Selbstbefähigung: Der psychophysische Ansatz Heinrich Jacobys
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-BEFAHIGUNG

DER PSYCHOPHYSISCHE ANSATZ HEINRICH JACOBVS

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Hannes Zahner Selbstbefähigung

Hannes Zahner

Selbstbefähigung Der psychophysische Ansatz Heinrich Jacobys

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Hannes Zahner Selbstbefähigung. Der psychophysische Ansatz Heinrich Jacobys © 2016 sentio verlag. Zweite, leicht, überarbeitete Auflage [SBN 978-2-8399-1525-0 www.sentio-verlag.ch [email protected] CH-2926 Boncourt Lektorat: Sigrid Weber, Freiburg i. Br. Satz: Martin Janz, Freiburg i. Br. Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen I www.martinzech.de Umschlagsfoto: © Alexander Potapov I www.dreamstime.com Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Gegenwärtig wichtige «Kognitionstheoretiker» - zum Beispiel Damasio, Edelman, GellMann, Hofstadter, Holland, Minsky und viele andere - lassen sich zusammen durch eine Kurzbeschreibung von Daniel Dennett charakterisieren, wo es heißt: « We are almost all naturalists today. » An einer solchen Aussage erfreut sich mein Geist - und mein Körper. Diese dynamische Netzwerkperspektive scheint mir als ein ganzheitliches Moment zentral zu sein, speziell was die rekursive Integration von Motorik, Sensorik und Gehirn betrifft. Es hätte ja wichtige Konsequenzen, wenn wir die Prozesse[. .. ] wie beispielsweise das Sehen, als einen rekombinierten Prozeß zwischen Gehirntätigkeit, Sensorium und Motorik zu betrachten lernen würden. Heinz von Foerster (2008, 134)

Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein Dankeswort.......................................

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1

Kurzer einführender Grundriss . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2

Der grundlegende Zugang zu kreativer und produktiver Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das psychophysische Gleichgewicht -Arbeit an der Schnittstelle von Körper und Denken . . . . . . . . . . . . . . Von zweckmäßigen und unzweckmäßigen Routinen . . . . . Kontaktbereitschaft als Vorstufe der Leistungserbringung . Das Empfinden für das Stimmende Jacobys Schlüsselprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 25 29 35

3

Die drei Prozessebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

3.1

Die persönliche Ebene: eigene Selbstbefähigung . . . . . .

40 40

Nachentfaltung - ein stetiger Entwicklungsprozess . . . . . . Standortbestimmung - Verhaltensüberprüfung durch organismische Selbstreflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Improvisieren und Probieren - Verhaltensänderung durch Spaß am Falschmachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Hell-Dunkel-Versuch als ein Beispiel der jacobyschen Wahrnehmungsschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.2

Die pädagogische Ebene: Anleitung zur Selbstbefähigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Kinde aus - vom Menschen aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstlernen durch zweckmäßige Fragestellung . . . . . . . . . Strukturelle Ordnung als Voraussetzung von Freiheit und Entwicklung ................................... . Authentische Autorität - die prägende Rolle als Gegenüber Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.3

4

42 45 49

53 55 55 57

60 70

Die soziale Ebene: Jacobys Utopie des menschlicheren Menschen . . . . . . .

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Erfahrung in der Laborsituation experimentelle Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jacobys

Die organismische Selbstreflexion als Instrument der Selbstbefähigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarisches Sich-Erarbeiten in der Laborsituation ... Transfer in den Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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79 94

5

Einordnung des jacobyschen Ansatzes............ Fachliche Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsgebiete und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jacobys Ansatz-:- aktuell wie je . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine kritische Zwischenbemerkung ...................

6

ZurPersonHeinrichJacoby(1889-1964)..........

6.1

Jacobys

6.2

Musizieren: Eine Frage der Begabung? - Vom Musizieren in fremden Tönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jeder Mensch ist musikalisch - Musik als Grundbedürfnis Die Befreiung der schöpferischen Kräfte am Beispiel der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biografische Notizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Weg von der Musik- zur Allgemeinpädagogik

Das zeitgenössische Umfeld

Jacobys

..............

Musikpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hellerau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunsterziehung und ästhetische Erziehung . . . . . . . . . . . . . Reformpädagogische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalyse und Gestalttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bauhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eisa Gindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jacoby und der Jargon der Zeit........................

Anhang - Praktischer Teil Intermezzi- kleine Experimente für den Alltag........

98 98 101 106 107 112 112 112 116

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Kaffeetassen- Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolltreppen-Experiment.. .............. ........ ..... An-der-Kasse-Anstehen-Experiment ................. Smartphone-Experiment............................. Pendler-Experiment................................ Straßenbahn-Experiment ........................... Kandinsky-Experiment ............................ «Handige»-Füße-Experiment ....................... You-get-the-whole-world-in-your-hand-Experiment ...

160 162 164 165 166 167 168 170 176 180

Glossar - J acobys Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Das Das Das Das Das Das Das Das

Vorbemerkung Heinrich Jacoby? Nie gehört! - Zeit für eine Monografie zum 50. Todestag. Wenn ich den Namen Heinrich Jacoby erwähne, begegnen mir fragende Blicke. Nein, eigentlich nur Schulterzucken, denn nachzufragen, wer das denn eigentlich ist, dafür nimmt sich kaum jemand Zeit in der heutigen Daten- und Informationsflut. Und so ist kaum jemandem bekannt, dass Heinrich Jacoby ein ganz spezieller Pädagoge war, der ein effizientes Verfahren entwickelt hat, um sogenanntes ungeschicktes oder unbegabtes Verhalten in begabtes oder, wie er sagt, zweckmäßiges zu verwandeln. Er gibt jedem das Instrument dazu in die Hand. Es zu spielen, das ist die autodidaktische Aufgabe jedes Einzelnen. J acoby gibt keine Vorgaben, die andere nachzumachen haben, er vermittelt keine Methode, sondern ein Prinzip. Und insofern er den Umgang mit diesem Prinzip in die Selbstverantwortung jedes Einzelnen legt, taugt Jacoby auch nicht zum Guru oder Meister, auch wenn einige seiner Schülerinnen und Schüler ihn liebevoll ironisch ab und zu «Chef» genannt haben. Viele - gerade aus akademischen Kreisen - wenden immer wieder ein, 50 Jahre nach dem Tod von Jacoby sei es zu spät für eine Wiederbelebung seines Gedankenguts. Nun, ich bin anderer Auffassung und ein Versuch soll es allemal wert sein. Denn Jacobys Ansatz ist nicht nur zeitlos, er ist für die heutige Zeit der sich potenzierenden Beschleunigung geradezu wie geschaffen. Er bietet Orientierung für das Selbst, er zentriert und erdet. Er öffnet und schärft den Blick für die Grundlagen der eigenen Urteilskraft und Leistungsfähigkeit, womit der Maßstab oder Urmeter für die persönliche Weiterentwicklung und die persönlichen Ziele geeicht werden kann. Das vorliegende Buch würdigt die Person und das Gedankengut des Pädagogen Heinrich Jacoby (1889-1964 ). Es beschreibt vertieft die Praxis seines Verfahrens und fächert das ihr zugrunde liegende pädagogisch-psychologische Konzept auf. J acobys Ansatz ist nicht esoterisch oder anderweitig ideell überhöht, sondern besteht aus einer sachlichen, pragmatischen Praxis. Einer Praxis, die jeder jederzeit im Gepäck mitnehmen kann, sie braucht nicht viel Platz, nur ein wenig Raum und Präsenz im Denkapparat. Die Einsicht in das Prinzip seines Ansatzes

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lässt sich in einem praktischen psychophysischen Prozess der Selbstwahrnehmung und deren Reflexion ( «organismische Selbstreflexion») erarbeiten. Jacoby bezeichnet diesen Prozess als «Selbstumerziehung zu zweckmäßigem Verhalten» oder schöner formuliert als «Nachentfaltung». Die Praxis der Nachentfaltung als Voraussetzung pädagogischen und therapeutischen Handelns ist auch aus heutiger Sicht von Bedeutung. Nun mag einer der Gründe, dass Jacoby über eine Fußnote in der Musikpädagogik nicht hinausgekommen ist, darin liegen, dass just zum Zeitpunkt, da er in pädagogischen und psychologischen Kreisen eine größere Bekanntheit erfuhr und auf dem Weg war, ein großer Pädagoge zu werden, die braune Zeit einbrach, die - nicht nur für ihn, sondern für Tausende Intellektuelle - einen dramatischen Einbruch in sein Schaffen bedeutete und ihn an Leib und Leben bedrohte. Ein weiterer Grund liegt allerdings darin, dass Jacoby- entgegen seiner Ankündigungen - keine ausführliche strukturelle Darstellung seines Ansatzes vorlegte. Glücklicherweise lässt sich- aufgrund der umfangreichen Kursprotokolle seiner «Arbeitsgemeinschaften» wie auch seiner wenigen frühen Texte, vorab zur Musikpädagogik - die übergeordnete Struktur seiner Verfahrensweise gut erkennen. Jacobys Name wie auch sein Ansatz werden oft unter der funktionellen Körper- und Bewegungsarbeit Elsa Gindlers subsumiert. Tatsache ist, dass Jacoby, wie er immer betonte, von Eisa Gindler und ihrer Arbeitsweise entscheidende Impulse für seinen eigenen Ansatz erhielt, wie im Übrigen auch umgekehrt. Tatsache ist auch, dass Jacobys zentrale Anliegen - die Wandlung unbegabten Verhaltens und die Optimierung der Äußerungs- und Leistungsfähigkeit wie auch die dazugehörige Verfahrensweise zu deren Erarbeitung mehr und mehr in Vergessenheit geraten sind. Genauso wie seine sozialutopische Vision, mit seinem Ansatz einen Beitrag für eine neue Gesellschaftsordnung zu leisten, einen Beitrag zum «menschlicheren Menschen». In meiner langjährigen Erfahrung sowohl in der persönlichen Auseinandersetzung mit der jacobyschen Praxis wie auch in der Arbeit mit anderen Menschen hat sich in mir die Gewissheit der Bedeutung seines Ansatzes gefestigt. In der täglichen Arbeit bestätigen sich die Aktualität und die Effektivität seiner Verfahrensweise immer wieder aufs Neue. Jacobys Lehr-Praxis ist «Anleitung zur

