buchform veröffentlicht (Lit.verz. Nr. 2). Diese Originalliteratur wird ergänzt durch eine an Umfang wachsende Sekundärliteratur. Die hier zitierten Bücher erreichen nicht die Lebendigkeit und Aktualität von Jacobys Kursen, bilden aber doch einen recht guten Ersatz. - Nach Jacobys Tod hat eine Reihe von Frauen versucht, in der Nachfolge von Jacoby und Gindler selbst Kurse zu erteilen; Letztere waren bzw. sind meistens deutlich körperorienrierc und bilden so eine gewisse Ergänzung zum schriftlichen Nachlass Jacobys. Außer solchen Kursen wären Vorträge und Seminare wünschenswert, eventuell auch Aktivitäten an Universitäten. Zurückhaltung ist hingegen angebracht gegenüber einer direkten Einführung in Schulen, sind doch Jacobys Ideen primär kein Schulstoff; er möchte die Schule ja auf dem Umweg „Erziehung der Erzieher" erreichen (Vgl. hierzu das Kapitel 6). Freilich, die bestehenden Institutionen für die Heranbildung von Erziehern und Lehrern sind auf einen solchen Umweg kaum vorbereitet. Inzwischen sind in Deutschland, in der Schweiz und in den USA eine Reihe von Organisationen entstanden, welche die Ideen von Heinrich Jacoby und Elsa Gindler zu aktualisieren versuchen. Namen, Adressen und Einzelheiten finden sich in Kapitel 9 (Kontaktadressen).

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2 Grundideen zu Jacobys Entfaltung und Nachentfaltung*

Für Jacoby waren die Kursbesucher - wie die meisten Menschen - verstrickt in Gewohnheiten, Vorurteile, Verhaltensschienen und in Routinen. Er betrachtete sie als ungenügend entfaltet, dies alles als Resultat von Erziehung, Schule und von Einflüssen der Gesellschaft. Ziel der Kurse war der Aufbruch zu einer Nachentfaltung. Es geht im Folgenden um Jacobys Modellvorstellung vom Kind, um Routinen, um das Wahrnehmen der eigenen Verfassung und um das eigene Verhalten (Selbstwahrnehmung).

2.1 Modell Kleinkind Vielleicht ist Jacobys Pädagogik am besten zugänglich, wenn man von seinem Interesse für das Verhalten des Kleinkindes ausgeht. Das Kleinkind befindet sich in fast dauernder Entfaltung; es ist erfahrbereit, es erforscht seine Umgebung, macht Entdeckungsreisen und probiert vieles mit großer Geduld. Auf diese Weise erobert es die Umwelt; weitgehend autodidaktisch lernt es z.B. gehen und sprechen, und dabei merkt es nicht einmal, dass es lernt.



Siehe auch Grundriss der Pädagogik von Heinrich jacoby (Nr. 13 im Literaturverzeichnis).

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Dieses selbständige Lernen kommt - das haben bereits die Reformpädagogen festgestellt - spätestens mit dem Schuleintritt zu einem gewissen Stillstand. Schule, Erziehung und Gesellschaft behindern meistens die ursprüngliche Entfaltungsbereitschaft und die Aktivitäten der Kinder durch Anweisungen, Vorschriften und Belehrungen. Jacoby betrachtet solche Einflüsse - jedenfalls die fragwürdigen - als Störungen, manchmal als Verstörungen; ein Sichorientieren an Autoritäten mündet häufig in ein „Leben aus zweiter Hand". Ziel der Kurse ist ein Abbau der (Ver)störungen, ein Wiedergewinn der ursprünglichen, kreativen Verhaltensweisen, ein „Leben aus erster Hand", dies durch eine bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Verhalten. Solches geschieht bei Jacoby nicht durch Beibringen und Belehren, sondern durch das Erleben eines Prozesses. Jacoby erteilt kaum Zensuren (,,richtig" - ,,falsch"), sondern regt zum Ausprobieren und zu eigener Beurteilung an. Er möchte die Kursteilnehmer in die Situation des Kleinkindes versetzen, welches sich weitgehend autonom entfaltet. Denn solches Kindverhalten stimmt weitgehend überein mit Jacobys Bild vom intakten Menschen, d. h. das Verhalten des Kleinkindes ist Jacobys pädagogisches Modell auch für den Erwachsenen. Die in den Kursen angestrebte Nachentfaltung beinhaltet demnach den Versuch, verloren gegangene ursprüngliche Verhaltensweisen zurückzugewinnen.

2.2 Routinen Wenn die Kursteilnehmer sich mit Routinen beschäftigen sollten, musste Jacoby Routine als Problemstellung ins Bewusstsein treten lassen. Er sprach von Gewohnheiten im Verhalten und Denken, erinnerte an die zahlreichen übernommenen Ansichten, er versuchte, die Teilnehmer zu sensibilisieren. Jacoby kritisierte statisches (im Gegensatz zu dynamischem) Denken, er wies auf Begabungs-Kurzschlüsse•

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hin. -All dies als Vorbehalt gegenüber einer konventionellen Erziehung, welche so oft vom selbständigen Denken und Verhalten wegführt. Doch solch verbale Anteile waren nicht die Hauptsache, wichtiger war die praktische Auseinandersetzung mit dem · · ._ eigenen Verhalten. Es besteht ja kein Zweifel: Wir benötigen i~ unserem Alltag eingeschliffene Verhaltensweisen, bei denen es „ohne Denken" geht, und wir profitieren davon. Doch solche Routinen bergen neben ihren Vorzügen stets die Gefahr eines mangelnden Kontakts, eines Stillstands. Jacoby meinte diese negative Seite, wenn er von Routinen sprach. ,,Routine" hatte deshalb keinen guten Klang, sie war für Jacoby stets ein „Verhalten auf Vorrat": Man glaubt im Voraus zu wissen, was zu tun sei und unterlässt es, mit der jeweiligen Aufgabe in einen beziehungsvollen Kontakt zu gelangen. Aber gerade auf diese Art von Kontakt kommt es an, wo qualifizierte Leistung (bzw. qualifiziertes „Funktionieren") gefragt ist. So gesehen beruhen Leistungsdefizite oft auf Routinen; mit Letzteren sich auseinander zu setzen bzw. sich von ihnen zu lösen, gehört zu den zentralen Anliegen von Jacobys Pädagogik. Es geht also um eine Revision des eigenen Verhaltens. Wie schon erwähnt: Jacoby sagt dem Einzelnen nicht, was er zu revidieren habe, er soll dies selbst entdecken. Aber Jacoby bringt praktische Beispiele, wie man sich mit Routinen auseinander setzen kann. Eine solche Auseinandersetzung geschah in den Kursen dadurch, dass man sich der Routinen überhaupt bewusst wurde und sie überprüfte. Häufig war es der körperliche Bereich, der als Experimentierfeld diente. Jacoby machte relativ harmlose Vorschläge, beispielsweise das Aufstehen von einem Stuhl. Ein nichtroutiniertes Aufstehen hätte mit dem Versuch zu beginnen, mit der eigenen Last in



Begabung-Kurzschlüsse: ein voreiliges Interpretieren von ungenügenden Leistungen als Mangel an Begabung.

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Kontakt zu kommen, zu spüren, wie das Gewicht des Rumpfes sich allmählich auf die Füße verlagert, wie dabei die Beine und Füße straffer werden bzw. sich spannen müssen. Dies kann auf viele verschiedene Arten geschehen, zahlreiche Varianten sind allein schon durch unterschiedliche Platzierung der Füße möglich. Dabei kann auch die Bedeutung der Stuhlhöhe etc. ins Bewusstsein treten. Solche Möglichkeiten systematisch zu erproben und zu vergleichen, nannte Jacoby Probieren. Darunter ist ein geduldiges Erkunden von Alternativen zu verstehen. Jacobys Experimentiervorschläge - er nannte sie Angebotesind als Encfaltungsmodelle im Kleinstmaßstab zu verstehen. Der Kursraum diene gleichsam als Laboratorium; das Experimentieren wurde hier begonnen, war aber zu Hause weiterzuführen. Bei genügendem Interesse kann sich die Auseinandersetzung ausweiten; man wird versuchen, die neuen Erfahrungen in den Alltag einzubauen. Natürlich lassen sich Rückfälle in die alten Gewohnheiten nicht vermeiden. Ertappt man sich dabei, so sollte dies nie das Resultat einer Selbstbeobachtung (oder gar einer polizeimäßigen Selbstüberwachung) sein, sondern sich als allmähliches, vor allem aber als spontanes Gewahrwerden von selbst einstellen. Jacoby nannte solches Gewahrwerden Stolpern. Stolpern ist ein Innewerden, dass etwas hätte besser verlaufen können, es kann und sollte Anstoß zu weiterem Probieren sein, es ist der erste Schritt hin zu einer bewussten Nachentfaltung. Unser Alltag ist voller Routinen, er bietet zahllose Gelegenheiten zum Stolpern. Stolpern war für Jacoby eine wesentliche Stufe. Vor einer langen Sommerpause sagte er zu seinen Kursteilnehmern: ,,Sie dürfen alles Bisherige vergessen, aber Sie sollten sich fürs Scolpern bereithalten." ,,Angebote" gab es bei Jacoby in beträchtlicher Zahl. Man konnte auswählen, sollte sich engagieren, durfte aber Angebote nicht als Schulaufgaben auffassen, sondern sie als Gelegenheit zu kreativen Entdeckungsreisen und Erfahrungen verstehen. Als weiteres Beispiel für bewusstes Erleben von