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Selbstbefähigung». Sie ist darüber hinaus «Anleitung zur Anleitung zur Selbstbefähigung». D. h., sie ist sowohl ein Verfahren zur eigenen autodidaktischen Selbstbefähigung und Reifung als auch ein pädagogisches Instrument zur Anleitung zur Selbstbefähigung von anderen Menschen, seien es Kinder oder Erwachsene. Ein wesentliches Verdienst von Heinrich Jacoby liegt darin, dass er nicht nur theoretisch auf die Notwendigkeit der «Erziehung der Erzieher» hinweist, sondern eine entsprechende Praxis aufzeigt. Im Rahmen der Vorbereitung zum Gedenken an den 50. Todestag im November 2014 entstand in mir immer mehr das Bedürfnis, die Persönlichkeit und das Gedankengut von Heinrich Jacoby ausführlicher darzustellen als «nur» in einer kurzen Würdigung. Je vertiefender ich mich mit dem Werk und der Person auseinandersetzte, desto spannender und vielfältiger wurde die Thematik, und wie von selbst hat sich Kapitel um Kapitel aneinandergefügt. Was als kurze Würdigung gedacht war, weitete sich zu einer veritablen Monografie aus. Sie beinhaltet die Darstellung seines Gedankengutes, seiner praktischen Vorgehensweise und auch die historische Entwicklung seines Ansatzes. In einem weiteren Abschnitt wird der Blick geöffnet für das geisteswissenschaftliche Umfeld jener Zeit, das den Studenten und späteren Erwachsenenbildner Jacoby mitgeprägt hat. Anhand der ausführlichen biografischen Daten. kann das Schicksal von Jacoby auch als zeitgeschichtliches Dokument gelesen werden. Im Anhang wird eine Anzahl praktische Versuche vorgestellt, die Lust machen sollen, sie im eigenen Alltag auszuprobieren, um mit dem Prinzip seines Verfahrens vertraut zu werden. Sie sollen dazu anregen, sich vertieft mit dem Werk von Heinrich Jacoby auseinanderzusetzen, mit dem Ziel, Elemente seiner Praxis im eigenen Alltag entwicklungsfördernd einzubringen. Die Arbeit an diesem Buch über HeinrichJacoby hat mir vor Augen geführt, welch wichtigen und wertvollen Beitrag sein praxisorientierter Ansatz auch 50 Jahre nach seinem Tod leisten kann. Viele Vertiefungen und Vernetzungen können im Text nur angedeutet werden. In diesem Sinne versteht sich das Buch als work in progress. Es wäre schön, wenn es das Interesse wecken könnte, die darin aufgezeigte Sichtweise zu ergänzen und Jacobys Ansatz aus weiteren Blickwinkeln zu beleuchten. Hannes Zahner, Januar 2015

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Ein Dankeswort Meine erste Erfahrung in der Arbeit vermittelte mir Charlotte Selver, eine frühe Jacoby- und Gindler-Schülerin. Sie führte bis ins hohe Alter regelmäßig auch Kurse in der Schweiz durch. Mit ihrer Frohnatur und ihrer spontanen Art prägte sie eine Atmosphäre, in der man sich auch mit fremden Menschen vertrauensvoll und konzentriert auf eine Körperarbeit einlassen konnte. Es ist mir in guter Erinnerung geblieben, welche Stille in einer Gruppe von 40 bis 50 Leuten jeweils eintrat, die es erlaubte, ganz bei sich zu sein. Ich verdanke Charlotte Selver wesentliche persönliche Erfahrungen und Impulse für meine Tätigkeit. Prägend für mich und mein eigenes Schaffen war die Arbeit mit der langjährigen Schülerin und Vertrauten von Heinrich Jacoby, Dr. med. Ruth Matter in Zürich, bis zu ihrem Tod im Jahr 1995. Du kennst den Weg! - Ein Satz, den sie mir oft mitgab, wenn ich wieder einmal mit offenen Fragen aus der Stunde wegging. Mit ihren Worten war sie spärlich und sorgfältig. Genauso wie mit ihren Angeboten. Archaisch fast: einen Fuß in die Höhe ziehen. Die Hand auf dem Oberschenkel lasten, sie anheben und wieder sinken lassen. Und: Wiederholen. Immer wieder neu. Und: Bereitwerden. Bereitwerden, einen Finger anzuheben. Nichts anderes, als eine Stunde lang bereit zu werden, einen Finger zwei Millimeter anzuheben und wieder sinken zu lassen. Und das Erlebnis, dass sich in diesen zwei Millimetern eine ganze Welt bewegte. Nirgends wie bei ihr lernte ich, dass weniger mehr ist, dass das Gleiche nicht Dasselbe ist und dass die Welt sich immer wieder neu öffnet, nein, dass ich sie immer wieder neu zu öffnen imstande bin. «D'Arbet vom HeinrichJacoby». Diesen Satz- eine Liebeserklärung - verkörperte sie mit jedem Teil ihres Wesens. In der Würde ihrer Person, in ihrem wachen und aufrichtigen Interesse, in ihrer warmen Präsenz - mit all dem nahm sie an meinem Arbeiten teil; mit der ihr eigenen beruhigenden Geduld, das noch nicht Stimmende stehen zu lassen als das im Moment Stimmende. Um gelegentlich beim Abschied mit einem längeren Händedruck als sonst und einem hellen gütigen Lächeln anzuzeigen, dass sich heute in der Stunde wohl etwas verändert hatte.

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Manchmal bat sie mich, Beifahrer zu sein, wenn sie samstags zu ihren Geschwistern fuhr. Allein wollte sie - weit über achtzigjährig - nicht mehr Auto fahren. Am Steuer wich ihre sonst ruhige Gemächlichkeit und der Tacho stieg öfters über die offiziell erlaubte Höhe. Mit kindlicher Freude nahm sie eine Abkürzung, wenn ihr die Kolonne zu lang erschien, und ihre Augen glänzten jung, wenn sie von ihrem ersten Mercedes-Cabriolet erzählte, dem einen von den damals ganz wenigen in der Schweiz. Es war mir später vergönnt, ihr Fahrer zu sein - leider nicht mehr im offenen alten Mercedes - auf Ausflügen zu einigen Lieblingsdestinationen von Heinrich Jacoby. Wohl etwas romantisch in der Erinnerung, aber spürbar eine schöne Zeit für Ruth Matter, wie sie im offenen Cabriolet die schmale kurvige Straße am Vierwaldstätter See entlangfuhr, in einem gemütlichen Seerestaurant Heinrich Jacoby lauschte, wie er über sich oder über «d' Arbet» erzählte. So wie ich später ihren Erzählungen lauschte. Hannes Zahner, Januar 2015

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1 Kurzer einführender Grundriss HeinrichJacoby war Musiker und Erwachsenenbildner. Er beschäftigte sich mit der Frage, wie sogenanntes unkonzentriertes, ungeschicktes oder unbegabtes - oder wie er es nannte - unzweckmäßiges Verhalten entsteht und wie es gewandelt werden kann. Aufgrund seiner Arbeit mit Musikern und Schauspielern war er zu der Überzeugung gekommen, dass Unbegabtsein in aller Rege11 nicht angeboren ist, sondern sich durch Zuschreibung, d. h. durch verstörendes Verhalten seitens des Umfeldes entwickelt. Seine These: Jeder Mensch kann sich eine begabte Leistung erarbeiten. Jacoby interessierte sich für die Voraussetzungen, die begabtem bzw. optimalem Verhalten zugrunde liegen. Er erkannte bald die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen Körperverfassung und mental-kognitiven Vorgängen für die Qualität der Leistungserbringung. In der Folge entwickelte er einen Ansatz zur autodidaktischen Erarbeitung optimalen oder, wie er es nennt, «zweckmäßigen» Verhaltens. Ziel ist eine grundlegende optimale Leistungsbereitschaft. Sie beinhaltet die Präsenz, bewusst, voll und ganz bei dem zu sein, was ich im Moment gerade tue. Diese Präsenz ermöglicht es uns, in jedwelcher Situation, bei jedwelcher Anforderung die - individuell - bestmögliche Handlung bzw. Leistung abzurufen. Jacoby nennt es Improvisationsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, Herausforderungen und Unvorhergesehenem optimal begegnen zu können. Als Slogan formuliert: Durch Bewusst-sein zu bewusstem Sein! Nicht die Theorie steht bei J acoby im Vordergrund, sondern die konkrete Praxis. Sie beinhaltet eine Arbeit an der Selbstwahrnehmung und deren Reflexion. Wichtige Kernthemen seines Verfahrens sind:

Körperliche oder kognitive Behinderungen ausgenommen. Auch bei Behinderungen besteht jedoch ein - relativ zur Ausgangssituation - großes Lern- und Leistungspotenzial. Es sei hier auf die Paralympics hingewiesen. Insbesondere Goldstein hat auch eindrückliche Beispiele in seiner Forschungsarbeit aufgeführt (Goldstein, 2014 ). Jacoby selber führt viele Beispiele an, z.B. von Menschen, die mit den Füßen Geige spielen. Ebenso sei auf die Entwicklung der Heilpädagogik in den letzten Jahrzehnten hingewiesen.

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Ziel ist die bewusste Beeinflussung des Verhaltens im Sinne einer diametralen Wendung vom Interesse am Objekt hin zum Interesse an den eigenen Zustandsänderungen. ► Verbesserung der Äußerungs- und Leistungsfähigkeit

Es geht um die Wahrnehmung von ungeschickten oder ungebabten Verhaltensweisen und deren Veränderung hin zu qualifizierter Leistung. Jacobys These: Jeder Mensch bekommt mit der «biologischen Ausrüstung» genügend Gaben (Begabungen) mit auf die Welt, die ihn befähigen, sich mit allem, womit er sich auseinandersetzen will, auch begabt auseinandersetzen zu können. 2 Voraussetzung für eine Verhaltensänderung ist eine ►

Arbeit am psychophysischen Gleichgewicht Die Qualität einer Leistung steht in direktem Zusammenhang mit der Wechselwirkung von Körperzustand und mental-kognitiven Vorgängen. Nur deren unverstört funktionierendes Zusammenspiel ermöglicht optimales und authentisches Verhalten und Sein.

Zentraler Arbeitsinhalt ist die bewusste Wahrnehmung und Reflexion der Qualität des Zusammenspiels von Körper und Denken und die allfällige Korrektur. Wir können lernen, Störungen zu lokalisieren und zu korrigieren. Da diese nicht immer leicht zu erkennen sind und Zustandsänderungen oft unbewusst geschehen, so muss laut Jacoby «die Fähigkeit, sich ihrer bewusst zu werden, entfaltet werden mit dem Ziel der bewussten Beeinflussung des Verhaltens, und zwar im Sinne einer diametralen Wendung vom Interesse am Objekt zum Interesse an den[ ... ] eigenen Zustandsänderungen» Qacoby 2004, 16). Es geht vorab um die Verbesserung der Aufmerksamkeitsfähigkeit.

2 Es gehtjacoby nicht um die Frage der Hochbegabung. Sein Anliegen ist die Wandlung von unbegabtem Verhalten hin zu qualifizierter Leistung. Die Entwicklung steht in Relation zum Ausgangspunkt, die Leistungssteigerung ist relativ.

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Aufgrund einer «Standortklärung» können wir sozusagen der «Weisheit», sprich des selbstregulativen Funktionierens des Organismus gewahr werden. Jacoby bezeichnet es als «Empfinden für das Stimmende». Aus dem heraus können wir uns befähigen, als authentisches Selbst in unserer (psychophysischen) Ganzheit zu sein und zu handeln. Diesen grundlegenden oder existenziellen Zusammenhängen geht Jacobys Ansatz nach. Seine Praxis ist ein - wenn auch schlichtes, so doch ausgesprochen wirkungsvolles - Hilfsmittel, mit dem wir lernen können, wie unser Organismus geordnet und zielgerichtet, sprich begabt, funktionieren kann. Es handelt sich dabei - das war Jacoby wichtig zu betonen - um kein Verfahren, das überhöhte Erwartungen an Glück oder Erleuchtung erfüllt. Jacoby war kein Heilslehrer. Ebenso sah er Wohlbefinden oder das Auflösen von unerwünschten Symptomen, seien es psychische oder somatische, ganz pragmatisch als folgerichtige «Nebeneffekte» aus der Konsequenz zweckmäßigen Verhaltens. Das zweckmässige Verhalten im Sinne Jacobys ist somit Grundlage und Vorstufe für alles Tun und Handeln, gleich welcher Art (siehe Abbildung 1). Die konkrete Praxis des jacobyschen Verfahrens besteht aus ►

Körperwahrnehmung (Propriozeption 3 ) ► Wahrnehmen von Empfindungen/Sinnesreizen (perzeptive Wahrnehmung) ► Reflexion der Wahrnehmungen (kognitives Erfassen, sich bewusst werden) ► bewusster Veränderung des Verhaltens In der sogenannten «Laborsituation» werden ausgewählte Aufgabenstellungen und Verhaltensweisen aus dem Alltag exempla-

3 Der von Jacoby und vor allem von der Körperpädagogin Eisa Gindler verwendete Begriff «Propriozeption» trifft den Kern präzise. Er bezeichnet die Wahrnehmung meiner selbst, meines Verhaltens, meiner Bewegung und meiner Lage im Raum, aber auch, wie meine Körperglic_der im Moment aufeinander abgestimmt sind und interagieren. Es erfordert einige Ubung, sich voll auf das Körpergeschehen konzentrieren zu können und sich gleichzeitig darüber bewusst zu sein, was genau vor sich geht. Buber nennt es «bei sich beginnen, aber sich mit sich nicht befassen». D. h., dass ich mich zwar voll konzentriere, aber i111merauch ein Stück Begleiter 111einer selbst bin, mir bewusst, wo ich bin, was ich tue und was mir geschieht ..

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Abbildung 1

JACOBYS ANSATZ DER SELBSTBEFÄHIGUNG

Pädagogisches/ therapeutisches Instrument

Persönliches Instrument

1'

EIGENE SELBSTBEFÄHIGUNG

ANLEITUNG ZUR SELBSTBEFÄHIGUNG

PSYCHOPHYSISCHESGLEICHGEWICHT

Optimierung der Leistungsund Kontaktbereitschaft

Wachheit, Präsenz Improvisationsfähigkeit

Motivierendes Verhalten sich selbst und anderen gegenüber

Authentizität Sich-selbst-Bewusstsein

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risch «durchgespielt». Dabei können ungeeignete Verhaltensweisen erkannt und neue, optimalere erprobt und nachhaltig gefestigt werden. Ist das Prinzip dieser Vorgehensweise verinnerlicht, können wir es in den Alltag transferieren und bewusst anwenden. Die Auseinandersetzung mit J acobys Verfahren fördert ein psychophysisches Gleichgewicht, aus dem heraus ein selbst reguliertes authentisches Handeln erfolgen kann. Es begünstigt ein von Sorgfalt und Achtsamkeit geprägtes Verhalten, das sich nicht nur fördernd und motivierend auf sich selbst, sondern auch auf andere auswirkt. Ziel der Auseinandersetzung ist Selbstbefähigung. Selbstbefähigung zum einen zur Optimierung des eigenen Verhaltens und Leistens. Zum anderen ist Selbstbefähigung - im Sinne eines Sich-selbst-Bewusstseins des eigenen Verhaltenszustands (der eigenen momentanen Fähigkeiten und Grenzen) - gleichzeitig Voraussetzung pädagogischen und therapeutischen Handelns. Jacoby bezeichnet den Prozess der eigenen Selbstbefähigung als Nachentfaltung. Dabei handelt es sich um keinen einmaligen Prozess, sondern um ein stetiges Sich-Erneuern. Diese stetige Nachentfaltung erfolgt nicht aus Selbstzweck. Es geht Jacoby als Pädagogen darum, sich motivierend und entwicklungsfördernd auf andere auszuwirken, d. h. darum, andere, seien es Kinder oder Erwachsene, zu deren Selbstbefähigung zu befähigen. Jacobys Ansatz ist somit letztlich - als eine Sozialutopie des «menschlicheren Menschen» auf Gemeinschaft hin angelegt. Als kleiner Einstieg in die Praxis dient der folgende Versuch.

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Versuch Ins-Lot-kommen

Kleiner Versuch zum Einstieg zur Überprüfung des momentanen Verhaltenszustands ►

Registrieren Sie, in welcher Haltung Sie sitzen.



Setzen Sie sich nun auf die Kante Ihres Stuhls. Stellen Sie die Füße bequem auf den Boden.



Lassen Sie die Arme seitlich hängen.



Richten Sie sich langsam vom Becken her auf, Wirbel für Wirbel, bis Sie sich im Lot fühlen. Positionieren Sie Ihren Kopf so, dass Ihre Augen horizontal schauen können.

► Achten Sie auf die Kreuzbeingegend

{Übergang Becken-Wirbelsäule). Sind Sie dort «eingeknickt» oder aufgerichtet? Versuchen Sie, die unterschiedliche Auswirkung der beiden Haltungen herauszufinden.



Bewegen Sie nun die Arme seitlich in Zeitlupentempo bis auf Schulterhöhe und lassen Sie sie ebenso langsam wieder sinken. Ziehen Sie gleichzeitig die Schultern leicht nach hinten. Verweilen Sie einen Moment und wiederholen Sie den Versuch zwei, drei Mal.



Verweilen Sie einen Moment.



Legen Sie die Hände auf die Oberschenkel - oder, wenn Sie am Tisch sitzen, auf die Tischplatte - und beachten Sie, wie sich dabei Schultern, Kopf und Beckengegend verändern müssen, um weiterhin im Lot zu bleiben.



Vergleichen Sie Ihren jetzigen Verhaltenszustand und Ihre Befindlichkeit mit dem Zustand vorher.



Hat sich der Versuch auf Ihr Atmen ausgewirkt?



Verweilen Sie einen Augenblick.



Nun ist es aber wieder Zeit weiterzulesen!

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2 Der grundlegende Zugang zu kreativer und produktiver Leistung Ein zentrales Merkmal der Arbeitsweise von Jacoby besteht darin, dass er die Körperverfassung in Zusammenhang zur kognitiv-mentalen Verfassung bringt, woraus sich, wie er sagt, «psychologische und pädagogische Folgen» ergäben. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass sich die Arbeit am psychophysischen Gleichgewicht zum zentralen Inhalt seines Ansatzes entwickelte.

DAS PSYCHOPHYSISCHE SCHNITTSTELLE

GLEICHGEWICHT

VON KÖRPER

- ARBEIT

AN DER

UND DENKEN

Es gibt viele Methoden, die sich mit dem Verhalten und der Veränderung störender Verhaltensweisen beschäftigen. Jacobys Ansatz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er in jede Auseinandersetzung konsequent den Körper mit einbezieht als jenes Instrument, auf dem die Partitur des Lebens gespielt wird, d. h., in dem sich alle Prozesse manifestieren, seien es körperliche oder kognitive, auch jene des Lehrens und des Lernens. 4 «Es gibt kein Denken, kein noch so Denken», so Jacoby, «das nicht auch wesentlich gefärbt ist durch den Zustand und das Verhalten des Menschen, in dem es sich vollzieht» Qacoby 2004, 109). Oder, um es mit einem Spruch des Philosophen Schopenhauer zu sagen: «Das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut.» Die Qualität des Verhaltens wird wesentlich vom momentanen Zustand des «Instruments» Körper beeinflusst. Jacoby erkannte, dass die Spirale des unbegabten Verhaltens beim Lernen und Leisten nicht allein durch veränderte Methodik und Didaktik gewendet werden konnte. Wichtig wurde für ihn die Frage der Körperverfassung. Ein optimal auf das Lernen eingestellter Körperzustand war

4 Siehe dazu auch den Begriff «Embodiment». Eine These aus der Kognitionswissenschaft, die die Verbindung von Körper und Bewusstsein/Psyche beschreibt.

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Es gibt kein noch so objektives Denken, das nicht auch wesentlich gefärbt ist durch den Zustand und das Verhalten des Menschen, in dem es sich vollzieht.

für Jacoby eine zentrale Voraussetzung, dass Lernen gelingen bzw. eine optimale Leistung sich vollziehen kann. Es geht Jacoby um «die Gewinnung einer bewussten Beziehung zum eigenen Körper als Instrument, in dem sich alle Zustandsschwankungen abspielen, die Voraussetzung aller Wahrnehmung und aller Äußerung ist» Qacoby 2003, 22). Dabei stützt er sich auf die funktionelle Körperarbeit von Elsa Gindler (siehe Seite 154ff.), die er 1925 kennengelernt hatte. Der Einbezug des Körpers erfolgt wohlverstanden nicht in Form eines Körpertrainings, sprich einer sportlich-gymnastischen Betätigung, sondern in Form einer Introspektion, einer nach innen gerichteten Konzentration. Es ist eine Arbeit an der Selbstwahrnehmung, an der Aufmerksamkeitsfähigkeit. Es geht inJacobys Praxis um ein Nachspüren der Qualität, in der sich die immer neue Interaktion mit der Welt vollzieht. Damit ist jedoch nicht das viel bemühte «Spüren aus dem Bauch heraus» gemeint. Nachspüren im jacobyschen Sinne heißt, mit allen Sinnen anwesend sein und wertfrei beobachten. Das sogenannte Bauchgefühl ist dabei kein verlässlicher Ratgeber. Alte, aus der eigenen Geschichte «inkarnierte» Verhaltens- und Gefühlsmuster, die mit der aktuellen Situation nichts zu tun haben, können sich hier leicht durchsetzen. Auf der anderen Seite haben rein kognitive Entscheidungen den Nachteil, dass sie die körperliche Verfassung, die Empfindungen nicht oder zu wenig beachten. Jacoby betonte, dass es «die leibliche Seite dieser Probleme mit der gleichen Ehrfurcht, der gleichen Bereitschaft und Selbstverständlichkeit» zu beachten gelte «wie die geistige». Es sei dafür Sorge zu tragen, «dass es im Körper genau so aufgeräumt ist, wie wir es uns für einen aufgeräumten Geist wünschen» Qacoby 2004, 54). Wir sind jedoch gewohnt, dass der Lead beim kognitiven Apparat liegt, dass wir seine Kompetenzen deutlich über jene des Körpers stellen. Wir ge-

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hen in der Regel nicht davon aus, dass der Körper eine «Meinung» 5 hat und wir diese einholen könnten. Oft behandeln wir den Körper nur als Gebrauchsobjekt, als body machine, die sich unseren Befehlen anzupassen hat, und wir ärgern uns, wenn sie ins Stottern gerät. Diese Gefahr des «Machens», wie es Jacoby nennt, besteht selbst bei Meditation oder Entspannungstechniken. Jacoby bietet mit seiner Standortbestimmung bzw. «bewussten Zustandskontrolle» - wir nennen sie im Sinne der Ganzheiclichkeit von Körper-Seele-Geist «organismische Selbstreflexion» - einen Ausweg aus diesem Dilemma an. Man könnte diese Reflexion auch als «organismic dialogue» bezeichnen. 6 Es geht darum, in einer Art «Zwiegespräch» einen Einklang zwischen Körperempfinden und kognitiver Reflexion herzustellen. Wobei es natürlich auch hier festzuhalten gilt, dass es in vielen Situationen Sinn macht, dass der Verstand oder der Körper Entscheidungen «automatisch» und «autonom» treffen. Im Zustand des Verliebtseins setzt der Körper das Denken außer Kraft. Um den Zug zu erreichen, rennen wir, auch wenn der Körper außer Atem kommt. Es gibt jedoch viele Situationen, in denen eine einseitige Entscheidungsgrundlage sich störend, hindernd oder blockierend auswirken kann. Als einfaches Beispiel kann das Übergehen von Ermüdungserscheinungen z.B. beim Autofahren erwähnt werden. Es ist keine ganz einfache Sache, Körpersignale wahr-zunehmen, ins Bewusstsein zu bringen, sie zu benennen und zu bewerten im Hinblick auf einen Handlungsentscheid. Einfaches Beispiel: Wir essen vielleicht gerne eine zu große Portion, trinken ein Gläschen zu viel. Der Körper wird sich aber erst in ein paar Stunden unwohl fühlen. Wir übergehen die Signale oder können sie vielleicht gar