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sei das Schreiben mit den Füßen Routine/Nichtroutine skizziert. Jacoby erwähnte es im Zusammenhang mit den von uns vernachlässigten Körperteilen (linke Hand, Beine, Füße). Fuß-Schreiben wurde freilich nicht in den Kursen, sondern allenfalls zu Hause praktiziert. Dabei war sich Jacoby der Gefahr bewusst, mit solchen Vorschlägen ins Seltsame und Exotische zu geraten. Die Idee bestand indessen darin, sich absichtlich in eine ungewohnte Situation zu begeben, um dort die Unterschiede zwischen routiniertem und unroutiniertem Verhalten bewusst zu erfahren. Zu erkunden und zu fragen war dann etwa: Welche Anforderungen stellen sich mir als Gesamtorganismus? Gibt es (am Boden sitzend) Verspannungen, Gleichgewichtsprobleme? Was heißt hier tastendes, probierendes Verhalten? Will ich schnellen Erfolg? Was bedeutet Geduld? Worin unterscheidet sich mein routiniertes Hand-Schreiben vom anfängerhaften Fuß-Schreiben? Wie wirken sich erste Erfolge aus? Etwa so, dass sich schnell ein ,,Erfolgskanal" bildet? Ein Erfolgskanal, auf den man sich festlegt und dadurch alternative Probierwege vernachlässigt, das Probieren also bereits einschränkt und sich schon einer frühen Routine nähert? - Es ist wohl kaum nötig zu sagen, dass Schreiben mit den Füßen kein Selbstzweck sein sollce, sondern ein Modell, welches sich auf andere Gebiete übertragen lässt. Ich sagte vorhin, unser Alltag sei voller Routinen. Nun wäre es ein Missverständnis, daraus die Forderung abzuleiten, es müsse von früh bis spät experimentiert werden. Jedoch kann sich bei hinreichendem Interesse eine Sensibilisierung und Umdisposition entwickeln, aus der heraus das Probieren im Alltag fast zu einer Selbstverständlichkeit wird. Das hier besprochene Tripel Routine/Stolpern/ Probieren bildet für Jacoby gleichsam ein Grundmuster, nach welchem sich alle bewusste Nachentfalcung vollzieht; er betrachtete es als generell anwendbar und erfolgversprechend auf fast beliebigen Gebieten. Es handelt sich um einen zentralen Bereich in Jacobys Nachentfalcungspädagogik. Wir werden anhand weiterer Beispiele noch näher darauf eingehen und

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auf die Bedingungen eines produktiven Probierens zu sprechen kommen. Resümierend lässt sich sagen: Es gibt mindestens drei Zugangswege, sich im Sinne Jacobys mit Routinen auseinander zu setzen; sie alle sind zu praktizieren, wobei stets Wachheit vorausgesetzt wird (Stolperbereitschaft, Erfahrbereitschaft und Probierbereitschaft): 1. Vergleichen bzw. vergleichendes Erleben von routiniertem und unrouriniertem Verhalten. Dazu bringt man sich absichtlich in eine noch unverrraure Situation 2. Im Bereich des Wahrnehmens, Sichäußerns und für den Gebrauch des eigenen Körpersstellt Jacoby einfache Aufgaben, bei denen routiniertes Verhalten bzw. unterschiedliche Verhalrensqualirären ins Bewusstsein treten sollen.• 3. Jacoby fordert dazu auf, man möge eigenes Routineverhalten entdecken.

2.3 Verfassung, Selbstwahrnehmung Wir sahen: Stolpern und Probieren bilden die Keimzelle einer bewussten Nachemfaltung. Charakteristisch für Jacoby ist sein Fragen nach den Hintergründen, in unserm Zusammenhang nach den • Bedingungen, die Stolpern begünstigen/beeinträchtigen • Bedingungen, die ein produktives Probieren begüntigen oder erschweren

Es sind jene Bereiche, die für den Kontakt mir der Umwelt entscheidend sind und die bereits bei der Entfaltung des Kleinkindes im Zentrum stehen.

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Allein schon dadurch, dass wu uns für unser „Funktionieren" im Alltag interessieren, schaffen wir geeignetere Voraussetzungen. Doch worauf kommt es an? Für Jacoby kennzeichnend ist, dass er gar nicht nach dem Stolpern und Probieren selbst fragte, sondern nach der Stolperbereitschaft , nach den Vorstufen. Hierfür und der Probierbereitschaftalso ist eine Wachheit erforderlich, die ihrerseits mit unserer Verfassung bzw. mit unserem Zustand zusammenhänge. Für Jacoby ist es entscheidend, diesen Zustand wahrzunehmen und mit ihm in einen bewussten Kontakt zu treten; einen solchen bezeichnete er als „Zustandsempfinden". freilich: Zu unserem Zustand haben wir - außer im Fall von gesundheiclichen Störungen oder starken Emotionen - kaum eine bewusste Beziehung. Deshalb ging Jacoby sehr behutsam vor: Nur die Änderungen des Zustandes sollte man zunächst ins Bewusstsein treten lassen. Diese Art von Selbstwahrnehmung nannte er auch „Zustandsbewusstsein". Was ist nun unter Zustand zu verstehen? Gemeint ist sowohl körperliches wie geistig-seelisches Befinden (welche für Jacoby ja eine Einheit bilden). Man denke dabei an die muskuläre Verfassung, also an Spannungszustände wie Überund Verspannungen, an Starrheit, Schlaffheic und Müdigkeit, an Straffheit, Mobilität, Wachheit und Munterkeit; ferner gehe es um Bereitschaften, vor allem um Erfahrbereitschaft und Kontaktbereitschaft jeder Are sowie um die Bereitschaft zu reagieren. Es geht weiter um „Besetzt-Sein", tiefere aber um Ängste, um Ehrgeiz, besonders nicht und Irritationen Tagesunruhe, Beunruhigungen, zuletzt um Zustände wie Ärger, Erregung, im Gegensatz etwa zu vertrauensvoller Gelassenheit und Ausgeglichenheit. Es besteht keine Notwendigkeit, solche Zustände hier einzeln zu bewerten, ihre Wirkung auf unser Verhalten und Funktionieren ist leicht erkennbar. Das Wahrnehmen des eigenen Zustandes wird dazu anregen, die eigene Verfassung irgendwie beeinflussen zu wollen. Wieder trifft zu, dass bereits das Interesse für das

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eigene Befinden nicht nur dessen Wahrnehmung erleichtert, sondern an sich schon günstige Wirkungen bringen kann. Hinzu kommen konkrete Empfehlungen: Man soll versuchen, die Tagesunruhe und Unruhe überhaupt abklingen zu lassen, dadurch stiller und gelassener zu werden. Nur darf Gelassenheit nicht mit Schlaffheit oder Passivität verwechselt werden. Stillwerden ist ein Schlüsselbegriff Jacobys (wobei akustische Stille sich zwar hilfreich auswirkt, aber nicht obligatorisch ist). Stillwerden wird seinerseits begünstigt durch Maßnahmen wie Schließen der Augen. Günstig wirken sich auch viele von Jacobys „Angeboten" aus, so z.B. sich mit dem Sitzen, dem Aufstehen oder dem Schauen auseinander zu setzen. All dies bringt zumeist eine beträchtliche Sensibilisierung mit sich. Zudem ist deutlich erlebbar, dass • einerseits die Verfassung sich auf die Qualität unseres Verhaltens auswirkt, • andererseits die Qualität unseres Verhaltens auf die Verfassung zurückstrahlt.

Es handelt sich also um eine Situation voller Wechselwirkungen. Dementsprechend hat Jacoby den Zustand (Verfassung, Befindlichkeit) nie als ein isoliertes Thema behandelt, sondern stets verwoben mit unserem Gesamtverhalten bzw. mit unserem Probieren. Eine saubere Grenzlinie lässt sich gar nicht ziehen; wenn sie hier trotzdem angestrebt wurde, so nur im Hinblick auf Übersichtlichkeit. Das im folgenden Abschnitt zu besprechende Verhaltensbewusstsein, welches begleitet ist von der Selbstwahrnehmung bzw. vom Zustandsbewusstsein, bildet vielleicht den zentralsten Bereich von Jacobys Nachentfaltungspädagogik. Betont sei an dieser Stelle, dass Jacoby unter dem Zustands- und Verhaltensbewusstsein kein intellektuelles Erfassen versteht, sondern ein Wal1rnehmen und zunehmend deutliches Innewerden. Letzteres kann hernach auch gewisse intellektuelle Anteile enthalten.