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Es geht hier nicht um den Begriff der sogenannten «Körpersprache» oder darum, ob der Körper sozusagen ein eigenes «Bewusstsein» hat, sondern lediglich darum, ob wir den momentanen Gesamtzustand des Körpers bewusst wahrnehmen, d. h. erkennen können, ob er für die geforderte Leistung bereit und befähigt ist. Neue Forschungen sprechen von einer Art «zweitem Gehirn», das im Darmtrakt lokalisiert sei und u. a. in einem regen Serotoninaustausch mit dem Gehirn stehe. D. h. das Gehirn erhält offenbar Signale vom Körper, die bewusst zu lesen wir jedoch noch nicht geübt sind. Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten des Sprachausdrucks und der Wortwahl, um etwas zu beschreiben und zu benennen. Wichtig ist, dass wir uns - im Bewusstsein, dass «der Finger, der auf den Mond zeigt, nicht der Mond selber ist» - des manchmal in den verschiedenen Begriffen verborgenen gemeinsamen Inhalts gewahr werden. Das gäbe in der Tat oft weniger Streit.

nicht erkennen. Wir sind wenig erfahren darin, die ersten, noch leisen Signale zu hören oder gar sie zu antizipieren. Ebenso sind wir es wenig gewohnt, die Auswirkungen kognitiver Tätigkeit auf den Körper zu erspüren. Ein Beispiel sind mögliche Körperverspannungen bei starker Konzentration, z.B. bei PC-Arbeiten, was letztlich in der Wechselwirkung wiederum die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt. Auch hier re-agieren wir oft erst, wenn Schmerz entsteht oder die Konzentrationsfähigkeit zum Erliegen kommt. Es ist hilfreich, sich dieser Schnittstelle sozusagen mikroskopisch bewusst zu werden und um ein optimales Funktionieren besorgt zu sein. Die Auseinandersetzung führt folgerichtig zu einem Entscheidungs- und Handlungsimpuls, der im Einklang von Körper, Seele und Geist steht. Martin Buber 7 nennt es ein Handeln aus dem geeinten Menschen, der sich nicht in Flickwerk verzettelt. Das jacobysche Verfahren bewirkt in diesem Sinne ein ganzheitliches «Sich-Ordnen» der organismischen Abläufe. Es erfordert vorab das Abklingenlassen von Unruhe und Verspanntheit 8• Dabei handelt es sich um ein Kernelement der jacobyschen Praxis: den Prozess, sich den selbstregulierenden Kräften, d. h. im jacobyschen Terminus dem «Empfinden für das Stimmende», überlassen zu können, um ein optimales Funktionieren der körperlichen wie auch der kognitiven Prozesse zu ermöglichen. Es geht um das psychophysische Gleichgewicht. Der Musikwissenschaftler Willy Tappolet fasst Jacobys zentrales Anliegen treffend zusammen: Ob es sich um das Wort, den Klang, die Farbe, die Bewegung, um schriftliche oder bildliche Darstellung handelt, überall entscheidet das Verhalten beim Erfahren und beim Sich-Äußern über die Qualität einer Leistung (Tappolet 1967, 64).

Martin Buber ( I 878-1 965), österreichischer und israelischer Philosoph und Pädagoge. Professor für jüdische Religionslehre und Ethik in Frankfurt. Nach der Emigration Professor für Anthropologie und Soziologie in Jerusalem. Buber setzte sich vermittelnd für die Rechte der Palästinenser ein. Ein Hauptwerk ist «Das Dialogische Prinzip»: Jeder Mensch prägt das «Dazwischen», das, was zwischen zwei Menschen geschieht und wie es geschieht. Die Art und Weise der Prägung dieses Dazwischen durch den Menschen prägt auch gleichzeitig seine Beziehung zu Gott. 8 Der exemplarische Prozess von Abklingenlasscn, Stillwerden bis hin zu einer wachen optimalen Handlungsbereitschaft wird in Kapitel 5.2 ausführlich beschrieben. 7

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Im Bewusstwerden der Störungen an dieser Schnittstelle liegt der Schlüssel zum Erarbeiten neuer lern- und entwicklungsfördernder Verhaltensweisen. Das jacobysche Verfahren kümmert sich sozusagen um die Wartung dieser Schnittstelle. Im Wechselprozess zwischen (kognitiver) Reflexion und praktischem Ausprobieren kann das eigene Verhalten überprüft und optimiert werden. Wenn der Körper in diesem Sinne geordnet und bereit ist, reagiert er nicht nur optimal auf körperliche Herausforderungen, er wird auch zum optimalen «Partner» für kognitive Aufgaben. Dies gilt genauso umgekehrt: Ein geordneter Geist wirkt sich auch ordnend auf den Körperzustand aus. 9 Charlotte Selver 10, eine Schülerin von Jacoby und Gindler, hat diesen wichtigen Arbeitsinhalt so formuliert: When it is undersrood that we are including the broader guestions of our attitude-toward-life, this will help us much more than just working on what we call «the body» (Selver 1999, 7).

Die Arbeit an der Balance der Wechselwirkung zwischen der mental-kognitiven und der Körperverfassung beeinflusst das psychophysische Gleichgewicht im positiven Sinne. Das Vertrauen in die Fähigkeiten des Organismus wird im Laufe des Prozesses grundlegend gestärkt. Kreatives und produktives Denken werden gefördert. Störende Verhaltensweisen können gemindert, sogenannte unbegabte Leistungen gewandelt werden. Der Prozess führt zu einem von Sorgfalt - populär formuliert: von Achtsamkeit - geprägten wachen und entwicklungsfördernden Umgang mit sich selber und in der Folge entsprechend mit anderen Menschen, insbesondere auch mit Kindern. Er führt zu einem Verhalten, das von Empathie und - mag der Begriff auch veraltet erscheinen - von Nächstenliebe geprägt ist. Es ist Jacobys wesentliches Verdienst, dass er die Bedeutung der Körperverfassung in Bezug auf Lernen, Sich-Äußern, auf die

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Gemeint ist hier explizit nicht: mens sana in corpore sano. Das von J uvenal stammende an sich schon problematische Zitat wurde denn auch von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke missbraucht. 10 Charlotte Selver (1901-2003), Schülerin von Jacoby und Gindler. Sie entwickelte nach ihrer Emigration in die USA ihre eigene Arbeit unter dem Namen «Sensory Awareness».

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Meidet die Routine! Beginnt jedes Mal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nicht, sondern denkt und fühlet!

Leistungserbringung ganz allgemein erkannt und eine effiziente Praxis entwickelt hat. Ein wichtiger Teil dieser Praxis besteht darin, sich der Gewohnheiten und Routinen gewahr zu werden.

V ON

ZWECKMÄSSIGEN

UND UNZWECKMÄSSIGEN

ROUTINEN

Unser Verhalten wird zu einem großen Teil von Gewohnheiten bestimmt. Einerseits sind routinierte Abläufe von unschätzbarem Wert und von existenzieller Bedeutung. Der Kalauer illustriert es treffend: Wenn der Tausendfüßler überlegen müsste, welchen Fuß er als nächsten zu bewegen habe, wäre er verloren. Oft aber verhindern eingeschliffene, festgefahrene Verhaltensmuster den Zugang zu neuen kreativen Lösungen, den Zugang zu erforderlichen Veränderungen, zu vorurteilsfreier Wahrnehmung. Sie können das Leben einengen und uns beim Lösen auch der alltäglichen Herausforderungen erheblich einschränken. Es gehtJacoby um die Qualität, wie wir etwas immer wieder neu wieder-holen. Henri Bergson 11 erläutert es im jacobyschen Sinne: «Es ist richtig, daß eine Gewohnheit durch Wiederholung erworben wird; aber was hätte die Wiederholung für einen Nutzen, wenn sie nur immer das Gleiche reproduzierte? Die wirkliche Leistung der Wiederholung ist die, daß sie erst zerlegt, dann zusammensetzt, und sich damit an die Intelligenz des Körpers wendet. Sie setzt mit jedem neuen Mal gebundene Bewegungen frei; sie lenkt jedesmal die Aufmerksamkeit des Körpers auf eine neue Einzelheit, die unbemerkt geblieben war; sie macht, daß er einteilt und klassifiziert; sie unterstreicht ihm das Wesentliche; sie sucht in der Gesamtbewegung Zug für Zug die Linien auf, die ihre innere Struktur bezeichnen. In diesem Sinne ist eine Bewegung 11 Henri Bergson (1859-1941), französischer Philosoph und Nobelpreisträger. Vertreter der sog. Lebensphilosophie.

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erlernt, sobald der Körper sie begriffen hat» (Bergson 1908). Diese ganzheitliche psychophysische Sicht ist für Jacoby zentral. Es gilt, die nicht ganzheitlichen und somit unzweckmässigen Routinen und Verhaltensmuster zu hinterfragen. Den Begriff der «Routine» benutzt Jacoby - von der Musik kommend - im Sinne des Musikers Ferruccio Busoni 12, der sich in seinem «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst» über den negativen Einfluss der Routine beklagt. Sie bedeutet nach Busoni lediglich «Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe», sie wandle den «Tempel der Kunst in eine Fabrik» und zerstöre das Schaffen. «Meidet die Routine!», ruft Busoni. Und wie Jacoby fordert er: «Beginnt jedes Mal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nicht, sondern denkt und fühlet!» (Busoni 1916, 31). Ein Imperativ, der das Leitmotiv des jacobyschen Ansatzes auf den Punkt bringt. Charlotte Selver formuliert es folgendermaßen: The distinction between spontaneous and habitual behavior is one of the main topics of our work in general. How a person lives - is he habitual, or is he reactive in everyday living? - is the great question upon which our work turns (Selver zit. n. Lowe/Laeng-Gilliatt 2007, 73).

Es geht dabei um das Gewahrwerden von ► Vor-stellungen, Vor-urteilen und Assoziationen Beispiel Vorstellung: Ich bestellte letzthin im Restaurant einen Kuchen und dachte dabei an jene Sachertorte in Wien. Beispiel Vorurteil: Ich war zum Essen eingeladen. Zur Vorspeise gab es eine Suppe, die herrlich schmeckte. Als man mir sagte, es sei eine Kuttelsuppe, konnte ich nicht mehr weiteressen, da sich in mir die Meinung, Kutteln seien etwas Widerliches, festgesetzt hatte.

12 Ferruccio Busoni (1866-1924), italienischer Pianist, Komponist und Musikpädagoge. Seine radikale Musikauffassung stieß bei Jacobys Lehrer Pfitzner auf heftige Gegenwehr.

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We gradually and patiently sort out what is perception and what is image.

Beispiel Assoziation: Eine Klientin löste in mir in der ersten Sitzung unangenehme Gefühle ihr gegenüber aus, bis ich merkte, dass sie mich an meine Großmutter erinnerte, für die ich keine guten Gefühle hegte, da ich als Kind vor ihr Angst hatte. ►

Verhalten aufVorrat Das Bewusstwerden von «Verhalten auf Vorrat» ist für die jacobysche Praxis von zentraler Bedeutung. Verhalten auf Vorrat heißt, eine Leistung mit vorgefasstem Verhalten oder mit vorgefasster Kraftanstrengung zu erbringen, ohne den Bezug zu den jetzt erforderlichen Bedingungen herzustellen. Es ist ein «gedankenloses» und meist verspanntes Verhalten, das häufig mit angehaltenem oder flachem Atmen einhergeht. So sind wir oft - ob im Auto, im Restaurant oder in der Straßenbahn - an verschiedenen Stellen im Körper angespannt, ohne es zu merken. Wir halten z.B. einen Kugelschreiber so, als ob er ein Kilo wiegen würde. Ein häufig zu beobachtendes Symptom ist z.B. auch ein völlig unnötiges Wippen mit der Ferse. Ein solcher Verhaltenszustand begünstigt zudem - aufgrund zu großer Anspannung - die Reizbarkeit und daraus folgendes übertriebenes und affektives Reagieren auf völlig unbedeutende Reize und Anforderungen. Der Weg zu originaler und optimaler Leistung kann laut Jacoby nur geebnet werden durch den Abbau des Verhaltens auf Vorrat. Durch eine «völlige Wendung der Aufmerksamkeit kann eine Befreiung der Äußerungsfähigkeit von aller künstlich geschaffenen Voreingenommenheit erlangt werden» Qacoby 2004, 17). Machen Sie selber die Probe anhand des Kaffeetassen-Experiments im Anhang.



Vor-Bilder Ich richte mein Verhalten - bewusst oder unbewusst - nach jenem eines anderen, ich übernehme die Meinung anderer - z.B.

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eines «Gurus» oder «Meisters» - oder verhalte mich nach einer festgesetzten Idee. Beispiel 1: Ich ziehe mich an wie jener Schauspieler, jene Schauspielerin, jener Guru, imitiere seine/ihre Mimik und Gestik und benutze dasselbe Vokabular in der Meinung, dieselbe Wirkung auf andere auszuüben. Beispiel 2: Ich folge nicht jener Einladung, weil dort Fleisch gegessen und nicht biologisch gekocht wird, obwohl mir der Kontakt mit den betreffenden Menschen wichtig wäre. Beispiel 3: Sie kennen die berühmte Weinprobe von Loriot. Der Vertreter schenkt den Probewein ein und fragt die Hausfrau, wie er schmecke. Pelzig, sagt sie. Nein, erwidert er und schaut auf seinen Prospekt: blumig, angenehm im Abgang, mit einem Schuss Vanille. Es geht, wie gesagt, um das Wahrnehmen, ob etwas vor die Realität gestellt ist. Vorstellungen und Assoziationen sind an sich normale und sehr wertvolle Vorgänge. Entscheidend ist jedoch, sich bewusst zu sein, dass Vor-Stellung und reale Situation zwei verschiedene Dinge sind, dass die Vor-Stellung nicht vor die Realität gestellt wird, sondern stets ein vergleichendes Unterscheiden von Vorstellung und Realität stattfindet. Siehe dazu nebenstehenden Versuch. Charlotte Selver drückt das folgendermaßen aus: We gradually and patiently sort out what is perception and what is image (Selver 1999, 31). Natürlich gilt auch hier: Oft ist es wichtig, dass wir Dinge schnell erfassen und benennen, dass wir aus dem gespeicherten Fundus Ähnliches und Gleiches erkennen können. 13 Wie könnten wir sonst das Leben bewältigen, uns entwickeln oder gar kommunizieren? Oft sind aber vorschnelle Urteile hinderlich und störend, sei es beim Entwickeln von neuen Lösungsstrategien, aber auch ganz alltäglich im Gespräch mit den Nächsten. Wer hat sich in der Geschichte

13 Siehe dazu z.B. die Entwicklungspsychologie

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von Jean Piaget (l 896-1980).

Versuch Sehen vs. Benennen



Schließen Sie, wo Sie gerade sind, die Augen.



Lassen Sie nach einer Weile die Augen sich wieder öffnen.



Versuchen Sie wahrzunehmen, was die Augen sehen bzw. registrieren.



Versuchen Sie, den Unterschied festzustellen zwischen ►

Benennen, Interpretieren (Begriffe zuordnen) d. h.: ich sehe die Holztäfelung, den Heizkörper usw. sowie



Sehen, was sich offenbart, wenn Sie begriffsfrei wahrnehmen. d. h.: Was erschließt sich dem Auge wirklich? Farbabstufungen, Schattierungen, Formen?



Wiederholen Sie den Versuch von einem anderen Standort aus.



Was ist Ihre Erfahrung mit diesen beiden Sichtweisen?

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vom Hammer 14von Paul Watzlawick 15(1994, 35) nicht auch selber ein klein wenig erkannt? Wie oft meinen wir, durch solche «Gedankenschachspiele» besser vorbereitet zu sein auf das, was auf uns zukommt? Jacobys Antwort ist stattdessen die, das Vertrauen in die Kontakt- und Reagierbereitschaft und damit die Improvisationsfähigkeit zu stärken.

KONTAKTBEREITSCHAFT

ALS VORSTUFE

DER

LEIS TUN GSERBRIN GUN G

Eine begabte Leistung wird nach Jacoby nicht durch eine Anlage zu Unbegabtheit gemindert, sondern in erster Linie durch eine mangelnde Bereitschaft, d. h. aufgrund eines verstörten Zugangs zur Leistungsfähigkeit. Hierin liegt das Kernstück des jacobyschen Ansatzes sowie das zentrale Element seiner Praxis, auf das er zu Beginn seiner Kurse hinwies. Die Aufgabe ist - laut einem Kursprotokoll von 1943 -, dass «wir uns mit den Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit beschäftigen». Zu diesen Voraussetzungen gehört das Bereitwerden, ein weiterer zentraler Terminus der jacobyschen Praxis: das Erarbeiten einer optimalen psychophysischen Leistungsbereitschaft. Dadurch wird der Gesamt-Organismus16 auf die Aufgabe, auf die Leistungserbringung ausgerichtet. Er ist dann im Sinne der Selbstregulation geordnet. Bereitwerden bedeutet zunächst, eine Aufgabe zu akzeptieren und in Kontakt mit deren Zielen zu sein. In diesem Kontakt entsteht «unser Wollen - das, was man Wille nennt - als Resultat des Gerichtetseins und des Eingeordnetseins» in die Struktur der Aufgabe (Jacoby 2004, 160). Dieses Ausgerichtetsein nennt 14 In der Geschichte mit dem Hammer beschreibt Watzlawick, wie jemand beim Nachbar einen Hammer ausleihen will und sich in Gedankenspielen verliert, wie der Angefragte wohl reagieren wird. Ycnnutlich hätte er Einwände, er habe ihn ja gestern schon so komisch angeschaut ... usw. Am Schluss klingelt er beim Nachbarn und schreit ihn an: Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel! Psychotherapeut und 15 Paul Watzlawick (1921-2007), österreichisch-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler und Vertreter des radikalen Konstruktivismus. Bekanntester Satz: «Man kann nicht nicht kommunizieren.» Jede Kommunikation hat nach Watzlawick einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. 16 Gesamt-Organismus ist natürlich im Grunde ein Pleonasmus. Gemeint ist ein Zusammenspiel von körperlichen und kognitiven/geistigen Prozessen, das nicht von relevanten Irritationen oder Störungen betroffen ist.

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Nur wenn ein Individuum eine Leistung in dem für diese Leistung für ihn adäquaten Rhythmus verrichten kann, ist diese Leistung normal. In der Feststellung dieser Zeitkonstante haben wir ein besonderes charakteristisches Zeichen der Persönlichkeit zu sehen.

Jacoby antenniges Verhalten. Es basiert auf Empathie. Da diese für die Qualität des Kontakts - sei es inbezug auf das Handeln, SichÄußern oder auch auf das Denken - von großer Bedeutung ist, ist die Schulung und Förderung der Empathiefähigkeit entsprechend wichtig. Im antennigen Verhalten entsteht der Impuls zu Kontaktbereitschaft. Er bejaht den Kontakt und ist geprägt von Neugier und Interesse. Im jacobyschen Verständnis beinhaltet der Begriff die in der «biologischen Ausrüstung» angelegte Lust und den Willen, sich auf etwas Neues hin zu bewegen. «Jede Faser im Körper», sagt Jacoby in seinem ganzheitlichen psychophysischen Verständnis, «formt sich zum Bereitwerden für die Lösung der Aufgabe» (ebd., 159). Die «Bereitschaft, Mobilisierung durch Interesse, schafft die Voraussetzungen, auch zu können!» (ebd., 160). Die Frage lautet nun: Wie lerne ich, mich grundsätzlich optimal auf eine Aufgabe, auf ein Ereignis, eine Erfordernis einzustellen? Wie kann ich meine bestmögliche Leistungsbereitschaft mobilisieren, um dann meine bestmögliche Leistung in der Situation abrufen zu können? Bestmöglich heißt jedoch nicht, einem idealisierten Ziel nachzueifern, sondern das momentan Mögliche und dessen Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Eine suggerierte Leistungssteigerung, um Rekorde zu erzielen, ist nicht Jacobys Intention. Sein Verfahren ist kein mentales Training, keine Selbst-Suggestion, um Leistungen zu «erpressen», wie er sagt. Beispiel 1: Die Fragestellung lautet nicht: Wie lerne ich in 14 Tagen Englisch, sondern: Welche Lernstufe ist aufgrund meines jetzigen Wissensstandes angebracht?

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Beispiel 2: Ich möchte wie mein Vorbild im Weitsprung acht Meter springen. Die zweckmäßige Fragestellung lautet: Wie verhalte ich mich beim Springen bei meiner jetzigen maximalen Weite von 5 Metern? Was (welche Versuchsanordnung, welche Verhaltensweisen) könnte ich wie verändern, um die 5-Meter-Marke zu überspringen? Der hier verwendete Leistungsbegriff ist ein qualitativer, kein quantitativer. Es geht nicht um höher, weiter, schneller, um «mehr Desselben», wie Watzlawick sagen würde, sondern die persönliche Verhaltensgrundlage soll im Einklang von Körper, Seele und Geist stehen. Leistungsfördernd heißt im jacobyschen Sinne nicht zwingend leistungssteigernd. Die Steigerung der Leistung ist eine relative. Sie bezieht sich auf den jetzigen Standort, d. h., der erste Entwicklungsschritt richtet sich nach dem jetzt gegebenen Potenzial und nicht nach dem gewünschten Resultat. Das heißt nicht, dass ich kein Ziel haben soll, sondern dass ich pragmatisch den individuell bestmöglichen - meinen - Weg bestimme und den ersten, maximal möglichen Lernschritt vollziehe. Daraus ergibt sich dann der zweite usw. Ob ich in sieben Tagen oder in sieben Wochen Englisch lerne, ergibt sich von selbst, d. h. bei meiner maximal möglichen Leistung in meiner bestmöglichen Zeiteinheit. Nicht nur in dieser Frage zeigt sich Jacobys inhaltliche Nähe zur Gestalttheorie, insbesondere zu den Erkenntnissen des Neurologen Kurt Goldstein 17: Jeder Mensch hat seinen Rhythmus, der sich bei den verschiedenen Leistungen natürlich in verschjedener Weise, bei einer bestimmten Leistung immer in bestimmter Weise, ausdrückt. Nur wenn ein Individuum eine Leistung in dem für diese Leistung für ihn adäquaten Rhythmus verrichten kann, ist diese Leistung normal. In der Feststellung dieser Zeitkonstante haben wir ein besonderes charakteristisches Zeichen der Persönlichkeit zu sehen (Goldstein 2014, 289).

Für Jacoby bedeutet das: Die Lern- und Einsichtsprozesse vollziehen sich in individueller und persönlicher Qualität und Geschwindigkeit. Er gibt kein generalisiertes optimales Verhalten vor. Jede 17 Kurt

Goldstein (1878-1965), deutscher/US-amerikanischer Neurologe und Psychiater. Sein Schaffen basiert auf der Gestalttheorie/Gestaltpsychologie. Er gilt als Pionier der Neuropsychologie und Psychosomatik und ist Mitbegründer der «Humanistischen Psychologie». Hauptwerk: «Der Aufbau des Organismus» (Goldstein 2014).