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2.4 Verhalten Vom Verhalten war in den bisherigen Ausführungen öfter die Rede; Wiederholungen sind im Folgenden daher nicht zu vermeiden. Wir gingen aus von Routinen; von dort führte der Weg über das Stolpern zum Probieren. Unter Probieren ist - vor allem im Anfang - ein arrangiertes Vorgehen zu verstehen, beruhend auf den aufgabenhaften Angeboten Jacobys. In dieser frühen Phase, die geplant verläuft, wird sich eine Art Verhaltensbewusstsein entwickeln. Die dabei gemachten Erfahrungen sollten sich in ein Alltagsverhalten umsetzen lassen, welches das Verharren in nachteiligen Routinen möglichst vermeidet. Zu besprechen sind im Folgenden einige Gesichtspunkte des Probierverhaltens. Zunächst: Mit dem Ausdruck „Verhaltensbewusstsein" ist wie gesagt kein intellektueller, sondern eher ein empfindungsmäßiger Zugang gemeint, also nicht Selbstreflexion, kein Grübeln und auch nicht polizeiliche Selbstkontrolle. Vielmehr genügt ein erfahrbereites Interesse an der jeweiligen Tätigkeit und an möglichen Alternativen. Größere Bewusstheit entsteht durch Gewahrwerden von Verhaltensqualitäten, d. h. von Unterschieden, wenn eine Tätigkeit auf mehrere Arten „probiert" wird. Die Qualität unseres Verhaltens unterliegt zahlreichen Einflüssen, man denke z.B. an • die Motivierung von Seiten des Lehrers/Erziehers (wobei die Are der Aufgabenstellung mit eine Rolle spiele), • die Motivierung durch die Aufgabe selbst, • unseren Zustand bzw. unsere Verfassung.

Trotz solcher Verallgemeinerungen ist „das Verhalten" kein abstrakter Begriff, sondern stets auf konkrete Situationen bezogen, und es bestehen die schon diskutierten Wechselwirkungen mit unserer Verfassung. Dementsprechend hat Jacoby das Verhalten nie isoliert behandelt.

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Um zum Probierverhalten zurückzukehren: Unter „Probieren" (z.B. Anheben eines Gewichts oder der Körperlast) stellt sich Jacoby eine Art von Experimentieren vor, ein systematisches Vergleichen von Vari_anten.Tierischer Ernst ist hier nic~t angezeigt; ein ernsthaftes Probieren darf spielerische Züge annehmen. Wesentlich ist wirkliches Interesse, welches verhindert, dass man in ein routiniertes Üben abgleitet. Es geht um das Registrieren von Empfindungen und Eindrücken aufgrun·d einer erfahrbereiten Einstellung. Förderlich wirkt wie gesagt Stille, welche ihrerseits die Verfassung, also z.B. das „Bei-sich-Sein", günstig beeinflusst. Tastendes, kontakrvolles Erkunden des erforderlichen Aufwandes ist gefragt. Das ist nicht zu verwechseln mit ängstlicher Zurückhaltung und Vorsicht; es geht ja darum, auch das Unzutreffende bewusst zu erfahren. Es geht also primär nie um das Vermeiden des Falschen, es geht nicht um „falsch" und „richtig", sondern stets um „zutreffender" bzw. ,,stimmender" gegenüber dem weniger Befriedigenden. Es ist eine innere „Instanz für das Stimmende", welche jeweils entscheidet, wobei solche Entscheidungen immer als vorläufig zu betrachten sind. Ein Verhalten ist so lange richtig, bis man die etwaige Unzulänglichkeit selbst entdeckt bzw. entlarvt hat. Die Aufgabe eines Lehrers ist nicht, etwas beizubringen und zu beurteilen, sondern „Erfahrgelegenheiten" vorzubereiten, d. h. sich geeignete und jeweils passende Versuchsanordnungen auszudenken (und allenfalls auf auftretende Missverständnisse hinzuweisen). Dementsprechend erteilte Jacoby fast keine Zensuren, er gab kaum Anweisungen und macht~ äußerst selten etwas vor, ging es ihm doch darum, das Urteilsvermögen der Kursteilnehmer zu fordern. Es sei nochmals daran erinnert, dass Verhalten stets in enger Wechselwirkung steht mit unserer Verfassung, mit unseren Bereitschaften. In diesem verwobenen Bereich ist auch angesiedelt, was Jacoby als die Art des Seins bezeichnet; er meint damit die Qualität von Verfassung und Verhalten, mit welcher ein Mensch in seinem Umfeld wirksam wird.

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Diese Wirkung ist oft als Atmosphäre spürbar, fassbar wird sie in konkreten Situationen. Ein solches „Sein" ist für Jacoby wesentlicher als Diskussionen über neue erzieherische und didaktische Methoden; es steht im Gegensatz zu jenem gelernten, mehr theoretischen Wissen, das oft gar nicht in die Praxis umgesetzt wird. - Gerade derartige Vorstellungen verdeutlichen die Aktualität von Jacobys Pädagogik (vgl. Kapitel 6). Resümierend bedeutet „Probieren", seinen Weg selbständig erkunden zu wollen. Aufgrund einer forschenden und improvisierbereiten Einstellung, welche auf Ab-sicherungen verzichtet, dafür auf eigenes Empfinden vertraut, kann man sich zum Autodidakten entwickeln und gleichzeitig ein Stück kindliche Kreativität zurückgewinnen.

2.5 Instanz Wenn wir, um uns von einer Routine zu lösen, verschiedene Alternativen ausprobieren (Beispiel: Aufstehen von einem Stuhl): Wer wird uns über die unterschiedliche Qualität der neuen Varianten orientieren? Jacoby folgend ist es nicht der Lehrer, der beurteilen soll, sondern nach Möglichkeit der Probierende selbst. f?enn die ~~tur hat uns 112.iteinem „E~e.:.... finden für d3s_fuimmende" versehen, das wir in uns tragen, ~nd ihm s~llten wir uns anvertrauen. Dieses Empfinden Jacoby nannte es auch Instanz - kann und sollte der Wegweiser sein (von ihm lässt sich schon das Kleinkind während seiner Entfaltung leiten). Allerdings: Die Beziehung zur eigenen Instanz ist nicht unverletzlich. Eine Vielzahl von erzieherischen, schulischen und gesellschaftlichen E~fli.issen kanrLSich störend auswirk;~ und so das Vertrauen in die Instanz untergraben; zuneh.mende Fremdbestimmung ist die Folge. Ein wesentlicher Schritt in der Nachentfalcung besteht darin, den Kontakt mit der Instanz zurückzugewinnen und damit eine bestimmte Art von Selbstvertrauen zu fördern. Eine schnelle Besserwisserei

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ist damit nicht gemeint, die Resultate sind stets als vorläufig zu verstehen. Freilich: Objektivieren lässt sich Jacobys Instanz nicht. Sollten wir - vermeintlich der Instanz gehorchend - in die Irre gehen, hätte Jacoby dies damit erklärt, dass der Kontakt mit der wahren Instanz verloren ging. Jacobys „Empfinden für das Stimmende" steht - jedenfalls auf den ersten Blick - in völligem Gegensatz zur Ansicht von F.M. Alexander. Auch in der Alexander-Technik geht es öfter um die Befreiw1g von negativer Routine (Alexander nennt sie „Fehlsteuerung"), doch nach Alexander darf man seinem eigenen Gefühl niemals trauen, es leitet fehl. Alexander beschreibt dies am Beispiel des Golfspiels·. Indes verschwindet der Widerspruch, wenn wir auch hier annehmen, dass dem Golfspieler Alexanders die Beziehung zu seiner echten Instanz abhanden gekommen und durch Fremdbestimmung ersetzt worden ist. Die Vorstellung von einer Instanz ist kein Monopol Jacobys. Man findet Ähnliches unter Bezeichnungen wie „Innere Stimme", Unbestechlichkeit, Selbstsein (Jaspers). Auffallend immerhin, dass Jacoby nie die Bezeichnung „Instinkt" verwendet, wo er doch die Instanz dem Bereich der biologischen Ausstattung zuordnet. - Wesentlich erscheint mir, wie Jacoby mit der inneren Stille, dem Zustandsbewusstsein und dem Probieren einen Weg andeutet, auf dem sich besserer Kontakt mit der eigenen Instanz wiedergewinnen lässt.

2.6 Vertrauen Wir sahen: Unser „Empfinden für das Stimmende" (Instanz) kann helfen, sich beim Probieren zurechtzufinden. Umgekehrt



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F.M. Alexander: Der Gebrauch des Selbst (The Use of the SeLf), München: Kösel 1988 (S. 40-41 und 54-55).

können Probierversuche unser Urteilsvermögen weiterentwickeln und so das Vertrauen in die eigene Instanz stärken. Eine solche Stärkung des Urteilsvermögens steht in direkter Beziehung zur Nachentfalrung, d. h. zu Jacobys Kurszielen. Jacobys Ausgangspunkt waren die Entfaltungsdefizite der Kursteilnehmer. Ihre Defizite beruhten offenbar darauf, dass sie -früher- beim Betreten von Neuland keinen Erfolg hatten, dass sie scheiterten. Entmutigung stellte sich ein, zunächst im betreffenden Gebiet, später vielleicht übergehend in Angst vor allem Neuen. Solcher Mangel an Selbstvertrauen wird dann voreilig als Mangel an Begabung bezeichnet. Manche von Jacobys Angeboten hatten derartige Situationen des Versagens im Auge. Im Körperbereich z.B. sind seine Angebote einfache, jedem zugängliche Aufgaben. Meistens führen sie zu kleinen Erfolgserlebnissen, und gerade die Letzteren fördern das Selbstvertrauen. Vertrauen war ein Dauerthema inJacobys Kursen (Anm. 2). Ich erinnere mich, dass er gleich zu Beginn das „Notizen machen" strikt ablehnte. Damit wollte er nicht nur einer einseitig intellektuellen Aneignung des Stoffes vorbeugen, er wollte zur Erfahrung verhelfen, dass die wesentlichen Inhalte „von selbst" wieder auftauchen würden, sofern man sich Zeit lasse, hierfür still zu werden. - Natürlich zielte Jacoby ganz generell auf das Problem „Erinnerungsvermögen", die Kurssituation diente als Einstieg ins Thema. - Man sollte den Verzicht auf Notizen (eine von Jacobys „Verabredungen") auch als Schritt in ein unvertrautes Gebiet verstehen. Entstehen Unsicherheiten? Ängste, etwas zu verpassen? Ist man probierbereit? Besteht Vertrauen, auf eine ursprünglichere (kindnahe) Art zu funktionieren? Zum Thema Vertrauen gehören weitere Gebiete, so vor allem der Erziehungsbereich. Selbstvertrauen entwickelt sich beim Kind vom Säuglingsalter an, oft ohne dass wir es im Einzelnen wahrnehmen (dem Kind fehlt ohnehin ein diesbezügliches Bewusstsein). Die Eltern können Selbstvertrauen dadurch fördern, dass sie dem Kind Gelegenheiten bieten, sich