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Verhaltensweise ist die spezifische einer Person und steht in Bezug zu ihrer bestimmten Situation, zu ihrer Geschichte. Da wir uns laufend verändern, ebenso wie die Situation sich stetig verändert, gilt es, das Verhalten jederzeit neu aus einem «neuen» Selbst auf eine neue Situation, auf eine «neue» Welt einzustellen. Deshalb ist es wichtig, eine Verhaltens-Grundlage zu erarbeiten und nicht nur Rezepte für einzelne Situationen bereitzustellen, weil Letztere in einem veränderten Kontext nicht mehr greifen. Eine Methode mit Situations-Rezepten würde schnell an ihre Grenzen stoßen oder sich in einer endlosen Kasuistik verlieren. So wäre es bei der «Komplexheit des Phänomens» aussichtslos, «alle Faktoren als Teile eines Mosaiks erfassen und aus lauter Teilen schließlich ein Bild zusammentragen zu wollen. Wir würden doch immer irgendetwas vergessen, was zu berücksichtigen wäre» Qacoby 2004, 64). Jacobys ganzheitliche Sicht ist die der Gestalttheorie: Das Ganze ist mehr und etwas anderes als die Summe der Teile. Eine Melodie ist nicht die Summe der Töne, sondern etwas ganz Eigenes. Genau dies meint Jacoby, wenn er vom «Erarbeiten einer Methode» spricht. Das Methodische bezieht sich nicht auf eine momentan zu erbringende Einzelleistung, sondern auf das Sich-Erarbeiten einer grundlegenden Leistungs-Bereitschaft. Aus diesem BereitschaftsPotenzial können wir dann in jedwelcher Situation die bestmögliche Handlungsweise abrufen. Jacoby bezeichnet diese grundlegende Kontakt- und Leistungsbereitschaft auch als Improvisationsbereitschaft, und zwar ganz im buchstäblichen Sinne: dem Unvorhergesehenen optimal begegnen zu können. Nicht als aufgezwungene Re-Aktion, sondern als ein Handeln im Sinne eines bewussten Agierens, eines autonomen und authentischen Antwortens. Improvisation ist nach Jacoby die Wesenseigentümlichkeit allen Ausdrucks (ebd., 251). Gelingendes Improvisieren oder - mit dem schönen Begriff von Tappolet gesagt - «spontanes Selbsterfinden» bedarf eines Vertrauens in das «Empfinden für das Stimmende». Nach Tappolet ist jedes Improvisieren eine «Sache des Vertrauens, sich dem zu überlassen, was im Kontakt mit einer Empfindung wachsen möchte». Daraus resultiert eine klare Handlungsform. Sie ist «Gestalt» in einer viel tieferen Bedeutung, weil sie auch im übertragenen Sinne «nicht komponiert, d. h. zusammengesetzt, sondern gewachsen ist». Dann geht es, wie er in Bezug auf das musikalische Improvisieren sagt,

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«nicht mehr um das Herunterspielen mehr oder weniger fertiger Formeln und Kadenzen, rhythmischer oder harmonischer Wendungen, Redeweisen und Klischees» (Tappolet 1967, 65). Eine solche Verhaltensweise gründet nicht auf dem Machenwollen, sondern auf dem Ermöglichen durch Geschehenlassen. Der Fokus ist gerichtet auf das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, in die Kompetenz der selbstregulierenden Kräfte. Damit erbringe ich meine authentische Leistung, ich gehe nicht in fremden Schuhen. Es ist ein Verhalten aus der Gelassenheit heraus. Ge-lassen heißt jedoch nicht, leer oder verlassen zu sein, sondern das Vertrauen und die Sicherheit zu spüren, dass uns für jede Aufgabe und jede Problemstellung von unserem Organismus (d. h. von uns selbst) eine entsprechende Kompetenz zur Verfügung stehen wird. Denn wir sind ja stets mit einer Aufgabe verbunden, stets in Berührung mit etwas, sei es auch «nur» der Stuhl, auf dem wir sitzen, oder der Boden, auf dem wir stehen. Und wir sind stets in Kontakt mit etwas, seien es Menschen, Dinge oder Gedanken. In den Worten von Charlotte Selver: We are constant!y in connection with something, and therefore are never alone, never isolated. The whole day is full of invitations, but only we ourselves can realize if and when we respond to them. That is the question: do we respond to these everlasting invitations which can keep us young, movable, and reactive - never repeating, always new, because each invitation is new? Imagine what a change such responsiveness would bring in our Jives! (Selver zit. n. Lowe/Laeng-Gilliatt 2007, 72). In dieser Auseinandersetzung findet ein Entwicklungsprozess statt, der das Vertrauen in den eigenen Organismus stärkt, die kreativen schöpferischen Kräfte entfaltet, die kognitive «Beweglichkeit» fördert und Sinn ausschüttet. Charles Brooks 18 beschreibt diese Erfahrungsweise folgendermaßen. Man kann dahin kommen, dass man spürt, wann die Bewusstheit mit Gedanken beschäftigt ist, und wann diese Gedanken organisch aus unseren Wahrnehmungen entstehen oder aus unzusammenhängenden und verwirrenden Assoziationsreihen bestehen. [ ... ] In dieser Arbeit 18 Charles V. \Y/.Brooks, Ehemann von Charlotte Selver. Gemeinsame Kurstätigkeit. Publikation: «Erleben durch die Sinne» (Brooks 1995).

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Wir erkennen, dass die Klarheit der Wahrnehmung allem Verstehen und allem intelligenten Verhalten zugrunde liegt.

erfahren wir allmählich, dass wir mithilfe der Bewusstheit zu dem, was wir angehen und was wir tun, eine sinnvolle Verbindung ermöglichen können, deutlich unterscheidbar von der «blinden», «gefühllosen» oder mechanischen Art, in der wir so häufig mit unserer Welt umgehen. Wir erkennen, dass die Klarheit der Wahrnehmung allem Verstehen und allem intelligenten Verhalten zugrunde liegt (Brooks 1995).

Brooks spricht hier die psychophysische Einheit des Organismus an. Den Menschen als Ganzes zu sehen, heißt für Jacoby, dass wir «den Körper nicht vom Geist isolieren dürfen, nicht das Hören vom Sehen und nicht die Bewegung vom Denken» Qacoby 2004, 62). Wer «still und aufgeschlossen» sein kann, sagt er, wer also Ohren hat zu hören, Augen zu sehen und ein Herz zum Verstehen, dem wird «auf einer anderen Leitung so viel mehr mitgeteilt und durch eine andere Instanz lesbar gemacht als über jene Details einsammelnde Interessiertheit am Stoff, an der äußeren Erscheinung». Die Erfahrung als solche ist dann eine ganzheitliche, «und erst nachher, wenn man reflektiert, beginnt man sich über Einzelheiten Rechenschaft zu geben» (ebd., 64). Diese andere «Instanz» bezeichnet Jacoby als «Empfinden für das Stimmende».

DAS EMPFINDEN

FÜR DAS STIMMENDE

- jACOBYS

S CHL ÜSSELPRIN ZIP

Es stellt sich nun die Frage, wie wir die optimale Verhaltensweise, die optimale Antwort auf eine Herausforderung herausfinden. Wie wissen wir, welches die bestmögliche Antwort ist und wie sie ins Handeln überführt werden soll? Jacoby hat dafür den etwas unscharfen Begriff «Empfinden für das Stimmende» geprägt, der gleichwohl das Kernprinzip seines Ansatzes beinhaltet. Er lässt sich

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allgemein mit einem Zitat von Friedrich Schiller veranschaulichen. «Jeder individuelle Mensch», heißt es in seiner Schrift «Über die Ästhetische Erziehung des Menschen», «trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist» (Schiller 2005, 27). Konkreter gefasst: Jacobys «Empfinden für das Stimmende» geht von einem sich selbst regulierenden Organismus aus. Er ist auf Befähigung zur Verwirklichung des eigenen Seins und dessen Ziele hin angelegt. Dem Organismus liegt also eine Art Vollendungspotential inne. Die Aufgabe ist, sich dieser selbstregulatorischen Impulse bewusst zu werden und sie bewusst zu nutzen. Aus heutiger Sicht deckt sich Jacobys «Empfinden für das Stimmende» in weiten Teilen mit dem Begriff der «Autopoiese» von Humberto Maturana19. Autopoiese heißt in unserem Kontext: Unser Organismus, unser Verhalten erneuert und optimiert sich in einem Selbsterhaltungsprozess - im Zusammenspiel aller Teile im Organismus - stetig neu, und zwar im Hinblick auf Weiterentwicklung, auf optimale Interaktion und Kooperation mit der Umwelt. 20 Im Hinblick auf Jacobys Vision vom «menschlicheren Menschen» können wir sagen, das Gute sei - im Sinne von Thomas von Aq uins "omne ens est bonum" (alles Seiende ist gut) - im Menschen angelegt und strebe nach Verwirklichung. Eine gesunde Entwicklung findet demzufolge dann statt, wenn wir diese selbstordnenden Kräfte wahrnehmen und ihnen Raum geben können, sich in uns auszuwirken. Sie lösen

19 Humberto R. Marurana (geb. 1928), chilenischer Neurobiologe und Philosoph. Prägte den Begriff der Autopoiese und gilt als Begründer des «Radikalen Konstruktivismus» (Wahrnehmung ist subjektiv, Realität ist individuell, sie setzt sich zusammen aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung). Autopoiese ist der Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems. Der Soziologe Niklas Luhmann hat den Begriff später in seiner «Soziologischen Systemtheorie» weiterentwickelt. 20 Der Österreichische Physiker Heinz von Foerster (1911-2002), der wie Macurana dem «Radikalen Konstruktivismus» zugeordnet wird, weist darauf hin, dass «Selbstorganisation» kein geschlossenes System bedeute, dass ein System die Umwelt brauche, um sich selbst organisieren zu können. «Ordnung importiert das System nicht aus der Umwelt, sondern es ist eine ungerichtete Zufuhr von Energie, die in das System integriert und dazu benützt wird, eine eigene innere Ordnung auszubilden» (von Foerster/Pörksen 2013, 93). In dem Sinn ist auch die jacobysche Selbstbefähigung zu verstehen, die nur im Kontakt und Austausch mit dem Du, mit der Welt erfolgen kann.

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dann die nötigen optimalen Handlungsimpulse aus, mit denen wir uns verwirklichen können. Jacobys «Empfinden für das Stimmende» impliziert jedoch nicht nur eine bewusste Auseinandersetzung mit den regulatorischen Kräften. Er nimmt sie nicht einfach als gegeben hin, sondern versucht darüber hinaus, sich in einer reflektorischen Praxis dieser Kräfte nicht nur bewusst zu werden und sie wirken zu lassen, sondern sie in praktischen Versuchen zu verifizieren und, wo sinnvoll, zu beeinflussen. Denn er geht davon aus, dass auch diese ursprünglichen regulatorischen Kräfte unter ungünstigen Umständen verstört werden oder zumindest verstört wahrgenommen werden können. Jacobys Begriff «Empfinden für das Stimmende» beinhaltet somit die Fähigkeit zur aktiven Gestaltung der dem Menschen inneliegenden Selbstbefähigungs-Tendenz. Man könnte es nach Aristoteles als aktive Entelechie bezeichnen. Zeitgemässer betrachtet, orientiert sich Jacoby an der vom Neurologen Kurt Goldstein so bezeichneten «Tendenz zur Selbstverwirklichung». Sie besagt, dass der Organismus stetig bestrebt ist, sich zu einem Ganzen zu vervollkommnen und auch beim Eintreten von Störungen und Defekten diese so gut wie möglich zu kompensieren. Er versucht, Veränderung auszugleichen und wieder in jenen «mittleren Zustand der Erregung» zurückzugelangen, der seinem Wesen entspricht. Nur wenn die Welt adäquat seinem Wesen ist, tritt ja das ein, was wir die Ruhe nennen. Diese Verwirklichungstendenz ist das Primäre; aber sie kann sich nur durchsetzen im Zusammenstoß und Ausgleich mit entgegenwirkenden Kräften der Umwelt. Das geschieht nie ohne Erschütterung und Angst (Goldstein 2014, 246).

Im Grunde, so Goldstein, gehe der Gesunde in seiner Bewältigung der Welt von einem Zustand der Erschütterung zu einem anderen. Es bedürfe jedoch einer «Bejahung der Erschütterung der Existenz als einer Notwendigkeit zur Verwirklichung der eigenen Wesenheit» (ebd., 246). Demnach bedeutet Widerstand mitunter Hilfe zur Weiterentwicklung, Umwege können als «gewinnbringende Anlage» gesehen werden, wie Buber sagt. Einerseits strebt der Mensch also nach Überwindung der Erschütterungen, er sucht die Ausgeglichenheit, anderseits ist in ihm

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aber ein schon seit Geburt vorhandener Trieb zu Neuem, «zur Eroberung der Welt» angelegt. Er erweitert seinen Umkreis stetig, sowohl in materieller wie in geistiger Hinsicht. Sein Verhalten wird bald von der einen, bald von der anderen Tendenz bestimmt. Als Resultat dieser Auseinandersetzung zeigen sich laut Goldstein die «Schöpfungen der Kultur» (ebd., 46). Genau hierin liegt der jacobysche Wechselprozess zwischen «Bei-sich-Sein» und «antennigem Verhalten» begründet. Geleitet wird er selbstregulativ vom «Empfinden für das Stimmende». Goldstein bzw. die Gestalttheorie nennt es «Tendenz zum ausgezeichneten Verhalten». Ihr wohnt eine Kraft inne als Ausdruck dafür, dass der Organismus «immer wieder einer Situation zustrebt, in der er Adäquatestes leisten kann» (ebd., 286). Schöpferisches, kreatives Tätigsein entspringt nach Jacoby demgemäß einem im Menschen angelegten zentralen existenziellen Bedürfnis und geschieht nicht «nur» als Folge sublimierter Angst oder sublimierter Sexualität gemäß der freudschen Sichtweise. Wenn dem Menschen also ein stetiges Bedürfnis nach Tätigsein innewohnt, so ist demzufolge auch das Herstellen einer dafür optimalen Verhaltensbereitschaft ein stetiger notwendiger Prozess. In diesem Sinne findet sozusagen eine laufende Erneuerung des Selbst statt, eine laufende Erneuerung des psychophysischen Gleichgewichts. Nur im stetigen Verwandeln, im stetigen Ankommen im Jetzt können wir letztlich uns selber bleiben. Das Selbst ist gemäß Jacoby kein Produkt aus einer Anzahl statischer Eigenschaften, die es zu stabilisieren gilt, sondern das Selbst bleibt stabil im stetigen Sich-neu-Erschaffen, im stetigen Sich-neu-Einlassen auf die Welt. Grundsätzlich geht Jacoby im Sinne der selbstregulatorischen Kräfte bzw. der Selbstverwirklichungstendenz nach Goldstein davon aus, dass die vom Organismus «ausgewählten» Verhaltensweisen optimal sind und nach Entwicklung und Reifung streben. Mit dem «Empfinden für das Stimmende» zeigt er uns ein Instrument oder besser eine Kompetenz auf, diese Annahme zu verifizieren und Störungen zu korrigieren. Offenbar wird jeder Mensch, [ ... ] wenn er nur still genug ist, von einer Empfindung für das Stimmende geführt (und) sofern etwas nicht beim ersten Ansatz gelingt, solange tastend probieren, erwägen, verwerfen und neu erwägen, bis eine Instanz in ihm signalisiert, dass es jetzt

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Nur im stetigen Verwandeln, im stetigen Ankommen im] etzt können wir letztlich uns selber bleiben.

«stimme». [... ] Auch das gehört zum Kapitel: Am Falschen erkennen, was das weniger Falsche, und schließlich, was das Richtige ist! Qacoby 2004, 279).

Unsere alten, bis dahin ganz gut funktionierenden Verhaltensweisen werden nahtlos durch neue, den neuen Aufgabenstellungen, der neuen Lebenssituation entsprechende abgelöst. Der Wandel, die Bewegung hin zu Neuem wird als die eigene Leistung anerkannt und bejaht und ist mit Erkenntnisgewinn verbunden, d. h. mit Entwicklung und Wachstum. Störungen und Widerstände können so als Anregung und Motivation, als spannende Aufgabe, sie zu bewältigen, verstanden werden, nicht als Hürde und Bürde. Was Spannung verursachte, wird spannend. Widerstände gilt es nicht «auszuhalten», sie werden vielmehr Teil eines spielerischen Lern- und Wachstumsprozesses. Es ist J acobys Verdienst, dass er in diesem N achentfaltungs- und Wachstumsprozess unterscheidet zwischen einerseits der eigenen stetigen Standortprüfung, sowie andererseits der Aufgabe und Pflicht, Entwicklung und Wachstum im Gegenüber zu fördern. Beide Ebenen sind untrennbar miteinander verbunden, sie stehen in gegenseitiger Wechselwirkung. Daher gilt es, sich immer wieder der Qualität des eigenen Verhaltenszustandes und dessen Auswirkung auf das Gegenüber bewusst zu werden. Denn die eigene Verhaltensqualität prägt nicht nur mich selber und das einzelne Gegenüber, sondern sie wirkt sich letztlich auf die ganze Gemeinschaft aus. Jacobys Begriff des «Empfindens für das Stimmende» bezieht sich nicht nur auf das eigene Selbst, sondern steht immer - in seiner ganzheitlichen und vernetzten Betrachtungsweise - in Bezug zur Gemeinschaft, zum Lebendigen an sich.

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3 Die drei Prozessebenen In Jacobys Ansatz lassen sich drei verschiedene Ebenen unterscheiden: die der eigenen Selbstbefähigung, die der Anleitung zur Selbstbefähigung anderer sowie die des übergeordneten Ziels Jacobys, der Veränderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens hin zu «menschlicheren Mitmenschen».

3.1 Die persönliche Ebene: eigene Selbstbefähigung Sogenanntes unbegabtes Verhalten ist nach Jacoby, wie bereits beschrieben, vor allem das Resultat von Zuschreibung. Viele Menschen werden oft «durch Gedankenlosigkeit und Ungeschicklichkeit ihrer Umgebung bereits in früher Kindheit Entmutigte» Qacoby 1926a, 3). J acoby geht es darum zu zeigen, dass begabtes Verhalten sich erarbeiten lässt, und zwar in jedem Alter. Nicht die Arbeit an einem Symptom steht jedoch im Vordergrund, sondern das Herstellen einer optimalen psychophysischen Verhaltens-Grundlage.

NACHENTFALTUNG

- EIN STETIGER ENTWICKLUNGSPROZESS

Den Prozess der Herstellung einer optimalen psychophysischen Verhaltensgrundlage bezeichnet J acoby als «Selbstumerziehung» oder eleganter formuliert als «Nachentfaltung». Dadurch kann das, «was lange Zeit brachlag oder unzweckmäßig gebraucht wurde, allmählich wieder zu zweckmäßigem Funktionieren kommen». Vorausgesetzt, wir können «die unzweckmäßigen Verhaltensweisen, den unzweckmäßigen Aufwand, zu dem wir erzogen worden sind, allmählich aufgeben». Nachentfaltung im Sinne Jacobys bedeutet die «bewusste Disziplinierung eines zweckmäßigen Verhaltens» oder mit anderen Worten: die «Selbstumerziehung zu Kontaktbereitschaft, Empfangsbereitschaft». Dazu gehört - als Voraussetzung - das «Abklingenlassen von Verstörtheit, Panik und Aggressionsbereitschaft», womit er den psychologischen Faktoren eine zentrale Be-

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Der achtsame Umgang mit Menschen wie mit Dingen entspringt dem achtsamen Umgang mit sich selber.

deutung zumisst (ebd., 17). Schon früh erkannte J acoby, dass für die «Entfaltung der musikalisch Gehemmten» die «psychischen Faktoren genauso von Bedeutung waren wie die musikpädagogischen». Er setzte sich ausführlich mit der um die Jahrhundertwende aufgekommenen Psychoanalyse Freuds auseinander und betonte, wie hilfreich ihm für seine Arbeit Freuds Erkenntnisse bezüglich des «Einflusses neurotisch bedingter Störungen auf die Erfahrbereitschaft und Äußerungsfähigkeit» waren Qacoby 2003, 19). Der Zugang zur Verhaltensänderung ist bei Jacoby jedoch kein klassisch psychotherapeutischer, sondern liegt in einer - ganzheitlich-organismischen - psychophysischen Vorgehensweise, im Zusammenspiel von Körper und Denken. Von Bedeutung ist für Jacoby ein Grundverhalten, das er als «überflüssiges Machen-Wollen» bezeichnet. Er unterscheidet explizit zwischen Geschehenlassen und Machen-Wollen. Daraus entstehen zwei völlig verschiedene Qualitäten der Leistungserbringung. Beim Machen verhafte ich im - nach außen gerichteten - Tun, ohne Verbindung zu meinem Körper bzw. Körper und Denken sind nicht im Einklang. Ich bleibe im Unklaren, ob der Körper zur Leistung bereit oder überhaupt dazu in der Lage ist. Ich bin somit nicht als ganze Entität mit dem Ziel verbunden. Um das organismische Geschehenlassen zu ermöglichen, muss ich zunächst die Bedingungen den Erfordernissen des Körpers anpassen, oder diesen dahingehend vorbereiten, dass er den Erfordernissen gerecht werden kann. Wir können es uns wie eine Murmelbahn vorstellen. Wenn ich die Bahn gut, im jacobyschen Terminus «zweckmäßig» eingerichtet habe, so laufen die Murmeln, sobald ich sie anstoße, von selbst spielerisch durch die vorbereitete Struktur. Der achtsame Umgang mit Menschen wie mit Dingen entspringt dem achtsamen Umgang mit sich selber. Nachentfaltung bedeutet in diesem Sinne keinen einmaligen Prozess. Sie erfordert eine stetige «Wartung» der eigenen «Infrastruktur», ein stetiges Überprüfen und Erneuern der eigenen Verhaltensgrundlagen. Das bedeutet,

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sich zuallererst der Qualität des eigenen Verhaltens im Hier und Jetzt bewusst zu werden. Es ist erforderlich, «dass man überhaupt erst einmal spürt und merkt, dass etwas aufzugeben ist und was» Qacoby 2004, 41). Dies geschieht in Form einer ganzheitlichen psychophysischen Standortbestimmung.