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Fähigkeiten in kleinen Schritten selbst zu erarbeiten. Gebremst bzw. verhindere wird der Prozess durch alles unnötige Eingreifen: durch verfrühtes Helfen, durch voreiliges Vormachen, durch Korrigieren, also durch alles, was das selbständige Entdecken und Erarbeiten in Frage stellt. Als Folge verlässt sich das Kind - immer in Jacobys Sicht - auf die Hilfe der Erwachsenen, und es orientiert sich zu stark an deren Ansichten. Das Resultat ist eine Form von Abhängigkeit und Unselbständigkeit bis hin zu Mutlosigkeit, Unsicherheit und Angstbereitschaft. Es wird sich ein Sicherungsbedürfnis einstellen, das mit einem Verlust an Improvisationsbereitschaft und einem Verlust an Kreativität einhergeht. Wie sehr das Vertrauen der Erzieher mit demjenigen des Kindes verflochten ist, wird deutlich, wenn ein Kind einen Baum erklettern möchte oder wenn ein Kleinkind sich einer absteigenden Treppe nähert. Der Erzieher findet sich in einer mehrfachen Rolle: als Warner/Behüter einerseits, als stiller, zitternder Zuschauer andererseits, vielleicht aber auch als Ermutiger. Natürlich spielt die umgebende Atmosphäre eine Rolle. Mangelndes Selbstvertrauen im Erzieher, seine Unsicherheiten und Ängste sowie seine Gesamtverfassung können auf das Selbstvertrauen des Kindes abfärben. Wird der Erzieher/Lehrer Vertrauen haben in die verborgenen Potentiale des Kindes, Vertrauen in seine Entfaltungs- und seine Selbstordnungstendenzen? Wird er Vertrauen haben zu einem freien Spielenlassen von naturgegebenen Anlagen? Ein positives Bild vom Menschen wird seine Zuversicht beeinflussen, es wird sich auswirken auf seine Geduld wie auch auf seine Zurückhaltung gegenüber einem vorschnellen Eingreifen und Kritisieren. Selbstvertrauen ist eine empfindliche Pflanze; dies offenbart sich besonders im schulischen Bereich, wo Begabungsmentalitäten und Leistungsbewertungen (Noten) sich als lebenslängliche Traumata auswirken können. Erwerb und Untergrabung des Selbstvertrauens sind ständige Begleiter allen schulpädagogischen Geschehens.

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2.7 Kontakt Nach Jacoby geht - pädagogisch gesehen - von jeder Aufgabe eine „Einstellwirkung" aus. Wir sollten bereit werden, diese wahrzunehmen, uns von ihr beeinflussen, ja verwandeln zu lassen. Man denke etwa an die Notwendigkeit, sich zu straffen, um eine Last zu heben; man denke an den Kontakt mit Werkzeug und Material, wenn es ums Zersägen von Holz geht; man denke weiter an die Art und Weise, wie man mit einem bekannten oder unbekannten Menschen in Beziehung tritt. Jacoby verdeutlichte die Einstellwirkung durch die Frage: ,,Aufgabe, was willst du von mir?" oder auch „Ding (bzw. Mensch), was willst du von mir?". Gemeine ist damit eine Aufforderung nicht nur zur Koncakcnahme, sondern auch zu einem offenen und erfahrbereiten Probierverhalten, zu einem Sich-belehren-Lassen durch jeweilige Situationen. Übrigens machte Jacoby feine Unterschiede; er sagte nicht, man solle sich auf eine Aufgabe einstellen, sondern sich von ihr einstellen lassen. Und ähnlich empfahl er nie, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, er hoffte vielmehr, dass man sich von ihr gefangen nehmen lasse. Dem Kontakt vorgelagert ist immer die Kontaktbereitschaft.Wie wird man koncaktbereit? Einerseits eben dadurch, dass man sich von der Aufgabe „einfangen" lässt, andererseits durch eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Verfassung. Zum Beispiel kann Stillet-werden bzw. Abklingenlassen der Tagesunruhe die Erfahrbereitschaft, also auch die Kontaktfähigkeit begünstigen. Auf Kontaktfragen trifft man überall, man denke an die Beziehungen, an die täglichen zwischenmenschlichen Für Jacoby war auch der Aufgaben. berufliche an Pflichten, Kontakt mit dem eigenen Körper wesentlich. Und bereits erwähne wurde seine Empfehlung, den Kontakt mit der „Instanz" (dem Empfinden für das Stimmende) zu suchen und zu bewahren.

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In einem erweiterten Sinn betreffen Kontaktfragen stets unsere Beziehung zur umgebenden Welt. Echter Umweltkontakt steht im Gegensatz zu den Routinen und begünstigt Kreativität und ein „Leben aus erster Hand". - Fragen des Kontaktes werden wir in späteren Kapiteln unter den Stichworten Wahrnehmen, Sichäußern, Körper, Zeichnen etc. antreffen.

2.8 „BiologischeAusrüstung"

In Jacobys Buch Jenseitsvon „Begabt"und„ Unbegabt' begegnet man häufig dem Begriff „biologische Ausrüstung". Dieser Ausdruck kommt in der heutigen Biologie kaum mehr vor; bei Jacoby signalisiert er seine zahlreichen Naturbezüge (siehe auch Kapitel 5.1.). Mic der „biologischen Ausrüstung" wollte Jacoby auf die naturgegebenen Anlagen hinweisen. Von ihnen macht das Kleinkind noch selbstverständlichen Gebrauch, wohingegen die Erwachsenen diesen Anlagen häufig entfremdet sind. Würden sie „zweckmäßig gebraucht", könnten wir eine Menge Fähigkeiten fast im Alleingang entwickeln. Solches wiederzugewinnen ist das Anliegen von Jacobys Kursen. Vom Erzieher/ Lehrer erwartet Jacoby ein Vertrauen in die Naturanlagen des Kindes, er sollte Kreativität zulassen und sich nicht einmischen in Entwicklungsprozesse, welche einer Einmischung gar nicht bedürfen. Und weiter erwartet Jacoby ein Vertrauen in die verborgenen, noch unentwickelten Potentiale des Kindes, aber auch in diejenigen beim Erwachsenen. - Jacobys „biologische Ausrüstung" ist also vor allem pädagogisch zu verstehen, dies umso mehr, als er ja gar keine biologischen Studien betrieben hat.

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2.9 Angebote Jacobys Angebote waren gut überlegte Anregungen für den Einstieg in eine bewusste Nachentfaltung. Die Angebote bezogen sich auf verschiedene Themen, betrafen aber meistens eine Auseinandersetzung mit der Verfassung und dem Verhalten, z.B. mit dem Verhalten in ungewohnten (unroutinierten) Situationen, dem Verhalten beim Wahrnehmen, beim Sichäußern, dem Verhalten im Körperbereich und dem emotionalen Verhalten. Die Angebote sind einfache, für jedermann zugängliche Vorschläge. Sie sind so gewählt, dass man nicht in eine Versagersituation geraten kann, sondern zum Probieren und Experimentieren angeregt wird. Es ist ein Vorgehen in kleinen Schritten. Die Idee ist, auf diese Weise zu einer Nachentfaltung im Kleinstformat zu gelangen. Durch positive Erlebnisse soll gleichzeitig das Vertrauen in eigene Kompetenzen gestärkt werden. Beispiele für Jacobys Angebote finden sich in Kapitel 3. Der Ausdruck „Angebote" impliziert, dass Jacoby keine schulmäßigen Aufgaben stellen wollte; er vermied Vorschriften und direktives Vorgehen, ließ viel Spielraum und regte zu Entdeckungsreisen an. Doch bei aller Liberalität hatte er auch verpflichtende Ansprüche. Wenn seine Angebote von „Verabredungen" begleitet waren, erwartete er deren strikte Einhaltung. Denn nur bei konsequentem Einhalten der „Versuchsbedingungen" lässt sich die Richtigkeit der von Jacoby postulierten Effekte überprüfen. Geht man Jacobys Angebote und Verabredungen durch, wird man finden, dass sie meistens gar nicht auf das Erbringen einer Leistung als solcher zielen, sondern eher das Experimentieren in einem Bereich ansteuern, der die Bereitschaften und die Vorstufen von Leistungen betrifft, nicht die Leistung selbst. Dieses Hinlenken auf die Vorstufen - sie werden in der konventionellen Pädagogik häufig übersprungen - ist nicht nur charakteristisch für Jacoby, sondern auch eine wesentliche Bedingung für seine Art der Nachentfaltung.