STANDORTBESTIMMUNG

- VERHALTENSÜBERPRÜFUNG

DURCH ORGANISMISCHE

SELBSTREFLEXION

Vorbedingung für eine Verhaltensänderung ist eine Standortbestimmung bzw. im Terminus von Jacoby eine «Klärung des eigenen Verhaltenszustandes». Sie findet in Form einer organismischen Selbstreflexion statt, eines Prozesses der Selbstwahrnehmung sowie der Reflexion darüber. Dieser ganzheitliche Wahrnehmungsprozess lässt sich in den Worten von John Dewey 21 wie folgt treffend veranschaulichen: «Das Denken ist die Auseinanderlegung der Beziehungen zwischen dem, was wir zu tun versuchen und dem, was sich aus diesem Versuche ergibt. Es gibt keinerlei sinnvolle Erfahrung, die nicht ein Element des Denkens enthielte» (zit. n. Oelkers 2011, 193). Es geht in dieser Selbstreflexion darum, sich des eigenen Verhaltenszustandes, der Gewohnheiten und Verhaltensmuster bewusst zu werden, um in der Folge ein authentisches Handeln aus dem «Empfinden für das Stimmende» oder, in einem heutigen Jargon gesagt, ein Handeln aus der inneren Stille des Selbst zu ermöglichen. Es ist eine Arbeit an der «unerlässlichen bewussten Zustandskontrolle und Standortklärung» Q acoby 2004, 18). Oft werden wir im Alltag in unserem psychophysischen Gleichgewicht gestört, mit der Folge, dass wir unruhig werden, uns irritiert und unkonzentriert verhalten. Die Zustandsänderungen werden meist nicht bewusst wahrgenommen. Es gilt daher, sich des eigenen Verhaltenszustandes immer wieder bewusst zu werden, um ihn dann, wo erforderlich, zu verändern. Jacoby nennt es das «Erarbeiten einer Methode des Sich-etwas-Erarbeitens und Ausprobierens». Werde im Sinne 2·1 John Dewey (1859-1952), US-amerikanischer Philosoph und Pädagoge. Er entwickelte die Philosophie des Pragmatismus weiter und setzte sich für eine demokratische Schule ein. Eines der bekanntesten Hauptwerke heißt «Demokratie und Erziehung» (Dewey 2011 ). Nach ihm beruht Lernen auf Erfahrung, d. h. auf Experimentieren und den daraus gewonnen Erkenntnissen.

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Die eigentliche Weisheit eines Menschen besteht nicht in einer andauernden Selbstbeobachtung, sondern in der Befähigung zur Reflexion.

des griechischen Dichters Pindar also zuerst einmal der, der du bist. Denn wie oft gehen wir unbewusst schon davon aus, derjenige zu sein, der wir zu sein wünschen. 22 Das Bewusstwerden der aktuellen Leistungs- und Verhaltensgrundlage sowie des Potenzials ist - zusammen mit dem Erkennen der momentan vorhandenen Grenzen - eine wesentliche Vorbedingung für eine nachfolgende optimale authentische Leistung. Und indem wir unsere eigenen Grenzen realisieren und akzeptieren lernen, können wir auch versöhnlicher die Grenzen des Gegenübers akzeptieren. In diesem Nachentfaltungsprozess findet ein Wachstum statt, ein Werden und Reifen des Selbst. Zum Verständnis dieses Kernelements der jacobyschen Praxis dient eine Beschreibung von Maturana und Varela (2012, 29): «Die Reflexion ist ein Prozess, in dem wir erkennen, wie wir erkennen, das heißt eine Handlung, bei der wir auf uns selbst zurückgreifen. Sie ist die einzige Gelegenheit, bei der es uns möglich ist, unsere Blindheiten zu entdecken und anzuerkennen, dass die Gewissheiten und die Erkenntnisse der anderen ebenso überwältigend und ebenso unsicher sind wie unsere eigenen.» Es ist nicht immer ganz einfach, sich selber nüchtern so zu sehen und zu akzeptieren, wie man wirklich ist. Aber achtsam sein, heißt letztlich auch ehrlich sein. Das wertfreie Wahrnehmen des jetzigen Verhaltenszustandes ist die Voraussetzung, um die Differenz zum erforderlichen optimaleren Verhalten zu erkennen. Erst durch die Akzeptanz unseres aktuellen Verhaltens können Änderungen wirksam reflektiert und ausprobiert werden. Dies hat zudem einen bedeutenden Vorteil: Der aktuelle Verhaltenszustand, die aktuelle Leistungsmöglichkeit wird dadurch nicht als ungenügend bewertet. Der Fokus liegt nicht auf «Du kannst etwas noch nicht!», sondern vielmehr darauf: «Auf dem, was du hast und bist, lässt sich etwas aufbauen!». Eine solche Haltung vermittelt Sicherheit und 22 Siehe dazu die «paradoxe Theorie der Veränderung» von Arnold R. Beisser.

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weckt gleichzeitig Neugier und Motivation, sich weiterzuentwickeln, Neues zu lernen. Sie ermöglicht einen wertfreien spielerischen Prozess der Entwicklung. Dieser ist, wie erwähnt, gezeichnet von Selbstanerkennung und Selbstmotivation. Es ist keine tröstlich gemeinte Ermutigung, wenn Jacoby die aktuelle Verhaltensweise als die bisher bestmögliche bezeichnet. Der jetzige Standort hat sich gebildet aufgrund unserer Lernprozesse seit Geburt, wir haben uns stetig weiterentwickelt hin zum jetzigen Standort. Auf dem Boden dieser Erfahrungen können wir wiederum neue Entwicklungsschritte einleiten. Im Vergleich mit der bisherigen Verhaltensweise wird sich das Verhalten Schritt für Schritt verändern, fast unmerklich. Und plötzlich stehen wir an einem ganz anderen Ort. Wir versuchen, auf dem Boden unseres jetzigen Wissens- und Erfahrungsgrundes pragmatisch das Hier und Jetzt zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen, welche Möglichkeiten die passendsten und effizientesten sind in Bezug auf die Lösung einer Aufgabe, in Bezug auf das Fortschreiten im Leben. Sich kognitiv zu hinterfragen, zu «wissen», ist das eine. Konkretes Tun und Ausprobieren ist das andere. Jacoby wies sehr genau auf diese Unterscheidung hin. Er kritisierte ein rein kognitives Beobachten. Eine solche, vom eigenen Empfinden losgelöste Sichtweise begünstige, sich so zu sehen, wie man sein möchte und nicht, wie man wirklich ist. Sich bewusst wahrzunehmen, «sich in seiner Leiblichkeit bewusst zu empfinden, bewusst über die Empfindung zur Kenntnis zu nehmen, dass und wie man existiert, ist», so seine Kritik, «etwas grundsätzlich anderes, als sich zu beobachten und über sich zu spekulieren» (ebd., 128). Der Neurobiologe Humberto R. Maturana beschreibt diesen Unterschied folgendermaßen: «Die eigentliche Weisheit eines Menschen besteht jedoch gerade nicht [ ... ] in einer andauernden Selbstbeobachtung, sondern in der Befähigung zur Reflexion, in der Bereitschaft, sich von jenen Überzeugungen zu trennen, die eine genaue Wahrnehmung der besonderen Umstände verhindern» (Maturana/ Pörksen 2014), also von Vorurteilen, Vorstellungen, unzweckmäßigen Routinen oder von Verhalten auf Vorrat. Es bedarf einigen Mutes, sich in Form einer Standortklärung ehrlich zu hinterfragen und über fragwürdige Verhaltensweisen zu stolpern. Noch weit größer jedoch ist die Herausforderung, das Verhalten nicht nur im Konjunktiv ändern zu wollen, sondern auch wirklich zu handeln. Jacoby

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sah hierin eine zentrale Aufgabe seiner erwachsenenbildnerischen praxisorientierten Arbeit. Deswegen zwingt mich die Arbeit, die wir hier zusammen tun wollen, zu der gar nicht so angenehmen Aufgabe, Sie dazu zu bringen, in zunehmendem Maße zu stolpern: Sie müssen allmählich so wach und empfindlich werden, dass es Ihnen immer mehr auffällt, wenn Sie sich vor Aufgaben und gegenüber Problemen unzweckmäßig verhalten. Ohne solch produktive Unzufriedenheit und Beunruhigtheit wird das, wofür ich Sie zu interessieren beabsichtige, leicht zu einem intellektuellen Diskutieren von «interessanten» Gedanken und Theorien (Jacoby 2004, 41).

Entwicklungs- und Lernprozesse vollziehen sich nicht von selbst und reibungslos, allein aufgrund von Überlegungen und «klugen», zweckmäßigen Fragen. Beide sind mitunter eine Voraussetzung, aber sie müssen danach ins Handeln oder nach Jacoby in verändertes Verhalten mittels "Probieren" übergehen. Genau so, wie es Jimmy Cliff in seinem populären Lied besingt: «You can get it if you really want - but you must try, try and try ... » Den ersten Teil ist man geneigt, lieber zu hören als den zweiten.

IMPROVISIEREN

UND PROBIEREN

- VERHALTENSÄNDERUNG

DURCH SPASS AM FALSCHMACHEN

Jacobys Ansatz ist praxisorientiert. Eine Änderung des Verhaltens erfordert ein Tun. Probieren geht über Studieren, sagt der Volksmund, oder mit dem Pädagogen Heinrich Roth 23 etwas gebildeter formuliert: «Wer frei und gleichzeitig verantwortlich handeln können soll, muss zunächst in seinem Tun den Schritt vom Verhalten zum Handeln lernen» (Roth 1971, 227). Jacobys Weg ist allerdings nicht jener der großen Gesten, es sind die unscheinbaren kleinen, aber stetigen Schritte, die eine nachhaltige Veränderung bewirken. Es ist ein schrittweises «Learning by Doing». Ein Begriff, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits von

23 Heinrich Roch (1906-1983 ), Professor an der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt. Setzte sich für «empirische Forschung» in der Pädagogik ein.

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John Dewey benutzt wurde. Er bezeichnet eine Qualität des Lernens, die nicht durch Auswendiglernen und Nachmachen von Rezepten, sondern durch eigene experimentelle Erfahrung und deren Reflexion vermittelt wird. Die Tatsache allein, dass etwas geschieht, dass wir etwas tun oder etwas «erleiden», ja, dass wir etwas wissen, stellt noch keine Erfahrung dar. Diese vollzieht sich erst durch einen Prozess der bewussten Wahrnehmung von Geschehenem und dessen Reflexion. Erfahrung ist die daraus gewonnene Einsicht, wir können im psychophysischen Sinne Jacobys auch sagen Verinnerlichung. Auf deren Grundlage werden die zukünftigen Entscheidungen gesteuert. Dewey beschreibt diesen Prozess präzise: Alle unsere Erfahrungen haben etwas vom Probieren in sich, von dem, was man die Methode des «abgeänderten Reagierens» nennt. Wir tun irgendetwas, und wenn es fehlschlägt, so tun wir etwas anderes, und so fort, bis wir auf etwas verfallen, was zum Ziele führt - und dies halten wir dann fest als eine Art von Faustregel für zukünftiges Handeln (Dewey zit. n. Oelkers 2011, 194).

Dieses Vorgehen entspricht genau der Intention Jacobys. Es ist nicht zu verwechseln mit Trial and Error im Sinne einer behavioristischen Konditionierung mittels Belohnung und Strafe. Lernen oder allgemein gesagt sich entwickeln - geschieht nach Jacoby nicht durch einen von außen gesteuerten Prozess, sondern aus eigener Aktivität aufgrund eines existenziellen inneren Bedürfnisses. Es ist aus dem eigenem Antrieb motiviert und erfolgt jenseits von Lohn und Strafe. Die «Belohnung» im Sinne Jacobys liegt im Erleben von Einsicht und Sinn, wir können auch sagen im Glücksgefühl, das eintritt, wenn uns etwas gelingt. 24 Die «Strafe» ist im jacobyschen Sinne demnach die Freude am Ausprobieren, am «Falsch»-Machen, bis es stimmt. Es ist ein Sich-lebendig-Fühlen im Schärfen der Beobachtungs- und Handlungskompetenzen. Wir sind jedoch gewohnt, alles möglichst schnell «richtig» zu machen. Die Maxime «Spaß am Falschmachen», sagt Jacoby, verlangt aber geradezu, «dass wir möglichst häufig