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Jacobys Angebote bieten durchaus die Gelegenheit zu Entdeckungen, die Routine und Stolpern betreffen. Hier möchte ich aber einen Unterschied machen zwischen dem Stolpern innerhalb einer organisierten bzw. arrangierten Auseinandersetzung einerseits und andererseits dem unvermuteten, ganz unerwarteten echten Stolpern irgendwo im Alltag. Jacoby hat diesen Unterschied zwar nie formuliert, aber gedacht hat er vor allem an das unerwartete Alltagsstolpern. Jacobys Angebote zielten nicht nur auf eine Entfaltung im Kleinstformat, sie waren auch als Transfermodelle gedacht: wer z.B. durch Anheben von kleinen Lasten eine bessere Körperbeziehung erworben hatte, war eingeladen, die hier gemachte Erfahrung zu übertragen auf ein für ihn aktuelles, z.B. nichtkörperliches Gebiet. - Und längerfristig zielten natürlich alle Angebote auf den Alltag; bei hinreichendem Interesse konnten sie dort bald Eingang finden und sich zu einem „Allcagsprobieren" entwickeln. Ich sagte vorhin, dass Jacoby seinen Kursbesuchern „Angebote" machte, nicht aber ihnen Aufgaben stellte. Am Kursabend des 22. Januar 1946 gab er dazu eine ausführliche und pädagogisch aufschlussreiche Erklärung: „Sie fragen manchmal, warum ich nicht strengere Forderungen an Sie stelle, Ihnen nicht mit mehr Nachdruck „Aufgaben" abverlange. Aber ich will mich von Ihnen nicht zu Ihrem Schulmeister machen lassen. Sie sollen nicht auf dem Vehikel meinesWunsches, meiner Intensität, ein Ziel verfolgen, auch nicht auf dem Vehikel Ihres Wunsches dazu gelangen, etwas auszuprobieren, um durch Ihren Fleiß vor mir etwas zu gelten oder vor Ihren Kameraden zu glänzen. Was Sie tun und probieren, kann nur dann im Sinne von Entfaltung, von wirklicher Bildung fruchtbar werden, wenn Sie etwas ausprobieren, weil es Sie interessiert. Meine Aufgabe ist es nicht, Sie dazu zu bringen, ,,fleißig" zu sein bzw. dies oder jenes zu können. Meine Aufgabe besteht darin, Fragen, Probleme, Ausblicke, Möglichkeiten so an Sie heranzutragen, dass das Wesentliche allmählich so deutlich wird,

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dass es Sie zu interessieren anfängt. [...] Ich könnte Ihnen eine Menge „Hilfen" geben, um Sie zum „Arbeiten" zu bringen, solange es noch nicht aus Ihnen selbst heraus kommt, aber ich will nicht - ich könnte auch sagen: ich darf nicht! Denn mein wesentliches Anliegen ist, dass Sie selbständiger werden als Weg zu Entfaltung und Reifung [...]. Es ist also meine recht undankbare Aufgabe, Sie in erster Linie empfindlicher zu machen, Sie in einem tieferen Sinne un-zufrieden zu machen mit dem, was Sie am Reifen und Nachreifen hindert, es ist meine Aufgabe, Ihnen den gemächlichen „Frieden" zu stören, der viel mehr mit lauwarmem Spülwasser zu tun hat als mit wirklichem Frieden und mit Zufriedenheit.[ ...] Sie fragen, warum Sie noch nicht so viel unternehmen, als möglich wäre: weil wir von klein an daran gewöhnt sind, unter Druck gesetzt zu werden. Wir warten noch immer auf einen Druck [... ]; aber ich bin nicht bereit, Euer Bedrücker zu werden."

2.1 O zweckmäßige Frage- und Aufgabenstellung Die zweckmäßige Frage- und Aufgabenstellung ist für Jacoby ein ganz wesentlicher Entfaltungsfaktor; ein gesonderter Hinweis scheint mir an dieser Stelle berechtigt, wenn auch das Thema erst in den Bereich Schule gehören würde. Mit „zweckmäßigem" Vorgehen meint Jacoby eine Pädagogik, welche die Entfaltung fordert. Zu verstehen sind darunter etwa • Anknüpfen an Vorkenntnisse, • Aufgaben und Fragen, die möglichst nicht in Versagersituationen führen, • Aufgaben und Fragen, die von den naturgegebenen Anlagen des Schülers ausgehen, • Aufgaben und Fragen, die ins Zentrum des jeweiligen Gebiets fuhren.

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Gerade beim zuletzt genannten Gesichtspunkt spielt die fachliche Kompetenz des Lehrers eine große Rolle. Er sollte sich mit seinem Gebiet auf eine Weise auseinander gesetzt haben, die ausschließt, dass die Schüler auf unfruchbare Seitenwege gelenkt werden. Die im letzten Abschnitt (2.9) besprochenen „Angebote" sind Beispiele für eine zweckmäßige Frage- und Aufgabenstellung.

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3 Entfaltung und Nachentfaltung an Beispielen

3.1 Wahrnehmung Weshalb ist Wahrnehmung ein immer wiederkehrendes Thema Jacobys? Entfaltung beruht zu einem großen Teil auf unserem Kontakt und unserer Auseinandersetzung mit der uns umgebenden Welt. Dieser Kontakt entsteht hauptsächlich und primär durch die Sinnesorgane; sie sind die Pforten, durch welche uns Informationen zufließen. Nun gibt es für Jacoby gewaltige Unterschiede in der Art und Weise, wie wir wahrnehmen: Wahrnehmung ist für ihn ein Verhaltensproblem. Die Qualität des Verhaltens beeinflusst die Qualität der Information. Am besten lassen sich die Verhaltensunterschiede mit zwei extremen Positionen charakterisieren: 1. Wahrnehmung

durch Spähen, ,,Glotzen", Erhaschen, Erraffen, Habenwollen, (Er)greifen, In-Besitz-Nehmen, Packen, Ohrenspitzen; dies alles unter Anstrengung, mit

Aufwand und Überspannung;

mit der Angst, etwas zu

verpassen; von vornherein auf Einzelheiten fixiere - man ist bereits von etwas besetzt. Einengend wirken weiterhin Unruhe und Ungeduld bzw. Ängste, Panik, Besetzthei t etc. 2. Wahrnehmung durch „antenniges" Verhaltend. h. durch Zu-sich-kommen-Lassen der Signale, durch gelassenes Erleben und ganzheitliches Erfassen, ~!so durch Verzicht auf Anstrengung und aktives Aufnehmenwollen.

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Für Jacoby entspricht die Variante 2 einem naturgegebenen Verhalten, wie es sich beim Kleinkind findet; die Information ist breiter, die Eindrücke sind intensiver und lebendiger, dies aufgrund eines gelassenen, empfangs- und erfahrungsbereiten Zustands, womit nicht etwa Passivität und Schlaffheit gemeint sind, sondern Wachheit und Mobilität. Die Variante 1 gehört bei Jacoby ins Gebiet der Routine, der Entfernung vom Ursprünglichen, zum Bereich der Störungen. Er glaubt, dass nicht nur Unruhe, Angst etc. das kindlich gelassene Wahrnehmen gefährden, sondern von klein auf alles Hinweisen auf optische und akustische Erscheinungen, alles schnelle Erkennenwollen (bzw. Erkennensollen), das Zeigen bzw. das Auffordern zum Wahrnehmen und nicht zuletzt das Hinlenken zu Einzelheiten auf Kosten des Gesamteindrucks. Gemeint sind alle Sinnesfunktionen, also Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken. Allerdings existiert noch keine Untersuchung darüber, welche praktische Bedeutung diesen „Verführungen" tatsächlich zukommt. Charakteristisch für Jacobys Kurse war, dass man sich mit dem Wahrnehmungsverhalten praktisch auseinander setzte. Doch verstand er darunter keinesfalls eine Sinnesschulung, also keine isolierten Riechübungen, beim Tasten kein Identifizieren von Gegenständen (Anm. 3); im Gebiet Musik kein Erkennen von Themen, Formen, Taktarten oder Tonintervallen; solches war Jacoby zu sehr aus dem Zusammenhang gerissen (,,mit den Ohren glotzen"). Ihm ging es darum, den Einfluss unserer Verfassung auf die wahrgenommenen Inhalte erlebbar zu machen. Damit sind die Themen der vorangehenden Kapitel gemeint: die Gemütssituation, die Unruhe/ Ruhe, Offenheit/ Besetzthei t, Erfahrberei tschaft, Mobilität. Wieder wird Erfalubereitschaft durch innere Stille begünstigt. Der praktisch empfohlene Weg: die Augen schließen (zugehen lassen), das Restlicht durch Anlegen einer Augenbinde dämpfen, sich so in einen gelassenen, aber wachen Zustand begeben.

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Die einzige weitere „Regieanweisung" Jacobys bestand in seiner Empfehlung, die Schauabsicht abklingen zu lassen (Anm. 4); der Kurs konnte sich hierauf „blind" fortsetzen und war dann unter anderem eine Gelegenheit, sich - auch mit verbundenen Augen - mit der Verhaltensroutine „Glotzen" auseinander zu setzen. Gleichzeitig und als Folge konnten akustische Phänomene und Tasteindrücke deutlicher als zuvor erlebbar werden. Im Bereich der Musik bedeutet dies ein vermehrtes ungewolltes Erfassen der Zusammenhänge (Anm. 5), der Spannungsabläufe, ein stärkeres Erleben der Gesamtwirkung, eine Verlagerung des Interesses von außen (Musikstoff) nach innen (was passiert in mir? ,,Pfeilrichtung", Anm. 6). Ähnlich ginge es im Bereich Sprache darum, die Aufmerksamkeit für die intellektuellen Seiten einer Äußerung zurücktreten zu lassen, als Hörer offener zu werden für die Verfassung des Sprechenden, für die Art seines „Klingens", für das nicht bewusst Transportierte. Auf dieser andern (weniger intellektuellen) ,,Leitung" wird man - sowohl in Sprache wie Musik - erfahrbereiter und sensibler für Gesetzmäßigkeiten, die geglückten Äußerungen innewohnen bzw. verletzt werden, falls die Äußerung nicht aus einem erfüllten, ganzheitlichen Erleben stammt. Im Bereich der optischen Wahrnehmung ist das Öffnen der Augen (eigentlich: ,,Aufgehenlassen ") ein entscheidender Moment: Wenn es gelingt, nicht gleich in die alte Sehroutine zurückzufallen, erlebt man intensivere, nämlich farbigere und plastischere Bilder (siehe auch das Kapitel 3.7, ,,Zeichnen"). Auf diese Weise eröffnet sich ein weites Experimentierfeld, freilich von Jacoby nicht als flüchtiges Beschnüffeln gedacht, viel eher als Beginn einer langfristigen Auseinandersetzung (,,Umerziehung"). Eines der Ziele ist es dann, zu einem Gesamtverhalten zu gelangen, bei welchem sich das Schließen der Augen erübrigt. Um seine Vorstellungen zu verdeutlichen, verglich Jacoby - wie gesagt - das Funktionieren unserer Sinnesorgane mit Antennen und dementsprechend das Auge mit einem Fotoapparat. Er wollte damit auf die Unnötigkeit und den Wider-

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sinn von Anstrengung und Aufwand hinweisen, die unser Wahrnehmungsverhalten häufig kennzeichnen; in diesem Sinn empfahl er, sich „antennig" zu verhalten. Jacoby liebte solche Analogien, da sie aufleicht verständliche Weise die einzuschlagende Richtung signalisieren. Freilich: Die Sinnesorgane funktionieren immer als Antennen, und dies - soweit bekannt - unabhängig von unserer Verfassung. Letztere wirkt sich aber auf die Verarbeitung der Sinnesreize (d. h. im Gehirn) aus, und Jacoby wollte dazu einladen, dass diese Verarbeitung möglichst ungestört vor sich gehe, also vertrauensvoll registrierend und ohne Angst, etwas zu verpassen. Die Forderung, sich „antennig" zu verhalten, bezieht sich daher nicht auf das jeweilige Sinnesorgan, sondern auf den Gesamtorganismus. Zwar ist die Verwendung von „Antenne" bzw. ,,antennig" für zwei ganz verschiedene Stufen des Wahrnehmungsvorgangs sachlich anfechtbar, aus pädagogischer Sicht hingegen bringt sie einige Vorteile. Natürlich ist ein Einfluss der Verfassung auf die Wahrnehmung zunächst nur subjektiv feststellbar: als eine neue Weise des Registrierens und Erlebens. Eine Objektivierung ist zwar möglich durch weitere „Umsetzung" der wahrgenommenen Inhalte, in Jacobys Kursen vor allem in Form von Zeichnungen oder von Musizierversuchen; da es sich dabei um komplexe Leistungen handelt - es kommen jetzt mehrere Faktoren ins Spiel -, lässt sich nicht ermitteln, welches Gewicht dem Faktor „Wahrnehmung" jeweils zukommt. Die beiden hier besprochenen Weisen der Wahrnehmung bilden ein illustratives Beispiel für Jacobys Verhaltenskonzept. Darüber hinaus besitzen sie noch prinzipielle Bedeutung: Es handelt sich nicht nur um zwei Arten, sich in der Umwelt zurechtzufinden und nicht nur um den Hintergrund qualifizierter Leistungen, sondern um einen tiefer reichenden Unterschied: um zwei Arten des „Seins" (die aber nicht lauthals proklamiert wurden). Man ist erinnert an den Gegensatz zwischen östlicher (z.B. buddhistischer) und westlicher Lebenshaltung (Anm. 7) oder an Erich Fromms Haben oder

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Sein (Anm. 8). Fromm stellt der Welt des Habens eine solche des Seins gegenüber, und dies unter Bezug auf Gestalten wie z.B. Meister Eckhart (1260-1327). ,,Haben" ist eine Chiffre für Besitzen, Sicherheit, Gier, Aggression etc., ,,Sein" dagegen für Genügsamkeit, Brüderlichkeit, innere Werte. Im Unterschied zu Jacoby spricht Fromm mehr von den persönlichen Einstellungen bis hin zu globalen Perspektiven, aber nur sehr wenig von der Kleinarbeit des Einzelnen, welche eine Umorientierung begünstigen könnte (Anm. 9).

3.2 Sich äußern Sich äußern ist eine weitere Art von entfaltendem Umweltkontakt. Es geht zunächst um Kommunikation, um das Äußern von Bedürfnissen, um die Darstellung von Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen, aber auch um die Wiedergabe fremden Gedankenguts und fremden Erlebens (Theater, Musik etc.). Das Gebiet ist riesengroß, reicht es doch vom Lallen des Säuglings über den tänzerischen Ausdruck bis hin zum Komponieren einer Symphonie oder zum Malen eines Bildes. Ein großer Teil aller Kommunikation, Kultur und Kunst beruht auf dem Sichäußern. In Jacobys Kursen ging es vor allem um sprachlichen und musikalischen Ausdruck. Das zeigte sich schon darin, dass vor Beginn eines Einführungskurses - jeder Teilnehmer nicht nur auf Fragebogen ausführlich über sich berichten musste, sondern auch eine Reihe von Äußerungs-Dokumenten einzureichen hatte: u. a. freie schriftliche Darstellungen (z.B. Tagebuchnotizen, Aufsatzpassagen) und Tonaufzeichnungen (Anm. 10 und 11). Äußerungen sind beim Kleinkind spontan, es signalisiert Bedürfnisse, drückt durch Lächeln Freude, durch Tränen Trauer aus. Sprechen lernt es autodidaktisch. Hinzu kommen Anfange im Malen, Zeichnen und Singen; später lernt das Kind Lesen und Schreiben. Mit dem Heranwachsen

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werden diese Äußerungen bald lobend kommentiert, bald kritisiert, daher beeinflusst und kanalisiert. Spontaneität kann so verloren gehen, die Entfaltung wird gebremst. Die Äußerungsfähigkeit der Erwachsenen beschränkt sich meistens auf wenige Bereiche und ist auch dort oft ungenügend entwickelt. Für Jacoby waren es stets frühe Einflüsse aus der Umgebung, die sich ungünstig auswirken, und die - wenn es um Nachentfaltung geht - ins Bewusstsein gerückt und neutralisiert werden sollten. Ein krasses Beispiel dafür, wie von einem unbefangenen Sich äußern weggelenkt wird, ist Jacobys Schilderung des damaligen Anfängerunterrichts am Klavier: Statt sich vom Ohr geleitet dem Instrument tastend zu nähern, machte man dem Kind Haltungsvorschriften und ließ es via Notenlesen, also auf visuellem Weg, zu den richtigen Tönen gelangen. Jacobys ausführliche Schilderung steht nicht nur stellvertretend für alle unzweckmäßigen Arten des Beibringens, sondern brandmarkt auch das verfrühte Sicheinmischen in den Erwerb von Fähigkeiten, einen Erwerb, der soweit als möglich autodidaktisch zu verlaufen hätte. Natürlich gelangt man zum Sich äußern nicht im luftleeren Raum, es braucht eine Umgebung, und die Präsenz der Erwachsenen bedeutet eben, dass es Vorbilder, Modelle und Maßstäbe gibt. Werden sie zur Norm des Sichäußerns erhoben, können sie das Vertrauen des Kindes in seine eigene „Instanz" gefährden. Wenn in einem frühen Zeitpunkt Korrektheit wichtiger genommen wird als der zum Ausdruck drängende Inhalt, machen sich Beklemmung und Ängste breit; die Spontaneität wird leiden und das Getragensein vom Gehalt verkümmert. Jacobys Interesse galt stets der Qualität der Äußerungen: Sind sie ursprünglich, echt, erfüllt? Spürt man den Menschen? Steht ein Erleben aus erster Hand dahinter? Oder gibt es störende Einflüsse, welche die Aussagen unnatürlich und unecht werden lassen, sie in Routinegeleise leiten? Ungünstige Einflüsse vermutete Jacoby bei allen Kursteilnehmern.

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Sein Anliegen war es, bei ihnen das Interesse zu wecken, sich mit dem eigenen Funktionieren auseinander zu setzen. Dazu wählte er oft den sprachlichen Bereich, der ja jedermann zugänglich ist. Mit Sprechen wendet man sich an Einzelne, an Gruppen, an Kollektive. Finde ich Kontakt zum Zuhörer? Jacoby betonte in solchem Zusammenhang die Bedeutung des nichtverbalen Anteils: die Art meines Sprechens ist wesentlich, damit müsste ich mich auseinander setzen. Gemeint ist freilich nicht Sprechtechnik, denn Sprechen wird von Jacoby als Ausdruck des Gesamtbefindens verstanden. Der Mensch als Ganzes äußert sich. Bin ich genügend mobilisiert, habe ich Selbstvertrauen, bin ich wach genug, Signale wahrzunehmen, welche vom Zuhörer ausgehen? Kann ich mich selbst hören? Es geht - kurz gesagt - um meine „Art des Sein"; es geht gleichzeitig auch um meine Beziehung zur Aussage: Bin ich von ihr erfüllt, vermag sie mich zu tragen? Im sprachlichen Bereich sollte man zwischen Produktion und Reproduktion unterscheiden. Produktion im weitesten Sinn ist das alltägliche Sichverständigen, Streiten, Erzählen, Briefe und Tagebücher schreiben, Unterrichten, Ansprachen halten, Dichten. Reproduzieren (z.B. Vorlesen, Märchen erzählen, Gedichte vortragen, Theater spielen) ist insofern anspruchsvoller, als es meistens das Einleben in eine fremde Person und ihre Welt erfordert. Jacoby erwartete vom Reproduzierenden, dass er sich vor Beginn von seinem Text verwandeln lasse, sodass beim Hören der Eindruck entstehe, das Werk werde erst jetzt geboren (Re-Produktion). Für eine Auseinandersetzung bevorzugte Jacoby - wohl überraschend - den Bereich Reproduktion, und zwar das Vortragen von Gedichten, also - auch dies unerwartet - den Kunstbereich. Jacoby wusste eben, dass das Sprechen von Gedichten zumeist mit viel Konvention beladen ist, weshalb es auf diesem Gebiet viel zu „holen" gibt. Er wünschte sich einen geglückten, ,,tragfähigen", d.h. nicht banalen Text, einen Text, dem man vertrauen, dem man sich überlassen

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durfte. Jacoby ging davon aus, dass ernsthafte Arbeit an einer solch fest umrissenen Aufgabe sich auf das Sprechverhalten im Alltag auswirken werde. Mondgedicht (A.n den Mond) Immer wieder wies Jacoby darauf hin, dass unsere sprachlichen Äußerungen nicht nur logisch verständliche Inhalte transportieren, sondern auch nichtrationale Anteile. Er forderte dazu auf, sich für das eigene „Klingen" zu interessieren, also für die Art, wie ich etwas sage bzw. wie eine Person sich äußert. Denn für Jacoby waren Äußerungen immer auch Abbilder der inneren Verfassung, und gerade diese ist wesentlich beteiligt an der Wirkung des Gesprochenen. Wenn im Folgenden skizziert wird, wie Jacoby im Kurs 1945 (Anm. 12) sich mit dem Sprechen eines Gedichts von Goethe auseinander setzte, wird man leicht erkennen: Es ging ihm um etwas anderes als um eine Rezitationsstunde. Frau „B", die das Gedicht „An den Mond" gewählt hatte, wurde aufgefordert, zunächst nur die ersten beiden Strophen zu sprechen: Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Über mein Geschick.

Bereits das Sprechen dieses Anfangs genügte Jacoby, um auf eine Reihe von Konventionen hinzuweisen, die zum Vorschein kamen: zunächst ein „Klappern" der Verszeilen bzw. ein Erschlaffen und Unterbrechen an den Zeilenenden. Das (damals noch sehr moderne) Tonbandgerät bestätigte diese Feststellung; wiederholte Versuche von Frau B. brachten

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kaum Verbesserungen. Im Gegenteil: Sie behauptete, ihre Unbefangenheit zu verlieren. Jacoby erwiderte, hier werde vermeintliche „Unbefangenheit" mit einer Art von Empfindungstaubheit verwechselt. Es gehe darum, sich durch lauschendes Verhalten der von klein auf anerzogenen Rezitierroutine bewusst zu werden. Nach weiteren Versuchen von Frau B. machte Jacoby nochmals auf ihre Tendenz, den Versfuß hervorzuheben, aufmerksam, außerdem auf ihre Neigung, ausdrucksvoll zu sprechen und Gefühle zu investieren. Hatte sie wirklich zum Mond gesprochen? Einen Teil des Misslingens führte Jacoby darauf zurück, dass die Vorbereitung ungenügend war: einerseits wurde der Gehalt nicht ausreichend erarbeitet, andererseits hatte sich die Sprecherin beim Start noch nicht genügend verwandelt. Solche Vorbereitung wäre nötig, um zu Beginn über die erforderliche „Ladung" zu verfügen. - Goethe konnte ein solches Gedicht nur schreiben, weil er mit nächtlichen Stimmungen vertraut, weil er von ihnen erfüllt war. Erfüllt sein sollte auch, wer das Gedicht wiedergeben möchte. Man sollte über Eigenerfahrung bzw. Eigenerleben verfügen, dieses wachrufen und sich von ihm verwandeln lassen. Solche Verwandlung ist besonders für Ungeübte eine anspruchsvolle Phase. Jacoby betonte, dass man sich vor dem Beginn des Rezitierens viel Zeit lassen müsse, so lange nämlich, bis man von der Aufgabe hinreichend auf sie eingestellt worden sei (,,Gedicht, was willst du von mir?")(Anm. 13). - Habe man aber zu sprechen begonnen, möge man dem Text vertrauen, ihn sich zuwachsen und sich von ihm tragen lassen, ihm also nicht mit absichtlichen Manipulationen nachhelfen wollen. Wesentlich sei, dass die Grundstimmung deutlich empfunden und wiedergegeben werde. Jacoby verglich eine geglückte Wiedergabe gern mit einem von selbst ablaufenden Naturvorgang, mit einem Wachstumsprozess, bei dem es nichts zu ,,machen" (gestalten) gebe; Diskussionen über „Auffassungen" erübrigten sich dann. Freilich, wer ein Gedicht liebt, läuft stets Gefahr, eigene Gefühle (z.B. in Form von

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Betonungen) hineinzulegen. Auf solche Gefühle verzichten zu müssen, erweckte bei Frau B. den subjektiven Eindruck, in eine Rezitationsstunde geraten zu sein. Jacoby hingegen ging es um den Abbau von Konventionen: ,,Wir möchten ja nicht Frau B., sondern Goethe vernehmen", d.h., man solle in ein vorgegebenes Stoffgehäuse nicht Gefühle eingießen wollen; wenn das Gedicht gut sei, gebe es nichts „einzugießen". Leicht sei es freilich nicht, sich in jenen Zustand zu versetzen, aus welchem das Gedicht einem in selbstverständlicher Schlichtheit zuwachse (vgl. auch Anm. 99). Erfordert wird eine dienende Einstellung dem Autor gegenüber. Sich vom Gehalt des Gedichts so verwandeln zu lassen, dass auch der Hörer die Mondnacht spürt, dass auch er verwandelt wird, bedeutet dann eine Hintanstellung der eigenen Person; ein Gehorsam wird verlangt, über den wir aufgrund unserer normalen Lebensweise nicht ohne weiteres verfügen und der auch bei anerkannten Interpreten nur selten anzutreffen ist. Ziel solcher Auseinandersetzung war für Jacoby nicht, bereits im Kurs eine zutreffende Wiedergabe des Gedichts zu erreichen. Vielmehr wollte er einen Prozess in Gang setzen, also zunächst das Empfinden für erfülltes und weniger erfülltes Sprechen entwickeln; weiter ging es ihm um Fragen folgender Art: Wie nähere ich mich selbständig einer derartigen Aufgabe? Wie gelange ich zum Wesentlichen? Schleppe ich Konventionen und Routinen mit mir? Welche? Wie komme ich von ihnen weg? Was müsste sich bei mir langfristig ändern? Es ging Jacoby also nicht nur um eine Annäherung an den Autor, hier Goethe, sondern gleichzeitig und mindestens genauso sehr um eine Auseinandersetzung mit latenten Problemen der Interpretin: Wo liegen die Hindernisse, wie lassen sie sich abbauen, wie lässt sich Frau B. mobilisieren? So gesehen entpuppt sich die gestellte Aufgabe als Vordergrund einer tiefer liegenden Absicht Jacobys: bei der jeweiligen ,,Versuchsperson" eine generelle Revision anzubahnen. Weit-

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gehend trifft dies auch für andere Experimentierbereiche zu: für Zeichnen, Musik, sogar für den Körperbereich. Diese Ausdeutung der Sprechversuche mag übertrieben erscheinen, doch gibt es Analogien. Ich denke vor allem an östliche Praktiken, wie sie uns durch Herrigels Buch Zen in der Kunst des Bogenschießensnahe gebracht worden sind. Nach Herrigel bildet der Umgang mit Pfeil und Bogen eher den Vordergrund. Durch jahrelanges Üben erfährt der Schüler eine Reifung seiner Person, welche von einer ichbezogenen Selbstverwirklichung wegführt; er wird sich zunehmend dem ,,Es" überlassen. Im Verständnis der japanischer Überlieferung zielt der Schütze - oft ohne es zu wissen - immer auch auf sich selbst (Anm. 14). --◄ 0~

Ein Vergleich der Abschnitte „Wahrnehmung" und „Sichäußern" lässt neben Unterschieden auch Ähnlichkeiten erkennen. Die Unterschiede betreffen die Richtung des ist Aufnehmen, Äußerung Geschehens: Wahrnehmung bedeutet Abstrahlen, doch beides im Sinne eines Kontakts mit der Umwelt. Ihnen gemeinsam ist bei Jacoby die große Bedeutung der Verhaltensqualitäten, also der Grundthemen wie Routine, Steiper- und Probierbereitschaft, unterstützt durch eine Form von Gelassenheit und einer Bereitschaft zu echtem Kontakt. Jedesmal geht es darum, dass Äußerungen vom Menschen in seiner Ganzheit produziert bzw. wahrgenommen werden. Der Zugang erfolgt zunächst empfindungsmäßig (,,andere Leitung"). Möglicherweise istJacoby auch heute noch allein mit seiner konsequenten Verknüpfung von Wahrnehmung bzw. Äußerung mit dem Gesamtverhalten, allein auch mit seinen Vorschlägen für eine bewusste Revision des Letzteren. Voraussetzung für die praktische Umsetzung ist natürlich eine Bereitschaft, sich auf den Weg zu begeben.

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3.3 Körper 1 Fragen, die den Körper betreffen, spielten für Jacoby eine große Rolle. Als Kind war er rachitisch, er wurde „bis zum vierten Altersjahr im Wagen gefahren". Als Erwachsener - als Lehrer für Musiktheorie am Institut von Jaques-Dalcroze lernte er 1912 dessen „Rhythmik" kennen, jenen Versuch, die musikalische Entfaltung durch Körperbewegungen zu fordern. Was Jacoby dabei zusagte, war die ganzheitliche, d. h. übergreifende Perspektive. Doch missfiel ihm, dass Jaques-Dalcroze die Bewegungen an die Schüler von außen herantrug, statt sie, unter dem Einfluss der Musik, gleichsam „von innen" entstehen zu lassen. ,,Erst nach langem Suchen" fand Jacoby (ca. 1925) bei der Gymnastiklehrerin Eisa Gindler eine ihm zusagende Art, sich mit dem Körper auseinander zu setzen. Jacobys Musikpädagogik und Gindlers Gymnastik erwiesen sich in den Grundauffassungen als so ähnlich, dass sie fortan gemeinsame Kurse veranstalteten (Anm. 15). In jüngerer Zeit ist versucht worden, Jacoby bei den Körpertherapeuten einzureihen (Anm. 16). Mit Sicherheit hätte er sich gegen eine solche Etikettierung gewehrt, wie er ja mit zunehmendem Alter auch nicht mehr als Musikpädagoge in Erscheinung treten wollte. Denn es ging ihm um pädagogische Grundprinzipien. Jedoch trifft es zu, dass er dem Körperbereich eine Schlüsselrolle zumass (Anm. 17). Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen. Zunächst existiert wohl kaum ein Gebiet, das für jedermann derart leicht zugänglich ist und das sich gleichzeitig so gut eignet, alle Jacoby'schen Grundideen ungestört kennen zu lernen und zu erproben. Der Körperbereich erweist sich als ideales Experimentierfeld. Hinzu kommt, dass der Körper bei all unserem Tun und Lassen stets gegenwärtig und- direkt oder indirekt - beteiligt ist; die Qualität unserer Arbeit und unseres Handelns (unseres „Funktionierens") ist vom Umgang mit dem Körper beeinflusst. Dabei können Fragen

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wie Ermüdbarkeit, gesundheitliche Störungen (z.B. Rückenprobleme) bzw. deren Prophylaxe akut werden. Jacobys Auseinandersetzung mit dem Körper beruht auf einer ganzheitlichen Perspektive: es geht stets um den Gesamtorganismus, um den ganzen Menschen. Neu sind solche Vorstellungen keinesfalls: ,,Mens sana in corpore sano" (Anm. 18) lautete die Formel der Römer für solch psychosomatische Beziehungen. Freilich sollte man vor schematischen, simplifizierenden und modischen Missbräuchen hier sehr auf der Hut sein. Auch auf dem Körpergebiet ging Jacoby davon aus, den meisten zivilisierten Menschen sei ein anlagegemäßes Verhalten weitgehend abhanden gekommen (Anm. 19). Daher war es sein Anliegen, den Kursteilnehmern ein Manko überhaupt erst bewusst werden zu lassen und zugleich Wege zum Wiedergewinn verlorener Verhaltensweisen vorzuschlagen. Was man sich unter solch ursprünglichem Verhalten vorzustellen habe, wurde allerdings nicht definiert und auch nicht - wie etwa in einer Gymnastikstunde - zum Nachahmen vorgezeigt; vielmehr sollte man sich anhand einfach gestellter Aufgaben (,,Angebote") - durch eigene Körperempfindungen geleitet - ganz allmählich in diese Richtung vortasten. Bei solcher Gelegenheit wies Jacoby aber gern gelegentlich mit Bildern - auf Tiere, Kleinkinder und ,,Naturvölker" hin, bei denen - nach seiner Meinung häufiger als bei hochzivilisiercen Erwachsenen ein Bewegungsverhalten anzutreffen ist, das wir spontan als harmonisch, beziehungsvoll und naturnah empfinden. Ich möchte Jacobys Vorgehen zunächst am Beispiel des Sitzens erläutern. Wir saßen im Kurs auf lehnenfreien runden Holzhockern mit völlig ebener Sitzfläche. Erst nach einigen Kursabenden wies Jacoby auf unsere seltsamen Sitzstellungen hin: Wenn es sich darum handle, eine Arbeit qualifiziert auszuführen, sei die Art des Sitzens nicht gleichgültig. Ein Rückenskelett diente dazu, jenes Sitzen sichtbar zu machen, bei dem der Oberkörper auf den Sitzknorren (Sitzhöckern)

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balanciert: Je besser man sich im (labilen) Gleichgewicht befindet, desto weniger Muskelaufwand ist erforderlich. Jacoby sagte, dass die meisten Leute auf dem Steißbein säßen, oder aber so stark nach vorn geneigt, dass die Eingeweide gepresst würden. Er forderte dazu auf, durch Abstützen auf die Hände das Gesäß vorübergehend etwas zu entlasten, damit es sich in eine neue, geeignetere Lage einpendeln könne. Solche Versuche - sie waren zu Hause fortzusetzen führten schnell zur Erfahrung, dass es unerwartet viele Arten des Sitzens gibt. Jacoby gab jedoch keine eigentlichen Urteile ab; er kommentierte vielleicht, korrigierte aber nie, auch dann nicht, wenn sein Angebot zunächst in steife und verschrobene Sitzpositionen mündete (Anm. 20). Dementsprechend gab es auch keine Körperberührungen. Jacob sagte, hier gebe es kein „Richtig" und „Falsch";_das_Eals.che...seisolange -das RiZ!rtige,- bis ~ von selbst als unzulänglich erfahren werde (Anm. 21). M~~lle also 'inöglichst viel ex e-_ rimentieren und versuchen, allmählich vom weniger Befriedigenden zum Befriedig~renden zu gelangen. Dieses „Pro6ieren" hat möglichst systematisch zu geschehen; im Körperbereich gibt es, wie schon angedeutet, meistens eine große Zahl von ähnlichen Varianten, die zu erforschen und zu vergleichen sind. Bevorzugt sein müsste - das Skelett lässt es vermuten - jene Position des Beckens, bei der die Oberseite des Kreuzbeins, welche ja die Basisfläche der Wirbelsäule bildet, sich in annähernd horizontaler Lage befindet. Dadurch entstehen für die Wirbelsäule günstige statische Bedingungen (Anm. 22). Die Wirbelsäule selbst - ihr Name sagt es, und auch hier gibt das Skelett Auskunft - besitzt eine Säulenstruktur; es liegt also nahe, dass man sich kerzengerade aufrichten will. Als Tastversuch war Jacoby damit einverstanden, er riet aber davon ab, etwas „machen" zu wollen; vielmehr empfahl er „zu spüren, ob etwas in uns sich ändern, sich mehr aufrichten möchte". Dieses Lauschen auf innere Tendenzen ist charakteristisch für Jacoby; es findet sich - in übertragener Form - auch in der Musik, insbesondere beim Improvisieren,

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wo es stets darum geht; zu spüren, wohin eine begonnene Folge von Klängen sich fortsetzen möchte. Immer sollten wir also unser~r: eigenen Empfindung vertrauen, sogar auf die Gefahr hin, von ihr nicht sogleich optimal geleitet zu werden. Letztlich ist sie die Instanz, an der wir uns zu orientieren hätten. Relativiert bzw. bezweifelt wird damit die Beurteilung durch Lehrer und Therapeuten: Eine gut entwickelte „Instanz" sollte mindestens genauso ernst genommen werden (Anm. 23). Die „Instanz für das Stimmende" muss im Fall der Sitzversuche zwischen überzeugenden und weniger überzeugenden Varianten entscheiden. Es geht dabei um das Registrieren des Wohlbefindens, das als allgemeine Entspannung erfahren werden kann, konkret z.B. als Atemfreiheit, als Entlastung der Beine und Füße (weniger gepresste Gelenke), als größere Mobilität im Leistenbereich und als Minimierung von Anstrengung und Ermüdung (gemeint ist vor allem der muskuläre Aufwand, er ist, wie gesagt, im balancierenden Gleichgewicht am geringsten und ausgeglichensten). Begünstigt wird das „Funktionieren" der Instanz durch ein „Anwesendsein", also durch Präsenz, durch eine Bereitschaft für die gestellte Aufgabe, durch Kontakt mit der eigenen Verfassung. Auch hier gibt es unterstützende Beiträge wie Stille, Abklingenlassen von Unruhe durch Schließen der Augen etc. Einschränkend sei daran erinnert, dass das „Empfinden füt__dasStimmende.'..'_eine..ii:idividuelle _ zeitgebundene Einschätzung _darsrellt_,-11ichtdagegen eine obje_!